Goethe in seiner Epoche: Zwölf Versuche [Reprint 2015 ed.] 9783110929782, 9783484107717

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Goethe in seiner Epoche: Zwölf Versuche [Reprint 2015 ed.]
 9783110929782, 9783484107717

Table of contents :
Vorbemerkung
Die Mächtigen und die Musen. Zum Auftrag der Kultur im aufgeklärten Staat des 18. Jahrhunderts
Die Sturm und Drang-Jahre 1770 bis 1776 in Straßburg
Auf der Suche nach dem verlorenen Vater. Das ›Werther‹- Evangelium, noch einmal
Die Faust-Legende in Deutschland. Eine Skizze
Herder und die junge Dichtergeneration um Goethe
»Ich begreife, daß Goethe sich so ganz an sie attachiert hat«. Über Charlotte von Stein
Maler Müllers ›Iphigenia‹. Zum Spielraum der Antike-Rezeption in der Goethezeit
Goethes Weg zu ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹. Italienische Erfahrungen und klassischer Erzählstil
Der Begriff der Begebenheit in Goethes Bemerkungen zur Erzählkunst
Unmut, Übermut und Geheimnis. Versuch über Goethes ›West-östlichen Divan‹
Goethes ›Divan‹-Gedicht ›Es geht eins nach dem andern hin‹. Zur Entstehung und Überlieferung
Der Autor und sein Werk. Goethes Einschätzung seiner Sturm und Drang-Lyrik in den verschiedenen Epochen seines Lebens
Drucknachweise

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Goethe in seiner Epoche

Christoph Pereis

Goethe in seiner Epoche Zwölf Versuche

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pereis, Christoph: Goethe in seiner Epoche : zwölf Versuche / Christoph Pereis. — Tübingen : Niemeyer, 1998 ISBN 3-484-10771-5 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

INHALT

Vorbemerkung

VII

Die Mächtigen und die Musen. Zum Auftrag der Kultur im aufgeklärten Staat des 18. Jahrhunderts

1

Die Sturm und Drang-Jahre 1770 bis 1776 in Straßburg . . .

25

Auf der Suche nach dem verlorenen Vater. Das >WertherIphigeniaWilhelm Meisters LehqahrenWest-östlichen Divan
DivanEs geht eins nach dem andern hinErziehung des Menschengeschlechts^ Herders >Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit* und die >Erklärung der Menschenrechte< - ein Grunddokument auch unserer heutigen politischen und Rechtskultur. Aus der deutschen Literatur gehört nicht zuletzt 4

Zitiert bei Horst Möller, a.a.O. (Anm. 2), S. 11

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Goethes Iphigenie auf Tauris< in diesen Zusammenhang: der Händedruck zwischen Thoas und Orest führt die Partikulargeschichten der Barbaren und der Hellenen zu e i n e r künftigen Menschheitsgeschichte zusammen. Wie weit die neuen Ideen und Normen die Vorstellungswelten vom Souverän bis hinunter zu den »einfachen Leuten« real durchdrangen, sollte man gewiß nicht überschätzen. Zu recht warnt schon Jacob Burckhardt, es sei schwer für uns zu entscheiden, »wie weit ein Kulturelement, das für uns jetzt eine ganze Epoche färbt, wirklich damals das Leben beherrscht hat«.5 Die letzte Hexenverbrennung fand 1793 statt, und es fehlt wahrhaftig nicht an Zeugnissen, vor allem aus der Welt des Adels und der bäuerlichen Bevölkerung, die von der Farbe der Aufklärung völlig unberührt sind. Träger der neuen Ideen sind in erster Linie das im Verwaltungsund Bildungswesen tätige Bürgertum einschließlich vieler Geistlicher sowie Angehörige des kleinen und mittleren Adels. II. Unberührt von ihnen blieben auch die Maximen der großen, d. h. der Außenpolitik. Hier regierte nach wie vor das absolutistische Machtkalkül. 1784 stellt Kant fest: Solange (.. .> Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen E r weiterungsabsichten verwenden und so die langsame B e m ü h u n g der inneren B i l d u n g der Denkungsart ihrer B ü r g e r unaufhörlich h e m m e n , ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten, weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes g e m e i n e n Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird.

Und weiter: O b g l e i c h z . B . unsere Weltregierer zu öffentlichen Erziehungsanstalten u n d überhaupt zu allem, was das Weltbeste betrifft, für jetzt kein Geld ü b r i g haben, weil alles auf den künftigen K r i e g schon zum voraus verrechnet ist, so werden sie doch ihren eigenen Vorteil darin finden, die obzwar schwachen und langsamen eigenen B e m ü h u n g e n ihres Volks in diesem Stücke wenigstens nicht zu hindern. 6 Jacob Burckhardt, a.a.O. (Aran. 1), S. 92. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: ders., Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1965, S. 38f., S. 40f. 5 6

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So haben alle bedeutenden Geister des 18. Jahrhunderts, wenn sie nicht gerade zu den »Weltregierern« gehörten, gedacht. Kurz vor dem Ausbruch des Siebenjährigen Krieges besang der Erzieher des Braunschweiger Pastorensohns Karl Wilhelm Jerusalem, Nikolaus Dietrich Giseke, >Das Glück des Friedens und der Freyheit< im begünstigten Hamburg: D i e Künste wohnen hier beschützet und geehrt. D i e M u s e n singen hier zufriedene Gesänge, In denen selbst der L ä r m der H a n d l u n g sie nicht stört, D i e ß fröhliche, bereichernde Gedränge, D a s auch die Musen hier ernährt. Es scheinen alle nur d e m R e i c h t h u m nachzustreben: S o emsig sammlen sie furs Vaterland ihn ein; U n d dennoch sucht m a n hier noch mehr, als reich zu seyn. M a n suchet auch zu leben, U n d lernt die Kunst, sich zu erfreun. 7

Aufgeklärter kapitalistischer Idealismus aus einer reichen Handelsstadt; wie lange ist das her! Der Siebenjährige Krieg bezeichnet in der Tat für den Kulturprozess der Aufklärung eine bedeutende Zäsur. Goethe hat später in >Dichtung und Wahrheit< die Feldzüge Friedrichs II. und ihre die Familie spaltende Beurteilung dargestellt und gleich daran anschließend die Krönung Josephs II. zum Römischen König, 8 der Friedrich im Hubertusburger Frieden zugestimmt hatte. In der nun anbrechenden längeren Friedenszeit öffnet sich der Süden des alten Reiches den geistigen Strömungen, die im Norden schon seit längerem Platz gegriffen haben. Im Grunde wußte man in Hannover und Berlin wenig von Kultur und Lebensweise in Süddeutschland, und Friedrich Nicolai machte 1781 während seiner >Reise durch Deutschland und die Schweiz< große Augen. 9 Und gerade damals war doch das josephinische Wien schon zum Zentrum der Aufklä7 Nikolaus Dietrich Giseke, Das Glück des Friedens und der Freyheit, in: Walther Killy, Christoph Pereis (Hrsg.), Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse Bd. IV. Das 18. Jahrhundert. 2. Teilband, München 1983, S. 1127. 8 Erster Theil. Zweites Buch, WA I, 26, 69 ff., 286 ff. 9 Vgl. Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, Bd. 1 - 1 2 , Berlin/Stettin 1783-1796.

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rung im katholischen Deutschland geworden, wo Joseph von Sonnenfels und der Verleger Trattner fur die aufgeklärte Literatur des nördlichen Deutschland warben, wo sich um Joseph Franz von Ratschkys >Wiener Musenalmanach< alle jene sammelten, die Anschluß an die damals modernste deutsche Dichtung suchten. Der kulturelle Austausch zwischen dem Norden und dem Süden reißt von nun an nicht mehr ab: Philosophie, Poesie und Theater wandern nach Süden, die Musik Haydns und Mozarts nach Norden. Erst vom vorläufigen preußisch-habsburgischen Ausgleich an wachsen die verschiedenen Kulturentwicklungen soweit zusammen, daß eine kohärente mitteleuropäische Kulturgesellschaft entsteht.

III. Es war ein langer Weg bis dorthin. Nicht nur weil die konfessionellen Gegensätze das ganze 18. Jahrhundert über im kulturellen Bereich noch nachwirkten, sondern auch, weil die konkurrierenden Programme der ständischen, vor allem aber fürstlichen Repräsentationskultur und der tendenziell egalitären Kommunikationskultur der Aufklärung neben- und gegeneinander bestanden. Höfe und Rathäuser, Zünfte und Gilden, Universitäten und Gymnasien, Bauern und Bergleute — sie alle hatten ja ihre eigenen Festkulturen, die eine Unzahl von Dichtern und Musikanten, Malern und Künstlern in Arbeit und Brot setzten. Als Beispiel diene die höfische Oper. Mit Sbarras' und Cestis >11 pomo d'oro< setzt sie 1668 prunkvoll und mächtig in Wien ein — ein Gesamtkunstwerk aus Bild, Musik, Wort und Architektur, bei dem in 67 Auftritten das Urteil des Paris agiert wird. Tausende arbeiteten an der Inszenierung mit, ganze Gärten wurden auf der Bühne installiert. Das Haus Habsburg ließ sich diese politisch-repräsentative Kunstveranstaltung nicht weniger als 100.000 Gulden kosten, vor 5.000 Zuschauern ging sie in Szene.10 Damit war ein Maßstab gesetzt, der die übrigen Höfe zu 10 Vgl. dazu Richard Alewyn, Karl Sälzle, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in D o k u m e n t und D e u t u n g , H a m b u r g 1959, zu >11 p o m o d'oro< insbes. S. 114 ff.

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ähnlichen Anstrengungen herausforderte, und gerade solche, die wie Hannover, Dresden und Berlin am Beginn des aufgeklärten Jahrhunderts eine Rangerhöhung durchgesetzt hatten. 11 München, Dresden und Braunschweig erhalten noch im 17. Jahrhundert Opernhäuser. Auch der aufgeklärte Absolutismus bleibt dieser Tradition verhaftet, und 1740 wird es eine der ersten Regierungshandlungen Friedrichs II. sein, in Berlin ein Opernhaus zu bauen und Stars wie die Sängerin Astrua und die Tänzerin Barbarina für hohe Gagen in seine Hauptstadt zu holen. Goethes Großonkel Johann Michael von Loen beschreibt 1718 ein drei Tage dauerndes Hoffest Augusts des Starken; es umfaßt einen allegorischen Aufzug von 200 Teilnehmern, ein Wettrudern zwischen venezianischen Gondoliers und holländischen Bootsleuten sowie eine Gondelprozession mitsamt nachgebautem Bucentauro auf dem großen Teich im Park von Schloß Moritzburg, ein öffentliches Bankett unter freiem Himmel, nachts Illuminationen und Feuerwerk, und am letzten Tag eine öffentliche Tierhatz. Loen abschließend: »Die Menge der Zuschauer, so bey dieser großen Jagd zugegen war, ist unbeschreiblich, und sind solcher viele von 15. bis 20. Meil wegs darumb zu gefallen gereiset«. 12 Und noch am Ende des Jahrhunderts geht es bei einem »Churfurstlichen Lustjagen in der Pfalz« kaum ärmlicher zu: öffentliches Bankett in Neckargmünd, Prunkschiff und Schiffskorso auf dem Neckar, Musik und Böller, allegorische Arrangements am Ufer, Ehrentempel auf den Höhen, ein ganzes nachgebautes Odenwälder Dorf, Triumpfbögen und anderes mehr. Einer der Tempel trug übrigens »zur Aufschrift das simple Wort: Volksliebe«. Kosten: 30.000 rheinländische Gulden. 1 3 Zur Repräsentationskultur des fürstlichen Absolutismus gehört nicht zuletzt eine lebhafte Bautätigkeit, die das ganze 18. Jahrhundert anhält und weit davon entfernt ist, sich auf Nutzbauten im Zuge des Landesausbaus zu beschränken. 11 1692 wird Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg Kurfürst von Hannover; 1697 wird Kurfürst August I. von Sachsen als August II. zum K ö n i g von Polen gewählt; 1701 wird Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg als Friedrich I. König in Preußen. 1 2 Waither Killy, Christoph Pereis (Hrsg.), Die deutsche Literatur, a.a.O. (Anm. 7), S. 1093. 1 3 Ebd., S. 1095 ff.

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Neben einer sichtlich vom italienischen Einfluß geprägten NordSüd-Bewegung in höfischer Architektur, Musik und bildender Kunst entsteht seit dem Ende des 17. Jahrhunderts aber auch eine West-Ost-Bewegung. Der Glanz Ludwigs XIV. zieht die absolutistischen Fürstentümer in seinen Bann. Und wie das Vorbild Versailles beim Adel, so findet das intellektuelle Leben von Paris und die theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Diskussion im Dreieck Paris-London-Holland ein Echo in den mittleren Ständen Nord- und Westdeutschlands. Langsam schiebt sich das französisch-englische Beispiel vor das italienisch-spanisch-österreichische, und in seinem Gefolge etabliert sich die Kommunikationskultur der Aufklärung neben der Repräsentationskultur des Absolutismus. Es ist sehr bezeichnend, daß sich Begriffe wie Architektur der Aufklärung, Malerei der Aufklärung, Musik der Aufklärung nicht durchgesetzt haben. Denn die Kultur der Aufklärung ist eine Kultur des Denkens, der Sprache, der Organisation und Interaktion im öffentlichen wie im privaten Bereich. A m Anfang ist sie noch eng an fürstliche Institutionen gebunden, seien es neu gegründete, seien es wiederbelebte und reformierte. Die Staatsräson bedient sich beider Kulturen, der repräsentierenden als eines Zeichensystems für Macht und Glanz, der kommunikativen für den Landesausbau. Auch die neuen Strömungen lassen sich instrumentalisieren, gegen den Anspruch der Kirche, gegen das Potential des Nachbarstaats. Zunächst funktioniert das ganz gut. Wenn Kurfürst Friedrich III. 1694 in Halle eine Universität errichtet, ist das zumindest auch ein unfreundlicher Akt gegen den Kurfürsten von Sachsen: er entzieht die Theologiestudenten aus den eigenen Provinzen der lutherischen Universität Wittenberg; er schwächt die Universität Leipzig: Thomasius und Wolff werden von dort abgeworben, ebenso die wirkungsvollsten Theologen — als August Hermann Franckes Collegia biblica in Leipzig verboten werden, findet der Begründer des Halleschen Pietismus in Glaucha und Halle ein neues Wirkungsfeld. 14

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Vgl. dazu Leopold von Ranke, Z w ö l f Bücher Preußischer Geschichte. Erster

und zweiter Band, Leipzig 2 1878, S. 454 ff.

