›Die mythische Methode‹ Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne 3484150866

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›Die mythische Methode‹ Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne
 3484150866

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. ›Arbeit am Mythos‹, Arbeit an der Tragödie, ›Arbeit an der Differenz‹: Aufriß eines kulturellen Feldes
2. Studien zur produktiven Rezeption der griechischen Tragödie in der Neuzeit. Forschungsüberblick
3. Literary recyclings Dialog der Texte, littérature au second degré - Sichtung des intertextualitätstheoretischen Spektrums
4. Zum Gang der Untersuchung
5. Bemerkungen zur Zitierweise
I. ›Dionysische Revisionen‹: Mythendramatik nach Nietzsche zwischen Archaismus und Avantgarde
1. »Eine neue Antike schaffen«: Aufbrüche im Fin de siècl
1.1 Zwischen ›Archäologie‹ und Prophetie: Friedrich Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹ als Gründungsdokument
1.2 Der neue Blick auf die Antike und die literarische Tragödienreflexion um 1900
2. Komponierte Archaik
2.1 »Eine düstere prägriechische Welt«: Strategien der ›Rückdatierung‹ bei Hofmannsthal, Jahnn und Hauptmann
2.2 »...etwas Gegensätzliches zur ›Iphigenie‹ machen«: Antiklassizismus, Bildungsrevolte - und Erudition
3.Dionysische Revisionen I: Die »Wiedergeburt der Tragödie« aus dem Geiste der Philosophie?
3.1 »Tragödie rein aus der Erregung«: Rudolf Pannwitz’ ›Die Befreiung des Oidipus‹ - eine ekstatische Sophokles- Variation »aus Nietzsches und meinem Griechentum«
3.2 »Violent passion« und philosophische Allegorie: Robinson Jeffers’ Aischylos-Adaption ›The Tower Beyond Tragedy‹
4. Dionysische Revisionen II: Hugo von Hofmannsthal, Hans Henny Jahnn und das tragische Spiel von Eros und Thanatos
4.1 Zwischen ›Treue‹ und ›Trauma‹: Hofmannsthals ›Elektra‹ »frei nach Sophokles« und das Problem der Tragödie im Bewußtseinshorizont der Moderne
4.2 Ein »Hymnus auf die Allgewalt der innern Sekretion«: Hans Henny Jahnns ›Medea‹ als Tragödie der Leiblichkeit
5. Gerhart Hauptmanns ›Atriden-Tetralogie‹ - ein Manifest der ›Zurücknahme‹
5.1 ›Iphigenie in Aulis‹ Polydämonismus, Theomachie, Chthonisches
5.2 Menschenopfer, Terror, »Barbarei«
5.3 Fremdbestimmtheit und Übermächtigung: Die Tragödie Agamemnons und die Dialektik der Humanität
5.4 ›Iphigenie in Delphi‹: Negative Erhabenheit und antiklassische Kontrafaktur - Euripides, Goethe, Hauptmann
II. »A continuous parallel between contemporaneity and antiquity«: Zur Gegenwartstransposition der griechischen Tragödie im modernen anglo-amerikanischen Drama
1. Mythical method und super-naturalism: Die Gegenwartstransposition antiker Tragödien zwischen ›Realismus‹ und ›Entwirklichung‹
2. Translatio tragoediae: Zur Logik der ›diegetischen Versetzung‹ in Mythendramen von Eugene O’Neill, Maxwell Anderson, T.S. Eliot und Steven Berkoff
2.1 Modern setting: Grundlegende Gemeinsamkeiten und individuelle Ausformungen des Typus
2.2 Zur typologischen Spannbreite der Gegenwartstransposition: Spielarten und Verfahrensweisen
3. Mythos und Gegenwart: Eugene O’Neill, T.S. Eliot und die griechische Tragödie im Raum der Moderne
3.1 Sind diegetische und semantische Transformation unvereinbar? Prüfung einer These von Fuhrmann und Genette
3.2 »New England House of Atreus«: Aischylos, O’Neill und das Experiment einer »modern psychological approximation of Greek sense of fate«. Eine Interpretation von ›Mourning Becomes Electra‹
3.3 »imposing a credible order upon reality«: Mythos und Transzendenz in T.S. Eliots Antikentransformationen. ›The Family Reunion‹, ›The Cocktail Party‹, ›The Confidential Clerk‹ und ›The Elder Statesman‹
III. »Une véritable oedipémie«: Neoklassizismus und ironische Modernität in französischen Tragödienvariationen der zwanziger bis vierziger Jahre
1. Reductio und amplificatio: Dramaturgien der Verknappung und Erweiterung und die ›Alterität‹ der Moderne
1.1 »de grandes beautés disparaissent, d’autres surgissent«: Strategien ›moderner‹ Versachlichung und Pathosreduktion
1.2 Strategien der amplificatio
2. »French Dressing«: Modernität als ironischer Gestus
2.1 Diskrepanzen von Stil und Sujet: Familiarisierung, Prosa, Travestie
2.2 Zwei kontrapunktische Ödipus-Variationen: Burleske, Persiflage, ironische Dekonstruktion in Gides ›Œdipe‹ und Cocteaus ›La Machine infernale‹
2.3 Anachronismen: Rahmendurchbrechung und ironische Zwei-Zeitigkeit bei Cocteau, Giraudoux, Gide, Sartre
2.4 Jean Anouilh, ›Antigone‹ und ›Médée‹: ›Tragödien‹ der Zweideutigkeit
3. Meta-Tragödien und literarische Selbstreflexion: Elemente einer offenen Dramaturgie
3.1 Intertextualitätssignale und weltliterarische Verweise
3.2 Fiktionsironie, Spieldurchbrechungen, metatheatralische Kommunikation
3.3 »l’intelligence qui juge« oder »l’opinion du plus grand nombre«? Chöre und Quasi-Chöre, Conférenciers und Kommentatoren
3.4 Spielleiter-Götter in ›Électre‹ und ›Les Mouches‹: Sartres Replik auf Giraudoux - und die ›Eumeniden‹ als tertium comparationis
4. Tragödienkonzepte
4.1 »Joie et amour«: Giraudoux’ Poetik der emphatischen Tragödienferne
4.2 tragédie vs. drame: Anouilhs doppelte Optik und die Relativierung der Tragödie
4.3 théâtre de situations und tragédie de la liberté: Sartre, Hegel, Corneille - und die griechische Tragödie als Paradigma
5. »Écrire pour son époque«: Horizonte der Aktualität (und ihr Verblassen)
IV ›Moira‹ und Marxismus: Episierung und ›Durchrationalisierung‹ in Bertolt Brechts ›Antigonemodell 1948‹
1. Ein Antikenexperiment und seine Kontexte
2. »was wir tun können für die alten Stücke und: was sie für uns tun können«: Brechts Bearbeitungstheorie und Modellkonzeption
3. »Versuch, aus gegebenen klassischen Elementen eine erhöhte Bühnensprache zu entwickeln«: Sophokles, Hölderlin, Brecht - Pathos, Verrätselung, »Volksgrammatik«
4. Epische und ›hellenische‹ Dramaturgie: Kontraste, Affinitäten, Akzentuierungen
5. Brechts Prinzip der ›Durchrationalisierung‹ und der Versuch, »zu der zugrunde liegenden Volkslegende vorzustoßen«
5.1 »Durchrationalisierung« - ein Bearbeitungsprinzip zwischen Konstrukt und Rekonstruktion
5.2 »Die höchst realistische Volkslegende«: Brechts marxistische Revision der Antigone-›Fabel‹ und die »Aufdeckung der gesellschaftlichen Kausalität«
5.3 »Analogien zur Gegenwart«. Elemente der zeitgeschichtlichen Parabel
5.4 Marxismus versus Moira: Eliminierung des ›Schicksals‹, Schwierigkeiten mit Antigone
Epilog
Literaturverzeichnis
1. Primärtexte und Werkausgaben
2. Wissenschaftliche Literatur
Register

Citation preview

HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM, JOACHIM HEINZLE, HANS-JOACHIM MÄHL UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 86

WERNER FRICK

>Die mythische Methode< Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1998

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Frick, Werner: >Die mythische Methode< : komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne / Werner Frick. Tübingen : Niemeyer, 1998 (Hermaea ; N.F., Bd. 86) ISBN 3-484-15086-6

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Johann und Mira,

τέκνοις ψιλομονσοις

Vorwort

A m Anfang des vorliegenden Buches stand, im Frühjahr 1988, eine Reise durch Griechenland: Im Dionysos-Theater zu Füßen der Akropolis keimte, in Korinth, Mykene, Epidauros reifte der Entschluß, die Spuren der attischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne zu verfolgen, im Apollon-Heiligtum von Delphi wurde ein förmliches Gelübde daraus. Dessen Einlösung brauchte Zeit, kostete Mühe, verschaffte Erfahrungen und Freuden, für die ich dankbar bin: einen verspäteten, desto intensiver genossenen Griechisch-Unterricht bei Dr. Adolf Lumpe und Dr. Werner Friedrich, später Sophokles-Lektüren unter der Ägide von Prof. Dr. Marion Lausberg; parallel dazu die Sondierung des weiten Feldes neuzeitlicher Antikenvariationen in vielen Augsburger Seminaren, auch gemeinsam mit Freunden und Kollegen: dem Anglisten Dr. Rudolf Beck, dem Romanisten Dr. Hanspeter Piocher, dem Tübinger Germanisten Dr. Michael Voges. Ihnen allen, auch meinen Augsburger Studenten, danke ich für vielfältige Anregungen. Ein großzügiges Forschungsstipendium des American Council of Learned Societies und ein zweijähriges Habilitandenstipendium

der

Deutschen Forschungsgemeinschaft schufen die nötigen Freiräume für die Erschließung und analytische Durchdringung des Materials. In diesem Zusammenhang durfte ich während zweier ganzjähriger Forschungsaufenthalte in Palo Alto, 1989/90 und 1993/94, die Gastfreundschaft des Department of Comparative Literature der Stanford University genießen und konnte von den unerschöpflichen Ressourcen der dortigen Green Library profitieren. Mein Dank gilt Dr. Steven C . Wheatley ( A C L S ) , Dr. Manfred Briegel ( D F G ) und den Chairmen der Komparatistik in Stanford, Prof. John Bender und Prof. Hans-Ulrich Gumbrecht. Eine entscheidende Förderung bedeuteten die vielen inspirierenden Gespräche mit dem Nestor der amerikanischen Tragödienforschung, dem Gräzisten und Komparatisten Prof. Charles Segal von der Harvard University; die kalifornische Begegnung mit diesem eminenten Gelehrten zählt zu den Glücksfällen meiner wissenschaftlichen Biographie. Zahlreiche Kollegen und Freunde haben mir in allen Entstehungsphasen der Untersuchung durch Hinweise, Ratschläge, Ermunterung geholVII

fen; stellvertretend genannt seien Dr. Dorothea und Prof. Dr. Gerhard Baudy, Ruth und Prof. Dr. Josef Becker, Shri Dharampal, Dr. Klaus Disselbeck, Prof. Martin Esslin, Grace und Albert Fosgate, Dr. Heinz-Jürgen Frick, Prof. Dr. Stephan Füssel, Prof. Dr. Manfred Hinz, Josefa Hönig, Clarice Horelick, Dr. Bemy Horowitz, Michael Jaumann, M.A., HansJürgen Klein, Prof. Dr. Hans Joachim Kreutzer, Fabian Lampart, M.A., Rose Marie Lau-Schmerkotte, Margit Link, M.A., Marianne Lulay, Bernadette Malinowski, M.A., Amena und Eliot Morrison, Prof. Dr. KlausDetlef Müller, Prof. Dr. Ernst Osterkamp, Prof. Dr. Wolfgang Reinhard, Hubert Roth, M.A., Prof. James J. Sheehan, Dr. Thomas Weidner, Dr. Gerhard Welzel, Waldtraut Wollburg, Kris Yenney. Den Gutachtern meines Augsburger Habilitationsverfahrens im Sommersemester 1997, den Professoren Dr. Hans Vilmar Geppert, Dr. Helmut Koopmann, Dr. Henning Krauß, Dr. Marion Lausberg und Dr. Hubert Zapf, bin ich für sorgfältige Lektüren und förderliche Kritik zu Dank verpflichtet, in den ich auch den seinerzeitigen Dekan der Philosophischen Fakultät II, Prof. Dr. Thomas M. Scheerer, einschließe. Den Herausgebern der >Hermaea< danke ich für die Aufnahme der Untersuchung in ihre Reihe, dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G Wort für einen großzügig gewährten Druckkostenzuschuß, dem Max-Niemeyer-Verlag (und namentlich Frau Birgitta Zeller und Frau Mechtild Hasse-Riedesel) für die überaus erfreuliche Zusammenarbeit bei der Drucklegung, schließlich Frau stud. phil. Tina Bühner für die umsichtige Erstellung des Registers. Neben den beiden unruhigen Geistern, deren erfrischender Gegenwart in allen Arbeitsstadien die Widmung des Buches Tribut zollt, hat Dr. Gita Dharampal-Frick die Entstehung der Untersuchung vom ersten bis zum letzten Tag unermüdlich mit Rat und Tat begleitet. Einen angemessenen Ausdruck seines Dankes findet der Verfasser noch am ehesten in dem Prädikat, das der Chor des euripideischen >AlkestisArbeit am MythosArbeit an der Differenze Aufriß eines kulturellen Feldes

4

2. Studien zur produktiven Rezeption der griechischen Tragödie in der Neuzeit. Forschungsüberblick

22

3. Literary recycling, Dialog der Texte, littérature au second degré - Sichtung des intertextualitätstheoretischen Spektrums

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4. Zum Gang der Untersuchung

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5. Bemerkungen zur Zitierweise

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I. >Dionysische Revisionenc Mythendramatik nach Nietzsche zwischen Archaismus und Avantgarde

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ι. »Eine neue Antike schaffen«: Aufbrüche im Fin de siècle . . . 1.1 Zwischen >Archäologie< und Prophetie: Friedrich Nietzsches >Geburt der Tragödie< als Gründungsdokument 1.1.1 Die »Illusion der Kultur« und die »Mysterienlehre der Tragödie«: Nietzsches Rekonstruktion einer ästhetischen Bewältigung ι. ι .2 Die Aporien der >sokratischen< Moderne und die »Wiedergeburt der Tragödie« 1.2 Der neue Blick auf die Antike und die literarische Tragödienreflexion um 1900 1.2.1 »Ein tiefes Aufatmen von aller Kultur«: Hermann Bahr, >Dialog vom Tragischen
Rückdatierung< bei Hofmannsthal, Jahnn und Hauptmann 2.2 »... etwas Gegensätzliches zur >Iphigenie< machen«: Antiklassizismus, Bildungsrevolte - und Erudition 3. Dionysische Revisionen I: Die »Wiedergeburt der Tragödie« aus dem Geiste der Philosophie? 3.1 »Tragödie rein aus der Erregung«: Rudolf Pannwitz' >Die Befreiung des Oidipus< - eine ekstatische SophoklesVariation »aus Nietzsches und meinem Griechentum« . . . 3.2 »Violent passion« und philosophische Allegorie: Robinson Jeffers' Aischylos-Adaption >The Tower Beyond Tragedy< 4. Dionysische Revisionen II: Hugo von Hofmannsthal, Hans Henny Jahnn und das tragische Spiel von Eros und Thanatos 4. ι Zwischen >Treue< und >TraumaElektra< »frei nach Sophokles« und das Problem der Tragödie im Bewußtseinshorizont der Moderne 4.2 Ein »Hymnus auf die Allgewalt der innern Sekretion«: Hans Henny Jahnns >Medea< als Tragödie der Leiblichkeit 5. Gerhart Hauptmanns >Atriden-Tetralogie< - ein Manifest der >Zurücknahme< 5.1 »Iphigenie in Aulisc Polydämonismus, Theomachie, Chthonisches 5.2 Menschenopfer, Terror, »Barbarei« 5.3 Fremdbestimmtheit und Ubermächtigung: Die Tragödie Agamemnons und die Dialektik der Humanität 5.4 »Iphigenie in DelphiRealismus< und >Entwirklichung
diegetischen Versetzung< in Mythendramen von Eugene O ' N e i l l , Maxwell Anderson, T S . Eliot und Steven Berkoff

224

2.1 Modern setting: Grundlegende Gemeinsamkeiten und individuelle Ausformungen des Typus

225

2.2 Zur typologischen Spannbreite der Gegenwartstransposition: Spielarten und Verfahrensweisen

237

2.2. ι Temporale Konstellationen: Synchronität von >Werk-Zeit< und Real-Zeit (Eliot, Berkoff) vs. historische Rückprojektion (O'Neill, Anderson) . . .

237

2.2.2 Grade der Ausdrücklichkeit: Deklarierter Prätextbezug (O'Neill, Berkoff) vs. verschwiegene Referenz (Anderson) oder esoterische Allusion (Eliot)

252

2.2.3 Extensiver vs. punktueller Anschluß: Die griechische Tragödie als Modell (O'Neill) oder als »point of departure« (Eliot)

261

2.2.4 Schwierigkeiten der Äquivalentenfindung: Zur modernen >Wiederholung< mythischer Gewaltsequenzen, insbesondere in >Mourning Becomes Electra
Mourning Becomes Electra
The Family Reunions >The Cocktail Partys >The Confidential Clerk< und >The Elder Statesman< III. »Une véritable œdipémie«: Neoklassizismus und ironische Modernität in französischen Tragödienvariationen der zwanziger bis vierziger Jahre ι. Reductio und amplificado: Dramaturgien der Verknappung und Erweiterung und die >Alterität< der Moderne 1.1 »de grandes beautés disparaissent, d'autres surgissent«: Strategien >moderner< Versachlichung und Pathosreduktion 1.1.1 »faire vivre les vieux chefs-d'œuvre«: Jean Cocteaus Sophokles->Kontraktionen< in >Antigone< und >Œdipe-Roi< - Revitalisierung durch Beschleunigung 1.1.2 »c'est à votre intelligence que je m'adresse«: Affektreduktion und »exclusion de toute image« in André Gides >Œdipe< 1.2 Strategien der amplificatio ι.2.ι Das historische Modell: Gegentragische Handlungserweiterung und >klassische Dämpfung< in den Odipus-Tragödien Corneilles und Voltaires . 1.2.2 Neoklassizistische Kontinuitäten: Episodisierung des Schreckens durch komische, burleske, triviale Rahmung 1.2.3 J e a n Cocteau, >La Machine infernalem amplificatio als Inversion von Tragödie und >Satyrspiel< 1.2.4 J e a n Giraudoux, >ElectreŒdipe< und Cocteaus >La Machine infernale
Antigone< und >MédéeTragödien< der Zweideutigkeit

396 402

3. Meta-Tragödien und literarische Selbstreflexion: Elemente einer offenen Dramaturgie 3.1 Intertextualitätssignale und weltliterarische Verweise . . . . 3.2 Fiktionsironie, Spieldurchbrechungen, metatheatralische Kommunikation 3.3 »l'intelligence qui juge« oder »l'opinion du plus grand nombre« ? Chöre und Quasi-Chöre, Conférenciers und Kommentatoren 3.4 Spielleiter-Götter in >Electre< und >Les MouchesEumeniden< als tertium comparationis

416 417 420

424

430

4. Tragödienkonzepte 4.1 »Joie et amour«: Giraudoux' Poetik der emphatischen Tragödienferne 4.2 tragédie vs. drame: Anouilhs doppelte Optik und die Relativierung der Tragödie 4.3 théâtre de situations und tragédie de la liberté: Sartre, Hegel, Corneille - und die griechische Tragödie als Paradigma

443

456

5. »Écrire pour son époque«: Horizonte der Aktualität (und ihr Verblassen)

466

445 451

IV >Moira< und Marxismus: Episierung und >Durchrationalisierung< in Bertolt Brechts >Antigonemodell i948
hellenische< Dramaturgie: Kontraste, Affinitäten, Akzentuierungen 5. Brechts Prinzip der >Durchrationalisierung< und der Versuch, »zu der zugrunde liegenden Volkslegende vorzustoßen« 5.1 »Durchrationalisierung« - ein Bearbeitungsprinzip zwischen Konstrukt und Rekonstruktion 5.2 »Die höchst realistische Volkslegende«: Brechts marxistische Revision der Antigone->Fabel< und die »Aufdeckung der gesellschaftlichen Kausalität« 5.3 »Analogien zur Gegenwart«. Elemente der zeitgeschichtlichen Parabel 5.4 Marxismus versus Moira: Eliminierung des >SchicksalsElektraArchetexte< der Weltliteratur dar: Neben der gewissermaßen sekundären Produktivitätprimären Produktivität^ wie sie sich in den verschiedensten kulturellen Formen und Techniken der Auseinandersetzung und Aneignung niederschlägt: in historisch wechselnden Spielarten der gelehrten philologischen Kommentierung, Analyse oder Ubersetzung von den editorischen Pionierleistungen der humanistischen Philologen bis zu den vielfältigen Deutungsmethoden der akademischen Altertumswissenschaft unserer Tage;6 in mannigfachen Versionen der philosophisch-spekulativen Auslegung im Stile Hegels, Schopenhauers, Kierkegaards, Nietzsches, Heideggers; 7 in den verschiedenartigsten kulturhermeneutischen, psychoanalytischen oder anthropologischen Applikationen von Bachofen über Sigmund Freud bis zu Claude Lévi-Strauss oder René Girard. Und nicht zuletzt verläuft parallel zur Literatur- und Theatergeschichte der modernen Tragödientransformation nach griechischen Modellen, auf die wir im folgenden unser Hauptaugenmerk richten werden, eine sehr intensive neuzeitliche Bühnengeschichte der >originalen< griechischen Tragödie8 selbst, eine kontinuierliche Präsenz, die trotz unterschiedlicher Konjunkturen nie mehr völlig abgerissen ist, seit, am 3. März 1585 in Andrea Palladios antikisierendem Teatro Olimpico zu Vicenza, der König Odipus des Sophokles in einer prunkvollen Festaufführung der Accademia Olimpica die Szene der Neuzeit betrat (dies übrigens höchst standesgemäß mit einem Gefolge von 28 Komparsen!). 9 Daß 6

Für einen repräsentativen Uberblick über das Spektrum vgl. nur Stephanus Kresic (Hrsg.): Contemporary Literary Hermeneutics and Interpretation of Classical Texts, Ottawa: University of Ottawa Press, 1981; O x f o r d Readings in Greek Tragedy, ed. by Erich Segal, Oxford: Oxford University Press, 1983; Charles Segal: Classics, Ecumenicism, and Greek Tragedy. In: Transactions of the American Philological Association 12 5 (1995), S. 1-26; Tragedy and the Tragic: Greek Theatre and Beyond, ed. by M.S. Silk, O x ford: Clarendon Press, 1996.

7

Siehe Walter Kaufmann: Tragedy and Philosophy, Garden C i t y / N Y 1968. Nach dem Vorgang von Wolfgang Schadewaldt (Antike Tragödie auf der modernen Bühne. Zur Geschichte der Rezeption der griechischen Tragödie auf der heutigen Bühne. In ders.: Hellas und Hesperien Bd. 2,2. Aufl. Zürich und Stuttgart 1970, S. 622-650; Antikes Drama auf dem Theater heute. Übersetzung, Inszenierung, ebd., S. 650-671) vgl. zuletzt umfassend Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit, 1585-1990, München 1991 (dazu meine Rezension in: Zeitschrift für Germanistik N . F . 1 (1994), S. 1 2 7 - 1 3 1 ) sowie Marianne McDonald: Ancient Sun, Modern Light. Greek Drama on the Modern Stage, N e w York: Columbia University Press, 1992.

8

9

Vgl. den schönen Aufsatz von Pierre Vidal-Naquet: Œdipe à Vicence et à Paris: deux moments d'une histoire. In: Jean-Pierre Vernant/Pierre Vidal-Naquet: Mythe et tragédie en Grèce ancienne, tome 2, Paris 1986, S. 2 1 3 - 2 3 5 ; der Autor erkennt die »grande innovation du spectacle [...] dans le luxe volontairement royal qui lui est donné. [...] [Œdipe] est accompagné, pour chacune de ses entrées, par une suite de vingt-huit personnes, le chiffre tombant à vingt-cinq pour Jocaste et à six pour Créon, qui n'est qu'un prince.« Gespielt wurde die Sophokles-Ubersetzung von Orsatto Giustiniani, die Musik der Chöre hatte

5

es zwischen diesen verschiedenen Strängen der Rezeption, zwischen der >primären Produktivität der originalen griechischen Tragödien, ihrer permanenten Reaktualisierung und >verjüngenden< Neudeutung, einerseits und der sekundären Produktivität intertextuell aus diesem Kanon abgeleiteter dramatischer Bearbeitungen, Transformationen und Metamorphosen andererseits, zu mannigfachen Funktionsübergängen und Berührungsverhältnissen, auch zu wechselseitigen Stimulationen und Verstärkungen kommen mußte, liegt auf der Hand, und wir werden Beispiele solcher Wechselwirkungen sehen. Die fortdauernde Wirkung der griechischen Tragödie selbst wie die Abundanz ihrer Retraktationen und produktiven Metamorphosen im Gang der Jahrhunderte legen die Frage nach den Gründen eines derartigen Erfolges nahe: Wie konnte einer in sehr spezifischen und unwiederholbaren historisch-kulturellen Entstehungsbedingungen wurzelnden antiken Kunstform auch jenseits dieses ursprünglichen Kontextes der Status eines weltliterarischen Paradigmas von anerkannter >Klassizität< und >Kanonizität< zuwachsen? Wie stellt sich im Lichte ihrer proliferierenden Wirkungsgeschichte das Verhältnis von >Historizität und Transhistorizität< der griechischen Tragödie dar (um den Titel eines wichtigen Aufsatzes von Jean-Pierre Vernant 10 aufzugreifen)? Worin schließlich bestanden der Anreiz und die kreative Herausforderung, die diesen »wenigen grandiosen Trümmern« einen so beständigen Zulauf späterer Bearbeiter (von den Gegenentwürfen Senecas über die Tragödienkonfigurationen der französischen oder deutschen Klassik bis zu den freieren Variationen und Experimenten in klassischer Moderne und Postmoderne) eintrugen, für die sie den Stellenwert von »canonical models«" besaßen, autoritativen Vorbildern, an denen die eigenen Versionen, Fortschreibungen, Kontrafakturen der Nachfolger sich zu messen hatten? Elemente einer (noch nicht auf den speziellen Fall der griechischen Tragödie zielenden, vielmehr in der Fortsetzung von T.S. Eliots Klassik-Essay vornehmlich an Vergil und Dante exemplifizierten) Antwort lassen sich Überlegungen Frank Kermodes entnehmen, der die Klassizität literarischer Werke und ihre Tauglichkeit zum langandauernden kanonischen

IC

11

Andrea Gabrieli komponiert. Vgl. auch Leo Schrade: La Représentation d'Edipo Tiranno au Teatro Olimpico (Vicence, 1585), Paris: C N R S , 1960, sowie Flashar, Inszenierung der Antike, Kap. 2 (»Oedipus in Vicenza«). Le sujet tragique: historicité et transhistoricité. In: Vernant/Vidal-Naquet, Mythe et tragédie en Grèce ancienne, t. II, ebd., S. 79-90. Martin Mueller: Children of Oedipus and other essays on the imitation of Greek tragedy 1550-1800, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 1980, S. vii.

6

Vorbild vor allem mit einer charakteristischen Balance zwischen internem Beziehungsreichtum und Deutungsoffenheit, thematischer Prägnanz und hermeneu tischer Anpassungsfähigkeit an je neue Rezeptionskontexte erklärt: It seems that on a just view of the matter the books we call classics possess intrinsic qualities that endure, but possess also an openness to accommodation which keeps them alive under endlessly varying dispositions.12 Es fällt nicht schwer, am Korpus der griechischen Tragödie formale wie gehaltliche Momente zu identifizieren, die sich in das hier entworfene Bild dauerhafter, aber beweglicher und wandlungsfähiger poetischer Strukturen fügen: Die Flexibilität und Deutungsoffenheit ihres mythologischen Substrats eröffnet der attischen Tragödie eine Fülle thematischer Konstellationen von gleichsam archetypischer Zeichenhaftigkeit, die als dramatische Handlung zwar im Theater der demokratischen Polis und vor der athenischen Bürgerschaft des 5. Jahrhunderts zur Aufführung gelangen, die auf diesen zeitgenössischen Horizont sogar in durchaus transparenter Anspielung Bezug nehmen können, denen gleichwohl schon allein durch die Situierung des tragischen Spiels in ilio tempore, in einer nicht näher bestimmten vorgeschichtlich-heroischen Vergangenheit, ein Element der Distanz und eine Tendenz zur >paradigmatischen< Abstraktheit eignet, Qualitäten mithin, durch die sie sich der allzu konkreten empirischen Festlegung entziehen und, als erster Schritt auf dem Weg zu der von Vernant reklamierten »transhistoricité«, eine eigentümliche >Zeitlosigkeit< gewinnen, die ihnen auch in anderen, späteren Kontexten der Re-Präsentation verbleibt. Ahnlich sorgt im formalen und stilistischen Bereich ein ganzes Repertoire zitierbarer dramaturgischer Gesten und fester, relativ stereotyper Redeteile und Bauformen13 für die Prägnanz eines >sprachlich-semiotischen< Typus, dessen einzelne Versatzstücke von der Stichomythie über Botenberichte und Teichoskopien bis zum großen rhetorischen Agon oder zur Expressivität der Chorlyrik sich aus ihrem Herkunftskontext lösen und - sei es in ernsthaft imitatorischer Absicht, sei es mit parodistischer Intention - mit bemerkenswerter Variabilität in spätere dramatische Idiome überführen lassen. Vor allem aber erhebt die attische Tragödie in einer für ihr eigenes dramatisches und institutionelles Profil

12

13

Frank Kermode: The Classic. Literary Images of Permanence and Change, N e w Y o r k 1975, S. 44. Vgl. auch, mit skeptischen Anmerkungen zu Eliots Klassik-Konzept, Charles Segal: Cracks in the Marble of the Classic Form: The Problem of the Classical Today. In: Annals of Scholarship 10/1 (1993), S. 7-30. Dazu Walter Jens (Hrsg.): Die Bauformen der griechischen Tragödie, München 1 9 7 1 .

7

wie für ihre spätere produktive Rezeption schlechterdings konstitutiven Weise den Gedanken der Variation und der kreativen Rivalität (der dramatischen Versionen wie ihrer Urheber) zum Prinzip, und daraus insbesondere wächst ihr jene innere Dynamik zu, die sich bis in die jüngste Bearbeitungsgeschichte als Herausforderung und Anreiz behauptet. Man kann sich dieses inhärente, eminent schöpferische Unruhepotential des Immer-auch-anders-Darstellbaren und einer gleichsam >implizierten Alterità^ - alle Texte sind konkurrierende >VersionenUrtext< - an zwei miteinander verbundenen Aspekten verdeutlichen: der tragischen >Arbeit am Mythos< und der Institution des dramatischen Agons. Insbesondere Hans Blumenberg hat, unter der seither fast zu erfolgreichen Formel von der >Arbeit am MythosMythosBedeutsamkeitangewandt< im Rahmen der vielerlei Interessen, die Gruppen und Individuen nun einmal verfolgen, wobei sie die gegenseitige Verständigung bei Interaktionen ermöglichen und so das Verhalten kanalisieren.« (S. 18). Der Mythos liefere »eine Vorprägung der Realität«, könne aber auch »ausgeweitet werden als ordnende Beschreibung, als Prägung der Welt überhaupt.« (S. 19).

16

Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. von Manfred Fuhrmann, München 1971 (Poetik und Hermeneutik, Bd. IV), S. 1 1 -66, hier S. 20. Verwandte Perspektiven bei O d o Marquard: Lob des Polytheismus. Uber Monomythie und Polymythie. In ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 9 1 - 1 1 6 .

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dung seiner terminologischen Eindeutigkeit« wache und die »Entmutigung aller Abwandlungsgelüste« betreibe, der offenere, durch spielerischpoetische »Verflüssigung und Polysemie« und eine durchgängige »Disposition zur Vieldeutigkeit«' 7 geprägte Wirklichkeitsbegriff des Mythos gegenüber, dessen besonderes Wirkungspotential gerade in einem permanenten und in keiner Synthese stillstellbaren Spannungsverhältnis von Vorgabe und Abweichung beruhe, im »Ineinandergreifen der formal entgegengesetzten Tendenzen von Konstanz und Variation, von Bindung und Ausschweifung, von Tradition und innovatorischer Kühnheit«. 18 Als »Stärke der mythologischen Tradition« erscheint in dieser Sicht geradezu ihre »substantielle Inkonstanz«, 1 ' eine Versatilität, die nicht von ungefähr an künstlerische und musikalische Verfahrensweisen erinnert: D i e m y t h o l o g i s c h e T r a d i t i o n scheint auf Variation u n d auf die d a d u r c h m a n i f e stierte U n e r s c h ö p f l i c h k e i t ihres A u s g a n g s b e s t a n d e s angelegt z u sein, w i e d a s T h e m a m u s i k a l i s c h e r Variationen d a r a u f , bis an die G r e n z e der U n k e n n t l i c h keit a b g e w a n d e l t w e r d e n z u k ö n n e n . N o c h in der Variation d u r c h g e h a l t e n z u w e r d e n , e r k e n n b a r z u bleiben, o h n e auf der U n a n t a s t b a r k e i t der F o r m e l z u bestehen, erweist sich als s p e z i f i s c h e r M o d u s v o n G ü l t i g k e i t . S o l c h e G ü l t i g k e i t bietet g l e i c h s a m B e z u g s p u n k t e f ü r >Anspielungen< u n d v a g e V e r w e i s u n g e n : es darf Vertrautes v o r a u s g e s e t z t w e r d e n , o h n e daß es eine b e s o n d e r e S a n k t i o n besäße o d e r d e m Z w a n g einer k o n s e r v a t i v e n B e h a n d l u n g s w e i s e u n t e r w o r f e n w ä re. D i e M y t h o l o g i e erlaubt, i n d e m ihre T r a d i t i o n b e s t i m m t e Materialien u n d S c h e m a t a fixiert, i m m e r z u g l e i c h die D e m o n s t r a t i o n v o n N e u h e i t u n d K ü h n heit als e r m e ß b a r e D i s t a n z e n z u e i n e m V e r t r a u t h e i t s h o r i z o n t f ü r ein in dieser Tradition stehendes Publikum.20

Mit einprägsamen Formulierungen bestimmt Blumenberg die »Freiheit des Mythos in ihrer Spezifität« daher »als Freude der Variation gegenüber der Macht der Wiederholung«, und das »Wirkungspotential des Mythos« soll gerade nicht in seiner theoretischen Lösungs-und Erklärungskompetenz bestehen, sondern in der Kraft zur sinnfälligen Evokation und in der Stimulation zu welterschließendem Fragen: [...] nicht die Ü b e r z e u g u n g s k r a f t alter A n t w o r t e n auf v o r g e b l i c h

zeitlose

M e n s c h h e i t s r ä t s e l b e g r ü n d e t die A n d r i n g l i c h k e i t m y t h o l o g i s c h e r K o n f i g u r a 17

Ebd., S. 12. Übereinstimmend formuliert auch Walter Burkert: Mythisches Denken. Versuch einer Definition an Hand des griechischen Befundes. In: Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, hrsg. von Hans Poser, Berlin/New York 1979, S. 16-39, hier S. 21: »Charakteristisch am Mythos ist anscheinend gerade die Vieldeutigkeit: derselbe Mythos kann auf ganz verschiedene Aspekte der Wirklichkeit bezogen werden und dabei als sinnvoll, ja als faszinierend erscheinen, je nach Empfänglichkeit des Interpreten.« 18 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff, S. 26. " Ebd., S.21. 20 Ebd.

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tionen, s o n d e r n die I m p l i z i t ä t d e r F r a g e n , die in d e r R e z e p t i o n u n d ihrer A r b e i t an ihnen e n t d e c k t , a u s g e l ö s t , artikuliert w e r d e n . 2 1

Insofern die griechische Tragödie, von wenigen frühen und auch nur bedingten Ausnahmen wie der >Einnahme von Milet< des Phrynichos oder den >Persern< des Aischylos abgesehen, ihre Stoffe aus dem Fundus des Mythos (und nicht, beispielsweise, aus dem Archiv der Geschichte oder aus den imaginären Spielräumen der Phantasie und des individuellen >EinfallsPremiere< ist auch eine >Derniere< - die überraschende Version des Bekannten zwingend erwartet wird, der neue Blick auf ein altvertrautes Sujet, die andere Deutung eines oft schon gedeuteten Mythos. In diesem Sinn ist die griechische Tragödie eine Kunst nicht der originellen Themen(er)findung, sondern der neuartigen Durchführung vorgefundener Themen, eine Kunst aus dem Geist der schöpferischen Differenz und der Herausforderung, >dasselbe anders< darzustellen. Daß, wie vor allem Jean-Pierre Vernant24 überzeugend herausgearbeitet hat, im Horizont der demokratischen Polis und ihres gewandelten Normengefüges viele Konstellationen des überlieferten aristokratischen Mythos selbst mit Distanz betrachtet werden25 - der mythische Held werde der im Theater versammelten und in Gestalt des Chores auch auf der Szene repräsentierten Polis >vom Modell zum Problems 26 lautet Vernants probate Formel - , tut dieser Variationsfreudigkeit keinen Eintrag. Ganz im Gegenteil: In der Distanzierung der Tragödie vom My-

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Ebd., S.34. Vgl. Bernard Knox: Myth and Attic Tragedy. In ders.: Word and Action. Essays on the Ancient Theater, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press, 1979, S. 3-24. 2 ' Vgl. Frank Kolb: Polis und Theater. In: Das griechische Drama, hrsg. von Gustav Adolf Seeck, Darmstadt 1979, S. 504-544, sowie Horst-Dieter Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 1984. 24 Le moment historique de la tragédie en Grèce: quelques conditions sociales et psychologiques. In: Jean-Pierre Vernant/Pierre Vidal-Naquet: Mythe et tragédie en Grèce ancienne, tome I, Paris 1972, S. 1 1 - 1 7 . ''' »[...] la tragédie prend ses distances par rapport aux mythes de héros dont elle s'inspire et qu'elle transpose très librement. Elle les met en question. Elle confronte les valeurs héroïques, les représentations religieuses anciennes avec les modes de pensée nouveaux qui marquent l'avènement du droit dans le cadre de la cité.« Ebd., S. 16. 26 »Dans le cadre nouveau du jeu tragique, le héros a donc cessé d'être un modèle; il est devenu, pour lui-même et pour les autres, un problème.« Ebd., S. 14. 22

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thos27 wird der im Mythos angelegte Deutungs- und Veränderungsspielraum kritisch und reflexiv gegen diesen selbst gewendet, also gerade aktiviert, so daß nicht erst in den modernen Tragödientransformationen, denen wir uns im folgenden widmen werden, sondern auch bereits in der attischen Tragödie selbst (man denke an die aufklärerische Mythen- und Götterkritik des euripideischen Dramas) die >Arbeit am Mythos< zugleich zur Statuierung einer Entfernung vom Mythos wird - und darin wiederum zur Bestätigung seiner Produktivität. Schließlich ist, vor dem Hintergrund dieses dialektischen Spiels von Thema und Abweichung, Version und Gegen-Version, der vor der Polis-Offentlichkeit ausgetragene und in kompliziertem Modus durch ein Schiedsgericht öffentlich bestellter >Kritai< entschiedene dramatische Agon dreier Tragiker28 selbst das Urbild einer Literatur als Wettkampf und darin das traditionsstiftende Vorbild aller späteren Versuche (von Seneca bis zu Wole Soyinka), sich mit den griechischen Tragikern auf ihrem eigenen Feld zu messen und sich in kreativer Differenz gegen sie oder neben ihnen zu behaupten. Wie Aischylos, Sophokles und Euripides im Dionysostheater am Fuße der Akropolis um den Sieg im tragischen Wettstreit rivalisierten und wie ihre Tragödien (am sichtbarsten die von allen drei Tragikern erhaltenen Versionen des Atriden-Mythos2?) aufeinander reagierten und sich zu überbieten suchten dieses produktive Konkurrenzverhältnis in der dramatischen >Arbeit am MythosFrösche< zu einer ebenso spöttischen wie sachkundigen Verballhornung angeregt hatte, wurde für Generationen neuzeitlicher Autoren zum entscheidenden Muster eines zugleich traditionsbezogenen und innovativen Schreibens im Spannungsfeld von Anknüpfung und Abweichung, Wiederholung und Widerspruch, von imitatio, variatio und aemulatio.

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Hans-Thies Lehmann (Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 15) formuliert: »Der Mythos ist der Tragödie inhärent, aber zugleich dreifach fremd: als Stoff aus einer anderen Epoche, als Produkt einer nicht mehr unangefochtenen Denkweise und gegeben in einer Form, der epischen vor allem, gegen die sich der neue Diskurs des tragischen Theaters abhebt. Demnach sind ein stofflicher, ein »weltanschaulichen und ein ästhetischer Aspekt zu unterscheiden. Was die stoffliche Kontinuität betrifft, so hat der Umstand, daß die Tragiker fast ausschließlich ihre sujets aus Heldensage und Göttermythologie bezogen, meist das Problem der Distanz zwischen Tragödie und Mythos verdeckt.«

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Vgl. Blume, Einführung in das antike Theaterwesen, S. 3off., sowie A.W. Pickard-Cambridge: The Dramatic Festivals of Athens, 2. Aufl. rev. J. Gould, D.M. Lewis, Oxford 1968, und T.B.L. Webster: Greek Theatre Production, 2. Aufl. London 1970. Dazu Kurt von Fritz: Die Orestessage bei den drei großen griechischen Tragikern. In ders.: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen, Berlin 1962, S. 1 1 3 - 1 5 9 .

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Die neuzeitlichen Mythendramen, ob unter imitatio-Postulaten und unter dem Einfluß normativer Tragödienpoetiken oder im Zeichen postklassizistischer Ungebundenheit, finden vieles, woran sie anschließen können. Auch ihrem >wiederholenden< Zugriff auf die antiken Stoffe und Modelle liegt die Verlockung zugrunde, >dasselbe anders< in Szene zu setzen, auch ihr künstlerisches Leitmotiv lautet variado delectat. Im Bereich der dramatischen Bauformen, Ausdrucksmittel und Requisiten sind, wo immer solche stilistischen Anlehnungen gesucht werden, die genannten formalen Stereotypen von der Stichomythie über Botenberichte und Redeagone bis zum Gebrauch des Chores oder zum Einsatz von Masken leicht zu imitieren, und sie können wahlweise mit moderneren Schreibweisen unauffällig verschliffen oder als Antikenzitate groß herausgestellt werden; die analytische Technik des >König Odipus< oder das in vielfacher Hinsicht proto-epische Verfahren der griechischen Tragödie im ganzen kommen entsprechenden dramaturgischen Anliegen des neuzeitlichen Theaters von Schiller, Kleist, Ibsen bis zu Brecht, Heiner Müller, Tony Harrison von vornherein entgegen und bilden einen eigenen experimentellen Anreiz zur technisch akzentuierten literarischen Auseinandersetzung; und die zeichenhafte Abstraktions- und Verallgemeinerungstendenz der mythischen Konfigurationen in ihrer empiriefernen transhistoricité wirkt im Kontext moderner Reprisen, wo angesichts der fremden Namen, der antik stilisierten raum-zeitlichen Deixis und der erkennbar intertextuell vermittelten Handlung ohnehin keine Gefahr der realistischen Verwechslung< mehr besteht, eher noch verstärkt und bis zur reinen intellektuellen Versuchsanordnung (oder häufig: zur Allegorie) gesteigert. Auch für das Konkurrenzmotiv und den tragischen Agon der antiken Dramatiker lassen sich bei genauerem Zusehen moderne Äquivalente entdecken, nur daß diese aus der konkreten Wettkampfsituation der Theaterarena oder zumindest aus der Gleichzeitigkeit einer künstlerischen Rivalität unter persönlich bekannten Zeitgenossen, wie sie für die griechischen Tragiker gegolten hatte, in einen intertextuellen Raum mit epochenweiten Zeitabständen, nämlich in die imaginäre Sphäre eines weltliterarischen Agons, verlegt scheinen. In dieser abstrakteren, literarisch-ideellen Dimension aber geht es durchaus um Ambitionen, um Kampf, Uberbietung, Selbstbehauptung, um Sieg und Niederlage, und es mutet als leise Paradoxic an, daß die Repräsentanten einer klassizistischen, nach ihrem deklarierten Selbstverständnis (oder: Selbsttmßverständnis?) um die imitatio der griechischen Vorbilder bemühten >Antikendramatik< vielfach wesentlich offensivere und selbstbewußtere Töne anschlagen als die in ihren Aussagen über die antiken Prätexte und deren Dichter oft überraschend 12

behutsamen Autoren der klassischen Moderne: So leidet f ü r den jungen Voltaire die Überlegenheit des eigenen, beim zeitgenössischen Publikum äußerst erfolgreichen >Œdipe< von 1 7 1 8 und auch desjenigen von Corneille gegenüber der Tragödie des Sophokles - diese wird in den dem Drama beigegebenen >Lettres sur Œdipe< 3 ° einer unnachsichtigen Detailkritik ihrer »fautes« und »beautés« unterzogen - keinerlei Zweifel, auch wenn den griechischen Tragikern reichlich gönnerhaft zugestanden wird, »que, s'ils étaient nés de nos jours, ils auraient perfectionné l'art qu'ils ont presque inventé de leur temps«; 31 Voltaires strenges Examen gipfelt in der atemberaubenden Pointe: »Pour moi, après avoir dit bien du mal de Sophocle, je suis obligé de vous en dire tout le bien que j'en sais: [...] J'avoue que peutêtre sans Sophocle je ne serais jamais venu à bout de mon >ŒdipeUrteilsbegründungGründungsheroen< des abendländischen Theaters und seiner sublimsten Kunstform in eine kreative Konkurrenz zu begeben. Man kann hier durchaus den Eindruck gewinnen, daß die Diskreditierung des gattungspoetologischen Normen- und Regelkanons für die nachklassischen Autoren - die nicht mehr bei Autoritäten wie Aristoteles, Corneille, iGottsched nachschlagen können, was eine tragédie bien faite auszeichne - gerade durch das Zugeständnis (oder die Zumutung) größerer gestalterischer Autonomie mit empfindlichen >Sicherheitsverlusten< einhergeht, einer objektiven Erschwerung des dramatischen Metiers, die komplementär wiederum zu einer Wertschätzung der antiken Tragiker und ihrer dramaturgischen Meisterschaft führt. Nietzsches Programmschrift >Die Geburt der TragödieThe Tower Beyond Tragedy< von 1924 den Atriden-Stoff der griechischen Tragiker noch einmal aufzugreifen I needed an excuse; I was a little ashamed to take two or three Greek tragedies, change them considerably, and make them into a poem. It seemed lazy and selfindulgent; for the story and the characters, except for my changes, were already created by better men than we are.' 8 - ,

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ders zu Werke gehen, als er getan. Von diesem weiß er aber, daß die Philologen ihn nicht eben sonderlich hochhalten, und er verspürt daher kein geringes Behagen, daß es ihm, auf so große Autorität hin, vergönnt ist, über diesen großen Alten ganz schändlich herzufallen und ihn zu schulmeistern, wie er nur kann.« Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, 7. Aufl. München 1973, S. 83. So Jeffers in einem Artikel für die >New Y o r k Times< vom 26. November 19JO, hier zit. nach: American Playwrights on Drama, ed. by Horst Frenz, N e w Y o r k 1965, S. 94-97, Zitat S.95.

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wenn Eugene O'Neill an einem toten Punkt der Arbeit an >Mourning Becomes Electra< seiner Frustration (und der Angst, sich mit diesem Stoff und mit der Maß-Nahme an einem Konkurrenten von der Statur des Aischylos übernommen zu haben) mit dem Tagebucheintrag Luft schafft: [...] never worked so intensively over such a long period as I have on this damn' trilogy - wish now I'd never attempted the damn' thiñg - bitten off more than can chew? 3 9 -

oder wenn Ezra Pounds Gedicht >Ité< die Rede von den eigenen poetischen Aspirationen mit einer (in ganz physisch-agonaler Metaphorik gehaltenen) Hommage an die dichterische Vollkommenheit des Sophokles kombiniert, mit der jeder Vergleich schmerzhaft ausfallen müsse: G o , my songs, seek your praise from the young and from the intolerant, Move among the lovers of perfection alone. Seek ever to stand in the hard Sophoclean light And take your wounds from it gladly. 40

Diese häufige Bezugnahme der modernen Mythendramatiker auf das künstlerische Profil und die überragende Leistung ihrer antiken Vorgänger, Kollegen, Rivalen kommt nicht von ungefähr, und sie verweist auf einen Umstand von großer Bedeutung für den besonderen poetologischen Status dieser intertextuellen Dramatik: Die mythischen Sujets, die hier erneut in Szene gesetzt und mit zeitgenössischer Bedeutung aufgeladen werden, sind durchweg - oft sogar in mehrfacher Brechung - >literarisch< vermittelt und entstammen nicht mehr, wie das Korpus ihrer antiken Bezugstexte, einem direkten und >authentischen< Zugang zum vorliterarischen Mythos. An die Funktionsstelle des Mythos als eines vitalwuchernden, noch relativ ungeformten und überwiegend mündlich tradierten kulturellen Themenfundus, 4 1 wie ihn die griechische Tragödie im

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Eugene O'Neill: Working Notes and Extracts from a Fragmentary Work Diary. In: American Playwrights, ebd., S. 3 - 1 5 , Hier S. 9, Eintrag vom 1 1 . Juli 1930. Ezra Pound: lté. Aus: Lustra (1915). Zit. nach Ezra Pound: Selected Poems, edited with an Introduction by T.S. Eliot, London: Faber and Faber, 1948, S. 102. Vgl. Burkert, Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, op. cit., sowie G e o f f r e y Stephen Kirk: Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion, Reinbek bei Hamburg 1987. Kirk warnt mit Recht vor einer zu substantialistisch-kompakten Rede von >dem< Mythos als einer irgendwie fundierenden Entität: »Was ist ein Mythos? So sollte die Frage lauten und nicht >Was ist Mythos?Was ist Mythologie?«. Sogar >Mythos< als ein kollektiver Begriff ist fragwürdig. Diese Fragen implizieren fälschlicherweise, daß das, was zu bestimmen ist, gewissermaßen das absolute Wesen aller Mythen sei, eine platonische Idee dessen, >was wahrhaftig mythisch istspäte< und resultathafte) Ausformulierungen dieses Bestandes - zumeist auf die zu weltliterarisch-kanonischer Geltung gelangten Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides selbst, seltener auch auf andere literarische Prätexte wie die homerischen Epen, Ovids >Metamorphosen< oder, besonders im 16. und 17. Jahrhundert, die Tragödien Senecas - , und selbst in den Fällen, in denen moderne Dramatiker hinter die Versionen ihrer antiken Bezugstexte zu einem archaischen Substrat, einem hypothetisch unterstellten vorzivilisatorischen Ursprungszustand zurückzustoßen behaupten (Beispiele dafür werden uns vor allem im 1. Kapitel beschäftigen), kann diese Regressionsbewegung nur bei den unumgehbaren tragischen >Archetexten< des 5. Jahrhunderts ansetzen und diese mit den Mitteln einer (häufig durch kulturarchäologische Lektüren gespeisten) poetischen Imagination gleichsam zu >hintergehen< suchen. Das Ausgangsmaterial aller Antikenvariationen im Drama der Neuzeit sind, mit anderen Worten, selbst immer schon hochkomplexe, durch kulturelle Bearbeitung überformte literarische Texte wie die dichten Partituren der attischen Tragiker - Ursprungsnostalgien finden hier keinen Anhalt - , und daher auch sind die modernen Versionen >Mythendramen< immer nur in dem eingeschränkten und vermittelten Sinn, daß sie zugleich und vor allem literarische Transformationen (d.h. poetische Transformationen eines bereits selbst hochliterarisch durchgestalteten >MaterialsThemaArchetexte< im Rahmen der produktiven Rezeptionsgeschichte oder zu allgemein stil- und normbildenden >klassischen< Griechendramen der literarischen Tradition, wie sie im Rahmen ihres nationalen Kanons etwa Racines >Phèdre< oder Goethes Iphigenie auf Tauris< darstellen. Daß die Orientierung an antiken Modellen als eines der konstanten Charakteristika der neuzeitlichen europäischen Klassiken, ja gemeinsam mit einer Tendenz zum >hohen Stil< geradezu als ihre definitorische Minimalformel erscheinen kann, 44 dieser obligate Antikenbezug eröffnet für die intertextuellen Variationen aus jüngerer, nachklassischer Ära eine attraktive >agonale< Perspektive zur gegenklassischen Revision; vor allem an der polemischen Anknüpfung deutscher Dramen unseres Repertoires an Goethes >Iphigenie< wird sich uns die Einsicht in diesen revisionistischer Aspekt des Themas erschließen. Daß der vorliterarische, im kollektiven religiösen und kulturellen Bewußtsein einer antiken Kultur verwurzelte Mythos selbst als lebendige Bezugsgrundlage dramatischer Bearbeitungen in der modernen, durch eine fast zwei tausendjährige Geschichte von Christentum und Säkularisierung geprägten Welt nicht mehr zur Verfügung steht, wird so in einem gewissen Grade kompensiert durch ein funktionales Äquivalents nämlich die Reihen- oder Serienbildung literarischer Variationen und den durch diese produktive Akkumulation ermöglichten >Dialog der VersionenKlassiken< vgl. die Beiträge des Bandes: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken, DFG-Symposion 1990, hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Stuttgart/Weimar 1993 (= Germanist. Symposien, Berichtsbände XIII). Angesichts der »Wirkungsmächtigkeit des antiken Paradigmas im Mittelalter und in der Neuzeit« postuliert etwa Wilhelm Voßkamp (Normativität und Historizität europäischer Klassiken, ebd., S. 5-8, hier S. 6), »eine Funktionsgeschichte der antiken Vorbilder [...] erlaubte vermutlich den präzisesten Vergleich der verschiedenen europäischen, nationalen Klassiken«, und ähnlich betont Reinhart Koselleck, zur Bestimmung des »Gemeinsame[n] der >KlassikenWiederholungAmphitryon 38< ironisch verweist - die Zahl signalisiert, wenn auch kaum mit letzter philologischer Ernsthaftigkeit, hier handle es sich um die 38. literarische Fassung dieses Stoffes - , diese intertextuelle Serie wird so gewissermaßen zum modernen, diachronen Ersatz oder Korrelat für die synchrone kulturelle Einheit (oder vorsichtiger: für die relative kulturelle Nähe) von Mythos, Tragödie und institutionalisiertem tragischem Agon, wie sie für die Welt des antiken Dramas in so einzigartiger Weise charakteristisch ist. In der Tat läßt sich im Blick auf das Korpus der modernen TragödienTransformationen (und das soll heißen: der neuzeitlichen Aneignung der griechischen Tragödie im ganzen, in entscheidend verstärktem Maße aber ihrer Rezeption in der Literatur des durch keinen >RenaissanceTodes-Urteilen< und mit entsprechend konservativen ästhetischen Parteinahmen ist nicht zu bestreiten, daß hier ein wirkliches Problem bezeichnet ist und daß die Verpflanzung griechischer Tragödiensujets aus ihrem >natürlichen< soziokulturellen Nährboden in die fremde intellektuelle Klimazone einer säkularen Moderne tatsächlich einen Eingriff darstellt, dessen Radikalität durch die allzu geläufigen Reden von einem >Fortleben der Antike< und der ungebrochenen Kontinuität eines kulturellen Erbes 5 4 bei weitem unterschätzt und vielleicht auch verschleiert wird. Aber gegenüber dem pauschalen geschichtsphilosophischen Verdikt einerseits, das den modernen Variationen der griechischen Tragödie im Grunde kein Interesse zubilligt und sie wegen ihres derivativen Status oder des Verlustes eines überwölbenden Sinnhorizonts als ästhetische Verfallsform und Signum postmetaphysischer Inauthentizität abqualifiziert, 55 und der naiven Kontinuitätshypothese andererseits, die dazu neigt, Zeitenabstände und kulturelle Differenzen zwischen der griechischen Tragödie und ihren modernen Transformationen zu nivellieren und damit ein bedeutungskonstitutives Abstandsmoment (d.h. das eigentlich >Moderne< an den modernen Texten) geflissentlich zu übersehen, gegenüber diesen unbefriedigenden, je für sich allzu plakativen Alternativen suchen die folgenden Analysen einen dritten, gemäßeren Weg zu beschreiten: Es ist der Weg, die >Arbeit am

» Ebd., S.257. 14 Exemplarisch Angela Belli: Ancient Greek Myths and Modern Drama. A Study in Continuity, New York/London 1969, S. viii) mit der Eingangsthese: »We remain aware that the mythic order that underlies the new creation enables it to retain an element of the classic and reaffirm a truth which we regularly take for granted: that there is a superb continuity to our culture that is perceivable to those who can sense the presence within our age of the extraordinary achievements of the past. Link is joined to link.« 55

So auf den Spuren George Steiners auch Marc Eli Blanchard: The Reverse View: Greece and Greek Myths in Modern French Theater, Modern Drama X X I X (1986), S. 41-48, mit Kritik an der »superficial presentation of stories inherited from the Greeks, but whose social and religious significance has been lost«; auch für Blanchard ist »the image of Greece afforded by those short views [...] essentially formalist and reductive.« (S. 47). Freilich kann man schon die Prämisse bestreiten: Wie, wenn es den modernen Texten gar nicht vorrangig um ein »image of Greece« zu tun wäre?

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Mythos und an der griechischen TragödieArbeit an der Differenz^ 6 zu begreifen, als den legitimen Versuch moderner Texte, die eigene ästhetische wie philosophische Identität aus ihrer >Alterität< im Verhältnis zu großen kanonischen Paradigmen der weltliterarischen Tradition zu entwickeln. Dabei kann und soll es, mit Zurückhaltung in Wertungsfragen und bei entschieden analytisch-deskriptiver Einstellung, gerade nicht darum gehen, einer der beiden Seiten von vornherein und aufgrund mitgebrachter Überzeugungen einen überlegenen Rang zuzusprechen; vielmehr liegt der Akzent auf der aufmerksamen Beobachtung von Anziehungen und Abstoßungen, Vereinnahmungen und Unvereinbarkeiten bei der Konfrontation antiker Tragödien (mit reicher abendländischen Wirkungsgeschichte) und moderner Dramen (Schreibweisen, Semantiken, Weltbilder), deren Autoren »die gegebenen Stoffe um der möglichen Abweichung willen« ergreifen und mittels der »indirekte[n] Methode eines Sich-Absetzens vom einmal Geglaubten die eigene Position zu demonstrieren«57 suchen. Jene »differenzierte Dialektik von Anknüpfen und Distanznahme«, in der Manfred Pfister aus systematisch-intertextualitätstheoretischer Perspektive ein »Optimum an Dialogizität«'8 zwischen Prätext und Folgetext erkennt, stellt auch hier, beim Studium der intertextuellen Relationen und Spannungen zwischen einem der großen kanonischen Uberlieferungskorpora der dramatischen Weltliteratur und seinen klassisch-modernen Filiationen und Metamorphosen, ein Leitbild dar, und dabei soll, unter Verzicht auf die durchaus fragwürdigen Authentizitätspostulate Steiners oder Blanchards und auch ohne den (für das 20. Jahrhundert einfach obsoleten) Rekurs auf normative Gattungspostulate des >Tragischen< oder >der< Tragödie, von vornherein zugestanden sein, daß aus dieser modernen >Arbeit an der (griechischen) Tragödie< als einer >Arbeit an der Differenz< nicht in jedem Fall wieder neue Tragödien resultieren müssen, sondern daß hier gegebenenfalls auch ganz andere produktive Konsequenzen zu gewärtigen und als legitimer Ausdruck

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,s

Heiner Müller: Shakespeare eine Differenz. In ders.: Shakespeare Factory 2, Berlin 1989, S. 227-230, hier S. 230. Walter Jens: Verkleidete Götter. Antikes und modernes Drama. In ders.: Statt einer Literaturgeschichte, 6. erw. Aufl. Pfullingen 1962, S . 8 1 - 1 0 7 , hier S. 1 0 1 . Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1 - 3 0 , hier S. 29.

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ihrer >postmetaphysischen< Ära zu akzeptieren sind: hybride, reflexive, ironische Mischformen, moderne Meta-Tragödien, dramatische Tragödien-Kommentare, selbst Anti-Tragödien, die einen geschichtlichen Abstand inszenieren und deren Abweichung von den antiken >OriginalenTod< (der Tragödie, des Dramas, der Kunst etc.) sein muß, sondern ebensowohl auf Vitalität und Selbstbehauptung, auf den literarischen >Mut zur eigenen Nuance< (Carl Sternheim) deuten kann. Wenn es den folgenden komparatistischen Studien gelänge, diese offene, bewegliche und im Normativen zurückhaltende Perspektive auf ihr modernes Dramenkorpus durchzuhalten, wäre damit eine entscheidende Voraussetzung geschaffen, um den einzelnen Werken Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die Pluralität ihrer Einstellungen gegenüber den jeweiligen antiken Prätexten und gegenüber dem >Tragödienproblem< im allgemeinen unreduziert zur Geltung zu bringen und sie als durchaus verschiedene Facetten eines einheitlichen thematischen Feldes zu begreifen.

2. Studien zur produktiven Rezeption der griechischen Tragödie in der Neuzeit. Forschungsüberblick Mit ihrer leitenden Frage nach den Verwandlungen des antiken Tragödien-Paradigmas in der Dramatik der klassischen Moderne begeben sich die folgenden Untersuchungen auf das (unübersehbar weite) Feld literatur- und kulturgeschichtlicher Studien zum Fortwirken der Antike und zur neuzeitlichen >Arbeit am MythosGreek Tragedy and the Modern WorldAncient Greek Myths and Modern Drama. A Study in Continuity*63 und Hugh Dickinsons >Myth on the Modern Staged 4 Diese Untersuchungen englischer und amerikanischer Autoren entstammen einer gemeinsamen wissenschaftsgeschichtlichen Situation und orientieren sich in ihrem Vorgehen an der Methode des New Criticism, Dickinson zudem auch am archetypal criticism Northrop Fry es; in ihrem Niveau unterscheiden die drei Studien sich jedoch beträchtlich: Aylens Buch, das das Verdienst besitzt, am ausführlichsten auch auf die antike Tragödie einzugehen, neigt in seinen Ausführungen über deren moderne Variationen zu oberflächlichen Inhaltsparaphrasen, anekdotischer Redseligkeit und zu mitunter sehr fahrlässig anheit, Stuttgart 1987; M a c h t des M y t h o s - O h n m a c h t der V e r n u n f t ? H g . v o n Peter K e m per, F r a n k f u r t / M . 1989; H e i n z Schlaffer: Poesie und Wissen. D i e Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, F r a n k f u r t 1990, bes. S. 91 ff.; C h r i s t o p h J a m m e : E i n f ü h r u n g in die Philosophie des M y t h o s , B d . 2: N e u z e i t und G e genwart, Darmstadt 1 9 9 1 ; H e i n z R e i n w a l d : M y t h o s und M e t h o d e . Z u m Verhältnis v o n Wissenschaft, K u l t u r und Erkenntnis, M ü n c h e n 1 9 9 1 ; B . z u r N i e d e n : M y t h o s und Literaturkritik. Z u r literaturwissenschaftlichen M y t h e n d e u t u n g der M o d e r n e , Münster/ N e w Y o r k 1993; Peter T e p e / C h r i s t i a n G e r h a r d u s (Hrsg.): Literaturwissenschaftliche M y t h o s f o r s c h u n g . D ü s s e l d o r f e r Projekte, Essen 1996; Matías Martinez (Hrsg.): F o r m a ler M y t h o s . Beiträge zu einer T h e o r i e ästhetischer F o r m e n , P a d e r b o r n / M ü n c h e n / W i e n / Z ü r i c h 1996. 61

V g l . nur H a r r y C . Rutledge: T h e G u e r n i c a Bull. Studies in the Classical Tradition in the T w e n t i e t h C e n t u r y , A t h e n s / L o n d o n : T h e U n i v e r s i t y of G e o r g i a Press, 1989 (mit allerdings oberflächlicher Behandlung moderner M y t h e n - V e r s i o n e n bei C o c t e a u , G i d e , G i raudoux, Eliot); Classical M y t h o l o g y in T w e n t i e t h - C e n t u r y T h o u g h t and Literature, ed. b y W . M A y c o c k and T h . M . Klein, L u b b o c k : T e x a s T e c h Press, 1980 (= Proceedings of the C o m p a r a t i v e Literature S y m p o s i u m , vol. X I ) ; Lillian Feder: Ancient M y t h in M o dern P o e t r y , Princeton 1 9 7 1 ; Kenneth M a c K i n n o n : G r e e k T r a g e d y into F i l m , R u t h e r f o r d / M a d i s o n / T e a n e c k 1986; Walter R a y m o n d A g a r d : Classical M y t h s in Sculpture, Madison: U n i v e r s i t y of Wisconsin Press, 19 51 ; W h i t n e y J . Oates (Hrsg.): F r o m S o p h o cles to Picasso: T h e P r e s e n t - D a y Vitality of the Classical Tradition, B l o o m i n g t o n : Indiana U n i v e r s i t y Press, 1962; Stefan K u n z e : D i e A n t i k e in der M u s i k des 20. Jahrhunderts, B a m b e r g 1987 (= T h y s s e n - V o r t r ä g e . Auseinandersetzungen mit der A n t i k e , hg. v o n H . Flashar. B d . 6); B e r n d Seidensticker: M e t a m o r p h o s e n . Z u r A n t i k e r e z e p t i o n in der deutschen Literatur nach 1945. In: Richard Faber und B e r n h a r d K y t z l e r (Hrsg.): A n t i k e heute, W ü r z b u r g 1992, S. 1 2 8 - 1 5 4 .

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L o n d o n 1964.

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N e w Y o r k / L o n d o n 1969.

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U r b a n a / C h i c a g o / L o n d o n : U n i v e r s i t y of Illinois Press, 1969. 2

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mutenden Einschätzungen, während sich die Arbeiten Bellis und Dickinsons auf gediegenem akademischem Niveau bewegen und in einer Folge quasi-monographischer Einzelinterpretationen - Belli gliedert unter den vier Rubriken »The Psychoanalytic Approach«, »Religious and Philosophical Ideas«, »The Modern Rebel« und »Political and Social Themes« nach thematisch arrangierten Werkgruppen, Dickinson nach (zehn) Autoren - teilweise erhellende Beobachtungen zur Aktualisierung griechischer Modelle durch die von ihnen ausgewählten Mythendramatiker beitragen. Freilich sind auch hier die Defizite unverkennbar: So bleibt, sehr zur Enttäuschung des germanistischen Lesers, bei beiden Autoren (wie auch bei Aylen) der Untersuchungsradius auf den Bereich der französischen und anglo-amerikanischen Literatur der zwanziger bis fünfziger Jahre beschränkt, 6 ' ohne daß diese Verengung der Perspektive und der vollständige Ausschluß der in diesem thematischen Feld doch gewichtigen deutschsprachigen Dramatik auch nur begründet würden; Belli wie Dickinson berücksichtigen das Verhältnis der modernen Texte zu ihren antiken Bezugstexten nur sporadisch und mit offenkundig dilettantischem Rüstzeug; in beiden Fällen sorgt schließlich ein wesentlich werkimmanentes Vorgehen nach den close rerealistischer< Schreibweisen gegenüber experimentell-geöffneten Dramaturgien - als zeitgebunden und obsolet gelten. Immerhin stellen sie aber wie auch eine kleine Zahl weiterer Arbeiten zu nationalliterarischen Teilbereichen66 und eine allerdings immense Sekundärliteratur zu einzelnen

Ein Rezensent, Ruby Cohn, bemerkt bereits im Erscheinungsjahr sarkastisch: »Professors Belli and Dickinson view modern mythic drama as part of a French cultural empire into which American tourists are admitted with proper credentials. But Germans are clearly non grata·, there is no whisper of Hofmannsthal or Hauptmann, much less of Brecht or Müller.« (Myth about Myths, in: Modern Drama XII, No. 3, Dec. 1969, S. 319-323, hier S. 319). - Ahnlich moniert die sehr sachkundige Besprechung von Martin Mueller (Ancient and Modern Tragedy, wie Anm. 5, S. 53): »Dickinson and Belli both restrict themselves largely to works written in French and English. Their neglect of the German tradition - at least Hofmannsthal and Hauptmann must be considered in the context they establish - appears to be a matter of ignorance rather than of choice. The lack of real familiarity with Greek drama and the ignorance of classical scholarship are other factors that severely hamper the successful execution of the task they have set themselves.« 66

Im Blick auf die deutsche Literatur vgl. vor allem die kenntnisreiche, viel zu wenig beachtete Studie von Lia Secci: Il mito greco nel teatro tedesco espressionista, Roma 1969, so24

Autoren oder Werken, mit der wir uns, soweit wir sie übersehen, am jeweiligen Ort auseinandersetzen werden - einen Grundstock an Hypothesen, Meinungen und Einsichten dar, auf dem unsere Untersuchung mit weiterem komparatistischem Ausgriff, mit zeitgemäßerem analytischem Instrumentarium und mit neuen gattungspoetologischen und kulturhermeneutischen Fragestellungen aufbauen kann. - Ein Sonderstatus unter den Arbeiten mit eng verwandter Thematik kommt Manfred Fuhrmanns wegweisendem Aufsatz »Mythos als Wiederholung in der griechischen Tragödie und im Drama des 20. Jahrhunderts« 67 sowie der daran anknüpfenden Diskussion des Forschungsforums >Poetik und Hermeneutik< zu. In diesem Problemaufriß, der bei der Themenfindung und konzeptionellen Klärung der vorliegenden Untersuchung eine wichtige Rolle gespielt hat, sind, wenn auch auf relativ schmaler Materialbasis, wichtige Einsichten in den Typus variativen dramatischen Schreibens in der Auseinandersetzung mit dem Modell der griechischen Tragödie entwickelt; ohne Fuhrmann in allen Einzelheiten zu folgen, werden wir uns an vielen Stellen in Zustimmung oder Widerspruch auf seine Studie beziehen können. Berührungen ergeben sich schließlich, trotz völlig unterschiedlicher >Registrierungs zu mehreren feuilletonistisch gehaltenen Essays von Walter Jens, insbesondere zu der Skizze »Verkleidete Götter. Antikes und modernes Drama«68 und zum zweiten >Diskurs< (»Antigone und Elektra: Aufstand gegen das >verteufelt HumaneMythen der Dichter. Modelle und Variationen^6?

wie, mit guten kulturgeschichtlichen Perspektiven, Karl Jürgen Skrodzki: Mythopoetik. Das Weltbild des antiken Mythos und die Struktur des nachnaturalistischen Dramas, Bonn 1986 (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 44). Auf französische Varianten konzentriert sich P.J. Conradie: The Treatment of Greek Myths in Modern French Drama. A Study of the »Classical« Plays of Anouilh, Cocteau, Giraudoux and Sartre, Annale Universiteit van Stellenbosch, vol. 29, Serie Β, N o . 2, 1963; über amerikanische Metamorphosen vgl. Thomas E. Porter: Myth and Modern American Drama, Detroit: Wayne State University Press, 1969. Eine Fleißarbeit mit beträchtlichen ideologischen Verzerrungen ist Volker Riedel: Antikerezeption in der Literatur der D D R (B-Dissertation, Humboldt-Universität 1982, erschienen als: Veröffentlichung der Akademie der Künste der D D R , Berlin 1984), sehr disparat und in den Wertungen ähnlich problematisch: Christoph Trilse: Antike und Theater heute. Betrachtungen über Mythologie und Realismus, Tradition und Gegenwart, Funktion und Methode, Stücke und Inszenierungen (2., bearb. und erw. Aufl. Berlin: Akademie der Wissenschaften der D D R , 1979); zur Kritik der beiden letztgenannten Arbeiten vgl. Michael von Engelhardt/Michael Rohrwasser: Kassandra - Odysseus - Prometheus. Modelle der Mythosrezeption in der DDR-Literatur, in: L'8o, Heft 34, Juni 1985, S.46-76. 67 68 69

In: Terror und Spiel, op. cit., S. 1 2 1 - 1 4 3 , mit Diskussion S. 549-578. Wie oben, Anm. 57. München: Kindler, 1993, S. 39-68.

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Den quantitativ bedeutendsten Komplex zum Fortwirken antiker Vorgaben in der Dramatik der Neuzeit bildet eine Reihe Stoff- und motivgeschichtlich angelegter Längsschnitte: Unter diesen ist Käte Hamburgers Vorlesungszyklus >Von Sophokles zu Sartre. Griechische Dramenfiguren antik und modernAlkestis< und ihre modernen Nachahmer und Kritiker«, »Die Entwicklung der Iason-Medea-Sage und die Medea des Euripides« - mit großer komparatistischer Übersicht und in souveräner Urteilsfreiheit demonstrieren, wie sich zwischen antiken Prätexten und ihren neuzeitlichen Versionen Dialoge von wechselseitig erhellender Kraft entfachen lassen.77 Das gilt (mit gewissen Einschränkungen angesichts ihrer offen eingestandenen Ratlosigkeit vor Texten des 20. Jahrhunderts) auch für Wolf-Hartmut Friedrichs bekannte Abhandlung >Vorbild und Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der TragödieChildren of Oedipus and other essays on the imitation of Greek tragedy 1550-18ooklassischeren< Partien bleibt die Studie gleichwohl einsichtsvoll. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 1980. Mueller betont den >paradigmatischen Status< literarischer Transformationen: »For my purposes, versions have a methodological priority at times disproportionate to their literary merit or historical significance in the evolution of particular dramatic traditions, for they raise with exemplary clarity the difficulties European playwrights faced in coming to terms with the heritage of Greek tragedy.« (S. VII). Dieselbe Uberzeugung liegt als methodischer Anreiz auch dieser Studie zugrunde.

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ben behandeln mehrere Untersuchungen die antiken Bezüge der französischen tragédie classique.8o Eine vergleichbare Studie zur deutschen Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie auf einer Linie etwa von Lessing und C.F. Weiße, Wieland und Klinger über die Weimarer Klassik bis zu Kleist, Grillparzer, Hebbel, Wagner fehlt dagegen seit langem; sie ist ein dringendes Desiderat.81

3. Literary recycling, Dialog der Texte, littérature au second degré - Sichtung des intertextualitätstheoretischen Spektrums In methodischer Hinsicht muß in einer Untersuchung, die sich mit Verhältnissen des literary recycling82 zwischen einem kanonischen Textkorpus der dramatischen Weltliteratur und seinen modernen Retraktationen und Metamorphosen befaßt, der Debatte um (theoretisch sehr verschieden gefaßte) Konzepte der »Intertextualität«8' und des »Dialogs der Texte« eine Schlüsselrolle zukommen, und dies einerseits in der Hoffnung, in

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Revel Elliot: Mythe et légende dans le théâtre de Racine, Paris 1969; R o y C . Knight: Racine et la Grèce, 2. Aufl. Paris 1974; Christian Delmas: Mythologie et Mythe dans le Théâtre français (1650-1676), Genève 1985. Vgl. immerhin Siegfried Streller: Antikerezeption und Schicksalsproblematik. Der Versuch einer Erneuerung der antiken Tragödie (In: Parallelen und Kontraste. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1750 und 1850, hg. von H . - D . Dahnke, Berlin/Weimar 1983, S. 2 2 1 - 2 4 3 ) Rolf-Peter Carl: Sophokles und Shakespeare? Zur deutschen Tragödie um 1800 (In: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik, hg. von K.O. Conrady, Stuttgart 1977, S. 296-318) mit dem völlig zutreffenden Einleitungssatz: »Eine neue kritische Gesamtdarstellung der Rezeption und Adaption der Antike in den Jahrzehnten vor und nach der Französischen Revolution bleibt Desiderat der Literaturgeschichtsschreibung.« (S. 296). - Zwei vorzügliche Einzelstudien sind Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986 (mit dem Nachweis eines leitenden Bezuges der Lessingschen Dramatik auf Modelle der griechischen Tragödie) und U w e Petersen: Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption in der Goethezeit, Heidelberg 1974. Früher einflußreiche Darstellungen wie Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Leipzig 1936, oder Eliza M. Butler: The Tyranny of Greece over Germany, Cambridge 1935, sind überholt und in ihren Wertungen obsolet. Der Terminus bei Peter J . Rabinowitz: »What's Hecuba to Us?« The Audience's Experience of Literary Borrowing, in: Susan R. Suleiman/Inge Crosman (Hrsg.): The Reader in the Text: Essays on Audience and Interpretation, Princeton 1980, S. 241-263, hier S. 246. Für einen Überblick über das internationale Theorien-Spektrum vgl. U d o J . Hebel: Intertextuality, Allusion and Quotation: An International Bibliography of Critical Studies, N e w York: Greenwood Press, 1989; informativ ist ferner V.B. Leitch: Versions of Textuality and Intertextuality: Contemporary Theories of Literature and Tradition. In ders.: Deconstructive Criticism: An Advanced Introduction, London 1983, S. 55-164.

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der aufgeschlossenen Auseinandersetzung mit maßgeblichen literaturtheoretischen Entwürfen den Standort der eigenen Unternehmung genauer bestimmen und ihr analytisches Instrumentarium verfeinern zu können, andererseits aber auch in der Erwartung, aus der Beobachtung des intertextuellen Wechselspiels zwischen weltliterarisch bedeutsamen Textkorpora wie dem kanonischen Uberlieferungsbestand der griechischen Tragödie und ihren klassisch-modernen Variationen müßten sich für die Theorie der Intertextualität (deren Vertreter sich nicht selten in den seligen Intermundien der reinen Spekulation und in sternenweitem Abstand von den Niederungen der Literarhistorie am besten zu gefallen scheinen) mannigfache und lehrreiche Bewährungsproben, auch durchaus neue Einsichten ergeben. In Anlehnung an den kompetenten Diskussionsüberblick von Manfred Pfister84 lassen sich in der aktuellen Intertextualitäts-Debatte zwei Hauptrichtungen erkennen, die man, einer Unterscheidung Renate Lachmanns8' folgend, als >textontologische< und >textdeskriptive< Varianten bezeichnen kann. - Charakteristisch für die erstgenannte Denkschule, zu deren Vertretern etwa Julia Kristeva, der späte Roland Barthes, Jacques Derrida oder Charles Grivel gehören und die insbesondere im Umkreis von Poststrukturalismus und Dekonstruktion zu beträchtlichem Einfluß gelangt ist, sind Konzepte der >Dezentrierung< des Subjekts, einer Universalisierung und Entgrenzung des Textbegriffs und der Kupierung sprachlicher Zeichen um ihr referentielles Signifikat zugunsten eines freien Spiels der Signifikanten in einer unendlich verweisungsreichen »bibliothèque générale« (Grivel) bzw. einer von Zitaten und Textresonanzen widerhallenden »chambre d'échos« (Barthes). Kurz: die Rede ist hier von jenem »Universum der Texte«, »in dem die einzelnen subjektlosen Texte in einem regressus ad infinitum nur immer wieder auf andere und prinzipiell auf alle anderen verweisen, da sie ja alle nur Teil eines >texte générah sind, der mit der Wirklichkeit und Geschichte, die immer schon >vertextete< sind, zusammenfällt.«86 Solche Vorstellungen vom »inter-texte« als der »impossibilité de vivre hors du texte infini - que ce soit Proust, ou le journal quotidien, ou l'écran télévisuel«87 haben auch im Bereich des zeitgenössischen Dramas der >mythischen Methode< (wenn auch jenseits des in der vorliegenden Arbeit gesteckten Zeitrahmens) ihre Resonanz gefunden, dort näm84

Konzepte der Intertextualität, op. cit. ' Im Vorwort (S. 8) des Bandes: Dialogizität, hrsg. von Renate Lachmann, München: Fink, 1982. 86 Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 9. 87 Roland Barthes: Le plaisir du texte, Paris 1973, S. 59. 8

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lieh, wo sie zum literarischen Verfahrensprogramm geworden sind und die écriture avantgardistischer >Antiken-Partituren< erkennbar beeinflußt haben: in den durch mannigfache postmoderne Uberblendungs- und Ubermalungstechniken charakterisierten Versuchen im späteren Œuvre Heiner Müllers, insbesondere in >Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten< (1982) oder >Bildbeschreibung< (1984), in den Mythosallusionen von Botho Strauß' >Kalldewey. Farce< (1981) oder Caryl Churchills und David Lans >A Mouthful of Birds< (1986) mit ihren jeweiligen >esoterischen< Bezügen auf die >Bakchen< des Euripides, in der polyphonen Montage von Textfetzen aus der zweieinhalbtausendjährigen >patriarchalischen< Bearbeitungsgeschichte des Medea-Stoffes in Tony Harrisons >Medea. A sex-war opera< (1985) oder in dem feministischen Stimmengemisch und Körper-Gesang von Hélène Cixous' >Le nom d'Œdipe. Chant du corps interdir (1978). Aber wo den poststrukturalistischen Varianten des Intertextualitäts-Konzepts mit ihrer Leitmetapher von der >Echokammer< der Weltliteratur im Blick auf solche postmodernen Theaterpartituren und ihre kaum mehr an feste Rollen und Subjektvorstellungen gebundene dramatische écriture - wir werden diesen Antiken-Experimenten künftig eine eigene Studie widmen - zumindest der Status einer erhellenden Parallele zukommt, erweist sich ihre Erschließungskraft im Blick auf die Dramatik der klassischen Moderne mit ihren festeren Konturen als durchaus begrenzt. Hier stellt es sich (auch abgesehen von der epistemologischen Zweifelhaftigkeit ihres philosophischen Basalaxioms vom Subjekt- und referenzlosen floating sprachlicher Zeichen) als entscheidendes Manko der poststrukturalistischen Intertextualitäts-Theorien dar, daß sich ihrem globalen, letzten Endes zur Tautologie tendierenden Begriff eines universalen Intertextes keine hinlänglich präzisen analytischen Unterscheidungen mehr abgewinnen lassen: Wo »kein Text mehr nicht intertextuell«88 ist, büßt das so gefaßte Intertextualitätstheorem seine Spezifität ein und wird als Differenzkriterium der literaturwissenschaftlichen Analyse letztlich unbrauchbar.8' Oder, ganz aus dem Horizont unseres Vorhabens gesprochen: Wenn man sich anschickt, nach konkreten Verhältnissen von Wiederholung und Widerspruch, challenge und response zwischen je bestimmten literarischen Werken oder distinkten Werkgruppen zu fragen, hat die sibyllinische Auskunft, daß im globa88 89

So pointiert Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 8. Dies in Übereinstimmung mit Pfister (ebd., S. 15), der formuliert: »[...] ein Konzept, das so universal ist, daß zu ihm keine Alternative und nicht einmal dessen Negation mehr denkbar ist, ist notwendigerweise von geringem heuristischem Potential für die Analyse und Interpretation.«

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len »Universum der Texte< sowieso alles mit allem irgendwie vernetzt sei, einen durchaus begrenzten Orientierungswert. Für das gegenwärtige Vorhaben instruktiv und brauchbar sind dagegen jene >engeren< und spezifischeren Intertextualitäts-Modelle, die sich, bei im einzelnen durchaus unterschiedlichen hermeneutischen oder strukturalistischen Akzentuierungen, >textdeskriptiv< um die Erhellung des Wechselspiels und der - bewußten, intendierten und markierten! - strukturellen ebenso wie semantischen Relationen zwischen je bestimmten Texten, Textgruppen oder Textgattungen bemühen.90 Unter diesen Arbeiten, in denen »Intertextualität nicht als universelles Prinzip ästhetischer Literatur bzw. Rezeption«, geschweige denn als inhärentes Merkmal von Textualität überhaupt gefaßt ist, »sondern als eine Möglichkeit, eine Alternative, ein Verfahren des Bedeutungsaufbaus literarischer Werke«,9' ragt Gérard Genettes großangelegter Entwurf »Palimpsestes. La littérature au second degrélivresqueWelthaltigkeit< anerkannt, ein mit dem Basteln (bricolage) verwandtes94 Verfahren der Wiederverwendung vorge90

Neben dem bereits genannten Sammelband >Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien< vgl. vor allem die Beiträge des Bandes: Influence and Intertextuality in Literary History, ed. by J a y Clayton & Eric Rothstein, Madison/London: The University of Wisconsin Press, 1991 ; siehe ferner Laurent Jenny : La strategie de la forme. In: Poétique 2/(1976), S. 2 5 7 - 2 8 1 ; Michael Riffaterre: La production du texte, Paris 1979, und ders.: The Semiotics of Poetry, London 1980; Ralf Sudau: Werkbearbeitung, Dichterfiguren. Traditionsaneignung am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur, Tübingen 1 9 8 5 . - Den Stand der deutschen Diskussion spiegeln mehrere Sammelbände: Renate Lachmann (Hrsg.): Dialogizität, op.cit.; Wolf Schmid und Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien 1983; Karlheinz Stierle und Rainer Warning (Hrsg.): Das Gespräch, München 1984 (= Poetik und Hermeneutik. 1 1 ) .

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So Wolfgang Preisendanz: Zum Beitrag von R. Lachmann >Dialogizität und poetische Spraches in: Dialogizität, S. 25-28, hier S. 26Í. Paris: Édition du Seuil, 1982 (= Collection Poétique). Die deutsche Übersetzung (Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt/M. 1993) ist leider sehr fehlerhaft; daher wird durchweg nach dem französischen Originalwortlaut zitiert. Palimpsestes, S.453. Vgl. ebd., S.451.

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fundener Strukturen, das, durchaus mit dem Grundgestus des Spiels (jeu), alte Werke in neue Sinnkreisläufe einspeist" und zu seiner vollen Realisation auch vom Rezipienten die Fähigkeit zur doppelten - und im genauen Sinne: komparatistischen - Optik einer den neuen Text (bei Genette: >HypertextHypotextes< lesenden lecture relationnelle oder lecture palimpsestueuse fordert.96 Zum anderen sind bei Genette prägnante, heuristisch leistungsfähige Nomenklaturen zur Beschreibung und Unterscheidung der mannigfachen Ableitungs- und Bezugsverhältnisse zwischen Texten entwickelt, eine deskriptive Kategorientafel, die jeder Analyse literarischer Transformationsprozesse (und so an vielen Stellen auch einer Untersuchung zum modernen >Drama der mythischen Methode^ wertvolle Hilfen bietet. Auch der im Untertitel der vorliegenden Arbeit und durchgängig in den Darstellungszusammenhängen der nachfolgenden Studien verwendete Begriff der >TransformationPalimpsestes< breit und differenziert entfaltet.'8 >Transformation< stellt dort einen intern reich gegliederten Oberbegriff für eine Skala literarischer Verfahrensweisen dar, in denen klar identifizierbare Ausgangstexte durch Techniken der Parodie oder Travestie, der raum-zeitlichen oder kulturellen Versetzung (transposition), der formalen, stilistischen oder thematischen Variation, der pragmatischen Um-Motivierung oder semantisch-ideologischen Um-Wertung (transvalorisation) etc. so verändert werden, daß aus diesen Eingriffen neue >Folgetexte< - Genettes littérature au second degré - entstehen, die einerseits als vollgültige und selbständige Werke auftreten, andererseits jedoch, eben durch ihre spezifische Differenzqualität, in der Weise eines (durch die lecture relationnelle aufgenommenen) Kommen91

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»[...] l'hypertextualité a pour elle ce mérite spécifique de relancer constamment les oeuvres anciennes dans un nouveau circuit de sens.« Ebd., S.453. Vgl. ebd., S.452. Für eine vorbildliche Anwendung auf dem Gebiet des (veränderten) Fortwirkens griechischer Tragödien-Modelle bei Seneca und in der nachantiken europäischen Dramatik vgl. den Abschnitt »Transformations« bei Charles Segal: Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text (Ithaca und London: Cornell University Press, 1986, S . 3 1 5 - 3 7 5 ) . Siehe auch die Verwendung bei Margret Schuchard: Der theatralische Aeneas. Transformationen einer klassischen Gestalt. In: Antike Tradition und Neuere Philologien. Symposium zu Ehren des 75. Geburtstages von Rudolf Sühnel, hrsg. von Hans-Joachim Zimmermann, Heidelberg 1984, S. 57-70. Vgl. insbes. S. 1 i f f . , 33ff., 237-453.