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Auch das Haus Hannover nutzt eine Konfliktlage, diesmal keine sächsische, sondern eine preußische: denn die Gründung der Universität Göttingen ist auch eine Folge der Vertreibung Christian Wolffs aus Halle und Preußen durch den geistigen Machtanspruch der dortigen Pietisten, die sich bei Friedrich Wilhelm I. durchsetzen. Münchhausen lehnt es ausdrücklich ab, nach Göttingen solche Theologi zu beruffen, welche ein evangelisches Pabsthum behaupten, ihr gantzes Systema andern aufdringen, diejenigen so in gewißen das Fundamentum fidei nicht concernirenden quaestionibus mit ihnen kein gleiches Sentiment führen, verketzern, und die Libertatem conscientiae samt der Tolerantz als unleidentlich ansehen. 15

So stößt die Gründung der Georgia Augusta in eine Lücke, die die triste Hochschul- und Bildungspolitik des preußischen Königs hatte entstehen lassen. Im Wettstreit der absolutistischen Staaten waren blühende Universitäten Trümpfe, und was sein Vater versäumt hatte, vermochte Friedrich II. nicht wieder aufzuholen. Halle kam aus dem Schatten Göttingens und des wieder erstarkenden Leipzig nicht mehr heraus. Mehr Glück war Friedrich mit der Wiederbelebung der Königlichen Akademie der Wissenschaften beschieden, der einstmals berühmten Gründung Leibniz', die Friedrich Wilhelm I. vorsätzlich hatte verkommen lassen. Hannover wollte nicht nachstehen, so folgte 1751 die Gründung der »Königlichen Sozietät der Wissenschaften«16 — beide Akademien schlossen übrigens die streitlustigen Theologen und Juristen ausdrücklich aus, während ihnen die »schönen Wissenschaften« willkommen waren. Alle diese Institutionen, zu denen auch das berühmte Collegium Carolinum zu Braunschweig gehört, dienen zugleich staatspraktischen Erfordernissen: man brauchte schließlich kameralistisch und juristisch sattelfeste Staatsdiener und wohlausgebildete Geistliche, die sich bei den »schönen Wissenschaften« auch das notwendige 15 Walther Killy, Christoph Pereis (Hrsg.), Die deutsche Literatur, a.a.O. (Anm. 7), S. 1033. 16 Zur Geschichte der Universität und der Akademie der Wissenschaften in Göttingen vgl. insbes. Walther Zimmerli, Haller und Göttingen, in: Albrecht von Haller 1 7 0 8 - 1 7 7 7 . Zehn Vorträge gehalten am Berner Haller-Symposium vom 6. bis 8. Oktober 1977, Basel o.J., S. 143ff.

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rhetorische Rüstzeug geholt hatten. Die Staatsräson selber holt sich mit den Bildungs- und Forschungseinrichtungen das Räsonnement ins Land; und das bleibt nicht lange im Zirkel der Gelehrtenrepublik, sondern beginnt schon mit des Thomasius Ubergang vom lateinischen zum deutschen gelehrten Unterricht darüber hinauszudrängen. Und es beginnt in der Kameralistik zu fragen, wieviel der Fürstenstaat kostet, und weiter, ob er denn so viel kosten müsse. Gefährlich wurde es deswegen aber nicht, und wo es so schien, schnitt die Zensur die Diskussion frühzeitig ab. Modern gesonnene Fürsten haben im 18. Jahrhundert der Ausbreitung des Räsonnements selbst Vorschub geleistet. Wer den Halleschen Pietismus förderte, förderte zugleich ein Minimum von über die Waisenhäuser vermittelter Bildung auch bei solchen, denen sie sonst verschlossen geblieben wäre. Es öffnen sich einen Spalt breit die bis dahin hofinternen Naturalienkabinette, Bibliotheken und Kunstsammlungen, jedenfalls fur »hommes de qualite« und Personen »von Distinction«. Die berühmten Antikensammlungen des 18. Jahrhunderts 17 in Berlin, Dresden, Wörlitz und Mannheim sind dafür nur das auffälligste und bekannteste Beispiel. Christian Gottlob Heyne, von Dresden nach Göttingen berufen, sorgte dafür, daß die Universität 1767 als erste mit einer Lehrsammlung von Gipsabgüssen versehen wurde. Er kannte den Rang der Dresdner Antikensammlung und natürlich auch die Mängel in ihrer Präsentation. Der Mannheimer Antikensaal wurde sogleich zum Wallfahrtsort zahlreicher Künstler und Schriftsteller. Das Offentlichwerden der fürstlichen Sammlungen gab dem Gespräch über Natur und Kunst — und das war kein unbedeutender Teil des aufgeklärten Gesprächs im Ganzen - qualifiziertes Anschauungsmaterial und kräftige Impulse. Uber mehrere Dezennien, etwa bis zur Mitte des Jahrhunderts, bleibt dieses Gespräch fast ausschließlich Unterrichtsgespräch. Eine Salonkultur sucht man vergebens, die wenigen Ausnahmen — Warthausen, Tiefurt — bestätigen nur die Regel. Das Cafehaus als Treffpunkt für geselligen Austausch, in London wichtiger Umschlagplatz für Nachrichten und Meinungen, spielt vorerst nur in Hamburg 17 Vgl. Herbert Beck, Peter C. Bol, Wolfram Prinz, Hans v. Steuben (Hrsg.), Antikensammlungen im 18. Jahrhundert, Berlin 1981 (Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 9).

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eine nennenswerte Rolle. Höchst bemerkenswert hingegen sind Wandlungen des Familienlebens. Der Stil des Miteinander der Generationen und besonders auch der Geschlechter im Haus Johann Caspar Goethes mag zwar im einzelnen ungewöhnlich sein; daß Debatten über Literatur und Kunst, Recht und Politik nur bei den Goethes geführt worden sein sollten, ist aber doch unwahrscheinlich. Der junge Johann Wolfgang hat hier nicht nur den Streit über Klopstocks >Messias< oder über Johann Michael von Loens Religionsansichten, sondern auch den zwischen den kaiserlich gesonnenen Textors und den preußisch denkenden Goethes unmittelbar mitbekommen. 1 8 Und Catharina Elisabeth Goethe war nicht die Frau, in weiblicher Schüchternheit mit ihren Meinungen hinterm Berg zu halten, eher das, was die Kritiker wachsenden weiblichen Selbstbewußtseins im 18. Jahrhundert »eine wilde Hummel« nannten. 19 Sie schmuggelte Klopstocks >Messias< ins Goethesche Haus ein und frönte ihrer Theaterleidenschaft; und als 1775 Leopold Stolberg vor den wüsten Sturm und Drang-Freunden seinen >Freiheitsgesang aus dem 20. Jahrhundert am Großen Hirschgraben vortrug, hat sie sich den dreifachen Ausruf »Tyrannenblut! Tyrannenblut! Tyrannenblut!« als Aufforderung zu Mord und Totschlag energisch verbeten. 20 Als Lavater, Felix Heß und Johann Heinrich Füssli wegen ihrer politisch-demokratischen Aktivitäten aus Zürich verbannt wurden, besuchten sie ihre Gesinnungsfreunde in Deutschland, unter anderen den Pfarrer Johann Joachim Spalding 1763 im pommerschen Städtchen Barth. Füssli hat in einem reizenden Genrebild die Familie mit den Gästen beim Frühstück festgehalten. Ein Buch auf dem Tisch, ein Blatt mit Strophen Klopstocks an der Wand, und weder Frau noch Kind vom lebhaften Gespräch ausgeschlossen. 21 Kunst-, Bildungs- und mindestens auch kirchenDichtung und Wahrheit. Erster Theil. Zweites Buch, WA I, 26, 122ff., 115f. Vgl. die Bemerkung im >Abriß von dem neuesten Zustande der Gelehrsamkeit^ 4. Stück, Göttingen 1738, S. 408: »Viele, zumahl die von dem schüchternen Geschlechte des Frauenzimmers, sind furchtsam, etwas gutes mit einer freyen Art zu sagen. Wenn sie auch vor allen andern Schimpfwörtern sicher sein könnten, so möchten sie doch wohl den Beynahmen einer wilden Hummel davon tragen«. 18

19

20

Vgl. Dichtung und Wahrheit. Vierter Theil. Achtzehntes Buch, WA I, 29,

88 ff. 2 1 Vgl. Petra Maisak, Aspekte der Kunst im Sturm und Drang, in: Christoph Pereis (Hrsg.), Sturm und Drang, a.a.O. (Anm. 3), S. 254.

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kritische Fragen wurden mit Gewißheit auch in anderen Familien unter Teilnahme der älteren Kinder und der Frauen angesprochen. Das erste deutsche Philosophielehrbuch für Frauen — es erschien 1751 — wurde tatsächlich von einer jungen Frau unter Mithilfe ihres Vormunds und Onkels geschrieben. 22 Im letzten Drittel des Jahrhunderts dürfte die Beteiligung der Frauen am über das Häusliche hinausgehenden Gespräch in der Familie schon eine weitverbreitete Erscheinung in bürgerlichen Kreisen gewesen sein, sonst hätte Sophie la R o c h e es kaum wagen dürfen, die erste Zeitschrift für Frauen zu gründen (1783/84). 2 3 Und nicht nur das Familienleben wandelt sich, sondern auch das Studentenleben. An zahlreichen Universitäten läßt sich die Entstehung informeller Freundeszirkel beobachten: in Halle um die dort verbliebenen Wolff-Schüler Baumgarten und Meier, mit erkennbar antipietistischer Tendenz; 24 in Leipzig eine Gruppe um Geliert, zu der sich Klopstock hält, 25 eine andere um Kästner, der Lessing angehört; 26 ein Freundeskreis in Göttingen orientiert sich an Albrecht von Haller; 27 und in Tübingen und Frankfurt an der Oder gibt es um die Jahrhundertmitte ähnliche studentische Gruppenbildungen. 28 Zwanzig Jahre später konstituiert sich der Göttinger Hain, in Straßburg geht um 1770 aus einer lockeren studentischen Tischgesellschaft eine »Deutsche Gesellschaft« hervor, sie gründet die Zeit-

22

Johanne Charlotte Ziegler, Grundriß einer Weltweisheit für das Frauenzimmer,

Halle 1751. D i e Verf. heiratete wenig später den Mediziner Johann August Unzer und publizierte dann unter ihrem Ehenamen. 23

>Pomona für Teutschlands Tüchten, Speyer 1783/84.

24

Vgl. insbes. Konrad Baer, Der j u n g e Gleim und die Hallesche Schule. Diss,

(masch.) Erlangen 1924. 25

Dazu Erich Schmidt, Beiträge zur Kenntnis der Klopstockschen Jugendlyrik,

Straßburg 1880. 26

Vgl. Erich Schmidt, Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften,

Bd. 1, Berlin 4 1923. Ernst Consentius, Lessing und die Vossische Zeitung, Leipzig 1902. 27

Z u ihm gehörten u. a. Johann Friedrich Camerer und sein bekannterer Freund

Johann Friedrich Löwen. 2ti

Der Tübinger Kreis trat an die Öffentlichkeit mit Gedichtpublikationen G e o r g

Jacob Duttenhofers und Johann Ludwig Hubers, aus der G r u p p e in Frankfurt/Oder ragt der Theologiestudent Johann Samuel Patzke hervor.

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schrift >Der BürgerfreundDas Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit Bd. 1, 1751, abgedruckt in: Walther Killy, Christoph Pereis (Hrsg.), Die deutsche Literatur, a.a.O. (Anm. 7), S. 717.

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Aufklärung geschieht durch Rede und allenfalls durch deren optische Illustration. So bleiben die Anteile der Malerei und der Musik an der Kommunikationskultur des 18. Jahrhunderts sekundär. Immerhin gab es doch Annäherungen. Etwa in der ersten Berliner Liederschule, um 1750. Ihre Kompositionstechniken in Wort, Melodie, Tonsatz und Instrumentation sind bewußt in Abwendung von der Opernarie konzipiert, bewußt antirepräsentativ angelegt. Der Komponist Krause erläutert dem Textdichter Gleim, was man intendiert: Stellen Sie sich eine solche Gesellschaft mit Frauenzimmern vor, wie Sie mit H. Klopstock, Herrn Sulzern vor etlichen Jahren in Magdeburg gehabt, wo man folatiert, springt, scherzt etc. und wo man nicht zusammenkommt, zu musiciren, wo aber doch Keinem übelgenommen wird, wenn er sich an einen Flügel stellt, eines spielt und eines singet oder auch selbst ohne Flügel eines singet. 3 4

Gedacht ist an Hausmusik und Laiengesang im Familien- oder Freundeskreis, ohne umständliche Vorbereitung, ohne Starauftritt, tendenziell der aktiven Teilnahme jedermanns offen, und doch nicht ohne Kunstanspruch. Der Zug zum leicht und allgemein Verfügbaren kennzeichnet auch die Entwicklung in Malerei und Graphik. Das repräsentative Historienbild tritt zurück hinter dem kleinformatigen Genrebild, der Landschafts- und Porträtmalerei. Die Druckgraphik als Buchillustration nimmt ungeahnte Ausmaße an, bei Daniel Chodowiecki darf man schon von fabrikmäßiger Produktion sprechen. 35 Nicht weniger charakteristisch für die Kommunikationsstrukturen der aufgeklärten Gesellschaft, gewissermaßen das Pendant der freundschaftlichen Korrespondenzen und der von Freunden verfaßten Anthologien, Almanache und Zeitschriften sind die Porträtsammlungen, die Vergegenwärtigung der Freunde im Bild. Vom »Freundschaftstem-

34

D e r Brief (vom 29. Dez. 1752) ist abgedruckt in: Ewald Christian von Kleist,

Werke, hrsg. und mit Anm. begleitet von August Sauer, Bd. 2, Leipzig 1881, S. 253, Anm. 2. 35

Vgl.

Klaus Gallwitz, Margret Stuffmann (Hrsg.), Bürgerliches

Leben

im

18. Jahrhundert. Daniel Chodowiecki 1 7 2 6 - 1 8 0 1 . Zeichnungen und Druckgraphik, Katalog, bearbeitet von Peter Märker, Frankfurt, Städel 1978.

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DIE MÄCHTIGEN U N D DIE MUSEN

pel«, wie dem Gleimschen in Halberstadt, 36 bis zu schlichtesten Silhouetten-Alben trägt die Porträtkunst zur Stabilisierung der freundschaftlichen Herzens- und Geistesbündnisse bei. Dennoch ist unbestreitbar, daß von den schönen Künsten nur die Redekünste Entscheidendes zur Kultur der Aufklärung beigetragen haben, und man mag darin ein gewisses Defizit des 18. Jahrhunderts gegenüber der Kultur des vorausgehenden Barock und der nachfolgenden Romantik sehen. Indessen lagen Theorie der schönen Künste, Dichtungstheorie und auch Dichtung selbst als Teile der Gelehrsamkeit nun einmal in der Obhut der gelehrten Anstalten und wurden infolgedessen weit stärker in die dort aufkommende Diskussionslust einbezogen, während Musik und Malerei den Traditionen handwerklichen Spezialistentums verhaftet blieben. So hat die Kulturentwicklung des 18. Jahrhunderts für die deutsche Literatur unendlich viel mehr erbracht als für die beiden Schwesterkünste. 37 Da sich die Programmatik der Aufklärung ihrem eigenen Prinzip nach an alle wendet, werden Verständlichkeit, Leichtigkeit, Natürlichkeit des sprachlichen Ausdrucks zum Stilideal. In Poesie und Prosa gewinnt die deutsche Sprache eine solche Flexibilität und Klarheit, eine solche Nuanciertheit und zugleich Einfachheit, daß selbst die bereits um 1770 einsetzende Gegenbewegung zwar zur Vertiefung und Individualisierung des Ausdrucks, aber nicht zu erneuter Erstarrung fuhrt. Am meisten hat die deutsche Prosa von dieser Entwicklung profitiert. Lessing und Wieland verwirklichten die in ihr enthaltenen Möglichkeiten als erste auf höchstem Niveau. Aber auch der Ruhm, den geistliche Autoren wie Mosheim, Spalding und Jerusalem, weltliche wie Geliert, Mendelssohn und Moser genossen (und viele Namen ließen sich hier anschließen), galt nicht allein dem, was sie sagten, sondern nicht minder dem, wie sie es sagten. Jetzt erst konnte die deutsche Sprache mit dem Lateinischen als der Lingua franca der Gelehrten und mit dem Französischen als der Lingua franca der Diplomatie und der Höfe konkurrieren und

3 6 o.Vf., Der Freundschaftstempel im Gleimhause zu Halberstadt. Katalog der Bildnisse. Biographische Notizen. Verzeichnis der Maler, Halberstadt o.J. (1911). 3 7 Unübertroffen Eric A. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700—1775. Mit einem Bericht über neue Forschungsergebnisse von Dieter Kimpel, Stuttgart 1966.

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sie später in Mitteleuropa ablösen. Geliert vor allem, aber auch Lessing und Wieland und sogar Klopstock wurden von Wien bis Hamburg und von Straßburg bis Königsberg verstanden. Wenn Goethe 1825 gegenüber Eckermann bemerkt: »Wielanden verdankt das ganze obere Deutschland seinen Stil. Es hat viel von ihm gelernt, und die Fähigkeit, sich gehörig auszudrücken, ist nicht das geringste«, 38 dann hält er damit nur einen Ausschnitt aus einem größeren Gesamtvorgang pointierend fest. Die deutsche Sprache erreicht eine Reife, von der wir noch heute unmittelbar zehren: aus dem 18. Jahrhundert stammen die ersten Bühnenstücke, die man ohne große Modernisierungen spielen kann, aus demselben Jahrhundert noch heute verlegte Ubersetzungen der Weltliteratur.

IV. Der Prozeß, in dessen Verlauf die Kommunikationskultur der Aufklärung sich von einzelnen Impulsen staatlicher Bildungs-, Kulturund Ameliorationspolitik löst und nach und nach ganz Mitteleuropa erfaßt, verläuft, wie schon angedeutet, nicht überall gleichzeitig und gleich schnell. Man kann das besonders deutlich an den Staatenwechseln ablesen, die prominente Aufklärer auf der Suche nach Entfaltungsmöglichkeiten vollzogen. Zumeist fuhren die Wege in avanciertere Territorien. Gottsched flüchtet aus dem Preußen des Soldatenkönigs nach Sachsen; 39 Haller verläßt das aristokratischenge Bern und geht an die aufgeklärte Universität Göttingen; 40 der Begründer der Sozialmedizin Johann Peter Frank wechselt zunächst vom konservativen Baden-Baden ins ebenso konservative Fürstbistum Speyer, folgt dann einem R u f nach Göttingen, wandert weiter ins josephinische Osterreich und geht von da, als der antiaufklärerische Umschwung einsetzt, nach St. Petersburg. 41 Lessing verläßt resigniert das Fridericianische Preußen und findet schließlich sei-

38

Goethes Gespräche mit Eckermann, Leipzig 1921, S. 155. T h e o d o r Wilhelm Danzel, Gottsched und seine Zeit, Leipzig 2 1855.

40 41

Christoph Siegrist, Albrecht von Haller, Stuttgart 1967. Johann Peter Frank, Seine Selbstbiographie, hrsg., eingel. u. mit Erläuterungen

versehen von Erna Lesky, Bern und Stuttgart 1969.

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nen — für einen Mann seines Formats freilich immer noch ungenügenden — Platz im aufgeklärten Braunschweig-Wolfenbüttel Carls I. 4 2 Weder Goethe noch sein Schwager Schlosser sehen ihre Zukunft im noch halb mittelalterlichen Frankfurt am Main, sondern in kleinen aufgeklärten Fürstenstaaten wie Sachsen-Weimar und der Markgrafschaft Baden. 4 3 Das Auffällige an dieser heimatflüchtigen Mobilität ist, daß die Hoffnungen sich nicht auf die patrizischen, also doch immerhin halb republikanischen Freien Reichsstädte richten: von deren Immobilität wußten Schlosser aus Frankfurt und mehr noch Wieland aus Biberach 44 ein Lied zu singen. Aber sie richten sich auch nicht auf die wirklich mächtigen Staaten Preußen und Osterreich. So sehr nach 1764 aufklärerisches Denken an den Höfen in Berlin, Wien und St. Petersburg vorherrscht, sie sind allesamt verspätet, trotz des Regiments des R o i philosophe seit 1740. Man vergleiche sie nur mit den Rheinanliegerstaaten von Hessen-Darmstadt über die Pfalz und die Markgrafschaft Baden bis hinunter nach Zürich, oder mit Hamburg und den weifischen Höfen, oder mit den wettinischen Herzogtümern. In diesen Ländern war in der Regel der Abstand zwischen der Hofgesellschaft und den bürgerlichen Trägern aufgeklärter Ideen viel geringer als in Potsdam oder Schönbrunn. In den Fürstenfamilien selbst ergriff man die neuen Gedanken nicht nur als Mittel zu stärkerer Machtkonsolidierung, vielmehr kam es zu einer partiellen Verbürgerlichung der aristokratischen Köpfe, trotz höfischer Etikette und ständischer Privilegien. Goethe und Carl August als Orest und Pylades: 45 ein Bühnentraum, gewiß, und doch auch ein Indiz. Nehmen wir als Beispiel die Pfalz. Innerhalb von nicht einmal zwanzig Jahren setzte Kurfürst Carl Theodor einen Akzent nach dem anderen: 1758 die Zeichnungsakademie und Bildhauerschule, 1763 mit Schöpflins Hilfe die Kurpfälzische Akademie der Wissenschaften, 1765 die Chirurgische und Anatomische Anstalt, ab 1775 die entscheidenden Schritte zur Gründung des Mannheimer Natio42

Karl S. Guthke, Heinrich Schneider, Gotthold Ephraim Lessing, Stuttgart 1967.

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Christoph Pereis (Hrsg.), Sturm und Drang, a.a.O. (Anm. 3), passim. Vgl. Friedrich Sengle, Wieland, Stuttgart 1949, S. 119 ff. Bei der Auffuhrung der Iphigenie auf Tauris< am 12. Juli 1779 in Ettersburg.

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naltheaters und zu einer Kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft, 1777 beginnen die >Rheinischen Beiträge zur Gelehrsamkeit zu erscheinen. 46 Kein Zufall, daß bei Schwan in Mannheim die vier Bände von Franks >Medicinischer Policey< 1779 bis 1788 erscheinen, kein Zufall, daß Schwan und Mannheim erste Fluchtadressen des jungen Schiller sind. 47 In der Markgrafschaft Baden gipfelt die aufgeklärte Politik Carl Friedrichs 1783 in der Aufhebung der Leibeigenschaft. Damals schmiedet ein Verehrer des Fürsten die Verse: A u f B ü r g e r Badens! B r ü d e r l i c h e r w a n d e l t Z u s a m m e n , k ü ß t e u c h , helft e u c h , handelt N a c h süßer Wahl, u m t a u s c h e t Sitz u n d Flur, Ihr Eines Vaters K i n d e r nur! W e r b t , pflanzt, veredelt Künste! N ä r e t E u c h d u r c h e i n a n d e r ! Schaut, d e r F r e m d l i n g h ö r e t , W i e sanft bei uns d e r Fleiß a m A b e n d r u h t : Bald flüchtet er zu e u c h , u n d m e r e t M i t seinen Schätzen e u e r G u t . D e r M e n s c h h e i t heiige R e c h t e retten; Z e r b r e c h e n die v o m I r r t u m angeschmid'ten K e t t e n : W e r k a n n u n d tut, d e m steig ein D e n k m a l an d e n Pol! »Nur in des Volkes Heil fand er des Herrschers Wol«48

V. Unter allen Staaten des Reichs hat freilich das Sachsen-Weimar Anna Amalias und Carl Augusts die schönsten Ergebnisse aufgeklärter Kultur an seinen Namen geheftet. Denn wie stand es, als 1789 das philosophische Jahrhundert in der Französischen Revolution seinen Höhepunkt und seine Peripetie erreichte, als, u m noch ein46 Vgl. Ulrike Leuschner, Maler Müller und der Sturm und Drang in Mannheim, in: Christoph Pereis (Hrsg.), Sturm und Drang, a.a.O. (Anm. 3), S. 203ff. 47 Vgl. Werner Volke, Nachhall - Friedrich Schiller, in: Christoph Pereis (Hrsg.), Sturm und Drang, a.a.O. (Anm. 3), bes. S. 304f. 48 Verfasser ist Karl Freiherr von Drais. Der Text ist abgedruckt in: Walther Killy, Christoph Pereis (Hrsg.), Die deutsche Literatur, a.a.O. (Anm. 7), S. 1157.

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mal mit Jacob Burckhardt zu sprechen, in Frankreich eine Konstellation eintrat, gemäß welcher »der Durchbruch der Demokratie als Überwältigung des Staates durch die Kultur« erscheint, »welche hier so viel als Raisonnement ist« 49 ? Diesen Moment gab es in keinem Staat des Deutschen Reiches. In Deutschland spaltet sich die Aufklärung, soweit sie über das aufgeklärte staatliche Verwaltungshandeln hinaus zu einer umfassenden Kommunikationskultur geworden war, nach zwei Richtungen auf: als freie Kunst und als freier Markt der Meinungen. In den neunziger Jahren konkurrieren miteinander die Bühnen- und Romanliteratur der Spätaufklärung, die Weimarer Klassik mit ihrem neuhumanistischen Begleitprogramm und die Literatur der Frühromantik. Klassik und Romantik lösen sich aus dem allgemeinen Kommunikationszusammenhang, der durch das vernünftige Raisonnement zusammengehalten wurde. Sie konstituieren die Kunst als eigenständiges Organon der Erkenntnis. Sie geben die Absicht unmittelbarer Wirkung auf Staat und Gesellschaft auf. U m es mit einer Anekdote zu erläutern, die Tairow erzählt: In Brüssel wurde im Jahre 1830 im Theatre M o n n a i e die >Stumme< aufgeführt. Als von der B ü h n e herab die Worte »Geheiliget ist die Liebe z u m Vaterland« erschollen, da sprang die revolutionäre Begeisterung, die diese Worte im Stück hervorrufen, von der B ü h n e a u f den Zuschauerraum über u n d vereinigte das ganze Theater in einem so gewaltigen Aufschwung, daß Zuschauer wie Schauspieler Stühle, B ä n k e und alles, was ihnen in die H ä n d e geriet, ergriffen und aus d e m Theater auf die Straße stürmten. S o begann die belgische R e v o l u t i o n (...) Hier hatte das T h e a ter die schöne und edle R o l l e der Fackel gespielt, an der sich die Flamm e n der R e v o l u t i o n entzündeten, aber - die Vorstellung war damit abgebrochen . . . die theatralische H a n d l u n g ausgelöscht. 5 0

Nein, gerade das wollte man in Weimar nicht, man wollte, daß die Vorstellung weiterging, man versprach sich von der Kunst mehr fur das Wohl der Menschheit als von der Politik oder gar von einer Revolution. 4 9 Jacob Burckhardt, a.a.O. (Anm. 1), S. 159f. - Burckhardts Überlegungen gelten an dieser Stelle nicht dem 18. Jh., sondern den Verhältnissen in und zwischen den antiken Poleis und ihren Kolonien. 5 0 Alexander Tairow, Das entfesselte Theater, Köln 1964, S. 165 (Collection Theater Werkbücher Bd. 1)

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Und auch die Forderung nach freiem Publizieren schlug nicht um in die Forderung nach politischer Selbstbestimmung und nach Teilhabe an der Macht. Dabei hat beinahe jeder Schriftsteller von einigem Rang im 18. Jahrhundert Probleme mit staatlicher oder mit staatlich gestützter kirchlicher Zensur gehabt. So auch Immanuel Kant, aber er ist auch der einzige, der sich auf Grund dieses Zusammenstoßes prinzipielle Gedanken über Recht und Grenzen der Opposition im Staat gemacht hat. 51 1795 war ihm jede weitere publizistische Vertretung seiner Philosophie durch Kabinettsordre verboten worden. Unbekümmert und unverfolgt publiziert er weiter, aber er ärgert sich. Dennoch lehnt er jedes Widerstandsrecht ab und verlangt nur eins vom Souverän: daß er die Freiheit der Feder garantiere. Der Souverän muß wissen, was sich dem Untertan als Unrecht darstellt, und gegebenenfalls für Abhilfe sorgen. Und der Untertan muß voraussetzen können, daß der Herrscher ihm nicht absichtlich Unrecht tun wolle. Publizität allein ist der Weg zur Aufdeckung von Fehlern und zu deren Korrektur. Thomas Hobbes, der Staatstheoretiker des Absolutismus, hatte überhaupt in Abrede gestellt, der absolute Herrscher könne Unrecht tun. Das sieht Kant denn doch anders, er schließt zwar bösen Willen der höchsten Macht aus, nicht aber Irrtum und Unkenntnis. Eine Legitimationspflicht gegenüber dem Untertan hat die souveräne Macht zwar auch bei ihm nicht, sie ist vielmehr der Inbegriff rechtsetzender Gewalt, aber sie ist moralisch verpflichtet. Revolution ist ebenso verwerflich wie sich legitimistisch begründende Gegenrevolution. Die Wohlfahrt des Einzelnen kommt als Kriterium für bessere oder schlechtere Machtausübung nicht in Betracht. Der Staat fungiert vielmehr zur Vervollkommnung der Menschengattung im Ganzen, er ist ein Zuchtmeister der Menschheit zur Moral. Denn nicht das Glück des Einzelnen in einem Reich der Freiheit ist das Ziel der Geschichte, sondern der ewige Friede — und der kann nur eine Stiftung des Rechts, nämlich eine Uberwölbung des privaten und des öffentlichen Rechts durch das Völkerrecht sein. Vgl. zum Folgenden insbes. Ernst Cassirer, D i e Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932; Otto von Gierke, Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Aalen 5 1958; Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 3 1929. 51

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Daß es empirisch mit dem Verhältnis von Macht und R e c h t (und ebenso mit dem Verhältnis von Macht und Freiheit) im aufgeklärten Staat und erst recht im Staatensystem anders bestellt war als in der Theorie, das wußte Kant natürlich ganz genau. Daher die Ironie in der Schrift >Zum ewigen FriedenZum ewigen FriedenDichtung und Wahr-

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der hessischen Fürstentümer gehörten kleinere Herrschaften an der mittleren Saar und i m Unterelsaß, verstreute Gebiete der Grafschaft Hanau-Lichtenberg reichten bis nahe an das Weichbild von Straßburg heran. Aus Buchsweiler, dem Hauptort dieser Grafschaft mit dem bedeutendsten Gymnasium im Unterelsaß, stammten Goethes Straßburger Studiengenossen Franz Christian Lerse und Friedrich Leopold Weyland: ihr Landesherr war niemand anderer als der Landgraf von Hessen-Darmstadt, denn Hanau-Lichtenberg war Darmstädter Territorium unter französischer Oberhoheit. Ein anderer Studienfreund, Johann Konrad Engelbach, war nassauisches Landeskind, er, Goethe und Weyland waren im Sommer 1770 schon eine ganze Weile durch nassauisches Gebiet geritten, als sie in Saarbrücken den nassauischen Regierungspräsidenten Hieronymus M a x von Günderode besuchten, und der wiederum stammte aus einer Frankfurter Patrizierfamilie. Caroline Flachsland ist im elsässischen Städtchen Reichenweier geboren und damit — württembergisches Landeskind. Denn Reichenweier gehört wie einige andere elsässische Territorien bis zu den Revolutionskriegen zum Herzogtum Württemberg. Sie wächst in Darmstadt auf, und Herder fuhrt mit seiner zukünftigen Frau im Straßburger Winter 1770/1771 eine lebhafte Korrespondenz. Politisch wie geographisch fügt sich die heit< ein eindringliches Porträt: »Er gehörte zu den glücklichen Menschen, (...) die dem Lebensinteresse das historische Wissen anzuknüpfen verstehn. (...) sein großes Werk Alsatia illustrata gehört dem Leben an, indem er die Vergangenheit wieder hervorruft, verblichene Gestalten auffrischt, den behauenen, den gebildeten Stein wieder belebt, erloschene zerstückte Inschriften zum zweiten Mal vor die Augen, vor den Sinn des Lesers bringt.« Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin von Sachsen. I. Abteilung. Goethes Werke 28. Bd., Weimar 1890, S. 45ff.; das Zitat S. 45 und 47 (im folgenden abgekürzt WA mit römischer Abteilungszahl und arabischen Band- und Seitenzahlen). - Das von Goethe gerühmte Werk: Alsatia Illustrata Germanica Gallica Auetor Jo. Daniel Schoepflinus Consil. & Historiographus Regius [Titelvignette mit den Schutzgöttinnen des Nordgaus, Straßburgs und des Sundgaus] Colmariae - E x Typographia Regia M D C C L X I . - In der Bibliothek seines Vaters konnte Goethe Schöpflins zweites großes Werk finden: Historia Zaringo Badensis Auetor Jo. Daniel Schoepflinus Historiographus Franciae. T. 1 - 3 . Carolsruhae: E x Off. Macklotiana 1763. - Obwohl Goethe nicht in ein näheres Verhältnis zu Schöpflin trat, erhielt er durch dessen Freunde Koch und Jeremias Jacob Oberlin Gelegenheit, mehrfach Schöpflins »Museum«, seine Sammlung von Altertümern zu besichtigen. 1772 gab Oberlin einen Katalog der Bestände heraus, der sich ebenfalls in der Bibliothek Johann Caspar Goethes findet. Vgl. WA I, 28, 48.