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tars auf ihre Prätexte zurückverweisen. Für die Zwecke unserer Untersuchung empfiehlt sich der Terminus aus mehreren Gründen: Zum einen ist er bei klaren Außengrenzen - transformative Verfahren sind von nicht-transformativen Schreibweisen eindeutig zu unterscheiden - flexibel und differenzierungsfähig genug, um die in unserem komparatistischen Textrepertoire erkennbare ästhetische und funktionale Vielschichtigkeit der variierenden Bezugnahme auf den Kanon der griechischen Tragödie auf den Begriff zu bringen, ohne der Vielfalt der Phänomene Gewalt anzutun. Die Leistung des Begriffes besteht, mit anderen Worten, in einer angemessenen Balance zwischen Vereinheitlichung und Differenzierung. Zum anderen scheint im Hinblick auf die eigentümliche künstlerische Qualität und den ästhetischen Reiz der hier untersuchten intertextuellen Kanonvariationen der Terminus Transformation vor vergleichbaren Begriffen wie Bearbeitung, Adapt(at)ion, Retraktation u.ä. den Vorzug zu verdienen, weil er weniger als diese Konkurrenten an ein -&z«gverhältnis von >authentischenOriginalen< und sekundär-abgeleiteten, kulturell >entwurzelten< und ästhetisch >parasitären< Nachfolgetexten denken läßt (und damit weniger in Gefahr steht, einem bildungskonservativen parti pris Vorschub zu leisten, wie wir ihn oben am Beispiel von George Steiners >Der Tod der Tragödie« kritisiert haben). Daß der Transformationsbegriff dazu einlädt, an den produktiven Rezeptionsvorgängen im Mittelpunkt unserer Studie nicht den Aspekt des in wähl- und wehrloser Passivität oder Epigonalität erlittenen Einflusses übermächtiger kanonischer Gründertexte der Weltliteratur wahrzunehmen, sondern in umgekehrter Blickrichtung den Vorgang von den modernen Folgetexten und ihren Autoren her als aktive Aneignung und methodisch bewußtes Verfahren der Bezug- oder auch Distanznahme mittels beschreibbarer literarischer Techniken und unter rekonstruierbaren intellektuellen Prämissen zu begreifen, empfiehlt ihn in unseren Augen nachdrücklich. - Schließlich spricht für den Begriff Transformation, daß er die nach- und gegenklassische, nicht mehr unter ästhetischen Nachahmungsgeboten (imitatio veterum) stehende Aneignungs- und Bearbeitungstendenz in vielen Texten des modernen Korpus, also ihr im Vergleich mit früheren Rezeptionsstufen besonders ausgeprägtes Streben nach Distanzierung, Veränderung und innovatorischer Eigenständigkeit, deutlicher zum Ausdruck bringt als benachbarte Termini. Solcher Anschlußmöglichkeiten ungeachtet werden sich die folgenden Studien auch in methodischer Hinsicht nicht einseitig aufnehmend verhalten und sich nicht auf die Anwendung existierender Modelle beschrän33

ken." Vielmehr bietet gerade die produktive Rezeption und Transformation der griechischen Tragödie im Drama des 20. Jahrhunderts, also der über große zeitliche und kulturelle Entfernungen erfolgende kreative Rückgriff auf ein weltliterarisches Paradigma mit sehr spezifischen geschichtlichen Voraussetzungen, der vergleichenden Analyse eine exzellente Gelegenheit, um über das Studium reiner Texibeziehungen hinauszufragen und die dramatischen Partituren an beiden Enden ihrer Zeitachse auch als Texte-in-Kontexten zu begreifen,100 und zwar, entgegen der landläufigen Rede von einer abendländischen Kulturtradition oder vom ungebrochenen >Fortleben der Antikes als Texte in außerordentlich verschiedenen Kontexten. So ist, wie oben schon hervorgehoben wurde, die attische Tragödie nicht lediglich ein Ensemble von Texten, sondern, trotz ihrer thematischen Tendenz zur transhistoricité, zugleich eine soziale und politische, religiöse und kultische Institution, autochthones Produkt und Reflex der spezifischen, ganz und gar unübertragbaren historischen und mentalitätsgeschichtlichen Gegebenheiten in der athenischen Polis des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Und umgekehrt stehen die Reaktualisierungen des 20. Jahrhunderts ihrerseits in spezifisch gegenwärtigen Verhältnissen, zielt ihre Transformation griechischer Vorgaben von vornherein nicht auf eine Restitution oder >Renaissance< der Antike - wie klas" Wiewohl noch einmal bekräftigt sei, daß auch die Erprobung vorgelegter Intertextualitäts-Entwürfe an weltliterarisch wirklich signifikanten komparatistischen Korpora weiterhin ein Desiderat darstellt. Die ganze Diskussion um Konzepte wie Intertextualität, Dialogizität usw. wird in weiten Teilen stark theorielastig geführt - der variable Beispielreichtum und überhaupt der spielerisch-lustvolle Literaturbezug von Genettes Arbeit ist auch diesbezüglich eine rühmliche Ausnahme - und leidet an einem notorischen Defizit überzeugender Fallstudien. Vgl. aber aus jüngerer Zeit zwei respektable Arbeiten zur produktiven Shakespeare-Rezeption: Klaus Peter Steiger: Moderne Shakespeare-Bearbeitungen. Ein Rezeptionstypus in der Gegenwartsliteratur, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, und Bert Schwarzer: Hamlet liest Hamlet. Produktive Rezeption eines weltliterarischen Schlüsseltextes in der Moderne, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1992 (= Neue Studien zur Anglistik und Amerikanistik Bd. 59). 100

In ihrer Uberzeugung von der uneingeschränkt gegebenen (oder jedenfalls uneingeschränkt möglichen) Wirklichkeitsreferenz und kulturellen Aussagefähigkeit auch einer intertextuell verfaßten littérature au. second degré berühren sich die hier vorgetragenen Überlegungen mit dem Beitrag von Bernd Schulte-Middelich: Funktionen intertextueller Textkonstitution (In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, op. cit., S. 197-242). Auch für diesen Autor ist es eine »unnötige und wenig überzeugende Einschränkung [...], wenn nicht nur bei den Poststrukturalisten die These vertreten wird, der Bezug in einem Folgetext auf einen Prätext und die daraus resultierenden Einsichten oder Probleme verhinderten, wenigstens teilweise, die außertextliche, die lebensweltliche Gerichtetheit des Folgetextes.« Der »lebensweltliche Bezug« von Texten werde »auch durch Intertextualitätsverfahren nicht unterbunden«, ja, in der Konfrontation von Prätext und Folgetext werde »der Bezug auf Wirklichkeit eher komplexer und tiefer.« (Ebd., S.207). Damit übereinstimmend auch Genette, Palimpsestes, S.453. 34

sizistisch orientierte Epochen sie sich in einer creative misprision (Harold Bloom), d.h. in ebenso illusionärer wie produktiver Verkennung tatsächlicher Abstände, noch erträumt haben mögen - , sondern auf dezidiert >heutige< Situationen und Zwecke. Diese unüberbrückbare Differenz nun sollte man nicht zum Anlaß nehmen, um - auf den Spuren von Steiners polemischem Verdikt - in letztlich ganz unproduktiver Zeitenschelte über die ästhetische Irrelevanz und ontologische Illegitimität der kulturell >entwurzelten< modernen Versionen antiker Vorgaben zu räsonieren. Als das fruchtbarere Prinzip erscheint es demgegenüber, gerade Differenz als Erkenntnischance zu begreifen, als die methodisch vorteilhafte Bedingung der Möglichkeit nämlich, in der Konfrontation des manifest Verschiedenen Identitäten und Alteritäten zu klären101 und aus der Beobachtung von Anschluß- und Abweichungsverhältnissen zwischen Texten aus verschiedenen historischen, sozialen, mentalen Kontexten und mit divergierenden kulturellen Funktionen neue und fruchtbare Fragestellungen zu entwikkeln: Im Blick auf das moderne Drama der >mythischen Methode< soll es daher in den folgenden Untersuchungen immer wieder auch um Aspekte der semantischen Uberformung und >ideologischen< Ingebrauchnahme antiker Prätexte, um Modi ihrer zeitgeschichtlichen Applikation und um andere >Logiken< der kulturellen Aneignung und Instrumentalisierung von Modellen aus entlegenem historischem Kontext gehen. Methodisch gewendet: Angestrebt sind Versuchsanordnungen, die es gestatten, den textdeskriptiven Grundzug einer Intertextualitätstheorie à la Genette um &ontextanaly tische Fragestellungen zu erweitern und - in entschiedenem Gegensatz zu allen Vorstellungen vom referenzlosen interplay frei flottierender textueller Signifikanten - die Beobachtung des >Dialogs der Texte< um die komplementäre Sichtweise einer literatur- und kultursoziologisch orientierten Theorie der >Inter&oratextualitätinterkulturellen< Wechselspiels oder >Agons< zwischen Texten aus signifikant verschiedenen >WeltenAthenäums-Fragmenten< Friedrich Schlegels umschreiben. Zum einen: »Man kann niemand zwingen, die Alten für klassisch zu halten oder für alt; das hängt zuletzt von Maximen ab«102 - eine These, die sich in unserem engeren Themenzusammenhang in die Feststellung übersetzen läßt, die attische Tragödie des fünften Jahrhunderts sei ein weltliterarisches Gründungspotential von großer und keineswegs auf Epochen mit klassischklassizistischem Erwartungshorizont (»Maximen«) beschränkter Erneuerungs- und Aktualisierungsfähigkeit. Und zum anderen: »Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte; vorzüglich sich selbst«103 - was im Blick auf das Drama der >mythischen Methode< besagen will: Der produktive Umgang moderner Dramatiker mit einem paradigmatischen Textkorpus und Gattungsmodell der weltliterarischen Überlieferung ist eo ipso zugleich ein Vorgang der Se/fciverständigung, der künstlerischen Selbstdefinition im Spiegelmedium neu angeeigneter alter Texte und der in dramatischen Retraktationen erschriebenen Differenz zu ihnen. Diese beiden Impulse zusammengenommen, der Rekurs auf Vorgängertexte aus dem kanonischen Fundus der griechischen Tragödie und ihre kreative Transformation, bezeichnen die typologische Eigenart unseres Textrepertoires und konstituieren, bei aller internen Pluralität der Zugangs-, Verfahrens- und Schreibweisen, die Einheit unseres Untersuchungsfeldes. Für die Überzeugung, daß dieser intertextuelle Typus entgegen allen Vorurteilen gegenüber seinem abgeleiteten Status, seiner >palimpsestuösen< Vermittlung durch den alten Text unter dem neuen Text, eine vollwertige, ja in vielfacher Hinsicht eine künstlerisch besonders attraktive und kultursemantisch sehr aussagekräftige literarische Option darstellt, läßt sich abermals die aphoristische Begründung eines pro-

101

Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Kritische Schriften, hrsg. von Wolfdietrich Rasch, 2. erw. Aufl. München 1964, S. 43. ,0 ' Ebd., S.44.

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minenten Gewährsmannes anführen, nämlich Goethes resolute Zurückweisung fragwürdiger Originalitätsforderungen in den »Maximen und Reflexionenc Man sagt wohl zum Lobe des Künstlers: Er hat alles aus sich selbst. Wenn ich das nur nicht wieder hören müßte! Genau besehen, sind die Produktionen eines solchen Originalgenies meistens Reminiszenzen; wer Erfahrung hat, wird sie meist einzeln nachweisen können.'04 Die vorliegenden Studien beabsichtigen nicht, im Sinne eines Repertoriums den gesamten, ebenso unüberschaubaren wie diffusen, Bestand von Antikenbearbeitungen im modernen Drama zu erfassen; 10 ' vielmehr geht es um die exemplarische Analyse ausgewählter Tragödientransformationen aus den wichtigsten deutsch-, englisch- und französischsprachigen Literaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein vorrangiges Kriterium der Auswahl stellt dabei die literarische Qualität der jeweiligen kreativen Verwandlungen dar, ihre prägnante Verwirklichung einer Bearbeitungsidee, die künstlerische Originalität ihrer >Arbeit am Mythos< (bzw. ihrer >Arbeit am Mythos im Medium der griechischen TragödieÉlectre< oder Anouilhs >Antigone< und >Médée< stärker als die freie Homer-Variation von >La guerre de Troie n'aura pas lieu< oder die phantasievollen Metamorphosen des Orpheus-Mythos in Anouilhs >EurydiceOrphée< oder Tennessee Williams' >Orpheus Descending^ Die Auswahl der Beispiele ist auch hier jeweils durch das Ziel bestimmt, zwischen Texten der dramatischen Moderne und ihren antiken Tragödien-Prätexten (sowie bisweilen im Seitenblick auf >klassische Varianten der neuzeitlichen Bearbeitungsgeschichte eines mythischen Sujets) intensive und instruktive Dialoge zu entfachen. Hinsichtlich ihrer Darstellungsform sind die nachfolgenden Kapitel dem Ideal einer möglichst ausgewogenen Balance zwischen literarhistorisch-hermeneutischer Exegese, systematisch-typologischer Reflexion und weiterreichender kulturtheoretischer Erörterung verpflichtet. Textnahe philologische Evidenz und Gerechtigkeit gegenüber dem Einzelwerk in seiner je individuellen literarischen Besonderheit sollen mit übergreifenden theoretischen Konzeptualisierungen aus wechselnder dramaturgischer, gattungspoetischer, aber auch kulturgeschichtlich-funktionsanalytischer Perspektive alternieren und sich zu einem flexiblen Untersuchungsaufbau vereinigen, der für komparatistische Gruppenbildungen und literaturtheoretische Abstraktionen ebenso Raum läßt wie für die konkrete Erörterung des ästhetischen Details und der einzelnen Bedeutungsnuance. Einen integralen Bestandteil der Untersuchung quer durch die Abfolge ihrer Kapitel und im Blick auf das gesamte Korpus des Dramas der >mythischen Methode< bilden Fragen des poetischen >Gemacht-

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Dies in Übereinstimmung mit Fuhrmanns (Mythos als Wiederholung, S. 129) Einsicht: »Nur die Repliken auf antike Dramen binden sich so streng an ein konkretes Gegenüber, daß der Vergleich zu den Wesensmerkmalen des Mitvollzuges gehört. W o lediglich ein wie immer überlieferter Mythos wiederaufgenommen wird, dort hat sich der moderne Dichter ein viel größeres Maß an Freiheit vorbehalten; den einzelnen Figuren und Situationen, an die er sich bindet, steht ein von ihm erfundenes Handlungsgefüge gegenüber, und der Mythos zeigt Neigung, sich zu einem allgemeinen Symbol zu verflüchtigen.«

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seins< und der - für intertextuelle Schreibweisen nachgerade konstitutiven - metaliterarischen bzw. »metadramatische[n] Reflexion«.107 Ebenso werden implizite und explizite Stellungnahmen zur Möglichkeit, zur Gestalt, zu den Funktionen der Tragödie im Epochenhorizont einer säkularen Moderne aufgegriffen und bedacht, wo immer sie im Dramenkorpus der Arbeit oder in den begleitenden Äußerungen der Autoren eine Rolle spielen, und schließlich wird durchgängig versucht, den antiken wie den modernen Dramen als Texten in unterschiedlichen kulturellen Kontexten gerecht zu werden. Insgesamt ist ein mittleres Abstraktionsniveau der Darstellung und eine Tendenz zur Synthese angestrebt. Die vier Kapitel der Untersuchung behandeln, mit vereinzelten Ausblicken auf jüngere Entwicklungen, im Kern prägnante Konstellationen im internationalen Mythendrama der ersten Jahrhunderthälfte auf einer Linie von der durch Nietzsche angestoßenen Revision des Antikenbildes im Drama des Fin de siècle und der Wiener Moderne bis zu Brechts epischem Theater und zur späten Dramatik T.S. Eliots. Bei aller internen Verschiedenheit ist den durch diesen Zeitrahmen erfaßten Texten aus der Ära der klassischen oder Hoch-Moderne ein gewisser Grundbestand an Merkmalen und Uberzeugungen gemeinsam: ein offensives und relativ selbstgewisses Modernitätsbewußtsein mitsamt einer deutlich akzentuierten geschichtsphilosophischen Distanz gegenüber der Antike wie ihren neuzeitlichen >Renaissancenintakter< literarischer Werkbegriff, die Uberzeugung vom >ontologischen< Vorrang des dramatischen Textes gegenüber seiner theatralischen oder medialen Vermittlung etc., allesamt Parameter, die jenseits des Untersuchungszeitraums, in der jüngeren oder Postmoderne mit ihren polyphonen Uberblendungs- und Ubermalungstechniken, ihrer spielerisch-dekonstruktiven Auflösung des Textbegriffs und der Skepsis gegenüber der Vorstellung linearen geschichtlichen Fortschritts, ihre selbstverständliche Geltung einbüßen werden.108 Das erste Kapitel ist, ausgehend von Nietzsches Theorie der griechischen Tragödie und der Prophezeiung ihrer modernen »Wiedergeburt«, einem (vorwiegend, aber nicht ausschließlich in der deutschen Literatur 107 108

So auch Fuhrmann, Mythos als Wiederholung, S. 137. Diesen jüngeren und jüngsten Antiken-Experimenten aus den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts soll sich künftig ein eigener Folgeband widmen; zum Spektrum der dort zu behandelnden Dramatiker gehören u.a. Mattias Braun, Heiner Müller, Jochen Berg und Botho Strauß, Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini, Marguerite Yourcenar und Hélène Cixous, David Rabe, Caryl Churchill und David Lan, Steven Berkoff, T o n y Harrison und Seamus Heaney, Athol Fugard und Wole Soyinka.

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begegnenden) Typus moderner Tragödientransformationen von Hofmannsthals >Elektra< bis zu Gerhart Hauptmanns >Atriden-Tetralogie< gewidmet, der, unter dezidiert antiklassischen, ekstatisch-expressiven Vorzeichen und mit stark kulturkritisch-polemischen Implikationen, die Prätexte aus dem Korpus der attischen Tragödie in Richtung auf eine präzivilisatorische Vor-Vergangenheit und eine wilde άρχή zu >hintergehen< sucht. Im Zentrum des Interesses an diesen Dramen der >dionysischen Revision steht dabei das eigenartige Junktim von Archaisierung und Avantgardismus, von regressiver und emanzipatorischer Gebärde, komponiertem >Barbarismus< und programmatischer Modernität. Eine diametral entgegengesetzte Spielart der Transposition bildet den Gegenstand des zweiten Kapitels, das sich, unter dem Stichwort eines modern setting und im Hinblick vor allem auf die sehr verschiedenen Ausprägungen dieses Verfahrens bei Eugene O'Neill und T.S. Eliot, mit der aktualisierenden Versetzung griechischer Tragödien-Sujets in zeitgenössische Kontexte, mit der daraus resultierenden Spannung von (scheinbar) realistischem Oberflächen- und mythischem Tiefentext und mit den »subversiven Intentionen dieses Verfahrens beschäftigt. Den Gegenstand des dritten Kapitels bildet die »ironische Modernität der außerordentlich reichen und vielschichtigen französischen Mythendramatik der zwanziger bis späten vierziger Jahre mit Autoren wie André Gide und Jean Cocteau, Jean Giraudoux und Henry de Montherlant, Jean Anouilh und Jean-Paul Sartre. Die Bewegung dieses Kapitels führt von der ausführlichen Erörterung dramaturgischer Strategien, die die antiken Vorlagen mit einem French Dressing aus Formelementen der Burleske, Groteske und Farce überziehen und im Mittel spielerischer Illusionsdurchbrechung Effekte ironischer Zwei-Zeitigkeit und artistischer Selbstreflexion erzielen, zur Diskussion konkurrierender Konzepte der modernen Tragödie (bzw. der zeitgemäßen Tragödien-Vereitelung) und weiter zur Darstellung der für diese nationale >Schule< charakteristischen Dimensionen politischer und philosophischer Aktualität. Eine ausführliche Analyse von Bertolt Brechts >Antigone-Modell i948< nach der Tragödie des Sophokles bildet den Gegenstand des vierten und abschließenden Kapitels. Hier geht es zu gleichen Teilen um Aspekte der sprachlichen und dramaturgischen Zurichtung eines (als formal interessant, aber als historisch obsolet empfundenen) antiken Klassikers mit den Mitteln des epischen Theaters wie um die >Durchrationalisierung< des griechischen Prätextes mit dem Ziel seiner Anpassung an den politischen Bewußtseinshorizont einer marxistisch >aufgeklärten< Gegenwart. 40

5· Bemerkungen zur Zitierweise Literarische Quellen aus modernen Sprachen werden im folgenden grundsätzlich im originalen Wortlaut zitiert; Passagen aus griechischen Tragödien fallweise in (jeweils angegebener) Ubersetzung oder im Original mit beigegebener deutscher Version. Die Schreibung mythologischer Personennamen differiert schon bei den antiken Autoren selbst (Aischylos hat Klytaimestra, wo Sophokles Klytaimnestra schreibt), und die modernen Dramen geben ihre je nationalsprachlichen Varianten: Klytämnestra, Clytemnestra, Clytemnestre, Ödipus, Œdipe, Edipo, sogar Eddy. Die Darstellung sucht, rebus sie stantibus, nicht >ordentlicher< zu sein als ihr Gegenstand selbst und erfreut sich an der Namensvielfalt als einem Indiz kreativer Polyphonie: Bei der Erörterung einzelner Texte wird daher deren jeweilige Schreibweise übernommen; in allgemeineren Zusammenhängen ist die im Deutschen geläufige Form gebraucht. Sekundärliteratur wird bei der jeweils ersten Nennung in einem Kapitel mit vollständiger bibliographischer Angabe, danach mit Kurztitel zitiert. In Zweifelsfällen gibt das Literaturverzeichnis Aufschluß.

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I. >Dionysische Revisionen^ Mythendramatik nach Nietzsche zwischen Archaismus und Avantgarde

ι. »Eine neue Antike schaffen«: Aufbrüche im Fin de siècle Die Kultur, die uns trägt, und an der, wie an den Planken eines alten Schiffes, der gewaltigste und anhaltendste Sturm seit einem Jahrtausend jetzt rüttelt, ist in den Grundfesten der Antike verankert. Aber auch diese Grundfesten selber sind kein Starres und kein Totes, sondern ein Lebendes. Wir werden nur bestehen, sofern wir uns eine neue Antike schaffen: und eine neue Antike entsteht uns, indem wir die griechische Antike, auf der unser geistiges Dasein ruht, vom großen Orient aus neu anblicken. 1

Als Hugo von Hofmannsthal 1921, anläßlich einer Besprechung von K.E. Neumanns Buddha-Ubersetzung, mit den zitierten Worten von der Notwendigkeit einer produktiven Neuaneignung der Antike, ja von der Erfindung einer »neuen Antike« spricht,2 formuliert er, entgegen dem futurischen Gestus seiner Aussage, längst kein Zukunftsprogramm mehr, sondern gibt das bündige Resümee eines seit Jahrzehnten in Gang befindlichen >Antikenprojektsarchäologische< Argumentationen aus dem Horizont kulturgeschichtlicher Forschung oder klassisch-philologischer Erudition 3 überlagern sich mit polemischen Attacken auf eingespielte, zu bloßem Bildungsgut abgesunkene klassizistische Antikenkonzeptionen und mit unverkennbar gegenwartsbezogenen Anwendungen des neuen >Wissenstheoretischen< und >poetischen< Bearbeitungen des Antikenproblems zu mannigfachen stilistischen Berührungen, gedanklichen Kontinuitäten, Funktionsübergängen: Die literarischen Gestalter des neuen Griechenbildes, allesamt Repräsentanten des Typus poeta doctus, profitieren von ihren Lektüren der altertumskundlichen Wissensavantgarde und berufen sich nicht selten namentlich auf ihre Gewährsmänner und Inspiratoren - Hofmannsthals >GriechenlandVersuch einer Selbstkritik zur >Geburt der Tragödie< bedauert, »daß ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!« 6 - Diese vibrierende Vielschichtigkeit des zeitgenössischen Antiken-Diskurses, sei-

' Umfassende Einblicke in das Spektrum eröffnet der Sammelband: Les études classiques aux X I X e et X X e siècles: Leur place dans l'histoire des idées. Entretiens préparés et présidés par Willem den Boer, Vandoeuvres-Genève 1979 (= Entretiens sur l'antiquité classique X X V I ) ; vgl. dort bes. den Aufsatz von Walter Burkert: Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, S. 159-207. Siehe ferner Hugh Lloyd-Jones: Blood for the Ghosts. Classical Influences in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1982, und Renate Schlesier: Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt/M. 1994 (mit umfangreicher Bibliographie). 4

! 6

H u g o von Hofmannsthal: Griechenland. In ders.: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, Frankfurt/M. 1979, S.629. Ebd., S . 6 2 9 f . Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, 7. Aufl. München 1973, Bd. I, S. 12. (Im folgenden zit. als >Geburt der TragödieBuch der Freundec Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und die Nietzschesche nebeneinander, ebenso die von Winckelmann und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen.7 Die Arbeit am Entwurf einer »neuen Antike« und die Suche nach dem Selbstbild der Moderne stehen demnach in enger wechselseitiger Beziehung, ja sie sind, wie Hofmannsthals hermeneutische Metapher vom »magischen Spiegel« ausdrückt, nicht ohne einander zu denken: Weder ist, nach dieser Vorstellung, eine rein >objektiveAuffassungenAugenblicke in Griechenland^ - , noch vermag, am gegenwärtigen Ende dieser hermeneutischen Relation, die Moderne ohne die klärende Verfremdung ihrer Spiegelung in der Antike zu einem angemessenen Selbstverständnis zu gelangen: Aus dem verdeutlichenden Reflexionsmedium des fremden Alten soll ihr zuletzt die »eigene Gestalt« in »gereinigter Erscheinung« entgegentreten. Die folgenden Überlegungen dienen dem Versuch, die Dialektik von Archaismus und Modernität in einigen Tragödien-Transformationen seit der Jahrhundertwende exemplarisch zu beleuchten. Gemeinsam ist diesen Werken - Hugo von Hofmannsthals >Elektra< (1903) und den d i o n y s i schen Tragoedien< (1913) von Rudolf Pannwitz, dem dramatischen Poem >The Tower Beyond Tragedy< (1924) des Amerikaners Robinson Jeffers sowie Hans Henny Jahnns expressionistischer >Medea< (1926) und, als nur scheinbarem Nachzügler, Gerhart Hauptmanns >Atriden-Tetralogie< aus den Jahren 1940-45 - , daß sie, auf je individuelle Weise, die mannigfachen zeitgenössischen Impulse zur Wiederentdeckung einer prähistorischen, »dunkleren und wilderen Antike« aufgreifen und mit unmittelbar gegenwartsbezogenen Intentionen zu dramatischen Partituren dionysisch-orgiastischer Grenzüberschreitung verschmelzen. In allen Fällen gibt dabei die relecture griechischer Tragödien aus der Perspektive antiklassizisti7

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Hugo von Hofmannsthal: Buch der Freunde. In ders.: Reden und Aufsätze III ( 1 9 2 5 1929). Aufzeichnungen, Frankfurt/M. 1980, S.265. In: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, Frankfurt/M. 1979, S.618. 45

scher Ästhetiken und Kulturtheorien den Anstoß zur >neo-archaischen< ré-écriture der Prätexte, und wo >Einflüsse< und theoretische Inspirationen ins Spiel kommen, sind es wenige Namen und Denkansätze, die regelmäßig auftauchen und das projizierte Bild der Antike entscheidend bestimmen: Schopenhauer und Nietzsche, Bachofens Studien zum archaischen Matriarchat,9 Jacob Burckhardts Baseler Vorlesungen zur griechischen Kulturgeschichte (die den pointierten Vorwurf erheben, das Antikenverständnis der Goethezeit sei »eine der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urteils, welche jemals vorgekommen«10), schließlich Erwin Rohdes Abhandlung >Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen< mit ihrer Rekonstruktion der ekstatischen, chthonischen, >irrationalen< Elemente der griechischen Rèligion und, in der Kontinuität dieser Forschungen, die Neudeutung griechischer Mythenkomplexe in der Psychoanalyse Sigmund Freuds und seiner Schule." Parallele Bestrebungen zur Revision des Antikenbildes sind in England mit den kulturanthropologischen und religionsgeschichtlichen Studien Jane Harrisons, James George Frazers und der Cambridge School im Gang; 12 die >Greek Studies< von Walter Pater über die dionysischen und chthonischen Kulte 9

Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Zwei Hälften. 3. Aufl. Mit Unterstützung von Harald Fuchs, Gustav Meyer und Karl Schefold hg. von Karl Meuli (Johann Jakob Bachofens Gesammelte Werke, Bd. 2-3), Basel 1948. Vgl. Eckhard Heftrich: Johann Jakob Bachofen und seine Bedeutung für die Literatur. In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Helmut Koopmann, Frankfurt/M. 1979, S. 23 5-250.

10

So der berühmte, den »Pessimismus als Grundzug des griechischen Wesens« beschreibende >Fünfte Abschnitt (»Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens«) in: Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. Mit einem Nachwort zusammengefaßt hrsg. von Rudolf Marx, Stuttgart 1940, Bd. 2, S. 3 1 . Im Zusammenhang lautet die Stelle: »In betreff der alten Griechen glaubte man seit der großen Erhebung des deutschen Humanismus im vorigen Jahrhundert im klaren zu sein: im Widerschein ihres kriegerischen Heldentums und Bürgertums, ihrer Kunst und Poesie, ihres schönen Lebens und Klimas schätzte man sie glücklich, und Schillers Gedicht >Die Götter Griechenlands< faßte den ganzen vorausgesetzten Zustand in ein Bild zusammen, dessen Zauber noch heute seine Kraft nicht verloren hat. Allermindestens glaubte man, die Athener des perikleischen Zeitalters hätten Jahr aus Jahr ein im Entzücken leben müssen. Eine der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urteils, welche jemals vorgekommen, und um so unwiderstehlicher, je unschuldiger und überzeugter sie auftrat. Man überhörte den schreienden Protest der ganzen überlieferten Schriftwelt, welche vom Mythus an das Menschenleben überhaupt beklagt und verschätzt, und in betreff des besondern Lebens der griechischen Nation verblendete man sich, indem man dasselbe nur von den ansprechenden Seiten nahm [...].« (Ebd., S. 3of.).

11

Vgl. mit weitem kulturgeschichtlichem Ausgriff Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1983, bes. S . i ^ ñ . (»Hugo von Hofmannsthal und Sigmund Freud: Antikenrezeption um 1900«) sowie Peter L. Rudnytsky: Freud and Oedipus, N e w York: Columbia University Press, 1987. Dazu Burkert, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, S. i72ff.; Schlesier, Kulte, Mythen und Gelehrte, S. 145ff.

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der Griechen finden auch in Deutschland, unter anderem durch Hofmannsthal und Hauptmann, starke Beachtung. i.i Zwischen >Archäologie< und Prophetie: Friedrich Nietzsches >Geburt der Tragödie< als Gründungsdokument Diese verschiedenen Perspektiven auf eine archaische Antike bilden, sich vielfach überschneidend und wechselseitig bestärkend, um 1900 eine Art von epochalem Amalgam, ein Griechenbild des Fin de siècle,13 dessen individuelle Komponenten nicht in jedem literarhistorisch interessierenden Einzelfall mit Bestimmtheit zu unterscheiden sind. Gleichwohl kommt, wo die literarische und vollends die dramatische Rezeption des neuen Paradigmas zur Diskussion steht, einer einzelnen Schrift die überragende Bedeutung eines Gründungsdokuments zu: Friedrich Nietzsches Abhandlung >Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus< aus dem Jahr 1872. 14 Jenem früheren Manifest des Klassizismus, Winckelmanns >Gedanken über die Nachahmung der griechischen WerkeGeburt der Tragödie< jene epochale kulturelle15 und literarische Wirkung16 einträgt, deren Geschichte noch immer 13

Vgl. den Aufriß bei Gotthart Wunberg: Chiffrierung und Selbstversicherung des Ich: Antikefiguration um 1900. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, hrsg. v. Manfred Pfister, Passau 1989, S. 190-201.

14

Einen vorzüglichen Kommentar mit weitgespannten kultur-, literatur- und ideengeschichtlichen Perspektiven bieten M.S. Silk/J.P. Stern: Nietzsche on tragedy, Cambridge: Cambridge University Press, 1981. Dazu Richard Frank Krümmel: Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen, Berlin/New Y o r k 1974; Bruno Hillebrand: Frühe Nietzsche-Rezeption in Deutschland. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N . F . 1 7 (1976), S. 1 0 0 - 1 2 7 ; Margot Fleischer: Das Spektrum der Nietzsche-Rezeption im geistigen Leben seit der Jahrhundertwende. Ubersicht und Materialien. In: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 1 - 4 7 .

I!

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Vgl. Bruno Hillebrand: Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 1: Texte zur Nietzsche-Rezeption 1 8 7 3 - 1 9 6 3 . Einführung von Bruno Hillebrand. Bd. 2: Forschungsergebnisse/Bibliographie, München/Tübingen 1978 (Deutsche Texte 50). Zum Einfluß Nietzsches auf das antiklassizistische Griechenbild in der deutschen Literatur zwischen Neuromantik und Expressionismus siehe die kenntnisreiche Skizze bei Lia Secci: Il mito greco nel teatro tedesco espressionista, R o m 1969, bes. S. 7Íf. (»La mitologia greca tra il natu-

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nur in Bruchstücken geschrieben ist. Die in diesem Kapitel erörterten Varianten einer intertextuellen Dramatik aus dem Geist eines >dionysisch< begriffenen und gerade in seiner vorzivilisatorischen Archaik als gegenwartsrelevant aufgefaßten >Griechentums< gehören in den Kontext dieser Rezeptionsgeschichte, und ihre Ansätze zu einer modernen Wiederbegründung der Tragödie wären ohne den entscheidenden Impuls Nietzsches undenkbar. Die Widmung, die Rudolf Pannwitz seinen 1913 im Druck erschienenen >Dionysischen Tragoedien< voranstellt, ist in diesem Sinne bezeichnend für ein intellektuelles Gesamtklima und sein spezifisches Pathos zwischen Befreiung und Abhängigkeit: »Friedrich Nietzsche dem Schoepfer unseres neuen Lebens die Ausgabe dieser Werke als einer ganzen Jugend verspaetete Antwort und Dankbarkeit fuer die Tat.«' 7 Beide Seiten der Nietzscheschen Abhandlung, ihre genetisch-funktionale Ableitung der griechischen Tragödie aus den besonderen geschichtlichen Gegebenheiten einer >pessimistischen< Kultur und die zivilisationsund gegenwartskritische Verallgemeinerung und Applikation dieser h i storischem Einsichten, sind in der produktiven Rezeption wirksam, und gerade in ihrer unverwechselbaren Kombination von >archäologischer< Retrospektive und forciertem Aktualitätsbezug gewinnen Nietzsches Thesen maßgebliche Bedeutung für die Dramaturgie und das intertextuelle Verfahren der hier interessierenden Tragödien-Bearbeitungen. Die aus dieser doppelten Perspektive wichtigsten Argumentationen Nietzsches seien kurz in Erinnerung gerufen.

ralismo e l'espressionismo. La svolta nietzscheana«). - Zur literarischen Wirkungsgeschichte vgl. ferner Paul Böckmann: Die Bedeutung Nietzsches für die Situation der modernen Literatur, DVjs X X V I I (1953), S. 7 7 - 1 0 1 ; Hans Steffen (Hrsg.): Nietzsche. Werk und Wirkungen, Göttingen 1974; James Rolleston: Nietzsche, Expressionism and Modern Poetics. In: Nietzsche-Studien 9 (1980), S . 2 8 5 - 3 0 1 , sowie, vorwiegend an der Erzählliteratur der europäischen Moderne orientiert, John Burt Foster, Jr.: Heirs to Dionysus. A Nietzschean Current in Literary Modernism, Princeton: Princeton University Press, 1981. Auch für Foster stellt die Geschichte der dramatischen Rezeption Nietzsches ein Desiderat der Forschung dar: »[...] the question of Nietzsche and modern drama remains an unexplored territory, both in general literary terms and as regards the special repercussions that >The Birth of Tragedy< could have on playwrights.« (Ebd., S. 415 f.). 17

Rudolf Pannwitz: Dionysische Tragoedien (= Werke. Erster Band), Nürnberg 1 9 1 3 , 8 . 9 . 48

ι . ι . ι Die »Illusion der Kultur« und die »Mysterienlehre der Tragödie«: Nietzsches Rekonstruktion einer ästhetischen Bewältigung Im Blick auf das historische Phänomen der griechischen Tragödie, ihre Genese und ihren geschichtlichen Niedergang, besteht die entscheidende und für das Antikenbild einer nachfolgenden Generation von Intellektuellen und Literaten maßgebende These Nietzsches in der Behauptung, das scheinbar naive und olympisch-heitere Moment der griechischen Kunst und Kultur sei selbst keine ursprüngliche Gegebenheit, nicht Ausfluß eines - wie Winckelmann wollte - klimatisch begünstigten glücklichen Naturells, sondern im Gegenteil das Resultat einer notwendigen Abwehrreaktion, der Bewältigung eines primären Schreckens.' 8 Der genetische Blick des modernen Analytikers und >Psychologen< durchdringt den verklärenden Schein und deckt das darunter verborgene Trauma auf: Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Mißtrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, jener Geier des großen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckenslos des weisen Odipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, samt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermütigen Etrurier zugrunde gegangen sind - wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend von neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen. 1 ' Diese Argumentation zielt nun keineswegs auf die >ideologiekritische< Entlarvung des ästhetischen Scheins als einer lügenhaften Fiktion; vielmehr feiert Nietzsche die >apollinische Illusion< der griechischen Kunst gerade als deren eigenste Leistung, als therapeutisches Medium einer lebensnotwendigen >VerklärungGeburt der TragödieNaive< in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Kultur zu erkennen: welche immer erst ein Titanenreich zu stürzen und Ungetüme zu töten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muß.22 Diese Spannung von »schrecklicher Tiefe« und »lustvoller Illusion« kennzeichnet Nietzsche zufolge die griechische Kunst in ihrer Gesamtheit und in allen verschiedenen Sparten, 23 und insofern sie dem »Einblick in die grauenhafte Wahrheit« 24 eine »Erlösung im Scheine« 2 ' gegenüberstellt und es vermag, »jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt«, 2 6 wirkt sie f ü r den von pessimistischen Einsichten in seinem Lebenswillen bedrohten Griechen als existentielles Stimulans: »Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich - das Leben.« 27

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Ebd. Ebd., S . 3 1 . Ebd. Noch unlängst hat der Archäologe Tonio Hölscher in ausdrücklichem Rekurs auf Nietzsche und unter dem Leitbegriff des >Dionysischen< auf den »Untergrund an Leiden und Zweifeln« verwiesen, über dem in der klassischen Epoche Griechenlands »die selbstgewissen, optimistischen Konzeptionen des Verstandes und der sophrosyne sich erhoben«, und daraus die Forderung nach einer Neubewertung der griechischen Klassik abgeleitet: »Die Geschichte des griechischen Pessimismus ist noch nicht geschrieben worden, ebensowenig die Geschichte der kollektiven psychischen Unterströmungen und Verdrängungen der griechischen Kultur. Beides muß man aber einbeziehen, wenn man die griechische >Klassik< als anthropologisches Phänomen in den Blick bekommen will.« Tonio Hölscher: Die unheimliche Klassik der Griechen, Bamberg 1989 (= Thyssen-Vorträge: Auseinandersetzungen mit der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 8), Zitate ebd. S.17. >Geburt der Tragödies S.48. Ebd., S.40. Ebd., S . 4 8 f . Ebd., S.48. SO

Im Rahmen dieses kulturellen Reiz-Reaktions-Komplexes von metaphysischem Schrecken und ästhetischer Bewältigung 28 kommt es nun jedoch zu einer entscheidenden Differenzierung, die nach Nietzsche die Dignität und zugleich die Sonderstellung der Tragödie im Ensemble der griechischen Künste begründen soll: Wenn in einseitig apollinisch geprägten künstlerischen Ausdrucksformen wie dem Epos oder der Plastik die Kunst das Leben dadurch überhöht (und allererst erträglich macht), daß sie seine Gräßlichkeiten durch Schönheit überspielt und durch >olympischGeburt der TragödieDie Geburt der Tragödie< gibt, [...] das Phänomen der Zweideutigkeit der Kunst in seinem wahren Ausmaß sichtbar. Die Kunst offenbart, wenn auch durch den Rausch vermittelt, die wahre Natur, und als Kunst soll sie eben ästhetisch den schauerlichen Grundcharakter des Seins verdecken.« >Geburt der Tragödies S. 24. Ebd. Ebd., S.62. Ebd., S.47. »Es ist offensichtlich, daß die dionysische Kunst der Wirklichkeit weit adäquater ist als die apollinische. Wahre Erkenntnis und dionysische Kunst haben, so kann man sagen, den selben Inhalt vor sich: das sinnlose Weltgeschehen. N u r ist in der Kunst eben die A b Í

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scher Subversion wird (wie wir sehen werden) zu einem beherrschenden Motiv in der produktiven dramatischen Aneignung von Nietzsches Thesen avancieren, und es sind metaphorische Konstruktionen wie die von dem griechischen »Satyr« als dem »Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur« 3 9 und von dem dithyrambischen Satyrchor als »Selbstbespiegelung des dionysischen Menschen« 4 0 bzw. als »Vision der dionysischen Masse«, 4 ' in denen sich der orgiastische Impuls dieser Theorie am klarsten ausspricht. U b e r den C h o r als das kollektive Ursprungsorgan der Tragödie kann es im Sinne dieser ekstatischen Identitäts- und Grenzaufhebung heißen, er sei »ein C h o r von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre soziale Stellung völlig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, außerhalb aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden.« 4 2 Mit demselben Pathos der Unterminierung beschreibt Nietzsche das kultische Schauspiel der Tragödie als die symbolische Freilegung einer άρχή, in der »die Illusion der Kultur von dem Urbilde des Menschen weggewischt« war: »hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtige Satyr, der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihm schrumpfte der Kulturmensch zur lügenhaften Karikatur zusammen.« 4 5 Indem der tragische C h o r »das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität achtende Kulturmensch«, 4 4 wird er zum dramatischen Organon einer »Poesie«, die »der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit« sein will und »eben deshalb den lügenhaften A u f p u t z jener vermeinten Wirklichkeit des Kulturmenschen von sich werfen« 4 5 muß. Nietzsche erläutert diesen Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch der Tragödie im Rückgriff auf die Kantisch-Schopenhauerische Dichotomie von >Ding an sich< und >Erscheinung< bzw. von >Wille< und >VorstellungAlles muß verständig sein, um schön zu sein< als Parallelsatz zu dem sokratischen >nur der Wissende ist tugendhaft«^'1 Es ist die Verallgemeinerung dieses historischen Befundes, seine Ubersetzung in den prinzipiellen Antagonismus zweier feindlicher Paradigmen der Weltauslegung, die die aktualisierende Wendung des Arguments begründet: Gerade weil »das Dionysische und das Sokratische«' 2 die gegensätzlichen Pole eines permanenten transkulturellen Spannungsfeldes repräsentieren, das für die Gegenwart noch unverändert dieselbe Relevanz besitzen soll wie für die Antike, ist das Schicksal der griechischen Tragödie keineswegs nur eine akademisch-philologische Frage, sondern eine (allerdings besonders gewichtige und symptomatische) Episode in einem weltgeschichtlichen Widerstreit, der auch den gegenwärtigen Betrachter in seinem Selbst- und Weltverhältnis betrifft und zur Teil-

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Drama and German Classicism: Renaissance from Lessing to Brecht, Ithaca/London 1979, S. 239: »>The Birth of Tragedy< does contain a theory of drama, not merely a theory of the tragic. [...] It is, moreover, as much a theory of modern drama as of ancient drama.« Die maßgeblichen Stellungnahmen dieser epochalen Kontroverse sind dokumentiert in Karlfried Gründer (Hrsg.): Der Streit um Nietzsches >Geburt der Tragödien Die Schriften von E. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Hildesheim: Olms, 1969. Zum erbitterten Tonfall der Fehde (»Afterphilologie« etc.) bemerkt Lloyd-Jones (Blood for the Ghosts, S. 172) mit angelsächsischer Zivilität: »The firm of Olms has lately reprinted all this literature inside one cover. It makes distressing reading; the overexcited tone and utter lack of humour of all parties to the dispute - it is significant that the most moderate of them was Richard Wagner - is the kind of thing that makes foreigners despair of the whole German nation.« Siehe ferner William Musgrave Calder: The WilamowitzNietzsche Struggle: New Documents and a Reappraisal. In: Nietzsche-Studien 12(1983), S. 214-254. >Geburt der Tragödien S. 70. Ebd., S. 72. Ebd., S. 71.

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nähme herausfordert: »Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe«, notiert Nietzsche emphatisch, »daß, wer sie schaut, sie auch kämpfen muß!«53 In seiner zeitgenössischen Erscheinungsform stellt sich der >Sokratismus< für Nietzsche in einer durch >AufklärungBruchesUnaufhellbarenDionysischen Tragoedien< stellt eher die Ausnahme 65

»Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber; kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes!« >Geburt der Tragödies S. 1 1 3 .

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

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S.111. S.112. S. 1 1 0 ; Hervorh. im Original. S.112.

dar, wo die Verfasser >neo-archaischer< Tragödien-Transformationen sich über die Beweggründe und Veranlassungen ihrer Bearbeitungen äußern. Aber die eigenen ästhetischen Überlegungen und Werkstattnotizen der Autoren bezeugen zur Genüge, in welchem Grade die in der >Geburt der Tragödie< propagierte Fusion von Archaik und Avantgarde spätestens seit der Jahrhundertwende zum Gemeingut geworden ist: Angesichts der Akropolis erinnert sich Gerhart Hauptmann auf seiner GriechenlandReise im Jahr 1908, es sei »länger als fünfundzwanzig Jahre her, daß mein Geist auf dem Götterfelsen heimisch wurde. Damals entwickelte uns ein begeisterter Mann, den inzwischen ein schweres Schicksal ereilt hat, seine Schönheiten«.70 Hans Henny Jahnn berichtet, im Rückblick auf die Arbeit an seiner Version der >MedeaOrestie< in archäologischen Impressionen aus der griechischen Vorzeit - »I think that photographs of the famous Lion-gate, and other prehistoric stone-work, still standing at Mycenae, had something to do with my choice [,..]«72 - , um dennoch, Emerson zitierend, die unverbrauchte Aktualität und die eigentümliche Zeitlosigkeit der antiken Sujets zu betonen: »Our admiration of the antique is not admiration of the old, but of the natural.«73 Gerade diese Hervorhebung des naturhaft-eruptiven Moments der griechischen Kultur, ihrer kulturell ungebrochenen, >wilden< Authentizität, bildet ein Leitmotiv des neuen literarischen Antikenbildes, 74 und in vielfacher Variation umkreisen die einschlägigen Überlegungen immer 70

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Gerhart Hauptmann: Griechischer Frühling. In: Sämtliche Werke (Centenar-Ausgabe), hrsg. v. Hans-Egon Hass, Berlin 1962, Bd. V I I (Autobiographisches), S.48. Hauptmanns Werke im folgenden immer nach der Centenar-Ausg. ( C A ) mit Band- und Seitenangabe. Hans Henny Jahnn: Mein Werden und mein Werk [1948/49]. In ders.: Werke und Tagebücher in sieben Bänden. Mit einer Einleitung von Hans Mayer hrsg. v. Thomas Freeman und Thomas Scheuffelen, Bd. 7 (Schriften. Tagebücher), Hamburg 1974, S. 3 0 5 - 3 1 6 , hier S. 3 1 2 [Der Band wird im folgenden zit. als >Schriften. Tagebücher»]. So (im Rückblick auf das ca. 1924 entstandene Werk) Jeffers' in der >New Y o r k Times< vom 26. November 1950 erschienener Essay >The Tower Beyond TragedyAffektkonversion< in hysterischen Krankheitsbildern besagt diese Diagnose, die kollektive Psyche der Griechen habe auf die Zumutungen einer zunehmenden Kulturentwicklung und auf die durch sie aufgenötigten Versagungen, Verdrängungen und Triebverzichte mit Ressentiments und hysterischen Störungen reagiert, die wiederum der » Abreaktion« und symbolischen »Entladung« 8 1 bedurft hätten. Als homöopathische Therapie hätten die Griechen das Institut der dramatischen »Katharsis« 8 2 erfunden, das ihnen half, ihre H y s t e r i e auf die größte A r t >abzureagierenFurcht und Mitleid< auch, die den Gelehrten s o schwer wird. [...] A b e r indem die Tragödie stärker als unsere Furcht ist und uns im Verbrechen unseren eigenen Trieb, unseren eigenen Wunsch zu erkennen zwingt, leiden wir mit u n d dies ist es allein, was uns heilt. 8 3

Diese Entlastungs-Theorie der >Katharsis< als einer kontrollierten Regression pointiert zusammenfassend, heißt es in dezidiert physiologischer Wendung, »die tragische Kur« sei »sozusagen ein tiefes Aufatmen von aller Kultur und ein Austurnen der müßigen Muskeln, ein Abschießen der unverwendbaren Energieen«.' 4 Im Fortgang der Diskussion ergibt sich nun jedoch eine höchst aufschlußreiche Unklarheit, die Bahrs Text selbst nicht auflöst, sondern hier bewährt sich die Dialog-Form der Erörterung - auf vielsagende Weise in der Schwebe läßt: Die Unterredner legen sich nämlich die Frage vor, wie zeitgebunden die als Grundlage der griechischen Tragödie erkannte >hy80 81 82 8j 84

>Dialog vom Tragischens S. 14. Ebd., S. 16. Ebd., S.19. Ebd., S.24. Ebd., S.25.

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sterische< Konstellation gewesen sei und welche Aktualität die Tragödie unter den (veränderten?) Bedingungen der Gegenwart noch beanspruchen könne. Statt einer eindeutigen Antwort formuliert der Dialog - und zwar als Rollentext des von den anderen Gesprächsteilnehmern verehrten »Meisters« - zwei alternative Optionen: »Vielleicht haben die recht, welche meinen, daß die Menschen doch immer dieselben bleiben und daß uns heute noch ganz dieselben Leidenschaften bewegen.« 8 ' Träfe diese Annahme zu, dann müßte man auch in der Gegenwart, sobald die sozialen Kontrollen gelockert würden, »sogleich das Tier wieder hervorbrechen sehen. Dann freilich könnten auch wir die Tragödie nicht entbehren.«86 Der >Meister< selbst weist diese Meinung ab und formuliert eine optimistische Gegenthese, die im Kern darauf hinausläuft, es gebe heute Menschen, die nicht mehr wild sind, die sich gar nicht mehr erst überwinden müssen, um gerecht, wohlwollend, neidlos, gütig und liebend zu sein, die gar nicht anders können, die so sind, wie hundert und tausend Jahre lang nur immer geboten wurde, daß der Mensch sei, und die unter den übrigen von der alten Art sich wie zwischen unbegreiflich fremden Tieren in jener neugierigen Verwunderung bewegen [...] wer unter uns ist denn blutgierig und mordlustig oder auch nur neidisch, wer ist denn wirklich böse, so daß er sich, wenn er den Jago oder dritten Richard sieht, ertappt fühlen könnte? [...] Wir haben nur das Glück, von Ahnen abzustammen, die tüchtig an sich gearbeitet und sich durch die vielen Geschlechter so weit empor gebracht haben, daß ihre mühsam erworbene, gewaltsam verteidigte, sorgsam behütete Kultur in den Erben dann endlich zur zweiten Natur geworden ist. Und von uns rede ich, von solchen Menschen, welche jene bösen tragischen Triebe gar nicht mehr mitbekommen haben, sondern dafür schon die helleren Neigungen, die in der Region der schönen Sitte allmählich aufgeblüht sind, und frage nun: Was soll uns also das Tragische noch? In uns ist nichts mehr zum >Abreagieren< da, es kann uns mit seinem Tumult erloschener Begierden, die wir nur noch vom Hörensagen kennen, bloß langweilig oder lächerlich sein, wir brauchen es nicht mehr - wir haben jetzt ein ganz anderes Bedürfnis. 87

Entweder also wäre - nach der hier statuierten Alternative - die Tragödie ein auf langzeitlich stabilen Gegebenheiten (den Zwängen und Frustrationen jeder Enkulturation, der Triebdynamik einer konstanten menschlichen Gattungsnatur etc.) aufruhendes und in diesem Falle dauerhaft unverzichtbares Institut kultureller Krisenbewältigung, oder sie müßte, falls die anthropologischen Dispositionen selbst sich unter dem Einfluß kultureller Erziehungsarbeit allmählich >veredelten< und das Unbehagen in der

8s 86 87

Ebd., S.29. Ebd. Ebd., S. 3 of.

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Kultur sich in ein widerstandsloses >Behagen< an der Kultur als einer >zweiten Natur< verwandelte, zunehmend obsolet werden und hätte dann als spezifisches Produkt einer Frühphase der menschlichen Zivilisation zu gelten. Gegen Nietzsche und Freud (und auch gegen den Tenor im literarischen Antikenbild der Epoche) sympathisiert der >Meister< in Bahrs >Dialog< mit der letzteren Auffassung, derzufolge die Tragödie ihre kulturelle Schuldigkeit getan habe, und er sucht diese Ansicht durch die Vision einer neuen, untragischen Kultur und einer »neue[n] Art von Menschen« zu stützen, »für die wir selbst nur erst Vorübungen wären [...], Urmenschen einer fernen Menschheit, so hoch über uns, als wir über den Affen sind.«88 Antizipationen dieser untragischen Existenz gewahrt der >Meister< bereits bei den attischen Tragikern selbst - er rühmt »des Sophokles zärtliche Chrysothemis und entsagende Ismene« 8 ' - , aber bezeichnenderweise ist es der >01ympier< Goethe, den er zum antitragischen Heros par excellence stilisiert: Die Deutschen tun mit Goethe groß, sie haben sogar eigene Vereine für ihn, aber niemand ahnt ihn noch. Seine Zeit wird erst kommen. Bis einmal mit der alten Menschheit aufgeräumt sein wird, wenn dann die ersten Neuen sich frohlockend ergehen, werden sie gewahren, daß schon vor ihnen einer gewesen ist, heiter wie sie, Herr des Lebens, untragisch durch und durch in seiner Sicherheit und Ruhe.?0

Am Ende bleibt Bahrs >Dialog< ebenso wie die ihn begleitenden Essays unentschieden und vieldeutig: Auf die >apollinischeMeisters< erwidern, mit derselben Verve vorgetragen, >dionysische< Bekenntnisse, die den ekstatischen Charakter der griechischen Kultur feiern und den Inbegriff >griechischer< Lebenshaltung darin erkennen, die »émotion forte, violente so zu begehren, daß man es nicht scheute, von ihr zerrissen zu werden, wie Aktäon von den Hunden.«? 1 Und entgegen 88 89

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Ebd., S.32. Ebd., S.35. Ebd., S . 3 4 f . Im Kontext des Essays >Maximen< lautet die Stelle: »Das Leben der Menschen bewegt sich zwischen Ekstasen und Depressionen. Die große Frage, die jeder zu lösen hat, jeder Einzelne und jede Nation, ist nun, was wichtiger: die höchsten Ekstasen zu erreichen (sei es auch um den Preis furchtbarer Depressionen) oder die Depressionen zu vermeiden (sei es selbst durch Verzicht auf Ekstasen). Jenes war griechisch: die émotion forte, violente so zu begehren, daß man es nicht scheute, von ihr zerrissen zu werden, wie Aktäon von den Hunden. Dagegen hat das achtzehnte Jahrhundert mit bürgerlicher Klugheit zwischen den beiden in der Mitte durchzukommen versucht, nahe genug an der Ekstase, um warm zu haben, ohne sich zu verbrennen, und vor Depressionen sicher. Aber nachher ist Dionysos wieder entdeckt worden.« (Ebd., S. 115).

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der früheren Historisierung (und dem damit verbundenen Geltungsverlust) der griechischen Phänomene werden nun direkte, gegenwartsbezogene Schlußfolgerungen gezogen, in denen die orgiastische Anthropologie der Antike als affektives Modell fungiert: Heute lehrt man uns: wir sollen uns in der sicheren Region des Verstandes halten, wohin der Blitz nicht dringt, da kann uns nichts geschehen. Ich aber meine, die Griechen hatten recht. Das heißt, f ü r den einzelnen: es gilt nicht, dir ein reines ruhiges reiches Leben zu erwerben, sondern einen einzigen großen M o ment, der alle Fülle, alle Hitze, alle Gewalt des Lebens enthält.' 2

In ihrer Oszillation zwischen neuhumanistischer Gemessenheit und ekstatischem Irrationalismus wird man Bahrs Essays, die der griechischen Tragödie in ihrem Verhältnis zur Moderne abwechselnd den Status eines überwundenen Paradigmas und die Rolle eines existentiellen Modells zuschreiben, intellektuell kaum zwingend nennen können. Aber es dürfte zutreffen, wenn man in dieser widerspruchsreichen Schichtenlage das Symptom einer epochalen Beunruhigung und zugleich ein Prisma der zeitgenössisch vorstellbaren Bewältigungen erkennt. Einiges davon wird uns in den Tragödien-Bearbeitungen der Epoche wiederbegegnen.

1.2.2 Die »heilige Schlächterei« der Tragödie: Gerhart Hauptmann, >Griechischer Frühling< Gerhart Hauptmanns Reisetagebuch >Griechischer Frühling' 93 erschien nur vier Jahre nach Bahrs >Dialogdiegetischen< Vorgaben verstärken diese stilistische Linie konsequent: Der königliche Palast ist nach Hofmannsthals >Szenischen Vorschriften als ein »gedrückter, häßlicher Bau« vorzustellen, »hie und da ein paar verstreute Fensterluken, denen die Kraft des Malers jenes Lauernde, Versteckte des Orients geben wird«;' 3 0 die Kostüme sollen »gleichfalls jedes falsche Antikisieren sowie auch jede ethnographische Tendenz« 1 ' 1 ausschließen: Elektra, so wird präzisiert, trage »ein verächtliches elendes Gewand«,' 3 2 die Königin und ihre Dienerinnen dagegen sollten in fremdartige, ägyptisierende Roben gehüllt sein: »Klytämnestra trägt ein prachtvolles grellrotes Gewand. Es sieht aus, als wäre alles Blut ihres fahlen Gesichtes in dem Gewand.«' 3 3 Die Sprache seines Dramas nennt der Autor, unter Berufung auf das »Analogon« in Swinburnes >Atalanta in CalydonChor< von Negersklaven, Medeas mulattengestaltige >Bastardkyklopenhafte Wirkungenc In solchen anti-hellenischen Re-Inszenierungen bekundet sich Jahnns Versuch, die >barbarische< Befremdlichkeit, die die euripideische Tragödie für ein attisches Publikum des fünften vorchristlichen Jahrhunderts besessen habe, die ihr aber seitdem durch einen Effekt bildungsgeschichtlicher >Domestizierung< abhanden gekommen sei, unter den geänderten kulturellen Bedingungen der Gegenwart zu rekonstruieren. Das Stilmittel der >heterodiegetischen< Transposition des Medea-Stoffes in prägriechische und außereuropäische Kontexte soll aktuell wirksame Entsprechungen jener ursprünglichen Schockwirkung des antiken Sujets erzeugen, die durch klassizistische Gewöhnung oder durch neuzeitliche Wahrnehmungs- und Sensibilitätsveränderungen ihren Schrecken verlo138 139

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>Mein Werden und mein Werkdiegetischen< Horizont des euripideischen Textes auf ältere Kulturschichten zurückzugreifen und die Konfliktkonstellation des griechischen Modells in gegenwartsrelevantere Äquivalente zu übersetzen. Einerseits nämlich liege »Kolchis [...] erst zu einer sehr späten Zeit am Schwarzen Meer; vorher lag es im schwarzen Afrika«;' 41 andererseits seien »Grusier, Georgier, Armenier [...] von uns aus betrachtet keine Barbaren« mehr, so daß »die Barbarin Medea [...] auf der heutigen Bühne nur Negerin oder Chinesin sein«142 könne. Geht man dieser Argumentation auf den Grund, so scheint sie auf einer (gewiß anfechtbaren) Unterscheidung zu basieren, nach der zwar die griechische Tragödie als die kulturelle Ausdrucksform eines gegebenen geschichtlichen Moments historisch überwunden und abgetan sei, ihr viel älteres mythisches Substrat hingegen zeitlos aktuell und zugänglich bleibe.' 43 Nur aus dieser Voraussetzung einer privilegierten Wirksamkeit (und je gegenwärtigen Verfügbarkeit) des Archaischen läßt sich das exorbitante Selbstbewußtsein begreifen, mit dem Jahnn wie beiläufig formulieren kann, es sei »ziemlich gleichgültig, daß ich dem Ursagenkomplex der Medea näher kam als die griechischen Autoren«,' 44 oder das ihn zu der Aussage veranlaßt, er sei »so ketzerisch zu behaupten, die Rechts- und Mitleidsgrundlagen für das Drama des Euripides« seien »so sehr von den unsrigen verschieden, daß uns die Logik seiner Handlung nicht mehr berührt«,' 45 um im gleichen Gedankengang für die eigene >Medea< mit dem Argument zu werben, sie lehne sich »an die 141

So Jahnns Programmheft-Essay >Es wird ein Stück von mir in meiner Vaterstadt gespielt< zur Aufführung der >Medea< am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg während der Spielzeit 1927/28 (In: Schriften. Tagebücher, S.293-295, hier S. 293). - Jahnns Aufsatz >Die Sagen um Medea und ihr Leben< (ebd., S. 284-288) variiert denselben Gedanken: »Es wäre vermessen, die Sagenkomplexe zu lokalisieren und Kolchis sich am Schwarzen Meer zu denken, das größere Kolchis liegt im schwarzen Afrika, w o es ein Benin gab und ein Ägypten, w o die Sagen noch heute gegenwärtig scheinen in den uns beinahe unverständlichen Gebräuchen der Eingeborenen.« (S. 287).

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>Es wird ein Stück von mir in meiner Vaterstadt gespieltMedea< von 1929 (In: Schriften. Tagebücher, S. 2 5 0 - 2 5 1 ) bekräftigt im selben Sinne: »Was für die Griechen Barbaren waren, sind für uns heutige Europäer Neger, Malaien, Chinesen. Einer der schamlosesten Gebräuche des europäischen Menschen ist die Nichtachtung vor den einzelnen Vertretern nicht weißhäutiger Rassen.« (S. 2 5of.). In diesem Sinne heißt es in einem programmatischen Aufsatz Jahnns, Dichtung sei »Aussage aus erster Hand«, und ihre »Worte« stünden »gleichsam am Anfang aller Zeiten. [...] Es ist erkennbar geworden, daß die ausdrucksvollsten Ur-Aussagen in geschichtlich frühen Zeiten anzutreffen sind. Das Anheben fast jeder menschlichen Kultur ist voll dichterischer Weisheit, Kühnheit und Unerbittlichkeit.« (>Vereinsamung der DichtungMedeaMedea< bemerkt Jahnn im Sinne dieses gleitenden Funktionsüberganges von Archaismus und Modernität: Auf dem bewegten Höhepunkt der mit Verhängnis geladenen Stunden wird, die U r f o r m der Isis-Osiris-Sage nachzeichnend, das ganze Ausmaß leiblicher Leidenschaft und die Verzweigungen archaischen Denkens und Empfindens angedeutet. U n d ich heutiger Mensch meine, daß unser aller Leidenschaften nicht milder, nicht weniger unbedingt sind, so daß die Wirklichkeit des Wünschens, die sich bis zum Zauber steigert, kein dichterischer Vorwand in meinem Stück, sondern das Nachzeichnen einer Erfahrung ist. 148

Schließlich Gerhart Hauptmanns >Atriden-Tetralogiegriechischen< Rahmen. Aber mehr noch als Jahnn und selbst Hofmannsthal akzentuiert Hauptmann systematisch den archaischen Charakter dieser Antike - »Mein neueres Griechentum ist gewissermaßen das ältere«, heißt es in einem Brief aus der Entstehungszeit der Tetralogie 1 ' 0 - und entwirft Schauplätze und eine dramatische Atmosphäre, in denen sich, in bemerkenswerter Kontinuität über mehr als drei Jahrzehnte hinweg, die leitenden Auffassungen des Reiseberichts Griechischer Frühling< widerspiegeln: Es entsteht das beklemmende Bild einer

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>Mein Werden und mein Werks S. 3 1 1 . »Im Bericht vom Schicksal Medeens sind zwei Komponenten zu einer Handlung fast übermenschlich-unmenschlichen Formates zusammengeflossen. Eine sagenhafte Urgeschichte, die die Auseinandersetzung der bewußt gewordenen Menschheit mit ihrem Los gibt; zum andern - welch logische Verquickung - der typisch naturalistische Ablauf vitalen Lebens, das grausam, unerbittlich und dennoch rätselhaft ist. In dieser Verschmelzung gründet sich die stetige Aktualität des Stoffes; deshalb auch habe ich versucht ihn neu zu gestalten.« >Die Sagen um Medea und ihr Lebens S. 287. >Mein Werden und mein Werks S. 3 1 2 . Zitiert wird durchgängig nach dem Abdruck im Band III (Dramen) der Centenar-Ausgabe. Brief vom 10. April 1941 an Felix A . Voigt, mitgeteilt in dessen Studie: Gerhart Hauptmann und die Antike, hrsg. von Wilhelm Studt, Berlin 1965, S. 141 und 172. Voigt kommentiert: »Er [Hauptmann] geht selbst über das Empfinden der perikleischen Zeit, ja über Homer zurück in eine Urzeit mit urtümlichen Empfindungen, Leidenschaften und Taten. Er geht zurück bis in die Anfänge einer Urmenschheit, bis an die Grenzen des Chaos selbst.« (S. 172).

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blutigen Antike im Zeichen atavistischer Kulte und Menschenopfer und unter dem Diktat grausamer chthonischer Gottheiten. Daß Hauptmann sich zur Gestaltung dieses anti-klassischen Griechenbildes, das auf eine Revokation klassischer Humanisierungen des Mythos zielt, selbst dramatischer Stilmittel und einer poetischen Diktion bedient, die dem Idiom und den theatralischen Konventionen der Weimarer Klassik noch im inhaltlichen Widerspruch zutiefst verpflichtet bleiben, mag eine Grenze und ein epigonales Moment dieses monumentalen Spätwerks bezeichnen. Aber zugleich wächst der Tetralogie gerade aus dieser paradoxen Gegenläufigkeit von (traditioneller) Form und (gegenklassischem) Gehalt die eigentümlich intensive Ausdrucksqualität einer programmatischen Kontrafaktur zu. Besonders greifbar wird diese Tendenz in der großen Sorgfalt, mit der Hauptmann sich in den detaillierten Szenenanweisungen zu allen vier Dramen um die Zeichnung eines Milieus von suggestiver Bedrohlichkeit und Primitivität bemüht: Wenn in der Anfangsszene von Iphigenie in AulisElektraRemythisierungModernisierung< des Mythos in der distanzschaffenden und entmythisierenden Diskursform der Tragödie antwortet die moderne Remythisierung der Tragödie in einer archaisierenden littérature au second degré. 1.2 »... etwas Gegensätzliches zur >Iphigenie< machen«: Antiklassizismus, Bildungsrevolte - und Erudition Sosehr das Verfahren einer archaisierenden Revision freilich auf die Wiedergewinnung eines vorkulturell-ursprünglichen Substrats zielen mag und sosehr es in setting und Dramaturgie einen relativ geschlossenen und homogenen Formtypus begünstigt, so unverkennbar erweist es sich andererseits als eine vermittelte, intertextuell mehrschichtige Schreibweise. Die in diesen Dramen der präzivilisatorischen Regression imaginierte Vorzeit ist ja keineswegs eine empirische Gegebenheit, sondern ein im Abstand von Jahrtausenden von modernen Dramatikern mit höchst gegenwartsbezogenen Intentionen und Präokkupationen entworfenes kulturelles Konstrukt,' 6 ' und die Züge undomestizierter Wildheit und Natürlichkeit, die dieser mit sprachlichen Mitteln heraufbeschworenen und mittels Bühnen- und Regieanweisungen auch für die szenische Realisation geforderten Prä-Antike ihr spezifisches Kolorit verleihen, sind zu einem wesentlichen Anteil die kulturkritischen Wunschprojektionen zeitgenössischer Verfasser, beruhend auf eklektischen Lektüren und literarischen Filiationen und Gegnerschaften. Dieses Spannungsverhältnis wird nirgends deutlicher als in den Selbstkommentaren, in denen die Autoren auf Nietzsches Spuren einen oberflächlichen Philhellenismus und dessen »gänzlich wirkungslose Schönrednerei mit der griechischen Harmonies 165

Hier gilt uneingeschränkt, was Secci (Il mito greco, S. 18) für den reflexiven Charakter der Archaisierungstendenzen in der Mythendramatik des Expressionismus ausführt: » N a t o come volontà programmatica da questa humus culturale, l'arcaismo espressionista non poteva condurre a una rinascita autentica del mito, ma solo a un mito riflesso, poetico o intellettuale. Il ritorno alle origini non è che il lato complementare di una consapevole intenzione attualizzante, condizionata dai problemi del presente.«

80

der griechischen Schönheit^ der >griechischen Heiterkeit«^ 66 als Ausfluß eines obsoleten Bildungsideals angreifen, um doch auch ihrerseits, zur Verdeutlichung der eigenen künstlerischen Absichten, auf ein weites Spektrum literarhistorischer Parallelen und kulturgeschichtlicher Wissensbestände zurückgreifen: Nach der paradoxen Logik dieser >BildungsliteraturBildung< mehr sein möchte, sondern statt dessen die Expression vitaler Unmittelbarkeit und vorzivilisatorischer Kraft beschwört, und die doch unverändert auf der produktiven Anverwandlung literarischer Traditionen und kulturtheoretischer Erkenntnisse beruht, kann Hofmannsthal von seinem »Versuch« sprechen, »den Elektrastoff [...] in einem scheinbaren Anlehnungsverhältnis an Sophokles aus einem Gegenstand des Bildungsinteresses zu einem Gegenstand der Emotion zu machen«,167 um gleichwohl die Serie eigener Bildungserlebnisse aufzuzählen, die, als produktive Anregungen oder als Anreiz zum Widerspruch, sein Vorhaben allererst ermöglicht hätten: Neben Inspirationen durch das Alte Testament, durch Sophokles-, Shakespeare- und Swinburne-Lektüren, neben dem Studium wissenschaftlicher Werke, »die sich [...] mit der Nachtseite abgeben: das eine die >Psyche< von Rohde, das andere das merkwürdige Buch über Hysterie von den Doktoren Breuer und Freud«' 68 und neben dem »Zureden des Theaterdirektors Reinhardt, dem ich gesagt hatte, er solle antike Stücke spielen, und der seine Unlust mit dem >gipsernen< Charakter der vorhande-

166

Mit Formulierungen aus Nietzsches Klassizismus-Kritik (>Geburt der Tragödien S. 1 1 1 f.), in deren Kontext es heißt, daß es selbst Goethe, Schiller und Winckelmann »nicht gelungen« sei, »in den Kern des hellenischen Wesens einzudringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deutschen und der griechischen Kultur herzustellen« (S. i n ) . Nietzsches Hoffnungen auf die authentische Erneuerung griechischer Impulse gehen mit massiver Polemik gegen einen >bürgerlichen< Bildungs-Hellenismus einher: » - in welcher peinlichen Verwirrung müssen die derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phänomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre, das Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wiedergeburt der Tragödie? Es gibt keine andere Kunstperiode, in der sich die sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst so befremdet und abgeneigt gegenübergestanden hätten, als wir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen es, warum eine so schwächliche Bildung die wahre Kunst haßt; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber sollte nicht eine ganze Art der Kultur, nämlich jene sokratisch-alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine so zierlichschmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung ist, auslaufen konnte!« (S. 112).

167

Hugo von Hofmannsthal: Das Spiel vor der Menge. Eindruck und Überlegung ( 1 9 1 1 ) . In: Ges. Werke in zehn Einzelbänden. Dramen III (1893-1927), S. 103, mit der bezeichnenden Fortsetzung: »[Dieser Versuch] war jugendlich und verlief problematisch; aus einer Bearbeitung wurde eine neue, durchaus persönliche Dichtung, deren Bedenkliches hinreichend festgestellt ist.« A n Ernst Hladny, in: Briefe (1900-1909), S.384.

168

81

nen Übersetzungen und Bearbeitungen entschuldigte« 169 - neben dieser disparaten Fülle literarischer und wissenschaftlicher, theoretischer und bühnenpraktischer Impulse nennt der Wiener Autor unter den Hauptanstößen zu seiner >ElektraThe Tower Beyond Tragedy< kann, besonders in der philosophischen Schlußpartie des Werkes mit Orests Loslösung aus allen humanen Rücksichten und Bindungen, seine Inspiration durch die Schopenhauer- und Nietzsche-Studien des Autors nicht verleugnen;' 73 Reminiszenzen und direkte zitathafte Entlehnungen aus der >Geburt der Tragödie< kennzeichnen sowohl Hauptmanns >Atriden-TetralogiePenthesileaAnti-Iphigenie< par excellence'76 - ein zentraler Bezugspunkt bei der Ausarbeitung seiner tragischen Konzeption:' 77 Indem Hauptmann einen in der »Italienischen Reise< skizzierten, 171

172 173

174

A m auffälligsten in der nur geringfügig abgewandelten Wiedergabe einer babylonischen Hymne an den Mondgott Nannar in den Helios-Gebeten der Sklaven; vgl. Secci, Il mito greco, S. 19 5 f. Vgl. >Die Sagen um Medea und ihr Lebens S. 285. Siehe die eingehenden Diskussionen bei Radcliffe Squires: The Loyalties of Robinson Jeffers, Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1956, bes. Kap. II (»Nietzsche and Schopenhauer«) und bei Arthur B. Coffin: Robinson Jeffers. Poet of Inhumanism, Madison/Milwaukee/London: The University of Wisconsin Press, 1971, bes. Kap. 2-5. Squires hält die Schopenhauer-Komponente in >The Tower Beyond Tragedy< für bestimmend, während Coffin die Auseinandersetzung mit Nietzsche ins Zentrum seiner Interpretation stellt. Exemplarisch der (offenkundig als Variation über die »tragische Weisheit des Silens« angelegte) Dialog zwischen Iphigenie und ihrer Amme Peitho über den frühen Tod von deren einzigem Kind: »IPHIGENIE: Hast du es totgeboren oder .../ - PEITHO: Es war gesund: allein ich wollte nicht,/ daß es des Lebens steinigen Pfad beschreite/ und endlos wandere in Müh und Not./ - IPHIGENIE: Du wolltest nicht? Was soll das heißen, Peitho?/ - PEITHO: Es starb. - IPHIGENIE: An einer Krankheit? - PEITHO: Ja: am Leben.« Iphigenie in AulisWeltwillen< und seiner >ZeugungslustGeburt der Tragödie< umschrieb dieses panerotische Potential der Tragödie so: A u c h die d i o n y s i s c h e K u n s t will u n s v o n d e r e w i g e n L u s t d e s D a s e i n s ü b e r z e u gen: nur sollen w i r diese L u s t nicht in d e n E r s c h e i n u n g e n , s o n d e r n hinter d e n E r s c h e i n u n g e n s u c h e n . Wir sollen e r k e n n e n , w i e alles, w a s entsteht, z u m leidvollen U n t e r g a n g e bereit sein m u ß , w i r w e r d e n g e z w u n g e n , in die S c h r e c k e n der I n d i v i d u a l e x i s t e n z h i n e i n z u b l i c k e n - u n d sollen d o c h nicht erstarren: ein m e t a p h y s i s c h e r T r o s t reißt u n s m o m e n t a n aus d e m G e t r i e b e der W a n d e l g e s t a l ten heraus. Wir sind w i r k l i c h in k u r z e n A u g e n b l i c k e n d a s U r w e s e n s e l b s t u n d f ü h l e n d e s s e n u n b ä n d i g e D a s e i n s g i e r u n d D a s e i n s l u s t ; der K a m p f , die Q u a l , die V e r n i c h t u n g d e r E r s c h e i n u n g e n d ü n k t u n s jetzt w i e n o t w e n d i g , bei d e m U b e r m a ß v o n u n z ä h l i g e n , sich ins L e b e n d r ä n g e n d e n u n d s t o ß e n d e n D a s e i n s f o r m e n , bei der ü b e r s c h w ä n g l i c h e n F r u c h t b a r k e i t des Weltwillens; w i r w e r d e n v o n d e m w ü t e n d e n Stachel dieser Q u a l e n in d e m s e l b e n A u g e n b l i c k e d u r c h -

179

Vgl. >Die Geburt der TragödieOedipus auf KolonosEntlarvungsszeneOedipus at ColonusOedipus auf KolonosOedipus at ColonusOedipus auf KolonosDie Befreiung des Oidipus t r a g i s c h e W e i s h e i t d e s Silen< i n tonieren208 u n d d e n T o d zur B e f r e i u n g aus d e n Fesseln der Individuation verklären:

20i

Reinhardt (Sophokles, S. 228) bemerkt über die vielkommentierte Stelle: »So kann er [Odipus, W.F.] zugleich als Mensch, nach menschlichen Begriffen, in der Wildheit nicht entschuldigt werden, und ist doch zugleich in seiner Machtfülle der menschlichen Beurteilung entzogen, je mehr gegen Ende, desto rätselhafter zwischen Mensch und Dämon schillernd, und sobald man ihn im einen faßt, in's andere entweichend.«

206

>Die Befreiung des OidipusDie Geburt der Tragödiedionysischer Gegen-Theologie
Geburt der Tragödie< begreift, nach 2,6 217 218

"9 220

Ebd. Ebd., S. 244. Ebd., S.246. Vgl. >Die Befreiung des Oidipusgerechte< Beurteilung wird der B e f r e i ung des Oidipus< und Pannwitz' >dionysischem< Tragödienzyklus im ganzen den Stellenwert eines interessanten und ambitionierten Experiments zubilligen und darüber hinaus den literarhistorischen Symptomwert dieses wohl handgreiflichsten Belegs einer kreativen Nietzsche-Rezeption im Drama des frühen 20. Jahrhunderts anerkennen. Diese dokumentarische Bedeutung zugestanden, kann man nicht umhin, auf zwei entscheidende Schwächen zu verweisen, die die intellektuelle Substanz von Pannwitz' Zyklus ebenso beeinträchtigen wie seine literarische Qualität und die insofern das künstlerische Risiko einer intertextuellen Dramatik au second degré drastisch vor Augen führen. 222 Zum einen erweist sich das an der >Befreiung des Oidipus< demonstrierte Verfahren, die griechische Tragödie bei weitgehend intakt belassener Handlungsführung semantisch zu >entkernennicht-theoretischen< Charakter der attischen Tragödie betont hatte) füllen dieses Vakuum keineswegs; im Gegenteil tragen sie zum Eindruck des Sekundären und Abgeleiteten maßgeblich bei: Gerade weil sich Pannwitz' >dionysische< Arrangements an Scharnierstellen der tragischen Handlung als versifizierte Philosophie ausnehmen - allzu offenkundige Anläufe zu einer Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste der >Geburt der Tragödie< - , bleibt ihre Repräsentation einer enthusiastischen Antike nach Nietzschescher Rezeptur ein synthetisches, in seinem offenkundigen Zitat- und Montagecharakter fast >postmodern< anmutendes Konstrukt. »Nietzsche est le dieu à peine caché dont on célèbre ici les mystères«, 2 2 ' kommentiert Guth den Sachverhalt lapidar, und obwohl offen bleibt, ob dieser Satz kritisch gemeint ist, bringt er einen problematischen Aspekt von Pannwitz' >dionysischen< Mysterienspielen genau auf den Punkt. Das zweite Ungenügen von Pannwitz' >dionysischer< Tragödienkonzeption steht mit dieser gedanklichen Defizienz in engem Zusammenhang und legt sie überhaupt erst schonungslos bloß: Dem Autor der >Dionysischen Tragoedien< fehlen die literarischen Mittel, die allein den postulierten Orgiasmus seiner dramatischen Handlungen sinnfällig machen könnten. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als eben in den >bacchantischen< Rahmenpartien des Odipus-Dramas: Ihre >dionysische< Choreographie wirkt klassizistisch bemüht und ist besonders im Prolog mit seiner Technik blockhaft arrangierter, metrisch variabler Chor-Gruppenstrophen in epigonaler Abhängigkeit der Dramaturgie der Walpurgisnacht-Szenen in Goethes >Faust< verpflichtet. Die Sprache müht sich durch preziose Bilder, eine hochchromatische Palette von Farb-Adjektiven, ein Netz mythologischer Namen und Beschwörungsformeln angestrengt um ein Idiom ekstatischer Grenzüberschreitung (»Oioie Iakche alai iu evoë evoë ewig Iakche!«; 226 »Alaiiu! evoë Dionysos! alai Apollon« 2 2 7 ) und gelangt doch über das Erregungsniveau des Bildungszitats und einer in symbolistische Bilder gekleideten

Drama and its Influence. Essays presented to H.D.F. Kitto, London 1965, S. 3 1 - 5 0 , sowie Jean-Pierre Vernant: Ébauches de la volonte dans la tragédie grecque. In: Jean-Pierre Vernant/Pierre Vidal-Naquet: Mythe et tragédie en Grèce ancienne, t. 1, Paris 1972, S. 4 1 - 7 4 . 225

Guth, Rudolf Pannwitz, S. 102. >Die Befreiung des OidipusIphigenia mit dem Gotte«, S. 166. >Die Befreiung des Oidipustieferen< Verstände zu realisieren als deren antike Urheber selbst. Und noch diese Ambivalenz ist zuletzt der >Geburt der Tragödie< geschuldet. 3.2 »Violent passion« und philosophische Allegorie: Robinson Jeffers' Aischylos-Adaption >The Tower Beyond Tragedy< Seine Ermüdung durch Gegenwartsstoffe und die durch sie aufgenötigte Verkleinerung der Affekte nennt der amerikanische Lyriker und Dramatiker Robinson Jeffers als den Grund seines Rekurses auf die griechische Tragödie in dem ungefähr 1924 entstandenen und zuerst 1925, zwölf Jahre nach Pannwitz' Zyklus, veröffentlichten dramatischen Poem >The Tower Beyond TragedyNormalität< des Extremen im griechischen Drama beruht auf Jeffers' Vorstellung - wir haben die entscheidende Aussage oben bereits zitiert - von der durch kulturelle Schranken noch nicht eingehegten Wildheit und Vitalität der »Greeks of prehistory«; die Protagonisten des tragischen Mythos erschienen »singularly uninhibited in action«, und auch noch die attische Tragödie repräsentiere »elemental human nature, stripped - like Greek sculpture - of its neutral and unessential clothing: the customs and costumes that require attention in a story of contemporary life, or in any other period-piece«. 242 Die Retraktation der aischyleischen >OrestieThe Tower Beyond Tragedys S. 129. American Playwrights, S.95. Dazu Karl Reinhardt: Aischylos als Regisseur und Theologe, Bern 1949; André Wartelle: La pensée théologique d'Eschyle. In: Bulletin de l'Association Guillaume Budé 1 9 7 1 , S. 5 3 5-580; David Cohen: The Theodicy of Aeschylus. Justice and Tyranny in the >OresteiaOresteiaThe Tower Beyond Tragedy< (darin Hofmannsthals >ElektraPenthesilea< oder Racines >Phèdre< vergleichbar) diese Anthropologie des Exzesses und der Gewalt vor allem an den drei beherrschenden Frauenfiguren des Stückes vorführt, an Cassandra, Clytemnestra und Electra. Hatte die Seherin in Aischylos' >Agamemnon< den Königsmord in ekstatischer Prophetie vorweggenommen, um dann gemeinsam mit dem heimgekehrten Atriden und als »Zugabe zu diesem M o r d e « 2 " zu sterben, so findet sie bei Jeffers den Tod viel später, nämlich erst nach der Ermordung Clytemnestras und in einem mörderischen Rede-Duell mit Electra, in dem jede der beiden Frauen den rasenden Orestes dazu zu bringen sucht, die andere zu erschlagen. Dazwischen entwickelt sich diese Figur - »tall dark Cassandra, the prophetess,/ The beautiful girl with whom a God bargained for love, highnurtured, captive, shamefully stained« 2 ' 4 - vom Opfer göttlicher und männlicher Begierden zum Sprachrohr einer haßerfüllten Rache: Von Apollon

2,1

>The Tower Beyond Tragedys S. 1 2 1 . ' Vgl. die scharfe Kritik dieser Tendenzen in der seinerzeit einflußreichen, aus dem A b stand von vierzig Jahren als geradezu aufregend-fremdartiges bildungsgeschichtliches Dokument erscheinenden Polemik von Oskar Seidlin: Die Orestie heute: Enthumanisierung des Mythos (In ders.: Von Goethe zu Thomas Mann. Zwölf Versuche, Göttingen 1963, zuerst in: Deutsche Rundschau L X X X I I I , 1957), w o - am Wahrheitsmaßstab der Goetheschen >Iphigenie< (»in dem Schatzhaus unsterblicher Dokumente der europäischen Seele [...] das strahlende Evangelium des Humanismus«, S.223) - Jeffers' Drama gemeinsam mit »Sartres perverser Wertordnung« (S. 2 1 3 ) in >Les Mouches< und mit Hauptmanns >Atriden-Tetralogie< als Symptom für »die Zersetzungen in unserem Kulturkörper« und für einen nihilistischen »Prozeß« herhalten muß, »von dem wir wie von einer Fieberkurve das Krankheitsbild, Verstörung und Zerstörung unserer Generation, ablesen können.« (S. 209).

2 2

2 3

'

2,4

Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, S. 1 1 4 . >The Tower Beyond TragedyThe Tower Beyond Tragedys S. 11 j.

102

Gegenüber dieser Position haßerfüllter Absage, in der sich bereits der >Anti-Humanismus< der finalen >Lösung< ankündigt, repräsentiert die Figur der Clytemnestra das sexuelle Macht- und Lustprinzip des Stückes in seiner ganzen vitalen Aggressivität, ja, es ist ohne Zweifel ihre erotische Dämonie, in der sich Jeffers' Vorstellungen von einer archaisierenden Elementardramatik und ihrem Potential, >to express a violent motion violently, or a beautiful one beautifullyHerdenmenschen< gegenüber einer überragenden Einzelfigur, »Hunde« gegenüber der »Löwin« - mit Spott und ätzender Verachtung überschütten kann: CLYTEMNESTRA: Soldiers: townsmen: it seems/ I am not at the end delivered to you: dogs, for the lion came: the p o o r brown and spotted w o m e n / Will have to suffice you. But is it nothing to have come within handling distance of the clear heaven/ This dead man knew when he was y o u n g and G o d endured him? [...] I will not say I am grateful: I am not angry: to be desired/ Is wine even to a queen. 2 7 0

Diese in langem Spannungsbogen durchkomponierte ekstatische Verführungsszene mit ihrer Mischung aus tödlicher Bedrängnis, erotischem Rausch und vitalem Machtinstinkt, aus kalkulierter Vulgarität und elitärer Dominanz veranschaulicht am eindrucksvollsten die Züge, in denen Jeffers' Kunst exzelliert: Dramatische Konstellationen des Mythos werden, in breiter und greller Ausgestaltung, zum Anlaß einer hochexpressiven Figurenpsychologie der Uberlebensgröße und der normdurchbrechenden Grenzüberschreitung und darin zu Auslöserreizen einer affektiven Wirkungsstrategie der admiration im moralindifferenten Spannungsfeld von Eros und Thanatos. Im Sinne dieses Pathos der >wilden< Emotion bleibt Clytemnestra bis zu ihrem Tod von Orests Hand die unbestrittene Heroine des Dramas, eine Furie der Selbsterhaltung, die Gefahren als berauschende Steigerung und ihre Weiblichkeit als ein >Versehen< der Götter erlebt - »I am best in storm. [...] Spears out, out! They bungled the job making me a woman«271 -, die das Mitleid und die natürliche Tötungshemmung gegenüber den eigenen Kindern durch Willensstärke überwindet »That's hard: tigresses don't do it: I have some strength yet: don't speak of it/ And I shall do it«272 - und die selbst noch in der Szene ihres Untergangs durch Verschlagenheit, eine raubtierhafte Gegenwehr und kurz: durch ihre überragende >heroische< Präsenz dominiert. >Singularly uninhibited in action< - in der Repräsentation der Clytemnestra verdichtet sich Jeffers' kulturanthropologische Formel für den elementaren Antriebsüberschuß der >Greeks of prehistory< zum dramatischen Sinnbild. Bis zu der durch Clytemnestras Tod markierten Zäsur - also ungefähr über die Erstreckung der >AgamemnonChoephorenThe Tower Beyond TragedyKosmos< vs. >Polis< usw. - macht die alleinige >Handlung< des Schlußaktes aus, und im Bestreben, der in diesem dürren Plot liegenden Gefahr völliger Statik zu entgehen, greift Jeffers noch einmal auf die Triebkraft zurück, die in den früheren Werkpartien für dramatische Dynamik gesorgt hatte: Sexualität, »desire«. Electra nämlich, die dem Bruder die Schrankenlosigkeit seiner Machtbefugnisse - »You are the King; have all your will: only remain in steep Mycenae,/ In the honor of your father« 276 - und die moralische Ungebundenheit >großer< Charaktere - »all that our Gods require is courage« 277 - vor Augen stellt, um ihn zum Bleiben zu bewegen, Electra bietet sich Orestes schließlich selbst an und steigert diesen erotischen Diskurs< von schüchternen Andeutungen über eine archetypische Rhetorik der Verführung - »Taste first, bite the apple, once dared and tried/ Desire will not be terrible« 278 - bis hin zur Beschwörung eines orgiastischen Inzests: ELECTRA: [...] must I dare to woo you,/ I whom man never wooed? to let my hand glide under the cloak. ... O you will stay! these arms/ Making so soft and white a bond around you ... I also begin to love - that way, Orestes,/ Feeling the hot hard flesh move under the loose cloth, shudder against me ... Ah, your mouth, Ah,/ The burning - kiss me - 279

Aber diese erotische Versuchung verfängt nicht mehr, weil ihr Orestes nicht länger mit der >violent passion< des Atriden, sondern mit der resignierten Abgeklärtheit des Schopenhauer-Adepten begegnet: Aus der Optik seiner spirituellen Konversion erkennt Agamemnons verlorener Sohn im Begehren der Schwester das Symptom einer Familienkrankheit »It's Clytemnestra in you« 2 8 0 - , und ihren Angriff in der Sprache sinnlicher Leidenschaft pariert er mit den Waffen der philosophischen Allegorie. Für Orestes (und für Robinson Jeffers, als dessen philosophisches 274 275

Ebd., S . 1 3 3 . Dickinson, Myth on the Modern Stage, S. 1 2 1 , bezeichnet die Schlußszene als »dramatically speaking, almost gratuitous« und kritisiert: »The conflict between brother and sister that ends the play is weakly motivated and one-sided, if not factitious: Orestes' temptation is more apparent than real. He has already climbed the tower beyond tragedy and cast humanity. The scene serves only to confirm the reality of an offstage action.«

276

>The T o w e r Beyond Tragedykosmische Identifikation mit allem Lebendigen: »Because I have suddenly awakened, I will not waste inward/ Upon humanity, having found a fairer object«,2®4 und: »I have fallen in love outward«.2®5 In diesem »pantheistic m y sticism of Orestes, which comes to him like a religious conversion«2®6 gibt es »no desire but fulfilled; no passion but peace,/ [...] no time but spheral eternity«,2®7 hier erreicht der Initiierte einen Zustand unberührbarer und 281

»The incestuous feeling between Electra and Orestes is another change from the Greek story. It was imagined in my poem as a symbol of our human obsession with humanity >It is all turned inward,< Orestes says - and I was interested to find it again, without that symbolic intention, when I read Eugene O'Neill's >Mourning Becomes ElectraThe Tower Beyond Tragedyfallen in love outward*, not with a human creature, nor a limited cause, but with the universal God.« (American Playwrights, S. 95). 28

287

>The Tower Beyond TragedyApotheose< inszeniert. Derartige >Lösungen< sind ja auch im Korpus der griechischen Tragödie häufig; schon Aristoteles hatte die »Wende ins Glück« (εις εντνχίαν) ausdrücklich als eine legitime Variante der tragischen λύσις definiert, 2 ' 1 und Jeffers' unmittelbares Modell, die aischyleische >OrestieEumenidenaufgehoben< erscheinen. 2 ' 2 Der tragische Konflikt der >Orestie< mündet, mit anderen Worten, in einen Ausgang, der sich als Lösung dieses zuvor exponierten Konfliktes darstellt. - Ganz anders >The Tower Beyond TragedyErwachenPlots< der >Orestie< durch Elemente seines eigenen, aus Einflüssen Schopenhauers und Nietzsches gespeisten inhumanismm mutet außerordentlich willkürlich und gewaltsam an, ein semantischer Oktroi 2 " und ein Anachronismus, der um so schwerer wiegt, als er erst spät in einer fortgeschrittenen dramatischen Entwicklung erfolgt, die sich den >pragmatischen< Vorgaben des antiken Archetextes zunächst eng anzupassen schien und diesen an >wilder Authentizität und >violent passion< womöglich zu überbieten suchte. Die überraschende Gegenwendung des Finales beraubt den Text seiner inneren Schlüssigkeit: ¡ 3

'

294

2,5

>The Tower Beyond Tragedys S. 137. Vgl. Squires, The Loyalties of Robinson Jeffers, op. cit., und C o f f i n , Robinson Jeffers. Poet of Inhumanism, op. cit. Jeffers bekennt sich offen zu der Distanzierung von den kulturellen Prämissen und der originären Problematik des Archetextes, wenn er über den »pantheistic mysticism« seiner Version bemerkt: »That is my meaning in the poem. It would probably sound like nonsense to a Greek of classical times - >to the Greeks foolishness,< as St. Paul remarked and perhaps it does to you. Certainly it is a hard mouthful for a poem to assimilate, and still harder for a play; but it is my meaning.« (American Playwrights, S.96). 109

Von der aggressiven Dynamik der Clytemnestra-Akte mit ihrer heroischen Psychologie, ihrem vitalen Immoralismus und dem dramaturgischen Wirkungskalkül einer admiration >jenseits von Gut und Böse< führt kein folgerichtiger Weg zur Statik der allegorisierenden Schlußpartien um den entrückten Asketen Orestes, und es ist kein Zufall, daß Jeffers seine >positive< Lösung nur zu formulieren vermag, indem er den zuvor exponierten Konflikten die Grundlage entzieht und ihre dramatische Vitalität zu abstrakten Metaphern eines >inzestuös< fehlgeleiteten Humanismus umdeutet. Freilich wird in dieser Wendung gerade all das negiert, was der dramatischen Aktion ihre Dynamik und Jeffers' Bearbeitung ihr expressives Kolorit verliehen hatte, upd gegenüber der >violent motiongreat passion< und >singularly uninhibited action< der Expositionspartien bleibt die von Jeff ers schließlich präsentierte >Lösung< rein thetisch, eine der dramatischen Handlung aufgepfropfte spekulative Allegorie ohne jede szenische Anschauung. Am Ende ergibt sich der Eindruck eines sich selbst opponierenden Textes, dessen paradoxes Verfahren Hugh Dickinson bündig so zusammenfaßt: As a dramatist, Jeffers is committed to the importance of these violent actions; as a philosopher, he undercuts their dramatic significance by a change in perspective and scale that amounts to a cosmic indifference, an indifference characteristic of his God of nature. [...] Jeffers proceeds by [...] >negative didacticisms Even if we grant him his method, it is difficult to see how a dramatist can effectively present an action in the theatre as simultaneously important and unimportant, unique and all too human, a matter of horror and shock and also a matter of indifference.2'6

4. Dionysische Revisionen II: Hugo von Hofmannsthal, Hans Henny Jahnn und das tragische Spiel von Eros und Thanatos Finden die Antiken-Bearbeitungen von Pannwitz und Jeffers ihre Grenze daran, daß sie semantisch komplexe griechische Tragödien aus dem Horizont moderner Philosophien zu >rekonstruieren< vorgeben, ihre Prätexte dabei jedoch entweder zur Illustration einer vorgängigen theoretischen Einsicht in die vermeintlichen dionysischen Grundlagen der griechischen Kultur degradieren oder sie zu Allegorien ganz heterogener weltanschaulicher Uberzeugungen umfunktionieren, so stehen diesen gewaltsamen 296

Dickinson, Myth on the Modern Stage, S. 122.