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elsässische Kapitale eng in die süd- und westmitteleuropäische, vielfältig gegliederte Territoriallandschaft ein. Wer damals aus dem Reich nach Straßburg kommt, ist nicht in der Fremde.

Stadt und Universität Straßburg um 1770 Wenn etwas die Stadt Straßburg in den Augen eines gebildeten Deutschen des 18. Jahrhunderts auszeichnete, dann war es, daß man damals hier, und nur hier, eine nach deutscher Hochschultradition verfaßte Universität inmitten eines weitgehend französisch orientierten städtischen Umfeldes fand. Da für jede intellektuelle berufliche Laufbahn nicht weniger als fiir jede höfische Ambition das Französische unentbehrlich war, hatte Straßburg eine gewisse Attraktivität für junge Leute aus Ost- und Mitteleuropa, die ihre Studien abschließen und zugleich ihre französischen Sprachkenntnisse vervollkommnen wollten. Das vermochte freilich fur literarisch Interessierte den gänzlichen Mangel an kulturellem Leben nicht auszugleichen. Wer schriftstellerischen Ehrgeiz hatte, ging nach Göttingen oder Leipzig, aber nicht nach Straßburg. Goethe folgte einem Wunsch seines Vaters, der selbst 1741 fur kurze Zeit in Straßburg Student gewesen war.2 Johann Gottfried Herder kam hierher, um sich der Behandlung eines Augenleidens zu unterziehen, Johann Heinrich Jung-Stilling, um Medizin zu studieren. Zwei Barone Kleist wollten als Offiziere Dienst in der französischen Armee tun und brachten als Reisebegleiter den jungen Jakob Michael Reinhold Lenz mit. Heinrich Leopold Wagner ist gebürtiger Straßburger und gleichzeitig mit Goethe als Student der Jurisprudenz an seiner Heimatuniversität immatrikuliert. Der Ruf der Universität Straßburg beruhte in der Mitte des 18. Jahrhunderts, wenn man einmal von Schöpflin absieht, der der philosophischen Fakultät angehörte, auf der medizinischen und auch noch der juristischen Fakultät. Unter den 51 Studenten der Jurisprudenz im Sommer 1770 konnte Goethe immerhin acht fin2

Vgl. Ernst Beutler (Hrsg.), J o h a n n Caspar G o e t h e - Cornelia G o e t h e - Catharina Elisabeth Goethe. Briefe aus dem Elternhaus, Z ü r i c h 1960, S. 76 ff.

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den, die wie er aus dem Reich kamen. Es ist aber bezeichnend, daß er während seiner drei Straßburger Semester in seinem Fach zwar gerade so viel tat, wie er mußte, im übrigen jedoch viel mit Medizinern umging. Personell ließ freilich auch die medizinische Fakultät um 1770 schon einiges zu wünschen übrig, es gab aber in der Stadt eine Reihe für die damalige Zeit moderner klinischer Einrichtungen, die der Universität verbunden waren und deren Lehrangebot ergänzten. In der umgebauten Kapelle des Bürgerspitals hielt Johann Friedrich Lobstein seine anatomischen Übungen ab, ferner unterrichtete Johann Friedrich Ehrmann die Studenten hier unmittelbar am Krankenbett. In der 1726 gegründeten Hebammenschule lehrte und demonstrierte Josias Weigen die ärztliche Kunst des Entbindens. Die starke französische Garnison verfügte über ein modernes Militärhospital, das auch der medizinischen, insbesondere der chirurgischen Ausbildung diente. Vor allem dieser großen Praxisnähe wegen genoß das Straßburger Medizinstudium über das engere Umland hinaus Ansehen. Goethe nahm an ihm teil als Dilettant, aber eine medizinische Kapazität wie Johann Peter Frank, von rousseauistischen Gedanken geprägt, Propagator einer naturgemäßen Lebensweise und auch des Schlittschuhlaufens, 1770 in badischen Diensten, hat fünf Jahre zuvor in Straßburg studiert und nennt in seiner Autobiographie mit der größten Hochachtung einige der Lehrer, bei denen auch Goethe noch hörte. 3

Goethes erstes Straßburger Semester, Sommer 1770 Anfang April 1770 traf der junge Frankfurter in Straßburg ein und stieg zunächst im Gasthof »Zum Geist« ab, am Thomasstaden unmittelbar an der III. Wenig später, wohl vom 9. April an, bezog er sein dauerndes Logis inmitten der Altstadt am Alten Fischmarkt beim Kürschner Schlag, einem Frankfurter, der sich 1765 in Straßburg niedergelassen hatte. Von hier waren es nur wenige Schritte zum Münster. In der nahe gelegenen Knoblochgasse traf sich bei den Schwestern Anna Maria und Susanna Margareta Lauth die von 3 Vgl. Johann Peter Frank, Seine Selbstbiographie, hrsg., eingel. u n d mit Erläuterungen versehen von Erna Lesky, B e r n u. Stuttgart 1969, S. 42ff.

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Aktuarius Johann Daniel Salzmann dirigierte Tischgesellschaft, zu der sich der zwanzigjährige Neuankömmling bald gesellte. A m 18. April immatrikulierte sich Goethe an der Universität. Architektonisch bot die Stadt damals ein zwiespältiges Ansehen. Im Kern mittelalterlich, nur einige Adelspaläste wie das Palais Rohan und das Hotel de Hanau und jüngere öffentliche Gebäude waren dem Baustil der Regence verpflichtet. Die Rhein- und Ill-Auen, der Wasserzoll und der Contade-Park boten reizvolles Spaziergelände, doch waren gerade die Außenbezirke nicht zuletzt auch militärischen Bedürfnissen angepaßt, Straßburg war nicht nur die alte Stadt des Münsters, sondern auch ein wichtiges Glied in der Kette der neuen französischen Festungen von Hüningen im Süden bis Landau im Norden. Zu den Diskussionsthemen der 45000 Einwohner gehörten gerade im Frühjahr und Sommer 1770 die Pläne des französischen Hofarchitekten Jacques F r a n c i s Blondel, die Altstadt durch breite und gerade Avenuen zu öffnen. Goethe erwähnt in >Dichtung und Wahrheit< dieses Vorhaben zur »Verschönerung der Stadt«, 4 das allerdings nicht zuletzt dem Zweck dienen sollte, die Kommunikation zwischen den militärischen Einrichtungen am Nord- und Südrand der Stadt zu erleichtern. Es kam schließlich nur in stark reduzierter Form zur Ausführung. 5 Das zweite große Thema im Straßburg dieses Frühjahrs: der bevorstehende Durchzug der künftigen Dauphine Marie-Antoinette auf dem Weg von Wien nach Paris. Goethe hat von dem Ereignis, vor allem von seiner Bewunderung für die aus diesem Anlaß in Straßburg gezeigten Teppiche nach Kartons von Raffael berichtet. In >Dichtung und Wahrheit< hebt er vor allem auf den ApostelZyklus ab, den er 1787 in R o m wiedergesehen hatte.6 Das einzige zeitgleiche Zeugnis von Goethes Hand, der Brief an Ernst Theodor Langer vom 29. April 1770, geht nur auf Raffaels >Schule von Athen< ausfuhrlicher ein:

WA I, 27, 260. Vgl. Georges Livet, Crise economique et tensions sociales ä Strasbourg et en Alsace a l'epoque de Goethe ( 1 7 7 0 - 1 7 7 1 ) , in: R e v u e d'Allemagne, Bd. 3, Nr. 1, Januar/März 1971, S. 23 f. 6 Vgl. WA I, 27, 238 ff. 4 5

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Es läßt sich gar nichts darüber sagen; aber das weiss ich, dass ich von dem Augenblicke an, da ich sie zum ersten sah, eine neue Epoque meiner Kenntnisse rechnen werde. Es ist ein Abgrund von Kunst so ein Stück. 7

Hier spricht noch der von Winckelmannschen Ideen erfüllte Schüler Adam Friedrich Oesers, und der Weg zum gotischen Münster scheint noch unendlich weit. »Nach Italien Langer! Nach Italien«! ruft der Untermieter aus dem düsteren mittelalterlichen Gässchengewirr dem Leipziger Freund zu. 8 Hatte dieser Staatsakt von europäischen Dimensionen hohe Bedeutung für den Studenten, weil er ihm eine Begegnung mit hoher Kunst bescherte, so findet man auf einen anderen, die Straßburger bedrängenden Vorgang bei Goethe kaum ein Echo. Mit den Freunden Weyland und Engelbach unternimmt er vom 22. Juni bis 4. Juli die bereits erwähnte Reise durchs Unterelsaß und nach Saarbrücken. In Pfalzburg verweigert der Bäkker den Reisenden den Verkauf von Brot und weist sie ins Gasthaus. In diesem Zusammenhang nun erwähnt Goethe beiläufig die Teuerung, ja die drohende Hungersnot, die 1770/1771 im ganzen Elsaß herrschte, 9 bedingt durch schlechte Ernten und verschärft durch einen Machtkampf zwischen den die Preise nach oben treibenden Bäckern und den mit staatlichen Getreidevorräten regulierend in den Markt eingreifenden Behörden 10 — letzteres ist der konkrete Hintergrund der Bemerkung in >Dichtung und Wahrheitc (...) in der fruchtbaren Gegend zwischen Kolmar und Schlettstadt ertönten possierliche Hymnen an Ceres, indem der Verbrauch so vieler Früchte umständlich auseinandergesetzt und angepriesen, auch die wichtige Streitfrage über den freien oder beschränkten Handel derselben sehr lustig genommen wurde.11

Man spürt, Goethe konnte seine Straßburger Zeit ohne materielle Sorgen zubringen; als Weimarer Beamter war er weit davon entfernt, solche Fragen »sehr lustig« zu nehmen. 7 Der j u n g e Goethe. N e u bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden, hrsg. von H a n n a Fischer-Lamberg, Bd. II April 1770-September 1772, Berlin 1963, S. 5 (im folgenden abgekürzt D j G mit römischen B a n d - und arabischen Seitenzahlen). s 9 10 11

Ebd. Vgl. W A I, 27, 325. Vgl. Georges Livet, a.a.O. (Anm. 5), S. 25 ff. W A I, 28, 78 f.

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Das erste Straßburger Semester wurde von Goethe zu weitgespannter Orientierung in Stadt und Universität, über Land und Leute genutzt. Die Tischgesellschaft bei den Damen Lauth brachte ihm Freundschaften und über die Freunde weitere Bekanntschaften. In Johann Daniel Salzmann fanden die jungen Leute, fand auch Goethe einen väterlichen Freund und verläßlichen Vertrauten in Studien- und Herzensangelegenheiten. Salzmann, damals 47 Jahre alt, steht längst in Amt und Würden beim Vormundschaftsgericht, seinem ganzen Denken und Wirken nach gehört er zum philanthropischen Flügel der Aufklärung, kein Literat, aber am Gespräch über Literatur lebhaft interessiert und den Ideen und Empfindungen der Jüngeren gegenüber aufgeschlossen und tolerant, ein geduldiger, behutsamer Mentor. Die Sommerreise zu Pferde durchs Unterelsaß bis nach Lothringen, die Goethe Einblick in den Landesausbau und die frühen Ansätze zur Industrialisierung gab und seine mineralogischen und geognostischen Interessen beförderte, war, wie noch durch die späte Darstellung in >Dichtung und Wahrheit< (10. Buch) hindurch erkennbar wird, eine Bildungsreise im Geist des empiristischen, auf Realien ausgehenden Jahrhunderts, wie sich auch die Teilnahme an den anatomischen Demonstrationen Lobsteins und den ChemieVorlesungen Jakob Reinbold Spielmanns sowohl aus empiristischen Neigungen als auch von Goethes in der Frankfurter Periode zwischen dem Leipziger und dem Straßburger Studienaufenthalt erwachten pansophischen und alchimistischen Spekulationen her verstehen läßt. Nach dem Zeugnis Jung-Stillings, der im September 1770 nach Straßburg kam und ebenfalls der Tischgesellschaft im Lauthschen Speisehaus angehörte, wurde die Überlegenheit von Goethes Persönlichkeit im Kreis der Freunde schon nach wenigen Monaten anerkannt: » er hatte die Regierung am Tisch, ohne daß er sie suchte«.12 Für die großen Werke des jungen Goethe, die in Straßburg entstanden sind oder dort konzipiert und wenig später in Frankfurt vollendet wurden, finden sich unstrittige Zeugnisse erst vom Herbst 1770 an, so daß sich nur schwer beurteilen läßt, wie weit etwa 12 J o h a n n Heinrich Jung-Stilling, Lebensgeschichte, vollständige Ausgabe, mit A n m e r k u n g e n hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1984, S. 264.

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Vorstellungen von »Genie« und »Natur« bereits entwickelt waren, als es im September 1770 zur entscheidenden Begegnung mit Johann Gottfried Herder, im Oktober zur nicht weniger entscheidenden Bekanntschaft mit Friederike Brion kam. Daß beide Erlebnisse in Goethes Leben Epoche gemacht haben, steht außer Frage. Sie lösten dem Dichter die Zunge zu einer wesentlich anderen Sprache, als sie die vorangehenden Leipziger und Frankfurter Frühwerke aufweisen. In einigen Briefabschnitten der ersten Straßburger Monate kündigt sie sich freilich schon an, auch hat sich ein Zeugnis erhalten, an dem abzulesen ist, wie eng Schönheit, Genie und »Leben« in Goethes Denken bereits beieinander liegen und ein ganzheitliches Wahrnehmen sich vom analytischen Zugriff der frühen und mittleren Aufklärung entfernt hat: [die Schönheit] erscheint uns w i e i m Traum, w e n n w i r Wercke der g r o ßen Dichter und Mahler, kurz, aller empfindenden Künstler betrachten; es ist ein schwimmendes glänzendes Schattenbild, dessen Umriss keine Definition hascht. Mendelssohn und andre (.. .> haben versucht die Schönheit w i e einen Schmetterling zu fangen, und mit Stecknadeln, f ü r den neugierigen Betrachter festzustecken (...) der Leichnam ist nicht das ganze Thier, es g e h ö r t noch etwas dazu, noch ein Hauptstück, und bei der Gelegenheit, w i e bey ieder andern, ein sehr hauptsächliches Hauptstück: das Leben, der Geist der alles schön m a c h t . 1 3

Goethes zweites Straßburger Semester. Johann Gottfried Herder Es war der richtige Moment und eine Sternstunde in der Geschichte der deutschen Literatur, als sich Goethe und Herder begegneten: Goethe durch seinen eigenen Entwicklungsgang disponiert, die Gedanken Herders voll zu erfassen und poetisch umzusetzen, Herder auf der Höhe seines intuitiven und reflektierenden Vermögens. Nur auf den ersten Blick scheint das Verhältnis zwischen beiden völlig asymmetrisch: Goethe, der unbekannte Dichter und Student, sucht den schon recht berühmten Kritiker und Theoretiker der Poesie und Kunst auf, mit dessen Schriften er sich spätestens im Januar 1769 zuerst beschäftigt hatte. Der fünf Jahre Altere war in 13

An Hetzler den Jüngeren, 14. Juli 1770, DjG II, S. 8.