IIO

Reduktionen andere Beispiele des archaisierenden Typus gegenüber, die ihren griechischen Ausgangstexten mit ungleich größerer Diskretion begegnen und keineswegs darauf zielen, deren semantische Vielschichtigkeit aus der Perspektive eines überlegenen >Wissens< und zugunsten eindeutiger Lesarten zu nivellieren. Die folgenden Beobachtungen zu Hugo von Hofmannsthals >Elektra< und Hans Henny Jahnns >Medea< - nicht geschlossene Werkinterpretationen, sondern analytische Kommentare unter dem Leitgesichtspunkt der >intertextuellen Revision< - sollen verdeutlichen, wie diese Bearbeitungen mit ihren sophokleischen und euripideischen >Archetexten< in einen Dialog treten, dessen unterscheidende Qualität gegenüber den Versuchen von Pannwitz und Jeffers nicht etwa in einer größeren >Werktreue< oder in weniger massiven Eingriffen in die griechischen >Originale< begründet ist, sondern vielmehr in einer modernen Reformulierung, die bei aller Radikalität der Transformation an zentrale Handlungselemente und Problemvorgaben der antiken Modelle anschließt und sie ernstnimmt. Auch Hofmannsthals und Jahnns Retraktationen weichen von ihren antiken Ausgangstexten in maßgeblichen Belangen ab und reinterpretieren deren tragische Konstellationen im Lichte zeitgenössischer Fragestellungen und einer modernen >AnthropologieUbersetzungen< bleibt die Integrität der griechischen Texte gewahrt, wird deren eigene künstlerische und gedankliche Vielschichtigkeit nicht negiert oder beiseitegeschoben, sondern in ihrem beunruhigenden Potential anerkannt und aufgegriffen. Es ist nicht zuletzt diese aufrechterhaltene thematische Kontinuität, die bewirkt, daß Hofmannsthals und Jahnns Versionen ihrer antiken Sujets als gültige Reflexionen über den geänderten Status des Tragischen unter den Weltbildvoraussetzungen der klassischen Moderne erscheinen.

4. ι Zwischen >Treue< und >TraumaElektra< »frei nach Sophokles« und das Problem der Tragödie im Bewußtseinshorizont der Moderne Hofmannsthals >Elektra< hat bei ihrer Berliner Uraufführung durch Max Reinhardt am 30. Oktober 1903 (mit Gertrud Eysoldt in der Titelrolle) Furore gemacht297 und, in des Autors eigenen Worten, »ein großes Tapage

2,7

Vgl. Sally McMullen: From the Armchair to the Stage: Hofmannsthal's >Elektra< in its Theatrical Context. In: The Modern Language Review 80/3 (1985), S. 637-651; eine Auswahl repräsentativer zeitgenössischer Besprechungen in: Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker, op. cit. III

in der Presse, teils enthusiastisch, teils wütend«, 2 ' 8 hervorgerufen. Wie Wolfgang Nehring betont, entzündeten sich diese kritischen Kontroversen »nicht primär an dem Blut- und Sexualpathos des Stückes, was freilich überall gehörig hervorgehoben wurde, sondern an der Umdeutung, d.h. der Vertiefung und Modernisierung bzw. der Entstellung und Zerstörung der griechischen Tragödie durch diese Ingredienzien.« 2 " Wurde die intensive Durchdringung von archaisierendem Griechenbild und zeitgenössischer Psychologie von einem Teil der Kritik als Signatur äußerster Modernität aufgefaßt, 300 so sah die Gegenseite darin vor allem das Sakrileg, die Perversion und den Ausdruck einer modischen décadence. Selbst wohlmeinenden Rezensenten aber erschien der Bezug auf das griechische Vorbild eher oberflächlich - »Sophokles war ein Vorwand«, befand Alfred Kerr 301 lapidar - , und vollends bestritten konservative Kritiker wie Paul Goldmann dem Autor rundweg jedes Recht, sich auf Sophokles überhaupt zu berufen: 298 199

300

301

An Hans Schlesinger, 10. November 1903. In: Briefe (1900-1909), S. 132. Wolfgang Nehring: >Elektra< und »Ödipus«. Hofmannsthals »Erneuerung der Antike< für das Theater Max Reinhardts. In: Ursula Renner/G. Bärbel Schmid (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen, Würzburg 1991, S. 1 2 3 - 1 4 2 , hier S. 1 3 1 . Der Kritiker der »Wiener Mittags-Zeitung< vom 15. Mai 1905 faßt das Werk unüberhörbar unter Nietzscheschem Vorzeichen auf, wenn er schreibt: »Wir sahen eine >Elektra< des zwanzigsten Jahrhunderts, oder vielmehr eine »Elektra« im Spiegelbild unseres psychokünstlerischen Zeitideals. Kein Wunder, daß statt des sogenannten »klassischen Stils eines abgeklärten GriechentumsTyphäus< dar.« (Zit. bei McMullen, From the Armchair, S. 645). Siegfried Jacobsohn rühmt das Werk in der »Wiener Sonnund Montagszeitung« (ca. 1. November 1903) als »»stolzes Dokument unserer eigensten Zeit, [...] Geist von unserem Geist und Blut von unserem BlutElektraAriadne-Brief< von 1912, die Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien« (1916) und das >Ad me ipsum< der Jahre 1916-29. Bei im einzelnen durchaus divergierender Interpretation können für diese exegetische Linie als repräsentativ gelten: Jens, Hofmannsthal und die Griechen (mit der These, Elektra müsse »in der Vernichtung ihrer selbst erfahren [...], daß es ihr Schicksal war, sich nicht verwandeln zu dürfen: deshalb bleibt sie sich treu, als sie im Augenblick der Verwandlung abseits steht und stirbt. Weil die Treue ihr Schicksal war und ihre Bestimmung ein Verharren im reinen Sein, besteht ihr Opfer darin, daß sie stirbt, als die Zeit sich wandelt und die Zukunft zur Gegenwart wird«, S. 67); Gerhart Baumann: Hugo von Hofmannsthal: >ElektraElektra< und die griechische Tragödie. Heinz Wetzel, der der Handlungsproblematik des Dramas zuletzt in einer differenzierten Studie nachgegangen ist (Elektras Kult der Tat - >Freilich mit Ironie behandelt«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1979, S. 354-368, hier S. 3 5 7), erkennt, im Blick auf die Beiträge Wittmanns und Newigers, die »Problematik solcher Deutungen [...] in ihrem zu großen Abstand vom Text und zugleich darin, daß sie sich unkritisch auf die gelegentlichen, oft problematischen Äußerungen Hofmanns-

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30?

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5

Die nachfolgenden Überlegungen zu Hofmannsthals >ElektraChoephoren< des Aischylos ebenso radikal unterscheidet wie von der durch eine provozierende Perspektivenänderung, nämlich die Problematisierung des Muttermordes, gekennzeichneten >Elektra< des Euripides, 3 ' 3 ist Elektra in Hofmannsthals Bearbeitung die unbestrittene, J

" Dazu bündig Mueller, Hofmannsthal's >Electra< and Its Dramatic Models, S. 8off. Lesky, Die tragische Dichtung, S. 237, konstatiert: »Daß Elektra mit geringen Ausnahmen nicht von der Szene weicht, erweist sie deutlich als Mitte des Spieles. In diesem Drama vor allem erkennen wir, wie sehr der große, das Durchschnittsmaß der Choreuten überragende Mensch das zentrale Anliegen sophokleischen Dichtens ist.« - Die klassische Studie zum heroischen Heldentypus der sophokleischen Tragödie ist Bernard M.W. Knox: The Heroic Temper. Studies in Sophoclean Tragedy, Berkeley/Los Angeles/London: The University of California Press, 1964; hier sind prägnant jene Züge bezeichnet, die den appeal der Elektra-Figur auch für Hofmannsthal ausgemacht haben müssen und die er über alle Transformation hinweg auch in seinem eigenen Drama wahrt: »The Sophoclean hero acts in a terrifying vacuum, a present which has no future to comfort and no past to guide, an isolation in time and space which imposes on the hero the full responsibility for his own action and its consequences. It is precisely this fact which makes possible the greatness of the Sophoclean heroes; the source of their action lies in them alone, nowhere else; the greatness of the action is theirs alone. Sophocles presents us for the first time with what we recognize as a >tragic heroc one who, unsupported by the gods and in the face of human opposition, makes a decision which springs from the deepest layer of his individual nature, his physis, and then blindly, ferociously, heroically maintains that decision even to the point of self-destruction.« (Ebd., S. $).

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Sehr erhellende Vergleichsperspektiven bei Kurt von Fritz: Die Orestessage bei den drei großen griechischen Tragikern. In ders.: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen, Berlin 1962, S. 113-159; Charles Segal: Tragedy, Corporeality, and the Texture of Language. Matricide in the Three Electra Plays. In ders.: Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca/London: Cornell University Press, 1986, S. 337-358; Wolf Hartmut Friedrich: Schuld, Reue und Sühne der Klytämnestra. In ders.: Vorbild und

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das Drama in monumentaler Verlassenheit dominierende Mittelpunktsfigur, ja, durch das Fehlen des Chores, der bei Sophokles mit Elektras Haltung immerhin sympathisiert hatte, auch wenn er ihren unbeugsamen Widerstand weder teilte noch auch nur billigte, 3 ' 4 erscheint ihre Isolation hier noch weiter zugespitzt. Schon aus der Gruppe der Dienerinnen und Aufseherinnen, die in Hofmannsthals Prolog die Funktionsstelle des antiken Chores übernehmen und die Elektras Leid aus der opportunistischen Dienstboten-Perspektive verhöhnen, löst sich nur eine einzige Figur, die »Fünfte« (»eine ganz junge, mit zitternder erregter Stimme«), die der ausgestoßenen Tochter Agamemnons mit überschwenglicher Verehrung begegnet [...] Ich will m i c h v o r ihr n i e d e r w e r f e n u n d die F ü ß e ihr k ü s s e n . Ist sie nicht ein K ö n i g s k i n d u n d leidet s o l c h e S c h m a c h ! Ich will die F ü ß e ihr s a l b e n u n d mit m e i n e m H a a r sie t r o c k n e n 3 1 5 - ,

und in der harten Behandlung, die ihr durch die Aufseherin und die anderen Mägde für diese Huldigung widerfährt, spiegelt sich noch einmal die ohnmächtige Einsamkeit Elektras. 3 ' 6 Auch in Figurenstand und Handlungsgang hält sich Hofmannsthal eng an Sophokles: Zwar entfällt die bei Sophokles stumme Rolle des Pylades ganz, und der Chor mykenischer Frauen ist durch ein Geflecht individueller Stimmen von Dienern, H o f personal, Vertrauten ersetzt; die Trias der Frauen jedoch - Elektra, Klytämnestra und die von Sophokles eingeführte Chrysothemis - , dazu Ägisth, Orest und der Erzieher bilden hier wie dort den tragenden Figurenstamm. Auf den sophokleischen Prolog mit der heimlichen Ankunft Orests und seiner Begleiter in Argos und mit der Mitteilung des göttlichen Racheauftrags durch das delphische Orakel 3 ' 7 ist bei Hofmannsthal verzichtet, um die Aufmerksamkeit von Anbeginn an noch stärker auf das monologische Leid Elektras zu konzentrieren; umgekehrt hat Hofmanns-

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3IÍ ,lé

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Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der Tragödie, Göttingen 1967, S. 140-187, mit guten Ausblicken auch auf neuzeitliche Variationen. Vgl. den großen Austausch der Argumente zwischen der Protagonistin und dem Chor mykenischer Frauen in der Parodos; Sophokles, >ElektraElektraElektraElektraElektra< als ein Charakteristikum des sophokleischen Spätstils beobachtete, 3 ' 8 ein ausgiebiges Verweilen auf den großen Konfrontationen und Rede-Agonen Elektras mit Klytämnestra und, zweimal, mit Chrysothemis, in beiden Werken die durch die falsche Nachricht von Orests Tod ausgelöste Krise, dann die Peripetie der breit ausgestalteten Wiedererkennung der Geschwister, schließlich, in dramatischer Präzipitation, die handstreichartigen und brutalen Morde an Klytämnestra und Ägisth. In Hofmannsthals sprachlicher und szenischer Realisierung dieser übernommenen Rahmenelemente findet sich eine weite Skala intertextueller Verfahrensweisen, die von direkten Zitaten, F o r m - und Stilimitationen über die Bedeutungsveränderung vorgegebener sophokleischer Motive bis hin zu vollständigen Neuerfindungen reicht: So übernimmt H o f mannsthal in engster Parallelführung die - in der Geschichte des europäischen Klassizismus stets als besonders schockierend (und änderungsbedürftig) empfundene 3 ' 9 - sophokleische Konstruktion der Racheausführung, bei der die als Wache vor dem Palast postierte Elektra den im Inneren stattfindenden Muttermord Orests mit unerbittlichen Anfeuerungsrufen begleitet und unmittelbar darauf den heimkehrenden Ägisth mit Worten von tödlicher Zweideutigkeit in sein Verderben schickt. Die Kulmination der Szene, Elektras grausames παϊσον,

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'

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εί σΰένεις

όιπλήν

»[...] alles, was sich angesammelt hat, muß in Vorwurf, Verteidigung, Rechtfertigung heraus. Eine Entladungsseligkeit ist ausgebrochen und macht sich in einer Sprache Luft, die mit der früheren zu verwechseln ein Ding der Unmöglichkeit ist, und die auf der anderen Seite für >Rhetorik< und euripideische Manier zu halten nur die philologische Schwerhörigkeit hat fertig bringen können, die statt von dem inneren Anstoß, der das Wort bewegt, vom äußeren Schema, vom >Epicheirem< ausging und ihren Formbegriff in Inhaltsanalysen buchte.« Reinhardt, Sophokles, S. ι jof. Vgl. die sehr instruktiven Beispiele in Mueller, Hofmannsthal's >Electra< and Its Dramatic Models, S. 82, sowie ausführlicher in ders.: Children of Oedipus and other essays on the imitation of Greek tragedy (1550-1800), Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 1980, S. 65 ff. (»The Mitigation of Matricide in Eighteenth-Century Versions«). Unter anderem berichtet Mueller von Versionen, die Elektras brutalen Anfeuerungsruf dem Mordopfer Klytämnestra selbst zuwiesen, »in whose mouth it expresses the defiance of the hardened criminal even at the point of death.« (Hofmannsthal's >ElectraVernunft< gekommen zu sein und sich Agisth zu unterwerfen, während sie ihm in Wahrheit den Weg zu seinen Mördern weist - »Es ist nichts andres,/ als daß ich endlich klug ward und zu denen/ mich halte, die die Stärkern sind«' 22 - , ist präzise und in fast wörtlicher Übernahme dem sophokleischen Modell 323 nachgearbeitet, und die virtuose Imitation derselben Täuschungstechnik doppeldeutig-ironischen Sprechens im Disput zwischen Klytämnestra und Elektra - »Wenn das rechte/ Blutopfer unterm Beile fällt, dann träumst du/ nicht länger«, 324 prophezeit die Tochter der Mutter, die nicht ahnt, daß ihr damit das eigene Todesurteil verkündet wird - zeigt eindrucksvoll, wie aufmerksam Hofmannsthal sein Vorbild studiert hat und wie geschickt er dessen Stilmittel auch dort in sein dramatisches Idiom zu integrieren versteht, w o direkte Vorgaben fehlen. - Auf andere Weise belegen selbst Hofmannsthals Auslassungen die intertextuelle Bewußtheit seines Verfahrens: Der hochdramatische Botenbericht des Paidagogos vom angeblichen Tod Orests beim delphischen Wagenrennen,325 mit über 80 Versen einer der längsten seiner Art im Uberlieferungsbestand der griechischen Tragödie und in seiner bildkräftigen Detailversessenheit ein Prunkstück sophokleischer Erzählkunst, ist auf eine Szenenanweisung 326 und eine dürre Lüge aus dem Mund Orests zurückge)2

° Sophokles, >ElektraElektraElektraElektraübersetzt< und die mykenische Königstochter in den sarkastischen Hyperbeln des Dänenprinzen reden läßt: »Sie kreißen oder/ sie morden. Wenn es an den Leichen mangelt,/ darauf zu schlafen, müssen sie doch morden!«, 3 3 6 oder, an Klytämnestra gewendet: »Zu diesen Brüsten hast du mich gehoben? So bin ich ja aus meines Vaters Grab/ herausgekrochen, hab gespielt in Windeln/ auf meines Vaters Richtstatt.« 337 In solchen Umregistrierungen wird die Transformation der Tragödie zum Spiel mit weltliterarischen Parallelen und >Echos< und darin zum Organ einer mehrschichtigen Intertextualität, die in der modernen Retraktation eines antiken Stoffes zugleich an prominente Varianten in dessen neuzeitlicher Rezeption erinnert. Eindrucksvoll ist die Leichtigkeit, mit der Hofmannsthal selbst noch diese stilistischen Transpositionen und Travestien unmittelbar aus Motiven des sophokleischen Dramas entwickelt. So wird der bittere Vorwurf Elektras gegenüber Klytämnestra: επειτα ποίας ημέρας δοκεϊς μ' αγειν, δταν ϋρόνοις Αϊγισϋον ενϋακοϋντ? ϊδω τοϊσιν πατρφοις, είσίδω Elektramutterrechtlichen< Argumentation, an die sich ein erbitterter Disput zwischen Mutter und Tochter um Vorstellungen von Gesetz (νόμος Vs. 580) und Gerechtigkeit (δίκη, Vs. 583), aber auch um die Mißbrauchbarkeit dieser Konzepte anschloß aus der Sicht der sophokleischen Elektra ist Klytämnestras angebliche >Rache< für Iphigenie ein bloßer Vorwand zur Verdeckung ihres wahren Tatmotivs: der ehebrecherischen Leidenschaft für Agisth348 - , von diesem in allen griechischen Versionen der Tragödie virulenten Tathintergrund ist bei Hofmannsthal nichts übriggeblieben. In seiner Transformation tritt an die Stelle der zwar mit vorgeschobenen Gründen und durchsichtigen Schutzbehauptungen, zugleich aber geistesgegenwärtig und in sophistischen Redegewandtheit argumentierenden Klytämnestra des antiken Textes eine seelisch labile und in ihrer Identität zutiefst gefährdete Figur, die sich des Geschehenen kaum zu entsinnen scheint und die Zuschreibung einer individuellen Verantwortung für die Ermordung Agamemnons als Zumutung von sich weist: K L Y T Ä M N E S T R A : [...] G e h t d e n n nicht alles v o r unsern A u g e n über und verwandelt sich w i e ein N e b e l ? U n d w i r selber, w i r ! u n d u n s r e Taten! Taten! W i r u n d Taten! Was das f ü r W o r t e sind. B i n ich d e n n n o c h , die es getan? U n d w e n n ! getan, getan! G e t a n ! w a s w i r f s t d u m i r d a f ü r ein W o r t in m e i n e Z ä h n e ! 3 4 9

346 347 348 345

was sie sind.« (S. 199) und »Wahrhaftig, wenn du keine Göttin bist,/ w o sind dann Götter! Ich weiß auf der Welt/ nichts, was mich schaudern macht, als wie zu denken,/ daß dieser Leib das dunkle Tor, aus welchem/ ich an das Licht der Welt gekrochen bin.« (S. 200). Vgl. Vs. 5 2 5 f f . Sophokles, >ElektraElektraElektratranszendentale< Meta-Ebene verschoben, auf der nicht mehr primär das Delikt selbst und als solches, als vielmehr die bewußtseinsmäßigen Bedingungen seiner Möglichkeit zur Debatte stehen. Indem Hofmannsthals Klytämnestra (in unverkennbarer Nähe zu >epistemologischen< Diskursen der Epoche, aber auch zu Hofmannsthals eigenem, ein Jahr zuvor entstandenem >Chandos-BriefIdentitätHandlungsmächtigkeitZurechnungsfähigkeitVerantwortungSchuld< etc. nicht mehr als unbestrittene Gegebenheiten, sondern als selbst durchaus problematische Vor-Urteile erscheinen.»1 Freilich gehört es zu der ambivalenten Problemlage im >Diskursgeflecht< von Hofmannsthals Drama, daß diese aus der Figurenperspektive einer persona dramatis formulierten hyperskeptischen Vorbehalte nun auch ihrerseits keineswegs als die eindeutige und verbindliche Generalaussage des Werkes dingfest zu machen sind, daß sie in der agonalen Redesituation des Dramas und in der Erwiderung auf die schweren Anschuldigungen Elektras vielmehr ein klares apologetisches Interesse verfolgen: Für Klytämnestra ist die prinzipielle Bestreitung der Identität des Ichs und seiner Urheberschaft an den ihm zugeschriebenen >Handlungen< auch eine wirkungsvolle (und durchaus >rationaleUnschuld< verloren hat, steht Elektra nicht allein, denn wie sie leiden auch ihre Kontrahentinnen, Klytämnestra und Chrysothemis, unter dem unbewältigten Trauma der Ermordung Agamemnons, das sie im selben Idiom psycho-somatischer Zerrüttung formulieren. Nicht von ungefähr hatte Hofmannsthal im Rückblick auf die Entstehung seines Dramas notiert, die drei Frauengestalten seien ihm »wie die Schattierungen eines intensiven und unheimlichen Farbtones gleichzeitig

3 8

> Ebd. Worbs, Nervenkunst, S.288, bemerkt zur >Psychopathologie< der zitierten Stelle: ^ E i fersüchtig sind die TotenWeiberschicksalBräutigam< für den Haß wird fortgesetzt: er kommt >über< sie wie der Gatte im Ehebett. Und Elektra erfährt daher keineswegs, >wie es zwischen Mann und Weib zugehtHaß< die Stelle des Bräutigams einnimmt. Anstelle von Sexualität, Zärtlichkeit, körperlicher Liebe erfährt sie die Ineinssetzung von Geschlechtlichkeit und Verbrechen.«

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aufgegangen«,' 60 und die komparatistische Analyse bestätigt, daß tatsächlich alle drei Figuren dieser konstitutiven Trias aus einem einheitlichen Zugriff auf Motive der sophokleischen Tragödie entwickelt sind. - Im Fall Klytämnestras bedient sich Hofmannsthal zur Emotionalisierung und >Hysterisierung< seines Modells des bei Sophokles bereits prominent vorgebildeten Angsttraums 361 und erweitert dieses Motiv, in handgreiflicher Affinität zur entstehenden psychoanalytischen Traumdeutung, zum psychologischen Definiens einer Figur, die »keine guten Nächte«' 62 hat, von ihrer Gegenspielerin Elektra verzweifelt ein »Mittel gegen Träume«' 6 ' erfleht und in panischer Verdrängungsbereitschaft (»Ich will nichts hören«'64) bei Tag einem verschleiernden Relativismus das Wort redet [...] Was die Wahrheit ist, das bringt kein M e n s c h heraus. N i e m a n d auf E r d e n w e i ß über irgendein v e r b o r g n e s D i n g die Wahrheit. G i b t s nicht w e l c h e in den K e r k e r n , die sagen, daß ich eine M ö r d e r i n u n d daß A g i s t h ein M e u c h e l m ö r d e r ist?' 6 5 - ,

den ihre nächtlichen Angstvisionen' 66 und ihre >Freudschen Versprecher^67 Lügen strafen. Bis zur UnUnterscheidbarkeit durchdringen (und durchkreuzen) sich in Klytämnestras nervösen Reden Elemente psychischer Dissoziation und rationalen Kalküls, unwillkürliche Wahrheiten

360 361

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An Ernst Hladny, Briefe (1900-1909), S. 384. Vgl. Sophokles, >ElektraElektraTreue< zu Agamemnon und damit die >ethischen< Motive ihres Handelns ins Spiel kommen. Von der Eingangsszene an ist Elektra, zunächst in der indirekten Charakterisierung durch die Mägde am Ziehbrunnen und dann in ihrem passionierten Eingangs-Monolog (wo sie sich in der feierlichen Anrufung des toten Vaters in einen immer ekstatischeren Blutrausch und, das Finale vorwegnehmend, in die Vision eines bacchantischen Rachetanzes hineinsteigert 3 ' 8 ), immer beides zugleich: eine unheimliche Ausgestoßene, nämlich der » D ä m o n « 3 " und die »wilde Katze«, 400 das »Tier in seine[m] Schlupfwinkel« 4 0 1 oder das »gefangene Tier im Käfig«, 402 dem man »den 393 394 395

396 397 398 399 400 401 402

Ebd., S.188. Ebd., S.190. Ebd., S. I94Í. Nach Mayer (Hofmannsthals >ElektraHumanität< und des >Gewissens< in einer verstörten und beschädigten Welt, eine hysterische Statthalterin des >RechtsTreue< Züge des Irreseins und deren zwiespältige Vaterbindung (»Elektrakomplex«) ein Element neurotischer Fixierung nicht verleugnen kann und die doch auf die Zuschreibung psychischer Krankheitssyndrome (und letztlich auf die Diagnose geistiger Unzurechnungsfähigkeit) keineswegs reduziert werden darf. Wenn man nämlich unterstellen kann, daß auch in Hofmannsthals archaisch stilisiertem Mykene die Ermordung Agamemnons ein ungesühntes >Verbrechen< und eine offene >Schuld< darstellt und die gegenteilige Annahme müßte jede noch so >freie Bearbeitung< der antiken Vorlage ad absurdum führen - , dann ist es auch hier noch immer die abstoßende, seelisch beschädigte Elektra allein, die gegen alle Widerstände und Verdeckungen an das μίασμα der auf dem Atridenhaus lastenden Schuld erinnert, ja, ihre eigenen Versehrungen erscheinen in diesem Licht geradezu als ein Emblem jener größeren, kollektiven Verheerung. Mit Recht kann Nehring daher formulieren, die »Fixierung auf die Vergangenheit und die traumatische Zerstörung der Persönlichkeit« bezeichneten »den Schnittpunkt der ethischen und der psychopathologischen Interpretation« des Dramas.406 Es ist ein wesentliches Ingrediens der Redefinition des Tragischen in Hofmannsthals Drama (und eine Herausforderung jeder Inszenierung), daß diese Ambivalenz-Spannung in den Figuren wie zwischen den Figuren kontinuierlich durchgehalten und auch durch den Ausgang der Handlung nicht >aufgehoben< wird.407 Elektra, deren Unfähigkeit zu »verges4

°' Ebd., S.188. Ebd., S.189. 4 s ° Ebd., S.189. 406 Nehring, >Elektra< und >OdipusElektraTatethischer< und >psychopathologischer< Begründungen tritt hier als zusätzlich komplizierendes Motiv die ironische Diskrepanz zwischen inhibierender >Reflexion< (oder Affektivität) und bedenkenloser Täterschaft, zwischen Elektra/Hamlet und Orest/ Fortinbras. Schließlich bleibt selbst Hofmannsthals auffälligste Innovation, der ekstatische Todestanz Elektras am Ende des Dramas, von der Eindeutigkeit einer >Lösung< und schon gar von jenem durch manche Interpreten behaupteten Triumph 410 einer in der Feier des Sieges und im vermeintlichen »Tanz der Erfüllung« 4 " mit sich selbst wie mit ihrer Gemeinschaft versöhnten Protagonistin 412 weit entfernt. 4 ' 3 Ganz im Gegenteil erhebt diese 408

Zur tragischen Ironie der Szene vgl., nach dem Vorgang von Jens (Hofmannsthal und die Griechen, S. 66), die sehr aufmerksame Lektüre Wetzeis (Elektras Kult der Tat, S. 3 5 8 ff.): »Deutlicher und demonstrativer konnte sie nicht von der Tat ausgeschlossen werden, für die allein sie lebte und die sie immer wieder in der Phantasie vorweggenommen hatte.« (S. 360). Anders Newiger (Hofmannsthals >Elektra< und die griechische Tragödie, S. 154), der hier eine Schonung der Figur durch den Autor erkennen möchte: »Wenn der Dichter sie von dem eigentlichen Vollzug des Muttermordes durch das berühmte Vergessen des Beils distanziert, so bedeutet das vor allem, daß sie Klytämnestra entgegengesetzt wird, die dieses Beil in widernatürlicher und unweiblicher Weise gegen ihren Gatten Agamemnon geführt hatte; so bedeutet das auch, daß sie in einer letzten Distanz von der Untat des Muttermordes gehalten wird, um ein letztes Weibliches in ihr zu bewahren.«

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Hofmannsthal, >ElektraElektra< und die griechische Tragödie, S. 1 5 1 ) , der in der Schlußszene die »Auflösung des Individuums« in der »Hingabe an ein Höheres - die Rache für den ermordeten Vater in der Treue zu diesem und in ein Höheres hinein« erkennt: »So gesehen ist Elektras Tod, die Auflösung des Individuums >in der empirischen WeiseSchweigen< endgültig alle Verständigung mit der Außenwelt abbricht,420 zur letzten Geste eines »angespanntesten Triumphes«, 421 bevor Elektra unter der »Last des Glükchen Situation am Königshof von Mykene.« (S. 52). Im »Ineinandergreifen der Hände beim Reigen«, so fährt Schlötterers harmonisch glättende Lesart fort, »symbolisiert sich der wiedergewonnene Zusammenhalt der Menschen; Elektra steht es zu, den Reigen anzuführen [...], weil sie als einzige im Palast die Stellung des Rechts in Ehren hielt.« (S. $4). Daß Elektra diesen Tanz nicht überlebt, soll dann einfach zu ihrer »tragischen Größe« (ebd.) gehören. Zur Kritik dieser Interpretation vgl. die triftigen Einwände bei Brandstetter, Tanz-Lektüren, S. 205, Anm.42. 41 ' Dies in Ubereinstimmung mit der sehr genauen Lektüre der Tanzszene bei Wetzel (Elektras Kult der Tat, S. 364^), die in das Fazit mündet: »Niemand schließt sich ihr an. [...] Der Reigen kommt nicht zustande. Damit ist Elektra gescheitert. [...] man darf Elektras Selbstverständnis nicht mit ihrer Auffassung durch den Dichter verwechseln; sie endet tragisch, aber nicht im Triumph.« (S. 365). 414 >Elektra Ebd. 4IÉ

417

»[...] ich weiß doch, daß sie alle warten,/ weil ich den Reigen führen muß, und ich/ kann nicht, der Ozean, der ungeheure,/ der zwanzigfache Ozean begräbt/ mir jedes Glied mit seiner Wucht, ich kann mich/ nicht heben!«. (Ebd.). Zur Choreographie der Szene - »Verschränkung der Pathosformel des Tanzes der Mänade mit der ekstatischen Ausdrucksgebärde der Hysterikerin als Inszenierung eines Weiblichkeits-Konstrukts« - vgl. Brandstetter, Tanz-Lektüren, S. 198-202, hier S. 202.

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Regieanweisung, ebd. Zum kulturellen Konzept und zum Bewegungsmodell des »Tanzes der Mänade« in der Tanzkunst der Jahrhundertwende von Isadora Duncan bis Mary Wigman vgl. die sachkundigen Ausführungen bei Brandstetter, ebd., S. 182-206. 4 " Ebd. 420 »Schweig und tanze« (S. 233), lautet Elektras Replik auf den Anruf durch Chrysothemis, und ihre letzten Worte wiederholen: »Wer glücklich ist wie wir, dem ziemt nur eins:/ schweigen und tanzen!« (S. 234). 421

Ebd., S.234. :

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kes«422 zusammenbricht und stirbt. Hofmannsthals Oxymora und die ganze sorgfältige Komposition der Finalszene - sie ist Sieg und Katastrophe, orgiastische Erfüllung und epileptischer Zusammenbruch, einsamer Tod der exponierten Heldin und kollektives Fest der angepaßten Vielen machen zur Genüge deutlich, daß hier, wie in einer Stretta, die leitmotivischen Spannungen und Widersprüche des ganzen Dramas nicht etwa zur versöhnlichen Lösung aufgehoben, sondern in tragisch-ironischer Ambiguität noch einmal bekräftigt und überboten sind.423 4.2 Ein »Hymnus auf die Allgewalt der innern Sekretion«: Hans Henny Jahnns >Medea< als Tragödie der Leiblichkeit Hans Henny Jahnns expressionistische >MedeaElektra< auf: Hier wie dort begegnet (wir haben oben davon gesprochen) dieselbe Konjunktion von Archaik und Modernität beim Versuch, durch die Rückprojektion attischer Tragödien in ein primitivistisch-vorhellenisches Kulturstadium bzw. durch ihre Uberblendung mit viel älteren außergriechischen Materialien (Hofmannsthals Orientalismen, Jahnns babylonischen, ägyptischen, afrikanischen Motiven) zu anthropologisch fundamentalen, aber im Prozeß der Zivilisation verdrängten oder überdeckten Archetypen menschlichen In-der-Welt-Seins zurückzustoßen, denen eben in dieser Befreiung von der Patina klassizistischer Kunstkonventionen und Bildungstraditionen eine neue zeitgenössische Aussagekraft zuwachsen soll. Im besonderen fungiert in diesen passionierten >ElektraMedeabürgerlich< kleindimensionierter Kultur-

422

Ebd., S.233Í. ' Dies in Ubereinstimmung mit Mueller (Hofmannsthal's >Electra< and Its Dramatic M o dels, S. 88), der bündig konstatiert: »But ambiguities remain. Does Electra's death confirm or transcend the destructive petrification of her all too loyal self? The text need not give a definitive answer to such a question. In fact, it does not, and Hofmannsthal's own remarks about the play are also ambivalent. In the text of the play - as opposed to the libretto of the opera - Electra remains an outsider at the moment of triumph just as she had been at the moment of retribution.« 424 Alle Textzitate nach der Ausgabe: Hans Henny Jahnn: Werke und Tagebücher in sieben Bänden. Mit einer Einleitung von Hans Mayer. Hrsg. von Thomas Freeman und Thomas Scheuffelen, Band4 (Dramen I), Hamburg 1974. 42

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und Moralvorstellungen, weshalb es auch nicht verwundert, daß Jahnns Drama in seiner frühen Rezeption durch die Literatur- und Theaterkritik der zwanziger Jahre eine ähnlich heftige und kontroverse Resonanz mit vergleichbaren Bekundungen sittlicher Entrüstung zuteil wurde 42 ' wie w Materialien zu einer Rezeptionsgeschichte hat U w e Schweikert (»Untergang, Untergang, Untergang«. Jahnn auf dem Theater - >Medea< in der Kritik. In: Medea. Hans Henny Jahnn. Hg. Schauspiel Köln. Ein Theaterbuch von Manfred Weber, Berlin: Edition Hentrich, 1989, S. 1 8 1 - 1 9 0 [im folgenden zit. als: Theaterbuch]) zusammengetragen. Über die Berliner Uraufführung der >Medea< am 4. Mai 1926 (Regie Jürgen Fehling, A g nes Straub in der Titelrolle) heißt es in der zeitgenössischen Theaterkritik u.a., Jahnn lasse »das Wühlen im Fleische der Opfer so ausführlich erzählen, daß kein Augenschein den Ekel erhöhen könnte und die tosende Sexualität auch hier wie in dem ganzen Stücke ihre Wurzeln bloßlegt. Der Geschlechtswahnsinn beherrscht durchweg die Phantasie dieser Medea-Dichtung« (Alfred Klaar, > Vossische ZeitungBerliner Börsen-Courier8 Uhr AbendblattDie WeltbühneVermenschlichungModernisierung< Hofmannsthals verwechselt zu werden. Jahnn gibt auch Symbolik

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nach der Jahrhundertwende der nervösen Tragödie Hofmannsthals und ihrer hysterischen Protagonistin.426 Mochten indes die Irritationen der veröffentlichten Meinung zu einem beträchtlichen Anteil durch die exzessive Geschlechtlichkeit beider Werke ausgelöst sein, so gibt es doch noch einen zweiten und tieferen Aspekt, der das Ähnlichkeitsverhältnis zwischen den Antikentransformationen Hofmannsthals und Jahnns recht eigentlich begründet und selbst der sexuellen Thematik allererst ihre beunruhigende philosophische Dimension verleiht: Beiden Werken nämlich liegt eine Logik nicht der Beantwortung und stabilen Lösung der aufgeworfenen Probleme und Konflikte zugrunde als vielmehr eine kalkulierte Strategie der Komplizierung, Infragestellung und Verunsicherung, der Uberblendung einander spannungsvoll widersprechender Semantiken und Idiome, der gezielten weltanschaulichen Ambiguität und Ambivalenz. Wo diese Dramen kanonische Handlungskonstellationen griechischer Tragödien in einem grell-archaisierenden Idiom reformulieren und darin dezidiert zeitgenössische Erfahrungen einer vielschichtigen Subjektivität und ihrer problematischen Verwerfungen zur Anschauung bringen, da verzichten sie - wie wir an der Interferenz psychoanalytischer, medizinischer, ethischer Diskurse in Hofmannsthals Tragödie sahen und im folgenden auch am Drama Jahnns erweisen wollen - auf jede eindeutige Hierarchisierung oder Harmonisierung ihrer verschiedenen semantischen Perspektiven und damit auf Synthese und Versöhnung, um statt dessen die schwieriger gewordenen Rätsel und Aporien einer nachidealistisch-dezentrierten, von widerstreitenden Codes mit konkurrierenden Ansprüchen bedrängten conditio humana zu umkreisen, sie in großen dramatisch-szenischen Metaphern auszustellen. In hermeneutischer Perspektive hat diese >Verschwierigung< der Textverhältnisse zur Folge, daß auch die Auslegung427 nicht mehr hoffen darf,

426

427

körperlich, wie die herrliche Erzählung des älteren Knaben vom Hengstritt [...]. Jahnn hat als Vereinzelter heute tragische Gesinnung [...]. Er gibt in der >Medea< eine Erschütterung der Natur und der Elemente und ordnet Tragödien des Bluts in den Ablauf der Gestirne.« (S. 186). Den Bezug beider Werke stellte Alfred Kerr bereits in seiner Theaterkritik zur Uraufführung (»Berliner Tageblatt< vom 5. Mai 1926) her, wenn er über Jahnns Tragödie bemerkte: »Dieses Schauerspiel eines jungen Deutschen [...] stößt Hofmannsthals >ElektraIllustration< bestimmter und identifizierbarer theoretischer Gedankengebäude, einer stringent formulierten >Weltanschauung< zu erweisen. Freilich muß das weder in ästhetischer noch in intellektueller Hinsicht ein Nachteil sein: Im Gegenteil hatten wir oben an den Tragödienadaptionen von Pannwitz und Jeffers deren Neigung zur Begriffsallegorie als problematisch erkannt, weil sie die konkrete Handlung eindimensional verflachte, und in den folgenden Kapiteln werden wir noch öfter Gelegenheit zu der Feststellung haben, daß eine Hauptgefahr der Tragödienbearbeitung im modernen Drama der >mythischen Methode< gerade in einer reduktionistisch anmutenden Tendenz zur theoretisch-begrifflichen Vereindeutigung und Fixierung der antiken Prätexte und ihrer vieldeutigen Problemkonstellationen besteht. Wenn Hofmannsthals >Elektra< und Jahnns >Medea< sich in dieser Hinsicht von der Mehrzahl moderner Tragödienbearbeitungen unterscheiden und eher eine Frage- als eine Lös«wg5struktur aufweisen, so stehen sie mit dieser skeptisch-aporetischen Disposition doch in einer umso engeren und produktiveren Analogie zur griechischen Tragödie selbst, für die die kultursoziologisch orientierte altphilologische Forschung gleichfalls eine Logik weniger der Affirmation stabiler Geltungen und Gewißheiten als vielmehr der semantischen Spannung und der problemreichen Ambiguität geltend gemacht hat.428 Der Autor Hans Henny Jahnn hat in einer Reihe begleitender Essays und programmatischer Selbstdeutungen zu den Intentionen seines Medea-Dramas Stellung genommen und dabei immer wieder in vitalistischbiologischen Kategorien den engen Zusammenhang seines Tragik- und des Mythischen, Diss. phil. München 1966; Secci, Il mito greco, S. 1 8 3 - 2 1 5 ; das JahnnKapitel bei Gerhard Schmidt-Henkel: Mythos und Dichtung. Zur Begriffs- und Stilgeschichte der deutschen Literatur im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1967, S. 188-244, bes. S. 23 j f f . (»Eros und Tragik«); Konrad Kenkel: Medea-Dramen. Entmythisierung und Remythisierung. Euripides, Klinger, Grillparzer, Jahnn, Anouilh, Bonn 1979, Kap. IV; Skrodzki, Mythopoetik, bes. S. 77-106, passim; zuletzt Genia Schulz: Eine andere Medea. In: Hartmut Böhme/Uwe Schweikert (Hrsg.): Archaische Moderne. Der Dichter, Architekt und Orgelbauer Hans Henny Jahnn, Stuttgart/Weimar 1996, S. 1 1 0 - 1 2 6 . Uber Jahnns poetische Instrumentalisierung des Mythos im allgemeinen vgl. Peter Kobbe: Mythos und Modernität. Eine poetologische und methodenkritische Studie zum Werk Hans Henny Jahnns, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973. 428

Vgl. Vernant, Tensions et ambiguïtés, op. cit., sowie Charles Segal: Greek Tragedy and Society. A Structuralist Perspective. In ders.: Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca/London: Cornell University Press, 1986, S. 2 1 - 4 7 , u n £ I Simon Goldhill: The Great Dionysia and Civic Ideology. In: Journal of Hellenic Studies C V I I (1987), S. 58-76.

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Tragödienverständnisses mit einem leibnah gefaßten anthropologischen Schicksalsbegriff ohne transzendente oder theologische Implikationen bekräfigt. Insofern das Werk »unentrinnbare Konstellationen im seelischen und leiblichen Aufbau des Ichs« 42 ' thematisiere, sei die von mir geschriebene >Medea< [...] eine Schicksalstragödie; aber nicht das Schicksal, das sich Götter in übergroßer Weisheit ersonnen, waltet, vielmehr das traurige Herz des Menschen in ihm selber. Nicht eine einzige andere Kraft beschleunigt den Ablauf der Handlung. Der jüngere Knabe der Medea entblößt sein Herz als Erster, und siehe, das des Bruders wird ebenfalls ereilt von dem Schicksal des Menschen, Sehnsüchte in sich zu finden. Nicht ohne Grund und mit Willkür habe ich die hochzeitliche Feier des Hengstrittes eingefügt. Abbilden das Unabwendbare wollte ich als Gleichnis, das sich in allem Leben wiederholt. 430

Verwandte Äußerungen des (im Kontext der Hamburger Aufführung von 1927 entstandenen) Rundfunkvortrags >Die Sagen um Medea und ihr Leben^ 31 betonen, in diesem Sujet würden »uns urtragische Probleme entgegengetragen: solche von den Verwicklungen der Liebe, von Unerbittlichkeiten in den Gesetzmäßigkeiten des Geborenwerdens und Sterbens«;432 an späterer Stelle desselben Essays ist die Rede von dem »typisch naturalistische[n] Ablauf vitalen Lebens, das grausam, unerbittlich und dennoch rätselhaft ist« und in dem »die stetige Aktualität des Stoffes« gründe.433 Oder Jahnn spricht, in seiner kurzen, in der Zeitschrift >Die Scene< veröffentlichten >MedeaZur >Medea«, in: Schriften. Tagebücher, S . 2 3 3 - 2 3 5 , hier S.233. Ebd., S.233Í. 431 In: Schriften, Tagebücher, S. 284-288. 432 Ebd., S. 284. 433 >Die Sagen um Medea und ihr Lebens S. 287. 434 In: Schriften. Tagebücher, S. 250-51. 43 ' Ebd., S. 251. 436 >Die Sagen um Medea und ihr LebenMedeaMedeaLiebe als Passion< (Luhmann) in eine Totalperspektive, in der sich in den verschiedengestaltigsten sexuellen Manifestationen einund derselbe vitale Vorgang wiederholt: Begehren und Begehrtwerden, Lust und Verlust, Sehnsucht und Verrat sind die großen Leitkonstanten dieses pansexuellen Kosmos, >das Unabwendbare [...], das sich in allem Leben wiederholte Der Handlungskreis der aktiv und passiv von der Macht des Eros Erfaßten und Betroffenen ist dabei viel weiter gezogen als bei Euripides, er bleibt weder auf die Protagonisten Medea und Jason noch überhaupt auf den Bereich der menschlichen Gattung beschränkt, und er ist gekennzeichnet durch eine diffuse Streuung erotischer Energien, die sich in einem kalkuliert-chaotischen Spektrum heterosexueller, homosexueller, inzestuöser, ja selbst sodomitischer Paarungen entladen: So wertet, in einem besonders manifesten Eingriff, Jahnn die beiden Söhne Medeas und Jasons (die in Euripides' Theater der Grausamkeit nur in den eindringlichen, vergebens an den Chor - und mittelbar an das Publikum - appellierenden Hilfeschreien der Kindermordszene441 zur akustischen Präsenz absoluter, in wehrloser Passivität abgeschlachteter Opfer gelangten442) zu vollwertigen, handlungstragenden Figuren mit umfangreichem Sprechtext auf und bereitet diesen göttlich schönen,443 mulattengestaltigen Mischlingen »von ungriechisch dunkler Farbe«444 ihre eigene Tragödie der Geschlechtlichkeit. Dem Jüngeren KnabenDie Geburt der Tragödien S.93. Vgl. Euripides, >MedeaMedeaMedeaÄltere Knabe< verzweifelt und der ihn, in einer A r t von >UbersprungshandlungMedeaBotschaft< erscheinen zu lassen, sondern zugleich und vor allem: als sein fundamentales Problem. - Eine dieser Gegenperspektiven ist fest mit der Kreon-Figur verbunden, und sie bleibt werkimmanent ein individueller Sonderdiskurs, stark genug, um eine thematische Nebenlinie zu begründen, aber doch insgesamt ein sekundäres und implizit kritisiertes Motiv: Kreon, der Herrscher von Korinth, setzt der allgegenwärtigen Tendenz zur panerotischen Grenzaufhebung und unterscheidungslosen Vermischung ein autoritäres Ethos der Regulierung des geschlechtlichen Austausche entgegen, gleichsam eine sexuelle Ordnungspolitik, die sich im konkreten Handlungszusammenhang vor allem gegen die »Negerin« Medea und ihre exotischen Mischlingskinder richtet. Das mit der Medea-Sage vorgegebene, in der >Arbeit am Mythos< von Euripides und Seneca über Corneille, Klinger und Grillparzer bis zu Anderson und Anouilh, Heiner Müller und Tony Harrison 481 immer wieder in neue Konfigurationen des Fremd- und Andersseins übersetzte Motiv von Medeas nicht-griechischer Herkunft, 480 481

E b d . , S.497Í. Z u den klassischen und >klassisch-modernen< Stationen dieser produktiven R e z e p t i o n s geschichte vgl. u m f a s s e n d D u a r t e M i m o s o - R u i z : M é d é e antique et moderne. Aspects rituels et socio-politiques d ' u n mythe. Préface de G e o r g e s D u m é z i l , Paris 1980, daneben K u r t v o n Fritz: D i e E n t w i c k l u n g der Iason-Medea-Sage und die Medea des Euripides. In ders.: A n t i k e und m o d e r n e Tragödie, N e u n A b h a n d l u n g e n , Berlin 1962, S. 3 2 2 - 4 2 9 und 4 8 6 494, s o w i e K e n k e l , M e d e a - D r a m e n . Bedeutende Beispiele einer postmodernen F o r t f ü h rung v o r allem in H e i n e r Müllers >Medeaspiel< ( 1974) und seinem T r i p t y c h o n V e r k o m m e nes U f e r Medeamaterial L a n d s c h a f t mit Argonauten< ( 1 9 8 2 ) s o w i e in der sehr eindrucksvollen p o l y p h o n e n C o l l a g e v o n T o n y Harrisons >Medea. A S e x - W a r Opera« (1985). 152

ihres Barbarentums, erfährt hier, in einer in der gesamten Rezeptionsgeschichte des Stoffes vergleichslosen Ausdrücklichkeit, eine Wendung ins offen Rassistische. Wenn Kreons Bote, der die Nachricht von Jasons bevorstehender Vermählung mit Kreusa überbringt, noch gleichsam unter dem Deckmantel formalrechtlicher Korrektheit berichtet, die »erste Ehe/ seines Eidams« scheine »dem König kein schimpfliches Hindernis, da Kolchrin du,/ nicht Griechin bist«, 482 so lehrt Kreons nachfolgender Auftritt alsbald, welche tiefersitzenden Ressentiments und Diskriminierungen sich hinter dieser Unterscheidung in Griechen und Nicht-Griechen, und daher: in vollwertige und minderwertige, rechtsfähige und rechtlose Subjekte, verbergen. Aufgestört durch die Blendung seines Boten, setzt Kreon Medeas dunkle Hautfarbe und fremde Herkunft mit niedriger Gesinnung und zivilisationsfeindlicher Triebhaftigkeit gleich D u bist ein Tier! Ungriechische Barbarin. Wie deine Haut so schwarz ist auch dein Werk. Kein griechisch Weib vermöchte deine Tat dir nachzutun 4 8 3 -

und ergeht sich angesichts der Zumutung, er hätte »die Tochter, die weiße,« Medeas dunklem »Bastardknaben« »angeloben sollen«, in wüsten xenophobischen Schmähungen: Dies laß dich trösten: Niemals hätt' ich gebilligt, daß mein heißgeliebtes Kind 'nem halben Neger beigegeben würde. Ausländer lieb ich nicht. Jason ist Grieche, der schönsten einer und ein Held. 4 8 4

Der Verrat des so gepriesenen griechischen >Helden< an Medea und den Söhnen fällt aus Kreons ethnozentrischer Sicht nicht ins Gewicht, ja, er wird mit unverhohlen rassistischer Sympathie gutgeheißen: Jetzt ganz begreif ich Jasons Handlungsweise. E r sehnt nach Menschen sich, vor Tieren flieht er; ist er doch Grieche und kein Afrikaner. 4 8 '

Als der König wenig später die Ausweisung der verhaßten Fremden verfügt, wird vollends unüberhörbar, wie sich hinter der Rhetorik von Griechentum und >Sehnsucht nach Menschen< die Inhumanität und Gewaltbereitschaft eines primitiven rassistischen Suprematismus verschanzt: 482 483 484 485

Jahnn, «Medeas S.485. Ebd., S.491. Ebd., S.492. Ebd., S.494.

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DER BOTE: [...] Ausrichten soll ich, daß verbannt du bist. [...] U n d was dich trifft, auch deine Söhne treffen soll es. Ihr seid zuwider ihm. Ja, wärt ihr Tiere, anstellen eine Jagd auf euch wiird' er. N o c h zweifelt er, ob dunkelfarb'ge Menschen den Tieren gleichzusetzen sind. Aus diesem Lande müßt ihr bis zum Abend. Trifft man euch morgen hier, wird Kreon wissen, daß Neger und Barbaren Tiere sind, zu anderm nicht geschaffen, als daß man mit Pfeilen auf sie schieße und sie erlege, niederschlage, verbrenne wie die Schlangen. 486

Nicht erst die textexternen Kommentare des Autors Hans Henny Jahnn, der sich, weniger als vier Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, für die im ägyptischen Nildelta vollzogene »großartige Synthese der Rassenmischung Neger-Weißhäutige« begeistert und »die Gottähnlichkeit der Kinder des Ehepaares Jason-Medea« mit dem utopischen Argument begründet, seine »letzte Hoffnung einer positiven Menschheitsentwicklung« werde »durch den Bastard getragen« 487 - nicht erst diese enthusiastischen Äußerungen Jahnns über eine vermischungsfreudige »Natur«, deren »Ziel größtmögliche Variation« 488 sei, machen klar, daß Kreons chauvinistisch-bornierte Unterscheidungen zwischen Griechen/ Hellhäutigen/Zivilisierten/»Menschen« einerseits und Ausländern/Afrikanern/Negern/Barbaren/ »Tieren« andererseits Ausdruck eines autoritär verengten, auf >Apartheid< insistierenden Denkens sind, dem der Sinn für den anthropologischen und biologischen Universalismus der Gattung, für ihr Eingelassensein in ein bruchlos-vitales Schöpfungskontinuum abhanden gekommen ist. Auch bereits im inneren Horizont des Dramas dementiert Kreons rassistische Sprache mit ihren haßerfüllten Tiraden gegen alles Andersaussehende und Fremde sich selbst und stellt in der entlarvten Willkürlichkeit und Vergeblichkeit ihrer aggressiven Grenzziehungen eine indirekte Bestätigung ihres Gegenstandpunkts, des Gedankens einer ekstatisch-erotischen Promiskuität des Lebendigen in all seinen Manifestationen, dar: Die Hetz- und Ausrottungsparolen des korinthischen Tyrannen sind der extreme Kontrapunkt zur polymorph-ungerichteten >Zeugungslust< der sexuell aktiven Figuren des Dramas. 486 487 488

Ebd., S.496. >Medearassenreiner< Beziehungen zu lenken, in werkinterner Perspektive ebensowohl wie in Jahnns auktorialen Erläuterungen eine kritisch kommentierte und eindeutig negativ bewertete Option dar, so kommt einer anderen Gegenbewegung gegen den pansexuellen Schöpfungs- und Zeugungsenthusiasmus des Werkes eine um so gravierendere Bedeutung zu, ja, als unvermeidliche Kehrseite des erotischen Uberschwangs und des »Hymnus auf die Allgewalt der innern Sekretion« spielt sie in Jahnns Konzept einer »Schicksalstragödie« aus der Einsicht in die »Verwicklungen der Liebe«, 48 ' die »Unerbittlichkeiten in den Gesetzmäßigkeiten des Geborenwerdens und Sterbens«,490 den »typisch naturalistische[n] Ablauf vitalen Lebens«4'1 usw. eine Schlüsselrolle. Diese Gegenperspektive ergibt sich aus dem Umstand, daß in der leibzentrierten Anthropologie4'2 des Textes die physischen, instinktiven, sexuellen Antriebe ein übermächtiges Gewicht und eine für die Identität und Selbstverwirklichung der dramatis personae entscheidende Bedeutung besitzen, daß diese vitale conditio sine qua non authentischer Existenz zugleich jedoch kein beständiges und dauerhaftes Glück zu begründen vermag, sondern im Gegenteil den Anlaß zu schweren Krisen und Zerrüttungen in und zwischen den Protagonisten bietet. Außerhalb des Bereichs sexueller Betätigung und Erfüllung ist in dieser passionierten Welt unter dem Regime des Zeugungsgottes Helios (als Allegorie für die »Allgewalt der innern Sekretion«) kein Glück möglich, aber die biologische condition humaine selbst und der Sexus als ihre bewegende Kraft werden mit zwanghafter Notwendigkeit zur Ursache von Unglück und Schmerz, Leid, Gewalt und Tod - das ist das tragische Paradoxon, das Jahnns Tragödie um das »traurige Herz des Menschen«4'3 in mannigfachen Schattierungen als unauflösbare Aporie umkreist, so daß Walter Muschg mit Recht feststellen kann, der Eros erscheine hier »tragisch gebrochen, als vernichtende Qual«. 4 ' 4

489

>Die Sagen um Medea und ihr Lebens S. 284. Ebd. 491 Ebd., S.287. 492 Zum Werkkontext vgl. Manfred Maurenbrecher: Subjekt und Körper. Eine Studie zur Kulturkritik im Aufbau der Werke Hans Henny Jahnns, dargestellt an frühen Texten, Bern/Ffm./New Y o r k 1983 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 698). 49 ' >Zur >Medea«, S. 233. 494 So der ursprünglich für das Programmheft der Wiesbadener >MedeaJahnns schwarze MedeaMedeaBlinde Bote< in drastischen B i l d e r n der A u s l ö s c h u n g u n d des körperlichen Verfalls ausdrückt: D E R B L I N D E B O T E : R e i ß t e u r e K ö r p e r auf! N o c h k ö n n e n es eure harten H ä n d e . In w e n i g Augenblicken wird N a c h t den A u g e n nicht nur, N a c h t d e n O h r e n auch: T a u b ! W e n n ihr gellt, taub. U n d N a c h t d e m M u n d , steht still - w i e A u g e n aus. I c h h a b es v o r g e k o s t e t . - G ä h n t . G ä h n t B l u t . U n d N a c h t d e n Sinnen. Speichel s t o c k t u n d G a l l e stockt. E s k r ü m m t sich T a u b h e i t d u r c h s G e b e i n , u n d K o t u n d W a s s e r rinnen peinlos aus. O h , w i r v e r w a n d e l n uns: s o w i r d das g r o ß e S c h w e i g e n , das G n a d e n b r o t , v o n d e m w i r reichlich essen. 4 9 9 D i e Schluß verse des D r a m a s , abermals v o m blinden B o t e n gesprochen, der darin z u m »araldo del dolore universale«'00 wird, b e s c h w ö r e n das Z u r R u h e - K o m m e n , die D e k o m p o s i t i o n d e r L e i b e r in e i n e m s i n n l o s e n T o d : D E R B O T E : M a n lohnt's uns. A c h - aussetzt's u n d Stille w i r d . G e b r o c h n e A u g e n , gebrochne Münder, zwecklose Leiber, z w e c k l o s v o n n u n an. W i r haben's reichlich. (Vollkommene

StilleJ5CI

497 Vgl. Euripides, >MedeaErnstMedea°» Ebd., S.497. Ebd., S . 5 1 5 . Ebd., S.516. 112 Ebd., S.524. Ebd., S.525. Ebd., S. 504.

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Joch, in das mich ungestalte Triebe spannen«,5'5 zu entkommen und seine Fähigkeit zur Treue wiederzugewinnen: Ich will dir ganz gefügig sein. Ich will einlösen meine Schuld. Ich will ein Messer nehmen und ausschneiden meinem Leibe dir, was du begehrst. 5 ' 6

Jasons Tragödie einer unnatürlich-übernatürlichen Jugendlichkeit und ihrer maßlosen geschlechtlichen Exaltationen steht auf der Seite Medeas komplementär die biologische Tragödie des natürlichen Alterns und der damit einhergehenden Zerstörungen, Entstellungen, Verzichte gegenüber, ein Los, das die kolchische Heliosenkelin um ihres griechischen Geliebten willen auf sich genommen hat. Jahnns Sprache findet eindringliche und drastische Bilder für das Drama der einstmals begehrten, nun häßlich gewordenen, vernachlässigten und betrogenen Frau [...] Strahlt auch ihr Leib nicht mehr, zerschlissen in der Zeiten Ablauf, ist taub der Brüste Rund und schweinisch Fett, was einst die Hände Liebender erzittern machte 5 ' 7 - ,

der Frau, der mit ihrer Schönheit und körperlichen Attraktivität nicht zugleich die Sinne geschwunden sind und die sich nun, unter heftigen Ausbrüchen von Verzweiflung und Selbsthaß [...] Hier steht das fette, schwärzlich graue Weib, hier, meine Brüste fett und schlaff zugleich. Der Klumpfuß paßt zum Fett. Wollt ihr mich tanzen sehn, wie's schwappt an mir? 5 ' 8 - ,

nicht damit abzufinden vermag, [d]aß ich verlassen bin, ein trocknes Meer, dem auch bescheidne Tropfen vorenthalten, obgleich's zum Salzgebirg' schon dörrte, werden. 5 ' 9

!li

517 5,8 5I?

Ebd., S . j o i f . Ebd., S. 503. Dies in Erwiderung auf Medeas Gedanken, anstatt der Blendung des Boten, der von Jasons Ehebruch berichtete, hätte sie sich lieber an diesem selbst vergreifen sollen: »Oh, war' ich eingebrochen frech/ in deiner Lenden Heiligtum/ und hätt' geraubt zu meiner Hände Lust - ! « (Ebd.). Ebd., S.494. Ebd., S.525. Ebd., S.470.

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Medea, die häßliche Vettel in ihrem »mit Fett verbrämtefn] Körper«,' 20 ist noch immer die ihrem jugendlichen Mann in sexueller Hörigkeit verfallene Liebende, die - »Das/ erträgt kein fruchtbar Weib, wenn sie/ der Gatte meidet«521 - über die Zusage einer einzigen Liebesnacht vor Glück außer sich gerät, alle Zurücksetzungen zu vergessen bereit ist und sich erst endgültig in einen grausamen erotischen Rachedämon verwandelt, als Jason ihr, sein Versprechen mißachtend, das jüngere Fleisch Kreusas vorzieht und sie zugleich damit der (im Ritual der Generationenfolge vorgesehenen, das eigene Alter symbolisch außer Kraft setzenden) Hoffnung beraubt, der Hochzeitsnacht des Sohnes als lustvolle Fackelhalterin, als Schutzpatronin und Augenzeugin seiner Manneskraft beizuwohnen. Nicht schon der Umstand, daß Jason ihr untreu ist und in wahllos-promiskuiner Lust fremdgeht, treibt diese Medea zur Rache, sondern allererst ihr eigenes Ausgeschlossensein von den Spielen des Eros, die Tatsache, daß Jason, der ihrem Zauber seine dauernde Jugend verdankt, ausgerechnet an ihr selbst, seiner verwelkenden Frau, kein erotisches Interesse mehr nimmt. Völlig zutreffend hat Manfred Karge, der Regisseur einer vielbeachteten Kölner Inszenierung des Dramas von 1988 auf der Grundlage der ursprünglichen Prosafassung, in einem Interview konstatiert, Jahnns Medea sei bereit, »alle außerehelichen Beziehungen Jasons (zum eigenen Sohn, zu Sklaven und Sklavinnen) zu goutieren, wenn Jason auch sie liebt. Erst als Jason das abschlägt, gibt es für Medea keine Möglichkeit mehr, sie tötet, straft, schüttelt alles von sich, Mann, Kinder, Emigration, Zivilisation, geht zurück in die >UnschuldZur >MedeaEs wird ein Stück von mir in meiner Vaterstadt gespielt< (In: Schriften. Tagebücher, S.293-295) zieht in diesem Sinne ausdrückliche Parallelen zwischen der >Botschaft< des Dramas und der »religiöse[n] Idee« der (von Jahnn gegründeten) künstlerischen Glaubensgemeinschaft >Ugrino24 Ebd., S.234. !2 ' Zum systematischen Zusammenhang vgl. Manfred Maurenbrecher: Bemerkungen zur Kulturkritik Hans Henny Jahnns. In: Text + Kritik, Heft 2/3 (Hans Henny Jahnn), 3. rev. u. erw. Aufl. München 1980, S. 1 2 1 - 1 3 5 , der Jahnns subversives Denken nahe an Positionen von Georges Bataille und Jean Genet heranrückt. !26 >Zur »Medea«, S.235.

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abgestandenen Drittel aus der Anerkenntnis übergeordneter Gesetzmäßigkeiten«.' 27 Mit demselben Tenor beharrt Jahnn gegenüber Jürgen Fehling, dem Regisseur der U r a u f f ü h r u n g , auf der Moralindifferenz des von übermächtigen emotionalen und sexuellen Impulsen bestimmten Geschehens: Jason soll also nicht schlecht sein, nicht mit Willen gegen irgend eine menschliche Ubereinkunft verstoßen, vielmehr sich treiben lassen durch Gefühle und Triebe, die er nicht beherrscht und nicht übersieht. Pathetisch darf er auf keinen Fall sein und auch nicht beharrlich seine Ansichten aussprechen.528 A u f der einen Seite also das Wagnis, »allgemeine heimliche Wünsche frei zu machen, Gedanken als Taten erscheinen zu lassen«, 52 ' und ein affirmativer Gestus gegenüber der grausamen Schönheit des »Unabwendbarefn] [...], das sich in allem Leben wiederholt« 5 3 0 - »Eine Rechtfertigung erscheint mir überflüssig. Ich verteidige die Existenz als solche. Ich bejahe die Schöpfungsströme eines H ö h e r e n « » ' - , auf der anderen Seite sarkastisch-abfällige Kommentare über das »Feigenblatt« als »eine Erfindung des Menschen, und nicht des Schöpfers«, 5 5 2 Verachtung für »die Lauheit bei Schlußfolgerungen [...], die im Blut entschieden werden«, 5 3 3 »durchaus kein Verständnis f ü r die römisch-christliche Definition des Verbrechens«, 534 höhnische Geringschätzung f ü r das moralische Konstrukt des »Normalmenschen« und f ü r den »dumme[n] Mensch[en]«, der »die Träger des Schöpfungsgedankens mit Strafen« bedrohe, »weil er das Postulat einer Sittlichkeit aufrechterhält, die es unter den Sternen nicht geben kann«: 535 Das ist der vielfach variierte, sehr offensiv und programmatisch formulierte asymmetrische Leitgegensatz, den Jahnns Äußerungen zu seinem Drama beständig umkreisen. In letzter Konsequenz läuft dieses antithetische Denken in ungleichwertigen Alternativen (>Gottmenschen< versus >NormalmenschenTräger des Schöpfungsgedankens< versus >kleine Menschendumme MenschenStaatsanwälteMedeaZur >Medea«, S.234. >MedeaKonstitution< gründet u n d ihn e n n i c h t i m S i n n e i n d i v i d u e l l e r >Schuld< o d e r > V e r a n t w o r t u n g < z u g e r e c h net w e r d e n kann: I m Verlauf der T r a g ö d i e [...] entschleiert sich m e h r u n d mehr, daß die einander L i e b e n d e n , die einander hassen lernen, a m Z e r f a l l i h r e r L i e b e k e i n e v o r r e c h e n bare S c h u l d h a b e n . Sie stehen v ö l l i g in ihrer K o n s t i t u t i o n - u n d als tragische S c h u l d bleibt einzig die T i e f e , die W i l d h e i t , d e r T o t a l i t ä t s a n s p r u c h u n d die E x p a n s i o n ihrer L i e b e - ihre E x i s t e n z . 5 3 6 E b e n s o w i e d e r A u t o r i n s e i n e n K o m m e n t a r e n d i e >wilde< A u t h e n t i z i t ä t der großen L e i d e n s c h a f t e n p r o k l a m i e r t u n d sich gegen ihre verkleinernde B e w e r t u n g n a c h d e m R i c h t m a ß k o n v e n t i o n e l l e r B e g r i f f e v o n >Sittlichkeit< v e r w a h r t , w e i s e n vielfach auch die F i g u r e n des D r a m a s eine ethische Z u r e c h n u n g ihres passionierten, leibbestimmten H a n d e l n s ausdrücklich v o n sich: [...] deine R e d e sagt, daß ich dir w e h getan mit m e i n e m L e b e n . [...] V e r n u n f t indessen spaltet S c h u l d halb v o n m i r ab, w e i l ich nicht M e i s t e r in d e m j u n g e n L e i b , d e r m e i n ist. Z w a r bin ich treulos, d o p p e l t , d r e i f a c h , getrieben bin ich, u n b e s t ä n d i g , d o c h k e u c h ich u n t e r meines H i r n e s vertausendfachter Bilderwelt'37 so rechtfertigt sich der >Altere Knabe< f ü r seine Treulosigkeit

gegenüber

M u t t e r u n d Bruder, u n d ähnlich macht J a s o n f ü r seinen Verrat an M e d e a nicht eigenes, zurechenbares Fehlverhalten v e r a n t w o r t l i c h , " 8 sondern die

5)6

>Mein Werden und mein Werks S. 312. Ein früherer Passus desselben Aufsatzes formuliert die Ablehnung des Schuldgedankens als allgemeines Credo: »In der Frühe meines selbständigen Denkens schon steht die Auffassung, daß alles tragische Geschehen nicht einer tragischen Schuld, der Verfehlung, der Sünde, der Unmäßigkeit aus Willen entspringt, sondern einzig der eingeborenen oder allmählich gewordenen Querstellung zur Umwelt. Ja, es ist mir kein fremder Gedanke, das Dasein des einzelnen Wesens als Schauplatz aufzufassen, auf dem sich die Ereignisse begegnen.« (S. 306).

537 S3

Jahnn, >MedeaunangemessenumbauenDoppelrache< für sich und den Sohn einem Mann, der sich gar nicht anders verhalten kann. Von Medea zur ewigen Jugend und Schönheit verzaubert/verdammt liegt bei ihm genauso wie bei Medea und den beiden Söhnen das >natürlich< Triebhafte als einzige Handlungsmotivation zugrunde.« Aber der Text stellt, wie wir sehen werden, dieser deterministischen Rhetorik triebhafter Konditionierung (»Brunst«) auch wieder entgegenge164

hamartia der zauberkundigen Frau, die ihn leichtfertig mit einer sexuellen Potenz begabt habe, der seine Willenskraft nichts entgegenzusetzen hatte: [...] Wie nun soll ich vor dir mich rechtfertigen, ohne Fürsprech? Mein Unrecht ist die Jugend, die voreilig du mir beigegeben, die Leidenschaft, die du im jungen Leibe übersteigertest.539 So postidealistisch-modern diese Hierarchie der anthropologischen Vermögen mit ihrem Primat der unteren, leibhaft-sexuellen »Konstitution« gegenüber den Beweggründen des Willens und der freien Bewußtseinsentscheidung anmuten mag, 540 so sehr erinnert sie freilich zugleich an berühmte vernunftskeptische Motive bereits in den Leidenschaftstragödien des Euripides, an Medeas großen Entscheidungsmonolog vor dem Kindesmord mit dem verhängnisvollen Ausschlag zugunsten der >niederenKonstitution< reflektierenden Passagen' 4 3 belegt zur Genüge, daß Jahnn seine ureigenste erototragische Thematik der Tragödie des skeptischen und passionierten Aufklärers Euripides' 4 4 keineswegs als etwas Fremdes und Inkommensurables aufzwingen mußte, daß vielmehr über den A b stand der Zeiten und Kulturen hinweg durchaus markante Verbindungslinien bestehen zwischen zwei tragischen Schreibweisen und ihrem >subversiven< Bestreben, jenseits konventioneller Geltungen und vermeintlicher Sicherheiten die (protophilosophischen) Extremlagen der conditio humana auszuleuchten und ihre inneren Gefährdungen aufzudecken. In Jahnns D r a m a stellt sich das semantische Bild freilich dadurch noch besonders kompliziert dar, daß die theoretisch verworfenen Kategorien von >SittlichkeitVerantwortungSchuld< im Text bei näherem Zusehen keineswegs so vollständig getilgt sind, wie die zitierten Polemiken des A u tors erwarten lassen könnten. Vielmehr zieht sich trotz Jahnns Bestrei142 543

544

Euripides, >HippolytosHippolytos IIMedeaAllgewalt der innern Sekretion< und zur >dionysischen< Zeugungsmacht der stiergestaltigen Schöpfergottheit Helios neben Visionen orgiastischer Todestrunkenheit und einer schopenhauerisch-pessimistischen, geradezu asketisch gefärbten Sehnsucht nach Befreiung aus dem Joch der Begierden; Schlußfolgerungen [...], die im Blut entschieden werdenEhrenrettung< für den von der Kritik als Erotomanen geschmähten Autor Jahnn ab: »Wiederum wäre zu fragen: Warum lesen oder hören die Kritiker nicht genau? >So hat denn endlich Liebe triumphiert und nicht die Brunst.< Steht dies im Text oder nicht?« (S. 2 1 1 ). Die Antwort müßte ungefähr lauten: Ja, dies steht im Text. Aber dort steht, gerade für den genau hörenden und lesenden Kritiker, zugleich auch Anderes, schwer Vereinbares, und insgesamt erscheint ein Versuch, das Drama auf diese >SchlüsselworteGeneralaussage< festzulegen, nicht berechtigter und nicht weniger einseitig als die entgegengesetzte Deutung ganz aus dem Horizont sexueller »Brunst« und ihrer determinierenden Zwangsgewalt (wie wir sie oben an der Lesart von Schulz in Zweifel gezogen haben). Aus dieser Aporie gibt es in Jahnns Tragödie keinen Ausweg: Sie führt das Dilemma der großen »Liebesunordnung« (Alain Finkielkraut) vor, aber sie löst es nicht auf. Und die begleitenden K o m mentare des Autors legen den Eindruck durchaus nahe, daß der >Denker< Jahnn keinerlei theoretisch-schlüssige Antwort auf die Fragen kennt, die der Dramatiker Jahnn in großer Eindringlichkeit aufwirft und umkreist.

554

168

der menschlichen >Konstitution< neben ethischen Kategorien der Willensfreiheit, Schuld und personalen Verantwortung. Dabei ist kein Standpunkt erkennbar, von dem her sich diese divergenten Perspektiven auf den Eros und die menschliche >Existenz< zur diskursiv geschlossenen Weltsicht ordnen, vermitteln, ausgleichen ließen. Weder fügen sich, abgesehen von den eindeutig negativ konnotierten rassistischen Untertönen im Auftreten Kreons, die Figurenperspektiven der dramatis personae zu einer stimmigen >GesamtaussageZur >Medea«, S.234. Ebd. Zum selben Fazit gelangt, zumal im Blick auf das Finale der >MedeaUbermensch< in una catastrofe nichilistica, s'impone contro la volontà dell'autore più che non attui un suo piano univocamente preordinato: non potrebbe risultare più chiara l'ambivalenza insolubile da cui era lacerata la mitologia espressionista.«

169

>Entroutinisierungbürgerlichen< Alltäglichkeit aufzubrechen und sie in expressiver Steigerung und Stilisierung mit ihrer eigenen Abgründigkeit zu konfrontieren. Für das damit begründete Junktim von Archaik und Avantgarde, von kultureller Alterität und verfremdender Selbstbespiegelung findet Jahnn die pointierte Formel: »Wenn wir uns besinnen, wer wir sind, werden wir das Wort Barbaren vergessen.«" 8

j. Gerhart Hauptmanns >Atriden-Tetralogie< - ein Manifest der >Zurücknahme< Zum Beschluß unserer Analyse der archaisierenden Traditionslinie im modernen Drama der >mythischen Methode< wenden wir uns noch einmal jenem >sperrigenDie Sagen um Medea und ihr Lebendionysischen Revision< antiker (und in diesem Fall zugleich: neuzeitlich-klassischer) Tragödien-Prätexte: Siebzig Jahre liegen zwischen dem ersten Erscheinen der >Geburt der Tragödie< und der Entstehung des Hauptmannschen Zyklus, annähernd vier Jahrzehnte auch bereits zwischen Hofmannsthals und Hauptmanns >ElektraGriechischer Frühlings S.46. ' 6 ' Ebd., S.51. 566 Ebd., S.79. ' 67 Ebd., S.81. ' 68 Ebd., S.79.

172

er als »die schaudernde Anerkennung unabirrbarer Blutbeschlüsse der Schicksalsmächte«'69 verstanden wissen. Es ist nun in der Tat bemerkenswert, in welch hohem Grad diese Auffassungen, die doch als Evokation des historischen Phänomens der griechischen Tragödie gemeint waren, über den weiten zeitlichen Entstehungsabstand hinweg zugleich als Schlüsselbegriffe zur Beschreibung des literarischen Verfahrens und des Wirkungskalküls in Hauptmanns tragischer Tetralogie taugen, ja, wie sie dieses eigene Werk im Grunde sehr viel zutreffender beschreiben als die attische Tragödie, die darin zumindest extrem einseitig erfaßt ist. Hier offenbart sich eine jahrzehntelange Kontinuität im Nachdenken des Dramatikers Hauptmann über das dionysisch-orgiastische Wesen des Tragischen,570 und nicht minder wird erkennbar, daß das Quartett seiner Atridendramen nicht lediglich in einem stofflichen Sinn an antike Vorgaben anknüpft, sondern auf dem viel weitergehenden Anspruch gründet, in einem zeitgenössischen, gegen die >verfälschende< klassizistische Tradition konzipierten Werk gleichsam den authentischen Geist< des griechischen Dramas und Theaters zu rekonstruieren. Aus dieser spezifischen Ausgangskonstellation, Hauptmanns Uberzeugung von der rituellen, sakralterroristischen Doppelnatur des tragischen Schauspiels der Griechen und seiner Intention, diesen religiösen und blutigen Ursprüngen in einer modernen Tragödie zu entsprechen, erklären sich jene beiden Elemente, die den archaischen Weltentwurf der Tetralogie mehr als alles andere prägen: ihr aufwendiger, in mancher Hinsicht auch verwirrender >theologischer< Apparat und ihr leitmotivischer Bezug auf das semantische Feld von Opfer, Gewalt, Blut, Sterben, Tod. Der Bezug auf eine Götterwelt hatte in den früher analysierten Dramen der >dionysischen Revision< eine durchaus untergeordnete Rolle gespielt: In Hofmannsthals >ElektraElektraTheomachie72 Ebd., S. 2io. 573 Jahnn, >MedeaAgamemnons Tod< und zu >ElektraAtriden-Tetralogie< ist es nun von allergrößter Bedeutung, wie diese durch philologische Quellenforschung nachweisbaren Einflüsse und philosophischen, kulturanthropologischen, religionswissenschaftlichen Ausgangsmaterialien im dramatischen Text zu einem dichten und fast unentwirrbaren Gewebe aus eklektischen Mythologemen und Theologemen verflochten werden, zum Entwurf gleichsam eines polytheistischen Multiversums, eines dynamischen >Kräftefeldes< aus oberen und unteren Gottheiten, namentlich identifizierten und namenlos-numinosen »Schicksalsmächten«, dämonischen und ätherischen Instanzen.'83 Diesem »Polydämonismus« zufolge, wie ihn Jacob Burckhardt als den charakteristischen Grundzug der griechischen Religion bestimmt hatte,'84 befinden s8° Vgl. die Paralipomena dieser Fassung in Band I X der Centenar-Ausgabe, S. 1 4 2 1 - 1 5 8 8 . 581 582

583

584

>Die Geburt der Tragödies S. 50. Eine Aufstellung der altertumswissenschaftlichen Literatur in Hauptmanns Besitz bei Delvaux, Leid soll lehren, S. 244ff. (»Exkurs I: Uber einschlägige Werke in G.H.s Bibliothek«). Ausfuhrliche Einzelcharakteristiken bei Delvaux, Antiker Mythos und Zeitgeschehen, Kap. V (»Die Götter in der Atriden-Tetralogie«), S. 109-140. Vgl. den großen Unterabschnitt II (»Die Griechen und ihre Götter«) im dritten A b schnitt (»Religion und Kultus«) der Griechischen Kulturgeschichte, Bd. I, S. 314-470, über »Polydämonismus« ebd., S. 3 j j f f . , der Terminus S. 356, 359 u.ö.

176

sich nicht nur olympische und chthonische Gewalten,' 8 ' der »obere Zeus« (auch: Kronion, Allvater) und der »untere« oder »schwarze Zeus« (alias Aidoneus, Aides, Pluton, Hades)' 86 mitsamt den ihrer Sphäre zugeordneten Gottheiten wie Ares und Apollon, Artemis, Demeter, Persephone alias Kore oder Hekate, miteinander in Rivalität und Streit, sondern neben, unter und sogar über diesen agieren andere »Schicksalsgötter«587 oder »Schicksalsmächte«:'88 »der Kere Spruch«' 8 ' und »der harte Spruch der Moiren«,' 9 ° deren »Beschluß [...] allen - selbst den Göttern - unabwendbar«" 1 ist," 2 wirken ebenso wie Tyche,' 93 Nemesis, 594 Ate 59 ' als unabhängige, auch der Gewalt der Olympier und Chthonier entzogene Instanzen auf das Los der menschlichen Protagonisten ein. Gorgonen 5 ' 6 und Harpy585

'8i

587 588 589

590 591 592

593

Zeitgenössisch erschließend waren hier vor allem die Ausführungen in Rohdes >PsycheAgamemnons TodElektra »Iphigenie in Aulispolydämonischen< Pantheons. Vor einer genaueren Bestimmung dieser Verhältnisse sind in Hauptmanns Text mit seiner verwirrenden Überlagerung widersprüchlicher Konzeptionen und seinen Vers an Vers stehengebliebenen Motivationen aus ganz unterschiedlichen Entstehungsschichten freilich nahezu unüberwindliche Hürden aufgerichtet, ja, die Analyse wird sich davor hüten müssen, dem Gesamtwerk durch hermeneutische Auslegungskünste oder durch einseitige Akzentuierungen und die Ausblendung des Heterogenen eine Geschlossenheit und gedankliche Stringenz zu vindizieren, die es de facto gerade nicht besitzt.667 In diesem Punkt besteht ein maßgeblicher (und für den künstlerischen Rang von Hauptmanns Alterswerk unleugbar prekärer) Unterschied zwischen dem Verfahren der kalkulierten Ambiguität und einer ästhetisch kontrollierten, erkenntnisfördern666

Neville E. Alexander: Studien zum Stilwandel im dramatischen Werk Gerhart Hauptmanns, Stuttgart 1964 (Germanistische Abhandlungen 3), spricht im Blick auf die Tetralogie von einem »unerbittlichen pessimistischen Determinismus« (S. 1 1 2 ) und »tragischen Fatalismus« (S. 1 1 3 ) , von Hauptmanns »deterministische[r] Weltschau« (S. 1 1 8 ) und von den Protagonisten als »Gefangenen blinder Schicksalsmächte«, die »nur durch ihre eigene Vernichtung der Vergangenheit entfliehen« (S. 1 1 9 ) könnten. Ähnlich Emrich, Tragödientypus, S. 148, und Guthke, Gerhart Hauptmann, S. 189. Zuletzt hat Alt (Die Erneuerung des griechischen Mythos, S. 3 50) gerade aus dem Vergleich mit den antiken Tragikern bekräftigt, bei Hauptmann seien »die Vorgänge auf der Menschenebene durch machtvolle göttliche Einflüsse bestimmt. Wohl sind die Menschen nicht nur Marionetten, aber sie erleben sich selber in ihren Entschlüssen, ihrer Not, in ihrem Bewußtsein wie oftmals noch in ihrem Unterbewußtsein, in das gleichsam magische Strömungen unfaßbarer Kräfte eindringen können, immer wieder überwältigt von göttlicher Dominanz. Hauptmann nimmt den griechischen Göttermythos ernst - ernster, so kann man sagen, als Euripides [...].«

667

Der akribische Nachweis vor allem bei Alt, Die Erneuerung des griechischen Mythos, die hervorhebt, »daß Hauptmanns Götterwelt verwirrende Züge besitzt« (S. 358): »Irritierend bei Hauptmanns mythologischen Aussagen ist das Schillern mancher Vorstellungen und Begriffe, ihr Changieren bis in die Widersprüche, die sich schwerlich zu einer plausiblen Gesamtkonstruktion zusammenfügen.« (Ebd., S. }6}{.). Auch Sprengel (Gerhart Hauptmann, S.259) räumt ein, »daß sich das mythologische Gerüst der Tetralogie nicht ohne weiteres systematisieren läßt und wohl auch nicht frei von Widersprüchen ist.« 188

den Überlagerung rivalisierender semantischer Codes einerseits, wie wir sie oben an den Tragödientransformationen Hofmannsthals oder Jahnns studiert haben, und der offenkundig das Dispositionsvermögen und das Gedächtnis des Autors selbst überfordernden textgenetischen Gemengelage der >Atriden-Tetralogie< andererseits, in der, als Ergebnis einer mehrjährigen variantenreichen Entstehungsgeschichte, Rudimente aus älteren Entwurfsstufen in spätere Fassungen übernommen wurden, mit deren geänderten Prämissen und Motivationen sie eigentlich nicht mehr zusammenstimmen. Solche Unvereinbarkeiten betreffen nicht nur Versehen im marginalen Detail (wie die einmal schwarzen, 668 an anderer Stelle roten 669 Segel der taurischen Theore), sondern sie tangieren den innersten Bedeutungskern des Werkes: Daß die Kausalität für das aulische Opfer Iphigenies abwechselnd der durch Delphi verkündeten Racheforderung der Göttin Artemis und dann wieder einer bloßen, auf dem Ressentiment des abgewiesenen Liebhabers und den Machtgelüsten des Schwächlings beruhenden 670 Lügenintrige des Priesters Kalchas zugeschrieben wird, daß Artemis demzufolge bald als grausam-unerbittliche Strafgottheit, die »Rache schnaubt« 671 und Iphigenies Tod fordert, bald als milde und beschützende »Himmelsjungfrau«, 6 7 2 als »liebreich Weib« und »süße Fackelträgerin«, 673 gar als Iphigenies Schutzpatronin erscheint, die sie »innig liebt/ und ihr das Brautbett rüstet«, 674 daß das Geschwisterverhältnis zwischen Artemis und Apollon im Gang der beiden Iphigenie-Dramen auf unerklärte Weise zwischen Einvernehmen und Feindschaft oszilliert, daß das Zusammenspiel 668

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671 672 673

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»KRITOLAOS: In der Bucht erschien ein Schiff,/ schwarz, rote Fratzen auf den schwarzen Segeln [...]« (»Iphigenie in Aulisalexandrinische< Materialausbreitung und eine disparathypertrophe Zitationspraxis freilich kaum überschaubaren Studien von Delvaux.

190

die Problematik der Frontstellung von Göttern und Menschen und der daraus erwachsenden Fremdbestimmtheit der menschlichen Existenz dann freilich ein klar zu verfolgendes Leitthema der Tetralogie dar: Hier wird eine von grausamen679 und bösen680 Göttern beherrschte menschenfeindliche Wirklichkeit,681 wie sie Goethes Iphigenie auf Tauris< im »alten Lied« der Parzen als überwundenen Weltzustand einer grauen Vorzeit in Erinnerung gerufen, sie gewissermaßen als Gesang gewordene Vergangenheit zitiert hatte Es fürchte die Götter Das Menschengeschlecht! Sie halten die Herrschaft In ewigen Händen, Und können sie brauchen, Wie's ihnen gefällt 682 - ,

zur unmittelbar gegenwärtigen Erfahrung von Protagonisten umgedeutet, die in vielfacher Formulierung beklagen, daß »[d]ie Götter [...] mit uns Katz und Maus«6'3 spielten, daß »[t]ödlich zu scherzen [...] der Götter Art«684 sei, daß das »Gewölk der Schicksalsgötter [...] uns fast erstikken«68' mache, daß sie sich von »des Schlachtengottes Zwang« oder der »Faust der Schicksalsmächte«686 gepreßt und »in erznem Zwange«6'7 gehalten fühlten. In der Aussprache solcher Entfremdungserfahrungen und 679

Mit quasi-chorischer Autorität formuliert der >Erste Greis< der I p h i g e n i e in Delphic »Wir sind nicht mehr: wir brauchen sie, die Götter,/ doch sie nicht uns. Was sie verhängen, sind/ grausame Martern, denen sie mit Lust/ zuschauen: Martern über Mensch und

680

D i e noch unentsiihnte Elektra wünscht sich in I p h i g e n i e in Delphi« (II/3, S. 1059) »[h]inweg aus Götternähe,/ w o menschliches G e w ü r m in Furcht und N o t / kriechend sich häuft, Rechtlosigkeit in K o t / sich blutig wälzt [...]« und leitet daraus die ganz generelle, durch die Handlung der Tetralogie auch weithin gedeckte Anklage ab: »Die Götter sind geworden wie die Menschen/ und haben so wie diese sich bekriegt./ Hebt irgendeine Macht sie über uns,/ so die, das Böse ungestraft zu tun.«

681

»Hauptmann's deities have nothing in common with the sportive O l y m p i a n hordes of H o m e r or the stately immortals of Goethe, reposing in serene harmony; they themselves can no longer provide a secure spiritual support upon which the race of mortals can rely. [...] A n d , most important, both men and gods are but playthings at the mercy of an inexorable fate which takes advantage of the merest chance to descend devastatingly upon the world. A s the cataclysmic events of the dark w a r years shattered Hauptmann's seclusion and illusions, such thoughts must have seemed highly actual and vital to the aging dramatist.« Z i o l k o w s k i , Hauptmann's »Iphigenie in Delphi«, S. I22Í.

T i e r . « (II/2, S. 1058).

6Sl

Goethe, »Iphigenie auf Tauris«, Vs. 1726-30.

683

»Iphigenie in Aulis«, I/3, S. 8 51. Ebd., I I I / i , S. 901.

684 685

»Agamemnons Tod«, S.965.

686

Ebd., S.963.

687

»Elektra«, S. 1003.

191

menschlichen Autonomieverluste überwiegt ein stereotypes Vokabular der Entmächtigung, Blindheit und wehrlos erlittenen Instrumentalisierung zum »Werkzeug« göttlicher Zwecke, und Hauptmann gestattet seinen Figuren Aussagen von hohem >philosophischem< Generalisierungsgrad und eminent pessimistischem Tenor: D e r P h r y g e r , d e r Achäer, ja der M e n s c h sind nichts, ein s c h w a c h e s S t a u b g e w ö l k e nur die S p r a c h e : T o d ist Wahrheit - L e b e n nicht! 's ist, w a s ein w e n i g flackert, w e n n d u willst, ein I r r w i s c h [...] 6 8 8

- s o beklagt Agamemnon das über ihn hereingebrochene »Chaos« (»Nichts Festes ist um mich ...«), während die Seherin Kassandra in >Agamemnons Tod< autoritativ gerade die Erfahrung menschlichen Desorientiertseins, des Nicht-sehen-Könnens in einer göttlich-fremdbestimmten Welt ausspricht: D e r G ö t t e r liebste W a f f e gegen u n s , die M e n s c h e n , ist, mit B l i n d h e i t u n s z u schlagen, s o daß w i r d u m p f h i n s t o l p e r n in die N a c h t . 6 8 '

Am wirkungsvollsten, weil von der Ebene gnomisch-sentenziöser Abstraktion in konkrete dramatische Aktion überführt, bestimmt das Problem menschlichen Handelns unter dem Diktat unmenschlich-übermenschlicher >Schicksalsmächte< den dramatischen Verlauf von Hauptmanns Iphigenie in Aulis< und hier insbesondere die Tragödie des eigentlichen Protagonisten, Agamemnon. Dessen mit vielen Retardationen und Rückschlägen und daher, wie Rolf Michaelis zutreffend feststellt, in »dramaturgische^] Schneckenlinie« 6 ' 0 sich vollziehende Wandlung vom hilflosen Vater, der sich dem Artemis-Befehl zur Tötung seiner Tochter verzweifelt widersetzt und an der Spannung zwischen göttlichem Auftrag, politisch-militärischer Mission und väterlicher Liebe zu zerbrechen droht, hin zum fanatisch umjubelten »Priester-König« und delirierenden Schlächter, der im Rausch seines Gehorsams nicht mehr erkennt, daß die Götter ihm sein Opfer entzogen haben - diese Metamorphose bestimmt die dramatische Handlung, und zugleich wird sie für Hauptmann der Anlaß, um eine eigentümlich verschränkte Dialektik von Ohnmacht und Grandiosität, Menschlichkeit und Grausamkeit, humaner und göttlicher Identität durchzuspielen. 688 é8? 690

»Iphigenie in AulisAgamemnons TodIphigenia in Tauriswunden Punkt< wissend, dieses »willkommene Opfermahl der Artemis (ΰεςί ψίλον πρόσφαγμa και ΰντήριον Άρτέμιδι)« (Vs. 243^) mit dem Argument: »Um solche Opfer, Jungfrau, flehe zu den Göttern,/ wie diese Fremden sind ! Kannst solche Gäste du/ zum Tode führen, dann wird Hellas büßen für/ dein Blut und Sühne leisten für den Mord von Aulis!« (Vs. 336-39). Iphigenie selbst erklärt: »Sie ließen lange auf sich warten; lange schon ward der/ Altar der Göttin nicht von Griechenblut gerötet« (Vs. 2 5 8 f.); nach ihrem schlimmen Traum von Orests Tod will sie endgültig um keinen Griechen mehr Tränen vergießen und sich von ihrer unerbittlichsten Seite zeigen: » [ . . . ] - jetzt sollt ihr alle,/ die ihr an mich geratet, meinen Haß verspüren!« (Vs. 350).

757

Vgl. nach ersten unterschwellig reservierten Kommentaren bereits im Prolog (»Hier freut sich Artemis der Opferfeste,/ an denen freilich nur der Name festlich ist/ - mehr will ich sagen nicht, aus Scheu vor meiner Göttin«, Vs. 3 $-37) besonders die große Reflexion Vs. 38off.: »Ich muß die Widersprüche (σοφίσματα) unsrer Göttin tadeln;/ macht sich ein Mensch des Blutvergießens schuldig oder/ rührt er ein Kindbett oder einen Leichnam an,/ so treibt sie vom Altar ihn fort, hält ihn für unrein;/ jedoch sie selber hat an Menschenopfern Freude.« Die Partie mündet, abermals in typisch euripideisch-aufklärerischer Manier, in Mythen- und Uberlieferungskritik und in die bereits ganz philosophisch-theoretische Spekulation über die notwendig >vernünftige< und >gute< Natur der Götter, denen die Menschen in durchschaubarer Projektion die von ihnen selbst begangenen Untaten und ihre eigene Unzulänglichkeit andichteten: »Unmöglich hätte Leto als des Zeus Geliebte/ ein derart unvernünftiges (άμα&ίαν) Kind gebären können!/ Den Schmaus des Tantalos auch halte ich für Lüge,/ w o sich an seines Sohnes Fleisch die Götter labten./Ich glaube eher, daß die Taurer, selber Mörder,/ den eignen Frevel auf die Gottheit übertrugen./ Kein Gott kann schlecht sein, das ist meine Überzeugung (ονδένα γάρ οίμαι δαιμόνων είναι κακόν).« (Vs. 385-9 1 )·

7,8

Euripides, Iphigenie bei den Taurern Ebd., 1/6, S. 1049. 7 6 6 Ebd.

207

fangenen und »in Griechenlauten« 767 sprechender Priesterin die Schwester den Bruder, kämpfte aber einen kurzen Anflug von Zärtlichkeit (»der Pfeil des Eros streifte meine Haut« 7 6 8 ) nieder, um sich ganz wieder - und mit einer Unerbittlichkeit, die mit den geschwisterlichen Wiedererkennungen bei Goethe wie bei Euripides scharf kontrastiert - auf die Pflichten ihres Amtes und die Maßlosigkeit ihres Griechenhasses zu besinnen: D o c h b a l d e r r a n g die R a c h e w i e d e r u m in mir d e n Sieg, der R a c h e d u r s t , d e r nie z u Tauris m i c h verließ. Ich sah i m B r u d e r den G r i e c h e n , u n d ich haßte j e d e n ! N u r ein toter G r i e c h e w a r ein guter m i r . 7 6 '

Daß ein unwillkürlicher Widerstand den Mordbefehl zur Schlachtung des Bruders nicht über ihre Lippen kommen ließ und so erst Orests Gegenschlag, die handstreichartige Entführung der taurischen Priesterin nach Delphi, ermöglichte E i n W o r t v o n mir - e n t h a u p t e t lag er da: d o c h als mir dieses W o r t e n t s c h l ü p f e n w o l l t e , k a m B l u t aus m e i n e m M u n d statt seiner, weil ich die Z u n g e m i r z e r b i s s e n hatte. I c h w a r f e i g u n d s c h w a c h ! - U n d a l s o f i n g er mich, stahl meiner G ö t t i n B i l d u n d m i c h d a z u u n d s c h l e p p t e w i d e r Willen u n s n a c h H e l l a s 7 7 0 - ,

dieser ungewollte Rückfall in eine abgelegte Menschlichkeit war nach Iphigenies festem Vorsatz ein einmaliges Versagen, das sich nie mehr wiederholen soll: »[...] allgemach ward ich die selbe wieder/ wie je in Tauris' gnadenlosem Dienst,/ und niemand wird mich fürderhin noch schwach sehn.« 771 Diese Aussage zwar fällt im Kontext jener Szene der Wiedererkennung und intimen Aussprache mit Elektra, in der Iphigenie sich noch einmal aus ihrer >archaischen< Starre löst, sich ein allerletztes Mal >schwach< erweist und der Verlockung menschlicher Nähe bis zu einem Kuß für die Schwester, bis zu Tränen und bis zu ihrem überwältigten

767 768 765

770 771

Ebd. Ebd., III/5, S. 1081. Ebd. Es folgt noch eine >spezielle< Begründung, die den Rückbezug auf die früheren Dramen der Tetralogie herstellt: »Und überdies: Orestes hatte mir/ die Mutter hingemeuchelt, unter Menschen/ die einzige, die um mein Leben rang/ und meinen Tod an meinem Mörder rächte.« Aus welcher Quelle die Hekate-Priesterin über die nach ihrer Entrükkung eingetretenen Ereignisse der Familiengeschichte unterrichtet ist, bleibt freilich (wie so vieles) im Dunkeln. Ebd. Ebd. 208

»Elektra, meine süße kleine Schwester!«772 erliegt. Aber von diesem letzten humanen Gefühlsausbruch geht es eben nicht in das durch Hyginus überlieferte, in Goethes Dramenplan vorgesehene und auch von Hauptmann ursprünglich erwogene lieto fine mit der Versöhnung von Göttern und Menschen, der dauerhaften Vereinigung der Geschwister »in dem entsühnten Argos unsrer Väter«, mit Heiraten, Kindern und der Erneuerung von »Atreus' Stamm«,773 sondern es geht mit steilem pathetischem Gefälle in Iphigenies endgültige Verweigerung, ihr definitives »Auf Nimmerwiedersehn!«,774 in den noch ausstehenden letzten der drei Tode, die sie - sie denkt an den Altar in Aulis, dann an ihre chthonisch-totenkultische Initiation in Tauris775 - nach eigenem Bekunden gestorben ist, es geht zurück ins Reich der Toten und hinunter in die Phädriadenschlucht. Im ganzen dominiert Hauptmanns taurisch-delphische Iphigenie ihr Drama in der gleichen charismatischen Absolutheit wie Goethes Protagonistin das frühere klassizistische Hohelied der Humanität, nur daß man hier von einer negativen Absolutheit und von einem Manifest der Humanitätsskepsis sprechen müßte. Der Charakter des Gegen-Bildes, der Kontrafaktur ist programmatisch gewollt - mit Goethe gegen Goethe - , und viele Einzelzüge wirken geradezu wie punctus contra punctum komponiert: Dort, an das barbarische Gestade von Tauris verschlagen, die Priesterin einer neuen Menschlichkeit, »das Land der Griechen mit der Seele suchend«;776 hier, entführt in das Allerheiligste der griechischen Humanitätsreligion, die unmenschliche »Oberpriesterin« eines uralten, nächtlichchthonischen Opferkultes, geblendet vom hellen Tag Apollons777 und erfüllt von Sehnsucht nach der Regression in die Gegensphäre: 772

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776 777

Ebd., S. 1083. Hauptmanns Regieanweisungen unterstreichen den hochemotionalen Duktus der Szene: »[Elektra] umarmt Iphigenie inbrünstig«; »Iphigenie, erschüttert, legt ihre Arme um Elektra und drückt einen Kuß auf ihren Scheitel«; »Iphigenie rinnen die Tränen aus den offenen Augen, während Elektra an ihrem Halse schluchzt. Nach einer Weile lösen sie sich voneinander.« Dies die durch Elektra als >Verführung zum Leben< ausgemalte Zukunftsvision; vgl. Iphigenie in Delphis III/S, S. 1083. Ebd., S. 1086. Die ausführliche Schilderung der Zeremonie, in der »mich Priesterinnen/ der Hekate in einen Sarg gelegt, wo ich der Welt durch einen Schwur entsagte«, endet in den Versen: »Dann, bewußtlos, träumte mir,/ ich sei im Hades, werde aufgenommen/ im Kreis Persephoneiens und im Land/ der Toten. Danach wacht' ich auf,/ stieg aus dem Sarg und ward - die ich noch bin./ Was dies bedeutet, Schwester, dir eröffnen,/ ist Unding: wisse nur, daß meine Wohnung/ im Totenreich Persephoneiens ist.« (III/5, S. 1084). Goethe, Iphigenie auf Taurisbarbarischer< Gebundenheit in die Lichtsphäre apollinischer Humanität. Aber diese L ö s u n g erscheint hier nur als eine Variante - als die konventionelle Variante überdies - , und indem sie aufgerufen wird, wird sie auch >eingeklammert< und entwertet: Daß Iphigenie selbst, die Titelfigur des Dramas und die Symbolgestalt der klassischen Humanität Weimarer Prägung, sich der harmonischen Synthesis verweigert, daß die Nachricht von ihrem Freitod als schockierender Kontrapunkt in das feierliche Zeremoniell der Apollon-Priester hineinfährt, ist das Stigma, das über diesem Finale liegt, ist der Zweifel an der geschichtsphilosophischen Figur des Fortschritts und der »Aufhebung«, ist, als schärfstmögliche Kontrafaktur eines einsinnig teleologischen Verlaufsschemas der Geschichte, die radikale Infragestellung jeder Annahme historischer Zwangsläufigkeiten und Unumkehrbarkeiten. Wo Orest und Elektra sich, idealistischer Erwartung gemäß, den Olympiern anschließen, optiert Iphigenie, die einstige Leitfigur der Humanität, für den Rück-

/8i 786

Hauptmann, Iphigenie in Delphi«, II/5, S. 1066. Ebd., II/4, S.1061. 211

fall in die Barbarei und den archaischen Terror einer chthonischen Gegenwelt, die damit nicht länger als das ein für allemal überwundene Vorstadium der Kultur erscheint, sondern als das stets präsente, nie völlig aufgehobene >Andere< der Humanität, ihre blutige Alternative. Nicht also zwischen dem >optimistischen< Schlußdrama und seinen düsteren Gegenentwürfen in den anderen Stücken von Hauptmanns Tetralogie verläuft der Riß - er geht auch quer durch das delphische Drama hindurch und wird, auf dem Höhepunkt der nationalsozialistischen Barbarei und des Weltkrieges, zur Signatur eines prinzipiellen Zweifels an der Haltbarkeit der klassischen Humanitätsutopie, zum Manifest einer >ZurücknahmeRealismus< und >Entwirklichung< Die im vorigen Kapitel untersuchten dramatischen Antikentransformationen waren geprägt durch einen entschieden archaisierenden Grundzug, durch ihr von antiklassizistischen und polemisch-kulturkritischen Implikationen begleitetes Bestreben nämlich, entgegen humanistisch oder >bildungsbürgerlich< geglätteten Lesarten der griechischen Tragödie (und damit zugleich gegen den Hauptstrang ihrer neuzeitlichen Rezeption) zu deren >wilderbarbarisches< Ausdrucks- und Uberwältigungspotential für ihre eigene Neugestaltung zu nutzen suchten. In ihrer Einstellung gegenüber den attischen Tragikern von (bisweilen offen deklarierten) agonalen Uberbietungsambitionen geleitet, folgten die Dramatiker dieser Richtung einer - nachhaltig durch Nietzsche und andere Exponenten einer kulturarchäologischen Revision des klassisch-idealistischen Antikenbildes beeinflußten - Dialektik von Avantgardismus und Regression: Hinter die ästhetische Vermittlungsgestalt der griechischen Tragödie in einen von kulturellen Uberformungen noch unbeeinträchtigten Ursprungsbereich des Mythos zurückreichend, sollten die neuen Dramen direkt an die archetypische Primitivität und den Terror des Mythos anknüpfen und ihre eigene kulturkritische δύναμις aus der ungebrochenen Energie archaischer Ursprünge gewinnen. In der Konsequenz dieser spekulativen Rekonstruktionen entstanden moderne Dramen, deren Reinszenierungen mythischer Konstellationen sich im Verhältnis zu den aus der Polis-Kultur des 5. Jahrhunderts erwachsenen Versionen der attischen Tragiker als die früheren und >authentischeren< Fassungen ausgaben: >Plusquamperfektische< Rückversetzung und futurischer Gestus, Rückbesinnung auf die ältesten mythisch-rituellen Substra213

te der antiken Kultur und zivilisationskritische Überschreitung der eigenen, als dekadent erlebten Gegenwart in Richtung auf ein neues >tragisches< Zeitalter und auf die »Wiedergeburt der Tragödie« gingen in diesen neo-archaischen Werken eine merkwürdige, grell-expressive Synthese ein. Die modernen Tragödientransformationen, denen wir uns nun zuwenden, stellen in ihrem unmittelbaren Außenaspekt, ihrem >Bild von Wirklichkeitannähernde Versetzungs bezeichneten Verschiebung raumzeitlich entlegener Sujets in Richtung auf die Gegenwart des bearbeitenden Autors und seines Publikums gleich, eine Auffassung, der wir unter Hinweis auf die >Rückdatierungsverfahren< der archaisierenden Dramenschule widersprochen haben. In den Analysen des vorliegenden Kapitels geht es nun aber tatsächlich um solche dramatischen Texte, deren translatio tragoediae nicht unter dem Prinzip der diegetischen Distanzierung steht, sondern umgekehrt die raum-zeitliche Entfernung zu den antiken Bezugstexten zu verkürzen oder ganz einzuziehen trachtet und den tragischen Mythos aus dem Kontext seiner griechischen Herkunftskultur in ein zeitgenössisches setting transponiert. Diese Spielart der vergegenwärtigenden Antikentransformation hat in der Literaturgeschichte der Neuzeit ihre eigene verzweigte Tradition - man denke im Bereich der deutschsprachigen Dramatik an die offenen oder verdeckten Sophokles-bzw. Euripides-Metamorphosen in Lessings Trauerspielen,2 Schillers >Braut von MessinaRobert Guiskard< 1

1

3

Vgl. Genette, Palimpsestes, bes. Kap. L X I (»Transposition diégétique«) und L X I I (»Proximisation«), S. 34off. Dazu vgl. die ausgezeichnete Studie von Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart: Metzler, 1986. Vgl. exemplarisch Wolfgang Schadewaldt: Antikes und Modernes in Schillers >Braut von

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und >Der zerbrochne KrugOdipusLes Gommes< von 1953, Clément Lépidis' Roman >La main rouge< von 1978 verlegt den Atridenstoff in das Paris der Zwischenkriegszeit - , und bezeichnenderweise ist es der moderne Intertext par excellence, James Joyces Roman >Ulysses< aus dem Jahr 1922, von dessen zeitgenössischer Adaption seines homerischen Prätextes, der >Odysseemythischen Methode< ausgehen. Nicht umsonst entstammt unsere zentrale Formel von der mythical method selbst jener bedeutenden Rezension aus dem Jahr 1923, »UlyssesKönig Odipus

Wie hier in der Konfrontation zweier literarischer Schreibweisen, einer »narrative method« und einer »mythical method«, ein verbrauchtes und ein zeitgemäß-innovatives ästhetisches Paradigma gegeneinandergestellt werden, das hat durchaus den Charakter eines poetologischen Manifests der Moderne: Am krisenhaften Endpunkt der epistemologischen wie der literarischen Realismen des 19. Jahrhunderts' 4 erscheint der mythische Rekurs, der strukturierende Rückgriff auf formgebende und ordnungsstiftende Subtexte von mythisch-kanonischer Statur'5 als eine Möglichkeit »toward making the modern world possible for art«, als Strategie der Sinnkristallisation und der tiefenstrukturellen Neuordnung einer in ihren empirisch-vordergründigen Aspekten diffus und unüberschaubar gewordenen (und daher auch nicht mehr unmittelbar >kunstfähigenUlysses< ist wichtig nicht nur als frühe und luzide Würdigung eines >neomythischen< Klassikers der Moderne durch einen kongenialen Schriftsteller-Kollegen und poeta doctus. Ihren programmatischen Überlegungen zum Verhältnis von Mythos und Modernität und zur mythical method einer zeitgemäßen Literatur kommt in unserem Kontext vielmehr ein ganz grundsätzlicher Stellenwert zu, ist hier doch aus der Feder eines theoretisch versierten Lyrikers und Kritikers, der im Verlauf der nächsten dreieinhalb Jahrzehnte einige der künstlerisch originellsten und gedanklich gewichtigsten Beiträge zur Gegenwartstransposition des griechischen Mythos im Bereich des modernen Dramas vorlegen wird - vorab die interne Spannung umschrieben, die, wie für das intertextuelle Verfahren in Joyces >posthomerischem< Roman so auch für das modern setting im Drama der mythischen Methode, konstitutive Bedeutung besitzt:'6 Die Polarität von contemporaneity und antiquity und der Versuch, zwischen beiden »a continuous parallel« zu stiften, wird uns in den Tragödientransformationen Eugene O'Neills, T.S. Eliots und anderer Vertreter dieses Typus einer littérature au second degré ebenso wiederbegegnen wie die von Eliot auf den Begriff gebrachte Dialektik von »futility« und »order«, »anarchy« und »myth«.' 7 Für diese zeitgenössischen 16

Dies gegen Dickinson, Myth on the Modern Stage, S. 207, der die Nicht-Übereinstimmung zwischen Eliots (an Joyces Roman exemplifizierter) Theorie der >mythischen Methode< und seiner eigenen dramatischen Praxis behauptet: »But that method - the manipulation of >a continuous parallel between contemporaneity and antiquity< - is one that Eliot has not followed in his plays, even fitfully. Indeed, when we examine his own uses of classical myth, we find them so remote from Joyce's example that they never come to grips with the genuine difficulties which their use in modern drama entailed for playwrights like Gide, Jeffers, Cocteau, O'Neill, Giraudoux, Sartre, and Anouilh. For Eliot, in conceiving and writing his plays, myth seems to serve him as private guide or referent as he tries to impose order and form on his own creation. But the myth itself is not apparent in the plays as dramatic experience, and therefore it provides no point of vantage in the theatre.« Diese Argumentation mit ihrer Insistenz auf der Handgreiflichkeit* manifester Mythosbezüge dürfte, wie wir im folgenden zeigen wollen, die Wirkungsmöglichkeiten »verdeckter Intertextualität< unterschätzen; sie verfehlt die gerade von Eliot bis zur Virtuosität ausgebildete >esoterischUlyssesTransgressionen< aufrufe: »But the mythical method fails to resolve the anarchy of contemporary life pre-

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Metamorphosen griechischer Tragödien, sosehr sie sich ihrer dramaturgischen Faktur und ihrer semantisch-philosophischen Ausrichtung nach sonst unterscheiden mögen, ist ein unruhig oszillierendes Wechselspiel zwischen Vordergrund und Hintergrund, modernem setting und mythischer Referenz form- und bedeutungskonstitutiv, sie alle sind geprägt durch die Spannung zwischen dem Oberflächen-Realismus scharf und mit präzisem Lokalkolorit gezeichneter zeitgenössischer Milieus in ihrer scheinbaren Besonderheit und Unverwechselbarkeit einerseits und dem >Tiefentext< eines perennierenden Mythisch-Allgemeinen mit dem Anspruch auf Relativierung, wenn nicht gar auf die fundamentale Infragestellung solch empirischer Gegenwarts- und Realitätsgewißheit andererseits. Es ist daher kein Zufall, sondern entspricht der inneren Nähe der mythopoetischen Konzeptionen, wenn Eliot fast vier Jahrzehnte nach der Joyce-Rezension, in seinem das eigene dramatische Schaffen kritisch bilanzierenden Harvard-Vortrag >Poetry and Drama< von 1951, 18 das »unattainable ideal«'9 hinter seinen in die Gegenwart verlegten Tragödientransformationen noch immer in ganz ähnlichen Begriffen umschreiben kann wie früher die mythical method des >UlyssesThe Family Reunion< und >The Cocktail Party< - >The Confidential Clerk< und >The Eider StatesmanUlysses< nor >The Waste Land< gave >shape and significance< to modern history without further disrupting it [...].« In: Selected Prose, S. 1 3 2 - 1 4 8 . Einen Gesamtüberblick über Eliots dramentheoretische Kommentare gibt Ronald Peacock: Eliot's Contribution to Criticism of Drama. In: The Literary Criticism of T.S. Eliot, ed. David Newton-De Molina, London 1977, S. 8 9 - 1 1 0 . >Poetry and Dramas ebd., S. 145.

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lity, to bring us to a condition of serenity, stillness, and reconciliation [-]·«20 Aller sonstigen Unterschiede der dramatischen Konzeptionen und der ästhetischen wie weltanschaulichen Uberzeugungen ungeachtet - davon werden wir noch ausführlicher sprechen - , argumentiert auch Eliots bedeutendster Antipode im Bereich der Gegenwartstransposition der antiken Tragödie, Eugene O'Neill, außerordentlich ähnlich, wenn er im Blick auf den intertextuellen Rekurs seiner Trilogie >Mourning Becomes Electra< auf die >Orestie< des Aischylos wie in bezug auf die Intentionen seines dramatischen Schaffens überhaupt als entscheidenden Gestaltungsimpuls einen Abscheu vor der »banality of surfaces« 21 identifiziert. Auch O'Neill setzt dem »old >naturalism< - or >realism< if you prefer (would to God some genius were gigantic enough to define clearly the separateness of these terms once and for all!)« 22 die ästhetische Idee »of some form of >super-naturalism0'Neill and his Playsmythische Methode< als Strategie der Entwirklichung und der Illegitimisierung vordergründiger Erfahrungswelten wie andererseits (und als Ergebnis dieses Dekonstruktionsvorgangs): als Freilegung daseinsbestimmender Ordnungen und als Durchbruch zu verdrängten oder unerkannten Tiefenschichten der Wirklichkeit und der menschlichen Existenz in ihr. Für die modernen Dramatiker, die sich der Gegenwartstransposition antiker Mythos- und Tragödienkonstellationen in diesem Sinne bedienen, resultieren aus dem Willen zur »continuous parallel between contemporaneity and antiquity« von vornherein zwei gegenläufige kompositorische Forderungen, die gleichermaßen erfüllt sein müssen, wenn das Verfahren seine ästhetischen und semantischen Möglichkeiten voll entfalten soll: Einerseits bringt die Modernisierung der raumzeitlichen Deixis und des kulturellen Bezugsrahmens die Notwendigkeit mit sich, plausible gegenwär-

meaning the abyss, the loss of that surface tension which offers a reassuring form and structure to experience but which can only do so by concealing the hollow beneath. [...] For O'Neill the theatre offered depth; not simply three-dimensionality, but the ability to present appearance and reality simultaneously, person and persona, internal and external reality. Past and present could be brought into immediate dialectical relationship, the body's response to its environment literally dramatised and language undercut by action.« 27

28 29

Gute Studien zu O'Neills >Supra-Naturalismus< sind Egil Törnqvist: A Drama of Souls: Studies in O'Neill's Super-Naturalistic Technique, N e w Haven: Yale University Press, 1969, und Ulrich Halfmann: »Unreal Realism«: O'Neills dramatisches Werk im Spiegel seiner szenischen Kunst, Bern und München 1969. »Working Notess S. 8, Eintrag N r . 16 vom 27. März 1930. >Neglected Poet. A Letter to Arthur Hobson QuinnAndere< ihrer konventionellen Rationalität, nämlich auf den mythischen Subtext in ihrer Tiefe und auf die von dort ausgesandten Zeichen und Signale, Fragen und Infragestellungen. Zur genaueren Erörterung dieses besonderen intertextuellen Typus im modernen Drama der mythischen Methode wählen wir ein Verfahren, das es uns mit wechselnder Akzentsetzung ermöglichen wird, sowohl die wichtigsten poetologisch-systematischen Eigentümlichkeiten der >heterodiegetischen Transposition zu diskutieren als auch die bedeutendsten historischen Repräsentanten dieser Sonderform - und das sind in der Dramatik nicht nur der klassischen Moderne, sondern des 20. Jahrhunderts im ganzen zuallererst die Tragödientransformationen O'Neills und Eliots eingehender zu würdigen. Den Auftakt der Analyse bildet in diesem Sinne eine primär systematisch orientierte Sektion über die Logik der Versetzung und die Markierung des intertextuellen Bezuges in mehreren für die Besonderheiten und die Leistungsfähigkeit dieses Typus aufschlußreichen dramatischen Tragödientransformationen aus den dreißiger bis achtziger Jahren. Neben >Mourning Becomes ElectraLandschaft< dieses Kapitels steht, und dem Quartett der im engeren Sinne als Variationen griechischer Prätexte anzusprechenden Dramen Eliots' 1 zwischen >The Family Reunion< und >The Eider Statesman< wählen wir als weitere erhellende Paradigmen Maxwell Andersons historisches Drama >The Wingless Victory< von 1936,32 ein melodramatisches Stück, das die Handlung der euripideischen >Medeaunverdächtigerealistischer< Oberfläche und mythischem Subtext, der Eindimensionalität ihrer zeitgenössischen Figuren- und Handlungskonstellationen ein mythologischtragisches Relief und etwas wie >archetypische Tiefenschärfe< zu verleihen.

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Daneben finden sich auch unter den gegenwartstransponierenden Dramen Exempla einer freieren, nicht durch einen Bezugstext aus dem attischen Tragödienkorpus vermittelten Mythenadaption: Cocteaus >OrphéeEurydice< oder Tennessee Williams' >Orpheus descending< zählen zu den bekanntesten Beispielen. Zu diesen dramatischen Gestaltungen der Orpheus-Legende vor dem Hintergrund einer reichen Rezeptionsgeschichte vgl. Charles Segal: Orpheus. The Myth of the Poet, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press, 1989, bes. S. 155 ff.

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2.1 Modern setting·. Grundlegende Gemeinsamkeiten und individuelle Ausformungen des Typus Der primäre und für den phänomenologischen Außenaspekt dieser zeitgenössischen Mythendramen, für ihren Entwurf von Wirklichkeit ausschlaggebende Eingriff besteht in ihrer manifesten Modernisierung der raumzeitlichen Deixis antiker Prätexte: Die zentralen Figuren-und Handlungskonstellationen griechischer Tragödien sind hier an gegenwärtige Schauplätze versetzt, Orte und Personen haben ihre griechischen Namen abgelegt und heißen nicht mehr Argos, Athen oder Theben, sondern Wishwood und London, Salem oder Boston, die Protagonisten nicht Agamemnon, sondern Ezra Mannon, nicht Orest, sondern Orin Mannon (>Mourning Becomes ElectraThe Family ReunionThe Cocktail PartyIon< des Euripides, hat als Mrs. Guzzard in Eliots >The Confidential Clerk< noch wesentlich verwickeitere Verwandtschaftsverhältnisse aufzuklären, weil hier, in komödiantisch-parodistischer Uberbietung des Prätextes, neben Colby Simpkins alias Ion gleich noch zwei weitere >FindelkinderThe Comedy of Errorss doubles the abandoned boys, and even adds for good measure an illegitimate daughter. The result has a smack of W.S. Gilbert or Oscar Wilde about it, with a suburban Pallas Athene to clear up the tangles.« E. Martin Browne: The Making of T.S. Eliot's Plays, Cambridge: Cambridge University Press, 1969, S. 250.

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Salem zu Ausbrüchen reizt, die ihre sexuellen Ressentiments und ihren unterschwelligen Rassismus zur Kenntlichkeit entlarven und die Protagonisten vernichten (>The Wingless VictoryGreekThe Eider Statesmannaturalistische< Schilderung zeitgenössischer Wirklichkeiten zielen, diese vielmehr unter Einsatz der >mythischen Methode< zu problematisieren und in gewissem Sinne zu >entwirklichenzersetzendes< Werk tun können. Oder anders: Der tragische Mythos muß zunächst in die Sphäre vertrauter zeitgenössischer Kontexte transferiert und in aktuelle >mythische Analoga< (Lugowski) übersetzt werden, bevor er seinerseits damit beginnen kann, dieses (vermeintlich) Vertraute zu verfremden und seine konventionellen Sicherheiten aufzulösen. Es ist deutlich und in der Tat auch folgerichtig, wie alle 37

>The Elder StatesmanOberfläche< der je gegenwartsbezogenen Texte gewinnt durch die Unterlegung des perennierenden Mythos an >TiefeDoppelbödigkeitAbgründigkeit< - ein Wahrheitsgewinn, der zwangsläufig mit Verunsicherungen und einer Destabilisierung realistischer Routinen einhergeht - , dem Mythos wachsen durch seine Transposition in gegenwartsnahe Szenarien neue Metamorphosen zu, und er manifestiert darin ebenso seine Aktualität, seine tendenziell unendliche Wandlungsund Erneuerungsfähigkeit, wie er, im Sinne einer durch >Fortschreibung< verlängerten Wirkungsgeschichte, seine Permanenz unter Beweis stellt. 3 ' Die amerikanischen Autoren Maxwell Anderson und Eugene O'Neill wählen mit ihren Ostküsten-Schauplätzen - »a house in Salem, early in the winter of 1800«39 in >The Wingless VictoryMourning Becomes Electra< - und mit der durch diese Orte versinnbildlichten Mentalität puritanischer Sittenstrenge und sinnenfeindlicher Religiosität nicht zufällig ein kulturelles Ambiente, das sie im Hinblick auf ihre Gegenwart noch immer für einflußreich und >typisch< halten, ja als symbolische Repräsentanz einer >ur-amerikanischen< Geisteshaltung aufgefaßt sehen wollen. Beide Dramatiker bemühen sich in ihren ausführlichen Szenenanweisungen und Personen-

j8 39 40

Dazu umfassend Blumenberg, Arbeit am Mythos, op. cit. >The Wingless Victorys Szenenanweisung zum i. Akt, S. 3. >Mourning Becomes ElectraMourning Becomes ElectraHomecomingMourning Becomes Electramasklike facesMourning Becomes Electra< done entirely with masks, now that I can view it solely as a psychological play, quite removed from the confusing preoccupations the Classical derivation of its plot once caused me. Masks would emphasize the drama of the life and death impulses that drive the characters on to their fates and put more in its proper secondary place, as a frame, the story of the N e w England family.« >Second Thoughtspoetisierenmythischen MethodeThe Family Reuniondiegetischen Versetzung< und der stilistischen Travestierung ineinanderspielen und ein hintergründiges genre mixte aus >tragischen< und >komischenschafftGreek< came to me via Sophocles, trickling its way down the millenia until it reached the unimaginable wastelands o f Tufnell Park - a land more fantasized than real, being an amalgam of the deadening war zones that some areas of L o n don had become. [...] In m y eyes, Britain seemed to have b e c o m e a gradually decaying island, preyed upon by the wandering hordes w h o saw no future for themselves in a society w h i c h had few ideals or messages to offer them. T h e violence that streamed through the streets, like an all pervading influence, the hideous Saturday night fever as the pubs belched out their dreary occupants, the killing and maiming at public sports, plus the casual slaughtering of political opponents in N o r t h e r n Ireland, bespoke a society in which an emotional plague had taken root. [...] Oedipus found a city in the grip of a plague and sought to rid the city of its evil centre represented by the Sphinx. E d d y seeks to reaffirm his beliefs and inculcate a new order of things with his vision and life-affirming energy. His passion f o r life is inspired by the love he feels for his w o m a n , and his detestation o f the degrading environment he inherited. If E d d y is a warrior w h o holds up the smoking sword as he goes in, attacking all that he finds polluted, at the same time he is at heart an ordinary young man with w h o m many I k n o w will find identification. T h e play is also a love story. 7 0

Tatsächlich dürfte Berkoffs Stück, über dessen längerfristige Uberlebenschancen auf dem Theater gegenwärtig noch keine Prognose möglich erscheint, seine bedeutenden Londoner Bühnenerfolge in den achtziger Jahren71 wesentlich der Tatsache verdanken, daß diese Odipus-Travestie mit 69 70 71

>GreekGreekEntsublimierung< kulminierend in der ostentativen Weigerung, im Inzest ein Problem zu sehen (»We only love so it doesn't matter mother, mother it doesn't matter«74), und im ikonoklastischen Gestus eines wegwerfenden eines eigenen Aufführungsbesuchs am 30. August 1988 im Wyndham's Theatre zugrunde). 71 Eine deutsche Parallele, trotz eines höher angesetzten Stilniveaus, am ehesten im Verfahren der mythologisch-intertextuellen Überschreibung gleichsam photographisch erfaßter zeitgenössischer Wirklichkeiten in den Dramen von Botho Strauß (>Der Parks >Kalldewey. FarceSchlußchor< u.a.). " >Greekmythical method< aller in diesem Kapitel behandelten Dramen besteht in der Etablierung einer »continuous parallel between contemporaneity and antiquity«, sie alle transponieren antike Tragödien in den engeren Zeit- und Erfahrungshorizont der eigenen Kultur. Nicht in jedem Fall 75

Ebd.

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aber führt diese Annäherungsbewegung (Genettes translation proximisante) bis in die unmittelbare Gegenwart des Autors und seines Publikums. Während Eliots Antikentransformationen zwischen >The Family Reunion< und >The Elder Statesman< auf eine ausdrückliche Datierung ihres Handlungszeitpunkts verzichten/6 sich de facto aber um den Entwurf eines möglichst gegenwartsnahen Ambientes mit allen Requisiten zeitgenössischer Lebensart bemühen - die Protagonisten sind »people dressed like ourselves, living in houses and apartments like ours, and using telephones and motor cars and radio sets«77 - , und während Berkoff durch eine wahre Flut eindeutiger Realbézüge und leicht durchschaubarer Anspielungen seine Ödipus-Travestie im London der Ära Thatcher, mithin in der Entstehungs- und Aufführungsgegenwart des Dramas, situiert »Place: England. Time: present«,78 deklariert bereits der Bühnenzettel - , halten die Tragödientranspositionen O'Neills und Andersons auf ihrem Weg von der Antike in die Moderne deutlich vor der Jetztzeit des Autors und seines Publikums inne: Zwischen der Handlungsgegenwart von Andersons Medea-Variation im puritanischen Milieu Salems des Jahres 1800 und der Niederschrift von >The Wingless Victory< im Jahr 1936 liegt fast der gesamte Zeitraum der unabhängigen Geschichte Amerikas, und auch in >Mourning Becomes Electra< - »The three plays take place in either spring or summer of the years 1865-1866« 79 - ist die Gegenwart der Handlung um die Spanne eines Menschenlebens hinter den Zeitpunkt der Werkentstehung (im wesentlichen 1929/30) zurückverlegt. Warum, in den Dramen der amerikanischen Autoren, diese neuerliche Rückprojektion der aus großer kultureller und historischer Distanz in die Gegenwart heraufgeholten Prätexte in eine andere (diesmal >nahe< und >eigenenaturalistischen< Assoziationen zu überlagern. »Distance and perspective« lautet die positive Formel, mit der O'Neill seine Entscheidung für die Bürgerkriegs-Ara als ein setting der mittleren zeitlichen Entfernung begründet: Diese Epoche ist nah genug, um zeitgenössische Identifikations- und Ubertragungsmöglichkeiten zu gewährleisten, aber weit genug entfernt, um hinter der >Maske< der historischen Rollen und Kostüme die grundlegenden Muster und Beziehungsstrukturen eines »modern psychological drama« hervortreten zu lassen, an denen alles 80

>Working NotesOrestie< übernommenen, aber als Personen der Bürgerkriegsära erfunde81

82

»By putting his tragedy back in time a few generations, O'Neill sought to distance the action, so as to give it perspective and also to avoid the complexities of contemporary life. He wrote it in a style of selective realism and took enormous pains to achieve a careful verisimilitude«, kommentiert Dickinson (Myth on the Modern Stage, S. 146) zutreffend. Dickinsons weiterreichende These, im Textkorpus moderner Mythendramen sei gerade >Mourning Becomes Electra< »the only one to give an impression of the world and of man that is, if anything, even older than the mythical world of its classical model« (Ebd., S. 147) und das »modern psychological drama« O'Neills erscheine »older in spirit than that of an age which saw the birth of tragedy« (S. 149), ist freilich abwegig. Eine Lektüre der Trilogie auch als »history play, and an excellent one« ist damit, wie Travis Bogard (The Historian: >Mourning Becomes Electra< and >Ah, Wildernessk In: Harold Bloom (Hrsg.): Eugene O'Neill. Modern Critical Views, New York/Philadelphia 1987, S. 73-97, Zitat S.81) zeigt, nicht ausgeschlossen. Bogard belegt im Textdetail O'Neills Bemühen um historische Akkuratesse - »Granted that the Civil War offered a luckily appropriate means of modernizing the post-Trojan-War period of the legend, O'Neill has been at pains to make his image of post-war New England faithful in spirit and fact to what it was« (ebd.) - und erkennt gerade in der präzisen Zeichnung des geschichtlichen und kulturellen Kontextes eine besondere Stärke von >Mourning Becomes Electra< und seine Sonderstellung in O'Neills Œuvre: » A consequence of the play's being set firmly in historical time is that the society in which the action moves is realized more fully than in any of [O'Neill's] major works except »Desire under the Elmsauthentischen< Kontext einer nationalen Krisen- und Entscheidungsperiode projiziert - Agamemnon alias Ezra Mannon, »mayor of the town and a national war hero«,83 dient als »Brigadier-General« in der Armee der Nordstaaten, er gilt als »[t]he best fighter in the hull [= whole] of Grant's army«84 und ist eine selbst vom legendären Oberbefehlshaber des Nordens respektierte Führerpersönlichkeit;85 der feinfühlige Orin, »First Lieutenant of Infantry« 86 und Kriegsheld wider Willen, empfängt im Krieg die körperlichen und seelischen Blessuren, die seine Entfremdung von der erotisch angehimmelten Mutter und die Wandlung zu einem >typischenAgamemnon< mit dem Prolog des spähenden Wächters und dem plötzlichen Aufflammen einer durch ganz Griechenland laufenden Kette von Signalfeuern, die den Daheimgebliebenen den Fall Trojas verkünden,88 in der Exposition von >Homecoming< übersetzt in die von gleicher 83 84 8s

86 87 88

>The Hunteds Act One, S.283. >HomecomingForrest Gump< (1994), dessen fiktiver Held einer ganzen Reihe amerikanischer Präsidenten persönlich begegnet, zur Perfektion ausgebildet hat. >The HuntedHomecomings Personenverzeichnis, S.226. Vgl. Aischylos, >AgamemnonMourning Becomes Electradramatic inarticulationsPhoinissen< und die thematisch mit ihnen konkurrierenden aischyleischen >Perser< von 472 behandelten mit den Schlachten von Salamis und Plataiai unmittelbares Zeitgeschehen im Erlebnishorizont ihres Publikums, aber sie bearbeiteten das Thema aus der Perspektive der persischen 93

Herodot, VI/21 (Übersetzung Walther Sontheimer). 2

43

Verlierer und kompensierten die chronologische Nähe des Sujets durch die räumliche und kulturelle Distanz seiner dramatischen Inszenierung: Die Tragödie des Aischylos spielt im Feindesland, 480 v. Chr. (d.h. lediglich acht Jahre vor dem Aufführungszeitpunkt) vor dem Königspalast zu Susa, am Grabmal des Dareios. Wenn von diesen wenigen, in sich bezeichnenden Ausnahmen abgesehen die griechischen Tragiker ebenso wie ihre modernen amerikanischen >Nachfolger< allzu nahe und den Zuschauer distanzlos anspringende Sujets scheuen,5,4 so favorisieren sie dagegen übereinstimmend eine Dramaturgie der funktionalen Distanz oder, in Vernants Formulierung: der kalkulierten »tension entre le passé et le présent« mit dem Ziel eines »débat avec un passé toujours vivant«.95 Für die attische Tragödie des fünften Jahrhunderts bedeutete dies im Gang ihrer weiteren Ausbildung anstelle der Repräsentation zeitgeschichtlicher Großereignisse wie der Perserkriege den Rückgriff auf das Uberlieferungskorpus mythischer Volkssagen, die darin freilich wie exemplarisch der dramatisch besonders ergiebige Sagenkreis um den Trojanischen Krieg- gerade nicht als Fiktionen galten, sondern als archetypisch bedeutsame Geschichte in ilio tempore. Neben Vernant hat besonders Bernard Knox in einem bedeutenden Aufsatz, »Myth and Attic Tragedy«,'6 herausgestellt, daß der tragische Mythos für die Theaterzuschauer des klas94

»A l'aube du V e siècle, quand la tragédie fait ses premiers pas, les grands événements du temps, les drames de la vie collective, les malheurs qui concernent chaque citoyen n'apparaissent pas comme susceptibles d'être transportés sur la scène du théâtre. Ils sont trop proches; ils ne permettent pas cette distanciation, cette transposition grâce auxquelles les sentiments de terreur et de pitié sont déplacés dans un autre registre, non plus éprouvés comme dans la vie réelle, mais d'emblée saisis et compris dans leur dimension de fiction.« Jean-Pierre Vernant: Le sujet tragique: historicité et transhistoricité. In: Jean-Pierre Vernant/Pierre Vidal-Naquet: Mythe et tragédie en Grèce ancienne, tome II, Paris 1986, S. 79-90, hier S. 87.

95

Jean-Pierre Vernant: Tensions et ambiguïtés dans la tragédie grecque. In: Jean-Pierre Vernant/Pierre Vidal-Naquet: Mythe et tragédie en Grèce ancienne, tome 1, Paris 1986 (zuerst 1972), S. 19-40, Zitat S. 27. Nach Vernant verläuft diese Spannung einerseits »entre les deux éléments qui occupent la scène tragique: d'un côté le chœur, personnage collectif et anonyme incarné par un collège officiel de citoyens, et dont le rôle est d'exprimer dans ses craintes, ses espoirs, ses interrogations et ses jugements, les sentiments des spectateurs qui composent la communauté civique; de l'autre, joué par un acteur professionnel, le personnage individualisé dont l'action forme le centre du drame et qui a figure de héros d'un autre âge, toujours plus ou moins étranger à la condition ordinaire du citoyen.« (Ebd.). A n dererseits laufe der >Zeitriß< auch durch jeden dramatischen Protagonisten selbst hindurch: »Le même personnage tragique apparaît tantôt projeté dans un lointain passé mythique, héros d'un autre âge, chargé d'une puissance religieuse redoutable, incarnant toute la démesure des anciens rois de la légende - tantôt parlant, pensant, vivant à l'âge même de la cité, comme un >bourgeois< d'Athènes au milieu de ses concitoyens.« (Ebd., S. 27f.).

96

In ders.: Word and Action. Essays on the Ancient Theater, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press, 1979, S. 3-24.

244

sischen Tragödienjahrhunderts die Autorität des Geschichtlichen besessen und für sie »the story of their past, their history«97 veranschaulicht habe: »even for the sophisticated intellects of the Hellenistic age, heroic myth appeared to be the raw material of history. But for the fifth-century Greeks, before Herodotus began his inquiries into the past and Thucydides established strict standards for writing the history of contemporary events, it was their only vision of their own past.«'8 Freilich verweist Knox zugleich auf den jahrhundertelangen Prozeß der Arbeit am Mythos, auf jenen für eine oral tradition charakteristischen Vorgang der Formung, Selektion und Bedeutungsanreicherung, in dem die ephemeren Züge der mythischen Geschichten aus der kollektiven memoria ausgeschieden und die perennierenden, symbolisch-bedeutungsträchtigen Konstellationen bewahrt und verstärkt wurden. Aus dieser typisierenden, kontingente Erzählanteile abschleifenden Konstruktion eines »far-off past«99 resultiert nach Knox eine Form kulturellen Gedächtnisses im Spannungsfeld von Geschichte und Dichtung, eine konzentrierte und bedeutungsgeladene Form narrativimaginativer Vergangenheitsdarstellung: What myth, the popular memory, preserves is not historical fact, not the particular details, the multiplicity, complexity, and ambiguity of any real happening. It preserves, creates, and recreates symbolic figures and situations, persons and events which typify recurring dilemmas and challenges, heroes whose relations to gods and to their fellow men embody permanent religious and social problems, whose actions present an ideal by which men can live and die or a monitory example of conduct to be avoided. Myth, in other words, is indeed history for the fifth-century Athenians, but it is history transformed by the selective emphasis of a long tradition, shaped and concentrated, and so endowed with universal significance. In other words, it is a kind of poetry.100

Die konzise Definition, die Knox aus diesen Beobachtungen ableitet, lautet schließlich: Tragic myth [...] was a people's vision of its own past, with all that such a vision implies for social and moral problems and attitudes in its present. It was a vision of the past shaped by the selective adaptation of the oral tradition to forms symbolic of the permanencies in human nature and the human condition. [...] And the political, moral, and religious questions it raised were given a passionate intensity and a powerful grip on the emotions by their grounding in the loves and hates of family life. 101 97

Ebd., Ebd., 99 Ebd., ,0 ° Ebd., 101 Ebd., 98

S. io. S.u. S. 3. S.15. S.23.

245

Diese am einflußreichsten in den Mythosbearbeitungen der Tragödie niedergelegte >Vision der eigenen Vergangenheit mußte, wie wiederum Vernant gezeigt hat,102 im Kontext der Polis und ihres Theaters die richtige, spannungsvolle Balance halten zwischen Abstand und Anschlußfähigkeit: Einerseits nämlich stellte sich den Tragikern die Aufgabe, die aus mythischaristokratischer Heroenzeit überlieferten Begebenheiten im gewandelten rechtlichen und politischen Erfahrungshorizont der Polis und ihres geänderten Normengefüges zu kommentieren, mithin den Kontrast von Vergangenheit und Gegenwart zu markieren. Andererseits aber mußte die thematische Affinität von mythischer und >politischer< Sphäre eng genug bleiben, um die aktuelle Relevanz der in heroischer Vorzeit situierten, auf die »permanencies in human nature and the human condition« ausgerichteten Konflikte erkennen zu lassen und die wechselseitige Infragestellung der beiden kulturellen >Codes< von Vergangenheit und Gegenwart, Mythos und Polis zu verdeutlichen. Denn nicht allein der eine heroische Vergangenheit heraufbeschwörende Mythos wurde für die im Theater versammelte Polis zum Problem, sondern im Licht dieses repräsentierten Vergangenen auch sie sich selbst. In Vernants prägnanter Formulierung: La tragédie [...] prend naissance quand on commence à regarder le mythe avec l'oeil du citoyen. Mais ce n'est pas seulement l'univers du mythe qui sous ce regard perd sa consistance et se dissoud. Le monde de la cité se trouve du même coup mis en question et, à travers le débat, contesté dans ses valeurs fondamentales. Même chez le plus optimiste des Tragiques, chez Eschyle, l'exaltation de l'idéal civique, l'affirmation de sa victoire sur toutes les forces du passé ont moins le caractère d'un constat, d'une tranquille assurance, que d'un espoir et d'un appel, où l'angoisse ne cesse jamais d'être présente, même dans la joie des apothéoses finales. Une fois posées les questions, il n'est plus pour la conscience tragique de réponse qui puisse pleinement la satisfaire et clore son interrogation. 1 ^

Bedenkt man von dieser konstitutiven Binnenspannung der griechischen Tragödie her noch einmal das dramaturgische Verfahren ihrer modernen amerikanischen Transpositionen in >Mourning Becomes Electra< und >The Wingless Victorydistance and perspective< festgelegte Trilogie genau diese Oszillation zwischen Mythos und Geschichte, zwischen ins Archetypische stilisierter heroischer Vorzeit und in die tragische Infragestellung einbezogener Polis-Gegenwart imitieren und für ihre eigenen Ausdrucksintentionen fruchtbar machen zu wollen. Unter den grundlegend verschiedenen kulturellen und mentalen Bedingungen einer modernen Gesellschaft104 kann es dabei von vornherein nur um Approximationen und um die Suche nach möglichst plausiblen zeitgenössischen Äquivalenten gehen10' - oder, in O'Neills eigenen Worten, um das Bestreben, »to get enough of Clytemnestra into Christine, of Electra in Lavinia, of Orestes in Orin, etc. and yet keep them American primarily; to conjure a Greek fate out of the Mannons themselves« 106 - , aber das Experiment ist auch dort instruktiv, wo es die Unterschiede von antiker und moderner Tragödie heraustreibt und die modernen Autoren auf der Suche nach der »transfiguring nobility of tragedy, in as near the Greek sense as one can grasp it«, 107 zu eigenen kreativen Lösungen zwingt. Das zeigt sich vor allem am Phänomen des geborgten, aus den antiken Prätexten importierten Mythos selbst, für den, zumal in einem >jungen< Land wie Amerika, autochthone Entsprechungen von gleicher archetypischer Prägnanz nicht zur Verfügung stehen: »there is no American time for which myth is the only authority«. 108 Pointiert gesagt müssen die mythischen Heroen der griechischen Antike, Jason und Medea, Agamemnon und die Atriden, in diesen Texten gerade deshalb zu Amerikanern werden, weil es im durchgängigen histo104

Moorton, Eugene O'Neill's American >EumenidesOresteia< expressed, the view of history as a providential development from a code of private vengeance to a system of trial by jury. B y changing the situation of the drama from Athens to N e w England, O'Neill changed the cultural milieu and so had to find a comparable set of American cultural attitudes with which to motivate his personae.«

106

Brief vom 2 1 . Februar 1931 an George Jean Nathan. In: »As Ever, Gene«: The Letters of Eugene O'Neill to George Jean Nathan, hrsg. von Nancy L. Roberts und Arthur W. R o berts, Rutherford: Feirleigh Dickinson University Press, 1987, S. 1 2 1 .

107

»Neglected Poet. A Letter to Arthur Hobson Quinnmythischen< Bedeutungsüberschuß, der durch hintergrundlose, realistisch-erfundene Figuren so nicht zu erzielen wäre. Ganz wie in der attischen Tragödie, nur hier mit dem zusätzlichen Merkmal der intertextuellen Verdoppelung und der interkulturellen Versetzung, soll der Mythos scheinbar konkret-historische Situationen auf ein Perennierend-Allgemeines hin öffnen, ihnen Relief und eine problematische Tiefe verleihen. Darum, zweitens, auch die zeitliche Rückprojektion in settings von herausgehobener Bedeutsamkeit und hohem symbolischem Verweisungsgrad im semiotischen und semantischen Universum der eigenen Kultur: Die >Vorzeit< der amerikanischen Tragödien besitzt nicht den Charakter unbestimmter Ferne, des in ilio tempore, wie er der mythischen Geschichtszeit ihrer griechischen Vorbilder eignet, aber sie bleibt eine für das Selbstverständnis der jungen amerikanischen Nation prägende Krisen- und Entscheidungsperiode und insofern durchaus eine für mythisierende Überhöhungen und ätiologische Zuschreibungen offene Gründer- und >Heroenzeittypischer< neuenglischer Gründerdynastien, die durch ihren asketisch-rigoristischen, sinnen- und lebensfeindlichen Puritanismus in die » So Bogard, The Historian, S.81.

IO

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Katastrophe geraten, ist - zumal bei O'Neill nicht ohne einen starken Unterton von Faszination - eine kulturelle Mentalität bezeichnet und kritisch ins Visier genommen, die ebensowohl als maßgebliche geschichtliche Prägeform des traditionellen American Way of Life wie zugleich als eine auch in die Gegenwart hinein fortwirkende, zutiefst problematische Haltung erscheinen soll.110 Die diachrone Dramaturgie mit ihrer Rückverlegung der Schauplätze bleibt darin durchaus ambivalent: Einerseits scheint sie, deutlicher bei Anderson als bei O'Neill, mit kritisch-appellativer Stoßrichtung und insofern mit letztlich optimistischen Implikationen die Möglichkeit moderner Distanz und >aufgeklärter< Emanzipation aus dem Bannkreis der als verhängnisvoll demonstrierten >historischen< Mentalität anzudeuten, andererseits sucht sie gerade durch die Unterlegung des Mythos den Eindruck des Archetypischen und Langfristig-Kontinuierlichen zu befördern. Die erotisch-repressive Haltung, an der O'Neills Protagonisten zugrundegehen, ist eben nicht nur Ausdruck der Prüderie und des >vorgestrigentragischen< Zwänge und Inhibitionen, denen in O'Neills psychoanalytischem Modell von Kultur die vergesellschaftete conditio humana jederzeit, unausweichlich und mit determinierender Gewalt unterliegt. Das Pathos und die maskenhaft-statuarische >GrößeMourning Becomes Electra< deutet Zapf in dieser Perspektive als Auseinandersetzung mit einer »das moralische und politische Normen- und Handlungssystem der Gesellschaft« bestimmenden »logozentrischefn] Sinn-, Macht- und Ordnungsstruktur« (S.23of.); die »sinistre Schattenseite der Familiengeschichte der Mannons« stehe dabei »symbolisch für die Geschichte des puritanischen Bewußtseins, und d.h. wiederum für einen wichtigen Teil der amerikanischen Geschichte selbst« (S. 232).

249

und >gesunden< Figuren ihrer Umgebung, zu den exemplarischen Freunden Hazel/Hermione und Peter/Pylades wie zu den karikierten Gestalten des townsfolk chorus auszeichnen, sind die deutlichste Signatur für die Zweideutigkeit einer Konzeption, die sich von ihren >historischen< Figuren zu distanzieren vorgibt und ihnen doch, als mit einem »tragic fate« geschlagenen Heroen inmitten einer banalen und mediokren Statisterie, eine pathetische Reverenz erweist. Daß Eliot und Berkoff in ihren modernen Transpositionen griechischer Tragödien auf eine entsprechende zeitliche Re-Distanzierung verzichten und abstandslos-zeitgenössische settings wählen, hat bei beiden Autoren sehr verschiedene Gründe: Berkoffs >Greek< betreibt, in einem letztlich sehr vordergründigen und flachen Sinn, unmittelbare Zeit- und Gegenwartskritik in mythisch-intertextueller Verbrämung. Hier ist es zuallererst um die Wiedererkennbarkeit konkreter Gegenwartsprobleme der englischen Gesellschaft zu tun (um »the British plague« in ihrer ganzen Spannbreite von Peep-Shows, »Masturbating shops«111 und Abtreibungskliniken über Ausländerfeindlichkeit, Football Hooliganism und die Aufmärsche der National Front bis zum sich türmenden Müll in den Straßen von London), und die Verquickung dieser sozialen Pathographie mit dem Odipus-Mythos leistet dabei kaum mehr als ein von Fall zu Fall mehr oder weniger amüsantes Spiel der travestierenden Chiffrierung: Der Autor >verrätselt< seine Sozialkritik, die Zuschauer dürfen sie wieder >enträtselnThe Family Reunion< bis zu >The Elder Statesman·«, dominiert vordergründig die entschiedene Gegenwärtigkeit vertrauter lebensweltlicher Milieus der britischen upper class, ein setting ohne besondere zeitliche oder gedankliche Tiefe, vielmehr eine Welt reflexionslos befolgter und in geläufigem small-talk bekräftigter Konventionen und Routinen. Aber diese tautologisch in sich kreisende und nur immer auf sich selbst verweisende Je-Gegenwärtigkeit einer everyday world wird, wie wir noch genauer sehen werden, in der >tragischen< Krisis weniger auserwählter Protagonisten scharf gebrochen durch den absoluten und ganz zeitenthobenen Geltungsanspruch einer transzendenten Gegen-Wirklichkeit jenseits der Gegenwart und außerhalb jeder Zeit. Die Allusionen auf den antiken Mythos stehen hier im Dienst nicht einer diachronen Spannung von Vergangenheit und Gegenwart, sondern einer metaphysischen Dialektik von Empirie und Transzendenz, Täuschung und Wahrheit.112 Im Rahmen die111 112

>Greekpoetische Theologie< des Autors bei Eloise Knapp Hay: T.S. Eliot's Negative Way, Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 1982, vgl. bes. Kap. 5 (»The Stage as Still Point: Plays, 1935-1958«). ¿J!

2.2.2 Grade der Ausdrücklichkeit: Deklarierter Prätextbezug (O'Neill, Berkoff) vs. verschwiegene Referenz (Anderson) oder esoterische Allusion (Eliot) Neben der verschiedenen Art der Zeitbehandlung verdeutlichen weitere Unterschiede auch im Grad der Ausdrücklichkeit und der Ausführlichkeit des intertextuellen Anschlusses den prinzipiell sehr weiten dramaturgischen Möglichkeitsspielraum des gegenwartstransponierenden Verfahrenstypus. So unternehmen O'Neill und Berkoff im auktorialen Nebentext ihrer Dramen vom Titel bis zu den Szenen- und Regieanweisungen alle Anstrengungen, um den Bezug ihrer modernen Retraktationen auf deren griechische Modelle augenfällig herauszuarbeiten, während solche Hinweise bei Anderson vollständig fehlen und bei T.S. Eliot nur mit großer Diskretion plaziert sind. Werktitel wie >Mourning Becomes Electra< und >Greek< haben, gerade weil sie mit den realistisch-zeitgenössischen Schauplätzen und der basalen Spielhandlung auffallend kontrastieren und von hier her nicht aufzulösen sind - >Greek< spielt nicht in Griechenland, sondern in London; im Drama O'Neills gibt es keine Figur namens Electra - , eindeutig deiktische, den abgeleiteten Charakter der Stücke unterstreichende Funktion. Demselben Zweck dienen die gewollten NamensAssonanzen (Orestes - Orin; Odipus - Eddy), aber auch gräzisierende Architekturzeichen und mimische Signale wie die geradezu aufdringliche Greek temple-Symbolik und die maskenhaft-erstarrten Physiognomien O'Neills oder Berkoffs Forderung einer bei aller abstrakten Requisitenarmut zugleich suggestiven Bühne aus »three square upright white panels, very clinical and at the same time indicating Greek classicism«." 4 Insbesondere Berkoff markiert den travestierenden Bezug zur ÖdipusTragödie des Sophokles und zum Gattungstypus der griechischen Tragödie im ganzen darüber hinaus in einer Vielzahl prononcierter textimmanenter Hinweise, indem er die pseudorealistische Figurenrede seiner Protagonisten mit ironischen Signalen durchsetzt, die - den figuralen Bewußtseinshorizont eindeutig durchbrechend, aber für Zuschauer oder Leser ohne größeres Bildungswissen erschließbar - auf den mythischen Subtext der Handlung deuten: Wenn in der Schlägerei zwischen Eddy und dem »Manager« eines billigen Stehcafés, also in Berkoffs als tödliches Wortgefecht gestalteter Version des Laios-Mordes, gräßliche Drohungen fallen wie:

114

>GreekThe Wingless VictoryMedea< des Euripides ganz verschweigt und einen eigentlichen Dialog mit dem Prätext auch gar nicht zu suchen scheint - die antike Tragödie dient hier nur einfach als Stofflieferantin für ein modern-sentimentales Melodram, das nach diesem initialen >Plünderungsakt< ganz seine eigenen Wege geht - , als vielmehr das dramatische Œuvre Eliots, in dem auf den Spuren des >Ulysses< und seiner mythical method eine ebenso diskrete wie intensive künstlerische und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Modell der griechischen Tragödie im allgemeinen und mit einigen ihrer bedeutendsten Sujets und Problemkonstellationen im besonderen geführt wird. Verglichen mit dem dichten Gestöber der Antikensignale bei O'Neill oder Berkoff herrscht hier ein Gestus geradezu esoterischer Zurückhaltung, und bezeichnenderweise nimmt er im Fortgang des dramatischen Werkkorpus im selben Maße zu, in dem sich Eliots Dramen thematisch und in konkreter, einzelwerkbezogener Intertextualität ihren antiken Prätexten nähern. Anders gewendet: Es sind gerade Eliots frühere dramatische Experimente, der leider unvollendet gebliebene, im Untertitel als »Fragments of an Aristophanic Melodrama< bezeichnete >Sweeney Agonistes° »Neglected Poet. A Letter to Arthur Hobson Quinntragischen< Charakter seiner Dramatik und über seine Anknüpfung an das Modell der (offenkundig im Geiste Nietzsches aufgefaßten) griechischen Tragödie: »People talk of the >tragedy< in [my play], and call it >sordidpessimistic< - the words usually applied to anything of a tragic nature. But tragedy, I think, has the meaning the Greeks gave it. T o them it brought exaltation, an urge toward life and ever more life. It roused them to deeper spiritual understandings and released them from the petty greeds of everyday existence. When they saw a tragedy on the stage they felt their own hopeless hopes ennobled in art.« (Zit. nach Eugene O'Neill, Comments on the Drama, S. 2 5 f.).

2 66

basic human interrelationships«, 1 ' 2 und um die tragische Erschütterung eines »intelligent audience of today, possessed of no belief in gods or supernatural retribution«. 1 » Betrachtet man >Mourning Becomes Electra< unter diesem Aspekt des großflächigen Anschlusses an ein antikes Tragödienmodell, dem O'Neill eine gleichsam überhistorische ästhetische Geltung zuschreibt, so zeigt sich eine eigentümliche Ambivalenz, ja, man wird diese amerikanische Atriden-Trilogie nicht zuletzt darum unter die kühnen Experimente der dramatischen Moderne rechnen müssen, weil in diesem groß gedachten und von Bewunderung für ein kanonisches Modell inspirierten Text Vorzüge und Probleme, überzeugende künstlerische Funde und ausgesprochen prekäre Verlegenheitslösungen in so heikler Nähe beieinanderliegen; den germanistischen Leser wird manches an der »magnificent tour de force«1'''· dieses Ringens um die energeia der griechischen Tragödie an Friedrich Schillers >Braut von Messina< oder an die >Atriden-Tetralogie< von O'Neills Bewunderer Gerhart Hauptmann erinnern. Zu den Stärken des Werkes zählt in diesem Sinne ohne Zweifel der experimentelle Mut zur Kongruenz mit der aischyleischen Trilogie, der Wille zur großen Dimension einer dynastischen Familientragödie und zu einem Theater des tragischen Pathos und der tödlich-intensiven seelischen Verstrickungen. Dabei ist es ein eindrucksvolles Indiz für den konstruktiven Scharfblick des Autors, wie O'Neill sich nicht damit begnügt, einen dramatischen Archetext vom Format der >Orestie< in seinen bedeutsamen Handlungselementen in ein amerikanisches setting lediglich getreu zu transponieren, wie er vielmehr in zwei sehr wesentlichen Punkten über sein antikes Modell hinausgeht und aus gegebenen aischyleischen Motiven neue tragische Lesarten entwickelt. Das betrifft zum einen die Anlage der Heldin, Lavinia/Elektra, deren unproblematisches Davonkommen aus den Kataklysmen der Atridenhandlung O'Neill als eine gravierende, mit der Größe dieses Charakters unvereinbare Schwäche der griechischen Versionen des Themas rügt;155 dem eigenen Drama schreibt er folgerichtig die Aufgabe zu, eine

1,2

1,4

155

>Working NotesKomplettierung< der >Orestie< das Motiv für die programmatische anti-aischyleische Wendung der Finalpartie her, also die tragisch-deterministische Todeslogik von >The Haunted< mit ihrer düsteren Konsequenz der vollendeten Auslöschung des »New England House of Atreus« anstelle des kathartischen Entsühnungs-und Versöhnungsgeschehens in den >Eumenidenklinisch< wirkt, wird noch fragwürdiger durch die 175 176 177 178

175 180

Aischylos, >AgamemnonAgamemnon< des Aischylos, Stuttgart 1993 (Beiträge zur Altertumskunde 35), S. 3 63 ff. >HomecomingMourning Becomes Electra< um so viel weniger eindringlich wirkt als ihr aischyleisches Gegenstück, so bieten sich zwei miteinander zusammenhängende Erklärungen an: Zum einen hat die Erschlagung Agamemnons, so wie die Täterin selbst, Klytaimestra, sie in herausforderndem Triumph den entsetzten Greisen des Chores (und mittelbar dem Publikum) schildert,'86 eine ungleich stärkere physisch-somatische Qualität als die Ermordung Ezra 181 182 183

184 181

186

>HomecomingThe Hunteds Act Three, S. 309. Vgl. die begründete Kritik der melodramatischen Trivialelemente des Stückes bei Bigsby (A critical introduction, S. 84): »There are still elements of melodrama - poison bottles, guns, overheard conversations, revealing documents - and these serve to heighten the gothic notion of the curse, the predisposition of the Mannon family which is supposed to do service for the Greek sense of determinism. The striking similarity between the Mannons [...], while functional, is also reminiscent of nineteenth-century melodrama, indeed specifically of >The Count of Monte CristoThe HuntedHomecoming< sarkastisch bemerkt: »Lightness of touch was never O'Neill's strong point. And so, in a play in which fate was to be securely rooted in psychological reality, Christine decides to murder her husband with poison because >some fate« had forced her to read a book on poison a few weeks before. So, too, her husband's heart condition which, we are told, Christine had deliberately exaggerated, obligingly becomes real and serious at a convenient moment.« Vgl. Aischylos, >AgamemnonKörper-Sprachlichkeit< der griechischen Tragödie als einer alle intellek-

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rierte Konstruktionen der Geschlechterbeziehung als im wahrsten Sinn des Wortes >blutleere< Abstraktionen anmuten. Zum anderen aber - dies der zweite Punkt, in dem sich der antike Prätext seinem modernen Nachfolger weit überlegen erweist - besitzen die elementaren Gewalteruptionen des aischyleischen Theaters bei aller verstörenden Konkretheit des physischen Details zugleich eine außerordentlich große kulturelle Verweisungskraft, sind sie gleichsam die Verwerfungszonen, in denen die inneren Spannungen und Ambiguitäten einer historischen Situation offen aufbrechen. In ihren Bildern von katastrophischen Krisen und mörderischen Verkehrungen zwischenmenschlicher Ordnung verdichten sich die leitenden semantischen >Codes< und die konfligierenden nomoi der Gesellschaft,1'4 und in den die Handlung kommentierenden rhetorischen Agonen von Protagonisten und Chor prallen rivalisierende Geltungsansprüche in komplexen Normkonflikten aufeinander: Vater- und mutterrechtliche Satzungen, Ansprüche der biologischen Natur und der Polis, archaische Rachekonzeptionen und politisches >Recht< sind hier im Redekampf unterschiedlicher >Pathosprivatertautologischer< Charakter noch der extremsten Gewalthandlungen: Einzig der Ubermacht sexuellen Begehrens verpflichtet, erheben sie keine weitergehenden sittlich-objektiven Prätentionen, sondern bedeuten naturalistisch nur ganz sich selbst. In dieser Konstellation äußerlich gewahrter Handlungsparallelität mit dem griechischen Modell bei vollständiger Auflösung der antiken Handlungsmotive 196 offenbart sich eine Grenze im Verfahren der großflächig-totalisierenden >Wiederholungs ja diese stellt sich darin selbst als scheinhafte Fassade einer Kontinuität dar, die defacto nicht mehr besteht. Die möglichst getreue Abbildung gegebener plot-Strukturen genügt demnach nicht per se, um den »Greek dream in tragedy« noch einmal wahr werden zu lassen; die Frage ist vielmehr, ob hinter den beibehaltenen Handlungssequenzen eine Schicksalssemantik steht, die unter den geänderten Kontextbedingungen einer säkularen Moderne >tragisch< heißen kann. Darauf werden wir unten zurückkommen.

' 9S »Significantly, O'Neill altered the myth so that his Orestes does not face the same dilemma that caused the Greek character so much torment. The awful dilemma in which the classical hero finds himself is that he must and yet he must not murder his mother. O'Neill's Orin faces no such dilemma. He does not feel duty bound to avenge the father he never loved, and far from killing his mother, he unwillingly drives her to suicide. Orin murders the Aegisthus of the American drama not to avenge his father's murder but to avenge himself; Brant has robbed him of his mother's love and he acts, like his grandfather before him, out of pure hatred and jealousy. Similarly, in goading him on, Lavinia seeks a retaliation for the loss of her father's love and revenge for Brant's treachery to her and his lack of response to her love for him.« Belli, Ancient Greek Myths, S.26f. 196

Dazu erhellend Porter, Myth and Modern American Drama, S.49Í.

280

3· Mythos und Gegenwart: Eugene O'Neill, T.S. Eliot und die griechische Tragödie im Raum der Moderne 3.1 Sind diegetische und semantische Transformation unvereinbar? Prüfung einer These von Fuhrmann und Genette Wie wir bisher vor allem im Blick auf die Verfahrenslogik und den Möglichkeitsspielraum der raumzeitlichen Versetzung gezeigt haben, holen die in diesem Kapitel vorgestellten dramatischen Texte Themen- und Handlungsvorgaben erkennbarer antiker Tragödien in den diegetischen Rahmen moderner >Welten< herein, suchen sie die mythischen Konfigurationen ihrer griechischen Prätexte in einem aktuellen (oder doch jedenfalls: in einem der jüngeren, eigenen Vergangenheit angehörenden) Kontext gleichsam zu >wiederholenEinkleidung< des Geschehens bei gleichzeitiger Wahrung zentraler Handlungselemente des Vorgängertextes - hat in der Forschung zu der These Anlaß gegeben, gerade bei der >heterodiegetischen Transposition handle es sich mit innerer Zwangsläufigkeit, ja mit dichtungslogischer Notwendigkeit um einen im Grunde k o n servativen und semantisch unergiebigen Verfahrenstypus, weil eben die intertextuelle Modellreferenz bei dieser Bearbeitungsart überhaupt nur gewährleistet bleibe, wenn die diegetische Differenz der Schauplätze, Protagonisten, Epochen etc. durch eine verstärkte Kontinuität im Bereich der Themen- und Problemstrukturen aufgefangen, durch sie gleichsam kompensiert werde. Im Sinne dieses Komplementaritätstheorems deutet Manfred Fuhrmann in seinem wegweisenden Aufsatz zur variierenden Wiederholung des Mythos im modernen Drama gerade die aktualisierende Transposition einseitig von ihrer (im Kern affirmativen, auf die möglichst stimmige Ubersetzung des antiken Sujets zielenden) Wiederholungsstruktur her und begreift sie als einen Bearbeitungsmodus, der »die inhaltliche Gültigkeit des Mythos« bestätige, weil ihm »der Wille zur Auseinandersetzung, der polemische Bezug« zum »antiken Substrat« fehle.'97 Und auch Genette stellt in seiner poetologischen Analyse zunächst den autonomen Charakter und die von semantischen Eingriffen ganz unabhängige Dimension der raumzeitlichen Versetzung heraus - »La transposition diégétique n'est donc ni une condition nécessaire ni une condition suffisante de la transformation sémantique. Elle n'en est qu'un instru-

1,7

Mythos als Wiederholung, S. 130. 281

ment facultatif, bien souvent traité comme une pratique autonome« 1 ' 8 - , um daraus ganz auf Fuhrmanns Argumentationslinie eine Tendenz zur wechselseitigen Ausschließung zwischen diegetischen und semantischen Transformationen zu postulieren: » O n pourrait même percevoir entre les deux attitudes une part d'incompatibilité, qui tiendrait à un double mouvement de compensation: la transposition hétérodiégétique insistant sur l'analogie thématique entre son action et celle de son hypotexte [...], et la transposition homodiégétique insistant au contraire sur sa liberté d'interprétation thématique [...].«'" Immer dort also, wo - in Racines >PhèdreLes MouchesAntigonemodell< und mit ihnen in der großen Mehrzahl der neuzeitlichen Antikentransformationen - die dramatischen Bearbeitungen griechischer Tragödien die raumzeitliche Deixis ihrer Modelle beibehielten, wäre demnach, gleichsam gesetzmäßig, mit starken Abweichungsbestrebungen in thematischsemantischer Hinsicht zu rechnen; umgekehrt müßte ein aktualisiertes setting - in >Der zerbrochne K r u g s >Die Braut von Messinas >Mourning Becomes ElectraThe Cocktail Partys >Greek< - auf Problemkonstanz und semantische Affinität deuten. Jeweils stünde nach diesem Theorem eines »double mouvement de compensation« im Dialog der Texte einem Element der Kontinuität und der Identität ein gegenläufiges Moment der Differenz gegenüber. Unser Material bestätigt diese (zweifellos elegante) These nicht, und wir wollen im folgenden zeigen, daß, entgegen der schematischen Vorstellung von einer wechselseitigen Ausschließung diegetischer und semantischer Veränderungsoperationen, in den bedeutendsten Paradigmen des heterodiegetischen Bearbeitungstypus vielmehr ein intensives Zusammenspiel besteht zwischen der raumzeitlichen Versetzung mythisch-tragischer Vorgaben einerseits und entsprechenden Modernisierungen und Distanzvermessungen auf der thematisch-semantischen Ebene der neuen Werke andererseits. In der Tat erscheint es bei näherer Überlegung schwer denkbar, daß in der dialogischen Beziehung zweier Texte über einen großen historischen Zeitabstand hinweg der Folgetext zwar den äußeren Handlungsrahmen, die raum-zeitliche Situierung und den kulturellen Kontext seines Vorgängertextes von Grund auf verändern, zugleich jedoch dessen thematische Strukturen und seine semantische Bedeutungsdimension ganz unangetastet lassen sollte. Hier wäre doch, und zwar im Palimpsestes, S. 358. "»s Ebd.

282

theoretischen Grenzfall selbst gegen eine ausdrücklich bewahrende Intention des Autors, zu erwarten, daß allein bereits das geänderte lebensweltlich-kulturelle setting zwingend zu Anpassungen und Bedeutungsverschiebungen auf der Ebene des semantischen Apparates und der Weltbildfunktionen des neuen Textes führen müßte: Wie auch wären moderne Protagonisten an zeitgenössischen Schauplätzen vorstellbar, die sich ihrer plausibel gezeichneten gegenwärtigen Welt mit den unverändert übernommenen Kategorien mythischer Heroen zu bemächtigen suchten? Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen sollen gegen die namentlich von Fuhrmann vertretene These von einem mangelnden »Willen zur Auseinandersetzung« und einem nur schwachen >agonalen< Potential des diegetischen Versetzungstypus einsichtig machen, daß die bedeutenden Dramen auch dieses Typs - und das sind im Zeitraum unserer Untersuchung fraglos zuallererst O'Neills Elektra-Trilogie und Eliots Tragödien-Metamorphosen - die semantische Differenz mit ihren antiken Prätexten austragen, ja, daß sie insofern sogar einen besonders hohen Grad an streitbarer Dialogizität besitzen, als sie gleich nach zwei Seiten hin die semantische Unterscheidung suchen: Im Verhältnis zum Oberflächenrealismus glaubwürdig repräsentierter zeitgenössischer Wirklichkeiten soll, wie wir sahen, die (mehr oder weniger verdeckte) mythisch-intertextuelle Referenz für eine subversive Dimension der Handlung, nämlich für die verfremdende Freilegung verborgener Bedeutungsräume und -abgründe innerhalb der trivialen Alltagswirklichkeit, sorgen. Zugleich aber soll dieses mythisch signalisierte >Andere< zeitgenössischer Wirklichkeiten und Konventionen selbst als zeitgemäß und aktuell gelten, und das heißt notwendig: Es soll sich von den historischen Weltbildvorstellungen der griechischen Tragödie als deren modernes Äquivalent und als eine Art von zeitgenössischem >mythischem Analogon< unterscheiden. Die Folge ist eine semantische Doppelstrategie, die die heterodiegetischen Tragödientransformationen zugleich in einen agonalen Bezug zur diskursiven Normalität unreflektierter zeitgenössischer Lebenswelten versetzt - die entsprechenden Milieus sind in den Dramen selbst als Hintergrund und banale Kontrastfolie des Tragischen präsent - und ihren Abstand von den kultursemantischen Voraussetzungen der antiken Prätexte auszuloten sucht.

283

3-2 »New England House of Atreus«: Aischylos, O'Neill und das Experiment einer »modern psychological approximation of Greek sense of fate«. Eine Interpretation von >Mourning Becomes Electra< Als auszeichnende Besonderheit des intertextuellen Verfahrens in >Mourning Becomes Electra< hatte sich das Bestreben erwiesen, in einer breiten Anschluß- und Wiederholungstendenz und in möglichst hoher Dichte der Korrespondenzen und Äquivalenzbezüge an die Atriden-Trilogie des Aischylos anzuknüpfen, um so eine moderne Entsprechung zu schaffen zu dem, was für den (in seinem Tragödienverständis stark von Schopenhauer und Nietzsche beeinflußten200) Dramatiker O'Neill als zeitlos vorbildliches Wirkungsmoment der griechischen Tragödie galt: zu ihrem bezwingenden »sense of fate«. Diesen Befund gilt es nun, da wir von der tragischen Schicksalssemantik des Werkes sprechen wollen, in einer entscheidenden Hinsicht zu präzisieren: O'Neills Ambition ist darauf gerichtet, den tragischen Impetus der attischen Tragödie unter den Bedingungen einer säkularen Moderne wiederzugewinnen, 201 aber der Autor ist sich, wie viele Arbeitsnotizen belegen, von Anfang an vollkommen darüber im klaren, daß dieser Restaurationsversuch ohne den Rekurs auf die übernatürliche, theologische Dimension des griechischen Dramas auskommen muß. Folgerichtig sucht daher das >Work Diary< nach innerweltlichen und säkularen Äquivalenten, die tragisches Schicksal in einer götterfernen Welt und ohne die Intervention metaphysischer Leitinstanzen 200

!01

Vgl. aus der umfangreichen Literatur: Patrick Bridgwater: Nietzsche in Anglosaxony: A Study of Nietzsche's Impact on English and American Literature, Leicester 1972, bes. S. 184-190; Egil Törnqvist: Nietzsche and O'Neill: A Study in Affinity, in: Orbis Litterarum 23 (1968), S. 97-126; Reinhold Grimm: The Hidden Heritage. Repercussions of Nietzsche in Modern Theatre and its Theory, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 3 5 5 3 7 1 ; Herwig Friedl: Power/Play: Nietzsche and O'Neill, in: Eugene O'Neill 1988, hrsg. von Ulrich Halfmann, Tübingen 1990, S. 2 0 3 - 2 2 1 ; zuletzt Gerhard Hoffmann: Eugene O'Neill: America's Nietzschean Playwright. In: Nietzsche in American Literature and Thought, hrsg. von Manfred Pütz, Columbia/SC 1995, S. 1 9 7 - 2 2 1 mit der Eingangsthese: »Nietzsche's influence on Eugene O'Neill was probably greater than it was on any other English-speaking playwright.« (Ebd., S. 197). Zum >Tragischen< bei O'Neill vgl. u.a. Joseph W. Krutch: O'Neill's Tragic Sense. In: American Scholar 16(1947), S. 283-90; Roger Asselineau: >Mourning Becomes Electra< as a Tragedy. In: Modern Drama 1 (1958), S. 1 4 3 - 1 5 0 ; J.P. O'Neill, S.J.: The Tragic Theory of Eugene O'Neill. In: Texas Studies in Literature and Language 4 (1963), S. 481—498; Franz H. Link: Eugene O'Neill und die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Unbewußten, Frankfurt am Main/Bonn 1967; Gerhard Hoffmann: Auffassungsweisen und Gestaltungskategorien der Wirklichkeit im Drama. Zum Tragischen, Komischen, Satirischen und Grotesken bei O'Neill. In: Amerikanisches Drama und Theater im 20. Jahrhundert/American Drama and Theater in the 20th Century, hrsg. von Alfred Weber und Siegfried Neuweiler, Göttingen 1975, S . 6 0 - 1 2 3 ; Richard B. Sewall: Eugene O'Neill and the Sense of the Tragic. In: Eugene O'Neill's Century, S. 3 - 1 6 .