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spontanem Entschluß, während einer Reise in unerquicklicher Gesellschaft, in Straßburg geblieben, um sich von Lobstein am Auge operieren zu lassen - monatelang dauerte die schmerzhafte Behandlung und blieb doch erfolglos. Goethe besuchte, manchmal gemeinsam mit Jung-Stilling, den verständlicherweise oft schlecht gestimmten Kranken zeitweise Tag um Tag, zuerst im Gasthof »Zum Geist«, später in der Salzmanngasse 7. Bis Anfang April 1771 dauerte dieser Verkehr an, während dessen sich alles, was Goethe unter ihn unbefriedigt lassenden rationalistischen Kriterien oder in eigenem, mehr dunkel ahnendem als klarem Empfinden zuvor berührt hatte, die Welt Shakespeares und Homers, die Welt Ossians, die Welt der bildenden Kunst und der theoretischen Debatten über sie, neu ordnete und zu einem beglückenden Ganzen Zusammenschloß. Aus der Fülle der Gegenstände, die in Herders immer lebhaftem und intensivem Gespräch berührt wurden, seien wenigstens die wichtigsten genannt. Er arbeitete damals an seiner erst 1778 erschienenen Schrift >Plastik< sowie an dem zu Lebzeiten ungedruckt gebliebenen >Vierten Kritischen WäldchenVon Deutscher Baukunst. D. M. Ervini a SteinbachStraßburger Münster- und Thurm-Büchlein< von 1744, dem damals gängigen Münster-Führer. Aber eine Sprache zumal fur den überwältigenden Eindruck der Fassade und der Türme setzte erst Herder in ihm frei, Herder, der in seiner gesamten Straßburger Korrespondenz nirgendwo der Münster-Architektur gedenkt. Goethe hat ihm die Kraft lebendiger Anschauung voraus, die alle Asymmetrie in der intellektuellen Reife ausgleicht. Der Dichter wahrte sich den Blick für das Münster über Jahre: »Gott sey Dank, daß ich bin wie ich war, noch immer so kräftig gerührt von dem Grosen, und ο Wonne, noch einziger, ausschließender gerührt von dem Wahren, als ehemals«, kann er beim erneuten Besuch 1775 schreiben. 18 1770 kann Goethe dem großen Herder nur wenig von dem mitteilen, was zu leisten er in der Lage war. Was etwa damals an Notizen zum >Götz< vorliegen mochte, bleibt verborgen. 19 Erst ein Jahr später durfte Herder gewahr werden, daß er in den Straßburger Herbst- und Wintermonaten mit einem Jungen umgegangen war, in dem das Zeug zu einem neuen Shakespeare steckte. Dann allerdings hat er es selbst, am Schluß seines Aufsatzes >ShakespeareZum Schäkespears Tag< mit dem zentralen Satz (...) aber seine Stücke, drehen sich alle u m den geheimen Punckt, (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigenthümliche unsres Ich's, die prätendirte Freyheit unsres Wollens, mit dem n o t h wendigen Gang des Ganzen zusammenstösst 2 2

ist ebenso von Herder inspiriert wie die bald nach der Rückkehr aus Straßburg niedergeschriebene >Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisiert und deren bekanntere zweite Fassung >Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel· aus dem Februar und März 1773. 23 Trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung verbrachte Herder seine Straßburger Zeit in unvergleichlicher geistiger Aktivität. Noch 1770 schließt er die >Abhandlung über den Ursprung der SpracheGesänge von SelmaWerther< wiederkehren. Sich deutlich von jeder Nachahmungsbestrebung, von aller Bardenpoesie absetzend, ediert er mit Johann Heinrich Merck zusammen im Mai 1773 die Werke Ossians in englischer Sprache. 30 Herders Korrespondenz mit Caroline Flachsland 27

D j G IV, S. 23. Vgl. D j G I, S. 269 f. Brief an Friederike Oeser 13. Februar 1769. 29 Vgl. D j G II, S. 76ff. 30 T h e Works of Ossian, Vol.I; im Selbstverlag Goethes u n d Mercks. Erst 1777 wurde die Ausgabe abgeschlossen. Dieser erste Band enthält das Epos >FingalHeidenrösleinGötzDer König in Thule< im >Urfaust< sind die berühmtesten und geglücktesten Gedichte, die sich diesem von Herder ausgehenden Impuls verdanken.

Sesenheim Sechs Gehstunden nördlich von Straßburg liegt das Dorf Sesenheim, wo Friedrich Leopold Weyland entfernte Verwandte hatte, die Pfarrersfamilie Brion. Im Oktober 1770 begleitete ihn Goethe dorthin, und in >Dichtung und Wahrheit< hat der Dichter das ländliche Pfarrhausleben ganz in das Licht der Idylle des >Landpriesters von Wakefield< von Oliver Goldsmith getaucht: 31 es mochte ihm schon 1770/ 1771 so erschienen sein, denn Herder, der seiner Braut im Januar 1771 das Werk als »Eins der schönsten Bücher, die in irgend einer Sprache existiren«, dringlich zur Lektüre empfohlen hat, hat auch Goethe auf diesen R o m a n hingewiesen. 32 Insel Stäffa vor der schottischen Westküste, die als »Fingais Höhle« rasch berühmt wurde. Die Zeitschrift »Deutsches Museum« Bd. 1, 1776, gab sie im Kupferstich wieder (zwischen S. 62 und S. 63); der anonyme Kommentator schreibt dazu: »Ohne zu glauben, daß Fingal diese H o l e bewohnt habe, welches auch wegen des einfließenden Wassers nicht einmal möglich ist, und ohne zu untersuchen, ob ein Fingal, oder Fiuhn M a c - C o u l , gewesen sey, oder nicht, wird alle Leser Ossians die Vorstellung einer Hole entzücken, die noch izt den N a m e n seines Haupthelden fuhrt, und vielleicht die prächtigste ist, so die Natur jemals hervorgebracht hat.« 31

Vgl. W A I, 27, 340ff.; W A I, 28, 5ff.

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Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1 7 6 3 - 1 8 0 3 , hrsg. von Karl-

Heinz Hahn u.a., B d . 1, Weimar 1977, S. 304. Bereits ein Jahr nach der Publikation von Goldsmiths kleinem R o m a n (1766) u m die Pfarrersfamilie Primrose und ihre heranwachsenden Kinder erschien die erste deutsche Ubersetzung, von Johann Gottfried Gellius: Der Landpriester von Wakefield. Ein Märchen, das er selbst soll ge-

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An unmittelbaren Zeugnissen von Goethes Liebe zu Friederike Brion ist nur wenig überliefert. Nachdem deren jüngere Schwester Sophie Goethes Briefe an Friederike vernichtet hat, müssen wir uns mit einem einzigen Briefkonzept vom 15. Oktober 1770 an die »liebe neue Freundinn« 33 und vier Briefen, die Goethe im Mai und Juni 1771 aus Sesenheim an Salzmann schrieb, 34 zufrieden geben. Man kann sich die äußeren Lebensverhältnisse im Sesenheimer Pastorat kaum schlicht genug vorstellen. In einem von den Tages- und Jahreszeiten bestimmten Leben in ländlicher Arbeit und in ländlichen Vergnügen, gehoben nur durch die größeren kirchlichen Festtage, liegt das doch nahe Straßburg beinahe schon außerhalb der Alltagserfahrung der Brionschen Mädchen. Nach Goethes Zeugnis zog es sie auch nicht sehr dorthin. 35 Goethe kam oft hinaus, meist zu Pferde, gelegentlich mit der Postkutsche bis Drusenheim und den Rest zu Fuß, im Frühsommer 1771 für mehrere Wochen. Es wurden Märchen erzählt und es wurde vorgelesen, zur Verschönerung des heiteren Beisammenseins brachte der junge Gast kleine Gedichte mit, die, der Geselligkeit zugedacht, dem geselligen Lied aus Goethes Leipziger Zeit durchaus verwandt sind. Einige an die drei Schwestern Brion gerichtete kleine Briefgedichte vermitteln einen Eindruck von den noch halb kindlichen, aber nach dem Verständnis des Sturm und Drang darin gerade unverfälschten, natürlichen Vergnügungen:

schrieben haben. Aus d e m Englischen. Sperate miseri: Cavete felices! Leipzig, bey M . G. Weidmanns Erben u n d Reich 1767. In dieser Version lasen Herder u n d G o e the das Werk in Straßburg. W i e der Eindruck der Lektüre in G o e t h e lebendig blieb, bezeugen Anspielungen im >WertherWahlverwandtschaftenDichtung u n d WahrheitGötz< und der >WertherVon Deutscher Baukunst< gefordert, zum charakteristischen Teil eines lebendigen Ganzen, erfüllt von der naturanalogen bildenden Kraft des Künstler-Genies. In der Lyrik vollendet sich zuerst und noch in den letzten Straßburger Monaten, was das Bildungserlebnis Herder und das Liebeserlebnis Friederike in Goethe ausgelöst hatten. Am 6. August 1771 wurde Goethe mit den 56 >Positiones Juris< zum Licentiaten der Jurisprudenz promoviert, wenig später galt es, von Sesenheim, von Friederike Abschied zu nehmen: »Ich mußte sie in einem Augenblick verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete«, schrieb er acht Jahre später darüber an Charlotte von Stein. 37 Wieder in Frankfurt angekommen, beantragt der Dichter an seinem 22. Geburtstag beim Magistrat die Zulassung als Rechtsanwalt und erhält sie. Aber die Straßburger Epoche hat keinen Schluß, sondern ist ein Anfang. Am 14. Oktober wird gleichzeitig in der dortigen »Gesellschaft der schönen Wissenschaften« und im Frankfurter El36 37

DjG II, S. 30. WA IV, 4, 66.

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ternhaus mit Goethes Rede der Shakespeare-Tag begangen; wenige November- und Dezember-Wochen genügen, die erste Fassung des >Götz< zu Papier zu bringen, Pläne zu einem >CaesarSokratesVon Deutscher Baukunst< wächst in der Auseinandersetzung mit des Architekturtheoretikers Marc-Antoine Laugier Schriften, und die Zeit der großen freirhythmischen Hymnen bricht an.

Stabwechsel. Jakob Michael Reinhold Lenz in Straßburg Mit der Abreise von Herder im April, von Goethe im August 1771 erfährt die Straßburger Sturm und Drang-Periode zwar eine merkliche Zäsur, aber zuende ist sie nicht. Der Kreis um Salzmann mit Jung-Stilling, mit Lerse bleibt zusammen und wirkt fort, und eine glückliche Fügung wollte es, daß nun, wenn man den jungen Schiller hier noch beiseite läßt, die größte dichterische Begabung nach Goethe hinzutritt: Jakob Michael Reinhold Lenz. Er vor allem trägt die durch Herder und Goethe erweckten Ideen weiter und verarbeitet sie auf völlig selbständige Weise. Nur wenig jünger als Goethe, am 23. Januar 1751 geboren, hatte Lenz dreieinhalb Jahre in Königsberg studiert, als er sich entschloß, das Studium der Theologie zum Verdruß seines Vaters abzubrechen und die Barone Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist nach Straßburg zu begleiten. Der Konflikt mit dem Vater, der niemals beigelegt wurde, sollte noch zu einer lebensentscheidenden Belastung für den psychisch hochkomplizierten und sensiblen Dichter werden. Auf dem langen Landweg über Berlin, Leipzig und Frankfurt am Main treffen die drei jungen Reisenden im Mai 1771 in Straßburg ein. Nicht ein freies Studentenleben, sondern der Garnisonsdienst bestimmt hier ihren Tagesablauf, auch wenn sie nicht in der Kaserne wohnen müssen, sondern sich privat einlogieren können. Lenz sucht Kontakt zum geistigen Leben der Stadt und findet bald Anschluß an die Tischgesellschaft, in der er, wohl nur flüchtig, auch Goethe begegnet. Erst der folgende briefliche Austausch und die wechselseitige Zusendung poetischer Werke intensiviert ihre Freundschaft, die im Wiedersehen des Frühjahrs 1775 kulminiert. Wie Goethe, und üb-

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rigens auch andere Dichter dieser Generation, hat Lenz sich früh eine meisterhafte Sicherheit in der Handhabung von literarischen Formen des Rokoko erworben, und ebenso rasch stellt sich das Ungenügen daran ein. So wird Lenz für beinahe fünf Jahre zum Bannerträger Shakespeares unter den Straßburger Literaten. Aber auch, und darin liegt ein erster markanter Unterschied zu Goethe, zum Bannerträger des Plautus.

Liebesverwicklungen Fast das ganze Jahr 1772 über muß der Dichter seinen Dienstherren in die Garnisonen Fort Louis, Weißenburg und Landau folgen. Selbst die zeitgenössischen Kupferstich-Veduten geben eine Vorstellung von der Tristesse in diesen zu militärischen Retortenprodukten umgeformten Plätzen: hinter einem kahlgefegten Glacis, hinter Vorwerken und glattem, bewehrtem Festungsmauerwerk erheben sich als größere Gebäude nur die Kaserne und die Kirche, umgeben von den eng aneinanderstoßenden Dächlein der übrigen Anwesen. Der Festungsarchitekt Ludwig XIV., Sebastien Vauban, und seine Schüler im 18. Jahrhundert haben gründliche Arbeit geleistet. Auch wenn Lenz einen seiner genialischen Dramenhelden sich heimlich mit dem Fortificationswesen beschäftigen läßt, er selbst suchte doch, der Ode und dem Trübsinn dieser Militärbetriebsanstalten zu entrinnen und wanderte im Frühjahr und Sommer 1772 oft die fünf Kilometer von Fort Louis zu den gastfreundlichen Pfarrersleuten Brion in Sesenheim. Auch er blieb gegenüber dem bezaubernden Wesen Friederikes nicht unempfindlich, ohne daß seine Neigung, die in der eigentümlichen Form einer Uberidentifikation mit Goethe in Erscheinung trat, erwidert worden wäre. Das im Hause Brion aufbewahrte Gedichtkonvolut, das erst 1835 der Bonner Student Heinrich Kruse zu sehen bekam und das 1837 nach seiner Abschrift gedruckt wurde, läßt es in einigen Fällen auch heute noch kaum zu, die Anteile von Goethe und Lenz mit Sicherheit zu trennen. Eine andere Herzensaffäre gab den letzten Anstoß, daß Lenz sich von den Kleists trennte. Friedrich Georg von Kleist verliebt sich in die Straßburger Juwelierstochter Cleophe Fibich und verspricht ihr am 27. Oktober 1773, schriftlich und notariell beglaubigt, die Ehe.

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DIE STURM UND DRANG-JAHRE 1770 BIS 1776 IN STRASSBURG

Während er sich, auf Nimmerwiedersehen, nach Kurland begibt, angeblich, um die Zustimmung seiner Eltern zu erwirken, empfindet Lenz die Verpflichtung, diese Verlobung vor der Zudringlichkeit anderer, insbesondere eines soeben in Straßburg eingetroffenen dritten Kleist-Bruders, zu schützen, scheint dabei aber selbst die Grenze zwischen Freundschaft und Verliebtheit nicht streng eingehalten zu haben. Ein Jahr dauert diese unerquickliche Situation, dann zieht Lenz im Herbst 1774 einen Schlußstrich, löst sein Verhältnis zu den Kleists und bezieht wechselnde eigene Logis, zeitweilig bei Luise König, zu deren Briefpartnern Cornelia Schlosser und Caroline Flachsland gehören. 38 Ihr hat Lenz wohl auch materiell einiges zu verdanken, denn von nun an bis zum März 1776 lebt er von den Erträgnissen seiner Poesie und von Einkünften als Privatlehrer kümmerlich genug. Dichterisch aber ist seine Straßburger Zeit ungemein reich, und vor allem: wie nicht oft in seinem Leben steht Lenz im Einklang mit sich selbst.