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bewirken und beglaubigen könnten. In diesem Sinne verknüpfen bereits die allerersten tastenden Sondierungen des Projekts aus dem Frühjahr 1926 die Frage nach der Realisierbarkeit einer in die Moderne verlegten Antikentransformation (»Modern psychological drama using one of the old legend plots of Greek tragedy for its basic theme - the Electra story? the Medea?«202) mit dem Problem, inwieweit es gelingen könne, »to get modern psychological approximation of Greek sense of fate into such a play, which an intelligent audience of today, possessed of no belief in gods or supernatural retribution, could accept and be moved by«.203 Schon hier also wird die Statuierung einer säkularen Mentalität auf der Seite des aufgeklärten, >intelligenten< Publikums, in dessen literarischem Erwartungshorizont metaphysische Größen wie eine göttliche Geschehenslenkung oder eine auf übernatürlichem Weg bewirkte ausgleichende Gerechtigkeit keine Rolle mehr spielten,204 zur Voraussetzung einer Introversionsbewegung: Das Schicksal, das den Protagonisten der griechischen Tragödie noch als göttlich gefügtes, durch objektive Mächte bewirktes Verhängnis von außen entgegengetreten sei, müsse den Helden der modernen Tragödie in einer »psychological approximation of Greek sense of fate« aus ihrem eigenen Inneren bzw. aus dem Familienkreis miteinander verstrickter Innerlichkeiten begegnen. In mannigfachen Abwandlungen und unter Schlagworten wie »sense of fate hovering over characters, fate of family«, »psychological fate«, 20 ' »working out of psychic fate from past«206 etc. variieren die Arbeitsüberlegungen aus den Jahren der Werkentstehung immer erneut diesen Grundgedanken einer ins Psychologische und Subjektive gewendeten säkularen Schicksalssemantik: >Mourning Becomes ElectraOrestie< weitgehend in den Hintergrund, 2 1 ' und gewiß ist Angela Belli zuzustimmen, wenn sie über O'Neills

Protagonisten

bemerkt: »The dilemmas in which they are involved are fundamentally private ones. We see them struggling with domestic problems.« 2 1 6 Vergleicht man diese moderne Resemantisierung tragischer Vorwürfe mit den ebenfalls in die Gegenwart versetzten Antikenvariationen T.S. Eliots und mit deren Inszenierung von Seelendramen der Spiritualität und der geistigen Konversion, so fällt als beherrschender Unterschied zu Eliots christlich-philosophischem Existentialismus der extreme psycho-

212

Ebd., S. 14, Nr. 36 vom August 1931. " Ebd., S.4, Nr. 4 (April 1929). 214 Zur stark autobiographischen Komponente dieser Thematik vgl. die Deutungen bei Richard F. Moorton, Jr.: The Author as Oedipus in >Mourning Becomes Electra< and >Long Day's Journey into NightPolitischen< ab. Differenzierter, aber im Prinzip übereinstimmend Moorton (Eugene O'Neill's American >EumenidesMourning Becomes Electra< almost exactly as it is if I had never heard of Freud or Jung or the others. Authors were psychologists, you know, before psychology was invented. And I am no deep student of psychoanalysis. As far as I can remember, of all the books written by Freud, Jung, etc., I have read only four, and Jung is the only one of the lot who interests me. Some of his own suggestions I find extraordinarily illuminating in the light of my own experience with hidden motives.« Noch ausdrücklicher das Beharren auf bloßer psychologischer Intuition, allgemeiner Lebenserfahrung und dramatischem >Instinkt< im Brief vom 13. Oktober 1929 an die Literaturwissenschaftlerin Martha Carolyn Sparrow: »There is no conscious use of psychoanalytical material in any of my plays. All of them could easily be written by a dramatist who had never heard of the Freudian theory and was simply guided by an intuitive psychological insight into human beings and their life-impulsions that is as old as Greek drama. It is true that I am enough of a student of modern psychology to be fairly familiar with the Freudian implications inherent in the actions of some of my characters while I was portraying them; but this was always an afterthought and never consciously was I for a moment influenced to shape my material along the lines of any psychological theory. It was my dramatic instinct and my personal experience with human life that alone guided me.« O'Neill bekräftigt in der Folge des Briefes seine Vertrautheit mit den Theorien Freuds, Jungs und der Behaviouristen, kommt aber gleichwohl zu dem Fazit: »I would say that what has influenced my plays the most is my knowledge of the drama of all time particularly Greek tragedy - and not any books on psychology.« Die Dokumente zitiert nach der Wiedergabe bei Arthur H. Nethercot: The Psychoanalyzing of Eugene O'Neill, in: Modern Drama 3 ( 1960), S. 242-2 j 6 und S. 3 57-372, hier S. 247^ 288

psychoanalytisches Triebmodell Freudscher und Jungscher Provenienz, freilich eine zugleich popularisierend-vergröberte und äußerst schematisch gehandhabte Version von Psychoanalyse.2'9 Wir brauchen O'Neills bereits in der frühen Rezeptionsgeschichte seines Werkes breit kommentiertes und seitdem von der Forschung mehrfach kompetent erörtertes Verhältnis zu verschiedenen psychoanalytischen Strömungen220 nicht im einzelnen zu diskutieren und können uns im folgenden auf die nähere Erläuterung zweier für die Elektra-Trilogie zentral bedeutsamer Punkte beschränken: zum einen auf die Dichotomie zwischen einer - hier in das historische Gewand des Puritanismus gekleideten - engen und repressiven Kulturform und ihren (durch das >Unbehagen< in eben dieser Kultur ausgelösten) imaginären und >romantischen< Alternativen, zum anderen auf die dramatische Inszenierung eines Syndroms heterosexuell-inzestuöser Leidenschaften und >KomplexeMour-

220

So auch Bigsby, A critical introduction, S. 86 (»drastically simplistic and explicit version of oedipal and electra complexes«), Belli, Ancient Greek Myths, S. 30 (»Lavinia's transformation is abrupt and clumsily handled [...], for the American playwright's use of the psychological mechanism is somewhat immature«), und Roberts, The Psychology of Tragic Drama, S. 178 (»O'Neill's deliberate, self-conscious plotting of psychoanalytical effects can detract from the tragic power; something external, superficial, even somewhat mechanical takes over from the pity and terror of the human conflict [...]«)· Vgl. etwa Doris M. Alexander: Psychological Fate in >Mourning Becomes ElectraStrange Interlude< und >Mourning Becomes ElectraLeben< und >TodRomantik< und >PuritanismusPuritanismus< zu den kulturund ideologiekritischen Diagnosen in der Publizistik H.L. Menckens, George Jean N a thans, Ludwig Lewisohns und anderer Vertreter der » 1 9 1 2 >RenaissanceHomecomingHomecoming< und zu den zwanghaften Rache- und Bestrafungsphantasien des im Banne seines Schuldbewußtseins gefangenen und darin zum >Ebenbild< seines Vaters 22 ' gewordenen Orin (»I'm Father's! I'm a Mannon!« 2 ' 0 ) in >The Haunted< reicht die generische Kette des >Mannon way of lifeThe HauntedThe HuntedHomecomingThe Haunteds I/2,S. 3 4 6. 245 Ebd. 246 >The Haunteds Act Four, 8.369. 247 Ebd. 241

293

Death sits so naturally on you! Death becomes the Mannons! You were always like a statue of an eminent dead man - sitting on a chair in a park or straddling a horse in a town square - looking over the head of life without a sign of recognition - cutting it dead for the impropriety of living!248 Wie schon in der Darstellung der harten und repressiven Mannon-Welt herrscht dabei auch in O'Neills Entwurf der sinnlichen und vitalen G e gensphäre ein durchaus plakativer Symbolismus vor, und den kritischen Anmerkungen der Forschung, die einen »highly explicit, schematic use« 249 von Leitmotiven und romantischen C h i f f r e n bemängelt, ist kaum zu widersprechen: Poetische Zeichen wie das - identisch in bezug auf M a rie Brantôme wie auf Christine und Lavinia Mannon verwendete und darin aufdringlich überstrapazierte 250 - Motiv der sinnlich gelösten Frauenhaare als Ausdruck erotischer Verlockung und dionysischer Befreiung sind unbestreitbar konventionelle Versatzstücke aus dem abgesunkenen Fundus der Trivialromantik, und wenn A d a m Brant die ausdrucksvollen Augen seiner Mutter Marie Brantôme mit der Tiefe des Meeres vergleicht - »big, deep, sad eyes that were blue as the Carribean Sea« 2 ' 1 - oder gar die Eleganz seiner geliebten Segelschiffe gleichsetzt mit der Schönheit der Frauen, die seine andere große Leidenschaft sind, 2 ' 2 dann ergibt sich aus

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2,0

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>The HuntedHomecomingHomecomingHomecomingTall, white clippers,< you called them. You said they were like beautiful, pale women to you. You said you loved them more than you'd ever loved a woman. Is that true, Captain?« (>Homecomingromantischen< Antitypus zu der asketischen Härte und leblosen Beherrschtheit der in ihr rigides Verhaltenskorsett eingeschnürten Mannon-Männer zu zeichnen. Schließlich darf man nach realistischer Plausibilität dort am allerwenigsten fragen, wo das für die ganze Trilogie zentrale utopische Gegenmotiv ins Spiel kommt, nämlich der - in offen deklarierter Intertextualität durch den Exotismus von Herman Melvilles Roman >Typee< inspirierte2'6 - Paradiesestraum von den »Blessed Islands« in der Südsee: In dieser idyllischen Vision eines von »peace and warmth and security«257 erfüllten und durch die unkomplizierte Befriedigung aller menschlichen Primärbedürfnisse gekennzeichneten natürlich-sinnenfrohen Lebens fernab der Verstrickungen, Tabus, Verbote der Zivilisation, in dieser Phantasmagorie der bons sauvages und ihres unschuldigen und befreiten Eros - »the natives dancing naked and innocent - without knowledge of sin«2'8 - schießen die Fluchtträume, die regressiven Sehnsüchte und die sexuellen Erfüllungsphantasien aller wichtigen Protagonisten zu einem gemeinsamen Archetypus des Utopisch-Anderen zusammen. O'Neill bemüht sich nach Kräften, diesen zentralen Motivkomplex möglichst abwechslungsreich in die Handlung des Dramas zu integrieren2'9 und ihm für die einzelnen Protagonisten auch jeweils individuell gefärbte, aus ihrem je eigenen Triebschicksal resultierende Konnotationen abzugewinnen: Im Falle Adam Brants, der einst als Schiffbrüchiger auf den Inseln Zuflucht und ein freies Leben fand, der ihren natürlichen Zauber in poetischen Schilderungen beschreibt und der von den »naked native women« schwärmt, »[who] had found the secret of happiness because they had never heard that love can be a sin«,260 dient die Südsee-Assoziation der Profilierung seines romantischen Abenteurertums und erotischen Nimbus; Lavinia sucht er im »lovemaking tone« 26 ' des routinierten Verführers mit exotischen Reminiszenzen zu betören,262 und Christine Mannon, seiner Geliebten, verspricht er 2>é

Der ausdrückliche Bezug auf das Modell wird durch Orins begeisterten Bericht von seiner Melville-Lektüre während des Krieges hergestellt: »Have you ever read a book called >Typee< - about the South Sea Islands?« usw. (>The Hunted Ebd. 2iS >The Haunteds I/2, S.348. Dennoch bleibt der Eindruck des Konstruierten unabweisbar, so daß man Roberts' (The Psychology of Tragic Drama, S. 178) Kritik kaum widersprechen kann: »The whole Island motif, embedded as it is in the voyage taken by the brother and sister, seems artificially imposed on the characters.« 260 >HomecomingHomecomingLogik< sie mit der vermeintlichen Rationalität ihres Sprechens und Handelns nicht erreichen. Die Kette von Dementis >offiziell< deklarierter, aber scheinhafter Figurenmotive aus dem Horizont uneingestandener und darum nur desto wirkungsmächtigerer verdeckter Handlungsantriebe beginnt mit O'Neills Version der Atreusund Thyest-Sage - der Patriarch Abe Mannon verstößt seinen Bruder David wegen dessen unstandesgemäßer Liaison mit dem attraktiven Kindermädchen Marie Brantôme, »that French Cannuck nurse girl he'd got into trouble«, 276 aus der Familie, aber hinter der vordergründig zur Schau getragenen sittlichen Entrüstung über den sexuellen Fehltritt des Paares und die Schwangerschaft des Mädchens tobt sich in machtvollen Uberreaktionen (wie dem Abriß des sündigen Hauses) das triebhafte Ressentiment des selbst in die junge Frau verliebten, dem Bruder unterlegenen Rivalen

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274

275 276

Vgl. O'Neills sorgfältige Figurencharakteristiken beim ersten Auftreten der Geschwister: »Hazel is a pretty, healthy girl of nineteen [...]. One gets a sure impression of her character at a glance - frank, innocent, amiable and good - not in a negative, but in a positive, self-possessed way. Her brother, Peter, is very like her in character - straightforward, guileless and good-natured.« >HomecomingHomecomingHomecomingWorking Notes% S.4, Eintrag Nr. 4 vom April 1929. Zu O'Neills auch hier wieder greifbarer »disturbing tendency to an over-explicitness

300

Ihre zugespitzteste und in der radikalen Durchführung des Prinzips zugleich problematischste Ausprägung erfährt O'Neills deterministische Schicksalssemantik jedoch in der Konstruktion eines psychosexuellen Syndroms unbewußter Anziehungen und Abhängigkeiten zwischen den dramatischen Hauptfiguren: Im Rekurs auf (wiederum holzschnitthaft vereinfachte) Dogmen der psychoanalytischen Sexualtheorie entwirft >Mourning Becomes Electra< das Bild eines Netzes menschlicher Verhältnisse im Banne des Odipus- und eines komplementären Elektra-Komplexes, was bedeutet, daß die Protagonisten in ihrem Denken und Handeln von Gesetzen und »inscrutable forces« bestimmt sind und einem verdeckten >Code< folgen, den sie selbst nicht zu lesen verstehen, den aber das Drama in seiner Kommunikation mit dem Zuschauer freizulegen und in möglichster Deutlichkeit der Signale als tragisch-schicksalsbestimmende Macht einsichtig zu machen sucht. Der von vielen Interpreten zu Recht bemängelte Charakter des Schematischen und Mechanischen, ja des ostentativ Kalkulierten und Didaktischen ist die direkte Folge dieser wie auf dem Reißbrett entworfenen Figuren- und Schicksalskonzeption.284 Es sind drei Prämissen, die in ihrem Zusammenspiel das System seelischer Fixierungen und erotischer Attraktionen zwischen den Protagonisten bestimmen und so über ihr psychisches Fatum entscheiden: Erstens unterliegen die Figuren des Dramas einer zwanghaft-intensiven Anziehung durch den jeweils gegengeschlechtlichen Elternteil, einer Anziehung, die durch den Vater oder die Mutter erwidert wird und zu einer engen, gegen Außenstehende und potentielle Eindringlinge eifersüchtig verteidigten wechselseitigen Bindung führt. In diesem Sinn paßt sich Lavinia in Habitus und Denkweise ganz an den Vater, Ezra, an, schwört ihm auch als Erwachsene im heiratsfähigen Alter ewige Treue (»You're the only man I'll ever love! I'm going to stay with you!« 28 ') und schlägt die Avancen des um sie werbenden Peter Niles mit der Begründung aus, ihr Platz sei an der Seite ihres Vaters: »I can't marry anyone, Peter. I've got to stay home. Father

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28

which implies a lack of faith in his own dramatic powers« vgl., besonders am Beispiel der erstaunlichen Metamorphosen Lavinias und Orins zu Ebenbildern ihrer toten Eltern, die milde ironische Kritik bei Bigsby, A critical introduction, S. 84t. Prägnant Bigsbys Kritik (ebd., S. 80) an dem »somewhat simplistic [...] dualism of false surface and true depth, a false mask and true face which rests rather too heavily on Freudian archetypes«. Plausibel auch Roberts' (The Psychology of Tragic Drama, S. 1 8 1 ) These, »the laboured closeness of the parallels with the original Greek and the painstaking explicitness with which the ideas are worked out« deuteten darauf hin, »that the essential material of the play, in so far as it is not autobiographical, does not arise from the deepest strata of the author's psychic unconscious.«

' >HomecomingElektraKomplex< inspirierte Rollenentwürfe bereitwillig ein und bekräftigt sie durch seine eigenen egoistischen Wünsche: »I want you to remain my little girl - for a while longer, at least«/ 8 8 heißt die »with gruffy tenderness« 28 ' vorgetragene Antwort auf die töchterlichen Idolisierungen. Dasselbe Gefühl einer fast symbiotischen Zusammengehörigkeit herrscht im Verhältnis von Söhnen und Müttern: zwischen Adam Brant und seiner Mutter Marie Brantôme, deren Namen er annimmt und deren Makellosigkeit er in auffahrender Apologetik verteidigt, 290 und, am breitesten ausgeführt, zwischen Christine und Orin, die sich eine zärtliche Gegenwelt einrichten (»No Mannons allowed« 2 ' 1 ) und einander alles bedeuten wollen, was sie in der kalten Sphäre Ezra Mannons vermissen. Christine nennt selbst noch den erwachsenen Orin in leitmotivischer Häufung ihr »baby«, 2 ' 2 und für den Sohn, von dessen ödipal-regressiven Verschmelzungsphantasien bei Gelegenheit des Südsee-Motivs bereits die Rede war und der mit den Worten »Where's mother?« in das Spiel eintritt, 2 ' 3 bleibt die Mutter »my only girl«, 2 ' 4 die Geliebte mit dem sinnlichen langen Haar, 2 " an der er mit so ausschließlichem Besitzanspruch festhält, daß

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Ebd., Act One, S. 23 5. Ebd., Act Three, S. 264. 288 Ebd., S. 266. 289 Regieanweisung ebd. 2 '° Vgl. >HomecomingThe Hunteds Act Two, S. 296. 292 Vgl. nur >Mourning Becomes ElectraThe Hunteds Act One, S.287. 294 >The HuntedThe HuntedElektra-Komplexes< zwischen Christine und Lavinia. Hier bezichtigt, in Formulierungen, die ihre freudianische Inspiration offen ausstellen und sich kaum mehr um Anpassung an das historische setting des Dramas bemühen, 302 die Mutter ihre Tochter der erotischen Rivalität und intriganter Verdrängungsversuche CHRISTINE: I know you, Vinnie! I've watched you ever since you were little, trying to do exactly what you're doing now! You've tried to become the wife of your father and the mother of Orin! You've always schemed to steal my place!'03 - , so wie umgekehrt, nach der Heimkehr des Generals, die Tochter der Mutter in der verqueren Logik der Eifersucht vorwirft, sie begnüge sich nicht damit, ihren Gemahl zu betrügen, sondern wolle ihn nun auch noch der geliebten und treuen Tochter abspenstig machen. Lavinias hysterischer Ausbruch unter dem Schlafzimmerfenster der Eltern ist O'Neills direkte301

>The HuntedThe Family Reunion< nicht als philosophisch-theologische Allegorie, sondern als psychoanalytische Fallstudie über den Odipus-Komplex des Helden zu lesen. Dabei mag sich dann, gleichsam als >Drama hinter dem Dramas der pathologische Charakter der zentralen Figuren ergeben: »a frustrated possessiveness shows disconcertingly through the selflessness of her spiritual midwifery«, heißt es bei Roberts (S. 193) über Agatha, an Harry soll sich »the presence of Oedipal feelings« offenbaren (»it suggests that we are right to see his fear of being possessed and dominated by his mother as in part projection of his own frustrated Oedipal wish to possess and dominate her«, S. 197), ja, »the presence of unresolved elements in the author's material« soil »the validity of the whole spiritual pilgrimage« (S. 191) insgesamt in Zweifel ziehen usw. Aber gerade weil auktorial-intendierter und exegetisch postulierter »symptomatischer« Sinn hier ohne Vermittlung auseinanderklaffen, haftet dem Unternehmen doch auch ein Moment von Beliebigkeit und self-fulfilling prophecy an: Die Interpretation bestätigt dem Interpreten, was er ohnehin schon weiß (der Odipus-Komplex ist allgegenwärtig etc.), während sie ihn zwingt, die eigenen Sinnofferten des Textes beharrlich zu ignorieren oder für bloße >Tarnungen< zu halten. 3,3

Aus der sehr umfangreichen Sekundärliteratur vgl. bes. die ausführlichen Diskussionen 316

griechischer Tragödien auf die Herausarbeitung eines metaphysischen Krisen- und Bekehrungsschemas, sie sind hinter der Maske von Konversationsdramatik und von Elementen der drawing room comedy verborgene Wandlungs- und Läuterungsdramen, christliche Mysterienspiele vom Einbruch des Absoluten in eine beschränkte moderne Wirklichkeit. Bereits die keineswegs beliebige Auswahl der griechischen Modelle erweist sich durch diese leitende Intention bestimmt, denn Eliot wählt zur freien Transposition ausnahmslos Dramen mit der von Aristoteles so genannten μεταβολή εξ άτνχίας εις εντνχίαν»* also Werke mit versöhnlichem, untragischem Ausgang: So finden von Euripides nicht die großen Archetypen tragischer Zerrüttung und skeptischer Dezentrierung, nicht >MedeaDie TroerinnenHippolytos< oder >Die BakchenAlkestis< und >Ion< zwei der lyrisch-weichen und märchenhaft-melodramatischen Stoffe mit besonders ausgeprägten komödienhaften Einschlägen; aus der >Orestie< erweisen sich, im Gegensatz zu O'Neill, vor allem die >Eumeniden< unter Eliots Prämissen als brauchbar (und sie nicht, um, wie im Finale von >The HauntedKönig OdipusOdipus auf KolonosThe Elder Statesman and Eliot's >Programme for the Métier of PoetryMurder in the Cathedral· and, to a diminishing degree, of >The Family Reunions corresponds to the metaphorical, imagistic richness of the style of Aeschylus ; the extremely flat style of >The Confidential Clerk< and, to a less degree, of >The Cocktail Party« corresponds to the colloquial flatness of Euripides' dialogue. [...] Eliot's Greek model for >The Elder Statesman« was [...] Sophocles, and, of the three Greek tragedians, it is Sophocles who best renders the pure, imageless, non-metaphorical music of human intimacy. It is, therefore, harmonious with Eliot's whole development as a prosodist that he should have finally turned to Sophocles of the >Oedipus at Colonus«, where dramatic prosody reaches a peak of naturalness and flexibility.« 3X7

fassen, konzentriert sich Eliot jeweils auf solche Episoden der griechischen Originale, die sich seiner eigenen thematischen Intention fügen, sich christlich-spirituell überformen lassen: >The Family Reunions das mit der vom Autor selbst später als Fehler empfundenen szenischen Präsenz der aischyleischen Erinyen und ihrer Verwandlung in die (hier zu Harry/Orests »bright angels« werdenden) Eumeniden sein antikes Original am klarsten zu erkennen gibt, übersetzt den politischen Mythos des Aischylos von der Einsetzung des demokratischen Gerichtsprozesses und vom Freispruch des von den Furien gehetzten Muttermörders Orest in die metaphysische Variante des durch geistig-existentielle Selbstannahme und durch die symbolische Übernahme einer Familienschuld aus lastenden Gewissensnöten und einem umfassenden Realitätszweifel erlösten >Sünders< Harry. Dieser Hauptkonflikt ist mit einem - sehr frei aus umgruppierten aischyleischen Elementen und aus eigenen Erfindungen komponierten - Nebenkonflikt verknüpft, nämlich mit der in analytischer Technik eingefügten Vorgeschichte einer Liebes-und Schuldtragödie um die Gestalten einer modernen Klytämnestra ( A m y ) und Kassandra (Agatha), zwei Schwestern hier, die denselben Mann lieben, A m y s Gatten und Harrys Vater (Agamemnon), die durch diese Verstrickung aneinander schuldig werden und ihre Schuld auf sehr verschiedene Weise zu bewältigen suchen: durch ein Leben in meditativer Einsamkeit und in seherischer Anteilnahme an Harrys Geschick Agatha, durch Verleugnung, harte Selbstdisziplin und die Wahrung des gesellschaftlichen Scheins Amy, die schließlich, in Eliots sehr freier Metamorphose des mythischen Muttermordes, daran stirbt, daß Harry die Wahrheit über das Familienschicksal erfährt und das Haus in Wishwood für immer verläßt. Die drei späteren Dramen folgen mit entsprechend offenen Adaptionen: >The Cocktail Party< spiegelt den Alkestis-Mythos in ein zeitgenössisches Salon-Milieu der gehobenen Londoner Gesellschaft hinein, verdoppelt dabei aber die Rolle der Titelheldin und weist die beiden Manifestationen zwei scharf voneinander geschiedenen existentiellen Sphären zu. Die deutlichere Mythos-Reminiszenz findet sich dabei in der >niedrigerenPsychiaters< Sir Henry Harcourt-Reilly, jenes »Unidentified Guest«, der durch sein unmäßiges Trinken und scheinbar unmotiviertes Singen - der Song »Tooryooly toory-iley,/ What's the matter with One Eyed R i l e y ? « " 6 ist nicht zuletzt 536

>The Cocktail PartyThe Eider StatesmanThe Elder Statesman«, in denen die Sophokles-Parallelen noch deutlicher markiert waren, u.a. durch die Übernahme des mystischen Donnerschlags und das Ertönen geheimnisvoller Stimmen wie in der sophokleischen Tragödie.

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»In each play the stage becomes a dramatic world duplicating in its surface and hidden levels the natural and supernatural orders, and demonstrating the presence of both in human experience, a dramatic method appropriate to the theme of the individual who must exist in both planes at once. In addition, the hierarchy of the orders of being is duplicated in the hierarchy of awareness of the characters within each dramatic world. The penitent and the divine agents who assist him form the pinnacle of awareness in each play, with the other characters in a descending scale from that point.« Smith, T.S. Eliot's Dramatic Theory and Practice, S. 26Í. Sehr gute Bemerkungen auch bei Porter (Myth and Modern American Drama, S. 70), der unter Verweis auf Eliots >Idea of a Christian Society« von einer gnostischen Dreiteilung spricht: »The established hierarchy of this Christian society, based on knowledge, sets up three strata: the >ordinary< people, the spiritual elite who live in the world, the contemplatives who are called to a higher life and to greater union.«

321

PartyThe Confidential ClerkThe Eider Statesmannormalen< Figuren in verschiedenen Graden einer unerleuchteten Welt-und Wirklichkeitsverhaftung und spirituellen Verstocktheit. Auf der untersten Ebene dieser Heilsstufen-Pyramide - denn um nichts Geringeres geht es hier - besteht durchaus ein gewisser Variationsspielraum, auch akzentuiert Eliot in den einzelnen Stücken jeweils unterschiedlich: In >The Family Reunion< und in >The Eider StatesmanThe Family Reunions I/ 1 » S. 302. Ebd., I I / 1 , S.325. 352 In einer Besprechung des Stückes für die >New Y o r k Post< vom 12. März 1950 notiert William Carlos Williams humorvoll: »The cocktail party [...] you might say, is, darling, your life and mine. And there are two ways out - and it was very kind of Mr. Eliot to have provided them - the way of the Chamberlaynes and Celia's way. Without Celia and her heroism (a strange new note in Mr. Eliot's poems) the day-to-day solution by homely honesty could not have emerged quite as brilliantly as it did. But it was kind, I repeat, for Mr. Eliot to offer the poor married ones an escape also.« (Zit. nach Malamud, T.S. Eliot's Drama, S. 123). 351

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dein, haben in Reillys Schule gelernt, »[to] accept their destiny« 3 » und »[to] make the best of a bad job.«354 Nach der Lehre ihres Seelenführers »The best of a bad job is all any of us make of it - / Except of course, the saints - such as those who go/ To the sanatorium« 3 " - ist das das Maß an relativer Humanität, das sie innerhalb ihrer beschränkten und spirituell unerleuchteten Gesellschaftssphäre erreichen können. Ganz ohne abwertenden Unterton dann die Zeichnung der sozialen Welt in >The Confidential Clerkc Auch hier gilt die ontologische Scheidung zwischen profanem und sakralem Bereich unbedingt, erreicht Colby ein Niveau an Spiritualität, das den anderen Personen verschlossen bleibt und das ihn zum Aufbruch aus ihrer Gemeinschaft zwingt. Aber zwischen allen Protagonisten herrschen Freundlichkeit und menschliches Einvernehmen, und auch so weltliche Figuren wie Sir Claude (in seiner Liebe zur Kunst der Töpferei) oder Lady Elizabeth (in ihren esoterischen Neigungen) sind zumindest von der vagen Ahnung eines Anderen, Höheren gestreift. 3 ' 6 Die Zwischenregion dieses Heilsstufen-Schemas, die vor allem in >The Family Reunion< und >The Cocktail Party< schärfer ausgeprägt und mit einer Aura des religiösen Geheimnisses umkleidet ist, bildet, in den Worten Agatha/Kassandras, der Seherin, ein »neutral territory/ Between the two worlds«. 357 Die dieser Zone zugehörigen Figuren (sie weisen große Ähnlichkeit auf mit dem in Eliots Programmschrift >The Idea of a Christian Society< von 1940 beschriebenen mittleren Stand aktiv in der Gesellschaft lebender und als christliches Ferment in ihr wirkender Weltgeistlicher, der sog. »clerisy« 3 ' 8 ) sind »only watchers and waiters: not the easiest rôle«. 3 " 3Í3

>The Cocktail Partys Act T w o , S.422. Ebd., S.410. 3 » Ebd. 356 Dickinson (Myth on the Modern Stage, S. 216) spricht von einer »elaborate analogy between art and religion« und interpretiert »Sir Claude's contemplation of pottery and Colby's love of music« als »metaphors for that which Eliot will not name directly: the longing for genuine religious experience.« Chiari (T.S. Eliot, S. 138) geht dagegen von einem Rangunterschied zwischen Kunst und Religion aus: »Art is more accessible than religion, and though it has had its monks and its martyrs, it neither requires the asceticism and sacrifices of religion, nor can it offer the same type of beatitude.« 3!4

357 3,8

3

>The Family Reunions H/3, S. 343. Porter (Myth and Modern American Drama, S. 70) faßt diese Vision Eliots bündig so zusammen: »Within this [Christian] society [...] there must exist an inner circle that is responsible for the creation and preservation of such a code. These selectmen are the >clerisyThe Cocktail Partys Act T w o , bes. S . 4 1 2 - 4 2 3 . 393 Ebd., S . 4 1 3 . 394 Ebd. 395 Ebd., S.414. 396 Ebd., S . 4 1 7 . 397 Vgl. >The Confidential Clerks Act Three, bes. S. 5 1 3 - 5 1 9 . 398 Ebd., S. 516. 395 Vgl. >The Elder Statesman, Act Three, S. ^ t í . 400 »I feel at peace now./ It is the peace that ensues upon contrition/ When contrition ensues upon the knowledge of truth.« (>The Elder Statesman^ Act Three, S. 581). 401 »I've only just now had the illumination/ Of knowing what love is. [...] I have been brushed by the wing of happiness.« (Ebd., S. 581).

33°

mehr integrierbare Akzentuierung christlich-theologischer Glaubenssätze und Leitvokabeln (sin, curse, pilgrimage, confession, expiation, expurgation, election, redemption, liberation, absolution, salvation, peace, love, etc.), die den Stücken einen stark predigthaften Zug und ihrer Handlung ein Element des Allegorisch-Illustrativen und der mühsam in szenische Dialoge überführten dogmatischen Deduktion verleiht. Wo der protophilosophische Diskurs der griechischen Tragödie seine Vielschichtigkeit (und das bedeutet: seinen intellektuellen >StachelRätselcleansing< of violent emotions. Plato, appreciating the subversive implications of Greek tragedy, was in this respect the more sensitive critic.« (S.41).

331

Auch das Elitäre und Privilegierte dieser geistig-geistlichen Konversionen und ihrer Zuweisung an einsame, sozial exzentrische Helden kommt in diesem Sinne keineswegs einer Marginalisierung der Protagonisten oder einer Relativierung ihrer spirituellen Position gleich, vielmehr entspringt gerade dieser Exklusivismus des Heils einer auktorialen Strategie, die den besonderen Allgemeinheits- und Verbindlichkeitsanspruch der Harry und Celia, Colby und Ciaverton zuteilwerdenden Wahrheit zu formulieren sucht und ihre höherrangige Ordnung, ja ihre absolute Geltung gegen die gemeine Empirie, die routinierte >Normalität< und das vordergründig-mehrheitsfähige Wirklichkeitsverhältnis der vielen geistig Unerweckten zur Geltung zu bringen strebt: »In a world of fugitives/ The person taking the opposite direction/ Will appear to run away«,403 bringt Harry in >The Family Reunion< diese Dialektik des elitär-minoritären Rechtbehaltens auf den Begriff, oder er hält seinen Gegenspielern vor: »What you call the normal/ Is merely the unreal and the unimportant«.404 Daß ihre Protagonisten zwar soziale Außenseiter sind, zugleich jedoch eine Position von unzweifelhafter spiritueller Überlegenheit vertreten und ein Charisma der >Heiligkeit< erreichen, während die vielen Repräsentanten der >Normalität< in einer nur ihnen selbst unsichtbaren, für die Zuschauer aber evidenten Geistesblindheit verharren - das macht die normative Asymmetrie und den semantischen Chiasmus hinter Eliots christlichexistentialistischen Antikentransformationen aus,405 und es bestimmt zugleich ihr persuasives Kalkül: Werkimmanent ist der Durchbruch in die »real world« einer metaphysischen Wahrheitssphäre jeweils nur einer singulären Figur und ihrer existentiellen Entscheidung (»choice«) vorbehalten, aber dem Leser oder Zuschauer (sofern er sich auf den gedanklichen Rahmen dieser geistlichen Spiele überhaupt einläßt und ihre Zwei-Welten-Lehre nicht von vornherein in einer petitio principii zurückweist) bleibt angesichts der überwältigenden Einseitigkeit in der Verteilung der Wahrheitsgewichte nicht seinerseits die Wahl - er kann und soll sich allein mit den Protagonisten identifizieren und wird zu ihrer imitatio genötigt: In diesem Sinne zumindest wollen Eliots spirituelle Außenseiter Jedermann heißen. 4

°' >The Family Reunions Π/2, S. 338. Ebd., II/i, S. 326. 4 s ° Von den »Manichean and/or gnostic tendencies« dieser >Theologie< spricht zutreffend Porter (Myth and Modern American Drama, S. 71): »The Guardians (and presumably Celia after her conversion) perceive the full meaning of situations and live the complete Christian life. The ordinary members only redeem the time in a more or less golden mediocrity. Whether or not this position has theological validity, its inclusion in the play [>The Cocktail Party«] has a dramatic effect that is worth noting.« 404

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III. »Une véritable œdipémie«: Neoklassizismus und ironische Modernität in französischen Tragödienvariationen der zwanziger bis vierziger Jahre

Mit Vorläufern seit der Jahrhundertwende und mit verspäteten Ausläufern bis in die achtziger Jahre, in ihrer kreativen άκμή jedoch unbestreitbar als eine Bewegung der Zwischenkriegszeit und der Ära des Zweiten Weltkrieges entsteht in Frankreich eine Gruppe von Mythendramen nach griechischen Sujets, die man zu den bedeutendsten und charakteristischsten Werken dieses produktiven Rezeptionstypus in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt rechnen muß. In außerordentlich dichter zeitlicher Folge und in unverkennbarer wechselseitiger Kenntnisnahme und Beeinflussung der maßgeblichen Autoren - unter ihnen André Gide und Jean Cocteau, Henry de Montherlant und Jean Giraudoux, Jean Anouilh, Jean-Paul Sartre und eine Vielzahl von poetae minores kommt es dabei zur Ausbildung einer dezidiert ironischen und in ihrem Gestus gegenüber den bearbeiteten antiken Tragödien-Prätexten prononciert modernistischen écriture dramatique, die über alle Heterogenität der Gehalte und über alle Differenzen der philosophisch-weltanschaulichen Orientierungen hinaus vielfältige Züge nicht lediglich eines modischen literarischen Idioms oder - mit einem durch Jean Cocteau überlieferten geistreichen Wortspiel André Gides - einer »véritable œdipémie«1 trägt, sondern geradezu die Merkmale eines spezifischen National- und Zeitstils aufweist, wie er in dieser Prägnanz im Textkorpus des modernen, d.h. nachklassischen Mythendramas ohne Vergleich dasteht.2 Mögen 1 2

Vgl. Jean Cocteau: Poésie critique, Paris 1959, Bd. 1, S. 2 1 1 . Unter den Studien, die diesen nationalen Typus im Uberblick zu erfassen suchen, ragt nach analytischer Unterscheidungskraft heraus: P.J. Conradie: The Treatment of Greek Myths in Modern French Drama. A Study of the >Classical< Plays of Anouilh, Cocteau, Giraudoux and Sartre. In: Annale Universiteit van Stellenbosch, Vol. 29, Serie Β, N o . 2 (196}), S. 23-100. Vgl. ferner, in chronologischer Folge und mit ganz unterschiedlichen Wertungen: François Jouan: Le retour au mythe grec dans le théâtre français contemporain. In: Bulletin de l'Association Guillaume Budé, Paris 1952, S. 62-79; E. Ludovicy: Le mythe grec dans le théâtre français contemporain. In: Revue des langues vivantes 22 (1956), S. 387-418; Daniel Anet: D u Sacré au Profane, du Logique à l'Absurde, de la Fatalité au Hasard: Sophocle, Euripide, Racine, Giraudoux, Gide, Cocteau, Anouilh, Genève i960 (heftige, grandios-rhetorische Polemik aus katholisch-fundamentalistischer Perspektive); Wallace Fowlie: Dionysus in Paris: A Guide to Contemporary Theater, N e w Y o r k i960; Pat G . Hastings: Symbolism in the Adaptations of Greek Myth by Modern

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auch andere epochale Richtungen im modernen Drama der mythischen Methode immer wieder stilistische, strukturelle oder semantisch-thematische Gemeinsamkeiten an den Tag legen, die sie als relativ homogene Gruppen erscheinen lassen, so erweckt doch keine andere Spielart der modernen Tragödientransformation einen Eindruck vergleichbarer Familien· oder Verwandtschaftsähnlichkeit wie eben die >Schule< der französischen Mythendramatik in ihrer ausgeprägten nationalen Eigensprachlichkeit. Ungeachtet einer immensen Spannbreite intellektueller Uberzeugungen zwischen Autoren aus ganz unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Lagern scheinen die Werke dieser Gruppe einander nahezustehen durch eine vorgängige Einheit des >TonsEsprit< ironischer Rationalität und einen Urbanen Zug geschliffener Eloquenz, deren von keiner Sprachskepsis angekränkeltes Artikulationsvermögen in seiner Wortverliebtheit und rhetorischen Brillanz in vieler Hinsicht neoklassizistisch anmutet. Dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr, denn wie wir sehen werden, verdanken die Werke dieser Richtung ihre relative Stileinheit und ihren unverwechselbaren künstlerischen Idiolekt nicht allein der direkten Anregung, Verständigung, Konkurrenz unter gleichzeitig lebenden und im selben künstlerischen und mondänen Ambiente der Metropole Paris arbeitenden, für dieselben Schauspieler und Regisseure schreibenden, in ihren Arbeiten aufeinander reagierenden Autoren, sondern ebensosehr einer nachhaltigen Prägung durch ein- und dieselbe literarisch-kulturelle Tradition: durch die nach wie vor bedeutende Strahlkraft und die >Modernität< des siècle classique4 und insbesondere der tragédie

3

4

French Dramatists. In: Nottingham French Studies ΙΙ/ι (1963), S. 25-34; Jacqueline D u chemin: Les survivances des mythes antiques dans le théâtre français. In: Bulletin de l'Association Guillaume Budé, Paris 1964, S. 75-103; Pierre Albouy: Mythes et mythologies dans la littérature française, Paris 1969, bes. S. I26ff. (sehr kenntnisreiche Gesamtübersicht); Marc Eli Blanchard: The Reverse View: Greece and Greek Myths in Modern French Theater. In: Modern Drama XXIX/1 (1986), S. 41-48. - Daneben liegt eine große Fülle von Einzeluntersuchungen vor. Derselbe Eindruck bei Albouy, Mythes et mythologies dans la littérature française, der in dem Abschnitt über »Les mythes antiques dans le théâtre français de Jean Cocteau à Jean Anouilh« zu dem Fazit gelangt: »Ces oeuvres reflètent assurément les différences considérables qui distinguent leurs auteurs [...]. Cependant, on ne peut qu'être frappé par l'identité des caractères propres à toutes ces pièces, tant dans leur forme que dans leur visée.« Ebd., S. 127. Zu den hier gegebenen >modernen< Anknüpfungsmöglichkeiten siehe grundsätzlich Karlheinz Stierle: Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil. In: Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei, hrsg. von Fritz Nies und Karlheinz Stierle, München 1985 (= Romanistisches Kolloquium Bd. 3),

334

classique des 17. und 18. Jahrhunderts in ihrer eigenen Auseinandersetzung mit den Modellen der griechischen (und senecaischen) Tragödie.5 Hinzu kommt, als mentalitätsgeschichtliche Rahmenbedingung, ein höheres Bildungssystem, das antike Texte privilegierte und - fast im Sinne einer translatio-studii-Theorie - Frankreichs >Latinität< als >Vollendung der Antike< propagierte; die Kenntnis der griechischen und römischen Schriftsteller, durch ausgezeichnete zweisprachige Ausgaben gefördert, bildet eine Konstante im gemeinsamen Erwartungs- und Verstehenshorizont der französischen Mythendramatiker wie ihres Publikums. Die folgenden Studien suchen dieser Uberlagerung der Bezüge Rechnung zu tragen und die mehrfach geschichtete Intertextualität einer eindrucksvollen Serie moderner Antikenvariationen herauszuarbeiten, die neben ihrem manifesten Bezug auf griechische Prätexte auch einen - in Anlehnung wie Abstoßung gleich produktiven - Dialog mit Vorgängertexten aus dem eigenen nationalliterarischen Kanon unterhalten. Diesem Interesse für die Eigenart eines künstlerischen Idiolekts in seiner charakteristischen Grundspannung zwischen neoklassizistischer Traditionsbindung und ironischer Modernität entsprechend, ist Beobachtungen zur Schreibweise und zur selbstreflexiven Dramaturgie der französischen Mythendramen an jeweils besonders sprechenden Beispielen breiter Raum gegeben. Aus der Profilierung eines intellektuellen Form- und Stiltypus in seinem spezifischen Kunstcharakter, seiner >LiterarizitätAlterität< der Moderne

Von eminenter Bedeutung für den betont technisch-dramaturgischen Charakter der französischen Tragödientransformationen ist ein bei der ersten Annäherung an die Texte dieser >Schule< alsbald augenfälliges Bearbeitungsmoment, in dem die Absicht einer modernistischen relecture vorgegebener antiker Konfigurationen gleichsam meßbare Gestalt annimmt: der Eingriff in die absoluten Größenverhältnisse und in die relativen internen Proportionen der antiken Prätexte im ganzen wie ihrer Episoden und Sequenzen im einzelnen. Hier fungieren quantitative Verfahren der reductio bzw. der amplificatio - und diese keineswegs als einander ausschließende Gegensätze, vielmehr häufig in enger Verschränkung innerhalb desselben Textes - als Vehikel tiefgreifender Bedeutungsverschiebungen, tragen Aussparungen und Verknappungen einerseits, Erweiterungen, Dehnungen oder neuerfundene Zusatzhandlungen andererseits zur Umakzentuierung oder Neuperspektivierung der übernommenen Figuren- und Konfliktkonstellationen bei. In diesen intertextuellen Operationen, die sich bei allen bedeutenden Dramatikern der französischen >Schule< mit wechselnder Betonung auf sprachlich-stilistischen oder auf thematisch-inhaltlichen Veränderungen finden und die unverkennbar durch vergleichbare (vor allem handlungserweiternde) Verfahren der tragédie classique beeinflußt sind, gerinnt die kulturelle Alterität von Antike und Moderne selbst zur dramatischen Form. Oder anders: Die dramatische Form wird Medium, Signal und Gradmesser einer fundamentalen historischen Differenz, und in der Auslotung dieser Differenz wird sie reflexiv und ironisch.

i.i

»de grandes beautés disparaissent, d'autres surgissent«: Strategien >moderner< Versachlichung und Pathosreduktion

i . i . i »faire vivre les vieux chefs-d'œuvre«: Jean Cocteaus Sophokles->Kontraktionen< in >Antigone< und >Œdipe-Roi< Revitalisierung durch Beschleunigung Ein frühes und besonders >reines< Beispiel solcher Antikentransformation auf dem Wege stilistischer Revision stellen zwei konzise Sophokles-Variationen Jean Cocteaus dar: seine >Antigone d'après Sophocle< von 1922 und ein 1925 geschriebener, aber erst 1937 uraufgeführter >Œdipe-Roi. Adap-

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tation libre d'après SophocleLa Machine infernales werden zitiert nach dem Abdruck in: Œuvres complètes de Jean Cocteau, Bd. V, Genève: Marguerat, 1950 (>Antigone< ebd. S. 137-179, >Œdipe-Roi< ebd. S.99-135, >La Machine infernale< ebd., S. 181-343). Besonders die Liste der Mitwirkenden an der Pariser Uraufführung von >Antigone< am 20. Dezember 1922 im Théâtre de l'Atelier liest sich wie ein Auszug aus dem >Who's Who< der zeitgenössischen Pariser Kunstszene: Neben Gènica Atanasiou als Antigone spielten Charles Dullin, der auch Regie führte, den Créon, Antonin Artaud den Tirésias, Jean Cocteau selbst sprach den >ChorLa Jeunesse et le Scandale< vom 27. Februar 1925 (hier zit. nach Œuvres complètes, Bd. IX, S. 307-345), der einen anekdotenreichen Rückblick auf die Aufführung und die sie begleitenden Skandale gibt, erklärt Cocteau augenzwinkernd, er habe »désiré, pour vêtir mes princesses, Mlle Chanel parce qu'elle est notre première couturière et que je n'imagine pas les filles d'Œdipe s'habillant chez une petite couturière. J'avais moi-même choisi de grosses laines d'Ecosse et Mlle Chanel avec un instinct magistral retrouva sans calcul des accoutrements si justes que >Le Correspondant consacra un article à l'exactitude de ces costumes, entre nous admirablement inexacts.« (Ebd., S. 320). Nach Francis Steegmuller (A propos de l'>Antigone< de Cocteau. In: Cocteau et les mythes. Textes réunis par Jean-Jacques Kihm et Michel Décaudin, La Revue des Lettres Modernes No. 298-303, 1972, S. 167-172) wurde die Inszenierung (mit 200 Aufführungen in Folge ein zeitgenössischer Rekord) zum gesellschaftlichen Ereignis, was der Regisseur, Charles Dullin, in erster Linie mit dem Prestige der beteiligten Künstler erklärte: »Beaucoup de personnalités mondaines étaient venues spécialement pour Chanel, Picasso, Cocteau. Sophocle, mon Dieu! n'était pour elles qu'un prétexte.« (Ebd., S. 171). 7 In >La Jeunesse et le Scandales ebd., umschreibt Cocteau das Verhältnis von Original und Bearbeitung durch den Vergleich zwischen einem Ölgemälde und einer danach gefertigten Federzeichnung: »II est donc bien entendu que mon texte est un dessin à la plume d'après une toile de maître, qu'il n'en reste que l'essentiel, mais que cet essentiel c'est le texte de Sophocle sans aucune transformation.« 8 So im Vorspann zu >Antigone< mit programmatischer Gegenüberstellung der jeweils ihrer Zeit gemäßen Aufführungen in Athen und Paris als den Kapitalen der Antike und der Moderne: »ANTIGONE fut créée à Athènes en 440. Cette contraction a été représentée à l'Atelier, le 20 décembre 1922.« - Cocteaus Begriff der contraction entspricht in Genettes Nomenklatur intertextueller Verfahrensweisen sehr genau das Bearbeitungsprinzip der »concision, qui se donne pour règle d'abréger un texte sans en supprimer aucune partie thématiquement significative, mais en le récrivant dans un style plus concis, et donc en produisant à nouveaux frais un nouveau texte, qui peut à la limite ne plus conserver un seul mot du texte original.« (Genette, Palimpsestes, S. 271). Tatsächlich illustriert Genette seinen Typus am Beispiel von Cocteaus >AntigoneAntigone< (Vs. 332-375), πολλά τα όεινά, mit seiner Umschreibung der tragischen Größe, Gefährdung und ungeheuerlichen Ambivalenz des Gattungssubjekts >Mensch< und seiner kulturellen Errungenschaften,9 aus dieser durch den sophokleischen Chor in kühnen Gleichnissen ausgeführten summa conditionis humanae wird bei Cocteau die durch einen (noch immer »Le Choeur« genannten, aber im Bühnenuntergrund verborgenen) anonymen Einzelsprecher10 - »Le chœur et le coryphée se résument en une voix qui parle très haut et très vite comme si elle lisait un article de journal. Cette voix sort d'un trou, au centre du décor«11 - im indifferenten Ansagerstil und auf rhetorischer Schwundstufe vorgetragene Diagnose: L ' h o m m e est i n o u ï . L ' h o m m e n a v i g u e , l ' h o m m e l a b o u r e , l ' h o m m e chasse, l ' h o m m e pêche. Il d o m p t e les c h e v a u x . Il pense. Il parle. Il invente des c o d e s , il se c h a u f f e et il c o u v r e sa m a i s o n . Il é c h a p p e aux maladies. L a m o r t est la seule m a l a d i e q u ' i l ne guérisse pas. Il f a i t le bien et le mal. Il est u n b r a v e h o m m e s'il é c o u t e les lois d u ciel et de la terre, mais il cesse de l'être s'il ne les é c o u t e plus. Q u e jamais u n criminel n e soit m o n h ô t e . 1 2

In ähnlich prosaischen Ellipsen und immer in gefährlicher Gratwanderung am Rande sprachlicher Trivialität (»Dieux, quel prodige étrange. ' Vgl. Hermann Gundert: Größe und Gefährdung des Menschen. Ein sophokleisches Chorlied und seine Stellung im Drama (Sophokles, >Antigone< 332-375). In: Antike und Abendland X X I I (1976), S. 2 1 - 3 9 , u r ) d Charles Segal: Sophocles' Praise of Man and the Conflicts of the >AntigoneLa Jeunesse et le ScandaleAntigoneŒdipe-Roi< von 1937 im Nouveau Théâtre Antoine vgl. Toni W. Andrus: Oedipus Revisited: Cocteau's >Poésie de théâtres In: French Review 48 (1975), S. 723-728, mit aufschlußreichen Bemerkungen besonders über die Behandlung von Bühnenbild und >ChorAntigoneAbstracts< referieren, und nicht minder werden die Berichtsteile und Redeagone, ja selbst die Stichomythien der Vorlagen einer rigiden Kompression unterzogen, 14 die sie jeglichen rhetorischen Ornats entkleidet, um den Text in das gehetzte Secco eines außerordentlich raschen, aber auch eigentümlich automatisch und >maschinell< wirkenden verbalen Schlagabtauschs' 5 hineinzutreiben, in das sprachliche Pendant zu der gleichfalls angestrebten »extrême vitesse de l'action«.' 6 Ein Beispiel dieser anti-sentimentalistischen Ausdünnungs- und Beschleunigungstechnik es ist ein Beispiel für beliebig viele andere, weil wir es hier mit dem zentralen Kompositionsprinzip der Cocteauschen Revisionen zu tun haben bietet die Wiedergabe des sophokleischen >AntigoneAntigoneBut... she was not guiltyLa Jeunesse et le Scandales S. 322, w o es etwas abweichend heißt: »Une fois, lorsque Antigone marche au supplice, c'est nous qui faillîmes rire, car une femme du peuple dit tout haut: >Oh! la pauvre petite!««.

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και νυν τί τοϋΫ αύ φασι πανδήμφ πάλει κήρυγμα ϋεϊναι τον στρατηγό ν άρτίως; προς τους φίλους ατείχοντα των έγβρών κακά-, (ANTIGONE: Gemeinsames, der eignen Schwester, o Ismenes Haupt! Weißt du eins der von Odipus entsprungenen Leiden, Das Zeus uns nicht in unserm Leben noch erfüllt? D a ist nichts Schmerzliches, nichts ohne Unheil, Nicht Schande noch Entehrung, die ich nicht In deinem und in meinem Unglück hab gesehn. U n d nun - welch ein Gebot, sagt man, hat da der Feldherr wieder Jüngst kundgegeben allem Volk der Stadt? Weißt du es? hörtest du es? Oder blieb dir fern, Wie auf die Freunde Unheil zukommt von den Feinden? 1 7 ) - ,

reduziert Cocteau diese pathetische Introduktion mit ihren schweren heroischen Epitheta (wie dem von Hölderlin noch mit der extremen Fügung »Gemeinsamschwesterliches! O Ismenes Haupt!« übersetzten ~Ω κοινόν αύτάόελφον 'Ισμήνης κάρα des Eingangsverses) auf die spröde und betont affektneutrale Trias je eines Frage-, Aussage-und Befehlssatzes: A N T I G O N E : Ismène, ma sœur, connais-tu un seul fléau de l'héritage d'Œdipe que Jupiter nous épargne? Eh bien, je t'en annonce un autre. Devine la honte que nos ennemis préparent contre nous.' 8

Nicht anders (und darin völlig typisch für den Text insgesamt) die planmäßige, Vers für Vers des Prätextes erfassende Verknappung in der nachfolgenden Wechselrede der Geschwister: Wo Sophokles das Versschema des jambischen Trimeters erfüllt ΙΣΜΗΝΗ: τί δ', ώ ταλαϊφρον, ει τάδ' εν τούτοις, εγώ λύονσ1 âv εϊϋ' απτουσα προσϋείμην πλέον; ΑΝΤΙΓΟΝΗ: εί ξυμπονήσεις καΐ ξννεργάση σκόπει. ΙΣΜΗΝΗ: ποιόν τι κινόύνευμα; ποϋ γνώμης ποτ? εί; ΑΝΤΙΓΟΝΗ: εί τον νεκρόν ξύν τη δ ε κουφιεϊς χερί. (ISMENE: Was, du Unglückselige, wenn dem so ist, könnte ich, lösend oder knüpfend dazu tun? A N T I G O N E : O b du die Mühe mit mir teilen und mithelfen willst, sieh zu. ISMENE: Was f ü r ein riskantes Stück? Wohin in deinem Denken nur gehst du? A N T I G O N E : O b du den Toten zusammen mit dieser Hand aufhebst! 1 ') - ,

da kondensiert Cocteau denselben Wortwechsel auf das Stakkato stenographischer Kürzel: 17 18 19

Sophokles, >AntigoneAntigoneAntigoneAntigoneAntigoneLa Jeunesse et le Scandalec »J'étais agacé par le machinisme d'avant-garde. J'avais voulu démontrer que la nouveauté ne consiste pas à parler de N e w Y o r k et que n'importe quel chef-d'œuvre ancien pouvait reprendre une incroyable jeunesse entre les mains d'un artiste à qui les machines, au lieu de l'éblouir comme un nègre, ont servi d'exemple. Il s'agissait d'ôter la matière morte à quoi les siècles amènent toujours une partie des chefs-d'oeuvre et, sans dénaturer un seul mot, d'adapter >Antigone< au rythme contemporain. Notre vitesse, notre patience ne sont pas celles d'Athènes en 440 avant Jésus-Christ. C'est donc fausser le sens de la tragédie que de la dérouler intacte devant des nerfs de 1923. C'est, je trouve, la servir que de lui restituer avec amour sa 341

einer ihrer vermeintlichen klassizistischen Renaissancen sein. Der hier eingenommene ferne Blick von oben - und natürlich ist das kartographische Bild zuallererst eine legitimierende Chiffre für das eigene distanziert-minimalistische >UbersetzungsAlteritätAntigoneJournal< vom 16. Januar 1923: »Été hier au Vieux-Colombier où la troupe de Dullin donnait l'>Antigonela dame de Sophoclebersaglier< italien.« In unmittelbarem Anschluß der schöne, noch ganz durch den Arger über Cocteaus ungestüme Sophokles-Modernisierung inspirierte Aphorismus Gides: »La patine est la récompense des chefs-d'œuvre.« André Gide: Journal 1889-1939, Paris 1939, S. 754. - Cocteau seinerseits nennt in einem Artikel (»A propos d'>AntigoneGazette des 7 arts< vom 10. Februar 1923 als Ziel seiner contraction die Freilegung »[d'] une jeunesse que la patine recouvre mais qui ne se fane jamais«. (Zit. bei Andrus, Oedipus Revisited, S. 722). Wie sehr Gides Vorwurf Cocteau traf, zeigt sich an weiteren Repliken, in denen er sich für die >Entfernung der Patina< des alten Werkes rechtfertigt; am ausführlichsten in >La Jeunesse et le Scandales wo es heißt: »>La patine - m'écrivait Gide - c'est la récompense des chefs-d'œuvreLettre à Jacques Maritains Bd. IX, S. 301). 343

Konsequent bemüht sich Cocteau in seinen eigenen Tragödientransformationen - und hier neben den frühen contractions besonders in der großen Odipus-Variation von >La Machine infernale< - , das theoretische Programm einer konstruktivistischen Restauration berühmter antiker Texte einzulösen. Moderne Rationalität soll sich der überlieferten mythischen Konstellationen und Abläufe annehmen und, unter Zurückdrängung rhetorischer, emotionaler oder psychologischer Wirkungsquanten, die präzise und unerbittliche Logik ihres Funktionierens in gleichsam behaviouristischer Außensicht demonstrieren. So fordert der Prolog-Sprecher der >OdipusschönesLa Machine infernales Ansage zum ι. Akt, S. 190.

344

1.1.2 »c'est à votre intelligence que je m'adresse«: Affektreduktion und »exclusion de toute image« in André Gides >Œdipe< Eine vergleichbare Logik der intelligenten Reduktion und der Eliminierung affektiv-tragischer Wirkungen begegnet in André Gides >Œdipe< von 1930, 32 und auch hier ist sie die direkte Folge des groß herausgestellten Epochenabstandes von Antike und Moderne. Tatsächlich findet sogar Cocteaus geschichtshermeneutisches Fluggleichnis in Gides Drama eine überraschende Parallele, dort nämlich, wo, an einer Schlüsselstelle des Dramas gegen Ende des zweiten Aktes, der Held Œdipe den Söhnen Etéocle und Polynice in einer »véritable profession de foi« 33 von seiner Lösung des Sphinx-Rätsels mit Hilfe des einzigen für ihn (gegenüber jedwedem Problem!) überhaupt denkbaren Losungswortes: »l'Homme«, erzählt - »ma force est que je n'admettais pas d'autre réponse, à quelle que pût être la question«34 - und dieses Bekenntnis zur autonomen Verantwortlichkeit des je einzelnen mündigen Subjekts 3 ' mit einer weit in die Zukunft reichenden Vision künftiger Menschheitsfortschritte verbindet. Eben noch hatte der Vater seine bis zum Immoralismus aufgeklärten Söhne bei ihren narzißtisch-intellektuellen Dialogen über die hohe Stufe der gegenwärtig erreichten Kultur (und über die Rechtfertigung des Verlangens, mit ihrer Schwester Ismène zu schlafen) belauscht - »Dans l'état de civilisation avancée où nous sommes, et depuis que le dernier sphinx a été tué par notre père, les monstres ni les dieux ne sont plus parmi les airs ou

32

Textzitate nach: Le Théâtre complet de André Gide, Neuchâtel et Paris: Ides et Calendes, O.J. (>Œdipe< ebd., S. 5 7 - 1 1 1 ) . Das im November 1930 abgeschlossene Stück erschien 1931 im Druck und erlebte in der Regie von Georges Pitoëff am 18. Februar 1932 seine Uraufführung am Pariser Théâtre de l'Avenue; die von Gide besuchte und im >Journal< sehr gelobte deutsche Erstaufführung fand, nach der deutschen Ubersetzung von Ernst Robert Curtius und in der Regie des Max Reinhardt-Schülers Gustav Härtung, im Mai und Juni 1932 in Darmstadt statt. - Die maßgebliche Studie zu Gides dramatischem Werk ist die umfassende zweibändige Monographie von Jean Claude: André Gide et le théâtre, Paris: Gallimard, 1992; dort auch ausführliche Informationen zur Entstehungsund Aufführungsgeschichte (Bd. I, S. I2iff.). Uber Gides produktive Rezeption griechischer Stoffe vgl. grundlegend Helen Watson-Williams: André Gide and the Greek Myth. A Critical Study, Oxford 1967 (über >Œdipe< ebd., Kap. 6: »The Hero and Humanity«).

33

Claude, ebd., S. 31, mit dem Zusatz: »c'est le seul mot de passe parce que c'est le seul but à atteindre, la seul valeur véritable. Les majuscules ont leur importance: celles du terme >Homme< à deux reprises, celle du pronom Soi'.« 34 Gide, >ŒdipeŒdipeArchetextes< diesem als sein modernes Gegenstück an die Seite treten und neben ihm in einem Verhältnis weniger der individuellen literarischen Konkurrenz (»je ne me pose pas en rival«) als vielmehr der historischen Komplementarität (»je prétends vous laisser voir l'envers du décor«) bestehen könnte. Dem griechischen Tragiker sind dabei die großen affektiven Wirkungen von vornherein als das Ressort zugestanden, in dem er unübertrefflich exzelliert; man beachte die gewisse Gönnerhaftigkeit 41

42 4)

Claude Martin (Gide, Cocteau, Œdipe. Le mythe ou le complexe. In: Cocteau et les mythes. Textes réunis par Jean-Jacques Kihm et Michel Décaudin, La Revue des Lettres Modernes No. 298-303, 1972, S. 143-165, hier S. 160) formuliert bündig: »Pour Gide, le mythe est une explication, la mise en images d'une hypothèse interprétative rationnelle sur l'existence humaine; le mythe est anti-mystique, il annule le mystère. Il simplifie, c'est-à-dire qu'il résume et clarifie des attitudes diverses [...].« Gide, >Journal< (1933), S. 1150. Ebd., S . i i j o f . 348

der Formulierung »je lui laisse le pathétique«! Wo aber die antike Tragödie auf die überwältigende »émotion« des Publikums, auf Affekterregung und psychische Erschütterung zielt (»vous faire frémir ou pleurer«), da verzichtet das moderne Odipus-Drama - das bei Gide unter Umgehung des Tragödien-Titels ganz bewußt die Gattungsbezeichnung »Drame en trois actes« trägt - aus freien Stücken auf ελεος und φόβος, um sich statt dessen in entschiedener Zerebralität an die »intelligence« seiner Zuschauer zu wenden44 und sie zur Teilnahme am >Ideenkampf< der Protagonisten zu bewegen (»vous faire réfléchir«). Zu diesem Zweck sind auch »Plaisanterien« und »Trivialitäten«, sind komische Effekte, Illusionsdurchbrechungen und alle anderen Schlacken (»scories«) einer nicht mehr klassizistisch-homogenen, sondern modernistisch gebrochenen Schreibweise willkommen, vorausgesetzt nur, sie vermögen das Publikum an einer zu starken affektiven Identifikation mit den Bühnenvorgängen zu verhindern und sein Nachdenken zu stimulieren. Eine >JournalŒdipePhilosophieträchtigkeit< des antiken Mythos 46 das eigentliche Reservat der Moderne bilden 44

Wolfgang Theile: Stoffgeschichte und Poetik. Literarischer Vergleich von Ödipus-Dramen (Sophokles, Corneille, Gide). In: arcadia 10 (1975), S. 3 4 - 5 1 , hier S. 43, betont richtig, »daß Gide selbst die Geschichtlichkeit seiner Ödipus-Bearbeitung sehr deutlich vor Augen hatte, deren wirkungspoetische Aktualität, gegenüber griechisch-sophokleischer Katharsis, er im intellektuellen Appell an den zeitgenössischen Zuschauer sah.«

45

Gide, >Journal< (1932), S. 1129. Schon in seinen fragmentarischen Considérations sur la mythologie grecque< von 1919 (zit. nach André Gide: Incidences, Paris: Gallimard, 1 9 5 1 , S. 1 2 5 - 1 3 0 , hier S. 126) hatte Gide den Akzent sehr einseitig auf die Vernunftnähe des griechischen Mythos gelegt »Et pourtant chaque mythe, c'est à la raison d'abord et seulement qu'il s'adresse, et l'on n'a rien compris à ce mythe tant que ne l'admet pas d'abord la raison« - und diese Rationalität gegen die intelligenzfeindlichen Zumutungen der christlichen Lehre ausgespielt: »La fable grecque est essentiellement raisonnable, et c'est pourquoi l'on peut, sans impiété chrétienne, dire qu'il est plus facile d'y croire qu'à la doctrine de saint Paul, dont le propre est précisément de soumettre, supplanter, >abêtir< et assermenter la raison.« Hier deuten sich schon zentrale thematische Oppositionen auch des >Œdipe< an. - Sehr kritische Bemerkungen über Gides Mythologie-Essay als »un texte faiblement pensé« bei Gabriel

46

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sollen (»voici ce qui, lui, Sophocle, n'a pas su voir et comprendre et qu'offrait pourtant son sujet; et que je comprends ...«) - natürlich mutet eine solche Gebietsaufteilung des Tragischen schematisch und übervereinfacht an: Dem historischen Phänomen der griechischen Tragödie in der gedanklich-affektiven Komplexität ihrer >apollinisch-dionysischen< Doppelnatur wird eine derartige Dichotomie von Emotion und Intellekt schwerlich gerecht. Aber Gides Reflexion entstammt keiner philologischen Abhandlung, sondern dem Arbeitstagebuch eines modernen Schriftstellers, der sich, in privater Selbstverständigung und durchaus nicht frei von einer anxiety of influence (Harold Bloom) gegenüber dem übermächtigen Vorgänger Sophokles, den nötigen Freiraum zur Revision eines weltliterarisch ebenso wie in der eigenen französischen Klassik überaus prominent behandelten Stoffes47 zu schaffen sucht; in dieser Situation wird die G e rechtigkeit des historischen Urteils kein vordringliches Anliegen sein. Dies vorausgesetzt, beschreibt Gides Werkstatt-Notiz gerade in ihrer zugespitzten Einseitigkeit das Verfahren seines >Œdipe< durchaus zutreffend: Wirklich handelt es sich hier um den Typus eines Werkes, das sein künstlerisches Profil und seine moderne Identität aus radikaler Vereinseitigung zu gewinnen hofft, aus der Privilegierung rationaler und intellektueller Parameter des Dramatischen (des geschliffenen Dialogs, der philosophischen Argumentation, des ironischen Kommentars) und, komplementär dazu, aus der möglichst weitgehenden Zurückdrängung gegenläufiger, mimetisch-affektiver Qualitäten. Gides Berührungsscheu gegenüber allen expressiven und pathosträchtigen Elementen seines Themas,48 die sich gegenüber der Exposition eines säkularen Ideenkonflikts verselbständigen könnten, stellt geradezu ein Leitmotiv der Arbeitsüberlegungen dar: Mehrfach im >Journal< ist die Rede von einer »volontaire exclusion de toute image, de toute amplification oratoire«, 4 ' die zwangsläufig zu dem (von manchen Kritikern bemängelten) »rétrécissement« des Stückes, einer Ernüchterung und Verengung seines Ausdrucksgestus, geführt habe. Und Germain: André Gide et les mythes grecs. In: Entretiens sur André Gide. Sous la direction de Marcel Arland et Jean Mouton, Paris/La Haye: Mouton, 1967, S. 4 1 - 6 7 , hier S. 42: »Son idée centrale: >la fable grecque est essentiellement raisonnable^ Gide n'a pu la soutenir que par des artifices destinés à ramener à ce >raisonnablemoderner< Pathosreduktion und der »exclusion de toute image et de toute amplification oratoire« in der Textgestalt des >Œdipe< umgesetzt ist: Bei Sophokles hat Odipus in den erregten Stichomythien eines scharfen Verhörs die letzten Verbindungsglieder zur vollen Einsicht in sein Schicksal aus dem korinthischen Boten und dem thebanischen Hirten herausgefragt, 51 gegen deren Sträuben, unter Folterdrohungen, mit unerbittlichem Wahrheitswillen. N u n , im Moment der tragischen Anagnorisis ίου ιού· τα πάνϊ αν έξήκοι σαφή. ώ φως, τελενταΐόν σε προσβλέψαιμι νϋν, δατις πέφασμαι φύς f άφών ον χρήν, ξύν οίς f ου χρήν ομιλών, ους τέ μ' ουκ εδει κτανών. (Ο Schmach! Ο Schmach! So war' es alles klar heraus. O Licht! Zum letzten Male will ich jetzt dich schaun, der ich entsproß, wem ich nicht durfte, lebte mit wem ich nicht durfte und, wen ich nicht sollt', erschlug!'2) - , verläßt der König die Szene, geht ins Innre des Palasts, während der C h o r in seinem 4. Standlied das Los des unwissenden Vatermörders und Mutterschänders beklagt und es in philosophischer Verallgemeinerung zum

s

° Ebd., Eintrag vom 5. Februar 1 9 3 1 . Vgl. Sophokles, >König ÖdipusKönig Ödipus«, Vs. 1 1 8 2 - 8 5 ; Übersetzung Wilhelm Willige. 11

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Beispiel (παράδειγμα») für die Unbeständigkeit menschlichen Glücks erhebt: »Ihr Menschengeschlechter, ach,/ euer Leben, wie muß ich es/ gleich dem Nichts (το μηδέν) doch erachten!«.54 Dann die letzte tragische Aufgipfelung mit dem entsetzensvollen Bericht des Dieners über die nunmehr freigewollten und selbstgewählten - Übel (κακά εκόντα κούκ άκοντα"), die unterdessen im Haus geschehen sind. In diesem vielkommentierten Bericht zieht Sophokles alle Register seiner tragischen Erschütterungskunst: In suggestiver Vergegenwärtigungsrede, die zwar die Differenz zwischen dem durch den Boten selbst unmittelbar angeschauten und dem von ihm >nur< sprachlich re-präsentierten Grauen beteuert »Doch das Schmerzlichste von dem/ Geschehnen bleibt euch fern: den Anblick habt ihr nicht«'6 - , zugleich aber alles unternimmt, um den Gegensatz von Sehen und Hören, von mimesis und diegesis einzuebnen und die schauderhaften Begebenheiten in äußerster Eindringlichkeit vor das >innere Auge< des Publikums zu stellen,57 in dieser Botenrede von fast dreißig Versen, die durch die schmerzhafte Prägnanz des physischen Details ebenso schockieren wie durch die präzise Schilderung zweier psychischer Zusammenbrüche, berichtet der Diener in einer Schlag auf Schlag austeilenden Sukzession regressiver Urszenen: wie die in ihrer Existenz vernichtete Königin in ihrer Kammer, außer sich vor Schmerz, Verwirrung und Scham, laut klagend den Geist des toten Laïos anruft und das Bett bejammert, in dem sie »vom Mann den Mann, die Kinderschar vom

» Ebd., Vs. 1 1 9 3 . 54 Ebd., Vs. 1186-88. » Ebd., Vs. i 2 2 9 f . 56 Ebd., Vs. I237Í. 57 Zur Wirkungsstrategie dieser tragischen >Urszenen< zwischen Verbergen und Enthüllen, Verschweigen und Offenbaren vgl. die ausgezeichneten Beobachtungen bei Charles Segal: Oedipus Tyrannus. Tragic Heroism and the Limits of Knowledge, N e w Y o r k 1993, Kap. 1 1 , S. 1 4 8 - 1 5 7 (»Inner Vision and Theatrical Spectacle«), mit dem Fazit: »The theatrical spectacle of >Oedipus Tyrannus< works as much by what is not said and not shown as by the spoken and visible elements of the performance. Certain things are more powerful for being left unsaid and unseen. Such is the case with the events in the two long narratives, one by Oedipus and one by the Messenger. The first describes the death of the father, Laius, at the blow of the son's skeptron, the staff or scepter that Oedipus carries; the second describes the death of the mother, Jocasta, and the self-blinding of the son. Both scenes are left hidden, without visual enactment, so that they may be played out all the more effectively in the interior theater of our imaginations. In this way Sophocles gives us a glimpse of what psychoanalytic critics have called the >other scenes the imaginary place where the repressed fears and wishes of the unconscious are played out.« (S. 148). Weitergreifende Überlegungen zum Verhältnis von >Ohren-Wissen< und >Augen-Wissen«, >Schau-Spiel< und >erzählter Handlung«, Präsentation und Imagination auch in Segais Aufsatz >Zuschauer und Zuhörer«. In: Der Mensch der griechischen Antike, hrsg. von Jean-Pierre Vernant, Frankfurt a.M./New York/Paris 1993, 8.219-254. 352

Kind empfing«;' 8 wie der rasende Ödipus unter grauenvollem Schreien die verriegelte Doppeltür ihres Gemachs gewaltsam aufbricht und dort nur noch die erhängte Mutter und Gattin vorfindet;59 wie der König gegen sich selbst zu wüten beginnt und sich, unter grausigen »Begleitgesängen« (τοιαϋΐ έφνμνών6°), Iokastes Kleiderspangen in die Augen sticht, »oft, nicht einmal nur« (πολλάκις τε κονχ άπαξ6'); wie das Blut des Geblendeten als schwarzer Hagelguß hervorbricht; wie er sich unter gräßlichen, nicht wiederzugebenden Flüchen (ονδε φητά μοι62) selbst verwünscht und aus dem Land verstößt. Und dann wird, der Diener kündigt es an το γαρ νόσημα μείζον ή φέρειν./ δείξει δε και σοί. (»Das Leid ist uner-

träglich groß. Nun zeigt er es auch dir« 63 ) - , der geblendete Ödipus in einem erbarmungswürdigen Anblick (ΰέαμα6*) selbst aus dem Haus treten und in einem langen Kommos mit dem Chor 6 ' um seine schleunige Verstoßung aus Theben flehen... Gides reductio dieser katastrophischen Klimax, seine Elimination ihres tragischen Furors und Stupors, könnte nicht entschiedener ausfallen. Auch in seiner Version zwar eröffnet der knappe Finalakt mit Œdipes unbedingtem »je veux savoir«,66 mit einer Reminiszenz des sophokleischen Wissenwollens um jeden Preis: »Pitié de rien. Un bonheur fait d'erreur et d'ignorance, je n'en veux pas. Bon pour le peuple! Pour moi, je n'ai pas besoin d'être heureux. C'en est fait!« 67 Aber das folgende Aufdeckungsgeschehen ist denkbar lapidar und mit farcenhaften Einschlägen behandelt: An die Stelle des dramatisch hochgespannten Verhörs mit dem korinthischen Boten und dem thebanischen Hirten - beide Rollen sind ganz weggefallen - tritt ein knapper Enthüllungs-Dialog zwischen Œdipe und Jocaste, in dem der scharfsinnige Held seiner widerstrebenden, für Ver-

' 8 Sophokles, >König ÖdipusOedipus Tyrannus< in Modern Criticism and Philosophy, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press, 1992, Kap. 10 (»Jocasta's Suicide and Oedipus's Self-blinding«). 60 61 62 63 64 ŒdipeReferat< der ohnehin allbekannten mythischen >Daten< unter Verzicht auf jede emotionale Vertiefung. 74 Der sachliche Berichterstatter ist hier Créon: L'horreur du châtiment a dépassé celle du crime. Jocaste, votre mère, n'est plus. Tandis que je surveillais Œdipe, elle a mis fin à ses jours. »Ce que mes yeux n'auraient pas dû voir« (telles furent les paroles d'Œdipe), je l'ai vu. J'ai vu ma pauvre sœur pendue. Puis, aussitôt après, comme je m'empressais pour la secourir, Œdipe, s'élançant à son tour, s'empare du manteau royal, en arrache les agrafes d'or et les enfonce férocement dans ses yeux, dont l'humeur au sang mêlée m'éclabousse et ruisselle sur son visage. Ces cris que vous entendiez sont les siens, d'horreur d'abord, puis de douleur.75 Wo in diesem Bericht für einen Augenblick der Ton hohen tragischen Affekts anklingt, da ist es ein geborgter Ton, denn die hier (»telles furent les 7

' »II n'a pas soumis sa raison, puisque, les yeux crevés, il continue à argumenter.« Germain, André Gide et les mythes grecs, S. 51. - »That the blinded Oedipus, blood on his cheeks, his intellectual powder kept dry, should be able to renew his running debate with Tiresias is shocking to our expectations formed by Sophocles.« Watson-Williams, André Gide and the Greek Myth, S. 1 1 8 f. 74 Trotz der insgesamt entschieden bekräftigten rationalistischen Tendenz der Bearbeitung hält das >Journal< gelegentlich auch selbstkritische Bemerkungen fest, in denen die überstarke Kontrolliertheit des eigenen Textes bedauert und einer inspirierteren, weniger konzeptuell fixierten Schreibweise der Vorzug gegeben wird. Eine Fußnote zu der bereits zitierten Tagebuch-Notiz vom 5. Februar 1931 über die absichtliche Unterdrükkung aller »résonances amplificatrices« schränkt in diesem Sinne ein: »Je crois pourtant que j'aurais pu, dans le l i l e acte, me laisser aller davantage. Sans doute ma raison intervient-elle trop. Rien qui n'y soit voulu, motivé, nécessaire. C e que j'appelais jadis >la part de DieuJournalŒdipeŒdipe< soit une victoire de Tirésias.« (S. 5 5). Die entgegengesetzte Lesart bei Fowlie (Dionysus in Paris, S. 16 $) - »In his quarrels with Tiresias, Oedipus extols his personal ethics at the expense of the orthodox views. This is a familiar Gidean theme, but it is unwisely treated here [!] because Gide seems to sympathize more with the traditions upheld by the priests [?] than with the individual ethics of the king« - ist einfach unhaltbar.

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Ein >JournalŒdipeThéséeStromlinienförmigkeit< ebenso wie durch die geheimnislose Präzision, die Sachlichkeit und den ironischen Esprit ihrer Prosa Mißtrauen und Distanz gegenüber dem affektiven Wirkungspotential und der sublimen poetischen Diktion ihrer griechischen Prätexte signalisieren. Im Grunde erwecken diese knappen Werke den Eindruck dramaturgischer Vivisektionen: Sie wirken als kleinmaßstäbliche analytische Strukturmodelle, die das poetische >Funktionieren< der griechischen Tragödie offenzulegen suchen, sich gleichzeitig aber dem tragischen Sog< der Prätexte durch Ausdünnungen, Eliminationen, Exzisionen so weit wie möglich zu entziehen streben. Die Stilisierungstendenz skeptisch-ironischer brevitas erscheint in alledem als Kommentar über die Leidakkumulation und das Uberwältigungskalkül der griechischen Tragödie aus dem Horizont säkular-aufgeklärter >Alteritätklassische Dämpfung< in den Odipus-Tragödien Corneilles und Voltaires Verdeutlichen wir uns diese konstruktive Parallele an zwei besonders prominenten Beispielen aus dem Repertoire der französischen Klassik, den Odipus-Tragödien Corneilles und Voltaires.82 Beide Dramatiker fügen ih82

Zu beiden Werken im Kontext der europäischen tragédie classique vgl. Wolfgang Jor-

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rer jeweiligen Neufassung des Ödipus-Stoffes ausgedehnte Nebenhandlungen hinzu und begründen diese Extensionen ausdrücklich in begleitenden theoretischen Kommentaren: Corneille erklärt in der Préface (»Au Lecteur«) seines >Œdipe< von 1659,83 die seit den Zeiten des Sophokles und seines »chef-d'œuvre de l'antiquité«84 eingetretenen historischen und kulturellen Veränderungen machten entsprechende Anpassungen der Fabel und ihrer szenischen Präsentation an die höhere ästhetische Sensibilität und die sittliche Empfindsamkeit höfisch kultivierter Zuschauer erforderlich: Einerseits gelte es, aus Rücksicht auf die »délicatesse« des Publikums, und insbesondere seines weiblichen Teils, die offen ausgestellte Grausamkeit der antiken Tragödie drastisch zu reduzieren und das, was als irreduzibler, weil zum unablösbaren Kernbestand des Mythos gehöriger Rest von ihr notwendig übrigbleiben müsse, in seinem Gewicht zumindest abzuschwächen bzw. in den hinterszenischen Bereich zu verdrängen. Andererseits - und hier zeigt sich plastisch die Gleichgerichtetheit der verknappenden und der erweiternden Bearbeitungsmotive - habe er, Corneille, in seiner zeitgemäßen Version versucht, die Atrozität der sophokleischen Odipus-Handlung durch die Hinzufügung einer frei erfundenen amourösen Gegenaktion mit glücklichem Ausgang zu konterkarieren und das Geschehen so um die furchtbare Absolutheit seiner Wirkung zu bringen. Die entscheidenden Sätze Corneilles lauten: J'ai connu que ce qui avait passé pour miraculeux dans ces siècles éloignés pourrait sembler horrible au nôtre, et que cette éloquente et curieuse description de la manière dont ce malheureux prince se crève les yeux, et le spectacle de ces mêmes yeux crevés dont le sang lui distille sur le visage, qui occupe tout le cinquième acte chez ces incomparables originaux, ferait soulever la délicatesse de nos dames, qui composent la plus belle partie de notre auditoire, et dont le dégoût attire aisément la censure de ceux qui les accompagnent, et qu'enfin, l'amour n'ayant point de part dans ce sujet, ni les femmes d'emploi, il était dénué des principaux ornements qui nous gagnent l'ordinaire la voix publique. dens: Die französischen Ödipusdramen. Ein Beitrag zum Fortleben der Antike und zur Geschichte der französischen Tragödie, Bochum 1933, sowie Mueller, Children of Oedipus, bes. S. 109 ff. und 129 ff. - Uber Corneilles >Œdipe< siehe ferner Delmas: Mythologie et mythe dans le théâtre français (1650-1676) (wie Anm. 5), bes. S. 1 5 7 - 1 7 9 , sowie Wolf Hartmut Friedrich: Ein Ödipus mit gutem Gewissen. Über Corneilles >ŒdipeAussparung< soll zum Mittel der Schreckensund Leid-Ersparnis, der schonenden Ausklammerung all dessen werden, was nach den ästhetischen Maßstäben höfischer bienséance abstoßend und schockierend wirken könnte (»pourrait sembler horrible«). In ihrer praktischen Umsetzung läßt es diese Maxime, beispielsweise, noch immer zu, im Finale des Schlußaktes (V/9) von der Blendung des Odipus zu berichten; zugleich aber ersparen >klassische Dämpfung< (Leo Spitzer) und Zurücknahme dem Publikum den leibhaften Anblick des gräßlich Verstümmelten (der, anders als in der pathetischen Klimax bei Sophokles, hier nicht mehr auf die Szene zurückkehrt) und setzen selbst in der Schilderung des im äußerszenischen Raum Geschehenen einen gegenüber Sophokles oder gar Seneca86 völlig anderen Akzent: Statt der suggestiven sprachlichen Vergegenwärtigung einer grauenvollen Selbstverstümmelung in den (mit unüberhörbarer Ironie so apostrophierten) »incomparables originaux« der antiken Tragiker gibt Corneille eine in den physischen Details äußerst sparsame Version der tragischen Anagnorisis und der Selbstblendung des Helden als eines nicht etwa im Zustand rasenden Außersichseins, sondern in vollendeter Affektbeherrschung87 und in frei-

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Corneille, ebd., S. 31 f. Vgl. Gerhard Müller: Senecas >Oedipus< als Drama. In: Eckard Lefèvre (Hrsg.): Senecas Tragödien, Darmstadt 1972 (Wege der Forschung, Bd. 310), S. 376-401, und Willy Schetter: Senecas Oedipus-Tragödie, ebd., S. 402-449; weitere Perspektiven bei Ilona Oppelt: Senecas Konzeption des Tragischen, ebd., S. 92-130, sowie insbesondere in der klassischen Darstellung von Otto Regenbogen: Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas. In ders.: Kleine Schriften, hrsg. von Franz Dirlmeier, München 1961, 5.409-462. »Parmi de tels malheurs que sa constance est rare!/ Il ne s'emporte point contre un sort si barbare;/ La surprenante horreur de cet accablement/ Ne coûte à sa grande âme aucun égarement-J Et sa haute vertu, toujours inébranlable,/ Le soutient au-dessus de tout ce qui l'accable.« So, mit Zentralbegriffen eines neustoischen Ethos, Dircé (Vs. 1881 ff.; Hervorh. von mir) über die Haltung des zur vollen Einsicht gelangten Œdipe. Der Adressat dieser bewundernden Schilderung, Thésée, bestätigt den Eindruck stoischer magnanimitas und Schicksals-Unbetroffenheit: »[...] cette âme innocente,/ Qui brave impunément la fortune impuissante,/ Regarde avec dédain ce qu'elle a combattu,/ Et se rend tout entière à toute sa vertu.« (Vs. 1893 ff.).

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er Tatherrschaft vollzogenen metaphysischen Protests gegen die Ungerechtigkeit der Götter,88 eines autonomen Selbstopfers überdies, dessen heilsstiftende Qualität und dessen >Erlösungssinn< in der augenblicklichen Gesundung der pestkranken Stadt unmittelbar evident werden sollen.8' Das Geschehen rückt so aus der Wirkungsperspektive elementaren Jammers und Schauders in die Dimension stoischer Selbstüberwindung und einer vorbildlich heroischen vertu des Protagonisten, die jedem Zuschauer (ob auf der Bühne, in der staunenden Kommentierung durch die anderen dramatis personae,'0 oder im Publikum) die Anteilnahme höchster admiration abnötigen soll. Ahnlich wie fast drei Jahrhunderte später in der Version André Gides ist damit bereits bei Corneille an die Stelle des namenlosen Entsetzens in der Tragödie des Sophokles und einer exzessiv ausgekosteten Brutalität in der Fassung Senecas die rhetorisch eloquente und gedanklich versierte Bewältigung des Unglücks, die bewußte geistige Aneignung der Tat durch ihr Opfer, getreten. - In genauer Komplementarität zu dieser Strategie der Leidersparnis durch interne Reduktionen und philosophisch-rationalisierende Reinterpretationen des Kerngeschehens bewirkt die hinzugefügte Liebeshandlung um die dem Mythos unbekannte Schwester des Odipus und ihren aristokratisch-galanten Liebhaber Theseus (»l'heureux épisode des amours de Thésée et de Dircé«) eine weitere entscheidende Relativierung des tragischen Konflikts: Das tendenzielle Komödienschema ihrer durch ein mannigfaches barockes Quiproquo aus Täuschungen, Mißverständnissen und Intrigen schließlich an ihr doppeltes Ziel gelangenden standhaften Liebe - das lieto fine

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An der Stelle des Diener-Berichts bei Sophokles mit seinem pathoserfüllten Stupor steht bei Corneille, in den Worten des Œdipe-Vertrauten Dymas, die bewundernde Beschreibung einer in überlegener geistiger Haltung vollzogenen philosophischen Demonstrationshandlung, die den Himmel beschämen und den Menschen ein exemplum ihrer sittlichen Freiheit geben soll: »J'étais auprès de lui sans aucunes alarmes;/ Son cœur semblait calmé, je le voyais sans armes,/ Quand soudain, attachant ses deux mains sur ses yeux:/ >Prévenons, a-t-il dit, l'injustice des dieux;/ Commençons à mourir avant qu'ils nous l'ordonnent;/ Qu'ainsi que mes forfaits mes supplices étonnent./ Ne voyons plus le ciel après sa cruauté;/ Pour nous venger de lui dédaignons sa clarté./ Refusons-lui nos yeux, et gardons quelque vie/ Qui montre encore à tous quelle est sa tyrannie.Œdipeaffektökonomischer< Verknappung der sophokleischen Handlung, nur ein kurzer und diskreter Bericht von der Blendung (und dem nachfolgenden Tod!) des Helden,' 2 der den Blicken des Publikums entzogen bleibt; auch hier wird die Katastrophe der Protagonisten umgemünzt in einen aufklärerischem Protest gegen die Grausamkeit des Schicksals und den »pouvoir affreux« der (heidnischen) Götter; 93 und abermals soll die Einführung einer umfangreichen, die ersten drei Akte des Dramas weitgehend dominierenden amourösen Parallelhandlung (hier um die unerfüllt bleibende Liebe zwischen Jocaste und dem Prinzen Philoctète d'Eubée, dem die wahre passion Jocastes gehört, während sie sowohl Laïus wie später Œdipe nur aus Staatsräson geheiratet hat) das Odipus-Geschehen durch thematische Ausdehnung relativieren, es zu einem Konflikt unter anderen - und sentimental anrührenderen - Konflikten herunterstimmen. In seinen >Lettres sur Œdipe< von 1719, 94 einem eingehenden analytischen Vergleich (»exa91

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Zitate nach: Œuvres complètes de Voltaire. Nouvelle Édition. Théâtre. Tome premier, Paris: Garnier, 1877. Und zwar aus dem Mund der in Voltaires Drama namenlosen, nur als »Le Grand-Prêtre« bezeichneten Teiresias-Figur: »[...] Il vit, et le sort qui l'accable/ Des morts et des vivants semble le séparer:/ Il s'est privé du jour avant que d'expirer./ Je l'ai vu dans ses yeux enfoncer cette épée/ Qui du sang de son père avait été trempée;/ Il a rempli son sort; et ce moment fatal/ D u salut des Thébains est le premier signal.« (Voltaire, >ŒdipeLettres< in Sachen querelle des anciens et des modernes lautet bündig so: »Nous devons nous-mêmes, en blâmant les tragédies des Grecs, respecter le génie de leurs auteurs: leurs fautes sont sur le compte de leur siècle, leurs beautés n'appartiennent qu'à eux; et il est à croire que, s'ils étaient nés de nos jours, ils auraient perfectionné l'art qu'ils ont presque inventé de leur temps« (S. 27). Für die >gerechte< Einschätzung der antiken Tragiker gelte daher: »Leurs ouvrages méritent d'être lus, sans doute; et, s'ils sont trop défectueux pour qu'on les approuve, ils sont trop pleins de beautés pour qu'on les méprise entièrement.« (Ebd.). »Je respecte beaucoup plus, sans doute, ce tragique français que le grec; mais je respecte encore plus la vérité, à qui je dois les premiers égards. [...] J'ose donc critiquer l'>Œdipe< de Corneille [...].« (Lettre IV, S. 28). Ebd., S. 31. Lettre V (»qui contient la critique du nouvel Œdipe«), S. 36.

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1.2.2 Neoklassizistische Kontinuitäten: Episodisierung des Schreckens durch komische, burleske, triviale Rahmung Kehrt man von den angeführten Exempla einer klassizistischen Reperspektivierung antiker Vorgaben mittels einer Kombination verknappender und erweiternder Veränderungsoperationen zur französischen Mythendramatik des 20. Jahrhunderts zurück - und einem solchen Vergleich sollte unser kurzer historischer Exkurs dienen - , so zeigt sich ein überraschendes Maß an formaler, dramaturgischer Kontinuität zwischen klassizistischer und moderner >SchuleAtriden-Tetralogiekomische< Aufhellung der Stil- und Ausdruckspalette aufzubrechen. Aus diesem kalkulierten Nebeneinander thematisch und stilistisch heterogener Textschichten resultiert eine Mischdramaturgie, die nun allerdings von vornherein nicht mehr unter der Forderung nach einer auch nur zum Schein gewahrten klassizistischen Stileinheit und Gattungsreinheit der Tragödie steht, vielmehr offen und geradezu programmatisch die übernommenen mythischen Tragödienelemente zur extremen Nuance innerhalb einer weitgespannten chromatischen Skala von Ausdrucks- und Bedeutungsmöglichkeiten umdeutet. Nicht mehr nur geht es hier, wie Voltaire an seinem eigenen >Œdipe< gerügt hatte, um das Nebeneinander zweier Tragödien in ein- und demselben dramatischen Text; vielmehr koexistiert (wie tendenziell bereits in Corneilles >ŒdipeLettres sur Œdipe< angeführte Begründung, es bedürfe der Erweiterung der konzisen antiken Tragödienhandlungen in ihrer »simplicité ou plutôt sécheresse«, damit diese allererst den Umfang erreichten, den ein modernes Publikum von einem Drama erwarte (»toute l'étendue qu'exigent nos pièces de théâtre«), kehrt in den französischen Mythendramen des 20. Jahrhunderts wieder, und wir werden sogleich zwei Beispiele näher betrachten, in denen massive Ausdehnungen zu Großpartituren führen, die, sieht man vom Sonderfall dramatischer Trilogien oder verwandter mehrteiliger Gruppierungen wie bei O'Neill oder Hauptmann ab, im gesamten modernen Drama der mythischen Methode nur wenig Vergleichbares besitzen. Gleichwohl ist, wie ein Blick auf die Antikendramen André Gides oder Jean Anouilhs lehrt, die Technik der gegentragischen Handlungserweiterung mit äußerster Konzision durchaus vereinbar: In Gides lapidarem und prägnantem >Œdipe< gehört der mittlere (d.h. zweite) Akt 100 zu wesentlichen Anteilen der vom modernen Autor erfundenen Zusatzhandlung um die Odipus-Söhne Polynice und Etéocle, einer grotesken Verdoppelungs- und Überbietungsaktion, in der die frivolen Gedankenspiele der jungen Libertins um die Möglichkeit eines bewußten Inzests mit der Schwester Ismène den in tragischer Verkennung vollzogenen Inzest zwischen den Eltern, Œdipe und Jocaste, noch vor dessen Aufdeckung ironisch konterkarieren, ihn seiner unausdenkbaren Einmaligkeit berauben, ja geradezu als >altmodisches< Problem erscheinen lassen: Was der älteren Generation, dem Mythos getreu, noch als äußerste Tabuverletzung und tragisches Miasma gilt, ist für die thebanische jeunesse dorée zum reizvollen Denkspiel und zum erotischen Experiment mit den »monstres en nous« geworden, Ausdruck einer über den Rätsellöser Œdipe hinausgeführten zweideutigen Aufklärung, die zuletzt mit den sittlichen Grundlagen der Kultur auch den Gedanken des Tragischen selbst angreift und zersetzt. - Ganz ähnlich gelingt es Jean Anouilh in kurzen, aber für die Gesamtbalance seiner Antikenversionen äußerst wirkungsvollen Kontrastpartien - man denke an die banale Bonhomie der Wächterszenen in >Antigone< oder an die Auftritte der Amme in >MédéeŒdipeLa Machine infernale< und Jean Giraudoux' >Electre< beziehen ihren entscheidenden Veränderungsimpuls gegenüber ihren griechischen Prätexten, dem >König Odipus< des Sophokles und der >Elektra< des Euripides, aus einem ganzen Netz von Erweiterungshandlungen, mittels dessen sie die (als solche konzis in den Gesamttext integrierten) mythischen Konstellationen der griechischen Tragödien in völlig neue Bezüge und Perspektiven rücken und sie so aus dem Epochenhorizont der Moderne kommentieren. In beiden Fällen entstehen aus diesem Verfahren umfangreiche und komplexe dramatische Partituren, die ebensowohl von dem künstlerischen Bestreben zeugen, auf eines der großen und folgenreichen Idiome der Weltliteratur, die dramatische >Sprache< der attischen Tragödie des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, mit den Stilmitteln und der dramaturgischen Eigensprachlichkeit einer nicht mehr klassizistisch gebundenen Moderne zu replizieren, wie sie den Versuch unternehmen, die tragenden Konflikte der antiken Bezugstexte aus zeitgenössischem Bewußtseinshorizont zu reformulieren. Trotz dieser gleichgerichteten Intentionen sind die von Cocteau und Giraudoux gefundenen dramaturgischen Lösungen sehr unterschiedlich, und auch in ihrer Einstellung gegenüber dem Problem des Tragischen differieren beide Texte maßgeblich.

1.2.3

Jean

Cocteau, >La Machine infernalem amplificatio als Inversion von Tragödie und >Satyrspiel
RückblendeLa Machine infernale< beginnt im Zeitraum zwischen der bereits geschehenen Ermordung des Laios und der bevorstehenden Ankunft des Sohnes und Mörders in dem von der Sphinx heimgesuchten Theben (i. Akt); nach zwei Mittelakten in enger zeitlicher Nähe zum Beginn des Dramas - Œdipe, nun in Theben angelangt, befragt die Sphinx (2. Akt); Œdipe und Jocaste feiern ihre Hochzeitsnacht (3. Akt) - überspringt das Geschehen eine Zäsur von siebzehn Jahren - »Dix-sept ans ont passé vite«, teilt der Sprecher in seinem Prolog zum Schlußakt mit102 - , um nach diesem langen Vorlauf endlich in die aus der sophokleischen Tragödie wohlbekannten Konstellationen des tragischen Zusammenbruchs zu münden. Tatsächlich gibt der vierte Akt, ganz im Sinne der früheren experimentellen Tragödien-Kontraktionen des Autors, eine extreme, gleichwohl aber in allen entscheidenden Handlungssequenzen getreue10' Abbreviatur der griechischen Tragödie, gleichsam deren Quintessenz,"34 während die drei früheren und sämtlich sehr viel umfangreicheren Akte 10 ' des langen Textes vorausgegangene Episoden aus dem Weg des Protagonisten in seinen vermeintlichen Triumph und in seine tatsächliche Katastrophe nachzeichnen, so daß der Zuschauer, wie Belli prägnant formuliert, 102 103

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>La Machine infernales Acte IV, S. 323. Eine wichtige Abweichung stellt das (surreale) Wiederauftauchen der toten Jocaste am Ende des 4. Aktes (S. 3 39ff.) dar, die Œdipe auf dem Weg in die Verbannung (und in ihrer beider weltliterarischen Ruhm) begleitet. Uber diese und ähnliche Stellen einer werkimmanenten Literaturreflexion vgl. unten, Abschn. 3.1. »The act is really no more than a retelling of Sophocles' tragedy«, konstatiert auch C o n radie (The Treatment of Greek Myths, S. 67), der darin - worin ich ihm nicht folgen kann - »something of an anti-climax « erkennt. Die Seitenzahlen des Dramas in der hier zugrundegelegten Ausgabe von Cocteaus >Œuvres complètes< veranschaulichen die Proportionen: Ohne die jeweils vorangestellten Partien des Sprechers, also von der jeweiligen Akt-Uberschrift an gezählt, umfassen: der 1. und 2. A k t jeweils 43 Seiten, der 3. A k t 39, aber der >tragische< Schlußakt nur ganze 18 Seiten.

3é7

»not the gradual discovery of the hero's error but the progressive creation of that error« 106 zu sehen bekommt: Der erste Akt bietet, in einer offensichtlichen >HamletPhantom< sehen oder hören können, muß es unverrichteter Dinge wieder verschwinden, und das Schicksal nimmt seinen im Mythos tradierten, >vorgesehenen< Lauf. Nicht minder ironische und eigenwillige Reperspektivierungen kennzeichnen die Mittelpartien des Dramas: Im zweiten Akt löst der völlig eingeschüchterte Œdipe das Rätsel der Sphinx keineswegs aus eigener Denkkraft, vielmehr verrät ihm die Sphinx-Jungfrau, die sich in ihn verliebt hat und sich für ihn opfert, im Konjunktiv einer grotesken »Generalprobe« 108 im voraus die Lösung, die Œdipe im entscheidenden Frage-Durchgang dann rasch parat hat; den »Helden« hindert das nicht im mindesten, sich in eitler Selbstverkennung seines gewaltigen >Sieges< zu brüsten und mit dem Fell der Sphinx gen Theben zu marschieren, um sich seinen Lohn abzuholen. Ganz ähnlich der dritte Akt, in dem Œdipe und Jocaste sich nach den Krönungs- und Hochzeitsfeierlichkeiten eines langen Tages in Jocastes Gemach (»rouge comme une petite boucherie« 109 ) zurückziehen, wo sie aber nicht etwa wie in Hofmannsthals Drama >Odipus und die SphinxWahrheiten< bereits aussprechen

,oi 107

108

109 110

Belli, Ancient Greek Myths, S. 15. Freilich sind hier neben der offensichtlichen >HamletLa Machine infernales Acte II, S. 266f.). >La Machine infernales Acte III, S. 282. Vgl. die konsequent durchgeführte psychoanalytische Deutung Bellis, Ancient Greek Myths, S. 3 - 1 9 , die sich klugerweise von der Einsicht leiten läßt, »[that] Cocteau is an artist w h o was influenced by psychoanalytic theory rather than a psychoanalyst who wrote a play to demonstrate his thesis.« (S. 13). 368

läßt, die ihrem Wachbewußtsein noch verborgen bleiben" 1 und die erst der nachfolgende, siebzehn Jahre später situierte >sophokleische< Schlußakt an den Tag bringen wird. Am Ende der Szene wiegt Jocaste Œdipe, der sie selig-verdämmernd »ma petite mère chérie ...« II2 nennt, mit derselben Wiege in den Schlaf - sein Kopf ruht darauf - , in der er als Neugeborener einst gelegen hatte. Von der tragischen Ironie und dem hermeneutischen Modell in Cocteaus eigenwilliger Rekonstruktion der sophokleischen Tragödie soll später ausführlicher die Rede sein. Betrachtet man seine Szenenfolge zunächst unter dem technischen Aspekt der amplificatici des griechischen Prätextes, so ergibt die Vierteiligkeit der Akt-Anordnung - und zwar von Akten und Szenen, die weitgehend Stationscharakter tragen und stilistisch wie in ihrem Handlungsaspekt durchaus selbständig und gegeneinander isoliert erscheinen - den Eindruck einer eigentümlichen Umkehrung des Spannungsbogens einer griechischen Tragödienaufführung: So wie im attischen Theater auf die Sequenz dreier Tragödien (die thematisch verbunden sein konnten wie in den Trilogien des Aischylos oder auch loser gefügt wie in der Regel bei Sophokles und Euripides) am Ende der Kontrapunkt eines Satyrspiels folgte, so destilliert Cocteau aus den Konstellationen der Odipus-Sage drei burleske und farcenartige Großakte heraus, um diese überdimensionierten »Satyrspiele« am Ende abstürzen zu lassen in den katastrophischen Kontrapunkt einer schneidenden Tragödien-Kontraktion in engster Anlehnung an den sophokleischen >Urtextpure< theatre and tries to avoid ideas and controversies. T o him the only important problems are those of a purely theatrical nature.« 117

Zitiert wird nach Jean Giraudoux: Théâtre, Tome troisième, Paris: Grasset, 1959. >Électre< wurde in der Regie von Louis Jouvet am 13. Mai 1937 im Pariser Théâtre de l'Athénée uraufgeführt; Jouvet selbst spielte den Bettler.

370

durchweg der Ödipus-Sage entnommener und um dieselben Protagonisten kreisender mythischer Episoden tritt in dieser formal aufwendigen und außerordentlich umfangreichen »Pièce en deux actes«, ähnlich wie schon bei Corneille und Voltaire, ein Geflecht synchron ablaufender und einander wechselseitig beeinflussender Parallel- und Kontrasthandlungen mit teilweise verschiedenem Personal." 8 Die Kernfabel um das Geschehen im Haus der Atriden, also um die durch Elektra und Orest ausgeführte Ermordung Klytaimnestras und Agisths als Vergeltung für den Tod Agamemnons, erfährt dabei einerseits einschneidende interne Veränderungen in Ereignisablauf, Darbietung und Motivation; andererseits sorgen externe Erweiterungen, nämlich die Einbettung der überlieferten (stark an die Fassung des Euripides angelehnten119) Handlung in ein wucherndes und stilistisch äußerst heterogenes System frei erfundener Begleitepisoden und Kommentarhandlungen, für eine neuartige Rahmung und Gewichtung des Geschehens. Die letzteren, die >Kontextuierung< der Kernfabel betreffenden Hinzufügungen stellen dabei Giraudoux' augenfälligste, für den dramaturgischen Gestus und die ästhetische Physiognomie seines Stückes ausschlaggebende Neuerung dar: Hier entsteht aus der Simultaneität des Ungleichartigen eine kompliziert geschichtete, beweglich zwischen mehreren Handlungsebenen und stilistischen Registern changierende dramatische Partitur, deren Komponenten thematisch aufeinander verweisen, wobei die einzelnen Stränge des Erweiterungsgeschehens die Atridenhandlung teils in ironischer Brechung spiegeln (wie am deutlichsten im Fall der boulevardesken Ehekomödie um den ebenso einfältigen wie aufgespreizten argivischen Gerichtspräsidenten Théocathoclès und die Seitensprünge seiner Frau Agathe), teils sie aus wechselnden Perspektiven und mit unter-

118

Ausführlichere Analysen unter Berücksichtigung auch dramaturgisch-struktureller Gesichtspunkte bei Donald Inskip: Jean Giraudoux. The Making of a Dramatist, London: Oxford University Press, 1958, S. 86-91; Conradie, The Treatment of Greek Myths in Modern French Drama, S. 85-93; Wolfgang Raíble: Jean Giraudoux, >ElectreÉlectreÉlectre< I/i, I/12, II/3, II/10. Szenenanweisung vor Il/io, S. i n . Vgl. >ÉlectreÉlectre< de Giraudoux et l'>Antigone< d'Anouilh sont étonnamment parallèles«, befindet auch Albouy, Mythes et mythologies, S. 129. Zu Recht konstatiert Inskip (The Making of a Playwright, S. 89) Giraudoux' »inability to restrict the use of metaphor and of poetic development even in the moment of greatest dramatic tension«; die Folge sei »a play devoid of the unity essential to real theatrical effect.« - Ähnlich Aylen, Greek Tragedy and the Modern World, S. 271: »[...] sometimes his language and his images run away with him.« Ein viel positiveres Urteil bei Pierre Brunei: Pour Électre, Paris 1982, S. í^éí.: »Loin de détourner de l'action l'attention du spectateur, les épisodes nouveaux imaginés par Giraudoux l'approfondissent soit qu'ils lui confèrent son unité, soit qu'ils la corrigent de ses 373

Die eminente Dehnung, die auch die Atriden-Handlung selbst in Giraudoux' >Électre< erfährt, ist zu einem guten Teil die Folge der geschilderten rhetorisch-preziösen Ausspinnungstechnik und der Vernetzung der Hauptaktion mit dem komplizierten Gesamtgeflecht von Nebenaktionen, Erzähleinlagen und Kommentarhandlungen; sie resultiert aber auch aus internen Erweiterungen und Umstellungen. Entscheidend ist hier die gegenüber allen antiken Versionen des Sujets grundlegend geänderte Voraussetzung - der Musterfall einer pragmatischen Transformation im Sinne Genettes131 - , daß Elektra (und auch Orest, dessen Bedeutung bei Giraudoux jedoch, komplementär zu der Aufwertung Ägisths, stark zurückgenommen ist) am Beginn der Dramenhandlung weder um die wahren Umstände von Agamemnons Tod noch um das Liebesverhältnis ihrer Mutter mit Agisth wissen und die volle Einsicht in diese Zusammenhänge erst im Fortgang des Dramas gewinnen.132 Daß die eigentlich anstößige und - wie die äußerst verschiedenen Versionen der attischen Tragiker ja zeigen - durchaus entgegengesetzter Bewertungen fähige Gewalthandlung des Mythos, daß also das in das Skandalon des Muttermordes mündende Rachekomplott gegen Klytämnestra und ihren Liebhaber bei Giraudoux nicht wie in allen antiken Fassungen im Zentrum des Interesses steht, sondern ohne eigentliche Vorbereitung an den Schluß rückt und dann rasch abgetan wird - und zumindest in dieser Hinsicht partizipiert selbst dieses sonst so ausufernde Stück an der Neigung der französischen Mythendramen zur Konzision und zur reductio - , diese Akzentverlagerung erscheint zuallererst darin begründet, daß Giraudoux seinerseits eine aufwendige, in ihrer Motivation durchaus prekäre detektivische Enthüllungshandlung konstruiert,133 wo die griechischen Tragiker die Hintergründe von Agamemnons Sterben als allgemein geläufig, d.h. sowohl den

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reflets possibles, soit qu'ils révèlent sous la gangue des apparences la réalité secrète. Il s'agit moins d'additions que d'un principe de réduplication qui fait entendre, au-delà de la note tragique, toute l'étendue de ses harmoniques.« Vgl. Palimpsestes, Kap. L X I I I . Eine konzise Diskussion der wichtigsten Veränderungen Giraudoux' gegenüber den antiken Dramatisierungen des Mythos bei Mauron, Le théâtre de Giraudoux, S. ιιγί. In einem zur Uraufführung des Dramas erschienenen Interview mit André Warnod (>Le FigaroOedipus RexAgamemnonOrestietragischer< Haupthandlung (»famille des Atrides«13') und burlesker Nebenhandlung (»famille des Théocathoclès«'36): Erst als der Gerichtspräsident, der notorische Typus des lächerlichen mari cocu bourgeoiser Gesellschaftskomödien, den Liebesabenteuern seiner Frau auf die Schliche gekommen ist und die Ertappte coram publico ihr »chanson des épouses«137 anstimmt, in dem sie die traurige Routine des bürgerlichen Ehealltags beklagt138 und das Hohelied des Seitensprungs singt, erst als Agathe sich herausfordernd rühmt, »que j'ai présentement deux amants, et que l'un des deux c'est Egisthe«, 1 " und als auf dieses Geständnis hin Clytemnestre alle Vorsicht vergißt und der Nebenbuhlerin ein empörtes »Menteuse!«140 entgegenschleudert - erst in diesem coup de théâtre gehen Électre schlagartig die Zusammenhänge auf, die auch das Schicksal der Atriden bestimmen und die sie bis dahin allenfalls in vagen Mutmaßungen erahnt hat: »tout devient claire à la lampe d'Agathe«.'41 Nicht nur ist, wie Clytemnestres eifersüchtiger Ausruf und Agathes erstaunte Replik »Comment, elle aussi?«142 offenbart haben, Égisthe der Liebhaber beider Frauen - auch deren Motive für den Ehebruch sind ganz dieselben. So wie Agathe den Präsidenten Théocathoclès, den gravitätischen Spießer an ihrer Seite, nicht mehr ertragen kann und ihn mit wechselnden Liebhabern betrügt, so haßte Clytemnestre Agamemnon, und er war ihr aus denselben trivialen Gründen zuwider: Nicht etwa schwerwiegende objektive Delikte wie der von Agamemnon verschuldete Tod Iphigenies waren die Ursache dieses Hasses

134

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,4

V g l · hierzu Brunei, P o u r Électre, S. 1 4 5 . >ÉlectreÉlectreÉlectreWesens< und seiner Bestimmung Gekommenen,1'0 dessen verehrungsvolle Liebe obscur, et que, de destin des Atrides, il accepte de devenir destin des Théocathoclès.« 148

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(S.30). Wie ein Emblem dieser Transposition ins Kleinbürgerliche mutet es an, daß das mächtige aischyleische Pathos- und Hybris-Motiv des roten Teppichs, auf dem Agamemnon in sein Verderben schreitet, bei Giraudoux durch das slapstickhafte Motiv der von Clytemnestre und Égisthe eigenhändig eingeseiften Badezimmer-Treppen ersetzt ist, auf denen der in voller Rüstung heimkehrende Sieger von Troja der Länge nach hinschlägt, um sich nie wieder zu erheben. Vgl. >ÉlectreAntigonequantitativen< Bearbeitungspraktiken steht vielmehr eine zweite und für den Gesamteindruck dieser littérature au second degré nicht minder prägende Gruppe dramaturgischer Veränderungen und Eingriffe, die, als gewissermaßen >qualitative< Transformationen, in der sprachlich-stilistischen Binnenfaktur der Texte selbst zum Tragen kommen und sie, vom kleinsten anekdotischen Detail bis in die Neugestaltung der zentralen tragischen Konfliktkonstel-

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person, the spectator [...] is suddenly forced to direct his attention to a completely new theme. When in addition he is suddenly informed of a Corinthian invasion and of discontent among the soldiers, he feels that he is asked to accept too many developments in too short a time.« (Ebd., S. 92). >ÉlectreHandschriften< bleibt diese Neigung zur stilistischen Herabstimmung der antiken Vorgaben und, damit eng verbunden, zu ihrer travestierenden oder ironischen Distanzrückung, ein für die ganze >Schule< der modernen französischen Mythendramatik durchgängiges Charakteristikum. In diesem ironischen Grundgestus, der im weiteren komparatistischen Rahmen des modernen Dramas der mythischen Methode durchaus eine markante differentia specifica der französischen Dramen ausmacht, durchdringen sich auf eigentümliche, analytisch nicht leicht zu fassende "Weise Impulse der Annäherung und der spielerischen >ZersetzungDurchschnittspublikums< herangerückt zu sein,1'2 während sie andererseits gerade in dieser >Übersetzung< und >Normalisierung< um wesentliche Dimensionen ihrer affektiven Eindringlichkeit und ihrer tragischen Semantik erleichtert und darin wiederum eigenartig verfremdet wirken. Pointiert gesprochen manifestiert sich darin das Paradoxon, daß zur vollen Identität des antiken Tragischen und zur vollen Entfaltung seines Wirkungspotentials - und dies nicht nur unter den spezifischen historischen Entstehungsbedingungen der altgriechischen Polis, sondern eben auch in späteren Stadien seiner kulturellen Wirkungsgeschichte - offenbar ein Bewußtsein seiner sprachlichen, stilistischen, aber auch semantischen Alterität gehört, die Erfahrung einer fundamentalen Differenz gegenüber allen sprachlichen, existentiellen und bewußtseinsmäßigen >NormallagenIdentität des extremen AnderenPasiphaé< hervor, der die Aussparung aller mythologischen Konstellationen und Bildungsvoraussetzungen des Werkes (»j'anéantissais tout l'appareil ésotérique de l'anecdote«) mit der Absicht erklärt, dem zeitgenössischen Publikum einen unmittelbaren und unbefangenen Zugang zu den »zeitlosen Werten« des uralten Sujets zu eröffnen: »C'est aussi pourquoi le public doit pouvoir entrer de plain-pied, comme dans un drame sinon >de tous les joursplusquamperfektischen< Rückversetzungen und den grell-archaisierenden Barbarismen und Expressiv-Idiomen der (wiederum um die Einheitlichkeit von Sprache und Sujet bemühten) dionysischen Tragödien-Revisionen zwischen Fin de siècle und Expressionismus. Demgegenüber treten in den französischen Mythendramen - und das macht ihren spezifischen Reiz und ihr ganz unverwechselbares ästhetisches Kolorit aus - die im überlieferten homodiegetischen Handlungsrahmen belassene >antike< Handlung und ihre dezidiert >modern< gefärbte sprachlich-stilistische Präsentation zueinander in das Verhältnis einer kalkulierten Diskrepanz, in die Spannung einer inneren >Zweizeitigkeit< und >ZweistimmigkeitSchule< am deutlichsten greifen können, ihre >dialektische< Tendenz einer zutiefst traditionsgesättigten und traditionsverpflichteten Traditionsdurchbrechung. Tatsächlich steht das hier praktizierte Verfahren der modernistischen >Öffnung< kanonisch-weltliterarischer Vorgängertexte durch die Strategie einer gewollten Nicht-Ubereinstimmung von >hohem< antikem Sujet und >niederem< zeitgenössischem Stil gleich in einem zweifachen intertextuellen Spannungsverhältnis: Die ungebundene Rede dieser modernen Dramen, ihre - in durchaus kunstvollen Stilisierungen - auf ein umgangssprachliches Ausdrucksniveau herabgestimmte Prosa, will gelesen sein vor dem doppelten Hintergrund sowohl der pathetischen Verssprache der griechischen Tragödie mit ihren iambischen Trimetern und den komplizierten Metren, Rhythmen und Sprachbildern ihrer Chorlyrik als auch der sublimen und gravitätischen Rhetorik in der metrisch und reimhaft gebundenen Alexandriner-Rede der tragédie classique. Es dürfte kein Zufall sein, daß gerade im besonders form- und traditionsbewußten Raum der französischen Literatur eine moderne Spielart der Antikentransformation entstehen und den Charakter eines modischen Zeitstils, ja eines dramatischen Nationalidioms gewinnen konnte, die sich wesentlich aus ihrer ironischen (aber nicht eigentlich polemischen!) Distanz zu zentralen formalen Parametern, nämlich zur erhabenen Stilhöhe und zum sublimen genus dicendi, ihrer kanonischen Vorgängertexte definiert. Und so wie in dieser ironischen Verfremdungstechnik unüberhörbare Reminiszenzen an frühere Klassiker-Travestien der französischen Literaturgeschichte - von Scarrons burleskem >Virgile travesti und der durch ihn ausgelösten Travestien-Mode des 17. Jahrhunderts (bei Furetière, Dufresnoy, Barciet, Petit-Jean, Richer und anderen zeitgenössischen Autoren) 1 " über den >Homère travesti Marivaux' bis zu den persiflierenden Verballhornungen mythologischer Sujets in Meilhacs und Halévys Operettenlibretti für das Musiktheater Jacques Offenbachs - anklingen, so bleibt den Mythendramen dieser >Schule< noch im travestierenden Gegenentwurf zu ihren antiken und klassischen Bezugstexten ein Moment der Reverenz und der künstlerischen Hommage eigentümlich. Viel weniger als die bedeutenden deutschsprachigen Tragödientransfor1,3

Vgl. Genette, Palimpsestes, Kap. X I I . 381

mationen des 20. Jahrhunderts von Hofmannsthal und Jahnn bis zu Bertolt Brecht und Heiner Müller scheinen, aufs Ganze gesehen, die französischen Mythendramen darauf zu zielen, ihre antiken Prätexte (oder auch deren spätere Adaptionen in der nationalen Klassik) als solche zu >korrigieren< und sie an >Authentizitätneoklassizistischer< Grundzug eigen: Sie entwerfen ihre eigene, aktuelle relecture der antiken Bezugstexte, aber sie setzen ihre alternativen >Lösungen< den weltliterarischen Vorläufertexten eher als ironische Parallele und zeitgemäßen Kommentar an die Seite, als daß sie sie zu verdrängen und zu ersetzen suchten. André Gides bereits zitiertes Bekenntnis zur friedlichen Koexistenz< der sophokleischen und seiner eigenen >OdipusŒdipe< und Cocteaus >La Machine infernale< Deutet sich in der konsequenten Umgangssprachlichkeit der neueren französischen Mythendramen eine allgemeine Tendenz zur antiklassischen Revision berühmter weltliterarischer Archetexte bereits an - diese werden hier gewissermaßen vom hohen tragischen Kothurn auf das Normalniveau prosaischer Alltagsrede heruntergeholt - , so trägt der Einsatz einer breiten stilistischen Palette von Ironie- und Persiflage-Effekten zu dieser Herabstimmung noch maßgeblich bei. Wir haben bei der Diskussion der boulevardesken Erweiterungshandlung von Giraudoux' >Electre< bereits ein Beispiel für die ironische Kontamination des >tragischen< Registers der Atridenfabel mit ausgesprochen komischen und lustspielhaften Elementen gesehen, wobei dort allerdings der aus der Gattungstradition der Tragikomödie - m a n denke an die Bearbeitungen des Amphitryon-Stoffes'55 - ver1,5

Vgl. Peter Szondi: Fünfmal Amphitryon. Plautus, Molière, Kleist, Giraudoux, Kaiser. In ders.: Lektüren und Lektionen. Versuche über Literatur, Literaturtheorie und Literatursoziologie, Frankfurt/M. 1973, S. 1 5 3 - 1 8 4 , sowie Hans Robert Jauß: Befragung des M y -

383

traute Gegensatz einer hohen, tendenziell tragischen Haupthandlung mit einer niederen und komischen Parallelaktion noch annähernd gewahrt blieb und überdies der, freilich prekäre, Versuch unternommen wurde, durch die späte Einführung eines neuen Konflikts von tragischer Dignität (im Drama des geläuterten Egisthe) dem Werk an ernstem Problemgehalt zurückzugeben, was es durch den karikierenden Umbau der traditionellen Konfiguration gerade eingebüßt hatte. - Gides >Œdipe< und Cocteaus >La Machine infernale^5 6 sind die bedeutendsten Repräsentanten eines sehr viel durchgreifenderen Verfahrens, das die Komisierung des tragischen Sujets nicht mehr auf >niedrige< Nebenhandlungen beschränkt (von denen aus sie allenfalls auf das Hauptgeschehen >abfärbtLogik< des Geschehens ein Mittel intellektueller Distanzerzeugung, Ausdruck einer Dramaturgie rationaler Verfremdung, die die Zuschauer nicht, quasi >dionysischapollinisch< (wenn nicht gar, um in Nietzsches Terminologie zu bleiben, in >sokratischer< Manier), zur scharfen Beobachtung der Handlung und zur Reflexion auf deren Triebkräfte und Beweggründe auffordert. Beide Autoren, Gide und Cocteau, treiben die ironische Reperspektivierung des Geschehens bis in die Neugestaltung zentraler Mythos-Elemente hinein, aber beide legen sie auch möglichst breit und umfassend an, um von Anbeginn ein stilistisches >Klima< und, dadurch vermittelt, eine

1.6

1.7

thos und Behauptung der Identität in der Geschichte des >AmphitryonLa Machine infernale< in ihrer effektvollen surrealistischen poésie du théâtre schon bei der ersten Aufführung als Antitypus zu Gides ironisch-intellektueller, im Gebrauch nicht-sprachlicher Bühnenmittel überaus zurückhaltender Konversationsdramatik erscheinen mußte, betont zu Recht Albouy (Mythes et mythologies, S. 279): »En 1934, la représentation, au théâtre de Louis Jouvet, de cette pièce baroque, bizarre, pittoresque, dans les décors et avec les costumes de Christian Bérard, parut comme la réplique à l'>Œdipe< de Gide, qui, conformément à la volonté de l'auteur, avait été joué dans un style dépouillé et sans décors.« 384

rezeptive Disposition zu erzeugen, die der jeweiligen thematisch-semantischen Bearbeitungstendenz günstig ist und auf sie vorbereitet. Im Fall André Gides, der die Odipus-Konstellation umschreibt zum ironischen »combat des idées« zwischen einem ganz auf sich selbst gestellten elitären Repräsentanten vorurteilsfrei-emanzipierten Denkens (Œdipe) und den Vertretern doktrinärer religiöser Orthodoxie (Tirésias) bzw. politischer Reaktion (Créon), in diesem gedankenallegorischen Lehrstück mit seiner klaren asymmetrischen Sympathieverteilung sorgt ein wahres Feuerwerk aufklärerisch-ideologiekritischer Späße, witziger Aperçus und blasphemischer Anzüglichkeiten für die Diskreditierung der >konservativen< Gegenpartei und ihrer (durch den Doppel-Chor repräsentierten) massenhaften Anhängerschaft. Gides Tirésias bringt, malgré lui und in durchaus maliziöser Sottise - die auktoriale Rede durchdringt hier ganz unverhohlen den figuralen Diskurs! - , die begrenzte intellektuelle Reichweite seiner autoritären, vom "Willen zur Macht getragenen >Theologiemenschlichen< Protagonisten von den unbedeutendsten Nebenfiguren bis hinauf zu Œdipe und zum >Seher< Tirésias, die (für die Zuschauer jederzeit erkennbare) tragische Folgerichtigkeit des Geschehens völlig verborgen: Sie agieren innerhalb dieses >infernalischen< Plans, tragen durch ihre Handlungen zu seiner Verwirklichung bei, sie umkreisen ihn geradezu obsessiv in Reden und Träumen, deren Sinn sie nicht begreifen, aber sie exekutieren ihn ohne Bewußtsein und wie in Trance. Die groteske Grundfärbung der >Machine infernale< - dort wo sie in drei großen, poetisch kühnen Analepsen Schlüsselmomente aus der Vorgeschichte der sophokleischen Tragödie inszeniert, bevor sie in die contraction der Finalkatastrophe abstürzt und ihren Prätext >einholt< - resultiert wesentlich aus der szenischen Visualisierung dieser einen, für die Figuren selbst unauflösbaren hermeneutischen Diskrepanz: Ob, im ersten Akt, in Jocastes ständigem Kampf mit den tückischen Objekten, der Schärpe und der Brosche, die jeder mit dem Mythos auch nur oberflächlich bekannte Rezipient sofort als Vorzeichen der Katastrophe und als die Werkzeuge ihres grausigen Vollzugs erkennt - »Je suis entourée d'objets qui me détestent! Tout le jour cette écharpe m'étrangle. [...] Elle me tuera«,201 >weiß< die Königin in ahnungslos-ahnungsvoller Voraussicht, oder sie spricht, Œdipes Blendung >weissagendjokes< is, in fact, no joke, but indeed quite consonant with the practice of Sophocles, whose own double entendres in another context might well be considered the ultimate in punning.« »TIRÉSIAS: Ma petite brebis, il faut comprendre un pauvre aveugle qui t'adore ...« (Acte I, S. 210). Im Urteil ihrer Soldaten: »La reine, elle est gentille, mais au fond, on ne l'aime pas; on la trouve un peu ... (Ilse cogne la tête.) O n dit qu'elle est excentrique et qu'elle a un accent étranger, et qu'elle est sous l'influence de Tirésias. C e Tirésias conseille à la reine tout ce qui peut lui causer du tort. Faites ci... faites ça... Elle lui raconte ses rêves, elle lui demande s'il faut se lever du pied droit ou du pied gauche; et il la mène par le bout du nez [...]«, usw. (Acte I, S. 2o6f.). Vgl. die Begegnung mit dem Wachtposten: »JOCASTE: Juste son âge. Il aurait son âge... Il est beau! Avance un peu. Regarde-moi, Zizi, quels muscles! J'adore les genoux. C'est aux genoux qu'on voit la race. Il lui ressemblerait... Il est beau. Zizi, täte ces biceps, on dirait du f e r . . . - TIRÉSIAS: Hélas! Madame, vous le savez... je n'ai aucune compétence. J ' y vois fort mal... - JOCASTE: Alors täte ... Tâte-le. Il a une cuisse de cheval. Il se recule! N'aie pas peur... le papa est aveugle. Dieu sait ce qu'il imagine, le pauvre; il est tout rouge! Il est adorable! Il a dix-neuf ans!« (Acte I, S. 2i9f.).

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ser zum großsprecherischen Herkules-Imitator usw. - , wenn in ironischer Travestie der mythische Nimbus und die intellektuelle Kompetenz der Figuren untergraben und Blindheit als Leitmotiv ihres In-der-Welt-Seins sichtbar gemacht ist, erst dann erfolgt, in abruptem Registerwechsel, aber in genauer thematischer Folgerichtigkeit, die Peripetie zum freien tragischen Fall der sophokleischen Tragödie.209

2.3 Anachronismen: Rahmendurchbrechung und ironische Zwei-Zeitigkeit bei Cocteau, Giraudoux, Gide, Sartre Ein weiteres Element, das die ironische Dramaturgie und das unverwechselbare stilistische Kolorit der französischen Mythendramen in vielen Varianten bestimmt und sie innerhalb unseres Korpus als spezifische nationale >Schule< mit einem unverwechselbaren dramatischen Idiolekt kenntlich macht, ist der gezielte Einsatz von Anachronismen als eine Technik der punktuellen, aber pointierten und gewollt auffälligen Durchbrechung des raum-zeitlichen Handlungsrahmens. Im Gegensatz zu den im vorigen Kapitel erörterten, vor allem bei Eugene O'Neill und T.S. Eliot gültig ausgeprägten Verfahrensweisen einer systematischen raumzeitlichen Transposition der griechischen Prätexte in ein zeitgenössisches oder zumindest gegenwartsnahes setting - diese Versetzungen blieben insofern einsinnig und diskret, als sie danach strebten, die Vorgaben ihrer antiken Bezugstexte in toto, und zwar möglichst bruchlos, stimmig und in sorgsam bis ins kleinste Detail ausgeführten Korrespondenz- und Aquivalenzbezügen, in eine moderne >Welt< zu übertragen - , anders also als diese auf stilistische Homogeneität und interne Geschlossenheit zielenden Strategien einer >heterodiegetischen< Übersetzung basiert der ironische Gebrauch des Anachronismus gerade auf einem Kalkül der begrenzten >Rahmendurchbrechung< und der beabsichtigten Dissonanz. 210 Hier nämlich werden, mit 109

210

Martin (Gide, Cocteau, Œdipe, S. 157) erläutert die Sophokles-Affinität der Cocteauschen Version aus dem Vergleich der Blendungsszene mit ihrem Gideschen Gegenstück; für Cocteaus Protagonisten gilt demnach: »Sa mutilation est un geste d'horreur et de désespoir, nullement un défi ni une orgueilleuse révolte, elle n'est pas un acte libre comme elle l'était pour le héros de Gide; ce n'est là que le dénouement du divin complot, le dernier ressort débandé de la machine infernale.« Ich folge mit dieser Unterscheidung der präzisen >differentialdiagnostischen< Bestimmung bei Genette, Palimpsestes, Kap. LXII, S. 358: »On ne confondra pas, enfin, la modernisation diégétique, qui consiste à transférer en bloc une action ancienne dans un cadre moderne, avec la pratique, toujours ponctuelle et dispersée, de l'anachronisme, qui consiste à émailler une action ancienne de détails stylistiques et thématiques modernes, comme lorsque dans l'>Antigone< d'Anouilh les gardes de Créon jouent aux cartes. Les deux pratiques sont évidemment incompatibles: la fonction de l'anachronisme est celle

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dem Gestus poetischen Mutwillens und mit häufig komischem oder verblüffendem Resultat, die vordergründig homodiegetischen, d.h. an ihren überkommenen Schauplätzen und in ihrer ursprünglich-griechischen Sphäre belassenen, Handlungskonstellationen des tragischen Mythos auf eine Weise mit >unzugehörigen< (und also >störendenantiker< Situation und, in zeichenhafter Allusion repräsentierter, >moderner< Wirklichkeit zu fahnden. Diese kalkulierten >Stolper-Effekte< akzentuieren und verschärfen die für die Texte dieser >Schule< ohnehin charakteristische ironische Spannung von Traditionsbezug und Modernismus, wie wir sie oben bereits an der Inkongruenz von tragisch-erhabenem Sujet und prosaischalltagsnaher Diktion verdeutlicht hatten, und sie tragen maßgeblich bei zum Eindruck einer (wiederum durch die starke französische TravestieTradition von Scarron bis Offenbach vorbereiteten und begünstigten) ironischen Zwei-Zeitigkeit und reflexiven Zweideutigkeit dieser pseudoantiken Dramen. Als Ironiesignal, Gestus witziger Verfremdung oder Medium gezielter Entpathetisierung begegnet der Anachronismus in fast allen französischen Mythendramen unserer Epoche, wobei Häufigkeit und Gewichtigkeit seines Auftretens bei den einzelnen Autoren allerdings beträchtlichen Schwankungen unterliegen: Das Spektrum der Möglichkeiten reicht hier von durchaus sporadischen und betont >lässig< eingestreuten punktuellen Rahmendurchbrechungen bis zum planmäßigen und für die Faktur ganzer Werke bestimmenden Einsatz zweizeitiger Strukturen, wie er vor allem das Œuvre Jean Anouilhs charakterisiert. Ein gewisser Unernst und ein Moment kalkulierter Distanzierung sind dabei wohl für alle Verwendungsarten konstitutiv: Wo Anachronismen ins Spiel kommen, scheint die Handlung an Geschlossenheit, Unmittelbarkeit und >tragischer< Stringenz zu verlieren, was sie an Doppelbödigkeit und Reflexivität gewinnt. Die mythischen Ausgangskonstellationen wirken durch die noch so flüchtige Kontaminierung mit zeitgenössischen Realien in ihrer Authentizität gleichsam >eingeklammertentwirklichtantiken< Wirklichkeit widerfährt. Ob Gides Œdipe seine kosmopolitische Ungebundenheit mit dem Argument begründet, ihm sei es völlig gleichgültig, ob er Grieche sei oder Franzose »Que m'importe, dès lors, si je suis ou Grec ou Lorrain?«211 - , oder ob Giraudoux' Gärtner gleich zu Stückbeginn auf den Königspalast der Atriden deutet, dessen Fassade abwechselnd lache und weine und je zur Hälfte aus französischem und aus griechischem Stein gefügt sei - »le corps de droite est construit en pierres gauloises [...], le corps de gauche est en marbre d'Argos«212 - , stets zersetzen solche transdiegetischen Fingerzeige die >realistische< oder sonstwie >authentische< Qualität der Szenen- und Figurengestaltung und verweisen in ironischer Deixis auf die Mehrschichtigkeit dramatischer Handlungen, die Tragödien-Konfigurationen von weltliterarischem Prestige nicht einfach >klassizistisch< wiederholen und rearrangieren, sondern sie zugleich im Horizont gegenwärtiger Wirklichkeiten und Fragestellungen kommentieren und instrumentalisieren wollen.21' Dramaturgisch-typologisch betrachtet, scheinen die anachronistischen Eingriffe der französischen Mythendramatik vor allem in zwei Spielarten aufzutreten und dabei teilweise verschiedene Funktionen zu erfüllen: Zum einen sind sie immer dort ein bevorzugtes Mittel der Wahl, wo es darauf abgesehen ist, die Konstellationen der antiken Tragödien zu travestieren und sie aus ihrer historischen Ferne und klassisch-kanonischen Erhabenheit hereinzuholen in den Bewußtseins- und Erfahrungshorizont zeitgenössischer Alltäglichkeit. In den eingestreuten Anachronismen kul-

211

Gide, >(Edipepostkonventionelle< Identität und die Heimatlosigkeit des aufgeklärten (modernen) Intellektuellen: »Jailli de l'inconnu; plus de passé, plus de modèle, rien sur quoi m'appuyer; tout à créer, patrie, ancêtres... à inventer, à découvrir. Personne à qui ressembler, que moi-même. Que m'importe, dès lors, si je suis ou Grec ou Lorrain?« (Ebd.).

212

Giraudoux, >ÉlectreŒdipe< die »très ingénieuse idée de soutenir et motiver tous les anachronismes de la pièce [...] par un décor mi-antique, mi-moderne, mêlant les colonnes d'un temple grec à une projection, sur la toile de fond, de Notre-Dame de Paris. Les acteurs mêmes portaient leurs oripeaux de tragédie sur un costume outrageusement contemporain. L'illusion scénique, dès lors, était nulle; mais ma volonté de ne point chercher à l'obtenir devenait du coup évidente [...].« J o u r nal·, Juni 1932, S. 1129.

213

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miniert und erfüllt sich in diesem Fall eine Bearbeitungstendenz, die auch bereits an der prosaischen Diktion und an anderen Techniken der >Entheroisierung< und >Entsublimierung< der Prätexte ablesbar war. Dieser Strategie burlesker Profanierung und Trivialisierung dienen die Anachronismen in >La Machine infernale< oder in Giraudoux' >Électreantiken< Dramen-Schauplätze hineingespiegelte Zitate aus zeichenhaft repräsentierten und von Fall zu Fall eher karikaturistisch verzerrten oder idyllisch überhöhten modernen Trivialordnungen, anachronistische Parallelisierungen mithin, die indes nicht eigentlich darauf zielen, den raum-zeitlichen Bezugsrahmen der >griechischen< Szenerie zu sprengen, als vielmehr ihn ironisch zu erweitern in Richtung auf eine Ebene >zeitloser< Alltäglichkeit und der ewigen Wiederkehr des Banal-Gleichen. Poetologisch gewendet und von der intertextuellen Kategorientafel Genettes her betrachtet, sind die französischen Mythendramen nach antiken Tragödien also weder streng >homodiegetisch< noch aber >heterodiegetisch< im Sinn der vollständigen raumzeitlichen Transposition in einen modernen Kontext. A m ehesten müßte man ihr punktuellanachronistisches Uberschreibungsverfahren mit seinen partiellen Rahmendurchbrechungen als >polydiegetischen< Mischtypus bezeichnen; hier legt der literarhistorische Befund eine Verfeinerung der Genetteschen Terminologie nahe. Diesem Niveau anachronistisch-travestierender Uberblendung und anthropologischer Generalisierung - ihre Domäne sind bezeichnenderweise vor allem periphere Episoden, Nebenhandlungen, subalterne Rand214 215 2,6

Vgl. >La Machine infernales Acte I, S . n i f . , S.228. Vgl. bes. >ÉlectreÉlectreŒdipe< oder Sartres >Les Mouches< eine zweite Variante diegetischer Rahmendurchbrechungen gegenüber, die nun gerade auch die Hauptfiguren erfaßt und sie in ihr Anachronismenspiel einbezieht: Wenn in Gides Stück die dekadenten Odipus-Söhne brillante Essays über ihr »Mal du siècle« oder über »Notre Inquiétude« verfassen,217 Créon sich selbst als eingefleischten politischen »conservateur« vorstellt,218 wenn die fromme Antigone ins Kloster gehen möchte2'9 und Tirésias gar im Möchshabit (»vêtu en religieux«220) und mit der autoritären Attitüde eines Großinquisitors auftritt, der sich mit plakativen christlichen Parolen und Bibelsprüchen Respekt zu schaffen sucht, dann sind diese von der >griechischen< Diegese des Dramas her anstößigen, weil aus dem Rahmen fallenden Modernismen ebenso leicht als zeichenhafte Abbreviaturen gegenwartsbestimmender Geisteshaltungen zu identifizieren wie die Anachronismen in Sartres Drama, wo Oreste und sein philosophischer Mentor vor ihrer Ankunft in Argos als kunstsinnige Bildungstouristen ganz Italien und Griechenland bereist haben - wobei ihnen, in souveräner chronologischer Unbekümmertheit auch innerhalb des >antiken< Zeitrahmens, »le géographe Pausanias« 221 als Cicerone diente - und wo der Pädagoge sich rühmt, er habe seinen Schüler zum aufgeklärten Weltmann erzogen, affranchi de toutes les servitudes et de toutes les croyances, sans famille, sans patrie, sans religion, sans métier, libre pour tous les engagements et sachant qu'il ne faut jamais s'engager, un homme supérieur enfin, capable par surcroît d'enseigner la philosophie ou l'architecture dans une grande ville universitaire. 222

Offenkundig geht es in diesen Beispielen gerade nicht um die Authentizität und Plausibilität einer >antiken< Milieu- und Charakterzeichnung; vielmehr fungieren diese punktuellen, zunächst wie willkürliche >Gags< anmutenden Anachronismen als gleichsam antihistoristische Indices, die klarstellen, daß es in Gides und Sartres Dramen weder um die irgendwie getreue Rekonstruktion >griechischer< Schauplätze oder Situationen zu

2,7 218

219

220 221

222

Gide, >ŒdipeLes Mouches«, I/2, S. 25. (Zitiert wird hier und im weiteren nach der Ausgabe Jean-Paul Sartre: Théâtre I, Paris: Gallimard, 1947). Ebd., S.26.

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tun ist noch auch, wie in unseren vorigen Beispielen, um eine triviale anthropologia perennis. Eher wird man den Anachronismen in >Œdipe< und >Les Mouchesgriechischen< Handlung an markanten Stellen durchbrechen und ihre >antiken< Figuren mit dezidiert >unpassenden< modernen Attributen, Mentalitäten, Denkweisen ausstatten, desavouieren sie jedes einseitig >archäologische< Interesse an ihrem Sujet und lenken die Aufmerksamkeit auf die viel weitere und grundsätzlichere zeitgenössische Bezüglichkeit ihrer intellektuellen Versuchsanordnungen. Tatsächlich führen ja sowohl die diegetisch >störenden< modernen Züge der Gideschen Figuren wie die in der Exposition von >Les Mouches< in zeitgenössischen Wertbegriffen und Karrierevorstellungen (»enseigner la philosophie ou l'architecture dans une grande ville universitaire«) entworfene geistige Haltung des Philosophenzöglings Oreste in seiner elitären Praxisferne (»sachant qu'il ne faut jamais s'engager«) direkt in die innerste Problemschicht ihrer Dramen hinein: In Gides »combat des idées« geht es wesentlich um eine >progressivmoderne< Feinsinn des desinvolvierten »homme supérieur«,22' der im Verlauf der Handlung einer entschiedenen philosophischen Kritik unterzogen und in einer wiederum ganz modern gedachten existentiellen Wende korrigiert wird: Oreste wird begreifen, qu'il faut s'engager. In beiden Stücken aber lassen die ostentativen Verstöße gegen den diegetischen Rahmen der pseudoantiken Welten von >Argos< oder >Theben< keinen Zweifel daran, daß sie ihren entscheidenden Bearbeitungs- und Veränderungsimpuls aus der prononciert modernen Resemantisierung antiker Mythoskonstellationen beziehen.

223

Henning Krauss (Die Praxis der littérature engagée< im Werk Jean-Paul Sartres (1938— 1948), Heidelberg 1970, S. 100) erkennt hier die »polemisierende Übernahme Gidescher Maximen« und deutet Orestes geistigen Mentor, den Pédagogue, als »Figur für André Gide, den zeitgenössischen directeur de conscience der französischen Intelligenz«; übereinstimmend spricht Karl Kohut (Jean-Paul Sartre, >Les MouchesAntigone< und >MédéeTragödien< der Zweideutigkeit Der Meister des Anachronismus im Mythendrama der französischen Schule ist ohne Zweifel Jean Anouilh: In seinen Dramen nach griechischen Modellen 224 - und allen voran in der >Antigone< von 1942 - spielen zweizeitige Techniken und Strukturen eine beherrschende Rolle, bei keinem anderen Autor dieser Richtung sind sie so virtuos ausgeführt, und nirgends sonst verknüpfen sie sich ähnlich direkt und folgerichtig mit den leitenden Aussage- und Wirkungsintentionen. Dieser Eindruck läßt sich durch quantitative Befunde erhärten (und hier einmal schlägt Quantität tatsächlich unmittelbar in eine veränderte Qualität um): Anders als in den bisher betrachteten Beispielen gebraucht Anouilh den Anachronismus nicht mehr nur zur punktuellen Durchbrechung oder Ausdehnung eines insgesamt stabilen diegetischen Rahmens, sondern setzt ihn systematisch und in breitester Streuung über alle Handlungsebenen hinweg ein, eine dramaturgische Technik, die zum Effekt einer kalkulierten und in ihrer internen Balance sorgsam austarierten >Reibung< von antik-tragischer Situation und zeitgenössisch-trivialem Ambiente führt. 225 Von ausschlaggebender Bedeutung ist es dabei, daß diese allgegenwärtige Grundspannung - als Schweben sowohl zwischen zwei Zeitebenen wie auch zwischen zwei ganz verschiedenen Sí¿/lagen,226 ja letztlich, in metaphorischer Generalisierung, zwischen zwei existentiellen Haltungen, zwei konkurrierenden Modi des In-der-Welt-Seins - in Anouilhs Mythendramen durchgängig gewahrt bleibt und auch am Schluß nicht zu einem Ausgleich geführt wird. Die Zweizeîiigkeit des Dramas ist hier Indiz, sprachlich-szenisch verdeutlichender Außenaspekt einer konstitutiven semantisch-thematischen Zweideutigkeit, von der wir bei der Erörterung von Anouilhs Tragödienkonzeption noch genauer sprechen werden. 224

225

116

Wir konzentrieren uns im folgenden auf die beiden fraglos bedeutendsten Beiträge Anouilhs, >Antigone< von 1942 und >Médée< von 1946. Sie werden zitiert nach Jean Anouilh: Nouvelles pièces noires, Paris: Les Éditions de la Table Ronde, 1967. Murray Sachs: Notes on the Theatricality of Anouilh's »Antigone«. In: The French Review 36 (1962/63), S. 3 - 1 1 , beobachtet »a whole series of deliberate anachronisms«; diese seien »skillfully blended with direct references to Thebes, to Oedipus, and to the whole legendary apparatus that forms the background of the original. Thus Anouilh neither avoids mention of the past, nor prevents identification with the present, but by subtly blending the two achieves a convincing sense of timelessness and universality.« (S.6). Hans Robert Jauß: Racines >Andromaque< und Anouilhs >Antigone< (klassische und moderne Form der französischen Tragödie). In: Die Neueren Sprachen 59 [= N . F . 9] (i960), S. 428-444, konstatiert: »Das antiklassische Prinzip der Stilmischung ist hier in einer Weise verwendet, die den Bruch zwischen dem modernen Theater und dem bürgerlichen Schauspiel der Diderot-Nachfolge unverkennbar macht.« (S.441).

402

Verdeutlichen wir uns diese Verhältnisse an Anouilhs bedeutendster Antikentransformation, >Antigonenominell< ist die griechische Diegese beibehalten, 227 ja, sie wird in der einleitenden Vorstellung der Charaktere durch den Sprecher und Kommentator (»Le Prologue«) ausdrücklich bekräftigt: »Voilà. Ces personnages vont vous jouer l'histoire d'Antigone«, 2 2 8 lautet der erste Satz des Dramas. Die Eigennamen sind identisch mit denen des sophokleischen >Originals< (Antigone, Créon, Hémon, Ismène, Eurydice heißen die Figuren, Ort der Handlung ist Theben), und ebenfalls wird von Anbeginn bekräftigt, daß die Handlung dem tödlichen Gefälle der griechischen Tragödie folgen, sie >wiederholen< wird: »Elle pense qu'elle va mourir«, 229 heißt es über die in sich gekehrte Protagonistin, und: »Elle s'appelle Antigone et il va falloir qu'elle joue son rôle jusqu'au bout...«. 2 ' 0 Dieser Statuierung eines Verhältnisses diegetischer und thematischer Kontinuität gegenüber einem kanonischen Archetext der dramatischen Weltliteratur stehen allerdings wiederum von Anfang an Signale der diegetischen Entfernung und Verfremdung gegenüber: » U n décor neutre«, 2JI verlangt die einleitende Szenenanweisung ausdrücklich, und bereits die >epische< Präsentation aller Personen durch den Sprecher ist systematisch durchsetzt mit anachronistischen Hinweisen auf ganz und gar >unantike< Realien, Charakteristika, Tätigkeiten: Das gilt für Antigone selbst, jene »maigre jeune fille noiraude et renfermée que personne ne prenait au sérieux dans la famille«, 232 die sich abseits von den anderen hält, weil sie weiß, daß sie bald sterben wird, und es gilt in noch höherem Grade für alle anderen Figuren, die der Prolog mit dezidiert >modernoui< avec un petit sourire triste... L'orchestre attaquait une nouvelle danse; Ismène riait aux éclats«236 usw. Ganz modem stilisiert auch Créon, der ein aristokratischer Schöngeist war, Musikliebhaber und Bücherfreund - »quand il n'était que le premier personnage de la cour, il aimait la musique, les belles reliures, les longues flâneries chez les petits antiquaires de Thèbes« - , bevor mit dem Tod des Odipus und seiner Söhne die harte Welt der Politik ihn einholte und ihm eine Verantwortung aufzwang, die er in bewußter Entsagung akzeptierte: »Ii a laissé ses livres, ses objets, il a retroussé ses manches et il a pris leur place«.237 Créons Frau, Eurydice, ist eine unscheinbare ältere Dame, die eifrig mit ihrem Strickzeug beschäftigt ist und an der nichts auf ihr bevorstehendes Schicksal hindeutet - »Elle tricotera pendant toute la tragédie jusqu'à ce que son tour vienne de se lever et de mourir« 238 - , und die drei kartenspielenden Wächter schließlich, vierschrötige, rotgesichtige Kerle und Familienväter, die ein wenig nach Knoblauch, Rotwein und Leder riechen, sind zeitlose Dutzendexistenzen und haben kleine Sorgen »wie wir alle«: »Ce ne sont pas de mauvais bougres, ils ont des femmes, des enfants, et des petits ennuis comme tout le monde [...]. Ce sont les auxiliaires toujours innocents et toujours satisfaits d'eux-mêmes, de la justice«. 2 " Solche generalisierenden Qualifikationen des »toujours« und des »comme tout le monde« suchen ein Niveau zeitenthobener Normalität, Durchschnittlichkeit, Gewöhnlichkeit zu errichten, auf dem >antikes< setting und anachronistisch->moderne< Attribute in einem Horizont untragi-

234

Ebd. Ebd, S.132. 23i Ebd. 2 '7 Ebd. 238 Ebd. 2 « Ebd., S.133. 23!

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scher Immergleichheit verschmelzen.240 Von diesem Relief einer perennierenden Alltäglichkeit - ihr entspricht in Anouilhs tragischer Gattungspoetik der Bereich des drame - soll sich (wie wir noch genauer sehen werden) die Dimension genuiner Tragik, der tragédie, in vermittlungsloser Schärfe abheben. Könnte der unbefangene Leser oder Zuschauer dieser pseudo-epischen Exposition241 die dichten Anachronismen bei der Vorstellung der Charaktere allenfalls noch für einen >Ubersetzungsversuch< des Kommentators halten, der in direkter Anrede an das Publikum - dessen Zeitgenosse er ist und dessen Sprache er spricht - die >modernen< Züge und Analogien der Figuren- und Handlungskonstellation hervorhebt, bevor die auf diese Weise präsentierten dramatis personae in pirandellesker Manier242 in ihre >antike< Geschichte eintreten - »Et maintenant que vous les connaissez tous, ils vont pouvoir vous jouer leur histoire«243 - , so erweist sich diese 240

Ähnlich begreift Manfred Flügge (Jean Anouilhs >AntigoneAntigone< durchaus im Vorfeld des sogenannten Theaters des Absurden. >Antigone< ist eine Tragödie der sozialen Banalität.«

241

Vgl. die sehr gute Analyse bei Gerhard Goebel (Jean Anouilh. >AntigoneProlog< herausstellt, weder die einleitende Conférence noch das »Quiproquo von Darsteller und Figur« dienten »einer Distanzierung der Geschichte, die sich vor unseren Augen wiederholen soll. Es treten hier nicht etwa, wie es Brecht für das epische Theater fordert, Schauspieler auf, die die von ihnen dargestellten Figuren >zeigenletzten Dinge< eskaliert, zum Agon zweier unversöhnlicher existentieller Mentalitäten; auch hier zuletzt die tragische Katastrophe mit dem Tod Antigones, Hémons, der Eurydice. Auf der anderen Seite aber eine systematische Herunterstimmung und Veralltäglichung der Handlung und, als wirkungsvollstes Medium dieser Tendenz zur Travestie, wiederum zahllose anachronistische Signale: In dieser pseudo-antiken >Welt< kann Antigone, die soeben im ersten Morgengrauen den Leichnam des Bruders mit Staub bedeckt hat, die Farben des Sonnenaufgangs mit einer bunten Postkarte vergleichen;246 Etéocle und Polynice, die gleichermaßen mißratenen Söhne des Odipus, werden gegen ihren Vater handgreiflich, 247 244

24!

246

247

Jauß (Racines >Andromaque< und Anouilhs >AntigoneVerfremdungChors< lautet: »II ne reste plus que les gardes. Eux, tout ça, cela leur est égal; c'est pas leurs oignons. Us continuent à jouer aux cartes ...« (S. 207). 2 " >Antigoneno< to life. As soon as a social function or commitment is accepted, the character becomes a corrupt hypocrite and the world around him is translated into a false theatrical décor.« In denselben systematischen Zusammenhang gehören die Beobachtungen Harald Weinrichs (Fiktionsironie bei Anouilh. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 2, 1961, S. 239-253, bes. S. 2 5of.) über den häufigen Gebrauch von Theatermetaphern durch die Figuren; der Verfasser deutet sie als das ironische »Vehiculum, das die Fiktionsironie vom Autor zum Zuschauer trägt«, und damit als ein modernes Surrogat für die griechi408

Hinweis auf die beängstigende Geschwindigkeit verbunden, mit der sich die Protagonistin seit der Öffnung des Vorhangs aus der Sphäre der untragischen Normalexistenzen, der Sphäre ihrer Schwester und >von uns aliens 2 ' 9 entferne: Et, depuis que ce rideau s'est levé, elle sent qu'elle s'éloigne à une vitesse vertigineuse d e s a s œ u r Ismène, qui bavarde et rit avec un jeune homme, de nous tous, qui sommes làbien tranquilles àlaregarder, de nous qui n'avons pas àmourir ce soir. 2 f o

Das Drama inszeniert diese Ablösung als eine Serie melodramatischer Abschiede: von der ewig besorgten, liebevoll »nounou« genannten Amme, von Douce, dem kleinen Hündchen, von Hémon und der mit ihm verbundenen Hoffnung auf Liebe, auf ein gemeinsames Leben, auf Kinder (»Le petit garçon que nous aurions eu tous les deux ,..« 261 ). Hier werden in zeichenhaften Abbreviaturen und in einem Gestus wehmütiger Aufhebung der sich später, im Disput mit Créon, zur grundsätzlichen Haltung des »dire non« steigern und verfestigen wird - noch einmal jene harmonischen Kindheitsszenen und erotischen Hoffnungen erinnert, die auch für Antigone Glück bedeuteten, bis sie sich zu ihrer Preisgabe entschloß, weil der Gedanke an die Enttäuschung oder >vernünftige< Herabstimmung ihrer jugendlich-absoluten Erwartungen durch ein prosaisches >Erwachsenenleben< im Zeichen von Einschränkungen, Regeln, Kompromissen ihr unerträglich schien. Auf die dabei zugrundeliegende Tragödienkonzeption werden wir später eingehen; hier, wo wir nach der Funktion der Anachronismen und systematischen >polydiegetischen< Trivialisierungen des Textes fragen, ist deutlich, daß sie zuletzt der Profilierung der Protagonistin in der Alterität ihrer tragischen >Weltfremdheit< dienen. Die zeitlosbanalen Konkreta, an die die anderen Figuren des Dramas ihr Herz hängen oder mit denen sie sich in gleichmütiger Gedankenlosigkeit zufriedengeben, sind Chiffren einer unreflektierten und nur von Antigones geistigem Antipoden, Créon, bewußt angenommenen und als notwendig

1,9

260 261

sehe Schicksalsironie: Die »Ironie des Zuschauers« trete als Äquivalent des Schicksals auf: »Sie konstituiert eine Tragik, die der griechischen Tragik analog ist. Ihr Signum ist die Vergeblichkeit.« (Ebd., S. 251). Gute Überlegungen zu Anouilhs Dramaturgie des Zuschauers bei Weinrich, Fiktionsironie bei Anouilh, bes. S . i ^ i f . Weinrich zufolge wird der Zuschauer der >AntigoneAntigone*, S. 1 3 1 . Ebd., S. 1 5 1 .

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bejahten Alltagsverhaftung, einer kompromißbereiten und pragmatischanpassungswilligen Lebensform, deren >absurde< Anspruchslosigkeit Antigone nicht genügt: »Vous me dégoûtez tous avec votre bonheur!«262 Aus dem Geschlecht des radikalen Fragers und Rätsellösers Odipus stammend - »Nous sommes de ceux qui posent les questions jusqu'au bout« 26 ' - , verweigert Anouilhs Heldin sich den trivialen und ephemeren Passionen ihrer Mitspieler und erwidert auf deren Arrangement mit dem kleinen Glück - »cette petite chance, pour tous les jours si on n'est pas trop exigeant«264 - mit der >romantischen< Unbedingtheit eines existentiellen Glücks- und Authentizitätsverlangens, das lieber die absolute Negation, den Tod, in Kauf nimmt, als sich von der >kindlichen< Maßlosigkeit seines Wünschens etwas abmarkten zu lassen: ANTIGONE: Moi, je veux tout, tout de suite, - et que ce soit entier, - ou alors je refuse! Je ne veux pas être modeste, moi, et me contenter d'un petit morceau si j'ai été bien sage. J e veux être sûre de tout aujourd'hui et que cela soit aussi beau que quand j'étais petite - ou mourir. 2 6 '

Es ist entscheidend für das Verständnis und die Tragweite dieser Absage, daß in ihr das für die Konfliktanlage der sophokleischen >AntigoneAntigoneAntigoneMythos< dem Opfer der Schwester scheinbar jeden Sinn entzogen haben, läuft diese von Créon zur Rettung Antigones unternommene Aufklärung über die arcana imperii ins Leere, weil, wie sich nun in radikal antisophokleischer Wendung273 herausstellt, Polyneikes für Antigone von vornherein nur ein Vorwand war, nichts als der begierig ergriffene, aber am Ende verzichtbare Anlaß einer viel umfassenderen existenzphilosophischen Negationsgebärde in Reaktion auf das verachtete Glück und die verächtlichen Kompromisse der vielen mediokren Ja-Sager.274 Créon, 270 271

272 27J

274

Ebd. »CRÉON: J'ai fait ramasser un des corps, le moins abîmé des deux, pour mes funérailles nationales et j'ai donné l'ordre de laisser pourrir l'autre où il était. Je ne sais même pas lequel. Et je t'assure que cela m'est égal.« (Ebd.). >Antigoneantiquiert< anmutet) erkennt die Verfasserin in Anouilhs Version dann »nicht nur an sich die einzige dramatische Dichtung von Bedeutung, die nach Sophokles den Antigonestoff behandelt hat, sondern es liegt hier auch der eigentümliche und seltene Fall vor, daß eine moderne dichterische Gestaltung des antiken Stoffes sich zugleich als eine Art von Interpretation dieses Stoffes darstellt.« (S. 192). Eine entschiedene Kritik dieser thematischen Verschiebung bei George Steiner: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, München 1988, S. 239: »Wenn [Antigone] wenige Augenblicke später [d.h. nach der Aufklärung über den unwürdigen Charakter ihrer Brüder und die politischen Hintergründe des Bestattungsverbots; WF] beschließt, Créon dennoch zu trotzen [...], so hat das nichts mit den wesentlichen Problemen der Sage oder des Sophokleischen Stückes zu tun. Antigones zweites Aufbegehren kommt aus einer mehr oder weniger modischen und nebensächlichen psychologischen Wendung. Créons onkelhaftes, herablassendes Bestehen auf Glücklichsein, auf der weltlichen Routine, die sie im Eheleben erwartet, ekelt sie an. Hysterisch schreckt Antigone

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der Antigone nicht zum Leben überreden kann, weil sie sich seinen >realistischenverantwortungsethischenerwachsenen< Argumenten kategorisch verschließt A N T I G O N E : J e ne v e u x pas c o m p r e n d r e . C ' e s t b o n p o u r v o u s . M o i je suis là p o u r autre c h o s e q u e p o u r c o m p r e n d r e . J e suis là p o u r v o u s dire n o n et p o u r mourir275 - ,

dieser Créon faßt die emphatische Totalverweigerung seiner Kontrahentin so zusammen: C R É O N : C ' e s t elle qui v o u l a i t m o u r i r . A u c u n de n o u s n'était assez f o r t p o u r la décider à v i v r e . J e le c o m p r e n d s m a i n t e n a n t , A n t i g o n e était faite p o u r être m o r t e . E l l e - m ê m e ne le savait p e u t - ê t r e p a s , mais P o l y n i c e n'était q u ' u n p r é texte. Q u a n d elle a d û y renoncer, elle a t r o u v é autre c h o s e t o u t d e suite. C e qui i m p o r t a i t p o u r elle, c'était de r e f u s e r et d e m o u r i r . 2 7 6

In letzter Konsequenz besitzen Anouilhs Antikentransformationen - in >Antigone< nicht weniger als in der vier Jahre später, 1946, entstandenen >Médée< - ihre besondere Qualität und ihren philosophischen >Stachel< wesentlich darin, daß sie in der Konfrontation ihrer tragisch isolierten, durch ein romantisch-absolutes Unbedingtheitspathos, ein Pathos àtr:pureté,177 ausgezeichneten Heroinen mit einem prosaisch-alltäglichen Milieu und mit konzilianteren Gegenfiguren zwar eine denkbar grundsätzliche existentielle Dichotomie formulieren, die klargeschnittene Alternative des »dire oui« und »dire non«, daß sie zugleich aber die dramaturgischen Mittel finden, um die beiden Positionen in der Schwebe zu halten und keinem einzelnen >Pathos< (Hegel) das Recht zuzusprechen oder einen unzweideutigen Vorrang einzuräumen. Mag das in Antigone und Médée verkörperte absolute Negationsprinzip durch die Grandiosität seiner Gebärden und durch seine, wenn schon nicht gedanklich unangreifbare, so jedenfalls existentiell beglaubigte, tödlich-faktische Konsequenz imponieren278 - hier wirken fraglos Elemente der in der französischen Tradition

275 276 277

278

vor häuslichem Glück zurück. Sie entscheidet sich dafür, in jungfräulicher Unmittelbarkeit zu sterben, unbefleckt von den salbungsvollen Kompromissen bürgerlichen Lebens. Nichts davon entkräftet in irgendeiner Weise Créons Argumente gegen den >Rowdy< Polynice und gegen Antigones >absurde< Rebellion.« >Antigonevon unten< zur heimlichen Generalaussage zu 284

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»LA NOURRICE: Médée, je suis vieille, je ne veux pas mourir! Je t'ai suivie, j'ai tout laissé pour toi. Mais la terre est encore pleine de bonnes choses, le soleil sur le banc à la halte, la soupe chaude à midi, les petites pièces qu'on a gagnées dans sa main, la goutte qui fait chaud au cœur avant de dormir.« >MédéeAntigonezeitlose< Alltagsglück und die Lebensgier der Amme und der trivialen Existenzen ihres Schlages (»les autres de ta race« 286 ) Anouilhs tragischen Heldinnen verächtlich sind - »Je sais, vous voulez tous vivre«, schleudert Médée der um ihr Leben Flehenden entgegen, und: »Le jeu que nous jouons n'est pas pour vous« 287 - , so erscheint im Alltagshorizont einer >polydiegetisch< gezeichneten Normalität der tragische Extremismus der Protagonistinnen als das ganz Andere, Rätselhaft-Fremde und Bedrohlich-Überspannte. Nach der hier obwaltenden Dialektik einer »tragédie de l'équivoque« 288 stellen sich die Perspektiven von mythisch-heroischen Protagonisten und untragischen Nebenfiguren wechselseitig in Frage, und am Ende sind es gerade die in den Travestien und Anachronismen der Texte vollzogenen Angleichungen des Geschehens an ein zeitgenössisch-alltägliches Bewußtseins- und Erfahrungsniveau, die das Problem der modernen Möglichkeit des Tragischen, das Problem seiner aktuellen Triftigkeit, Verbindlichkeit, Unausweichlichkeit, mit um so größerer Schärfe aufwerfen. Wir werden bei der Erörterung von Anouilhs Poetik der tragédie und des drame darauf zurückkommen.

3. Meta-Tragödien und literarische Selbstreflexion: Elemente einer offenen Dramaturgie Zu den auszeichnenden Charakteristika, die die Tragödientransformationen des modernen französischen Mythendramas von anderen >Schulen< unterscheiden und, ungeachtet einer beachtlichen Vielfalt der literarischen Ausführung im einzelnen, zum Eindruck eines spezifischen dramaturgischen Idiolekts maßgeblich beitragen, zählt nicht zuletzt eine ausgeprägte Tendenz zum werkinternen Kommentar, zur ironisch akzentuierten formalen wie thematischen Selbstreflexion, zur betont anti-illusionistischen Hervorkehrung der Literarizität und des intertextuell vermittel186 287 288

>MédéeAntigonethéâtre de l'absurde< ou >théâtre du néants résume nos questions sans réponse et nos actions sans lendemain, et Anouilh a réussi la gageure de faire d'une tragédie de la foi une tragédie de l'équivoque«. Sinngemäß heißt es bei Pol Vandromme (Un auteur et ses personnages. Essai suivi d'un recueil de textes critiques de Jean Anouilh, Paris 1965, S.95): »Anouilh n'était pas plus Créon qu'Antigone. Devant Antigone, il était Créon. Devant Créon, il était Antigone.«

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ten Status der Texte. Wie bereits die früher beobachteten Neigungen zur Pathosreduktion, zur ironischen oder persiflierenden Verfremdung vertrauter mythisch-tragischer Konstellationen, zur anachronistischen Rahmendurchbrechung ist auch diese reflexive Form- und Stilqualität mit dem spezifischen Rationalitätstypus dieser Dramengruppe untrennbar verbunden, mit dem Charakter einer prononciert modernen littérature au second degré nämlich, die sich ihrer griechischen Prätexte nicht einfach in >stillschweigender< Anleihe bedient, sondern die Differenz antiker und zeitgenössischer Schreibweisen ausdrücklich herausstreicht und darin neben den mythischen Sujets selbst immer zugleich die Voraussetzungen und den Modus ihrer gegenwartsgemäßen Wiederaufnahme in den Rang eines Themas erhebt. Ihre Annäherung an vergangene Texte von kanonischer Geltung bedenkend, bedenken diese Dramen eo ipso sich selbst, ihr eigenes Verfahren, die geschichtsphilosophischen Bedingungen ihrer Möglichkeit. In ihnen wird ein traditionsvermittelter Typus von Literatur aus Literatur< sich selbst thematisch.

3.1 Intertextualitätssignale und weltliterarische Verweise Ein pointierter Ausdruck dieser betonten condition littéraire der Texte sind, besonders im Œuvre André Gides und Jean Cocteaus, die zahlreichen Intertextualitätssignale, die - darin der Aufbrechung der raumzeitlichen Deixis durch den gezielten Einsatz von Anachronismen vergleichbar - die >Absolutheit< der dramatischen Handlung suspendieren und sie, jenseits des Figurenbewußtseins, auf eine Dimension des intertextuellen Dialogs hin öffnen. Ob André Gide die drei Akte seines Odipus-Dramas jeweils unter ein Motto aus den griechischen Tragikern stellt28' und für das eigene Ideen-Spiel den Status einer zeitgemäßen applicatio dieser antiken Leitgedanken reklamiert; ob der >FantömeLa Machine infernale< das aus den Odipus-Versionen Senecas, Corneilles und Voltaires übernommene Motiv vom gespenstischen Wiedergängertum des toten Laios mit einem grotesken >HamletAntigoneŒdipe»Œdipe, ô imprudemment engendré! fils de l'ivresse.< Euripide, >Les Phéniciennes«»Ne me prenez pas, je vous en conjure, pour un contempteur des lois.< Sophocle, >Œdipe à Colone«ŒdipeŒdipeÉlectreÉlectreEumenidenKind< genannt,/ Erzeugrin Pflegrin nur des neugesäten Keims./ Es zeugt der Gatte; sie, dem Gast Gastgeberin,/ H ü tet den Sproß, falls ihm nicht Schaden wirkt ein Gott.« (Ubers. Oskar Werner). Athene, die Gerichtsvorsitzende, sei selbst der beste Beweis für die Behauptung: »Vater kann werden ohne Mutter man« (Vs. 663). Zur Stelle vgl. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, S. I29f.

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Uber die sehr dichte Intertextualität in Giraudoux' dramatischem und erzählerischem Œuvre vgl. zuletzt die Studie von Pierre D'Almeida: L'image de la littérature dans l'œuvre de Jean Giraudoux, Paris 1988 (Cahiers Jean Giraudoux 17). Dort, unter Hinweis auf die Petites Euménides und den göttlichen Bettler, auch die Einschätzung: »C'est dans >Électre< sans doute que le caractère tragique de l'hypertextualité et, ensemble, de la >surthéâtralisation< se manifeste avec le plus d'évidence.« (S. 128).

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Cocteau im surrealen Epilog der >Machine infernales wo Œdipe, nachdem ihm in der contraction der sophokleischen Tragödie sein Schicksal zuteil geworden ist, vom Geist der toten Jocaste geleitet in den Temenos der Dichtung eingeht und zum unsterblichen Gemeinbesitz wird: Fortan und für alle Zeit wird er, wie Tirésias verkündet, »au peuple, aux poètes, aux cœurs purs« 2 ' 8 gehören. In einer Art von aitiologischem Mythos der Poesie, der von fern an den sakralen Schluß des >Odipus auf Kolonos< erinnert, ist der tragische Heros zu einem Schutzpatron der Weltliteratur geworden. 2 "

3.2 Fiktionsironie, Spieldurchbrechungen, metatheatralische Kommunikation Dieser intertextuellen Offnungs- und Allusionstendenz eng verwandt sind jene - wiederum häufig ironisch grundierten - Partien der französischen Mythendramen, in denen die Absolutheit des dramatischen Spiels durch die ausdrückliche Betonung seiner Künstlichkeit, also durch ein anti-illusionistisches Bewußtmachen der Theatersituation, abermals reflexiv aufgehoben wird. Hier wirken spielinterne Techniken des >mutwilligen< Aus-der-Rolle-Fallens und des Beiseitesprechens ad spectatores, aber auch spielexterne Kommentierungen zusammen, um die Spielqualität des Spiels, den Rollencharakter einer Rolle sichtbar zu machen, um dramaturgische Funktionen zu verdeutlichen und überhaupt jede Unmittelbarkeit einer distanzlos-einfühlenden, affektiv gesteuerten Rezeption zu unterbinden. Betrachten wir einige Beispiele: Gides >Œdipe< beginnt gleich in seinem ersten Satz mit einem Gestus ironisch-hypothetischer Verdoppelung, in dem der Protagonist sich gleichsam als Erfinder oder >Double< seiner selbst darstellt und noch vor dem bewußt markierten Eintritt in Rolle und Szene die Rahmenbedingung der dramatischen Fiktion, den Spielcharakter des Spiels betont: Me voici tout présent, complet en cet instant de la durée éternelle; pareil à quelqu'un qui s'avancerait sur le devant d'un théâtre et qui dirait: Je suis Œdipe. Quarante ans d'âge, vingt ans de règne. 300

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500

>La Machine infernales Acte IV, S. 342. Crowson (The Esthetic of Jean Cocteau, S. 15 5) interpretiert: »From age to age, artists will be intrigued by the nature of the situation; they will give it form, and the form will triumph over a sordid history that will be forgotten. Out of chaos and mediocrity (such as Creon's) great disorder will be transformed into works of art that vindicate and praise the antisocial.« Gide, >Œdipetheatralischen< Attitüde ertappen. So unterbricht Œdipe seine stolze Selbstvorstellung (»Le bonheur ne me fut pas donné; je l'ai conquis« 501 ) bereits nach kurzer Zeit mit der strengen Bemerkung: Allons, allons! Œdipe, ne t'embarque pas dans de trop longues phrases dont tu risques de ne pouvoir sortir. Dis simplement ce que tu as à dire et n'apporte pas à tes paroles ce gonflement que déjà tu prétends éviter dans ta vie. Tout est simple et tout vient à point. Sois simple toi-même et direct c o m m e la flèche. Droit au but...502

Mit solchen Maximen wird der Protagonist, weit über den unmittelbaren Kontext und über die Reichweite seines Figurenbewußtseins hinaus, zum rein >auktorialen< Fürsprecher jener stilistischen Bearbeitungstendenz ästhetischer Rationalität und Geradlinigkeit (»simple«, »direct comme la flèche«, »droit au but« usw.), die Gides reduktiven Zugriff auf seinen tragischen Prätext und auf dessen pathetisches gonflement im ganzen kennzeichnet: Die dramatische Figur formuliert das poetologische Credo ihres Autors. Auf derselben Linie liegen die ironischen Selbstexplikationen des (in zwei Gruppen geteilten) Chores, der über seine eigene dramaturgische Funktion genauso sicher Bescheid weiß - »Nous, Choeur, qui avons pour mission particulière, en ce lieu, de représenter l'opinion du plus grand nombre« 303 - , wie er Œdipe mit literaturkritischem Sachverstand belehren kann, auf die über Theben hereingebrochene Pest, so schlimm sie auch sei, könne doch keineswegs verzichtet werden, wenn die Handlung des Dramas überhaupt in Gang kommen solle: L E CHŒUR DE DROITE, a Œdipe·. Q u e toi, tu sois heureux, encore que tu le dises un peu trop, nul n'en doute. Mais nous ne s o m m e s pas heureux, nous, ton peuple, ô Œdipe; mais nous, ton peuple, ah! non, nous ne sommes pas heureux. O n voudrait te cacher cela; mais l'action de ce drame ne saurait s'engager sans que nous te fassions part d'une nouvelle très lamentable. L a peste, puisqu'il faut l'appeler par son nom, continue d'endeuiller la ville. 304

Aus demselben ironisch-reflexiven Geist der ostentativen Freilegung poetologischer Intentionen und Funktionen 30 ' stammen die semi-allegori301

Ebd. Ebd. 3 3 ° Ebd., S.65. 304 Ebd., S.6 5 f. 3 ! ° Gute Beobachtungen zur Reflexivität von Gides dramatischer écriture und ihrer Ver302

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sehen Selbsterläuterungen des »conservateur« Créon oder Jocastes Hinweise auf die (noch von keinem >Historiker< bemerkten) Unstimmigkeiten in der Motivation der sophokleischen Tragödie. Nicht anders die poetologischen Figuren-Reflexionen in Cocteaus >Machine infernales w o Odipus auf dem Scheitelpunkt von tragischer Anagnorisis und Peripetie findet, sein Schicksal böte Stoff für ein Trauerspiel - »Voilà de quoi fabriquer une magnifique catastrophe«306 - , und wo Tirésias das pathetische Finale mit der - die präzise Regieleistung der infernalischen Götter anerkennenden, aber natürlich auch selbstbezüglich auf die literarische Güte von Cocteaus Drama gemünzten - Bemerkung quittiert, ein Meisterwerk des Schreckens vollende sich: »un chef-d'œuvre d'horreur s'achève«.307 Einen Höhepunkt erreicht die Neigung zur spielinternen Kommentierung und, in ihrer Konsequenz, zur Selbstthematisierung des Dramas als Drama, in Giraudoux' >ElectreKleinen Eumeniden< die Haupthandlung in sarkastisch-hyperbolischer Verzerrung wiederholen309 und so für einen illusionszersetzenden Spiegelungseffekt sorgen, ist es vor allem der große Zwischenakt, »Lamento du Jardinier«, der als »eine Art Poetik«310 die

wendung von »technical devices which play their part in distancing the myth, in preventing the audience's total absorption in the experience by reminding them of the theatrical medium« bei Watson-Williams (André Gide and the Greek Myth, S. n y i · ) sowie bei Theile (Stoffgeschichte und Poetik, S. 44Íf.) mit der These, durch seine >metatheatralischen< Elemente (Spiel-im-Spiel, Illusionsdurchbrechung etc.) liefere >Œdipe< »in dem dezidiert literaturtheoretisch gerichteten und fundierten Gesamtwerk des Dichters einen weiteren wichtigen Beleg für Gides Konzeption einer modernen Literatur, die, um mit ihrem Zugriff auf die umgebende Wirklichkeit sowie auf das Bewußtsein von ihr erfolgreich sein zu können, unbedingt ihre eigene Entstehungs-, Seins- und Wirkungsweise thematisierend mitbedenken muß.« (Ebd., S.48). 306 307 308

309

3,0

>La Machine infernales Acte IV, S. 330. Ebd., S.337. Dickinson (Myth on the Modern Stage, S. 204) beschreibt diesen reflexiven Typus gut, bewertet ihn jedoch (aus einem parti pris für eine emotionalistische Einfühlungsästhetik) kritisch: »Many of the characters in French plays based on myth are conscious of the fatality assigned them by the myth; that is, they are self-consciously playing a role in >life< according to the dictates of the myth, which they know but should not. This gives them a theatrical awareness that detracts from the contingent humanity we expect them to exhibit and makes obtrusive their obedience to a foreordained plot. This may be intellectually diverting but seldom emotionally stirring.« Raimond (Sur trois pièces de Jean Giraudoux, S. 106) interpretiert die Eumeniden als »le signe du tragique« und kommentiert die dahinterstehende auktoriale Strategie so: »Voilà un tragique indiqué, désigné, en quelque sorte montré du doigt. Mais si l'on désigne le tragique, c'est que le tragique est un résidu culturel, - et qu'on ne croit plus au tragique. En bref, l'idéologie de Giraudoux refuse le tragique, sa ruse d'auteur le désigne. Il rend d'une main ce qu'il enlève de l'autre.« (S. 107). So Raíble, Électre, S.251.

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Spielhandlung einer immanenten Reflexion aussetzt und ihre >tragischen< Prämissen einer fundamentalen Kritik aus dem Horizont einer dezidiert gegentragischen Perspektive unterzieht: Der Gärtner, der nach der Rückkehr Orestes seinen Laufpaß als Électres Bräutigam erhalten hat und für den weiteren Fortgang des Dramas funktionslos geworden ist, tritt gleichsam unter Protest aus der Handlung aus und wandelt sich, in direkter Anrede an das Publikum, 3 " zu ihrem kritischen Kommentator: »Moi je ne suis plus dans le jeu. C'est pour cela que je suis libre de venir vous dire ce que la pièce ne pourra vous dire.«312 Dasselbe Geschehen, das aus einem Standpunkt »dans le jeu« als Prozeß von mythisch beglaubigter Folgerichtigkeit und Zwangsläufigkeit erscheint, soll aus dem Horizont einer Figur, die sich >befreit< hat und >nicht mehr mitspieltheilsame< Gegenmöglichkeiten zur pathologischen Zwangsläufigkeit des tragischen Verlaufs angedeutet seien, so daß klar werde: »Au fond, la tragédie n'existe qu'en fonction d'un aveuglement.« (Ebd.). Die Tragödie erscheine in diesen Szenen als »contre-courant d'une pente naturelle«, »le tragique [...] est contre-nature«, Gegen-Entwürfe zum blutigen Mythos zeichneten sich ab: »C'est dans cet en-marge de la légende que s'affirme le rêve d'un contre-tragique.« (S. 102).

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zont einer direkt ad spectatores gerichteten, die Voraussetzungen des tragischen Spiels insgesamt in Frage stellenden metatheatralischen Kommunikation. 3.3 »l'intelligence qui juge« oder »l'opinion du plus grand nombre«? Chöre und Quasi-Chöre, Conférenciers und Kommentatoren Die reflexive Distanz zur tragischen Aktion, die Giraudoux durch den Handlungs-Austritt des Gärtners allererst in der Stückmitte und im Theatercoup einer spektakulär inszenierten Konversion herstellt, suchen andere Mythendramatiker der französischen Schule a priori zu gewinnen, und sie bedienen sich zu diesem Zweck jenes Mediums, das auch bereits in der griechischen Tragödie das wichtigste Instrument zur Erzeugung diskontinuierlicher und reflexiver Strukturen gewesen war: des tragischen Chores oder doch zumindest mit beachtlicher Variationsfreudigkeit und großem Phantasieaufwand ersonnener >quasi-chorischer< Beobachtungs-, Vermittlungs- und Kommentar-Instanzen. Bemerkenswert ist diese Formtendenz schon darum, weil die französische tragédie classique, zu der sonst so viele Traditionslinien zurückführen, sich im Gebrauch des Chores eine außerordentliche Zurückhaltung auferlegt hatte und der in der Chorfunktion implizierten Tendenz zur tektonischen Aufbrechung des dramatischen Verlaufs im Grunde ablehnend gegenüberstand. 51 ' Die französische Mythendramatik der klassischen Moderne interessiert sich hingegen mit ganz offenkundiger Faszination für die technischen Möglichkeiten des Mediums >Chor< wie überhaupt für das in der griechischen Tragödie vorgebildete Modell eines >offenen< dramaturgischen Idioms und seines diskursiven Potentials. Freilich bedarf dieser Befund sofort einer bedeutenden und für die ästhetische Signatur der hier verhandelten Texte 315

Gleichermaßen aufschlußreich sind hier die bewußten Chor-Verzichte in den >klassischen< Tragödien Racines wie die bezeichnenden Ausnahmen der späten, für die Klosterschülerinnen von Saint-Cyr geschriebenen biblischen Stücke >Esther< und >AthalieMurder in the Cathedral< oder Henri Ghéon in seinem >Œdipe ou le crépuscule des dieux< von 1938) eine Erneuerung des antiken Chores aus dem Geist der christlichen Gemeinde versucht. In der Vorrede zu >Esther< heißt es programmatisch: »J'entrepris donc la chose, et je m'aperçus qu'en travaillant sur le plan qu'on m'avait donné, j'exécutais en quelque sorte un dessein qui m'avait souvent passé dans l'esprit, qui était de lier, comme dans les anciennes tragédies grecques, le chœur et le chant avec l'action, et d'employer à chanter les louanges du vrai Dieu cette partie du chœur que les païens employaient à chanter les louanges de leurs fausses divinités.« (Zit. nach: Œuvres complètes I, Théâtre - Poésies, hg. von R. Picard, Paris: Bibliothèque de la Pléiade, 1969, S. 812). - Vgl. die ausgezeichneten Anmerkungen zum Problem bei Lucien Goldmann: Le Dieu caché. Étude sur la vision tragique dans les >Pensées< de Pascal et dans le théâtre de Racine, Paris 19 $9, S. 369^

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ausschlaggebenden Einschränkung: Die produktiven Metamorphosen des Chores in den spielerischen Formexperimenten der neueren französischen Mythendramen aktualisieren die impliziten Möglichkeiten dieses Mediums extrem einseitig und mit einer nahezu ausnahmslosen Betonung seiner reflexiven, gedanklich-diskursiven Qualitäten, während demgegenüber die expressiven und pathossteigernden Funktionen des antiken Chores völlig im Hintergrund bleiben. Elemente eines lyrisch-gesangsnahen Sprechens in der Nachfolge der sublimen griechischen Chorlyrik wird man hier ebenso vergebens suchen wie überhaupt jedes Moment rauschhafter Emphase. Vom »Geist der Musik« und dem Chor als Organon einer dionysischen Überschreitung des principium individuationis im Sinne Nietzsches und seiner dramatischen Rezeption zwischen Fin de Siècle und Expressionismus ist hier nichts zu spüren, und vom Anspruch auf eine irgendwie geartete >kollektive< Repräsentanz wird man allenfalls in dem ganz rationalen Sinn sprechen können, daß die Verlautbarungen der >ChorVernunftChores< oder >Quasi-Chores< bei gleichzeitig vollständigem Verzicht auf odisch-expressive und rhetorischpathetische Sprech- und Ausdrucksregister, daß die als »Le Chœur« bezeichnete Beobachtungs- und Vermittlungsinstanz in vielen Fällen aus einem einzigen Sprecher besteht, wenn man so möchte: aus einem Chorführer (Koryphaios) ohne Chor. Eine der wenigen Ausnahmen bildet (neben Ghéons nicht sehr bekannt gewordener christlicher Odipus-Tragödie mit ihren beiden Chören) bezeichnenderweise André Gides >ŒdipeAntigoneAntigone< am 20. Dezember 1922 im Théâtre de l'Atelier den Text des (unsichtbar bleibenden, aus einer Schallöffnung im Bühnenbild hörbaren320) Chores und übernahm in der Premiere von >La Machine infernale< am 10. April 19341η der Comédie des Champs-Elysées wiederum die Partie des Ansagers (»La Voix«); bei der Uraufführung von Giraudoux' >Electre< am 13. Mai 1937 im Théâtre de l'Athénée führte Louis Jouvet nicht nur Regie, sondern gab zugleich die Rolle des Bettlers, also des stückinternen Spielleiters und explicates; und schließlich teilten sich bei der ersten Aufführung von >Pasiphaé< am 6. Dezember 1938 im Théâtre Pigalle der Autor, Henry de Montherlant, und sein Regisseur, Sylvain Itkine, in die erläuternde Conférence des Stückes: Während der Autor in direkter Anrede an das Publikum einen umfangreichen, seitdem auch im Druck dem Stücktext vorangestellten Prolog 321 vortrug, in dem er sich ausführlich über die Aktualität seines Prätextes, einer nur in wenigen Berliner Papyrus-Bruchstücken überlieferten >KreterChoresLa Machine infernales S. 189L, 235f., 281, 323.

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verstricken werden;318 der >Chœur< in Anouilhs >Antigone< führt in seinen gleichfalls vier Auftritten 32 ' eine veritable »Todesregie«330 und fragt in leitmotivischen Reflexionen nach der Differenz der Antigone-Sphäre von der konventionellen Realität »de nous tous, qui sommes là bien tranquilles à la regarder, de nous qui n'avons pas à mourir ce soir«,331 oder, dasselbe in ausdrücklich gattungspoetologischer Wendung, nach dem Wesen der Tragödie und der kategorischen Geschiedenheit von tragédie und drame.i}1 In allen Fällen sind diese Interventionen >chorischer< Sprecher die Reservate des Prinzipiellen oder Quintessentiellen im dramatischen Text, exemplarische Artikulationen der »intelligence qui juge« (Montherlant): Durch sie erhält die konkrete, aus mythischen Sujets des griechischen Tra528

Der Sprecher-Prolog vor dem 1. A k t (S. ιδ^ί.) rekapituliert zunächst Elemente der Vorgeschichte (von der Aussetzung des Odipus bis zum Laios-Mord) und formuliert dann, unter weitreichender Handlungs-Vorwegnahme und im Sinne einer wahrnehmungslenkenden Rezeptionsanweisung, die leitende Dialektik von menschlicher Blindheit und göttlicher Grausamkeit als Grundstruktur des folgenden Spiels von der mathematischpräzisen Vernichtung eines MenschenAntigoneliteraturtheoretische< Zwischenreflexion (S. 160) im Auftakt zum Verhör der gefangenen Antigone; dazu vgl. unten, Abschn. 4.2.

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gödienkorpus übernommene Handlungskonstellation den Charakter des Experimentellen und Intellektuell-Demonstrativen, in ihnen erfolgen die deutlichsten Hinweise auf den zeitgemäßen Aspekt der wiederholenden Variation antik-kanonischer Stoffe, auf den »éclat du permanent« der verhandelten Themen oder auf den poetologischen bzw. >metatragischen< Status ihrer modernen Retraktation.

3.4 Spielleiter-Götter in >Électre< und >Les Mouchesc Sartres Replik auf Giraudoux - und die >Eumeniden< als tertium comparationis Die nicht mehr chorische (und auch nicht >quasi-chorischeÉlectre< bereits präfiguriert, w o der Gärtner die zudringlichen Eumeniden-Mädchen mit den Worten zu verscheuchen sucht: »Voulez-vous partir! Allez-vous nous laisser! O n dirait des mouches!« (1/1, S. 10). Und wie die Petites Euménides wachsen auch Sartres >Fliegen< im Verlauf der Handlung zu monströser Größe heran. - Für eine eingehendere Analyse von Ähnlichkeiten und Kontrasten in der Verwendung der Eumeniden bei beiden Dramatikern vgl. zwei (implizit aufeinander bezogene) Aufsätze von Christian Delmas: Les Fonctions des Euménides dans >Électre< de Giraudoux. In ders.: Mythologie et mythe dans le théâtre français (wie Anm. 5), S. 307-316, und ders.: La représentation des Erinnyes dans >Les Mouches« de Sartre, ebd., 334

S- 3 ! 7 - 3 3 2 · R u b y Cohn: Currents in Contemporary Drama, Bloomington/London: Indiana University Press, 1969, der Sartres dramaturgische Anleihen bei Giraudoux nicht übersieht (»From Giraudoux [...] Sartre learned to use incongruous details, witty anachronisms, and polished dialogue that slips into dialectic«, S. 88f.), faßt das Verhältnis beider Dramen kurz und bündig so zusammen: »Thus, >The Flies< assimilates Giraudoux' techniques to contradict his assumptions.« (S. 89).