Lenz' Gesellschaftskritik Für Lenz als Dichter war es höchst schädlich, daß sowohl er selbst als auch die Zeitgenossen ihn in nächster Nähe Goethes sahen. In Wahrheit ist er in einem viel prägnanteren Sinn als Goethe ein Dichter der Gesellschaft seiner Zeit. Schon die in der gründlichen Beschäftigung mit Plautus sich ausdrückende Neigung zur Komödie zeigt das, seit alters die Gattung zur Gesellschaftsdarstellung auf der Bühne. Goethe hatte bei Herder, nicht zuletzt am Beispiel Shakespeares, den Individualitäts- und den Entwicklungsgedanken entfaltet gefunden und beide nach seiner Weise im >Götz< poetisch umgesetzt. Sowohl der Lebensentwurf des Helden als auch der seines Antagonisten Weislingen formulieren individuelle Utopien und ihr Scheitern, historisch versetzt in die Umbruchszeit der Reformationsepoche. Lenzens Sache aber sind die kollektiven Konflikte und Neurosen. Aus Herders Skakespeare-Deutung ist fur ihn vor allem 3 8 Vgl. Johannes Froitzheim, Lenz, Goethe und Cleophe Fibich von Straßburg. Ein urkundlicher Kommentar zu Goethes >Dichtung und Wahrheit< mit einem Bild Araminta's und ihrem Facsimile aus dem Lenz-Stammbuch, Straßburg 1888.

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fruchtbar geworden, daß der englische Dichter die dramatische Handlung stets innerhalb des Gesamtaufrisses einer historisch definiten Gesellschaft entwickelt, ohne der Gefahr der Figurentypisierung zu erliegen. Goethes kluge Ratschläge während der PlautusBearbeitungen 1772/1773 39 führten Lenz bereits auf die gesellschaftliche Gegenwart zu, so daß sie zur nützlichen Einübung für die eigenen gleichzeitigen und folgenden Bühnenwerke wurden. Im Oktober 1772 beendet er die Arbeit an der Komödie >Der Hofmeister oder Vorteile der PrivaterziehungNeuen Menoza< (geschrieben 1773) als Prinzen daherkommen, sind überhaupt für eine Gruppe Lenzscher Dramen die bezeichnendsten Gestalten; der »aus philosophischen Absichten« reisende Strephon in >Die Freunde machen den Philosop h e n (geschrieben 1775/1776), Hanns von Engelbrecht in >Die Kleinen< (Fragment von 1775/1776) und David in >Der tugendhafte Taugenichts< (Fragment, überwiegend 1776 geschrieben) gehören dazu. Zum »großen Kerl« fehlte ihnen viel, aber intellektuelle Träger des Genie-Gedankens könnten sie sehr wohl sein. Der bricht sich freilich an der Funktion, welche die Gesellschaft denen, die ihn vertreten könnten, zubilligt, wie sich umgekehrt die Gesellschaft im Umgang mit ihnen decouvriert. Wie >Der Hofmeister< ist auch die Komödie >Die Soldaten< ohne den Hintergrund eigener Erfahrungen und gesellschaftskritischer Beobachtungen nicht zu denken. Das Thema vom verführten Bürgermädchen gehört zu den verbreitetsten in der Literatur des Sturm und Drang. Die Konfiguration, in die Lenz es hineinstellt, ist aber trotz gewisser Veränderungen so deutlich der Situation zwischen Cleophe Fibich und Friedrich Georg von Kleist nachgebildet, daß der Dichter allen Grund hatte, die Publikation des im Sommer 1775 abgeschlossenen Werks bis 1776 hinauszuzögern. 40 Das so rauh39

Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Bd. 2 München 1987, S. 84f. 40 Am 23. Juli 1775 hatte Lenz die Handschrift des Stückes an Herder gesandt, durch dessen Vermittlung das Werk zur Ostermesse 1776 bei Weidmanns Erben und Reich in Leipzig erschien, und zwar anonym.

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beinige wie unverantwortliche Treiben der Offiziere verlegt Lenz nach Flandern, aber besondere Mühe, diese Camouflage strikt durchzufuhren, gibt er sich nicht, überall schimmern die Straßburger Verhältnisse durch. Der dramaturgischen Anlage nach gehört das Stück, wie >Der HofmeisterGötzGötz< und >Urfaust< vertraut er der einfachen synthetisierenden Kraft des Volksliedes: Weseners alte Mutter kriecht durch die Stube, die Brille auf der Nase, sich in eine Ecke des Fensters und strickt und singt, oder krächzt mit ihrer alten rauhen

setzt

vielmehr

Stimme:

Ein Mädele jung ein Würfel ist Wohl auf den Tisch gelegen: Das kleine Rösel aus Hennegau Wird bald zu Gottes Tisch gehen. Zählt

die Maschen

ab.

Was lächelst so froh mein liebes Kind Dein Kreuz wird dir'n schon kommen Wenns heißt das Rösel aus Hennegau Hab nun einen Mann genommen. Ο Kindlein mein, wie tut's mir so weh Wie dir dein Augelein lachen U n d wenn ich die tausend Tränelein seh Die werden dein Bäckelein waschen. 41 41

2. Akt, 3. Szene. J. M. R. Lenz, Werke und Briefe, a.a.O. (Anm. 39), Bd. 1, S. 214.

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Lenz' letztes Straßburger Jahr 1775/1776 Schon in seinen ersten Straßburger Jahren und erst recht, als er als freier Schriftsteller und Privatlehrer lebte, fand Lenz im Kreis um Salzmann intellektuelle Partner und Zuhörer. Die >Anmerkungen übers TheaterGötzBriefen über die Moralität der Leiden des jungen WerthersHofmeisterNeuen Menoza< und den >Anmerkungen übers Theater< zum Druck verholfen hatte, so auch umgekehrt Lenz zu Verbreitung und R u h m des Goetheschen Oeuvre das Seine tat. Goethes Farce >Götter, Helden und Wieland< ließ er Anfang 1774 in Kehl drucken. Seine eigene, ein Jahr später verfaßte dramatische Skizze >Pandaemonium germanicumSoldaten< eine Straßburger Offiziers-Affäre zur Grundlage hat. Damit haben wir, zählt man Goethes >Götz< und Lenz' >Hofmeister< zu den eben genannten Werken hinzu, dem Straßburger Sturm und Drang-Zentrum vier der besten Stücke des Sturm und Drang zu danken. Unter den Manuskripten, die Lenz im März 1776 mit nach Weimar nahm, befanden sich zwei Arbeiten, welche für die ganze in 47 Zwischen seinen ersten Studienjahren in Straßburg und der vorübergehenden Rückkehr lebte Wagner zuerst als Hofmeister bei den Günderodes in Saarbrücken und ging dann 1774 nach Frankfurt am Main. Das Verhältnis zwischen dem jungen Dramatiker und Satiriker und Goethe trübte sich 1775 und 1776 deudich. Wagner starb bereits 1779. 48

J. M. R . Lenz, Werke und Briefe, a.a.O. (Anm. 39), Bd. 2, S. 770ff.

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Lenz vereinigte Spannung zwischen Aufklärung und Sturm und Drang kennzeichnend sind: eine Ubersetzung des Shakespeareschen >CoriolanUber die SoldatenehenUber die Soldatenehen< fand man in Weimar, fand vor allem Goethe absurd; daß der Herzog jemals von ihr erfahren hat, ist unwahrscheinlich. Daß Lenz als Künstler Goethe unterlegen war, dürfte 1776 in Weimar kaum einer wahrgen o m m e n haben. Jeder sah freilich, daß es ihm an Weltklugheit gebrach. U n d daran ist er schließlich in Weimar gescheitert. Nach der Verweisung aus dem Herzogtum kehrte er zwar in den deutschsprachigen Südwesten zu Cornelia und Johann Georg Schlosser, aber nicht mehr nach Straßburg zurück. Goethe gedenkt seiner über ein Menschenalter lang nicht mehr und auch dann ohne rechte Anerkennung, 5 1 Georg Büchner hat ihm 1835 im Straßburger Exil ein unvergängliches literarisches Denkmal gesetzt.

49 Lenz an Herder 28. August 1775; ders., a.a.O. (Anm. 39), Bd. 3, S. 334. Diese zweite Shakespeare-Bearbeitung von Lenz - nach >Love's Labour's Lost< entstand 1774/1775. Die Reinschrift, die der Dichter d e m Herzog schenkte, trägt die W i d m u n g : »Seiner Durchlaucht dem H e r z o g e unterthänigst gewiedmet von Lenzen«. 50 51

Ders., a.a.O. (Anm. 39), Bd. 2, S. 787ff. Vgl. W A I, 28, 75 ff.

AUF D E R S U C H E N A C H D E M V E R L O R E N E N VATER Das >WertherWertherWerther< ausgehende Faszination gerade bei jungen Lesern ungebrochen ist. Ja, vermutlich gehört deijenige Aspekt, der in den Mittelpunkt dieser Überlegungen gestellt werden soll und der in der Forschung eigenartigerweise wenig Beachtung findet, 1 nämlich Werthers Vaterlosigkeit, mit zu den Eigenschaften des Buches, die gerade junge Leute in den Bann schlagen, ob es ihnen bewußt ist oder nicht. Als was hat man nicht schon die Geschichte dieses jungen Helden, die im R o m a n gut einundeinhalb Jahre u m faßt, interpretiert: als das Charaktergemälde einer besonderen N a tur, als Liebesgeschichte, als den R o m a n eines scheiternden Künstlertums, als eine Krankheitsgeschichte, als einen Zeitroman, als ein weltliches Evangelium, eine weltliche Passionsgeschichte. All das und noch mehr entnahm man Goethes Briefroman, und zwar mit Recht. Denn unter all diesen Fragestellungen läßt das Buch sich mit Gewinn durchdringen und durchforschen, ohne daß eine Formel für das Ganze des >Werther< gefunden werden könnte. U n d so möchte dieser Beitrag verstanden werden: als die Ausleuchtung eines besonderen Moments in diesem Buch, eines Moments freilich, das nicht marginal zu sein, sondern in die Tiefenschicht des R o 1 Vgl. jedoch die Studie von Friedrich Strack, Väter, Söhne und die Krise der Familie in Goethes Werk, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Tübingen 1984, S. 57ff., zum >Werther< S. 70ff.

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AUF D E R SUCHE NACH DEM V E R L O R E N E N VATER

mans zu weisen scheint - der junge Held auf der Suche nach dem verlorenen Vater. Nach der Trennung von Charlotte im Herbst 1771 verbringt Werther einige Monate als Gesandtschaftssekretär an einem kleinen deutschen Hof, um alsbald unter wenig glücklichen Umständen seinen Abschied zu nehmen. Inzwischen ist es wieder Frühling, und Werther schreibt unter dem Datum des 5. Mai an seinen Freund Wilhelm, den Empfänger nahezu aller Briefe im Roman: Morgen geh ich von hier ab, und weil mein Geburtsort nur sechs Meilen vom Wege liegt, so will ich den auch wieder sehen, will mich der alten glücklich verträumten Tage erinnern. Z u eben dem Thore will ich hineingehn, aus dem meine Mutter mit mir herausfuhr, als sie nach dem Tode meines Vaters den lieben vertraulichen O r t verließ, um sich in ihre unerträgliche Stadt einzusperren. Adieu, Wilhelm, du sollst von meinem Zuge hören. 2

Das ist die einzige Stelle im ganzen R o m a n , wo Werther seinen Vater erwähnt. Diese Lücke in der Figurenwelt des Buches ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Z u auffällig nämlich stellt sie sich dar, wenn man bedenkt, daß Goethes Vater erst 1782 starb und zur Zeit, da sein Sohn an dem Werk arbeitete, durchaus Herr im Haus am Großen Hirschgraben war, und wenn man ferner bedenkt, daß die der Werther-Figur nahestehende wichtigste reale Person, Karl Wilhelm Jerusalem, alles andere als vaterlos ist: der Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem lebte nicht nur bis 1789, er war auch als der leitende Kirchenmann im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel eine in ganz Deutschland bekannte und hoch verehrte Persönlichkeit. Insofern der junge Jerusalem Züge zum Werther geliehen hat, ist es nicht nur dichterische Freiheit, wenn Goethe seinen Helden vaterlos sein läßt, sondern die ihm damals größtmögliche Form der Milde, die er gegen solche Väter aufzubringen vermochte. Jedenfalls konnte er es auf diese Art vermeiden, ein Verhältnis zwischen dem Helden und seinem Vater zu gestalten, das nicht anders als höchst gespannt gedacht werden muß. Denn als Goethe vom Selbstmord 2 D e r j u n g e Goethe. N e u bearbeitete Ausgabe in f ü n f Bänden, hrsg. v o n H a n n a Fischer-Lamberg, Band IV Januar - D e z e m b e r 1774, Berlin 1968, S. 154 (im folgenden abgekürzt D j G mit römischen B a n d - u n d arabischen Seitenzahlen).

AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN VATER

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des jungen Jerusalem erfuhr, wohl Ende Oktober 1772, schrieb er einen Brief an den Freund Kestner in Wetzlar, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: Der unglückliche Jerusalem. Die Nachricht war mir schröcklich und unerwartet, es war grässlich zum angenehmsten Geschenck der Liebe diese Nachricht zur Beylage. Der unglückliche. Aber die Teufel, welches sind die schändlichen Menschen die nichts gemessen denn Spreu der Eitelkeit, und Götzen Lust in ihrem Herzen haben, und Götzendienst predigen, und hemmen gute Natur, und übertreiben und verderben die Kräffte sind schuld an diesem Unglück an unserm Unglück hohle sie der Teufel ihr Bruder. Wenn der verfluchte PfafF sein Vater nicht schuld ist so verzeih mirs Gott dass ich ihm Wünsche er möge den Hals brechen wie Eli. 3

Lessing übrigens, der den >Werther< zugleich bewunderte und ablehnte, kannte sowohl den Vater Jerusalem als auch den Sohn. Gleich nachdem er Goethes R o m a n gelesen hatte, sammelte er die nachgelassenen Schriften des jungen Jerusalem, um vor aller Welt zu verdeutlichen, daß Werther mit dem Braunschweiger Pfarrerssohn nicht viel zu tun habe: »Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem: herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing. Braunschweig, in der Buchhandlung des Fürstl. Waisenhauses. 1776.« Kürzlich hat sich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek das Exemplar gefunden, das Lessing dem über den Selbstmord des Sohns tiefgebeugten Vater zusandte. Es enthält eine handschriftliche Widmung an den Abt Jerusalem: »Dem Vater überreicht diese Verlassenschaft des Sohnes der Freund Beyder.« 4 Das ist so weit von Goethes Meinung entfernt wie nur irgend denkbar. Lessing, der dem Alter nach genau zwischen der Generation des alten Jerusalem (geboren 1709) und der des jungen Jerusalem (geboren 1747) stand, überbrückt mit dem im 18. Jahrhundert hochempfindsam aufgeladenen Begriff des Freundes eine Kluft zwischen den Generationen, die im zitierten Brief Goethes und im R o m a n selbst unüberbrückbar geworden ist. So wenig wie er einen Vater hat, hat

3

' D j G III, S. 7. Im Faksimile wiedergegeben bei H e n d r i k Birus, Lessings W i d m u n g e n , in: Lessing Yearbook, Band XIII, D e t r o i t - M ü n c h e n 1981, S. 188. 4

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AUF D E R SUCHE NACH DEM V E R L O R E N E N VATER