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métrios bei Sartre: Beide charismatischen Fremden sind - unzweideutig und in direkter auktorialer Benennung bei Sartre, diskreter andeutend in den erstaunten Mutmaßungen der gewöhnlichen dramatis personae bei Giraudoux 33 ' - Erscheinungsformen des Gottes Jupiter, Manifestationen des Göttlichen im Text; beide besitzen übernatürliche Fähigkeiten und eine überragende Situationsmächtigkeit, beide scheinen die Fäden der Handlung fest in der Hand zu halten und über das Geschick der Protagonisten souverän Regie zu führen. 336 Giraudoux' Bettler tritt als spielinterner Kommentator auf, 337 eine Mittelpunkts- und Vermittlerfigur, die sowohl ad spectatores wie zu allen Figuren des Dramas spricht, die bereits früh Nachforschungen und Spekulationen über die verborgene >Wahrheit des Atridenschicksals anstellt (»On voit l'histoire comme si l'on y était«33®) und die dem Publikum, im großen Schlußtableau des i. Aktes, über den schlafenden Gestalten der noch ahnungslosen Geschwister deren bevorstehendes Schicksal ansagt:

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Vgl. vor allem die Spekulationen in I/3 über die Identität des Unbekannten. Hier fallen Formulierungen wie: »SERVITEUR: C ' e s t pour le mendiant, seigneur. ÉGISTHE: Pour quel mendiant? SERVITEUR: P o u r le dieu, si vous voulez. Pour ce mendiant qui circule depuis quelques jours dans la ville. Jamais on n'a vu de mendiant aussi parfait comme mendiant, aussi le bruit court que ce doit être un dieu.« (S. 19); »Singulière divinité ... Les prêtres n'ont pas su voir encore si c'était un gueux ou Jupiter?« (ebd.); »SERVITEUR: Voici le mendiant, seigneur. ÉGISTHE: Retiens-le un moment. O f f r e - l u i à boire. L e vin est à deux fins, pour le mendiant et pour le dieu. SERVITEUR: Dieu ou mendiant, il est déjà ivre« (S. 20), usw. Z u den mannigfachen historischen Ausprägungen dieses charakteristischen T y p u s der abendländischen Dramatik vgl. den Sammelband: Theatrum Mundi. Götter, G o t t und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart. Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs, hrsg. v o n Franz L i n k und Günter Niggl, Berlin 1 9 8 1 . Giraud o u x ' N a m e taucht dort freilich nicht auf; >Les Mouches< findet in Links Einleitungsessay (S. 36L, 39) eine kürzere Erwähnung. Kluge Überlegungen zur epischen Funktion der Figur bei Peter Szondi: D e r M y t h o s im modernen Drama und das Epische Theater. Ein Nachtrag zur >Theorie des modernen Dramas«. In: Lektüren und Lektionen, op. cit., S. 1 8 5 - 1 9 1 . D e r Bettler ist f ü r Szondi »der geheime Erzähler von G i r a u d o u x ' >ÉlectrerekonstruiertAgamemnonMendiant< auf den Begriff gebrachte vision du monde statuiert - darin in genauer Antithese zu der berühmten existentialistischen Zentralformel Sartres - , daß das unveränderliche Wesen der Person, ihre geistige Substanz, allen Akzidenzien und kontingenten Existenzumständen vorausgehe: »l'essence précède l'existence«, heißt hier gleichsam die philosophische Devise. Lange bevor sie zu sich selbst finden und handelnd in ihr Eigenes gelangen, »sich deklarieren«, hat der wissende Spielleiter den geistigen Phänotyp der Protagonisten bestimmt, ihr Telos formuliert.3'2 Im Vollzug der Handlung holen die "Égisthe parait. Infiniment plus majestueux et serein qu'au premier acte«, verlangt Giraudoux' Szenenanweisung am Ende von II/6, S. 84. Aus Égisthes eigenem Mund klingt die heroische Konversion so: »Voilà ce qu'on m'a donné ce matin, à moi le jouisseur, le parasite, le fourbe, un pays où je me sens pur, fort, parfait, une patrie, et cette patrie dont j'étais prêt à fournir désormais l'esclave, dont tout à coup me voilà roi, je jure de vivre, de mourir, - entends-tu, juge, - mais de la sauver.« (II/7, S. 89). 3! ° >Électresocial< one, but as a free being, entirely indeterminate, who must choose his own being when confronted with certain necessities«;471 entsprechend soll die Aufgabe des Dramatikers darin bestehen, »to put on the stage certain situations which throw light on the main aspects of the condition of man and to have the spectator participate in the free choice which man makes in these situations«.472 Unter solchen existenzphilosophischen Prämissen deutet Sartre Anouilhs >Antigone< - »She represents a naked will, a pure, free choice«,473 heißt es über die Protagonistin474 -als Tragödie der emphatischen Selbstfindung, als Drama einer »free woman without any features at all until she chooses them for herself in the moment when she asserts her freedom to die despite the triumphant tyrant«, 47 ' und im gleichen Sinne charakterisieren verschiedene Äußerungen des Jahres 1943 das eigene Stück, >Les MouchesWiederho469

Ebd., S.329. Ebd. 471 Ebd., S.325. 472 Ebd. 47 ' Ebd. 474 Begründete Zweifel an der >Korrektheit< dieser Deutung bei Bradby, Modern French Drama 1940-1980, S. 34ff., unter Hinweis auf das thematische Leitmotiv der nécessité littéraire und des wahl-losen Rollen-Spiels in der Dramaturgie Anouilhs: »For Anouilh, role-play is synonymous with inevitability. His characters reduce the Existentialist concepts of choice and responsibility to an appeal to their role. [...] Antigone's choice is not the act of free commitment as understood by Sartre« (S. 35). Anouilhs Theater sei daher »neither a theatre of choice, like Sartre's, nor a theatre of character: in fact it is a theatre of mask.« (S. 36). Dieselbe Unterscheidung bei Malachy, Jean Anouilh, S. 17. 471 >Forgers of MythsComoedia< vom 24. April 1943 abgedruckten) Interview vor der Première von >Les MouchesPour un théâtre de situations«, in: Contat/Rybalka, S. 20. >Forgers of Mythss S. 332. »To us a play should not seem to o familiar. Its greatness derives from its social and, in a certain sense, religious functions: it must remain a rite; even as it speaks to the spectators of themselves it must do it in a tone and with a constant reserve of manner which, far from breeding familiarity, will increase the distance between play and audience.« >Forgers of Mythsprivaten< Emotionen und Idiosynkrasien versteht, sondern es als den Ausdruck eines leidenschaftlichen Einstehens für >objektive< Normen und Werte, als »affirmations of systems of values and rights«486 begreifen will. Uber den philosophischen Gewährsmann dieser Lesart des historischen Phänomens läßt der Autor keinen Zweifel: »For them [i.e. the Greeks], as Hegel has shown, passion was never a simple storm of sentiment but fundamentally always the assertion of a right.«487 Tatsächlich erweist sich Sartres Tragödienpoetik mit ihrer Forderung, »that the study of the conflict of characters should be replaced by the presentation of the conflict of rights«,488 der Hegelschen These von der für die antike Tragödie konstitutiven »Kollision« zwischen Repräsentanten eines je für sich gehaltvollen sittlichen »Pathos« unmittelbar verpflichtet: So wie nach Hegels Deutung 48 ' im tra-

peut lutter contre le cinéma et éviter d'être absorbé.« >Entretien avec Kenneth Tynans in: Contat/Rybalka, S. 1 5 2 - 1 6 8 , hier S. 154. 482 >Forgers of MythsEntretien avec Kenneth TynanForgers of Myths«, S. 326. 486 Ebd., S.329. 4β 7 Ebd., S. 326. 488 Ebd., S. 329. 485

Vgl. Otto Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie. In: Heidelberger Hegel-Tage

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gischen Zusammenstoß (und der schließlichen Versöhnung) je relativ berechtigter »Zwecke und Leidenschaften« als »das eigentlich Hindurchwirkende« der dramatischen Handlung »das Göttliche in seiner Gemeinde« zur konkreten Anschauung gelangte,49" so begreift auch Sartre seine durch Aischylos, Sophokles und Corneille inspirierte und in Hegelscher Perspektive entworfene philosophische Dramatik existentieller Wahlund Entscheidungssituationen 4 ' 1 als Realisation dessen, »what theatre ought to be - a great collective, religious phenomenon«.492 Wir können zusammenfassen: Wenn Sartres dramaturgische Praxis und seine philosophische Poetik der Tragödie stärker als die Äußerungen anderer literarischer Repräsentanten des modernen französischen Mythendramas von einem vorbehaltlosen und unironischen Gestus der Anknüpfung an die griechische Tragödie geprägt sind, so hat diese Affinität ihrer-

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1962. Vorträge und Dokumente, hrsg. von Hans-Georg Gadamer, Bonn 1964 (= HegelStudien, Beiheft 1), S. 285-305; Christos Axelos: Zu Hegels Interpretation der Tragödie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 19 (1965), S. 655-667; Walter Kaufmann: Tragedy and Philosophy, Garden City/NY 1968, S. 200ff.; Roland Galle: Hegels Dramentheorie und ihre Wirkung. In: Handbuch des deutschen Dramas, hrsg. von Walter Hinck, Düsseldorf 1980, S. 2 59-272. Für die Interpretation eines einflußreichen französischen Hegel-Exegeten vgl. Jean Hyppolite: Le tragique et le naturel dans la philosophie de Hegel. In: Hegel-Jahrbuch 1964, S.9-15. »Der wahrhafte Inhalt, das eigentlich Hindurchwirkende sind daher wohl die ewigen Mächte, das an und für sich Sittliche, die Götter der lebendigen Wirklichkeit, überhaupt das Göttliche und Wahre, aber nicht in seiner ruhenden Macht, in welcher die unbewegten Götter, statt zu handeln, als stille Skulpturbilder selig in sich versunken bleiben, sondern das Göttliche in seiner Gemeinde als Inhalt und Zweck der menschlichen Individualität, als konkretes Dasein zur Existenz gebracht und zur Handlung aufgeboten und in Bewegung gesetzt.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III (= Theorie-Werkausgabe Bd. 15), Frankfurt/M. 1970, S.480. Der für Sartres Konzeption einer existenzialistischen »tragédie de la liberté« zentral bedeutsame dezisionistische Aspekt der durch den tragischen Protagonisten vollzogenen Selbstwahl (décision, choix) hat bei Hegel freilich keine eigentliche Entsprechung; hier ist das stärkere Gewicht auf die >objektive< Verbindlichkeit des (gleichsam durch die Figuren hindurch wirksamen) sittlichen >Pathos< gelegt. Im Zusammenhang der Frage nach der »Schuld oder Unschuld« der tragischen Heroen formuliert Hegel sogar ausdrücklich: »Gilt die Vorstellung, der Mensch sei schuldig nur in dem Falle, daß ihm eine Wahl offenstand und er sich mit Willkür zu dem entschloß, was er ausführt, so sind die alten plastischen Figuren unschuldig; sie handeln aus diesem Charakter, diesem Pathos, weil sie gerade dieser Charakter, dieses Pathos sind; da ist keine Unentschlossenheit und keine Wahl. Das eben ist die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen. Sie sind das, was sie sind, und ewig dies, und das ist ihre Größe.« >Vorlesungen über die Ästhetik< III, S. 545Í. >Forgers of MythsReplik< eines kanonischen Dramen- und Theatermodells, und er tut dies in ausdrücklicher Orientierung an jenem »well-known pattern of classic tragedy, which always seizes upon the action at the very moment it is headed for catastrophe«. 4 ' 4 Dieser entschiedenen philosophischen Ausrichtung auf den Widerstreit existentiell beglaubigter Leidenschaften im Sinne von Hegels objektiv-sittlichem >PathosFliegenapollinischer< Tragödienpoetik. Ein Unterton ironischer Distanzierung ist bei aller Dankbarkeit gegenüber Dullin jedenfalls unüberhörbar: »[Dullin] avait fait, en ce cas, ce qu'il souhaitait depuis longtemps: monter une tragédie moderne. >Les MouchesLes Mouches< à cette double exigence. Il voulut capter des forces dionysiaques et les organiser, les exprimer par le jeu libre et serré d'images apolliniennes; il y réussit. Il le sut et l'entier succès de cette mise en scène - qui faisait rendre à ma pièce ce qui n'y était sans doute pas mais que, certainement, j'avais rêvé d'y mettre - compensait à ses yeux l'insuccès du spectacle.« Cahiers Charles Dullin II, März 1966, zit. nach Contât/ Rybalka, S. 227.

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>Forgers of Mythsapollinischen< tragédie de la liberté, wie sie das dramaturgische Verfahren von >Les Mouches< exakt beschreibt, auch in der Folge verpflichtet blieb, zeigt ein fast zwei Jahrzehnte später, nämlich im Umkreis seiner Bühnenbearbeitung von Euripides' >Troerinnenwildengrausamen< oder dionysisch-orgiastischen, vielmehr rhetorisch-artikulierten und zeremoniell-stilisierten Deklamations- und Argumentationstheaters wiederholt und in diese Betrachtungsweise nun ausdrücklich auch den früher mit großer Reserve behandelten Euripides einbezieht: Contrairement à ce que l'on croit souvent, la tragédie grecque n'est pas un théâtre sauvage. N o u s imaginons des acteurs bondissant, rugissant et se roulant sur la scène, en proie à des transes prophétiques. Mais ces acteurs parlent à travers des masques et marchent sur des cothurnes. Le spectacle tragique, représenté dans des conditions aussi artificielles que rigoureuses, est d'abord une cérémonie, qui vise, certes, à impressionner le spectateur, mais non pas à le mobiliser. L'horreur s'y fait majestueuse, la cruauté solennelle. C'est vrai d'Eschyle, écrivant pour un public qui croit encore aux grandes légendes et à la puissance mystérieuse des dieux. Mais c'est encore plus vrai d'Euripide, qui marque la fin du cycle tragique [...].

5. »Écrire p o u r son é p o q u e « : H o r i z o n t e der Aktualität (und ihr Verblassen) Der Hauptakzent dieses Kapitels über die bedeutendsten Werke der modernen französischen Mythendramatik lag auf Fragen der Dramaturgie und der literarischen Faktur, weil eine Analyse ihrer écriture, ihres poetischen Gemachtseins als der geeignetste Weg erschien, um den besonderen >Ton< und die relative Stileinheit dieser >Schule< herauszuarbeiten und, in komparatistischer Perspektive, ihre unverwechselbare nationale Physiognomie mit ganz spezifischen, vor allem durch die tragédie classique vermittelten Traditionsbezügen und Traditionsbrechungen kenntlich zu ma-

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fen: »[...] - this is what sets our plays at a great distance from the brilliant fantasies of Broadway.« >Forgers of MythLes TroyennesBrefdionysischen< Pathos, mit einem Wort: ihre vielfach ironisch akzentuierte, >zerebrale< Modernität. - Wir beschließen diesen Untersuchungsabschnitt mit wenigen zusammenfassenden Überlegungen zum zeitlichen und geschichtlichen Ort dieser markanten Werkgruppe, zu den Dimensionen ihrer entschieden angestrebten epochalen Aktualität wie zu ihrem allmählichen Historisch- und Abständigwerden im Alterungsprozeß der klassischen Moderne. Ein Element intensiver Zeitgenossenschaft und der resoluten Gegenwarts-Anpassung ihrer kanonischen Sujets ist den französischen Antikentransformationen durchgängig eigen: Der Bogen reicht hier von Cocteaus rigoroser neusachlicher Verjüngungs-und Entschlackungskur für die tragischen Meisterwerke des Sophokles (»faire vivre les vieux chefsd'œuvre«, »trouver un aspect tout neuf« usw.) und von der surrealistischtechnologischen Apparaten-Metaphorik der >Machine infernale< über den intellektuellen Modernismus von >Œdipe< oder >Pasiphaé< (mit der in durchsichtiger antiker Gewandung inszenierten Repräsentation eines zeitgenössischen Ideologienspektrums bei Gide oder den durch einen Conférencier im Abendanzug verkündeten, mit dem Anspruch permanenter Heutigkeit auftretenden »paroles [qui] valent pour aujourd'hui comme pour il y a six mille ans« bei Montherlant), weiter über Giraudoux' respektlos-antitragische Travestien und Distanzgebärden und die prononcierten Anachronismen und Zweizeitigkeiten Anouilhs bis hin zu Sartres Suche nach der zeitlosen philosophischen Aktualität mythisch verdichteter situations. In vielfacher Schattierung reflektieren diese experimentellen Antikenmetamorphosen, die in engster Verbindung mit der Avantgarde der Pariser Theaterleute, Komponisten, bildenden Künstler entstehen und auf die Bühne gelangen, die tonangebenden geistigen und künstlerischen Strömungen ihrer Epoche, das intellektuelle Klima einer Metropole der Moderne von den frühen zwanziger Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg und der frühen Nachkriegszeit. Ein spezielles Aktualitätsmoment, von dem bei Gide, Cocteau oder Montherlant noch wenig zu merken ist, gewinnt dabei freilich erst allmählich und erst im Verlauf der dreißiger Jahre, mit der Heraufkunft des europäischen Faschismus, mit spanischem Bürgerkrieg, Weltkrieg und Okkupation an Bedeutung: die Intention der mythologischen Verschlüsselung und des antik chiffrierten Kommentars im Blick auf Konstellationen der 467

unmittelbaren Zeitgeschichte. Von aktueller Politik nicht nur als zeitgenössischem Horizont, sondern als einem direkt thematischen Subtext der mythischen Dramenhandlung kann mit Fug wohl erst seit den Antikentransformationen des Diplomaten und nachmaligen Informationsministers Giraudoux die Rede sein: Am frühesten sind in dem 1935 entstandenen Drama >La Guerre de Troie n'aura pas lieuIliasÉlectre< als »une pièce d'actualité« (S. 378): Demnach entfaltet das Stück unter dem Eindruck der innenpolitischen Verhältnisse Frankreichs (und repräsentiert durch Électre und Égisthe) »deux conceptions antagonistes de la patrie, et aussi de la justice« (S. 379), und dabei könne der von Robert Brasillach als »le roi charnel, le héros fasciste« gefeierte Égisthe »apparaître comme le personnage positif« (S. 380), während sich andererseits in der Zeichnung Électres die Ablehnung linker Positionen durch den Autor (»Giraudoux ennemi, donc, du Front populaire?«, S. 383) manifestiere: »Giraudoux [...] n'a pas écrit une >ÉlectreÉlectre< im Kontext innenpolitischer Spannungen (Volksfront-Regierung etc.) und der äußeren Bedrohung durch Hitler-Deutschland außer bei Body auch bei John H. Reilly: Jean Giraudoux, Boston 1978, S. 105f., Mauron, Le théâtre de Giraudoux, S. 1 1 9 (»Nous pouvons, en effet, faire l'hypothèse qu'>Électre< répond à des préoccupations actuelles et possède un sens politique«) und Raimond, Sur trois pièces de Jean Giraudoux, S. 87, mit relativ präzisen Identifikationen: »Car la ville, dans la pièce de Giraudoux, est menacée par l'ennemi du dehors au moment où s'affrontent en son sein deux projets de société: écho, je pense, aux nombreux débats du printemps et de l'été 1936, quand la menace hitlérienne paraissait à certains devoir requérir les efforts de tous les Français unis: le Front populaire était, ici ou là, accusé d'affaiblir le pays; on prétendait qu'il fallait d'abord lutter contre Hitler, on songerait ensuite à la justice sociale. Dans une certaine mesure, Égisthe, c'est le salut de la patrie menacée; c'est la vie sauve pour beaucoup d'innocents. Alors qu'Électre, c'est la ruine de la patrie, et l'assassinat par les ennemis de beaucoup d'innocents.« (S. 87^). Aber bei allen Interpreten auch ein Bewußtsein des Risikos allzu konkreter Lesarten: »II serait pourtant téméraire d'aller plus loin et d'attribuer à Giraudoux une intention, à >Électre< une orientation politique précise«, warnt Mauron (S. 119), und sinngemäß betont Raimond gegenüber den (ohnehin nicht klar zutageliegenden) politischen Ansichten und Präferenzen des Autors die Objektivität eines dramatischen »conflit de valeurs: après tout, l'analyse critique pourrait même s'appliquer à rendre compte de ces tensions

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deutschem Besatzungsregime entstandenen Stücken wie Anouilhs >AntigoneLes Mouches< oder, am anderen Ende des politischen Spektrums, in Robert Brasillachs im Oktober 1944, nach der libération, im Gefängnis geschriebenem tragischem Dialog< >Les Frères ennemisKonkretisation< der Rezipienten herstellbaren) Bezug von Antigones refus und Créons >Realismus< auf Wirklichkeitsverhältnisse im okkupierten Frankreich, auf Verhaltensalternativen im Spannungsfeld von Widerstand und Anpassung; in Sartres allegorischem Atridendrama die in der Figurenkonstellation verkörperte Skala möglicher politischer Einstellungen zur deutschen Besatzungsmacht und zum Regime von Vichy und, noch

que peut manifester le texte, entre les opinions de l'auteur et les nécessités du drame.« 502

(S·«?)· Vgl. dazu die Analyse von Henning Krauss: Collaboration als Voraussetzung der Résistance: Zu Brasillachs Geschichtsklitterung in >Les frères ennemis«. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 15 (1991), S. 386-401, mit der einleuchtenden »These, daß Brasillachs >Les frères ennemis< adäquat nur zu verstehen sind vor der Folie von

Anouilhs >AntigoneAntigone< kann, Brasillachs Stück muß ausschließlich als aktualitätsbezogenes Schlüsseldrama gelesen werden.« (S. 387). 5 °' Sartre etwa im September 1944, nach der Befreiung von Paris, mit der lapidaren (freilich später in >Forgers of Myths< und anderen Aufsätzen beträchtlich relativierten) Bemerkung: »Pourquoi faire déclamer des Grecs [...] si ce n'est pour déguiser sa pensée sous un régime fasciste? [...] Le véritable drame, celui que j'aurais voulu écrire, c'est celui du terroriste qui, en descendant des Allemands dans la rue, déclenche l'exécution de cinquante otages.« In: >CarrefourAntigonemeint< in unspezifischem Bedeutungs- und Verweisungsreichtum immer schon mehr als jede einzelne seiner möglichen (auch seiner ausdrücklich intendierten) empirischen Applikationen oder >KonkretisationenLes MouchesLes Mouches< in gewisser Weise ein >deutsches< Stück geworden.« (Ebd., S. 169). ' " Ihre deutschsprachige Erstaufführung hatten >Die Fliegen« allerdings schon am 12. O k tober 1944 am Schauspielhaus Zürich erlebt; Regie führte Leonard Steckel. 512 Kohut (Was ist Literatur?, S. 165) erkennt in der Spannung zwischen historischem Situationsbezug und internationaler Wirkung von Sartres Dramatik einen latenten Wider-

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leidenschaftliche Streit, in den Sartre bei einer Berliner Podiumsdiskussion im Februar 1948 durch seine deutschen Gesprächspartner über die Frage verwickelt wurde, ob die - auf moralische Konfliktsituationen der französischen Résistance gemünzte und in diesem Kontext vielleicht gerechtfertigte - programmatische Absage an ethische Kategorien wie Schuldbewußtsein und Reue in der labilen postnazistischen Umbruchsituation Deutschlands nicht den falschen Kräften Vorschub leisten müsse 51 ' und als fatale Rechtfertigung einer »Unfähigkeit zu trauern« mißbraucht werden könne, 5 ' 4 macht darüber hinaus exemplarisch deutlich, daß offenbar auch die Differenz historischer Verhältnisse als Auslöser intensiver Reflexionsprozesse fungieren und den im Werk allegorisch formulierten Konfliktkonstellationen neue Deutungs- und unintendierte Applikationsmöglichkeiten gleichsam von außen zutragen konnte. Im Hinblick auf die deutsche Rezeption von >Les Mouches< und die hier gegebenen prekären Umdeutungs- und Mißdeutungsmöglichkeiten 515 suchte Sartre diesen Prozeß der neuen, kontextinduzierten Bedeutungsbildung unter anderem durch einen eigens für die Aufführungen in der franspruch, den er mit Robert Escarpits Kategorie des schöpferischen Verrats< zu fassen sucht und der sich »besonders deutlich an den ersten deutschen Aufführungen der >Mouches< beobachten« lasse: »Sartre praktizierte bei dieser Gelegenheit selbst >schöpferischen Verrats indem er dieses Stück, das er für die Situation des besetzten Frankreichs geschrieben hatte, auf die Situation des geschlagenen Deutschlands umdeutete. Während Sartre in der Praxis seine Theorie korrigiert hat, bleibt in der Theorie das Drama an eine bestimmte Situation gebunden.« 515

Bezeichnenderweise beginnt der Abdruck der Berliner Diskussion in den Spalten des >VergerMouches< a été longtemps déconseillée en Allemagne. Depuis que cette pièce est apparue sur de nombreuses scènes, elle a suscité des controverses passionnées autour des concepts Repentir-Liberté-Culpabilité, qui tiennent une place importante dans l'existentialisme et ont trouvé leur particulière expression dans >Les MouchesLes Mouches< en Allemagne et cette totale négation du repentir, cette liberté qui pousse la vengeance à se faire meurtrière, risquaient de recevoir des interprétations erronées.« (Vgl. Jean-Paul Sartre à Berlin. Discussion autour des >MouchesLes Mouches< devaient, en partie, précisément réfuter: au lieu de libérté, ils entendaient fatalité; au lieu d'engagement, disponibilité; au lieu de mauvaise foi, déterminisme; au lieu d'existentialisme, surréalisme. Enfin il y a lieu de craindre que >Les Mouches< aient pu être acceptables pour certains spectateurs (allemands et français) se plaçant dans l'optique du national-socialisme à cause des traits qu'Oreste partage avec le surhomme nietzschéen.« (Ebd., S. 179).

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net,5'8 so dürften sich umgekehrt Anouilhs Antikenmetamorphosen schon allein durch ihre konstitutive innere Ambiguität (mit der Spannung zwischen tragédie und drame, mit ihrer sehr offenen Sympathieverteilung und einer letztlich aporetischen Konflikt- und Perspektivenstruktur) jeder >verläßlichen< Anwendung auf politische oder zeitgeschichtliche Sachverhalte oder zumindest einer eindeutig-parteilichen Bewertung solcher werkexternen Konstellationen verweigern. Auch dort, wo ihnen Analogien zu >realen< Problemlagen zugrundeliegen - Antigones refus und die französische Résistance519 - , bleiben diese Bezüge prinzipiell vieldeutig und >instabil< und führen keinesfalls zu zwingenden politischen Schlußfolgerungen:'20 Der radikalen Negationsattitüde von Protagonistinnen wie Antigone und Médée, sofern sich in ihr überhaupt Elemente eines objektiv gerichteten, politischen Widerstandes erkennen lassen, dieser kompromißlosen (oder kompromißunfähigen) pureté stehen auf der Seite der Jasager wie Créon oder Jason durchaus respektable Gründe von eigenem Pathos und Gewicht entgegen, eine vision du monde, die sich unmöglich auf den Aspekt einer simplen collaboration verkürzen läßt, und mit beiden reflektierten Perspektiven konkurriert wiederum die unartikulierte, aber plastische und suggestive Gegensphäre der vitalen Nebenfiguren, eine untragische und unpolitische Sphäre eigenen existentiellen Rechts. Jeder Interpret, der sich trotz dieser unruhigen Vielfalt einander wechselseitig kritisierender, ja aufhebender Perspektiven etwa dafür entscheiden wollte, in Antigones Verweigerung, ihrem »dire non«, ein politisches Fanal (gar mit außertextuell-appellativen Implikationen) zu erkennen, sähe sich der hermeneutisch kaum befriedigend aufzulösenden ' l 8 In der Berliner Podiumsdiskussion, in der Sartre selbst auf den historischen Kontext der Niederschrift von >Les Mouches< hinweist - »Ii faut s'expliquer la pièce par les circonstances du temps« - , bezeichnet er es als »question [...] particulièrement intéressante [...] de savoir si une pièce qui peut-être était bonne en 1943, était valable, garde encore le même poids, et surtout garde un poids en 1948.« >VergerAntigoneAntigone< als Stück der Résistance, der nach 1945 gerade in der ausländischen Kritik so häufig anzutreffen war und der die Nachkriegsrezeption so stark beeinflußt hat, beruht somit auf einer Fehleinschätzung.«

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Flügge, ebd., S. 237, formuliert prägnant: »Der Autor hat sich damit begnügt, in einer spannungsgeladenen Atmosphäre einen hochambivalenten Text zu produzieren, der sein Publikum und seine Kritiker zur Deutung zwang, denn 1944 drängte alles dazu, >oui< oder >non< zu sagen, war Eindeutigkeit gefordert. In seiner Funktion als Katalysator von Reaktionen liegt denn auch das historische wie literarische Interesse am Fall >AntigoneMédée< die (in enger Anlehnung an Seneca gestaltete und mit Sicherheit problematisch gesehene) Heldin bis in den Wortlaut identische und mit derselben kompromißlosen Emphase vorgetragene Standpunkte vertritt.'21 Solche Beobachtungen legen die Folgerung nahe, daß Anouilhs Antikenvariationen auch dort, wo sie eine unbestreitbare thematische Affinität zu zeitgeschichtlich-politischen Krisenkonstellationen aufweisen, eher einer Logik der Problematisierung und des aporetischen Gegeneinanders divergierender Perspektiven gehorchen, als daß sie klare Lösungen formulierten oder für eine werkinterne Position unzweideutig Partei ergriffen. Letztlich ist es ein- und dieselbe Qualität dieses mythendramatischen Œuvres, nämlich seine offene dialogische Perspektivenstruktur und seine dramatische >AbsolutheitUnzuverlässigkeit< begründet. Dieselbe Unentschiedenheit und Ambiguität, die es aussichtslos erscheinen läßt, in >Antigone< oder >Médée< nach klaren Parteinahmen innerhalb des Textes, geschweige denn nach orientierenden Handlungsanweisungen für eine Praxis jenseits des Textes zu fahnden, dürfte Anouilhs vielstimmigen Antikenpartituren in der zeitgenössischen Rezeption einen guten Teil ihrer elektrisierenden Wirkung eingetragen haben: Wo grundsätzlich gefaßte und auf mannigfache >Wirklichkeiten< beziehbare dramatische Konflikte formuliert und existentielle Alternativen von mythisch-modellhaftem Zuschnitt gestaltet, Antworten aber nicht gegeben wurden (oder, wie man genauer formulieren müßte: wo von verschiedenen einander ausschließenden Antworten jede zugleich in ihrer Problematik aufgewiesen und keine unzweideutig favorisiert, d.h. in den Rang der einen Lösung erhoben wurde' 22 ), da mußten die Rezipienten sich aufgefordert sehen, das re-

' 2 I Mit Recht konstatiert P.J. Conradie (The Treatment of Greek Myths, S. 51): »While Anouilh's heroes, and especially his heroines, choose death to preserve their own purity or because they realise that they cannot attain purity in this life, Medea has no purity to preserve and does not aspire to it. She chooses death because she is unwilling to abandon the life of violence in which she always tried to grasp whatever she could and stopped at nothing. This is also an attitude which rejects all compromises but how different from that of Anouilh's Antigone.« Conradie erklärt den irritierenden Gegensatz damit, daß »perhaps the dramatist has not completely succeeded in fusing the traditional conception of Medea with his own conception of heroism.« (Ebd.). 522

Im Blick auf >Antigone< trägt Flügge (Jean Anouilhs >AntigoneAntigone< von 1942 lauten.« 475

lative Gewicht jedes einzelnen >Pathos< jeweils neu zu ermitteln und es in je verschiedenen Wirklichkeitshorizonten und >Applikationen< in eigener Entscheidung auszutarieren.'23 Ob aber nun in aporetisch-offenen, vom Dialogismus und einem echten Agon widerstreitender Perspektiven geprägten Partituren wie den Dramen Anouilhs oder Giraudoux' (wo zumindest der Gärtner der >Electre< als Exponent eines radikal gegentragischen Denkens die tragédie insgesamt in Frage stellt), ob in jener - durch Gides >ŒdipePasiphaé< oder Sartres >Les Mouches< in besonders reiner Form repräsentierten Spielart philosophisch-weltanschaulicher Konfliktdramen von klarer und parteilicher, d.h. auktorial eindeutig zugunsten der Protagonisten vorentschiedener Argumentationsstruktur, ob, mutatis mutandis, selbst im Grenzfall von Cocteaus >La Machine infernale< mit seinen vielen >blinden< Protagonisten und einem rein >symptomatischenGeschichtePlatzhaltern< allgemeiner Prinzipien und >WahrheitenStellvertreterkriegprivaten< emotionalen Befindlichkeiten der Protagonisten. Das in Glück und Unglück gleich unbeugsame Beharren auf geistiger Autonomie, mit dem Gides Œdipe die Unterwerfungsforderungen und die Geborgenheitsversprechungen seiner (theologisch und politisch konservativen) Kontrahenten zurückweist, wird in diesem Sinne zum Paradigma einer aus allen heteronomen Bindungen entlas,2}

So auch Jauß, Racines >Andromaque< und Anouilhs >AntigoneJournal< auf den theoretischen Nenner prägnanter asymmetrischer Gegenbegriffe und in eine Fluchtlinie aufklärerischer Emanzipation bringen kann: als »lutte [...] entre l'individualisme et la soumission à l'autorité religieuse«, als »lutte du héros contre Tirésias, de l'individualité contre la morale religieuse« oder als »l'opposition entre le perspicace antimystique et le croyant; entre l'aveugle par foi et celui qui cherche à répondre à l'énigme; entre celui qui se soumet à Dieu et celui qui oppose à Dieu l'Homme«. 524 Eine ähnlich plakative und >lupenreine< Frontstellung entgegengesetzter Prinzipien begegnet, im thematischen Feld des Erotischen, im Redekampf zwischen der minoischen Königin, die sich, trunken vor sexueller Begierde und darin »extraordinairement seule«,525 der überwältigenden Befremdlichkeit ihres grenzüberschreitenden, normensprengenden Liebesabenteuers mit dem Stier überläßt, und der Amme als Repräsentantin einer konventionellen Moral und des angepaßten Verhaltenscodes der » [m] audite race des petits «.5 26 Und nicht minder ist der Konflikt zwischen Jupiter und Oreste im innersten thematischen Zentrum von >Les Mouches< und sind die Auseinandersetzungen zwischen Anouilhs Antigone und Créon, Médée und Jason philosophische Dispute zwischen den Repräsentanten antagonistischer visions du monde·, zwischen einer autoritär-essentialistischen, ein ungerechtes Herrschaftssystem stabilisierenden Metaphysik der kosmologischen (und bürgerlichen) Ordnung und einem revolutionären Existentialismus der menschlichen Freiheit bei Sartre, zwischen einem hochfahrenden Ethos romantisch-absoluterpwreîéund einem (auch seinerseits pathetischen) Gegencredo realistischen Anpassungs- und Vermittlungsbereitschaft bei Anouilh. Die Struktur dieser Dramen ist außerordentlich ähnlich: Sie sind geprägt durch einen zentralen Konflikt von klar umschriebener thematischer Kontur, also durch eine mythische situation im Sartreschen Sinn; ihre Helden und Heldinnen, die meist auch titelgebenden Mittelpunktsfiguren, sind einsame Bewußtseinsavantgardisten mit charismatisch-elitären Zügen und stehen darin in scharfem Gegensatz zu der - in einzelnen Gegenspielern repräsentierten - konventionellen Denkform der Vielen oder für die Vielen. Durchweg werden die Konflikte in stark rhetorisch-argumentativ geprägten Agonen und unter ausdrücklichem Bezug auf theoretische Gedankengänge und leitende Konzepte ausgetragen,'27 und noch die stärksten eroti524 w 526 527

Gide, >JournalPasiphaéLes Mouchess wie sie in repräsentativen

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sehen Passionen Pasiphaés oder die (zur äußersten Selbststeigerung uminterpretierte) Blendung Œdipes bleiben ganz sprach-und bewußtseinsbezogen und wirken darin eigentümlich diszipliniert, besonnen und demonstrativ, ganz als seien noch diese extremen Ausnahmehandlungen einem kategorischen Imperativ der Grenzüberschreitung verpflichtet und sollten den Sieg eines Prinzips beweisen. Stets schließlich repräsentieren die singulären >tragischen< Helden ein emanzipatorisches Ideal, und in vielen Fällen ist die Sympathievergabe zugunsten der Protagonisten - Œdipe, Pasiphaé, Oreste - so unzweideutig und stark, daß man nachgerade von einer Heroisierung ihrer Geisteshaltungen und von einer Dramatik der dezidiert intellektuell gefärbten admiration sprechen möchte. Dieses Verfahren besitzt, besonders wo es sich mit Gides ironischem Esprit oder mit der stilistischen Eleganz Montherlants verbindet, zweifellos seine eigene Schönheit, und es führt zu konzentrierten dramatischen Partituren von klarer Tektonik, bedeutenden Problemgehalten und geradezu kristallener semantischer Transparenz. In eben dieser eloquenten >Uberhelle< liegen freilich auch die Grenzen dieser Dramatik des philosophischen Zentralkonflikts: Im Vergleich zur >protophilosophischen< Vieldeutigkeit ihrer griechischen Modelle, zur unruhigen Polysemie von Tragödien, die weniger verbindliche Antworten und stabile Weltbildüberzeugungen formulierten, als daß sie kulturelle Aporien umkreisten und sich in eindringlicher poetischer Umschreibung an die Ränder und in die problematischen Überschneidungs- und Dunkelzonen sozialer und politischer, rechtlicher und religiöser Codes vorwagten,528 verglichen mit dieser intensiv-problematischen Vielschichtigkeit ihrer antiken Prätexte wirken die in sich ganz schlüssigen Retraktationen dieses modernen mythologischen Ideentheaters eigentümlich eindimensional, spannungsarm und >geheimnislosdie Moderne< in die Jahre gekommen und sich selbst gerade in den großen Weltanschauungsentwürfen, den maître-récits ihrer Hoch-Zeit, verdächtig, zumindest aber historisch geworden ist - dieser >postmoderne< Befund läßt sich auch positiver wenden: Aus dem Blickwinkel des Literarhistorikers sind (und bleiben) die Antikenvariationen der französischen »forgers of myths« zwischen 1920 und ungefähr 1950 ausdrucksstarke Signaturen ihrer Zeit, in mythologischen »Situationen« und exemplarischen Rede-Agonen verdichtete Kristallisationen einer historischen und kulturellen Mentalität, die in selbstbewußter, von Fall zu Fall eher pathetischer oder eher ironischer Auseinandersetzung mit den großen Paradigmen der antiken Tragödie, aber auch mit den Monumenten der selbst durch diesen weltliterarischen Kanon beeinflußten nationalen tragédie classique ihre eigene moderne >Alterität< zu definieren und ihren Gegenwartsstandpunkt zu behaupten sucht. Der - von Sartre auch theoretisch formulierte-Anspruch des »Ecrirepour son époque« 53 ' erscheint hier, in der »Arbeit an der Differenz« (Heiner Müller) gegenüber den klassischen Modellen des antiken Theaters, exemplarisch eingelöst, und auch wenn diesen modernen Tragödientransformationen, anders als ihren antiken Prätexten, im Lauf ihrer Wirkungsgeschichte nicht selbst ein kanonischer Status (»Kanonizität«) zugewachsen i s t - w o z u als conditio sine qua non gehörte, daß ihre Aktualität sich über längere Zeiträume und im Horizont wechselnder Gegenwarten zu erneuern vermocht hätte, daß sie auch ihrerseits produktive Rezeptionen, Fortschreibungen, selbst Gegenentwürfe stimuliert hätten - , so gebührt doch den hier diskutierten Schlüsselwerken der französischen >Antiken-Avantgarde< der zwanziger bis vierziger Jahre ein bedeutender Platz im Archiv oder im musée imaginaire der literarischen Hochmoderne, die sich in diesen zeitgemäßen Rekonfigurationen antik-tragischer Vorwürfe eine Reihe prägnanter Chiffren, Verständigungsfiguren, Selbstbespiegelungen geschaffen hat. !JI

Vgl. das 1946 entstandene Fragment dieses Titels in: Michel Contat/Michel Rybalka: Les écrits de Sartre, Paris 1970, 8.670-676, mit den programmatischen Schlußsätzen: »C'est cette mesure-là que nous proposons à l'écrivain: tant que ses livres provoqueront la colère, la gêne, la honte, la haine, l'amour, même s'il n'est plus qu'une ombre, il vivra! Après, le déluge. Nous sommes pour une morale et pour un art du fini.« (Ebd., S. 676). Siehe den Kommentar bei Kohut, Was ist Literatur?, S. 72-77.

480

IV. >Moira< und Marxismus: Episierung und >Durchrationalisierung< in Bertolt Brechts >Antigonemodell i948
Antigone< des Sophokles an der Jahreswende 1947/48 ist beides: ein eher zufällig zustandegekommenes und in vielen Zügen ausgesprochen improvisiert anmutendes Gelegenheitsunternehmen, entstanden aus einem »eigentümliche[n] Sammelsurium von Anlaßmomenten, Umständen, tiefpersönlichen Sentiments, generellen Interessenpunkten, schließlich praktischen Arbeitserfahrungen«,1 und ein weit über seinen ursprünglichen Entstehungskontext hinaus bedeutsames und folgenreiches literatur- und theatergeschichtliches Ereignis von modellhafter und schulbildender Wirkung.2 Den historischen Rahmen des Projekts bildet die unmittelbare Nachkriegsära, für Brecht verbunden mit der biographischen Transitsituation seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil und dem Versuch, in Europa wieder künstlerisch Fuß zu fassen. Anfang November 1947 trifft Brecht, über Paris aus den USA zurückkehrend, in Zürich ein, der Stadt, deren Schauspielhaus während der Kriegsjahre »durch die Tätigkeit emigrierter Regisseure und Schauspieler die einzige Bühne« war, »die kontinuierlich seine Stücke aufgeführt hat.«5 Da sich in Zürich wegen Brechts 1

Wilfried Barner: »Durchrationalisierung« des Mythos? Zu Bertolt Brechts >Antigonemodell i948H< und nachfolgender Seitenzahl; der Stücktext wird zitiert als »Brecht, >AntigoneAntigonemodell I948< mit Seitenangabe. Andere Texte Brechts nach: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M. 1967, zit. als G W mit Band-und Seitenangabe.

3

Klaus-Detlef Müller, Kommentar zu >Die Antigone des Sophokless in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe: Bertolt Brecht, Werke, Bd. 8, Berlin/Weimar/ Frankfurt a.M. 1992, S.488. 481

fehlender Arbeitserlaubnis zunächst keine Arbeitsperspektiven ergeben erst im Frühjahr 1948 beginnen die Proben zu >Herr Puntila und sein Knecht Matti< - , geht der Heimkehrer auf das Angebot des Churer Intendanten Hans Curjel, den er zufällig auf der Straße trifft, ein, an der Provinzbühne der kleinen Graubündener Kantonshauptstadt eine Regiearbeit zu übernehmen. Curjel, der vor 1933 unter Otto Klemperer Dramaturg an der Berliner Kroll-Oper gewesen war und schon 1927 an der Baden-Badener Uraufführung des >MahagonnyAntigone< des Sophokles, Shakespeares >MacbethPhèdreMutter Courage und ihre Kinder< und >Die Heilige Johanna der Schlachthöfe< stehen zur Auswahl. Seine Entscheidung für die >Antigone< verbindet Brecht mit der Bedingung, das Werk in einer eigenen Bearbeitung herauszubringen. Für den Entschluß, als Grundlage dieser Adaption auf »die HÖLDERLINISCHE Übertragung« zurückzugreifen, »die wenig oder nicht gespielt wird, da sie für zu dunkel gilt«,4 gibt die Empfehlung des Jugendfreundes Caspar Neher den Ausschlag, den sich Brecht als Bühnenbildner ausbedungen hat und der knapp zwei Jahre zuvor, im Frühjahr 1946, eine >Antigone< am Hamburger Schauspielhaus ausgestattet hatte, die ebenfalls »in programmatischer Absicht in der Ubersetzung Hölderlins gespielt wurde.« 5 In weniger als zwei Wochen, zwischem dem 30. November und dem 12. Dezember 1947, erstellt Brecht seinen Spieltext aus der Bearbeitung der Hölderlinschen Fassung, und Mitte Januar 1948 beginnen die Proben, zunächst in Zürich, dann vor Ort, im Churer Stadttheater, das nur vier Wintermonate lang bespielt wird und neben dem Schauspiel auch für Kinovorführungen von bescheidenem künstlerischem Niveau herhalten muß.6 4

! é

Arbeitsjournal, 16. Dezember 1947. Alle Zitate aus Brechts (in charakteristischer Kleinschreibung gehaltenem) Arbeitsjournal nach der von Werner Hecht herausgegebenen zweibändigen Ausgabe, Frankfurt/M. 1974. Flashar, Inszenierung der Antike, S. 182. In einem Aufsatz von 1961 (>Brechts Antigone-Inszenierung in Chur 1948s zuerst in: Bertolt Brecht. Gespräch auf der Probe, Zürich 1 9 6 1 , 8 . 9 - 1 9 ; hier zit. nach der Wiedergabe in Hechts Materialienband) erinnert sich Hans Curjel: »Brecht nahm den Kontakt mit der Stadt Chur auf, mit der Stadt als historischem und gegenwärtigem Gebilde, mit ihrem Leben, in dessen Geschäftigkeit eine seltsame Mischung von Bildung, Gemeinsinn, Wald und Gebirgsluft herrscht. Die kleine alte Stadt Chur mag Brecht, dem Augsburger, vertraut vorgekommen sein. [...] Das Haus des Stadttheaters, damals noch im Kino >RätushofStimmungFreien Rätin< Anstoß an Ihrem Alter genommen wird (es >stört dermaßen, daß auch die Erhabenheit in Mimik und Gestik nicht über diese Ungleichheit weghilftNeue Bündner Zeitung« gerade, daß Brecht eine Frau in »gereiftem Alter< gewählt hat, denn >nur ein Mensch von großer Reife< sei >zu einer so großen, erhabenen Tat fähig< gewesen. - Weigel·. Es war, was mich betrifft, ein Experiment, und Brecht hat es auch zu diesem Zweck gemacht. Übrigens waren alle, und ich besonders, so stark geschminkt, daß jedenfalls die Masken die Altersunterschiede völlig beseitigt haben.« H 182.

8

Hans Bunge: Brechts Lai-tu. Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau, Darmstadt und Neuwied 1985, hier zitiert nach dem Abdruck bei Hecht, S. 186. 483

Nachdem es in der Schlußphase der Probenarbeiten wegen Brechts Forderungen an die Schauspieler noch zu Spannungen zwischen Autor/Regisseur und Akteuren kommt, Turbulenzen, die den Intendanten Curjel zum Eingreifen veranlassen,9 findet am 15. Februar 1948 die Premiere in Chur statt, der nur noch drei weitere Aufführungen folgen, dazu am 14. März eine gastweise Matinee im Schauspielhaus Zürich. Die Resonanz beim örtlichen Publikum bleibt bescheiden, 10 die Churer und Züricher Theaterkritik äußert sich insgesamt verhalten positiv. 11 Schon am 1 1 . Februar 1948, einen Tag nach Brechts 50. Geburtstag, fotografiert Ruth Berlau eine Voraufführung und legt damit den Grundstein für die Dokumentation zur Churer >AntigoneAntigonemodell i948< im Berliner Verlag der Gebrüder Weiß erscheint und neben 94 Szenenfotos einen epischen Hexameter-Kommentar (die »Brükkenverse« aus Brechts Probenarbeit), ferner ein mit »Brecht. Neher« gezeichnetes programmatisches Vorwort, dramaturgische Erläuterungen von Brechts Hand, Nehers Bühnenentwürfe und Szenenskizzen sowie schließlich den kompletten Text der Bearbeitung einschließlich des von Brecht hinzugeschriebenen und der Churer Aufführung vorangestellten Berliner Vorspiels bietet. In dieser dürren Chronologie mag die Churer >AntigoneAntigoneKleinen Organons für das Theater< zusammen,' 5 und im selben Sinn einer programmatischen Standortbestimmung ergibt sich von der >AntigoneModello< scenico: una elaborata e chiara documentazione di uno spettacolo offerto come esempio entro certi limiti vincolante per rappresentazioni successive, che cosi si inserirebbero nella linea di un »processo creativo« che dovrebbe sostituirsi agli atti creativi sporadici e anarchici, caratteristici di un'era in cui solo la >novità< viene apprezzata.« (Ebd., S. 175).

13

»Die Schweiz, das war unsere Vorbereitung auf Berlin. Ich habe den Brecht gedrängt, daß er seine theoretischen Schriften ordnet. Da gab es so viel Angefangenes. Du brauchst ein Programm, habe ich gesagt, daß sie sehen, was du willst. Er war davon nicht sehr begeistert, aber er hat es eingesehen und das >Organon< geschrieben.« So Helene Weigel im Gespräch mit Werner Hecht, H 183.

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Zur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Brechts Theorie und Praxis der Werkbearbeitung vgl. das Spektrum kontroverser Positionen bei Gudrun Schulz: Klassikerbearbeitungen Bertolt Brechts. Aspekte zur »revolutionären Fortführung der TraditionCoriolanDom Juanklassischen< Spätphase, auf einen kanonischen, höchst intensiv rezipierten Text des antiken Theaters zurückgreift, dürfte dabei nicht allein an den im Vorwort zum >Antigonemodell< betonten reizvollen formalen Affinitäten zwischen griechischer Tragödie und epischem Theater oder an der kurze Zeit nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur unmittelbar zutageliegenden politischen Aktualität des Stoffes liegen. Vielmehr bedeutet die Entscheidung, eine Tragödie des Sophokles zu bearbeiten, nicht zuletzt den Entschluß zur Auseinandersetzung mit eben jenem Sektor der weltliterarischen Tradition,16 auf den sich auch die eigene nationale, d.h. die Weimarer Klassik bei der Begründung ihres Kunstprogramms vielfach wahlverwandtschaftlich berufen hatte; damit ist implizit die agonale Anspruchshöhe signalisiert, von der man bei Brechts ästhetischem Experiment auszugehen hat.17 Tatsächlich beschäftigt sich Brecht zeitgleich zur Sophokles-Bearbeitung intensiv mit der Weimarer Kunstdoktrin, ein vor allem durch Georg Lukács' großen Essay über den Goethe-Schillerschen Briefwechsel angeregtes Interesse, das Wolfgang Fritz Haugu.a., Argument-Sonderband 50 (1980), S. 1 2 2 - 1 4 3 ; Wolfgang Wittkowski: Aktualität der Historizität. Bevormundung des Publikums in Brechts Bearbeitungen. In: Brechts Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1984, S. 343-368; Klaus-Detlef Müller (Hrsg.): Bertolt Brecht. Epoche - Werk Wirkung, von Jörg-Wilhelm Joost, Klaus-Detlef Müller und Michael Voges, München 1985 (= Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), bes. Arbeitsbereich XAntigone< seine Spuren hinterläßt. Solche rivalisierenden Seitenblicke konstatieren etwa, das eigene kritisch-distanzierte Bearbeitungsverfahren gegen den einseitigen Asthetizismus und die gräkophile Identifikationsbereitschaft der >bürgerlichen< Klassiker ausspielend, in einer zeitgemäßen Variation der antiken Tragödie könne es nicht mehr um die Propagierung eines klassizistisch stilisierten Schönheits- und Humanitätsideals von angeblich zeitloser Geltung zu tun sein es kann sich nicht darum mehr handeln, im griechentum kultur aufzuzeigen, als sei's das höchstmaß; was die klassiker des bürgertums machten, interessiert am ästhetischen allein, (selbst an der demokratie nur ästhetisch interessiert.) Die ganze A N T I G O N E gehört auf die barbarische pferdeschädelstätte. Das stück ist ja keineswegs durchrationalisiert 1 8 - ,

oder Brechts Notizen behaupten eine ästhetische Affinität von antikem und epischem Theater 19 im gemeinsamen Gegensatz zu den geschlossenen dramaturgischen Auffassungen der Weimaraner: »Die hellenische Dramaturgie versucht durch gewisse Verfremdungen, besonders durch die Einschnitte für die Chöre, etwas von der Freiheit der Kalkulation zu retten, die Schiller nicht weiß, wie sicherzustellen.« 20 Auch und gerade die Tatsache, daß diese Urteile in einem literarhistorischen Sinn kaum zutreffend und gerecht zu nennen sind - es genügt, an Schillers >Braut von Messina< mit ihrer Vorrede >Uber den Gebrauch des Chors in der Tragödie< zu erinnern, um zu erkennen, daß bei den »Klassikern des Bürgertums« sehr wohl ein Sensorium für die »Freiheit der Kalkulation« in der antiken Dramaturgie vorhanden ist, ja, daß Schillers und Brechts Sichtweisen einander in diesem Punkt sehr viel näherstehen, als der Stückeschreiber weiß oder wahrhaben möchte - , gerade diese polemische Verkürzung in Brechts Argumentation macht deutlich, daß es bei diesen Äußerungen weniger um die Abgewogenheit historischer Urteile geht als um die Durchsetzung eines literaturstrategischen Interesses: Im Streit um die zutreffende Auffas18 19

20

Arbeitsjournal vom 18. Januar 1948, S. 819. Aspekte dieses Berührungsverhältnisses behandeln Walter Jens: Sophokles und Brecht. Dialog. In ders.: Zur Antike, München 1978, S.413-433, und Juliane Eckhardt: Das epische Theater, Darmstadt 1983 (= Erträge der Forschung 204), bes. S. io8ff. (»Elemente des epischen Theaters im antiken Theater«); besonders im Hinblick auf das Verhältnis von >aristotelischer< und >nicht-aristotelischer< Dramatik siehe die wichtige Studie von Hellmut Flashar: Aristoteles und Brecht. In: Poetica 6 (1974), S. 1 7 - 3 7 (wieder in ders.: Eidola. Ausgewählte Kleine Schriften, Amsterdam 1989, S. 179-199), daneben Gustav Adolf Seeck: Aristotelische Poetik und Brechtsche Theatertheorie. In: Gymnasium 83 (1976), S. 389-404; unter Konzentration auf die Sophokles-Bearbeitung Wolfgang Rosier: Zweimal >AntigoneAntigonemodell 1948«, Vorwort, H 49.

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sung der antiken Dramaturgie und um die Möglichkeit, ihr mit modernen Mitteln zu entsprechen, wird hier Maß genommen an den Repräsentanten der >bürgerlichen< Klassik, und dies von einem Autor, der sich, auch mit diesem programmatischen >Antigonemodellklassisch< zu werden. Noch ein weiteres Differenzmotiv stellt das Vorwort zum >Antigonemodell< zur Begründung des eigenen Verfahrens groß heraus, nämlich die Kritik an einer Dramaturgie der politischen Verschleierung, die sich durch ihre ideologischen Handlangerdienste für die nationalsozialistische Herrschaft endgültig diskreditiert habe.21 Im Bereich der Antikeninszenierung bilden Unternehmungen wie die »handfeste Inanspruchnahme der antiken Tragödie für die Ziele des Nationalsozialismus« 22 in Lothar Müthels pompöser Festaufführung der >Orestie< anläßlich der Berliner Olympiade von 1936, aber auch die von Flashar für die Kriegsjahre nachgewiesene, auf »heroisches Leben und Leiden, großes Pathos« 23 abzielende »Hinwendung zur griechischen Tragödie«24 den Hintergrund für Brechts Verdikt über eine desavouierte Spielweise: Der schnelle Verfall der Kunstmittel unter dem Naziregime ging anscheinend nahezu unmerklich vor sich. Die Beschädigung an den Theatergebäuden ist heute weit auffälliger als die an der Spielweise. Dies hängt damit zusammen, daß die erstere beim Zusammenbruch des Naziregimes, die letztere aber bei seinem Aufbau erfolgte. So wird tatsächlich jetzt noch von der >glänzenden< Technik der Göringtheater gesprochen, als wäre solch eine Technik übernehmbar, gleichgültig, auf was da ihr Glanz nun gefallen war. Eine Technik, die der Verhüllung der gesellschaftlichen Kausalität diente, kann nicht zu ihrer Aufdekkung verwendet werden. Und es ist Zeit für ein Theater der Neugierigen! 25

In genauer Umkehrung zur pathetisch-suggestiven >Technik der Göringtheater< soll die neue episch-verfremdende Spielweise, wie sie die >AntigoneAntigonemodell 1948^ Theaterarbeit nach dem Faschismus, Köln: Pahl-Rugenstein, 1987; vgl. auch meine Rezension in: Germanistik 29 (1988), S . 7 5 1 - 5 2 . Flashar, Inszenierung der Antike, S. 164. Ebd., S. 168 f. Ebd., S. 168. Flashar verweist auf den in der Tat merkwürdigen Sachverhalt, daß »in diesen Jahren auch die >Antigone< gespielt« wurde, »und zwar besonders häufig. Es ist aus heutiger Sicht [...] kaum zu ermessen, was es bedeutet, daß diejenige Tragödie, in der die Übertretung eines von einem Machthaber erlassenen Verbotes durch eine einzelne Frau im Mittelpunkt steht, in mindestens 16 Inszenierungen und etwa 150 Vorstellungen auf den deutschen Bühnen von 1939-1944 stand.« (S. i69f.). >Antigonemodell 1948s Vorwort, H 47.

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hen werden, ein Leitmotiv in Brechts politischer >Durchrationalisierung< des sophokleischen Mythos und ein Grund für den Versuch, mit epischen Mitteln eine Änderung der Zuschauerhaltung zu erreichen: kritische und analytisch-erörternde Distanz soll an die Stelle emotionaler Einfühlung und Uberwältigungsbereitschaft treten.

2. »... was w i r tun können f ü r die alten Stücke und: was sie f ü r uns tun können«: Brechts Bearbeitungstheorie und M o d e l l k o n z e p t i o n Indem Brecht sein >AntigoneAntigoneAntigonemodellGeist der A n t i k e z u b e s c h w ö r e n , philologische Interessen konnten nicht bedient w e r d e n . Selbst w e n n man sich verpflichtet f ü h l te, f ü r ein W e r k w i e die >Antigone< etwas z u tun, k ö n n t e n w i r das nur so tun, ind e m w i r es etwas f ü r uns tun lassen. 2 8

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Umfassende Perspektiven bei Reinhold Grimm: Bertolt Brecht und die Weltliteratur, Nürnberg 1961; Hans Mayer: Bertolt Brecht und die Tradition. In ders.: Brecht in der Geschichte. Drei Versuche, Frankfurt/M. 1971, S. 7-159; Werner Mittenzwei: Brechts Verhältnis zur Tradition, Berlin 1972. Alle Zitate aus Briefen Brechts nach Bertolt Brecht: Briefe 1913-1956, hrsg. und kommentiert von Günter Glaeser, Frankfurt/M. 1981; hier S. 535. >Antigonemodell 1948s Vorwort, H 49. 489

>Für ein Werk etwas tun, indem wir es etwas für uns tun lassenNicht mehr< und >Noch nicht< im Bild der Ruine aus und entwirft eine Theorie des vergangenen, nur noch partiell zugänglichen Kunstwerks als eines eo ipso offenen, zu neuen aktiven Ergänzungen und konstruktiven Restaurationen einladenden Artefakts: Die halbzerfallenen Bauwerke Haben wieder das Aussehen von noch nicht vollendeten Groß geplanten: ihre schönen Maße Sind schon zu ahnen; sie bedürfen aber Noch unseres Verständnisses. Andrerseits Haben sie schon gedient, ja, sind schon überwunden. Dies alles Beglückt mich.JO

Eine eng verwandte, ebenfalls die intellektuell-kreative Eigenleistung des Rezipienten betonende Reflexion begegnet in dem entstehungszeitlich benachbarten Lehrgedicht >Uber die Bauart langdauernder Werkec 29

GW 8, 386. GW 8, 386. 490

Wie lange Dauern die Werke? So lange Als bis sie fertig sind. So lange sie nämlich Mühe machen Verfallen sie nicht. Einladend zur Mühe Belohnend die Beteiligung Ist ihr Wesen von Dauer, so lange Sie einladen und belohnen.31 Auch hier skizziert Brecht eine Hermeneutik des Dialogs mit historischen Werken, und abermals soll es gerade nicht deren >klassische< Perfektion sein, ihr mit einem einmalig-originalen Schöpfungsakt vollendetes, unangreifbares In-sich-Ruhen, was ihnen Dauer verleiht - das »Fertige« ist hier ja ausdrücklich mit dem hermeneutisch Erschöpften und Unproduktiven gleichgesetzt und als solches dem »Verfall« preisgegeben - , sondern es ist ein Unruhemoment der Herausforderung (»Einladung«), des intellektuellen Widerstandes (»Mühe machen«) und der Aufforderung zur aktiven, nach- und weiterschaffenden Partizipation des Rezipienten (»Belohnend die Beteiligung«), das den offenen, schwierigen und unabgegoltenen Werken ihren Fortbestand sichert. Gegen die Stasis des monolithisch-monologischen Meisterwerks und seiner unfruchtbaren Bewunderung spricht Brecht der Dynamik einer dialogisch-produktiven Kommunikation zwischen problemreichen Werken und ihren kritisch-aufgeschlossenen Interpreten oder Bearbeitern den Vorrang zu. Im Bereich der Brechtschen Dramatik, wo die Kontinuität des Genres der in Vorgängertexte eingreifenden Bearbeitung von der stilisierenden Adaption von Marlowes >Leben Eduards des Zweiten von Englands der Schiller-Travestie in der >Heiligen Johanna der Schlachthöfe^ 2 oder der mit Villon- und Kipling-Zitaten angereicherten Retraktation von John Gays >Beggars' Opera< bis hin zu den späten Bearbeitungen kanonischer Schlüsselwerke der dramatischen Weltliteratur für das Berliner Ensemble reicht, 35 begegnet derselbe Gestus einer Ingebrauchnahme des bereits historisch Erprobten und Erfolgreichen, »köstlich/ Weil oftmals gekostet«, und die intertextuelle Grundspannung zwischen konservierenden und fortschreibenden Impulsen ist dieselbe wie in den zitierten poetologi-

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G W 8, 387. Dazu vgl. Gudrun Schulz: Die Schillerbearbeitungen Bertolt Brechts. Eine Untersuchung literarhistorischer Bezüge im Hinblick auf Brechts Traditionsbegriff, Tübingen I?72 · Vgl. Subiotto, Bertolt Brecht's Adaptations, und die Anm. 14 genannte Literatur.

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sehen Gedichten. Im Detail allerdings ergibt sich ein durchaus nuancenreiches Spektrum, sind Brechts theoretische Verlautbarungen zu den Prinzipien seiner Bearbeitungspraxis unterschiedlich offensiv und durch ihren wechselnden Akzent auf stärker bewahrend-rekonstruktiven oder radikal verändernden Intentionen charakterisiert. So zeugt die sibyllinische Auskunft auf die Frage nach der Adaptierbarkeit Shakespeares: »Ich denke, wir können Shakespeare ändern, wenn wir ihn ändern können«, 34 nicht allein von Brechts Uberzeugung der prinzipiellen Möglichkeit, ja Notwendigkeit einer kritischen Bearbeitung historischer Werke von klassischem Status, sondern ineins damit von dem respektvoll-skeptischen Bewußtsein der tatsächlichen Schwierigkeit, einen Dramatiker von Shakespeares Rang zu >korrigierenDom Juan< zeitgenössisch gespielt werden solle: »So, wie er nach möglichst genauer Prüfung des Textes unter Berücksichtigung der Dokumente von Molières Zeit und seiner Stellung zu dieser Zeit gespielt werden muß. Das heißt, man darf ihn nicht verdrehen, verfälschen, schlau ausdeuten; man darf nicht spätere Gesichtspunkte über die seinen stellen und so weiter.« Gerade nämlich die »marxistische Betrachtungsweise, zu der wir uns bekennen«, führe »bei großen Dichtwerken nicht zu einer Feststellung ihrer Schwächen, sondern ihrer Stärken.« 36 - Angesichts der tatsächlich sehr weitreichenden Eingriffe Brechts in das Handlungs- und Motivationsgefüge von Shakespeares heroischer Tragödie und von Molières Komödie können diese moderaten Äußerungen freilich durchaus als Bagatellisierungen und Lippenbekenntnisse, im schlimmsten Fall als Selbst- und Publikumstäuschungen erscheinen, eine Diskrepanz von theoretisch heruntergespieltem, faktisch jedoch massiv vollzogenem Eingriff in die Substanz der Ausgangstexte, die ihre Erklärung wohl am ehesten in Brechts marxistischer Konzeption einer »Historisierung« 3 7 seiner Prätexte finden 34

>Die Dialektik auf dem Theater« (Studium des ersten Auftritts in Shakespeares >CoriolanInterpretierung< von Meisterwerken [zu vergnügen], diese beschädigt haben.« G W 17, 1257. Zur Kategorie vgl. Müller et al., Bertolt Brecht, S. n ^ ñ . , und Jan Knopf: Brecht-Handbuch - Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche, Stuttgart 1980, bes. S. 386f.; sehr kritische Bemerkungen im Blick auf das Historisierungs-Verfahren in den Bearbeitungen bei Wittkowski, Aktualität der Historizität, bes. S. 34pff.

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dürfte: Offenbar gelten dem Bearbeiter die eigenen Veränderungen seiner Vorlagen eben nicht als willkürlicher Oktroi moderner Sichtweisen und späterer Gesichtspunkte< (und mithin nicht, im Sinne des Zitats, als V e r drehungen^ >Verfälschungenschlaue Ausdeutungen^, sondern eher als Freilegungen und Verdeutlichungen eines im Originaltext selbst bereits angelegten und durch den gegenwärtigen Bearbeiter kraft historischer Einsicht und Deutungskompetenz (also im Beispiel: »nach möglichst genauer Prüfung des Textes unter Berücksichtigung der Dokumente von Molières Zeit und seiner Stellung zu dieser Zeit«) lediglich verstärkten, durch kommentierende Zutaten noch transparenter gemachten Sinngehalts. Dieser unter dem Leitbegriff der >Historisierung< stehenden Argumentationslinie einer eher >rekonstruktiven< und propädeutisch-vermittelnden Funktion der Bearbeitung, nach der diese, im Bewußtsein ihres dienenden Charakters und ihrer eigenen Vorläufigkeit, »das Original nicht ersetzen, sondern zeitgemäße Zugänge zu seinem Verständnis ermöglichen will«, 3 8 stehen freilich nicht nur in Brechts literarischem Bearbeitungsverfahren, sondern auch bereits auf der Ebene der dramaturgischen Reflexion durchaus gegenläufige, nämlich stärker >destruktiv< akzentuierte und das Eigengewicht der Bearbeitung gegenüber der Vorlage betonende Aussagen gegenüber, ja, es dürfte dem komplexen Sachverhalt nahekommen, wenn man eine (in aller Regel nicht aufgelöste, sondern uneingestanden bleibende) Zweideutigkeit zwischen bewahrend-rekonstruktiven und konkurrierend-destruktiven Intentionen geradezu als die latente Grundspannung aller Brechtschen Klassiker-Bearbeitungen bezeichnet: Der dem »Theater des Shakespeare« als einem »Theater voll von V-Effekten« 39 gewidmete Abschnitt des >Messingkauf< plädiert in diesem Sinne für die Praxis, Shakespeares Stücke - die ihrerseits durch die epochale Experimentiergesinnung eines Galilei oder Bacon zutiefst geprägt seien »experimentierend aufzuführen« 4 0 und dabei vor der Änderung von Wer-

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So Joost, Die Bearbeitungen, S. 336, der mit einer gewissen Einseitigkeit die konservierenden Züge von Brechts Bearbeitungsprinzip herausstellt: »Brecht geht davon aus, daß die Gegenstände der kulturellen Tradition ihre ursprüngliche Gestalt bewahren sollen, also nicht durch Gesichtspunkte späterer Epochen entstellt und >schlau ausgedeutet^ d.h. willkürlich verändert werden dürfen. Intensives Studium der Werke, Rekonstruktion der Entstehungszeit und Kenntnis des Autors werden zu elementaren Voraussetzungen einer Bearbeitungstechnik, die dem Werk auf produktive Weise dadurch die Treue wahrt, daß sie die in ihm verborgenen und/oder durch falsche Tradierung verdeckten semantischen Gehalte hervorkehrt.« Ebd., S. 337. " G W 16, 586. 40 G W 16, 589.

493

ken, die schon selbst »Sakrilegien ihre Existenz« verdankten, keinesfalls zurückzuscheuen. Den in der Diskussion über »Das Theater des Shakespeare« in der »Zweiten Nacht« des >Messingkauf< erhobenen Einwand des Schauspielers jedenfalls, man setze »sich dem Vorwurf aus«, Shakespeares Dramen »nicht als vollkommen zu betrachten, wenn man sie ändert«, tut der Dramaturg, der darin nahtlos die Position des Autors repräsentiert, mit der lapidaren Replik ab: »Das ist eine falsche Vorstellung von Vollkommenheit, nichts sonst.«41 Diese Aversion gegenüber einer pietätvoll-sterilen Klassiker-Bewunderung in passiver Auf- und Hinnahme hat in Brechts poetologischem Denken eine lange Kontinuität: Von der späten, anläßlich der >UrfaustHeilig machen die Sakrilegenur geehrt< werden, geschieht es in einer belebenden Weise; denn es kann keiner etwas ehren, ohne einen gerüttelten Teil der Ehrung für sich selber zurückzubehalten. Kurz, das Verkommen bekommt den klassischen Stücken, da nur lebt, was belebt.« Ebd., S. 336. G W i j , 105.

494

aus beurteilen, sondern [...] lediglich daraus [die] Lehre ziehen [...], daß man nur durch Schnoddrigkeit zum Materialwert einer Sache kommen kann«,45 und erklärt auf eine Rundfrage vom Dezember 1925, >Wie soll man heute Klassiker spielen ?Vernichtung< Vorschub leiste: »Der Besitzfimmel hinderte den Vorstoß zum Materialwert der Klassiker, der doch dazu hätte dienen können, die Klassiker noch einmal nutzbar zu machen, der aber immer verhindert wurde, weil man fürchtete, daß durch ihn die Klassiker vernichtet werden sollten.« 5 ' Überblickt man diese Äußerungen aus drei Jahrzehnten, so stammen, bei allerdings sofort wiedererkennbarer Grundtonart, die insgesamt radikaleren, scharf ikonoklastischen Kommentare zur Klassikerbearbeitung aus den zwanziger und dreißiger Jahren, während Brechts Formulierungen des Nach-Exils verhaltener klingen und dem jeweiligen Prätext ein stärkeres Eigenrecht zubilligen; nicht mehr von vandalischen Plünderungen und Ausschlachtungen im Sinne eines rigorosen Materialwert-Gedankens ist jetzt die Rede, sondern von der marxistischen Historisierung des Originals, seiner verdeutlichenden Rekonstruktion unter Berücksich45

GW 15, iojf. GW 15,113. 47 GW 15, 178. 48 GW 15, 179. 49 GW 15, 181. 50 GW 15, 178. 51 Ebd. 46

495

tigung historischer Dokumente und aktuellen geschichtlichen Wissens.52 Auch die >AntigoneAntigone< des Sophokles des mythologischen und kultischen Aufputzes zu entkleiden«,' 3 um unter diesen vorgeblich späteren ideologischen Uberlagerungen ein authentisches und durchaus säkulares kulturelles Substrat freizulegen: »nach und nach, bei der fortschreitenden bearbeitung der szenen, taucht aus dem ideologischen nebel die höchst realistische volkslegende auf«, notiert sich Brecht befriedigt in sein Arbeitsjournal. 54 Zugleich aber fungiert gerade dieses - als Rekonstruktion ausgegebene - problematische Konstrukt 55 von der erst in der »durchrationalisierten« Brechtschen Bearbeitungsgestalt zu ihrer >realistischenUr-Antigone< als Argument gegen den sophokleischen Prätext und wird als solches zum Ausgangspunkt einer überaus prekären literaturpolitischen Verhältnisbestimmung von sophokleischem Original und brechtscher Bearbeitung.' 6 Bezeichnenderweise tritt dieses Moment vor allem in Brechts Begleitkommentaren zur DDR-Erstaufführung des >AntigonemodellsAntigonebarbarischen< Gepräges vgl. Rosier, Zweimal >AntigoneUrsprünglichenUnvergleichlichenNiedagewesenen< applaudiert und die das >Einmalige< fordert«;61 die Erstellung des Modells trage demgegenüber gerade dem Sachverhalt Rechnung, daß »die moderne Arbeitsteilung auf vielen wichtigen Gebieten das Schöpferische umgeformt« habe und »der Schöpfungsakt ein kollektiver Schöpfungsprozeß geworden« sei.62 Erst sekundär, nämlich auf der obligaten Bezugsgrundlage des akribisch notierten Modells und nur innerhalb seines Rahmens, sollen - weil »ein Modell keine Schablone« sei und »sowohl knechtisch als auch souverän behandelt werden«63 könne - dann auch Modifikationen und Fortentwicklungen vor allem im Hinblick auf Gesten, Tonfälle, Bewegungseigentümlichkeiten individueller Schauspieler zugelassen sein, brauche man doch »die Arbeit an Modellen auch nicht mit mehr Ernst zu betreiben als zu jedem Spiel nötig ist«.64 In diesem Sinn sei das Modell, »in einundeinhalb Dutzend Proben am Stadttheater in Chur hergestellt, [...] von vornherein als unfertig zu betrachten; gerade daß seine Mängel nach Verbesserung schreien, sollte die Theater einladen, es zu benutzen.«6' Die Dialektik von »Nachahmbarkeit und Variabilität«66 mündet in das Postulat, solche kontrollierten »Abänderungen, richtig vorgenommen«, besäßen »selber modellhaften Charakter, der Lernende verwandelt sich in den Lehrer, das Modell ändert sich«;67 ausschlaggebend sei, daß »an die Stelle der sporadischen und anarchischen Schöpfungsakte [...] Schöpfungsprozesse mit schritt- oder sprunghaften Änderungen treten«.68 Insgesamt ist in diesen Äußerungen ein deutliches Bestreben erkennbar, die mögliche Veränderungsdynamik der eigenen Modellvorgaben unter Kontrolle zu halten;

60

>Antigonemodell 1948', Vorwort, H 49. " Ebd., H 50. 62 Ebd. Ebd. 64 Ebd., H 5 4 f . 61 Ebd., H 51. 66 Ebd., H 49. 67 Ebd., H 50. 68 Ebd., H jof. 6

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auch dort, wo Abänderungen vorgenommen werden - ihre Möglichkeit wird nur im Hinblick auf Details von Dramaturgie und Inszenierung, nicht auch im Blick auf den Text der Bearbeitung eingeräumt - , sollen sie Änderungen dieses Modells sein und auf es bezogen bleiben.6' Joost formuliert recht konziliant, die »Festlegung späterer Inszenierungen der Bearbeitung aufs Modell« solle »das >freie Improvisieren verhindern«.70 Tatsächlich gehen Brechts Aussagen zum Status des eigenen Unternehmens mit heftiger Polemik gegen den stilistischen Eklektizismus und gegen die ästhetische Beliebigkeit einer »Periode des Ausverkaufs« einher,71 mit eigentümlich konservativen, auf Geschlossenheit dringenden Äußerungen, die von der >Schnoddrigkeit< und Radikalität des früheren »vandalischen« Materialwert-Denkens ebensoweit entfernt sind, wie sie sich im Licht des Regietheaters seit den sechziger Jahren mit seinen ausgiebig genutzten inszenatorischen Freiheiten72 (ganz zu schweigen von der programmatischen Vielstimmigkeit und den stilistischen Uberblendungstechniken in der Dramatik der internationalen Postmoderne) merkwürdig streng und autoritär ausnehmen. Der Eindruck ist jedenfalls nicht ganz von der Hand zu weisen, im Unwillen des resoluten Sophokles-Bearbeiters Brecht, durch künftige Benutzer seiner > AntigoneBrechtErben< und von deren Versuchen, in einer Art künstlerischer Verfügungshoheit über das Werk und seine Nachwirkungen mißliebige, weil unorthodoxe und von den Intentionen des Autors abweichende Inszenierungen

69

Eine scharfe Kritik bei Wittkowski, Aktualität der Historizität, S. 355: »Nur innerhalb des Rahmens also, in dem man hier eben doch >ein verpflichtendes Aufführungsmodell< anerkennt, braucht man die >Arbeit an Modellen [...] nicht mit mehr Ernst zu betreiben, als zu jedem Spiel nötig istMimischenAntigonemodell 1948s Vorwort, H 54.

71

71

Hierzu vgl. Flashar, Inszenierung der Antike, Kap. X I I (»Das antike Drama unter den Bedingungen des modernen Regietheaters: Wege und Irrwege«).

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mit den Mitteln des Urheberrechts kurzerhand zu unterbinden. Freilich offenbart sich gerade an diesem Bestreben nach umfassender Kontrolle und weitgehender Festlegung sogar der künftigen Bedeutungs-und Verwendungsmöglichkeiten des Werks ein ironisches Dilemma, das Brechts >AntigonemodellAntigonemodell< bereits nach wenigen Jahrzehnten merkwürdig museal anmutet und in den Spielplänen der Theater kaum auftaucht, während die >Antigone< des Sophokles in immer neuen Aktualisierungen und Metamorphosen ihre fortdauernde Attraktivität erweist.73 Auch hier bestätigt sich demnach das Triftige der Maxime, die Werke dauerten >so lange/ Als bis sie fertig sind< und verfielen nicht, >so lange sie Mühe machenAntigoneAntigone< Brechts unfreiwillig geschadet.« Flashar gelangt bei seiner Würdigung ausgewählter Inszenierungen zu dem Eindruck, diese hielten sich überwiegend nicht mehr an das Modell Brechts und Nehers, »wohl vor allem deshalb, weil seine 1948 noch einigermaßen neuen Mittel und Formen inzwischen längst in die allgemeine Theaterpraxis eingegangen und weiterentwickelt worden sind.« (Ebd.) 501

dezu esoterischen deutschen Fassung zurückgegriffen wird, nämlich auf Friedrich Hölderlins >AntigonäDie Antigone des Sophokles nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitet von Bertolt Brechte In den Kategorien Genettes müßte man angesichts des zweifachen Prätext-Bezuges und der >geliehenen Sprache< von Brechts Variation - einer Variation mit Sophokles und Hölderlin gegen Sophokles und Hölderlin - von einer »littérature au troisième degré« sprechen, und das durchaus Seltene dieser Konstellation wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß die große Mehrheit der Werke im Korpus neuzeitlicher Antikendramen einem von zwei Typen zugehört: Entweder handelt es sich hier um literarische Übersetzungen, bei denen die Eigenleistung des modernen Verfassers maßgeblich in einer dem Original getreuen und zugleich literarisch anspruchsvollen, unterschiedlich freien sprachlichen Übertragung des griechischen Textes unter weitgehender Wahrung der im antiken Werk gegebenen Personen-, Handlungs- und Konfliktkonstellationen beruht, also um Repräsentanten des (in der vorliegenden Untersuchung weitgehend ausgeklammerten75) Übersetzungs74

Vgl. Friedrich Beissner: Hölderlins Ubersetzungen aus dem Griechischen, 2. Aufl. Stuttgart 1961; Wolfgang Schadewaldt: Hölderlins Ubersetzung des Sophokles. In ders.: A n tike und Gegenwart. Über die Tragödie, München 1966, S. 1 1 3 - 1 7 4 , sowie den vorzüglichen philologischen Herausgeberkommentar in Jochen Schmidts Ausgabe im Deutschen Klassiker-Verlag: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, Frankfurt/M. 1994, S. I322ff. (Nach dieser Ausgabe auch unsere Zitate). - Zum poetologischen Ertrag dieser nach-dichtenden Auseinandersetzung vgl. zuletzt Jochen Schmidt: Tragödie und Tragödientheorie. Hölderlins Sophokles-Deutung. In: Hölderlin-Jahrbuch 1994-199 5, S. 64-82.

75

Hierzu vgl. Brigitte Schulze: Theorie der Dramenübersetzung - i960 bis heute: Ein Bericht zur Forschungslage. In: Forum Modernes Theater 2 (1987), S. 5 - 1 7 . Philologische

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genres, dessen literarisch bedeutende Leistungen sich auf dem Gebiet der neuzeitlichen Tragödienrezeption mit Namen wie Friedrich Schiller, Franz Werfel, Paul Claudel, William Butler Yeats, Ezra Pound, Jean-Paul Sartre, Walter Jens oder Peter Handke verbinden - und natürlich, vielleicht zuallererst, eben mit Hölderlins Sophokles-Übertragungen. Oder aber (und dies ist der Typus, der in den hier behandelten Antikentransformationen üblicherweise begegnet) das neue Werk, der Hypertext in Genettes Sinn, übernimmt das mythologische Sujet und Thema einer griechischen Tragödie, des Hypotexts, und überträgt sie, bei mannigfachen Eingriffen in die Fabel und bei einer Vielzahl semantischer Aktualisierungen und Umwertungen, in die eigene dichterische Sprache, die Dramaturgie, das künstlerische und weltanschauliche Idiom des modernen Bearbeiters. Brecht hingegen verfährt anders: Für die ihm angetragene Churer >AntigoneWirtstext< benützt, in den er seine ebenso einschneidenden wie diskreten, weil der sprachlichen Gestalt der Vorlage assimilierten, Veränderungen einschreibt. Entsprechend komplex stellt sich das Verhältnis von Hölderlin- und Brecht-Text dar: Zwar kann die Brecht-Philologie, vor allem seit der verdienstvollen Studie Hans Joachim Bunges/ 8 mit präKommentare zu den jeweils gespielten Textfassungen griechischer Tragödien-Aufführungen auch bei Flashar, Inszenierung der Antike, passim. 76

Ruth Berlau berichtet: »B. hatte verschiedene Ubersetzungen von Sophokles g e p r ü f t - ich sah sogar einen Text in Griechisch, denn Brecht hatte jemanden gefunden, der ein bißchen Griechisch beherrschte - und sich dann für die Hölderlinsche Bearbeitung entschieden. E r hielt die >Antigonä< für mehr als eine sprachliche Übertragung. Schon wegen des schwäbischen Volksgestusder kräftigste und amüsantestem« >ErinnerungenWirtstext< abweichenden, von ihm selbst verfaßten Partien um einen möglichst bruchlosen Anschluß an die Stilhöhe und die ausgeprägten sprachlichen Eigenheiten der Hölderlinschen Fassung bemüht. »Brechts Diktion, sei es mit sei es ohne Hölderlin-Zitat,« bleibe »dem Tonfall der Vorlage nahe«, konstatiert Pohl bündig 81 und begründet die »zunächst befremdende A f finität des Stückeschreibers zur Sprache der gewählten Vorlage« mit der Verwandtschaft zwischen Hölderlins von Pindar übernommenem Prinzip der >harten Fügung< und »Brechts eigensten Sprachkonzeptionen, insofern Unebenheiten, schockartige Zusammenstöße, Risse, Sprünge in den kleinen wie in den großen Bauformen der dramatischen Dichtung Brechts erkanntermaßen bestimmend sind.«82 Gegen die ältere These von DDR-Interpreten wie Paul Rilla 83 oder Peter Witzmann,84 denen zufolge Brecht den unzugänglichen Text Hölder79

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81 82 83

84

Oder, mit den bei Müller (Kommentar zur Berlin-Frankfurter Ausgabe, S. 493) genannten Zahlen: »Von den 1300 Versen der Bearbeitung sind etwa 400 wörtlich oder fast wörtlich von Hölderlin übernommen, obwohl Brecht die Fabelführung und den Dialogaufbau erheblich verändert hat. Sein Text ist um etwa 100 Verse kürzer als der Hölderlinsche.« Rainer Pohl: Strukturelemente und Entwicklung von Pathosformen in der Dramensprache Bertold [!] Brechts, Bonn 1969, S. 165. Ebd. Ebd., S.164. »Für die Bühne bearbeitet: das bleibt eine viel zu schwache Bezeichnung, sie trifft nicht die geniale Wortmacht einer Um- und Neudichtung, die von Hölderlin kaum eine Verszeile unverändert übernimmt, aber mit vielen Brechtschen Zusätzen, die zugleich Verkürzungen sind, den dramatischen Bewegungsvorgang zu einer lapidaren Sinnfälligkeit zusammenzieht.« Diese von einem ideologischen parti pris geprägte Lesart kulminiert in der Behauptung: »Daß Brecht von der dunklen und üppig-spröden Hölderlinschen Übertragung ausgeht, die sich an einem sprachlichen Unmaß und Ubermaß nicht ersättigen kann, beweist nur, daß er den größten Widerstand aufgesucht hat, um im Neuen und Anderen Größe zu bewähren. Hölderlins Übertragung ist kein Philologenwerk, ihre rhythmische Gewalt bleibt ein Grenzfall der Sprache. In Wahrheit lebt, was an ihr lebendig ist, in der lapidaren Vereinfachung und Versinnlichung der Brechtschen Antigone fort.« Paul Rilla, Bühnenstück und Bühnenmodell (1950), H. 234. Nach Witzmann, Antike Traditionen im Werk Bertolt Brechts, »überschätzt Rilla die poetische Kraft des Brechtschen Antigonetextes. Brecht hat nicht immer die starken und eigenwilligen Prägungen übernommen« (S. 8 8 f.); Brechts Text wirke daher gegenüber Hölderlins Fassung oft »glatter und künstlicher« (S. 89). Aber auch für Witzmann, der einräumt, Brecht habe sich »bemüht, möglichst viel vom Hölderlinschen Text stehenzu504

lins planmäßig vereinfacht und transparent gemacht hätte (eine Auffassung, die, besonders bei Rilla, offenbar aus Verwunderung geboren ist über die Verwendung ausgerechnet der kryptischen Version Hölderlins durch einen marxistischen Rationalisten wie Brecht), haben detaillierte Stiluntersuchungen wie die Arbeiten von Pohl und Weisstein8s plausibel nachgewiesen, daß Brechts eigene Antigone-Passagen durchaus der Absicht verpflichtet sind, den dunklen Sprachgestus und das genus sublime seines poetischen Ausgangsmaterials zu imitieren und eine Art stilistischer Mimikry an das esoterische Pathos Hölderlins zu betreiben.86 Brecht bleibe »auch im säkularisierten Text der Sprache Hölderlins so sehr verhaftet, daß die Aura des Mythischen sich in Form von gelegentlich schwer verständlicher Sprache wieder einstellt«,87 lautet Pohls durch eingehende Stilanalysen belegtes Fazit, und Barner bekräftigt, bei der »von Brecht gewählten Sprachform« dränge sich »wiederholt der Eindruck auf, daß Brecht mit der partienweise noch hervorgetriebenen >Härte< der Fügung, mit Manierismen, ja mit Verrätselung an die Grenze seiner eigenen theatralischen Sprachmächtigkeit gelangt ist.«88 Verdeutlichen wir uns das Gesagte an einem einzigen Beispiel, ohne dabei zu sehr ins stilkritische Detail zu gehen, und wählen wir dafür eine chorlyrische Passage der Brechtschen Fassung, hatte doch der Bearbeiter im Dezember 1947 an den Sohn Stefan geschrieben, dieser könne »den Versuch am besten beurteilen, wenn Du nachsiehst, was mit den Chören gemacht ist«.89 Das wohl berühmteste Standlied der griechischen Tragödie, das Stasimon über die Ungeheuerlichkeit und Ambivalenz des Menschen (πολλά τα δεινά), ist in Brechts >Antigonemodell< »als Wandelchor

85

lassen, vor allem berühmte Stellen und schöne Sentenzen«, gilt zuletzt, »daß Brecht bestrebt war, den Hölderlintext, den er als zu dunkel empfand, aufzuhellen und zu verdeutlichen.« (S.90). Ulrich Weisstein: Imitation, Stylization, and Adaptation. The Language of Brecht's >Antigone< and its Relation to Hölderlin's Version of Sophocles. In: The German Quarterly 46 (1973), S. 581-604. Weisstein stellt seine detaillierten Sprachanalysen unter die Brechtschen Kategorien der >Aufrauhung< und >Entgipsung< und macht einsichtig, daß die Attraktivität der Hölderlinschen Ubersetzung für Brecht gerade in ihrer hart-antiklassizistischen >Radikalität< bestand.

86

Ganz abwegig William R. Elwood: Hasenclever and Brecht: A Critical Comparison of T w o Antigones, in: Educational Theatre Journal 24 (1972), H . 1, S. 48-68, mit der aus einem Vergleich der >AntigoneDurchrationalisierung< des Mythos?, S. 193. A n Stefan Brecht; Briefe, S. 531.

88 89

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gemacht. Innerhalb eines flachen Vierecks auf der hinteren H ä l f t e des Spielfelds gehen die A l t e n meditierend, nur stehenbleibend, w e n n sie die Verse sprechen.« 9 0 In seinem vollständigen Wortlaut liest sich das Stasim o n bei Brecht so: DIE ALTEN: Ungeheuer ist viel. Doch nichts Ungeheurer als der Mensch. Denn der, über die Nacht Des Meers, wenn gegen den Winter wehet Der Südwind, fähret er aus In geflügelten sausenden Häusern. Und der Himmlischen erhabene Erde Die unverderbliche, unermüdete Reibet er auf mit dem strebenden Pfluge Von Jahr zu Jahr Umtreibend das Gäulegeschlecht. Leichtgeschaffener Vogel Art Bestrickt er und jagt sie. Und wilder Tiere Volk. Und des Pontos salzbelebte Natur Mit listig geschlungenen Seilen Der kundige Mann. Und fängt mit Künsten das Wild Das auf Bergen übernachtet und schweift. Und dem rauhmähnigen Rosse wirft er um Den Nacken das Joch und dem Berge Bewandelnden, unbezähmten Stier. Und die Red und den luftigen Flug Des Gedankens und staatordnende Satzungen Hat er erlernet und übelwehender Hügel feuchte Lüfte und Des Regens Geschosse zu fliehen. Allbewandert Unbewandert. Zu nichts kommt er. Uberall weiß er Rat Ratlos trifft ihn nichts. Dies alles ist grenzenlos ihm, ist Aber ein Maß gesetzt. Der nämlich keinen findet, zum eigenen Feind wirft er sich auf. Wie dem Stier Beugt er dem Mitmensch den Nacken, aber der Mitmensch Reißt das Gekröse ihm aus. Tritt er hervor Hart auf seinesgleichen tritt er. Nicht den Magen Kann er sich füllen allein, aber die Mauer Setzt er ums Eigene, und die Mauer 90

>Antigonemodell 1948s Szenenkommentar, H 87. 506

Niedergerissen muß sie sein! Das Dach Geöffnet dem Regen! Menschliches Achtet er gar für nichts. So, ungeheuer Wird er sich selbst. Wie Götterversuchung aber stehet es vor mir Daß ich sie weiß und sagen doch soll Das Kind sei's nicht, Antigone. Unglückliche, du, des unglücklichen Vaters, des Odipus Kind, was führt Uber dir und wohin, als Ungehorsame dich Der staatlichen Satzung?