Goethes Werther einen älteren Freund, der den Bruch abmildern könnte. Man versteht, warum Goethe seinen Helden lieber vaterlos sein läßt, als daß er eine Vaterfigur konzipierte, die nicht anders als bitter, ja aus der Sicht Werthers verderbenbringend hätte ausfallen müssen. Wo immer im Roman der Bildungs- und Wertehorizont der älteren Generation jener Kreise, in denen Goethes und Jerusalems Vater sozialgeschichtlich anzusiedeln sind, auftaucht, geschieht es in kritischer Abwehr, ja in leidenschaftlicher Abwendung. Gegen die Welt der gebildeten Väter opponiert Werther, wenn er deren Regelpoetik ablehnt, ihre Erziehungsprinzipien unterläuft, ihre Pedanterie selbst in Kleinigkeiten beklagt. Man muß Goethes Rechtsanwaltsschriftsätze, die er unter den Augen seines Vaters verfaßte, mit seiner poetischen Prosa vergleichen, um Werthers Klage über den Gesandten, seinen Vorgesetzten, zu verstehen: Der Gesandte macht mir viel Verdruß, ich hab es voraus gesehn. Es ist der pünktlichste Narre, den's nur geben kann. Schritt vor Schritt und umständlich wie eine Baase. Ein Mensch, der nie selbst mit sich zufrieden ist, und dem's daher niemand zu Danke machen kann. Ich arbeite gern leicht weg, und wies steht so steht's, da ist er im Stande, mir einen Aufsatz zurükzugeben und zu sagen: er ist gut, aber sehen sie ihn durch, man findt immer ein besser Wort, eine reinere Partikel. Da möcht ich des Teufels werden. Kein Und, kein Bindwörtchen sonst darf aussenbleiben, und von allen Inversionen die mir manchmal entfahren, ist er ein Todtfeind. Wenn man seinen Period nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt; so versteht er gar nichts drinne. Das ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu thun zu haben. 5

Auch dieses Leiden gehört zu denen des jungen Werther: die Ablehnung des neuen, des »Sturm und Drang«-Stils durch die gesetzte ältere Generation. Im selben Brief heißt der Gesandte ausdrücklich einmal »Mein Alter«,6 er gehört der Vätergeneration an, die sich ihr Stilideal nach den Normen des Rationalismus, eines Christian Wolff und eines Gottsched, gebildet hatte. Werther aber ist hierin der gelehrige Schüler Herders - wie Goethe, sein Schöpfer, auch. Nicht sehr anders ergeht es Werther mit dem Fürsten, bei dem er 5 6

D j G IV, S. 146. Ebenda.

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sich einige Wochen als Gast aufhält und der es durchaus gut mit ihm meint. 7 Und so gibt es der Stellen mehr, in denen über den »richtigen« Stil hinaus das richtige gesellschaftliche Verhalten, die Kunst, die Erziehung, ja selbst die Liebe im Licht der Vorstellungen der älteren Generation erscheinen. Anstatt eines leiblichen Vaters findet sich eine reich facettierte Vaterwelt, so daß der Generationenkonflikt nicht im Spiegel eines einzigen Vater-Sohn-Konflikts auftritt, sondern als Auseinandersetzung des jungen Helden mit der Mentalität, wie sie in der gebildeten aufgeklärten Gesellschaft insgesamt anzutreffen war. Dennoch gibt es auch im >Werther< das Wort Vater, es ist jedoch gleichsam reserviert flir zwei andere Bereiche als für den der natürlichen Väter. Auch wenn im Roman ein leiblicher Vater mit all den Vaterrechten und den daraus resultierenden Kindespflichten nicht existent ist, so strömen in diese leergelassene Position wie in ein Vakuum doch Ideen und Vorstellungen ein, die nicht nur für die Gestaltung dieses Werks charakteristisch sind, sondern darüber hinaus auf spätere Helden- und Werkkonzepte Goethes vorausweisen. Die eine dieser Vorstellungen wird von Werther selbst als »die patriarchalische Idee« umschrieben. Mit den Patriarchen, den Erzvätern, sind vorzüglich die großen Gestalten des Alten Testaments gemeint: Abraham, Isaak und Jakob. Werther spricht beispielsweise vom Brunnen vor der Stadt: Da kommen denn die Mädgen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nöthigste, das ehmals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sizze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft u m mich, wie sie alle die Altväter am Brunnen Bekanntschaft machen und freyen, und wie u m die Brunnen und Quellen wohlthätige Geister schweben. 8

In der Tat spielen im Alten Testament sowohl bei der Werbung Isaaks um Rebekka als auch Jakobs um Rahel die Brunnen eine wichtige Rolle. Unter den Begriff der Patriarchenzeit fällt aber auch die Welt Homers, die sich Werther in den ersten Monaten der Bekanntschaft mit Lotte ganz zu eigen macht: 7 8

Vgl. ebenda, S. 156. Ebenda, S. 107.

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Wenn ich so des M o r g e n s mit Sonnenaufgänge hinausgehe nach m e i n e m Wahlheim, und dort i m Wirthsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pflükke, mich hinsezze, und sie abfädme und dazwischen lese in m e i n e m H o m e r . Wenn ich denn in der kleinen K ü c h e mir einen T o p f wähle, mir Butter aussteche, meine Schoten a n s Feuer stelle, zudekke u n d m i c h dazu sezze, sie manchmal umzuschüttein. D a fühl ich so lebhaft, wie die herrlichen übermüthigen Freyer der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen u n d braten. Es ist nichts, das mich so mit einer stillen, wahren E m p f i n d u n g ausfüllte, als die Z ü g e patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sey D a n k , ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann. 9

Werthers Identifikation mit der Erzväterwelt oder deijenigen der Homerischen Helden deutet auf die Orientierung an einer Ersatzautorität, die eine eigentliche väterliche Autorität entbehrlich macht. Allerdings zeigt diese Autorität sehr andere Charakteristika als die der realen Väter im 18. Jahrhundert. U m es pointiert zu sagen: Hinter den wirklichen Vätern steht die Autorität geschichtlich gewordener und damit auch dem geschichtlichen Wandel unterliegender Institutionen, hinter jenen Erz- und Urvätern aber steht die Autorität der zeitlosen Natur selbst. Hier gibt es keinen Wandel der Normen und Verhaltensmuster, des Lebensstils und der Erziehungsregeln. Die entscheidenden Lebenssituationen bei den Erzvätern und den Helden Homers sind eingebettet in immer dieselben, zu einem Analogon der Naturgesetze gewordenen Abläufe und Gebräuche. Indem Werther die reale Vaterwelt gleichsam überbietet durch die »patriarchalische Idee« — eine Idee übrigens, die in wechselnden Ausgestaltungen in der vorklassischen Literatur mannigfach ihren Niederschlag gefunden hat und aufs engste mit der ebenfalls die Geschichte ausklammernden Gattung der Idylle verwandt ist —, entzieht er sich einem wirklichen Handeln, das vor den Augen einer realen älteren Generation zu verantworten wäre. Transzendiert die patriarchalische Idee die historisch-empirische Welt in die Welt der Mythen und Sagen, so weist ein anderes Vaterbild des vaterlosen Helden in eine zweite Richtung. Der, dem der natürliche Vater früh entrissen wurde und der unter den ihm begegnenden Männern der älteren Generation keinen findet, der an des9

Ebenda, S. 121.

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sen Stelle treten könnte, nimmt auf höchst radikale Weise seine Gotteskindschaft in Anspruch. Alle überschwenglichen Glückserfahrungen dankt Werther einem gütigen, väterlichen Schöpfergott, alle ihn zerreißenden, quälenden Fragen bringt er vor diese höchste väterliche Instanz. Die Gott-Vater-Vorstellung erhebt die Welt der Geschichte in den Bereich der Metaphysik. Goethe orientiert sich dabei formal an der Sprache der Evangelien in der Ubersetzung Luthers. Gegeben sei nur eins aus einer Fülle von Beispielen für diese Spracheigentümlichkeit des Romans. Werthers Brief vom 16. Juni erzählt von der ersten Begegnung mit Lotte bei einem ländlichen Ball und beginnt: Warum ich dir nicht schreibe? Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer. D u solltest rathen, daß ich mich wohl befinde, und zwar — Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein H e r z näher angeht. Ich habe - ich weis nicht. 1 0

Der Satz »Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer« ist nicht wörtliches Bibelzitat, aber zitiert wird der Stil der Bibel; etwa der Satz Jesu zu Nikodemus (Johannes 3, 10) kommt ihm nahe: »Bist du ein Meister in Israel und weissest das nicht?« Nur wenige Wochen vor der Niederschrift des >Werther< hatte Goethe die Bibelübersetzung Luthers gegen den neuen Ubersetzer Carl Friedrich Bahrdt verteidigt und den theologischen wie den künstlerischen Sinn des altertümlichen Stils, der »Falten« und »Bärte« der Evangelisten, hervorgehoben. 11 Daß die Sprache des >Werther< reich an Bibelstilzitaten, an Bibelanspielungen, ja an direkten Bibelzitaten ist, wurde in der Forschungsliteratur bereits ausfuhrlich nachgewiesen. 12 Vor allem gilt das für die Schlußpartien des Werkes, und es ist Herbert Schöfflers Verdienst, von dieser sprachlichen Beobachtung

Ebenda, S. 113. Prolog zu den neuesten Offenbahrungen Gottes. Verteutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt, in: DjG IV, S. 36 ff. 12 Vgl. Hanna Fischer-Lamberg, Das Bibelzitat beim jungen Goethe, in: Gedenkschrift für Ferdinand Josef Schneider (1879—1954), hrsg. von Karl Bischoff, Weimar 1956, S. 201 ff.; Johanna Graefe, Die Religion in den >Leiden des jungen WertherWerther< keine Lebensgeschichte des Helden ist, sondern eine »Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung«, die mit dem Tod und Begräbnis des Helden endet, worauf k e i n Kapitel mehr folgt; eine Passionsgeschichte, die mit dem Schlußsatz »Kein Geistlicher hat ihn begleitet«17 wohl nicht nur die Verurteilung des Selbstmords durch die Kirche brandmarken, sondern darüber hinaus auch die Verkündung der Auferstehung nach der Weise kirchlicher Bestattungsreden bewußt abschneiden will. Der Titel des Goetheschen Buches heißt ganz schlicht >Die Leiden des jungen Werthers< — ohne Verfasserangabe und, was wichtiger ist, ohne Gattungsbezeichnung. Diese zweite leere Stelle füllt sich nun gleichsam mit dem Vorbericht des Herausgebers, der näher betrachtet werden muß:

13

H e r b e r t Schöffler, D i e Leiden des j u n g e n Werther. Ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund, Frankfurt a. M . 1938. 14 Zitiert bei G ü n t h e r B o r n k a m m , Jesus von Nazareth, Stuttgart u.a. 1956, S. 14f. 15 Vgl. Willi Marxsen, Einleitung in das N e u e Testament, Gütersloh 1963, S. 120 f. 16 Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, Göttingen 1967, S. 11. 17 D j G IV, S. 187.

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Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr mir's danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksaale eure Thränen nicht versagen. U n d du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst. 1 8

Daß Mitleid zu erwecken, Anteilnahme zu befördern eine wesentliche Wirkungsabsicht der Poesie sei, ist im Zeitalter der Aufklärung und Empfindsamkeit allgemeine Meinung; 1 9 Lessing hat ihr in bezug auf das Drama, weniger bekannte Theoretiker wie Engel und Blanckenburg haben ihr in bezug auf die literarische Prosa 2 0 ein theoretisches Fundament geschaffen. Der erste Abschnitt der kleinen Vorrede geht — die Wirkungsabsichten betreffend - kaum über das hinaus, was die aufgeklärte Literaturgesellschaft um 1770 von ernst zu nehmender Literatur erwartete. Wohl aber in der Form, in die sich diese Absicht kleidet. Diese Form nämlich exponiert eigentlich eher den zweiten Absatz, indem sie auf den Beginn des Lukas-Evangeliums anspielt: Sintemal sichs viele unterwunden haben, Bericht zu geben von den G e schichten, so unter uns ergangen sind, wie uns das gegeben haben, die es von Anfang selbst gesehen und Diener des Worts gewesen sind: habe ichs auch für gut angesehen, nachdem ichs alles von Anbeginn mit Fleiß erkundet habe, daß ichs dir, mein guter Theophilus, in Ordnung schriebe, auf daß du gewissen Grund erfahrest der Lehre, in welcher du unterrichtet bist.

Goethe: »Was ich (...) nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt« oder: »Und du gute Seele«. 18

Ebenda, S. 105.

19

Vgl. dazu zuletzt: Hans-Jürgen Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste

Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, München 1980. 20

Vgl. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den R o m a n , Faksimiledruck

der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965; Johann Jakob Engel, U b e r Handlung, Gespräch und Erzählung, Faksimiledruck der ersten Fassung von 1774 aus der >Neuen Bibliothek der Schönen Wissenschaften und der freyen KünsteWerther< kaum näher kommen kann; bis auf den Schluß, genau gesagt, bis auf die Erzählung von Werthers letzten sechs Tagen vom 17. bis zum 23. Dezember (1772) gibt es im Buch ja keinen Erzähler außer dem Briefeschreiber Werther selbst. Ein vom Redenstoff abzutrennender Geschichtenstoffist also kaum vorhanden. Anders steht es mit dem Redenstoff. Zwar überwiegt zunächst der Eindruck empfindsamen Uberschwangs, so daß man geneigt sein könnte, diesen Briefroman etwa als ein lyrisches Tagebuch des Helden zu lesen. Indessen tendiert Werther vor allem im ersten Teil des Buchs und dann wieder verstärkt gegen Ende des zweiten Teils dazu, die briefliche Mitteilung und das briefliche Sich-Mitteilen ins Lehr- und Predigthafte zu überfuhren. Keineswegs begnügt er sich mit vereinzelten allgemeinen Lehrsprüchen, sondern macht seine Erfahrungen zum Predigttext, meditiert und verwandelt sie oft genug in eine nicht nur an den Briefpartner gerichtete Paränese. So etwa in den Briefen vom 17. und 22. Mai, besonders aber in dem

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v o m 2 6 . M a i . N a c h d e m Werther über d e n Wert v o n R e g e l n i n der K u n s t a u s ü b u n g g e s p r o c h e n u n d sie v e r d a m m t hat, fährt er fort: (...) sagst du, das ist zu hart! Sie schränkt n u r ein, beschneidet die geilen R e b e n etc. Guter Freund, soll ich dir ein Gleichniß geben: es ist damit wie mit der Liebe, ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tags bey ihr zu, verschwendet all seine Kräfte, all sein Vermögen, u m ihr jeden Augenblik auszudrükken, daß er sich ganz ihr hingiebt. U n d da käme ein Philister, ein M a n n , der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: feiner j u n g e r Herr, lieben ist menschlich, nur m ü ß t ihr menschlich lieben! Theilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, u n d die Erholungsstunden widmet eurem Mädchen, berechnet euer Vermögen, u n d was euch von eurer N o t h d u r f t übrig bleibt, davon verwehr ich euch nicht ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen. Etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage etc. - Folgt der Mensch, so giebts einen brauchbaren j u n g e n Menschen, u n d ich will selbst j e d e m Fürsten rathen, ihn in ein Collegium zu sezzen, nur mit seiner Liebe ist's am Ende, u n d wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. Ο meine Freunde! w a r u m der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in h o h e n Fluthen hereinbraust, u n d eure staunende Seele erschüttert. Lieben Freunde, da w o h n e n die gelaßnen Kerls auf beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete, und Krautfelder zu Grunde gehen würden, und die daher in Zeiten mit dämmen und ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen. 21 I m B r i e f des f o l g e n d e n Tags k o m m e n t i e r t W e r t h e r selbst diesen Text: »Ich bin, w i e ich sehe, i n V e r z ü k k u n g , Gleichnisse u n d D e k l a m a t i o n verfallen (.. ,)« 22 A h n l i c h fällt der B r i e f v o m 21. Juni in ein Gleichnis. A m 1. Juli hält W e r t h e r e i n e Predigt g e g e n die b ö s e Laune, die in e i n e m W e h e - R u f gipfelt: »Weh d e n e n sagt ich, die sich der G e w a l t b e d i e n e n , die sie ü b e r e i n H e r z haben, u m i h m die e i n f a c h e n Freuden z u rauben, die aus i h m selbst h e r v o r k e i m e n . « 2 3 I m Pathos der D e k l a m a t i o n g e h t er dabei v o m situationsgebotenen »Sie« in ein repräsentatives »Du« über u n d fugt e i n e w a r n e n d e S z e n e ein, die übrigens der S z e n e an s e i n e m e i g e n e n Totenbett erstaunlich ähnlich ist. I m B r i e f v o m

8. A u g u s t v e r w e n d e t Werther

zwei

Gleichnisse, die er auch als s o l c h e b e z e i c h n e t , u n d führt g e g e n sich 21 22 23

DjG IV, S. 112. Ebenda. Ebenda, S. 125.