In dieser erkennbar um Geschlossenheit und stilistische Homogenität bemühten Partie (Vs. 268-317 bei Brecht, Vs. 349-399 bei Hölderlin, Vs. 3323 8 3 bei Sophokles) stammen die rahmenden Teile, Eingang und Schluß, bis auf geringfügige Änderungen aus Hölderlins Sophokles-Übertragung, während ein 15 Verse umfassendes Mittelstück - es beginnt mit der Zeile »Uberall weiß er Rat« (Vs. 296) und endet, vor der eingerückten Passage, mit dem Satz »So, ungeheuer/ Wird er sich selbst« (Vs. 309^) - ganz Brechts authentische Zutat ist; dieser Einschub ersetzt eine sophokleischhölderlinsche Textpartie von exakt identischer Länge. Brechts Eingriffe in den Wortlaut der von Hölderlin übernommenen Eingangspassage haben dabei kaum den Stellenwert grundlegend-sinnverändernder Revisionen und lassen auch den sprachlich-stilistischen Duktus der Vorlage weitgehend unangetastet (statt Brechts rustikalerem »Umtreibend das Gäulegeschlecht« heißt es bei Hölderlin »Treibt sein Verkehr er, mit dem Rossegeschlecht'«, statt »Leichtgeschaffener Vogel Art« spricht die Vorlage von »leichtträumender Vögel Welt«, bei Hölderlin wird nicht »Mit listig geschlungenen Seilen« gejagt, sondern, dem Original näher, »Mit gesponnenen Netzen« usw.); lediglich in Brechts, dem sophokleischen Text durchaus gemäßer, Wendung von den »staatordnende[n] Satzungen« (Vs. 291) statt Hölderlins Wort vom »städtebeherrschenden Stolz« (Vs. 372) - bei Sophokles ist von den άστννόμονς οργάς, vom »städteordnenden Sinn« (Schadewaldt), die Rede - mag man eine gewisse soziologische Verdeutlichungs-und Verallgemeinerungsabsicht des Bearbeiters spüren. Die von Brecht neu eingeschaltete Partie (Vs. 296-310) bringt demgegenüber einen völlig selbständigen Gedanken ohne Vorbild bei Sophokles/Hölderlin, aber mit zentralem Bezug auf Brechts eigene politische >Durchrationalisierung< des Stoffes: An der Stelle, an der der eliminierte Abschnitt des Prätextes den Tod als die unüberwindliche Grenze menschlicher Weltbemächtigung einführt, um von da an überhaupt die Ambivalenz der menschlichen Gattung zu betonen, deren unerschöpflicher >technischer< 507

Erfindungsreichtum (σοφόν τι το μαχανόεν τέχνας νπερ έλπίδ' έχων)9' »bald zum Schlechten, bald zum Guten« (τοτε μεν κακόν, αλλοτ èli έσύλόν έρπει) 92 ausschlage ... - an dieser Stelle, die in die sophokleische Dialektik von νψίπολις und σ.πολις9ί mündet, repliziert Brecht mit dem Motiv einer andersartigen Beschränktheit - »ist/ Aber ein Maß gesetzt« - , nämlich mit drastischen, der Sphäre animalischer Uberlebenskämpfe entnommenen Bildern zwischenmenschlicher Gewalt, sozialen Konkurrenzkampfs und isolierenden Besitzstrebens. Das »Ungeheure«, das der Gattung auch in diesen Metaphern von Herrschaft und Unterwerfung zugesprochen wird, ist nicht die Folge unaufhebbarer Existentialien wie der biologischen Begrenztheit der menschlichen Lebensspanne oder der prinzipiellen Zwiespältigkeit humaner τέχνη wie im antiken Text, sondern es ist die Konsequenz destruktiver, zugleich aber veränderbarer gesellschaftlicher Verhältnisse. Natürlich ist damit die neue, marxistische >Logik< umschrieben, die Brecht seiner Version des >Antigonerationale< Lesart des Mythos im sprachlichen Gewand der sophokleisch-hölderlinschen Vorlage einher, entspricht der thematischen Revision gerade keine Distanzierung vom sublimen und oftmals dunklen genus dicendi des bearbeiteten Modells.94 Mutatis mutandis wäre dieser Befund aus vielen weiteren Beobachtungen zu erhärten: aus den in einer Art von Pindar-Parodie gestalteten, durchaus komplizierten und von Brecht allem Anschein nach frei erfundenen pseudo-mythologischen Chorstrophen über die (in der Antike nicht belegten) »Lachmyschen Brüder«, 95 aus den vielen zur Steigerung der intertextuellen Komplexität eingebauten Zitaten oder Zitat-Verballhornungen nach arabischen Liedern aus Goethes >Noten und Abhandlungen zum >West-Östlichen Divan< oder nach Hölderlins Übertragungen Pindarischer Oden' 6 mit ihrer oft dunklen Metaphorik und Gnomik (»Am lügenlosen Amboß stähle die Zunge«, Vs. 624), aus den vielen stehengelassenen Wortballun-

91

Sophokles, >Antigoneantiaristotelische< Dramaturgie als diametralen Antitypus entgegengesetzt hatte."8 So wie Brechts theoretische Entwürfe zu einer »nichtaristotelischen Dramatik« das aristotelische Prinzip der Katharsis, verstanden als »Reinigung [...] auf Grund eines eigentümlichen psychischen Aktes, der Einfühlung des Zuschauers in die handelnden Personen, die von den Schauspielern nachgeahmt wurden«,119 verwarfen und an »den Stücken der Alten und den zeitgenössischen, die ihnen folgen«, kritisierten, dort werde in einer »Art Massage träger Seelen, die im Alltag nicht genug Bewegung haben, [...] einiges Vorgefallenes zusammengemixt in einer Mischung, die tragische Schauer erzeugt oder andere Emotionen«,120 so hält auch die Vorrede zum >Antigonemodell< als unüberbrückbaren Gegensatz fest: Was d e n D a r s t e l l u n g s s t i l b e t r i f f t , sind w i r mit d e m A r i s t o t e l e s eins in der M e i n u n g , daß das H e r z s t ü c k der T r a g ö d i e die F a b e l ist, w e n n w i r a u c h uneins sind, z u w e l c h e m Z w e c k sie v o r g e t r a g e n w e r d e n soll. D i e F a b e l soll nicht ein b l o ß e r A u s g a n g s p u n k t f ü r a l l e r h a n d A u s f l ü g e in die S e e l e n k u n d e o d e r a n d e r s w o h i n sein, s o n d e r n sie soll alles enthalten, u n d alles soll f ü r sie getan w e r d e n , so daß, w e n n sie erzählt ist, alles g e s c h e h e n i s t . 1 2 1

Das sarkastische Verdikt gegen »allerhand Ausflüge in die Seelenkunde« zielt dabei offenkundig auf das emotionale Pathos der >Antigoneprivaten< Konflikt und dem seelischen Leid der Protagonisten den großen politischen K o n flikt aufzudecken. D i e s e m Kalkül entsprechend werden die weichen, lyrisch-klagenden Passagen in Antigones Todesgang bei Brecht ebenso zurückgeschnitten wie die Liebe H ä m o n s und Antigones; ganz ausgespart ist die s t u m m e Tragödie von K r e o n s Gattin Eurydike, die sich am E n d e des antiken D r a m a s aus Schmerz über die Geschehnisse in ihrem H a u s e und den Tod des Sohnes das Leben nimmt, bei Brecht jedoch, der auf den kollektiven Untergang Thebens hinauswill, weder auftritt noch überhaupt erwähnt wird. U n d schließlich sind, zugunsten der Lesart v o m notwendigen Scheitern des politischen Despoten, auch aus dem Untergang K r e o n s sorgfältig jene familiären Motive beseitigt, die bei Sophokles gerade die besondere tragische Ironie der Figur ausgemacht hatten: D a ß der Tyrann, der gegenüber Polyneikes und Antigone die Bedeutung familiärer Blutsbande im Verhältnis zu den G e b o t e n des Staates geringgeschätzt und sich allen Mahnungen unzugänglich gezeigt hatte, am E n d e gerade durch den Verlust seiner eigenen Familie erschüttert und vernichtet wurde - die R e d u k t i o n des Mächtigen auf τον ουκ οντα μάλλον

ή μηδένα1ίί

gibt

Hölderlin mit den Versen wieder: » I o ! ihr Diener!/ Führt eilig mich hinweg! führt, Schritt vor Schritt,/ Mich, der nun nichts mehr anders ist als niemand« 1 2 4 - , daß also K r e o n die Macht eben jenes νόμος, den er zuvor geleugnet hatte, an sich selbst zu spüren bekam, war die tragische Wendung, die das Pathos des sophokleischen K ö n i g s ausmachte und auch dieser Figur ihren Anteil des Leids und ihre tragische Dignität sicherte. 125 In Brechts Tragödie des hybriden Diktators dagegen sind diese >privatenAntigoneAntigoneAntigonäAntigoneantiaristotelischen< Dramaturgie gleichsam prädestinieren. Ausdrücklich heben die Kommentare zur Bearbeitung »den [...] Umstand« hervor, daß »das alte Stück durch seine historische Entrücktheit nicht zu einer Identifizierung mit der Hauptgestalt« einlade und überdies durch »seine formalen Elemente epischer Art [...] für sich selbst Interessantes für unser Theater« 128 biete. Hier sind Anknüpfungspunkte bezeichnet, die den antiken Text, seine Dramaturgie und seine theatralische Praxis nicht in die Rolle des (zu überwindenden) Antagonisten bringen, sondern ihm - ähnlich wie bei anderen Gelegenheiten manchen Konfigurationen des fernöstlichen oder des elisabethanischen Theaters - die Position eines ästhetischen Vorläufers und des Verbündeten einer modernen Dramatik der Distanzierung, der Nicht-Einfühlung und der reflektierenden Diskontinuität zuschreiben. 12 ' Wir haben die sehr anerkennenden Formulierungen oben bereits zitiert, in denen Brecht der »hellenischen Dramaturgie« attestiert, sie versuche, »durch gewisse Verfremdungen, besonders durch die Einschnitte für die Chöre«, jene »Freiheit der Kalkulation« zu gewährleisten, die nach der Auffassung der Weimarer Klassik im Grunde allein das Prärogativ des Epikers darstelle, während sie im linear-teleologisch nach vorn drängenden Drama kaum zu erreichen sei. 1 ' 0 Läßt man das Fehlurteil über die Schillersche Dramentheorie, das mit dieser Charakterisierung einhergeht, einmal beiseite, so signalisiert die Äußerung mit Stichworten wie >Verfremdung< und >Einschnittaristotelischen< Emotionalismus genügend viele strukturelle oder tektonische Tendenzen am Werk sieht, die entweder von vornherein mit den künstlerischen Intentionen des epischen Theaters übereinstimmen oder doch zumindest für die Bearbeitung im Sinne einer epischdistanzierenden Dramaturgie günstige Voraussetzungen darstellen. Ohne immer klar unterscheiden zu können, an welchen Stellen Brecht durch seine bearbeitenden Eingriffe eine bereits in der >hellenischen Dramaturgie< !26 127 128 129

130

>Antigonemodell 1948s H 163. Rosier, Zweimal >AntigoneAntigonemodell 1948s Vorwort, H 49. Dazu Flashar, Aristoteles und Brecht; Seeck, Aristotelische Poetik und Brechtsche Theatertheorie; Eckhardt, Das epische Theater; Jens, Sophokles und Brecht; passim. Vgl. >Antigonemodell 1948s Vorwort, H 49. 518

angelegte Formtendenz nur zu rekonstruieren und für ein zeitgenössisches Publikum schärfer herauszupräparieren beansprucht und wo er andererseits den (für solche Experimente zugänglichen) antiken Prätext mit eigenen, genuin modernen dramaturgischen Mitteln noch weiter zu öffnen und aufzubrechen unternimmt, wird man in jedem Fall konstatieren dürfen, daß das ganze >Antigonemodell i948< den großangelegten Versuch darstellt, die innere Affinität von >hellenischer< und >epischer< Dramaturgie zu erweisen und sie an einem der bedeutendsten Werke des antiken Tragödienkanons zu veranschaulichen. Immer gehen dabei literarische, dramaturgische und szenische Lösungen Hand in Hand, bilden episierter Text, epische Spielweise und offener, anti-illusionistischer Bühnenraum die drei ineinandergreifenden Komponenten eines geschlossenen Gesamtentwurfs. Das sichtbarste, durchgängigste Merkmal der konsequenten Episierung einer nach Brechts Auffassung selbst bereits >proto-epischen< dramatischen Partitur ist die systematische Ausdehnung der Berichts- und Kommentardimension des Textes. Hier nutzt der Bearbeiter einerseits die entsprechenden Redeformen und Erörterungsinstanzen schon der griechischen Tragödie, nämlich vor allem den Chor' 31 und die zahlreichen Botenberichte, fügt diesen jedoch noch weitere episch-distanzierende Momente hinzu, so daß tendenziell alle Figuren des Dramas zu Erzählern und gleichsam zu Berichterstattern ihrer selbst werden. Am Chor kommt Brecht natürlich dessen antike »Doppelfunktion« als »Kommentator und Mitspieler« gelegen, die die (illusionszerstörende) Vorstellung begünstige, »daß der Chor sich einfach ausleiht zur Darstellung der Thebanischen Großen in der Handlung«; 132 zugleich schafft, ganz im Sinne einer epischen Dramaturgie der Unterbrechung des Geschehensflusses, jeder Chorauftritt Zäsuren und Reflexionsräume, die zu einer relativen Isolierung der Episoden beitragen und damit die Konzentration auf den argumentativen Agon und den »gestischen Gehalt« jeder Einzelszene gegenüber der rein auf den Ausgang gerichteten dramatischen Finalspannung erhöhen. Musterbeispiele solcher Isolation sind die (durch den antiken 131

132

Aus der intensiven altphilologischen Diskussion zum sophokleischen Chorgebrauch vgl. nur Gerhard Müller: Überlegungen zum Chor der >AntigoneAntigoneAntigoneUnd Ismene, die Schwester, betraf sie beim Sammeln des Staubes.< Vor Vers ι sagte die Darstellerin der Antigone: >Bitter beklagte Antigone da der Brüder Verhängnis.« Und so fort. Die so eingeleitete Rede oder Verrichtung bekommt dann den Charakter der näheren Ausführung, und die restlose Verwandlung des Schauspielers in die Figur wird verhindert: der Schauspieler zeigt. 144

Allerdings setzt Brecht - im Gegensatz etwa zur Imitation seines Bearbeitungsmodells in den epigonal-vergröbernden Antikentransformationen Mattias Brauns, wo, in episch orchestrierten Stücken wie >Die Troerinnen< (1957) und >Medea< (1958), Brückenverse zu einem allgegenwärtigen, den stilistischen Gesamtduktus des Textes prägenden Ausdrucksmittel werden, so daß die Dramen geradezu den Charakter von Hörspielen annehmen -

140 141 142 143 144

und große Furcht, fällt dann in die Knie und schlägt schnell auf den B o d e n hin.« >Antigonemodell 1948', Szenenkommentar, H 157. Brecht, >AntigoneAntigonemodell 1948s Szenenkommentar, H 1 6 1 . Ebd., Szenenkommentar, H 1 2 1 . Ebd., Szenenkommentar, H 157. Ebd., Szenenkommentar, H 53.

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diese distanziert-erzählenden Einschübe noch primär als Probenwerkzeug, nämlich als pädagogisches Hilfsmittel zur Schauspieler-Einstellung, ein und läßt sie im gespielten Text nur an wenigen, dann immer dem Chor anvertrauten Stellen14' stehen. Typisch für das Verfahren ist es, wie im Finale die Alten den (als gleichzeitige Bühnenaktion sichtbaren) Abgang des ruinierten Diktators Kreon mit einem verdoppelnd-verfremdenden Kommentar aus Brückenversen begleiten, eine im epischen Präteritum gehaltene Wahrnehmungslenkung, die eine distanzierte Außensicht auf den Geschlagenen begünstigen und der Einfühlung der Zuschauer entgegenwirken soll: Und wandte sich um und ging, in Händen nicht mehr als ein blutbefleckt Tuch von des Labdakus ganzem Haus In die stürzende Stadt hin.146 Hans Curjel hat den durch epische Rahmungen wie die Brückenverse beabsichtigten und in der Churer Aufführung auch erfolgreich erzielten Stilisierungs- und Distanzierungseffekt als » Ausrufertum auf hoher künstlerischer Ebene« 147 beschrieben, und viele eigene Äußerungen Brechts über den geforderten Sprechgestus und die Erzähl- und Demonstrationshaltung der Schauspieler weisen in dieselbe Richtung: Der Versrhythmus orientiere sich an der »Verwendung der Synkope im Jazz, wodurch etwas Widersprüchliches in den Versfluß kommt«;' 48 es werde »die Unsitte vermieden, nach der die Schauspieler sich vor größeren Verseinheiten sozusagen mit einer das Ganze ungefähr deckenden Emotion vollpumpen. Es soll keine >Leidenschaftlichkeit< bevor oder hinter Sprechen und Agitieren sein«;149 vielmehr müßten die »Darsteller [...] etwas von der Mühelosigkeit zeigen, welche gute Akrobaten durch harte Arbeit erwerben«; 1 ' 0 Helene Weigel als die epische Schauspielerin par excellence habe die deiktischen Intentionen des Versuchs mustergültig verwirklicht, indem sie »den Todesgang der Antigone« gleichsam zitierend gespielt habe, »als sei er etwas Berühmtes, sowohl als historischer Vorgang als auch als eine Bühnengestaltung, ja, sie spielte beinahe, als sei ihr eigenes Spiel in dieser

145

146 147 148 149

Vgl. Brecht, >AntigoneAntigone-LegendeAntigoneAntigonemodell 1948«, Szenenkommentar, H 129. Ebd. Ebd., H 133.

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Szene berühmt.«''' Schließlich faßt eine Kommentaranweisung zum Vorspiel, in dem dramatischer Dialog und szenisches Spiel der beiden Berliner Schwestern regelmäßig mit episch-berichtenden, mehrfach auch direkt ad spectatores gesprochenen Partien alternieren, Brechts Idealvorstellung in besonders bündiger Formulierung zusammen: Die Erzählung muß einfach und im Gedichtton vorgetragen werden, nicht als ob die Erzählerin unter dem Eindruck des Vorgefallenen stehe, sondern als ob sie aufgefordert worden sei, das Vorgefallene vielen und oft zu berichten. Die Erzählerin achte besonders darauf, daß ihr Bericht nicht von den vorgespielten Partien her emotionell geladen wird. Das Spiel selbst muß deutlich den Charakter des Zeigens haben. 1 ' 2

Den Prinzipien dieser episch-gestischen Schreib- und Spielweise, die nicht auf Einfühlung, Illusion und emotionale Katharsis zielt, sondern auf das kritisch-kommentierende Erzählen, »Zeigen« und Begreifen paradigmatischer Vorgänge,1'3 entsprechen in der durch Ruth Berlaus Photographien dokumentierten Churer Modellinszenierung ein gleichmäßig ausgeleuchteter, nicht-illusionistischer Bühnenraum, offen aufgestellte Apparaturen (ein Masken- und Gerätebrett und eine metallene Alarmplatte im Bühnenvordergrund, im Hintergrund ein Schallplatten-Spieler für die Wiedergabe der mit simpelsten Mitteln erzeugten elementarrhythmischen Perkussionsklänge des Dionysos-Tanzes), stilisierte, kuttenartige Kostüme aus unaufwendigen Materialien, maskenhaft geschminkte und dadurch stark entindividualisierte Gesichter der Schauspieler, der sparsame Einsatz weniger zeichenhafter Requisiten, die keine naturalistischen Szenerien heraufbeschwören, sondern chiffrenartige Kürzel bedeutsamer Situationen und Haltungen darstellen: ein Staubkrug und ein der Schauspielerin auf den Rücken geschnalltes, entfernt an einen Pranger oder ein christliches Kreuz erinnerndes »Gefangenenbrett« für Antigone, später eine Hirseschale und ein Weinkrug als »Totengeschenke, mit denen sie abgespeist werden soll«; 1 ' 4 ein Stuhlsessel und ein doppelschneidiges Krummschwert für den Gewaltherrscher Kreon, ein dreibeiniger Hocker für Teiresias, Lorbeerkränze zur Feier des vermeintlichen Sieges für die Alten, »Bacchusstabmasken« für Kreon und den Chor beim dionysischen Siegesreigen. Die eigentliche, völlig leere Spielfläche wird von vier Pfählen mit (vage an Archaisches, Barbarisches, Kultisches gemahnenden) Pferde-

1,2

154

Ebd. >Antigonemodell 1948«, Kommentar zum >VorspielAntigonemodell 1948s Szenenkommentar, H 1 3 1 .

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schädel-Skeletten begrenzt; 1 " im Halbrund um dieses Feld stehen vor blutrot gestrichenen Schirmwänden Bänke, auf denen die Schauspieler sichtbar ihren Auftritt erwarten. 1 ' 6 Der Kommentar erläutert: Die Schauspieler sitzen [...] offen auf der Bühne und nehmen erst beim Betreten des (sehr hell erleuchteten) Spielfelds die ausgemachten Haltungen der Figuren an, damit das Publikum sich nicht auf den Schauplatz der Handlung versetzt glauben kann, sondern der Ablieferung eines antiken Gedichts, wie immer es restauriert sein mag, beizuwohnen eingeladen wird. 1 ' 7

Auch die Schauspieler sind, wenn sie nicht gerade ihre Rolle vorführen, Zuschauer (oder gleichsam Darsteller von Zuschauern, Demonstranten einer Zuseh-Haltung), ja sie bleiben, da sie sich ja nicht restlos in die Figur >verwandelnDurchrationalisierung< und der Versuch, »zu der zugrunde liegenden Volkslegende vorzustoßen« 5.1 »Durchrationalisierung« - ein Bearbeitungsprinzip zwischen Konstrukt und Rekonstruktion Der formalen und dramaturgischen Bearbeitung der sophokleischen Tragödie im Sinne ihrer konsequenten Episierung (bzw. der Akzentuierung 15 5

Gegen dieses optisch dominierende Inszenierungsdetail wie auch gegen Brechts Rede von der »barbarischen pferdeschädelstätte« und das in beidem implizierte geschichtsphilosophische Fortschrittsmodell meldet Rosier (Zweimal >Antigone*, S. 50) berechtigte Vorbehalte an: »Skelette von Pferdeschädeln suggerieren präzivilisatorische Wildheit, primitives Jägertum, urzeitliches Ritual. Projiziert auf die Rahmenbedingungen griechischer Tragödien, wirken Assoziationen wie diese merkwürdig unangemessen, ja leer. Gewiß, ein Gefühl von Distanz ist der prägende Eindruck, den eine Vergegenwärtigung dieser Bedingungen hervorruft - jedoch von Distanz gegenüber einem gleichwohl hochdifferenzierten, komplizierten System von Kultur, Politik und Gesellschaft (eine Feststellung, die keine Apologetik, geschweige denn Idealisierung bedeutet). Zu ihm will jene Symbolik, will das Attribut >barbarischAntikeAntigone< stammt, sehr adäquat war.« (Brechts Antigone-Inszenierung in Chur 1948, H 189).

157

>Antigonemodell 1948«, Vorwort, H 5 i f . (»Die Nehersche Antigonebühne«).

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der in der »hellenischen Dramaturgie« bereits angelegten epischen Formelemente) entspricht auf inhaltlich-thematischem Gebiet jene Operation, die Brecht als »Durchrationalisierung« bezeichnet. Von Genettes Kategorientafel intertextueller Schreibweisen her betrachtet, stellt dieses Verfahren eine Spielart der Transmotivation dar, nämlich eine Kombination von Motiv-Streichungen und Motiv-Hinzufügungen nach der Formel »démotivation + remotivation = transmotivation«.1 s 8 Diese gedoppelte Bewegung aus eliminierenden und erweiternden Eingriffen in vorgegebene Tragödienkonstellationen dürfte, mutatis mutandis, bei den meisten in unserer Untersuchung versammelten Dramen der >mythischen Methode< nachzuweisen sein; sie besitzt jedoch in Brechts >Antigonemodell< eine besondere Virulenz, weil hier die Veränderungsoperationen unmittelbar in den (von fremder Hand bereits dichterisch übersetzten) Originaltext selbst hineingeschrieben sind, direkt am Sprachkörper der sophokleischhölderlinschen Tragödie ansetzen. Die besondere Binnenspannung von Brechts Bearbeitung besteht ja nicht zuletzt darin, daß sie ihrem feierlichpathetischen Sprachgestus nach auf den ersten Blick wie eine bloße Bühneneinrichtung der hölderlinschen Fassung anmutet und erst bei genauerem Zusehen und sorgfältigem komparatistischem Vergleich ihre beträchtliche semantische Differenz zum Original preisgibt. Zugleich ist das als »Durchrationalisierung« bezeichnete Verfahren mit dem (im weitesten Sinne: geschichtsphilosophischen) Anspruch verbunden, das antike Werk »an den Vorstellungsbereich der Gegenwart«'59 anzunähern und dabei den unterstellten »progressiven Gehalt des alten Stückes herauszuarbeiten«.160 Witzmann, von dem diese Formulierungen stammen und der aus der Perspektive des marxistischen Interpreten mit der Säkularisierungs- und Aufklärungstendenz der Brechtschen >Antigone< vorbehaltlos sympathisiert, definiert kurz und bündig: »Man kann auch sagen: Durchrationalisierung heißt materielle, soziale, politische Motive setzen statt der antiken mythologischen Verhüllung der Moti,s

® »La substitution de motif, ou transmotivation, est l'un des procédés majeurs de la transformation sémantique. Comme d'autres pratiques déjà rencontrées, elle peut prendre trois aspects dont le troisième n'est que l'addition des deux autres. Le premier est positif, il consiste à introduire un motif là où l'hypotexte n'en comportait, ou du moins n'en indiquait aucun: c'est la motivation simple [...]. Le second aspect est purement négatif, il consiste à supprimer ou élider une motivation d'origine: c'est la démotivation [...]. Le troisième procède par substitution complète, c'est-à-dire par un double mouvement de motivation et de (re)motivation (par une motivation nouvelle): démotivation + remotivation = transmotivation. C'est ce que faisait Wilde dans sa >SaloméWissensUr-Antigone< begegnet sind - , die durchrationalisierende Freilegung eines »progressiven Gehalts« könne sich auf eine vorsophokleische Ursprungsschicht des antiken Textes selbst, gleichsam auf dessen noch nicht ideologisch überform" él Ebd., S. 84. 162 »Zur Inszenierung der >AntigoneAntigoneDurchrationalisierung< des Mythos?, S. 194. 166 Pointiert und triftig die Kritik bei Flashar, Inszenierung der Antike, S. 190, der Brechts »ganz unzutreffende Einschätzung des Phänomens Mythos« rügt: »Denn der Kern der Fabel, die Tat der Antigone als offensichtliche Erfindung des Sophokles, ist ja keine Angelegenheit unbegreiflich wirkender Schicksalsmächte, sondern vollzieht sich in der klaren Rationalität der Polis des perikleischen Zeitalters. Erst recht kann man durch die Beseitigung von Götternamen und »ideologischem Nebel< nicht zum alten Kern des Mythos gelangen, der ja durch eine sehr viel stärkere Bindung des Geschehens an göttliche Mächte gekennzeichnet ist als die Tragödie des Sophokles. Der Prozeß läuft also gerade umgekehrt. Erst bei Sophokles wird aus dem mythischen Stoff ein politisches Stück mit einer Polisidee und einer Konfliktsituation im menschlichen Miteinander.« Annähernd formulierungsgleich auch Flashar, Durchrationalisieren oder Provozieren?, S.409.

527

5-2 »Die höchst realistische Volkslegende«167: Brechts marxistische Revision der Antigone->Fabel< und die »Aufdeckung der gesellschaftlichen Kausalität«li8 Brechts Erklärung gemäß, er sei »mit dem Aristoteles eins in der Meinung, daß das Herzstück der Tragödie die Fabel ist«'6' - >Fabel< entspricht dabei dem μϋ-ΰος-Begriff der aristotelischen Poetik, und beide Termini sind synonym und austauschbar170 - , besteht die »Durchrationalisierung« eines Vorlagentextes notwendig zuallererst in der Veränderung bzw. im neuen Arrangement und der abweichenden Motivierung seiner tradierten Mythos-Konstellationen. Beim Versuch, die für Brechts >Antigonemodell< zentralen semantischen Strategien zu erschließen, muß daher auch die Interpretation zunächst in immanenter Analyse die wichtigsten an der Tragödie des Sophokles vorgenommenen Eingriffe in Handlungsführung und Motivation nachzeichnen; erst dann kann sie nach übergreifenden Intentionen fragen und sich an einer Gesamtbewertung versuchen. Damit ist die Gedankenführung unseres letzten Untersuchungsabschnitts vorgegeben. Auf der Ebene der Fabelanlage äußert sich das Prinzip der Durchrationalisierung zuallererst und als Voraussetzung aller weiteren >Transmotivationen< in der Einführung einer grundlegend geänderten politischen Rahmenkonstellation: In Brechts auf »realistische« Begründung und die Einführung >stichhaltiger< materieller Motive bedachter Fassung der Tragödie führt Theben unter Kreons Führung einen Angriffs- und Raubkrieg gegen Argos, einen Krieg vor allem um die reichen argivischen GrauerzVorkommen. Im Gegensatz zur sophokleischen Tragödie, die am Morgen nach dem Sieg Thebens gegen die mit Polyneikes verbündeten argivischen Angreifer eingesetzt hatte, ist der Krieg in Brechts Version bei Handlungsbeginn noch nicht beendet, befindet sich vielmehr (was der Feldherr Kreon zunächst zu verdecken sucht) in einer äußerst kritischen Phase: Im 167 168 169

170

Arbeitsjournal, 16. Dezember 1947, S.795. >Antigonemodell 1948s Vorwort, Η 47. Ebd., Η 52. Entsprechende Formulierungen im >Kleinen Organon für das TheaterDurchrationalisierung< des Mythos?, S. 195. 528

Verlauf der Handlung werden sich Kreons triumphale Erfolgsmeldungen, die ihn und den Chor voreilig zum bacchantischen Siegesreigen veranlassen, als Fehleinschätzungen und propagandistische Zwecklügen erweisen, der Krieg wird eine dramatische Wende nehmen, und am Schluß der Tragödie werden die Truppen von Argos in einer unaufhaltsamen Gegenoffensive heranrücken, um Kreons Herrschaft über Theben zu beenden, zugleich aber auch der Stadt selbst, die sich gegen ihren Tyrannen nicht rechtzeitig aufgelehnt hat, den Untergang zu bereiten. Zu dieser Neufassung der politisch-historischen Rahmenkonstellation gehört ferner die (für den geänderten Stellenwert des Widerstandsgeschehens bedeutsame) Voraussetzung, daß die beiden Odipus-Söhne, Eteokles und Polyneikes, hier nicht mehr als feindliche Brüder in gegnerischen Lagern stehen und einander auch nicht gegenseitig töten; vielmehr nehmen, wie Antigone im Prolog gegenüber Ismene gleich eingangs ausspricht, bei Brecht beide Brüder gezwungenermaßen an »des Kreon Krieg um das Grauerz/ Gegen das ferne Argos«' 7 ' teil und finden dabei auf unterschiedliche Weise den Tod: Eteokles fällt im Kampf, der jüngere Polyneikes, verstört durch den Anblick des »Bruder[s] zerstampft unterm Gäulehuf«, 172 reitet »aus unfertiger Schlacht«, 173 wird jedoch von Kreon, »der hinten/ Einpeitscht alle sie in die Schlacht«, aufgegriffen und »zerstückt«. 174 Demagogisch unterstellt Kreon dem Deserteur die Kollaboration mit dem Feind - was im antiken Mythos der »Sieben gegen Theben« eine tatsächliche Gegebenheit ist, wird bei Brecht zur reinen Propagandalüge umgedeutet - und stempelt ihn zum Vaterlandsverräter, zur »Memme Polyneikes [...], Freund des Argosvolks [...]. Wie dieses war er Feind, war's mir und Thebe«.' 7 5 Das mit patriotischer Phraseologie bemäntelte Βestattungsverbot gilt dem »Feigling«, der den Erhalt des eigenen Lebens über die (als die Interessen des nationalen Ganzen ausgegebenen) Kriegsziele eines ehrgeizigen Tyrannen gestellt hat; an Polyneikes wird ein abschreckendes Exempel statuiert: »Denn wenn für größer als die Vaterstadt/ Das Leben jemand hält, der gilt mir ganz nichts«, 176 dekretiert Kreon in einer Rhetorik, deren idealistisches Opferpathos hier von vornherein und stärker als bei Sophokles/ Hölderlin durch die (aus dem Kontext offenkundige) Verschleierung egoistischer Herrschafts- und Gewinninteressen diskreditiert wird.

171 172 173 174 ,7! 176

Brecht, >AntigoneFabel< großes Gewicht - das Angriffsheer vor Argos befehligt und es rücksichtslos nach vorn peitscht, schirmt »des Herrschers Jüngergeborner,/ Hämon, Antigones Freier, der Führer der heimischen Speere«, 183 das riskante militärische Unternehmen an der Heimatfront ab. Daß Kreon allen Grund hat, mit inneren Widerständen zu rechnen und der eigenen Bevölkerung mißtrauisch und wachsam zu begegnen, ist eine direkte Folge seiner unterdrückerischen Politik und ein durch den ganzen Text hindurch in eskalierender Linie verfolgtes Leitmotiv: Nein, mir nehmen Einige einiges übel in der Stadt und murren U n d im Geschirre biegen diese mir Den Nacken so nicht ein,' 84

grollt der Diktator schon früh in der Handlung und begründet damit die Notwendigkeit eines harten Durchgreifens gegen die noch unbekannten Täter, die den Leichnam des Polyneikes trotz seines Verbots mit Staub bedeckt und dadurch symbolisch >bestattet< haben. Die der Tat überführte Antigone baut den Gedanken weiter aus, wenn sie den notwendigen Zusammenhang von äußerem und innerem Terror, von Staatenkrieg und Klassenkampf betont - »Und wo's der Gewalt gegen andere brauchet/ Gegen die Eignen braucht's der Gewalt dann« 1 8 ' - , und besonders in der ,8

° Ebd., Vs. 616. ' Ebd., Vs. 1076. 18:1 V o r ihrem Selbstmord beklagt Kreons Gattin Eurydike, dem Bericht des Boten zufolge, neben dem Tod Hämons auch »das berühmte Los des vorher gestorbenen Megareus,/ dann wiederum das dieses Sohnes, zuletzt dir [Kreon] ein schlimmes/ Vollbringen wünschend, dir, dem Kindesmörder.« Sophokles, >AntigoneAntigone-LegendeAntigone Ebd., Vs. 433f. ,8

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Aussprache Kreons mit Hämon wird das Thema der durch innenpolitische Antagonismen und Klassengegensätze in ihrem Bestand bedrohten Tyrannis übermächtig. Hämon, der »populäre Führer der Stürme«, 186 warnt vor der in Theben grassierenden Mißstimmung - »Wisse, die Stadt ist voll von innerer Unlust« 1 ' 7 - und berichtet von verbreiteten Befürchtungen, nach der Niederwerfung des äußeren Feindes werde sich der Diktator seiner inneren Widersacher annehmen: D a n n auch, daß d u , die Siegesfeier r ü s t e n d V o r h a b s t , mit allen b l u t i g a u f z u r ä u m e n I m H a u s , d i e je d i c h ärgerten, w a r d e r V e r d a c h t M i r h ä u f i g anvertraut. 1 8 8

Kreon jedoch gelten die Mahnungen des Sohnes als Anwandlungen von Defätismus, die ihn in seiner Absicht nur bestärken können, zur öffentlichen Abschreckung nunmehr auch Antigone unerbittlich abzuurteilen: Ich n e n n d a s Schlaffheit. N i c h t , daß, w a s faul, ich a b h a u , ist g e n u g E s m u ß a m M a r k t sein, s o d e m a n d e r n F a u l e n R e c h t unvergeßlich, d a ß ich F a u l e s a b h a u . U n d m e i n e H a n d zeig, daß sie sicher trifft. 1 8 9

Mit weiterer Eskalation des Konflikts, dem Abfall der Alten, drohenden Unruhen im Inneren und einer an der äußeren, argivischen Front immer prekärer werdenden Situation - unter den Truppen kommt es im Anschluß an die Hinrichtung des Polyneikes zu Meutereien, »und die vielen/ Die das im Heer verübelten«, werden »gefaßt/ Und öffentlich gehängt« 1 ' 0 - ist der in die Enge getriebene Kreon schließlich sogar bereit, die vor Argos kämpfenden Angriffstruppen unter Megareus zurückzurufen, um sie gegen die eigene, thebanische Bevölkerung einzusetzen: »Elender, willst du uns dröhn mit den Eigenen? Willst du die Eigenen/ Peitschen auf uns jetzt?«, 1 ' 1 lautet die entsetzte Reaktion der Alten. Im selben Augenblick, in dem Kreon diese Drohung ausstößt, mit deren Verwirklichung die Grenze überschritten würde von einem permanent schwelenden Klassenkampf zum offenen Bürgerkrieg, trifft jedoch der Schlachtbote mit der Nachricht vom Tod des älteren Sohnes ein, und dabei ist nicht einmal sicher, ob der bei seinen Truppen verhaßte Antreiber Megareus, »ihnen 186

>Antigonemodell 1948s Szenenkommentar, H 1 1 5 . Brecht, >AntigoneSystems Kreon< in der Churer Modellinszenierung herauspräpariert wurde, belegt das Urteil des Altphilologen Bruno Snell, der in seiner Aufführungskritik in der Züricher Zeitung >Die Tat< vom 19. Februar 1948 hellsichtig festhielt: »So entwickelt sich die Handlung aus einer Art soziologischem Gesetz: unechte Macht wird zu immer neuen Grausamkeiten getrieben, um sich zu stützen, und reißt schließlich alles mit sich ins Verderben.«197 192

Ebd., Vs. 1 1 3 5 . " 9J Ebd., Vs. i i 3 o f . 194 Ebd., Vs. 1158. I9! Arbeitsjournal, 12. Januar 1948; S.818. 196 Eintrag vom 10. April 1948, ebd., S. 82 5. Die Stelle fährt fort: »dies hieße nicht mehr, als daß unpraktische Unternehmungen unpraktisch sind, und wäre also recht platt, wenn nicht eine ganz besondere art der gewalt, nämlich diejenige, die aus der Unzulänglichkeit stammt, eingesehen werden könnte, also die zurückführung der grausamkeit auf die dummheit. damit ist das moralische in Zusammenhang gebracht mit dem unpraktischen, wodurch es das absolute, starre, im übersinnlichen thronende verliert. - es ist gefährlich, der kunst eine sittliche mission auferlegen zu wollen, es sei denn, man wäre imstande, die für einen gewissen Zeitabschnitt praktischen sitten in ihrer relativität zu sehen - und wer könnte das ?«. 197

Die >AntigoneAntigonemodell 1948s Szenenkommentar, Η 1 0 1 . ' Vgl. ebd., H 163. 2,7 »Antigonemodell 1948«, Vorwort, H 49. 258 Arbeitsjournal, S.818. 2 6

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hung erfolgenden Frontwechsel Antigones von der Parteigängerin oder Nutznießerin der Despotie zu ihrer Opponentin: Aber auch die hat einst Gegessen vom Brot, das in dunklem Fels Gebacken war. In der Unglück bergenden Türme Schatten: saß sie gemach, bis Was von des Labdakus Häusern tödlich ausging Tödlich zurückkam. Die blutige Hand Teilt's den Eigenen aus, und die Nehmen es nicht, sondern reißen's. Hernach erst lag sie Zornig im Freien auch Ins Gute geworfen! Die Kälte weckte sie. Nicht ehe die letzte Geduld verbraucht war und ausgemessen der letzte Frevel, nahm des unsehenden Odipus Kind vom Aug die altersbrüchige Binde Um in den Abgrund zu schauen.2'9 Man kann nicht hoffen, aus den Fluktuationen in Brechts Urteil über Antigone eine eindeutige, die genannten Widersprüche stimmig auflösende Lesart herauszufiltern; Geschlossenheit wäre hier nur um den Preis hermeneutischer Gewaltsamkeit zu erreichen. Angemessener erscheint es demgegenüber, gerade die auffälligen Oszillationen in der Bewertung der Protagonistin als Problemanzeigen zu lesen, als Hinweise auf inhärente Schwierigkeiten in Brechts marxistischer Revision der sophokleischen Tragödie - so aufgefaßt, mag gerade dem Zweideutigen, nicht unmittelbar Plausiblen sein eigener, symptomatischer Erkenntniswert zukommen. In diesem Sinne spricht vieles dafür, daß Brechts unentschieden zwischen »Salut« und Distanzierung schwankende Kommentare über Antigone nur der sichtbarste Ausdruck für Ambivalenzen sind, die der Geschichtskonzeption dieser durchrationalisierten Tragödienvariation im ganzen innewohnen. Aufgrund unserer bisherigen Beobachtungen lassen sich die Hauptschwierigkeiten so zusammenfassen: Zum einen hängt Brechts ersichtliche Mühe, die Rolle und den Stellenwert der Protagonistin in der (noch immer nach ihr benannten) marxistisch revidierten Tragödie zu bestimmen, offenkundig mit dem massiven Ubergewicht der neueingeführten politischen Rahmenhandlung und mit der leitenden Absicht der Neufassung zusammen, das notwendige Scheitern der Kreon-Diktatur aus der Summe ihrer inneren Widersprüche und Widerstände sichtbar zu machen. Brecht, >Antigoneabsurden< Jahrhunderts) komme »nur noch die Komödie bei«.' Nein, die Gegensätze sind vielfältiger und komplizierter, und sowohl die Autoren, die die »Wiedergeburt der Tragödie« für möglich halten und ihre eigenen Retraktationen griechischer Prätexte als moderne Tragödien begreifen, als auch ihre Gegenspieler, die diese Möglichkeit leugnen und als Schreibantrieb verwerfen, tun dies bei näherem Zusehen aufgrund sehr unterschiedlicher Gattungsverständnisse und von ganz heterogenen weltanschaulichen Positionen aus: Pannwitz, Jahnn oder Hauptmann in ihrer (durch Nietzsche vermittelten) dionysisch-ekstatischen Sicht der Tragödie, O'Neill oder Cocteau bei ihrer Suche nach modernen Äquivalenten für den »Greek sense of fate« oder für die teuflischpräzise »Maschinerie« des Tragischen, Sartre mit dem (hegelianisch inspirierten) Entwurf einer das >Pathos< großer existentieller Entscheidungssituationen in Szene setzenden tragèdie de la liberté - sie alle berufen sich auf das Modell der griechischen Tragödie und behaupten, es in ihren Transformationen antiker Sujets mit zeitgenössischen Mitteln zu restaurieren, wenn nicht gar zu überbieten. Aber es sind manifest verschiedene Rekonstruktionen des historischen Phänomens, die solchen Anschlüssen zugrundeliegen, und das literarische Gepräge dieser modernen Tragödien könnte unterschiedlicher kaum sein. Nicht anders das Bild auf der Gegenseite, wo Giraudoux, Brecht oder Eliot sich in ihrer Distanz gegenüber dem tragischen Paradigma berühren, während die Gründe ihrer Ablehnung (aus dem Horizont eines diesseitsfrohen Humanismus von joie et amour, einer marxistisch-ideologiekritischen »Moira«-und »Schädelstätten«-Aversion oder eines Transzendentalismus christlicher salvation) wenig miteinander gemein haben und abermals ganz verschiedene literarische Folgen zeitigen. Nicht zu vergessen die Zwischenpositionen, die sich zur Aktualität des Tragischen und der Tragödie von vornherein nicht eindeutig äußern, indem sie, wie im Fall von Anouilhs zweideutigem Schwanken zwischen tragédie und drame, die tragische Vision zu einer existentiellen Option unter anderen und letztlich zu einer Frage der individuellen Perspektive erklären oder sich, wie Gide, dem Problem unter Hinweis auf die unüberbietbare tragische »Pathoskompetenz« des antiken Originals entziehen, mit dem das moderne Ideen-Spiel nicht konkur-

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Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme (1955). In ders.: Theater, Essays, Gedichte und Reden (= Werkausgabe Bd. 24), S. 3 1 - 7 2 , hier S. 62.

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rieren wolle. Von einer einheitlichen Perspektive sowohl auf das historische Phänomen der griechischen Tragödie wie auf die Frage der zeitgenössischen Verbindlichkeit des tragischen Paradigmas sind die hier noch einmal in Erinnerung gerufenen Stellungnahmen weit entfernt, und die Pluralität des Spektrums poetologischer Ansichten und dramatischer Lösungen veranschaulicht, daß - um Friedrich Schlegels eingangs zitierten Aphorismus abzuwandeln - nicht nur die Entscheidung, »die Alten für klassisch zu halten oder für alt«, wesentlich eine Frage von Vor-Urteilen und eigenen Standpunkten ist, sondern nicht minder die Frage nach der zeitgenössischen Möglichkeit der Tragödie: auch sie »hängt zuletzt von Maximen ab«. Jenseits dieser Pluralität von Einstellungen gegenüber dem Gattungsproblem der Tragödie und ihrer modernen > Wiederholbarkeit - eines Spektrums, das man keineswegs zwingend als Anzeichen einer Orientierungskrise oder eines säkularen Transzendenzverlusts auffassen muß, in dem man ebensogut vielmehr ein positives Indiz für die intellektuelle Vielstimmigkeit und die diskursive Offenheit der Moderne erkennen kann - stellt sich eine andere Art von Einheit her, wenn man bedenkt, was in allen Stücken unseres modernen Korpus ausnahmslos geschieht: Sie alle, ob Tragödien, >Meta-Tragödien< oder Anti-Tragödien, ob freie Repliken oder ironisch-parodistische Kontrafakturen ihrer griechischen Prätexte, sind Paradigmen eines >relationalen< Schreibens, eines anknüpfenden Sich-ins-Verhältnis-Setzens, in dem zeitgenössische Dramatiker durch die Auslotung von Affinitäten und Differenzen gegenüber Schlüsseltexten des weltliterarischen Kanons mitsamt ihrer reichen >abendländischen< Wirkungsgeschichte den künstlerischen und intellektuellen Phänotyp ihrer eigenen Epoche zu bestimmen und in der Auseinandersetzung mit archetypischen Konfliktlagen der tragischen Uberlieferung ihrerseits kulturell Bedeutsames zu formulieren suchen. Und dabei erweist sich, daß auch Differenz und Konfrontation Modi der intensiven Nähe und der >Fortschreibung< einer Tradition sein können, daß, mit anderen Worten, auch für jene Texte, die sich, nach ihrer immanenten oder expliziten Poetik, als Anti-Tragödien, >Aufhebung< der Tragödie oder als groteske Satyrspiele nach dem >Tod< der Tragödie verstehen, das griechische Tragödienkorpus mit seiner Formulierung einer tragischen conditio humana ein Ensemble schöpferisch stimulierender >Urtexte< und ein privilegierter Anlaß der literarischen und kulturellen Selbstdefinition bleibt: Eine mit der griechischen Tragödie und ihrer transhistoricité (Vernant) vorgegebene grundsätzliche Anspruchshöhe der literarischen Behandlung und der semantischen Argumentation bleibt auch dort fast immer gewahrt, wo die 5Í5

modernen Texte ganz heterogene Ausdrucksregister wählen und sich der sublimen Bedeutungsdichte ihrer antiken Prätexte auf den ersten Blick zu entziehen scheinen. Uberhaupt ist die Entfaltung dieses fortdauernden Sinn- und Bedeutungspotentials nicht an das Gattungskonzept der Tragödie im engeren Sinn, einer »tragedy pure and simple« (George Steiner), gebunden - schon eine klassizistische Ikone wie Goethes Iphigenie auf Tauris< war keine Tragödie, sondern ein Spiel vom Ende der Gewalt und von der Uberwindung der Tragödie im Medium humaner Verständigung - , und die moderne Transformation der griechischen Tragödie muß, um ihre neuen Lesarten, ihren intertextuellen Sinn und ihre eigene kulturelle Bedeutung entfalten zu können, nicht zwangsläufig wiederum neue Tragödien hervorbringen. Auch in den reflexiven Mischformen, wie wir sie im Großteil unseres Repertoires mit seinen dramatischen Tragödien-Kommentaren und Λ/eta-Tragödien beobachtet haben, setzt sich - verstörend, provozierend, zum Widerspruch reizend, neue epochale Bedeutungen und >Konkretisationen< hervorrufend - das Wirkungspotential der Tragödie als einer hochkulturellen Überlieferungsform kat'exochen fort. Und gerade in den Abweichungen und in der produktiven Differenz gegenüber den kanonischen Archetexten hat jenes »Lebendige« seinen Ort, in dessen Erzeugung und Verteidigung Hofmannsthal (in der Tagebuchnotiz zur >Elektramythischen Methode< im Unterschied zu den konservierenden Leistungen der »Philologen, Altertumskenner etc.« erkannt hatte. Zugleich allerdings führt die von den griechischen Tragödien ausstrahlende hermeneutische Herausforderung, führt ihr Frage- und Rätselcharakter und der damit einhergehende Appell zur Deutung, Beantwortung und >Lösung< die modernen Retraktationen in ein eigentümliches ästhetisches und semantisches Dilemma, dem sie sich in ihrer großen Mehrzahl nicht völlig gewachsen erweisen und das mehr als jeder andere Faktor für den (auf den ersten Blick paradoxen) Eindruck verantwortlich ist, daß die modernen Transformationen und Aktualisierungen sehr viel schneller zu >altern< und inaktuell zu werden scheinen als ihre uralten, aber in stets neuen Interpretationen und produktiven Rezeptionen sich permanent >verjüngenden< antiken Prätexte. Dieses Dilemma, das wir in mannigfachen Ausprägungen am Werk gesehen haben und hier nur noch einmal nach seinem Prinzip verdeutlichen wollen, läßt sich, pointiert gesprochen, als Gegensatz von aporetischer, normenauflösender Problem-Struktur und theoriegeleiteter, normensetzender Löswwgs-Struktur begreifen. Wie maßgebliche kultursoziologische Interpreten der griechischen Tragödie

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gezeigt haben, sind die antiken Texte bei ihrer dramatischen Reformulierung mythischer Sujets und insbesondere in ihrer leitenden Semantik von den Ambiguitäten, Mehrfachcodierungen und komplexen Polysemien einer präphilosophischen Schwellenzeit geprägt und verdanken ihren gedanklichen >Stachel< und ihre geschichtlich fortwirkende Faszination nicht zuletzt gerade dem Umstand, daß sie in höchster affektiver Eindringlichkeit und mit tragischem Pathos aporetische Grenzsituationen der conditio humana umkreisen, für die sie keine >Lösungen< wissen. In diesem Sinne kann Charles Segal formulieren: »Tragedy has the property of raising questions, generally the big unanswerable questions about the nature of man and the ends of life, rather than giving answers«, 2 und übereinstimmend spricht Jean-Pierre Vernant von der griechischen Tragödie als einer Frage ohne Antwort, »une interrogation qui ne comporte pas de réponse«: [...] la tragédie [...] m a r q u e f o r t e m e n t les distances, s o u l i g n e les c o n t r a d i c t i o n s . C e p e n d a n t , m ê m e c h e z E s c h y l e , elle ne p a r v i e n t j a m a i s à u n e s o l u t i o n q u i ferait d i s p a r a î t r e les c o n f l i t s , soit p a r conciliation, soit p a r d é p a s s e m e n t des contraires. E t cette t e n s i o n qui n'est j a m a i s t o u t à fait acceptée ni entièrement s u p p r i m é e fait d e la tragédie u n e i n t e r r o g a t i o n qui ne c o m p o r t e p a s d e r é p o n s e . D a n s la p e r s p e c t i v e t r a g i q u e , l ' h o m m e et l ' a c t i o n h u m a i n e se p r o f i l e n t , n o n c o m m e des réalités q u ' o n p o u r r a i t définir o u décrire, mais c o m m e des p r o b l è m e s . Ils se p r é s e n t e n t c o m m e des é n i g m e s d o n t le d o u b l e sens ne p e u t j a m a i s être fixé ni épuisé. 3

Zwar sind uns auch im Fundus klassisch-moderner Tragödienvariationen Beispiele einer dramatischen Umschreibung und Vergegenwärtigung kultureller Aporien begegnet: Die unaufgelöste Uberlagerung >ethischer< und >psychologischer< Codes, von »Treue« und »Trauma« in Hofmannsthals >ElektraMedeaLa Machine infernale< oder bis zu einem gewissen Grad auch noch die ironische Zweideutigkeit der existentiellen Visionen in den Dramen Anouilhs lassen sich diesem problematisierenden Typus zuordnen. Aber im ganzen überwog in unserem Textkorpus doch bei weitem die Neigung, auf die vieldeutig-rätselvollen Vorgaben mythisch-tragischer Konstellationen mit der scheinbar gesicherten Deutungs- und Lösungskompetenz zeitgenössischer Welterklärungsmodelle zu antworten, also etwa die sophokleische >Antigone< 1

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Charles Segal: Theatre, Ritual and Commemoration in Euripides' >Hippolytusdurchzurationalisieren< und auf die >politisch korrekte< und realistisch schlüssige Logik des Klassenkampfs zu beziehen oder das Familiendrama einer neuen >Orestie< mit letzter schematischer Konsequenz aus psychoanalytischen Determinationen abzuleiten oder die als point of departure behandelten antiken Konfigurationen zur allegorischen Exemplifikation einer christlich-platonischen Zwei-Welten-Lehre zu gebrauchen oder das mythische Modell zum Anlaß für einen combat des idées zwischen aufgeklärten und reaktionären Denk-Figuren zu nehmen oder den Sequenzen der Atridensage das philosophische Korsett einer höchst gegenwärtig gedachten existentialistischen Freiheitsphilosophie einzuziehen usw. In solchen Uberformungen und Umwertungen der griechischen Tragödie, »Transvalorisationen« im Sinne Genettes, suchten die modernen Tragödienbearbeitungen ein Maß ihrer Aktualität zu gewinnen und sich als die dezidiert zeitgemäßen Versionen ihres Themas zu empfehlen. Aber eine derart enge Bindung dramatischer Partituren an vorgängige theoretische Konzepte birgt ein doppeltes Risiko: Zum einen kann sich bei der hohen Veraltensgeschwindigkeit weltanschaulicher Überzeugungen, Konjunkturen oder >Moden< die aus theoretischem >Wissen< und aktuell relevanter Einsicht begründete entschiedene Heutigkeit einer dramatischen Variation leicht als die Ursache ihrer >Gestrigkeit von morgen< herausstellen; in der Tat ist kaum zu leugnen, daß viele der Texte unseres Korpus nur wenige Jahrzehnte nach ihrer Entstehung und ihrer zum Teil enthusiastischen frühen Rezeption merkwürdig fremd und antiquiert anmuten und auch durch die Theater kaum mehr berücksichtigt werden. Und zum anderen sind auch die insgesamt überzeugendsten (und in ihrem engeren Entstehungskontext einst sehr erfolgreichen) Realisationen dieses Bearbeitungstypus - etwa die Tragödientransformationen O'Neills, Eliots, Sartres oder Brechts - von dem ästhetisch prekären Element einer übergroßen Ausdrücklichkeit und deduktiven Begriffsschärfe nicht frei, die eben dort den Eindruck einer gewissen Eindimensionalität und der Spannungsarmut gelöster Rätsel hervorruft, wo der semantisch diffusere und unaufgelöste aporetische Problemüberschuß der antiken Prätexte ein fortdauerndes, weil philosophisch-gedanklich niemals ganz domestizierbares Unruhepotential bildet. Es ist von diesem Befund her nicht eigentlich erstaunlich, daß spätere Bearbeitungen der griechischen Tragödie und im spät- oder postmodernen Zukunftshorizont der vorliegenden Untersuchung sind das etwa die (künftig in einem eigenen Folgeband darzustellenden) Antikenexperimente von Dramatikern wie Heiner Müller, Botho Strauß, David Rabe, Athol Fugard, Tony Harrison, Wole Soyinka oder Hélène Cixous - ihrerseits wieder auf die antiken Tragödien->Urtex558

te< zurückgehen und sie in neue produktive Textdialoge zu verwickeln suchen, während sie von den >gestrigen< Versuchen ihrer klassisch-modernen Vorläufergeneration im Grunde kaum mehr Notiz zu nehmen scheinen. Diese Grenze zugestanden, die fraglos auch ein qualitatives Gefälle markiert zwischen den hermeneutisch und intertextuell unverändert produktiven antiken >Archetexten< und ihren im Vergleich dazu bereits hermeneutisch erschöpfe wirkenden klassisch-modernen Variationen, bleibt doch nicht minder richtig, daß das Drama der mythischen Methode eine wichtige Zeitstrecke der literarischen Moderne prägnant repräsentiert und aufschlußreiche Einblicke eröffnet in das Wechselspiel von weltliterarischer Traditionsbindung und kreativer Selbstbehauptung in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Man wird zögern, diesem dramatischen Korpus im ganzen oder selbst einzelnen seiner Glieder jene transhistoricité zuzusprechen, die Vernant für die griechische Tragödie mit großem Recht geltend gemacht hat. Wohl aber ist diesen Texten aus der Hoch-Zeit der klassischen Moderne die Qualität einer instruktiven Historizität nicht zu bestreiten: In ihrer Arbeit am Mythos, an der Tragödie und an der Differenz gegenüber beiden entwerfen sie eo ipso zugleich die geistige Physiognomie der Gegenwart und leisten in tragischen >Wiederholungen< oder in komischen Zerspielungen und Zersetzungen der griechischen Vorgaben einen gewichtigen Beitrag zur Selbsterkenntnis der Moderne im magischen Spiegel· (Hofmannsthal) der Antike.

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Literaturverzeichnis

ι. Primärtexte und Werkausgaben Zur Entlastung des bibliographischen Apparats sind im Verzeichnis der Quellen und Primärtexte in der Regel nur die verwendeten Werkausgaben, nicht auch darin enthaltene Einzeltitel (Dramen, Schriften, Gelegenheitsäußerungen, Varia etc.) aufgeführt. Deren genauer bibliographischer Nachweis erfolgt am gegebenen Ort in den Anmerkungen der Untersuchung. Aischylos: Tragödien und Fragmente. Herausgegeben und übersetzt von Oskar Werner, 4. Aufl., München und Zürich: Artemis, 1988 (Sammlung Tusculum). Alvaro, Corrado: Lunga Notte di Medea, Milano: Bompiani, 1966. American Playwrights on Drama, ed. by Horst Frenz, N e w York 1965. Anderson, Maxwell: Eleven Verse Plays (1929-1939), 1 1 . Aufl., N e w York: Harcourt, Brace & World, Inc., o.J. Anouilh, Jean: Nouvelles Pièces Noires (Jézabel, Antigone, Roméo et Jeannette, Médée), Paris: Les Éditions de la Table Ronde, 1967. - Tu étais si gentil quand tu étais petit, Paris: La Table Ronde, 1972. - Œdipe ou Le roi boiteux. D'après Sophocle, Paris: La Table Ronde, 1986. Aristophanes: Sämtliche Komödien. Herausgegeben und mit Einleitungen und einem Nachwort versehen von Hans-Joachim Newiger (Neubearb. der Ubersetzung von Ludwig Seeger, 1845-48), München 1976. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1982. Artaud, Antonin: Le théâtre et son double, suivi de Le théâtre de Séraphin, Paris: Gallimard, 1964. Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. Zwei Hälften. 3. Aufl. Mit Unterstützung von Harald Fuchs, Gustav Meyer und Karl Schefold hrsg. von Karl Meuli (Johann Jakob Bachofens Gesammelte Werke, Bd. 2-3), Basel 1948. Bahr, Hermann: Dialog vom Tragischen, Berlin: S. Fischer, 1904. - Liebe der Lebenden I-III. Tagebücher 1 9 2 1 - 2 3 , Hildesheim o.J. [1923]. - Zur Uberwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904, ausgew., eingel. u. eri. von Gotthart Wunberg, Stuttgart 1968. Berg, Jochen: Tetralogie, eine dramatische dichtung (Niobe, Klytaimestra, Im Taurerland, Niobe am Sipylos), Düsseldorf: Edition Vogelmann, 1985. Berkoff, Steven: EAST. Agamemnon (Freely adapted from the Aeschylus version). The Fall of the House of Usher, L o n d o n j o h n Calder, 1977. - Decadence and Other Plays. East/West/Greek, London/Boston: Faber and Faber, 1989. Brasillach, Robert: Œuvres complètes. Première édition annotée par Maurice Bardèche, Paris: A u Club de l'Honnête Homme, 1964. Braun, Mattias: Die Troerinnen. Medea. Nach Euripides, Frankfurt/M.: S. Fischer, 1959. - Elektras Tod. Tragödie, Frankfurt/M.: S. Fischer, 1970. 561

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487*·. 49 é , 49 8 , 5°°f-> 5°3> 5°9. 5 i 6 ~ 5 i 8 > 527f. Fleischer, Margot 47 Fleming, Rudd 2 5 7 , 3 1 7 , 3 2 0 Flügge, Manfred 405, 4 1 3 , 456, 469, 474Í Foley, Helene P. 205,534 Foster, John Burt (Jr.) 48 Fowlie, Wallace 3 3 3 , 3 5 7 Fraisse, Simone 26 Frazer, James George 46 Freeman, Thomas 5 9 , 1 3 8 Frenz, Horst 14, 59, 220, 229 Frenzel, Herbert A. 51 Freud, Sigmund 5, 46, 49, 6 i f . , 64, 81, 1 1 4 , 139, 288-290, 301, 304f., 307, 310, 313 Frey, John R. 215 Frick, Werner 2, 5, 83, 203, 2 1 5 , 4 8 8 , 526 Fricke, Gerhard 197 Friedl, Herwig 284 Friedrich, Wolf-Hartmut 27, 1 1 7 , 359, 389,453 Fritz, Kurt von 1 1 , 2 7 , 1 1 7> 1 5 2 Frois, Étienne 416 Fry e, Northrop 23 Fuchs, Harald 46 Fuegi, John 517 Fugard, Athol 39,558 Fuhrmann, Manfred 8, 16, 25, 3 8 f., 2 8 1 283, 306, 471 Furetière, Antoine 3 81 Gabrieli, Andrea 6 Gadamer, Hans-Georg 464 Gagarin, Michael 440 Galilei, Galileo 493 Galle, Roland 464 Galster, Ingrid 458,469^,473 Gamier, Robert 4 Garten, Hugo F. 1 7 1 Gaugler, Hans 483,485 Gay, John 491 Genet, Jean 162 Genette, Gerard 31 f., 34 f., 6 9 - 7 1 , 99, 124, 214, 238, 281 f., 306-308, 337, 339, 366, 374, 38of., 396, 399, 5 02f., 525, 539, 558 Gentili, Bruno 90, 353 George, Stefan 512 Geppert, Hans Vilmar 2 1 7 Gerhardus, Christian 23 Germain, Gabriel 349f. Gethmann-Siefert, Annemarie 440 Ghéon, Henri 424t.

603

Gide, André 23, 40, 218, 333, 343, 345357> 3 é l > 3 6 5 f -> 37°, 3 8o > 3 8 z . 383-396, 398, 400f., 417Í., 42of., 425, 443f., 456, 467, 47 6 -48O, 554 Gilbert, W.S. 225 Girard, René 5 Giraudoux, Jean 18, 23, 38, 40, 218, 333, 366, 370-378, 380, 383, 396, 398f., 407, 4i8f., 422-424, 427, 430-443, 444, 4454 5 1 , 4 5 5 , 4 6 7 ^ , 476, 554 Giustiniani, Orsatto 5 Glaeser, Günter 489 Gliksohn, Jean-Michel 26 Goebel, Gerhard 371, 376, 405, 418, 423 Goethe, Johann Wolfgang von if., 13, 17, 37. 64, 77t., 81-84, 93> 96, 1 0 1 , 114, 139, 170, 176, 182, 184, 1 9 1 , 199-204, 2072 1 1 , 282, 418, 497, 508, 512, 556 Goetsch, Paul 242 Goldhill, Simon 18 f., 1 4 1 , 3 3 1 , 478 Goldmann, Lucien 424, 513 Goldmann, Paul 71,112t. Göpfert, Herbert G. 197 Gottsched, Johann Christoph 4, 14 Gould, John 1 1 Graevenitz, Gerhart von 22 Graf, Fritz 8 Grathoff, Dirk 149 Grillparzer, Franz 4, 28, 152, 203 Grimm, Gunter 203 Grimm, Reinhold 54, 284, 489 Grivel, Charles 29 Gründer, Karlfried 5 5 Gründgens, Gustaf 471 Gundert, Hermann 338 Günther, Vincent J. 171 Guth, Alfred 87, 89, 9 5 f. Guthke, Karl Siegfried 1 7 1 , 174, 180, 188, 200 Haas, Rudolf 229 Habermas, Jürgen 5 6 Händel, Paul 440 Halévy, Ludovic 381 Halfmann, Ulrich 221, 249, 263, 284, 289 Hall, Donald 258,261 Hamalian, Leo 257 Hamburger, Käte 26, 1 7 1 , 187, 200, 204, 4 " , 439. 442 Handke, Peter 503 Harden, Maximilian 61 Harder, Annette 177 Harris Smith, Susan 37

604

Harrison, Jane 46 Harrison, Tony 12, 30, 39, 152, 259, 558 Hartigan, Karelisa V. 391 Härtung, Gustav 345 Hasenclever, Walter 505 Hass, Hans-Egon 59 Hastings, Pat G . 333 Haug, Wolfgang Fritz 486 Hauptmann, Gerhart 24, 40, 45-47, 59Í., 65-69, 7 1 , 76-78, 83f., 1 0 1 , 170-212, 267, 364^,450, 554 Heaney, Seamus 39 Hebbel, Friedrich 4, 28 Hebel, Udo J. 28 Hecht, Werner 481-485, 522, 533 Heftrich, Eckhard 46 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 5, 273, 308, 3 1 1 , 412, 440, 4i6f., 463-465, 476, 5 1 1 , 513, 551, 554 Heidegger, Martin 5, 407, 4 1 1 Heilbora, Ernst 139 Heilman, Robert B. 257 Heine, Heinrich 512 Helm, Robert M. 51 Helwig, Werner 59 Henrichs, Albert 5 1 , 1 7 7 Heraklit 57 Hermand, Jost 485 Herodot 243, 245 Heyme, Hansgünther 155 Highet, Gilbert 22 Hillebrand, Bruno 47 Hinchliffe, Arnold P. 3 1 7 Hinck, Walter 523 Hinderer, Walter 486 Hirsch, Rudolf 43 Hitler, Adolf 5 40 f. Hladny, Ernst 73, 81 f., 129 Hobson Quinn, Arthur 264 Hoffmann, Gerhard 242, 263, 284, 295, 309f., 313 Hofmann, Heinz 177 Hofmannsthal, Hugo von 24, 3 8, 40, 4 3 47, 6of., 69-83, 87, 89, 1 0 1 , 1 1 0 , I I I 138, 1 3 9 - 1 4 1 , 1 7 1 , 203, 282, 368, 382, 527, 556f., 559 Hohl, Siegmar 140 Hölderlin, Friedrich 340, 482, 485, 5 0 1 505, 507-514, 517, 520, 525, 529, 534, 545 Hölscher, Tonio 50 Homer 3 , 1 6 , 7 6 , 1 9 1 , 2 1 5 ^ , 4 6 8 Hommel, Hildebrecht 100

Honegger, A r t h u r

337

Klein, T h e o d o r e M . 23

H o r n i g , D i e t e r 31

Kleist, H e i n r i c h v o n 2, 4, 12, 28, 83, 101,

H o u s e m a n , J o h n 225

149.

H ü b n e r , K u r t 22 H u m b o l d t , W i l h e l m v o n 13 Hyginus

20

3>

2 I

4 , 282, 497

Klemperer, O t t o 4 8 2 K l i m t , G u s t a v 60, 112

175

Klinger, Friedrich Maximilian 4, 28, 152

Hyppolite, Jean 464

Knapp, Bettina L.

338^,392

K n a p p Hay, E l o i s e 251 Ibsen, H e n r i k

12,328,374

Knight, R o y C .

28,335

Iffland, August W i l h e l m 13

K n o p f , J a n 4 9 2 , 523

Inskip, D o n a l d 371, 373

K n o x , B e r n a r d M . W . i o , 78, 117, 143, 166,

Itkine, Sylvain 4 2 7

2 4 4 f . , 247 K n u t h , G u s t a v 483

J a c o b s o h n , Siegfried 112, 139

K o b b e , Peter

J a e c k l e , E r w i n 87

K o h u t , Karl 4 0 1 , 4 3 5 , 442, 457, 4 7 0 - 4 7 2 ,

Jähnig, D i e t e r 51, 54

141

478-480

J a h n n , H a n s H e n n y 45, 59, 69, 71, 7 4 - 7 8 , 82, i i o f . , 1 3 8 - 1 7 0 , 174, 189, 382, 527, 554, 557 J a m m e , C h r i s t o p h 23 J a u ß , H a n s R o b e r t 383, 4 0 2 , 4 0 5 f . , 4 5 1 ,

Kolb, Frank

10,18

Kommerell, Max 448 K o o p m a n n , H e l m u t 2 2 , 4 6 , 171 K o r t u m , H a n s 335 K o s e l l e c k , R e i n h a r t 17 Kraus, Walther 4 0 6

453. 4 5 í f · , 476 Jay, G r e g o r y S. 216, 218

Krauss, Christel 4 5 7

Jeffers, R o b i n s o n 14, 45, 5 9 ^ , 69, 83, 86,

Krauss, H e n n i n g 4 0 1 , 4 3 9 f . , 4 4 2 , 4 5 7 , 4 6 9

98-110, m ,

Krauss, W e r n e r 335

116, 123, 141, 218, 527

J e n n y , L a u r e n t 31

K r e s i i , Stephanus 5

J e n s , Walter 7 , 2 1 , 25, 35, 4 3 . 73. " 3 .

Jones, David E.

Krey, F r i e d h e l m

145

Kristeva, Julia 29

487. 5°3, 5 1 8 Jhering, Herbert

"5,

139,495 257,317

Kröhnke, Friedrich

145

Krümmel, Richard Frank 47

J o o s t , J ö r g - W i l h e l m 4 8 6 , 4 9 3 , 500

K r u t c h , J o s e p h W. 2 8 4

J o r d e n s , Wolfgang

K u n z e , Stefan 23

358f.

Kytzler, B e r n h a r d 23

J o u a n , F r a n ç o i s 333 J o u v e t , L o u i s 370, 384, 4 2 7 Joyce, James

3,215-219,223

Jung, Carl Gustav

171,288^,298

Kannicht, Richard

166

L a F o n t a i n e , J e a n de 417 L a c h m a n n , R e n a t e 29, 31 L a n , D a v i d 30, 39

Kant, Immanuel Karge, M a n f r e d

53,200 161

Lane, A n n W. 534 Lane, W a r r e n J .

534

Leadbeater, L e w i s W. 389, 395

K a u f m a n n , Walter 5, 4 6 4

L e e , R o b e r t E . 243

Kemper, P e t e r 23

Lefèvre, E c k a r d

K e n k e l , K o n r a d 26, 141, 152, 1 5 8 , 4 5 3

L e h m a n n , H a n s - T h i e s 11, 149, 356

K e r é n y i , Karl

L e h n e r t , H e r b e r t 481

171,180

360

K e r m o d e , F r a n k 6f., 215

Leitch, V i n c e n t B . 28

Kerr, Alfred

Lenz, J a k o b Michael Reinhold 486

112,140

Kierkegaard, S e r e n 5, 4 1 1 , 4 6 1

Lépidis, C l é m e n t 215

Kihm, Jean-Jacques

Lesky, A l b i n 9of., i o o f . , 117, 126, 193,

337,348

Kindermann, Heinz 60 Kipling, R u d y a r d 4 9 1 K i r k , G e o f f r e y Stephen 15 f.

406, 410, 4i8f., 451

Lessing, G o t t h o l d E p h r a i m 4, 28, 214, 448

Kittler, F r i e d r i c h A . 51

Lévi-Strauss, C l a u d e 5

Klaar, A l f r e d

L e w i s , David M a l c o l m 11

139

605

Lewisohn, Ludwig 290 Lincoln, Abraham 243 Lindemann, Louise J. 26 Link, Franz H . 284, 289, 308, 431 Lloyd-Jones, Hugh 44, 49, 53-55 Lohner, Edgar 229 Loraux, Nicole 205 Lorris, Robert 458 Lucy, Sean 216 Ludovicy, E. 333 Lugowski, Clemens 226, 240 Luhmann, Niklas 144 Lukács, Georg 486 Lützeler, Paul Michael 48 r MacKinnon, Kenneth 23 McLeod, C.W. 100 MacNicholas, John 225 Maeterlinck, Maurice 1 1 2 Malachy, Thérèse 408,461 Malamud, Randy 2 3 2 , 3 1 7 , 3 2 2 Malek, James S. 203 Mankin, Paul A. 372 Mann Burdick, Dolores 43 5 Mann, Thomas 180, 202 Marcel, Gabriel 442 Marivaux, Pierre Carlet de 381 Marlowe, Christopher 491, 509 Marquard, O d o 8 Martens, Lorna 1 1 5 Martin, Claude 348, 384, 392L, 396 Martinez, Matias 23 Marx, Karl 457 Marx, Rudolf 46 Maurenbrecher, Manfred 1 5 5 , 1 6 2 Mauron, Charles 3 7 1 , 3 7 4 , 4 4 7 ^ , 4 6 8 Mayer, Hans 59, 65, 138, 149, 489 Mayer, Mathias 1 1 4 , 1 3 2 , 1 3 4 McDermott, Emily A. I43f., 271 McDonald, Marianne 5 McMullen, Sally i n f . , 120, 135 Meid, Wolfgang 440 Meier, Christian 18, 100, 108 Meilhac, Henri 381 Melchinger, Siegfried 229, 265, 287 Melville, Herman 296f. Mencken, Henry L. 290 Mennemeier, Franz Norbert 541 Mercier-Campiche, Marianne 377 Meuli, Karl 46 Meyer, Gustav 46 Michaelis, Rolf 192 Milton, John 254^

606

Mimoso-Ruiz, Duarte 26, 152 Mittenzwei, Werner 486, 489 Molière 486, 492f., 497 Molinari, Cesare 26, 403, 418, 485, 539 Molitor, Dietrich 145 Montherlant, Henry de 40, 333, 379f., 418f., 425-429, 467, 476-478 Moorton, Richard F., Jr. 229, 247, 265, 287, 3 1 1 , 3 i 3 f . Moravia, Alberto 39 Mouton, Jean 350 Mudford, Peter G . 233 Mueller, Martin 4, 6, 24, 27, 30, 1 1 4 , 1 1 7 , i l 9 , 132, 138, 229, 350, 359, 526 Müller, Franz Walter 445, 447 Müller, Gerhard 360, 519 Müller, Heiner 12, 2 1 , 24, 39, 147, 152, 259, 382, 480, 558 Müller, Klaus-Detlef 481, 486, 492, 504, 508 Muschg, Walter 144, 1 j 5 f. Musil, Robert 391 Müthel, Lothar 488 Nathan, George Jean 247, 290 Neher, Caspar 482-485, 496, 498, 501, 503, 515, 524, 526, 545 Nehring, Wolf gang 72, 1 1 2 , 1 1 5 , 135 Nethercot, Arthur H. 288 Neumann, Karl Eugen 43 Neuweiler, Siegfried 284 Newiger, Hans-Joachim 1 1 3 - 1 1 5 , 136 Niderst, Alain 359 Nieden, Birgit zur 23 Nies, Fritz 334 Nietzsche, Friedrich 2, 5, 14, 39, 43-58, 6of., 64f., 68f., 79-81, 83, 85, 87-99, 109, 1 1 2 , I43Í., 168, 1 7 1 , 1 7 4 - 1 7 6 , 2 1 3 , 266, 284, 3 1 2 , 334, 384, 390, 425,448, 465,473, 527, 543, 554 Niggl, Günter 431 Nolting-Hauff, Ilse 496 Nugent, S. Georgia 289 Nussbaum, Martha C . 534,544 Nutz, Maximilian 149 O'Flaherty, James C . 51 O'Hanlon, Redmond 415, 4 5 5 f. O'Neill, Eugene 15, 40, 107, 218, 2 2 0 223, 224, 227, 229-232, 237-243, 246249, ¿ j i f . , 254, 261, 263-269, 272-278, 280-283, 284-314, 3 1 5 , 3 1 7 , 3 3 1 , 365, 380, 396, 5 J3f., 558

O'Neill, John P., SJ 284 Oates, Whitney J. 23 Offenbach, Jacques 3 8 1 , 3 9 7 Oppelt, Ilona 360 Ovid 16 Oxenhandler, Neal 369 Pabst, Walter 3 7 1 , 4 0 1 , 4 0 5 Palladio, Andrea 5 Pannwitz, Rudolf 45, 48, 58, 69, 83, 86, 87-98, 99, i i o f . , 1 1 6 , 123, 1 4 1 , 174, 527, 554 Pasolini, Pier Paolo 39 Pater, Walter 46 Patrides, C . A . 233 Peacock, Ronald 219 Petersen, U w e 28, 203 Petit-Jean, Claude 381 Petroff, Jacob W. 26 Pfister, Manfred 2 1 , 29f., 47, 123, 393 Phrynichos 10, 243 Picard, Raymond 424 Picasso, Pablo 337 Pickard-Cambridge, A.W. 1 1 Pindar 504, 508 Pinthus, Kurt 139 Pirandello, Luigi 405f., 408, 456 Piscator, Erwin 197, 49 5 f. Pitoëff, Georges 345 Platon 4, 234, 324, 331 Podlecki, Anthony J . 1 0 0 , 3 7 1 Poe, Edgar A. 276 Pöggeler, Otto 440, 463 Pohl, Rainer 504^, 508, 513 Politzer, Heinz 1 1 5 f. Popp, Wolfgang 145 Porter, Thomas E. 25, 229, 233, 247, 265, 280, 287, 290, 298, 305, 3 1 3 f . , 3 2 1 , 323, 332 Poser, Hans 9, 22 Pound, Ezra 15, 27, 503 Preisendanz, Wolfgang 31 Pretagostini, Roberto 90, 3 5 3 Proust, Marcel 29, 456 Pucci, Pietro 144, 353 Pütz, Manfred 284 Pütz, Peter 1 7 1 Rabe, David 39,558 Rabinowitz, Peter J. 28 Racine, Jean 2, 4, 17, 1 0 1 , 282, 419, 424, 4 5 1 . 4 5 4 . 459>482 Raible, Wolfgang 3 7 1 , 422

Raimond, Michel 3 7 1 , 374, 376, 422f., 432> 445.447. 45°. 4 6 8 Ranke-Graves, Robert 228 Rasch, Wolfdietrich 36 Reckford, Kenneth J. 2 5 7 , 3 1 9 Redgrave, Michael 328 Regenbogen, Otto 360 Rehm, Walther 28 Reilly, John H. 468 Reinhardt, Karl 90, 92 f., 100, 1 1 9 , 166, 193 Reinhardt, Max 8 1 , 1 1 1 , 3 4 5 Reinke, Edgar C . 197 Reinwald, Heinz 23 Reiss, Timothy 462 Renan, Ernest 447 Renner, Ursula 1 1 2 Rey, William H. 1 1 5 , 1 3 6 Reyher, Ferdinand 489 Richer, Louis 3 81 Richter, Walter 483 Riedel, Volker 25, 548 Riffaterre, Michael 31 Rilla, Paul 504^, 509 Robbe-Grillet, Alain 215 Roberts, Arthur W. 247 Roberts, Nancy L. 247 Roberts, Patrick 26, 288f., 294-296, 301, 3 0 4 , 3 1 1 , 3 1 6 , 478 Robertson, Ritchie 1 1 5 , 1 2 2 Rohde, Erwin 44, 46, 65, 81, 1 7 1 , 1 7 6 178, 180, 182 Rohrwasser, Michael 2 5 Rolleston, James 48 Rombout, André François 4 1 2 Rosenberg, Alfred 543 Rosier, Wolfgang 18, 487, 496, 498, j 18f., 524, 527, 544 Rothstein, Eric 31 Rotrou, Jean 4 Rudnytsky, Peter L. 46 Rukser, U d o 87 Rutledge, Harry C . 23, 394 Rybalka, Michel 457f., 461-463, 465f., 469. 473. 480 Sachs, Murray 4 0 2 , 4 0 5 , 4 1 5 , 4 2 6 Saint-Saëns, Camille 343 Sands, Jeffrey Elliott 230 Sartre, Jean-Paul 40, 1 0 1 , 105, 196, 218, 262, 282, 3 3 1 , 333, 370, 380, 383, 386, 396, 399-401, 408, 430-443, 444, 456474. 5°3. 554. 55 8

607

Scarron, Paul 381,397 Schadewaldt, Wolfgang 5, 120, 124t., 127, i 3 i , 2 i 4 f . , J02f., 507, 517 Schefold, Karl 46 Schetter, Willy 360 Scheuffelen, Thomas 59,138 Schiller, Friedrich 2, i2Í.,46,50, 8if., 197, 200, 203,214,267,460,487,491,503,518 Schings, Hans-Jürgen 448 Schinkel, Karl Friedrich 175 Schlaffer, Heinz 23 Schlechta, Karl 14, 44 Schlegel, August Wilhelm 13 Schlegel, Friedrich 36, 555 Schlesier, Renate 22, 44 Schlesinger, Hans 72, 112 Schlötterer, Reinhold i}6{. Schmid, G. Bärbel 112 Schmid, Wolf 31 Schmidt, Jochen 215, 502f. Schmidt-Henkel, Gerhard 141,157 Schmitt, Arbogast 517 Schoell, Konrad 418,427 Schoeller, Bernd 43 Schopenhauer, Arthur 5, 46, 53f., 57, 83, 85, 99, 106, 109, 168, 284 Schottlaender, Rudolf 440 Schrade, Leo 6 Schrimpf, Hans Joachim 65, 171, 173, 197, 200 Schröder, Rudolf Alexander 72 Schrödter, Hermann 3 Schröter, Corona 2 Schuchard, Margret 32 Schulte-Middelich, Bernd 34 Schulz, Genia 141, 149, 164, 168 Schulz, Gudrun 485,491 Schulz, Walter 51-53 Schulze, Brigitte 502 Schuster, Gerhard 87 Schwarzer, Bert 34 Schweikert, Uwe 139, 141, 149, 156 Schwinge, Ernst-Richard 166, 471, 519 Secci, Lia 24, 47, 59, 74, 80, 83, 141, 144, 146, 149, 157, 169 Seeck, Gustav Adolf 10, 487, 516 Segal, Charles 5, 7, 18, 32, 90, 117, 141, 22 4 , 279> 33 1 , 33 8 , 35 2 Í ·, 47 8 , 5V, 534, 546, 557 Segal, Erich 5, 90, 166 Seidensticker, Bernd 23, 520 Seidlin, Oskar 101, 204 Seilner, Timothy F. 51

608

Seneca 6, 11, 16, 32, 152, 335, 347, 3éof., 364,368,417,453,475 Sewall, Richard B. 284 Shakespeare, William 4, 34, 81, 114, 122, 147, 225, 229, 271, 368, 417, 482, 486, 492-495, 520 Silk, Michael S. 5, 19, 47, 534 Skrodzki, Karl Jürgen 25, 87,141,171, 180 Slatkin, Laura 91 Smith, Carol H. 220, 251, 262, 317, 321, 328 Smith, Grover 257,317,324 Snell, Bruno 166,533 Sokrates 54-58, 79, 81, 166, 384 Sophokles if., 5, 11, 13, 1 jf., 38,40^, 64, 71-73, 81 f., 87-97, 111—114, 117- 1 )}, 13 8 , I73> 2 I 4Í-, 223> 235> 253> 255> 2 7 2 , 317, 32of., 336-340, 342-344, 347-357, 359-364> }66f., 369f., 382, 386f., 389396, 403, 406, 4iof., 414, 4i7f., 420, 422, 4 2 9, 44°, 45 8 , 4^4, 4é7> 4 8l f-> 4 M · , 489> 496, 498, 50^503, 507-509, 511-520, 5 2 4 _ 5 2 9> 531. 534Í-, 53 8f ·, 54i, 543f-, 546, 548-551, 557 Sorkin Rabinowitz, Nancy 144, 271 Soyinka, Wole 11, 39, 558 Sparrow, Martha Carolyn 288 Spitzer, Leo 360 Sprengel, Peter 84, i7of., 175, 180, 188, 194, 196L, 201 Squires, Radcliffe 83, 99, 109 Stackelberg, Jürgen von 371 Stamm, Rudolf 267 Steckel, Leonard 471 Steegmuller, Francis 337Í. Steffen, Hans 48 Steiger, Klaus Peter 34 Steiner, George 19-21, 26, 33, 35, 295, 4 " » 4 i 3 f · » 553, 55 é Steingruber, Elisabeth 113 Steiniger, M. 472 Stempel, Wolf-Dieter 31 Stendhal 288 Stern, Joseph Peter 47 Sternberg, Fritz 495 Sternheim, Carl 22 Stierle, Karlheinz 31,334 Stockum, Theodoras C. van 215 Straub, Agnes 139 Strauß, Botho 30, 39, 236, 259, 558 Strauss, Richard 113 Strawinsky, Igor 343 Streeruwitz, Marianne 259

Streller, Siegfried 28 Striedter, Jurij 1 7 Strindberg, August 135,288 Stroupe, John H . 229 Studt, Wilhelm 76 Subiotto, Arrigo 486, 491, 496 Sudau, Ralf 31 Suleiman, Susan R. 28 Swinburne, Algernon Charles 7 3 , 8 1 Symington, Rodney T. 492 Szondi, Peter 3 8 3 , 4 3 1 , 4 3 3 Taplin, Oliver 356 Tepe, Peter 23 Ter-Nedden, Gisbert 2 8 , 2 1 4 Thatcher, Margaret 236,238 Theile, Wolfgang 349 Thiel, Rainer 275 Thomas von Aquin 457 Thukydides 245 Tody, Philip 478 Törnqvist, Egil 2 2 1 , 2 8 4 Trilse, Christoph 25,548 Trousson, Raymond 26 Turk, Horst 51 Tynan, Kenneth 463 Urban, Bernd 1 1 5 Usmiani, Renate 197 Valéry, Paul 3 9 1 , 4 5 6 Vandromme, Pol 416 Vellacott, Philip 205 f. Vergil 6 Vernant, Jean-Pierre 5-7, 10, jS{., 90, 96, 100, 126, 1 4 1 , 244, 246, 248, 3 3 1 , 352, 3 5 9 . 4 7 » > 5 5 5 . 557. 559

Veyne, Paul 78 Vidal-Naquet, Pierre 5 f., 10, 90, 96, 100,

Watt, Stephen 298 Weber, Alfred 284 Weber, Manfred 139 Webster, Thomas B.L. 1 1 Wedekind, Frank 135 Wegner, Peter Christian 1 7 1 , 1 8 0 Weigand, Hermann 2 1 5 Weigel, Helene 483, 485, 522, 547 Weinrich, Harald 408f., 4 1 5 , 426 Weiße, Christian Felix 4, 28 Weisstein, Ulrich 5 0 5 , 5 0 8 , 5 1 1 Werfel, Franz 503 Werner, Hans-Georg 203 Werner, Oskar 277, 419 Wetzel, Heinz n j , 122, i j f i f . Whitehead, Alfred North 4 Whitman, Cedric H. 90, 205 Wieland, Christoph Martin 28, 45 Wigman, Mary 137 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 5 5 Wilde, Oscar 1 1 2 , 1 1 4 , 135, 225, 233, 525 Williams, Bernard 126, 544 Williams, Gerhild S. 481 Williams, Tennessee 38, 224 Williams, William Carlos 322 Willige, Wilhelm 91, 1 3 1 , 258, 3 2 1 , 351 Winckelmann, Johann Joachim 2, 45, 47, 49,58, 60,81 Winkler, John J. 18 Winnington-Ingram, Reginald Pepys 95, 126, 534 Wittkowski, Wolfgang 468, 492, 500 Wittmann, Lothar 1 1 5 , 1 3 6 Witzmann, Peter 486, 504, 509, 525, 547 Wolfheim, Hans 87 Worbs, Michael 46, 60, ι I4f., 128 Wunberg, Gotthart 47, 61 Wyss, Monika 484

244, 359

Villon, François 491 Voges, Michael 486 Voigt, Felix A. 76, 83, 1 7 1 , 184, 197 Voltaire 4, 13, 358-363, 364^, 368, 3 7 1 , 386,417, 447, 458f. Voßkamp, Wilhelm 17, 335 Wagner, Richard 4, 28, 55, 57 Warning, Rainer 3 1 , 3 3 5 Warnod, André 374 Wartelle, André 100 Watson-Williams, Helen 345, 350, 3 J4Í., 387, 422

Yeats, William Butler 2 1 7 , 5 0 3 Yim, Chol K y u 26 Yourcenar, Marguerite 39 Zapf, Hubert 2 1 6 , 2 4 9 Zehm, Günter Albrecht 471 Zeitlin, Froma 18,90 Zemeckis, Robert 241 Zimmermann, Hans-Joachim 32 Zink, Norbert 531 Ziolkowski, Theodore 174^, 1 9 1 , 2 0 i f . Zuntz, Günther 471

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