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selbst ein drittes ins Feld, das an Matthäus 5,29 erinnert. 24 Im großen Streitgespräch mit Albert über den Selbstmord, das mit Bibelanlehnungen durchsetzt ist, verwendet er eine dem Kontrahenten bekannte Geschichte als Exempelgeschichte und fällt wiederum in den Plural: »Daß ihr Menschen«, 25 »Schämt euch, ihr Nüchternen. Schämt euch, ihr Weisen.«26 Und wieder bricht er in einen WeheR u f aus: »Wehe dem, der zusehen und sagen könnte Werther< und der Frage nach dem Vater —, es wird zum Gleichnis eines legitimen, aber scheiternden Emanzipationsversuchs. Goethe deutet den Selbstmord als freiwillige Heimkehr zum Vater: Vater, den ich nicht kenne! Vater, der sonst meine ganze Seele füllte, und nun sein Angesicht von mir gewendet hat! R u f e mich zu dir! Schweige nicht länger! Dein Schweigen wird diese durstende Seele nicht aufhalten — U n d würde ein Mensch, ein Vater zürnen können, dem sein un-

24 25 26 27 28 29

Vgl. ebenda, S. 132. Ebenda, S. 134. Ebenda, S. 135. Ebenda, S. 137. Ebenda, S. 134 f. Ebenda, S. 185.

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vermuthet rükkehrender Sohn um den Hals fiele und rief: Ich bin wieder da mein Vater. Zürne nicht, daß ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist überall einerley, auf Müh und Arbeit, Lohn und Freude; aber was soll mir das? mir ist nur wohl wo du bist, und vor deinem Angesichte will ich leiden und gemessen - Und du, lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir weisen?30

Nur als Held ohne bürgerlichen Vater konnte Werther so gestaltet werden, daß auf Schritt und Tritt der Leser veranlaßt wird, seinen Weg, seine »Leiden« an denen des, wie er im Roman genannt wird, »Lehrers der Menschen«,31 an Jesus, zu messen und vor diesem Hintergrund zu deuten. Deutung und Umdeutung des nur bei Lukas überlieferten Gleichnisses vom verlorenen Sohn haben in der modernen Literatur eine gewisse Prominenz erfahren; erinnert sei nur an die Versionen Andre Gides und Rainer Maria Rilkes. Hier in Goethes >WertherWerther< stehen dabei zumeist Notwendigkeit und Grenzen der Emanzipation zur Diskussion. 33 Werthers Umdeutung ist nicht nur eine der frühesten, sondern auch eine der radikalsten Antworten auf dieses Problem, das in den größeren Zusammenhängen der Säkularisation und der mit ihr einhergehenden Unsicherheiten zwischen Desorientierung und Neuorientierung gesehen werden muß. Werther, dem im Verlauf des Romans sowohl die »patriarchalische Idee« abhanden kommt als auch die Lebensgewißheit im Vertrauen auf einen in der Natur antwortenden all-liebenden Schöpfergott, deutet seinen Selbstmord als

30

Ebenda, S. 166. Ebenda, S. 122. 32 Vgl. dazu: Albrecht Schöne, Wiederholung der exemplarischen Begebenheit J. M. R . Lenz, in: Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne, Göttingen 1958, S. 92 ff. 33 Ausgehend von der Beziehung des >WertherKirchen- und KetzerhistorieWerther< und Gottfried Arnolds >Kirchen- und KetzerhistorieWerther< bleibt die radikalste Tat, die in den christlichen Jahrhunderten zuvor stets als Ausfluß der Sünde mangelnden Gottvertrauens angesehen und dementsprechend verdammt wurde, eine letzte, äußerste Probe auf die Gotteskindschaft, keine Verzweiflung an der Vaterliebe Gottes, sondern eine verzweifelte Liebe eben zu diesem Vatergott. Dieser Liebe bringt Werther sich, abgesehen von allen anderen Motiven seiner Tat, zum Opfer. Kein Geistlicher hat ihn begleitet, und kein Kritiker aus der älteren Generation hat ihn verstanden. U n d Goethe selbst bedurfte langer Jahre harter, insbesondere naturforschender Arbeit, u m jene Lebenssicherheit fur sich zu finden, die ihm weder die überlieferte Religion noch der Vernunft- und Tugendglaube der Vätergeneration zu vermitteln vermochten. Auch wenn Werthers Tod kein Erlösungstod ist, so können sein Leiden und sein Tod dennoch als eine stellvertretende Passion gedeutet werden. Vielleicht stand ein solcher Gedanke sogar schon vor Goethe, als er an den R o m a n noch gar nicht dachte, sondern gerade erst von Jerusalems Tod erfahren hatte. N o c h einmal sei an den schon zitierten Brief erinnert: »Aber die Teufel, welches sind die schändlichen Menschen (...) sind schuld an diesem Unglück an unserm Unglück «34 Goethe nahm das schlimme Ereignis von Anfang an nicht als einen Einzelfall, sondern exemplarisch, als ein Schicksal, charakteristisch und typisch flir seine Generation. Von hier schlägt sich der Bogen zu dem Satz in der Herausgebervorrede: »Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er« - den Drang zum Selbstmord. So wie Goethe selbst sich im Brief mit Jerusalems Unglück identifiziert, schafft er eineinhalb Jahre später 34

Vgl. D j G III, S. 7.

AUF D E R SUCHE NACH DEM VERLORENEN VATER

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eine Identifikationsfigur fiir seine Generation. Soviel wir von Karl Wilhelm Jerusalem wissen, hat Goethes Romanheld keine Ähnlichkeit mit ihm. Zu vermuten ist aber, daß Goethes Verhältnis zu dem historisch-realen Vorgang im Herbst 1772 sich im Dichter umgeformt hat zu jenem Verhältnis von Leser und Romanfigur, das der Herausgeber im zweiten Absatz der Vorrede nahelegt. Für die ältere Generation war Werther, mit Lessings Worten, ein »abenteuerlicher Charakter«,35 fiir die jüngere: einer ihresgleichen. Eine Erlöserfigur konnte er nicht sein und sollte er nicht sein, wohl aber die Figur eines stellvertretend für seine Generation Leidenden. Somit übernimmt mit Goethes Buch die schöne Literatur zum ersten Mal ausdrücklich die Aufgabe der seelischen Entlastung der Leser. Das vom Herausgeber nahegelegte Verhalten ist das der Sublimierung eigener »Dränge« durch Lektüre. Es heißt im Vorwort ja nicht: laß Werther deinen Freund sein, sondern »laß das Büchlein deinen Freund seyn«. Das bedeutet auch: vergiß nicht, daß du es mit einem Bild, das die Einbildungskraft produziert hat, nicht aber mit einer Vorbildfigur zu tun hast. Unter den frühen Rezensenten hat das Lenz als erster zu Recht hervorgehoben. 36 Die Prägung einer solchen Identifikationsfigur, nicht zur Imitatio, sondern zur Entlastung gedacht, vollzieht sich unter Heranziehung von Gestaltungsmitteln, wie sie aus den Evangelien vertraut sind, die schöne Literatur beerbt erkennbar die geistliche Literatur. U m das tun zu können, bedarf sie einer autoritätssicheren Sprache, wie die geistliche Literatur sie im 18. Jahrhundert noch besitzt, zumal die Sprache der Evangelien in der Lutherschen Ubersetzung. Im Vertrauen auf diese Sprache schreibt Goethe seine Version der Geschichte vom verlorenen Sohn. Während sich in dieser Epoche der Heraufkunft einer kritischen Bibelwissenschaft Gelehrte und fromme Laienkreise um die richtige Weise der Bibelinterpretation stritten, 37 um die Nachfolge Christi in christlicher Lebenspraxis abzusichern, wendet sich der Dichter 35

Lessing an Johann Joachim Eschenburg, 26. Oktober 1774, in: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, hrsg. von Karl Lachmann, 3. Aufl., besorgt durch Franz Muncker, Band 18, Leipzig 1907, S. 115. 36

Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz, Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers, insbesondere den 8. Brief, in: J. M. R . Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Band 2, München 1987, S. 684 f. 37 Auch davon gibt es ein Echo im >WertherDie Leiden des jungen Werthers< sind die Planke, die der Dichter in einer Epoche der Glaubenskrise sich verschafft hat und die er anderen, gleichgefährdeten Lesern anbietet.

3 8 WA IV, 23, 185 f. Vgl. auch Goethes Brief an Zelter vom 26. März 1816 (WA IV, 26, 312f.).

DIE FAUST-LEGENDE IN D E U T S C H L A N D . EINE SKIZZE

Es kann wohl kein Zweifel darüber herrschen, daß es in Deutschland etwa zweihundert Jahre lang — die zweihundert Jahre mögen durch die Namen Lessing und Thomas Mann nach Beginn und Ende markiert sein — um die Gestalt des Dr. Faust einen im Einzelnen recht intensiv erforschten, im Ganzen aber so schwer zu beschreibenden wie begrifflich zu fassenden Kreis von künstlerischen - und zwar sowohl dichterischen als auch musikalischen als auch bildkünstlerischen — Hervorbringungen, aber auch eine Fülle von mit der Faust-Gestalt, ihrer Lebensbahn und ihren bedeutendsten Begebenheiten mehr oder weniger metaphorisch umgehenden gedanklichen Versuchen gegeben hat, die man unter dem Sammelnamen »Faust-Legende« der raschen Verständigung halber zusammenfassen darf. 1 Daß es eine solche Faust-Legende auch heute noch gibt, muß freilich bezweifelt werden. Seit Thomas Manns >Dr. FaustusDoktor FaustusHistoria von D. Johann Fausten< von 15874 den Namen »Legende« rechtfertigt, mag dahingestellt bleiben. Eine Reihe von Forschern spricht lieber von »Faust-Sage« oder »Faust-Mythos«. Andrejolles nimmt in seine Bestimmung der Legende als einfacher Form aber auch deren negative Ausprägung, die Geschichten von den großen Unheiligen auf und nennt neben Simon Magus, Ahasver, dem Fliegenden Holländer und Don Juan insbesondere auch Faust.5 Der ersten Intention nach haben wir es in der Tat mit einer Antilegende zu tun, nicht mit einem Vorbild, sondern mit einem Schreckbild. Erst seit Lessing — und entgegen der landläufigen Forschungsmeinung nicht einmal bei 3 Vgl. Andre Dabezies, Visages de Faust au X X C Siecle. Litterature, Ideologie et Mythe, Paris 1967; Eric A. Blackall, What the devil?! - Twentieth-Century Faust, in: Peter Börner, Sidney Johnson (Hrsg.), Faust through Four Centuries, a.a.O. (Anm. 1), S. 197 ff. 4 Historia von D. Johann Fausten, Text des Druckes von 1587, Kritische Ausgabe, mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke, hrsg. von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1988. 5

Vgl. Andrejolles, Einfache Formen. Legende/Sage/Mythe/Rätsel/Spruch/Kasus/Memorabile/Märchen/Witz, zweite unveränderte Aufl., Darmstadt 1958, S. 53.

DIE FAUST-LEGENDE IN DEUTSCHLAND. EINE SKIZZE

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ihm eindeutig — beginnt die Faszination durch Faust sich vom Grauenerregenden über das Problematische zum Positiven umzuwenden, wobei die das Ironische übersehende Lektüre des Goetheschen >Faust< wohl die Wasserscheide markiert. Jedenfalls war es das von Johann Spies 1587 gedruckte Faust-Buch, das zuerst die für eine Antilegende um Faust unabdingbaren Fixpunkte in sich vereinigte: Hier finden wir die vollständige Geschichte einer Gestalt namens Faust von der Kindheit und Jugend bis zum bösen Ende; ferner finden wir eine Reihe von Ereignissen und Handlungen im Kontext dieser Lebensgeschichte, die als bedeutende Motive immer wieder fruchtbar wurden; der gesamte Lebenslauf Fausts ist in allen seinen Stationen in ein metaphysisches Bezugsfeld gestellt; und schließlich liegt diesem Leben und seinem Verlauf ein einheitsstiftendes thematisches Zentrum von hohem geistesgeschichtlichen Rang zugrunde, die Frage nach der moralischen Qualität von Erkenntnis. In der Sprache der patristischen und mittelalterlichen Theologie ausgedrückt, ist es das Thema der Concupiscentia oder Cupiditas, bei Goethe klingt es nach in dem Wort »Begierde«: So tauml' ich von Begierde zu Genuß, Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.

So im Monolog >Wald und HöhleFaust. Ein Fragment in der Tragödie ersten Teil hinübernahm. 6 Die Begierde als eine Kardinalsünde läßt sich sowohl nach ihren Zielen als auch nach den Sinnen, um deren Selbstbefriedigung es geht, ausdifferenzieren, und eine unter den spezifischen Begierden wurde für die Faust-Legende entscheidend: die Wißbegierde; ursprünglich ist sie von der Neugier nicht unterschieden, in der Sprache Augustinus' gehört sie zur curiositas, und die wird als concupiscentia oculorum, als Begierde der Augen zur Selbstbefriedigung dieses Sinnesorgans, verstanden. 7 Sowohl in der >Historia von D. Johann Faustenc, wo 6

Goethes Werke Band III. Textkritisch durchgesehen und mit A n m e r k u n g e n versehen von Erich Trunz, 5. Aufl., H a m b u r g 1960. Dramatische D i c h t u n g e n . Erster Band. Faust, S. 104. 7 Vgl. Joachim Ritter, Karlfried G r ü n d e r (Hrsg.), Historisches W ö r t e r b u c h der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, S. 732, Sp. 2 (Artikel >NeugierdeFaustFaustUrfaust< an steht eine unbegrenzte und unbefriedigte Wißbegier am Beginn von Fausts hybrider Lebensbahn. Aber gerade die gegen Ende des 16. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern im ganzen Westeuropa eintretende Aufspaltung der Curiositas in bloße Neugier einerseits, Forscherneugier oder Wißbegier andererseits gewann für die Faust-Legende, gewann vor allem für die Verwerfung oder Rechtfertigung seines Handelns entscheidende Bedeutung. Ehe ich mich der Faust-Legende unmittelbar zuwende, ist es wohl geboten abzugrenzen, was denn die im Titel meiner Vorlage formulierte Wendung »in Deutschland« genauer besagt. Der Faust der Legende hat vom historischen Georg Faust nicht viel geerbt, unter dem wenigen aber dies, daß er deutscher Herkunft ist.8 Die historisch verifizierbaren Nachrichten über das Wirken und den Charakter Georg oder nach anderen Quellen Johannes Fausts — viele sind es nicht, und eigene Schriften hat der Magier und Astrologe aus der Generation Martin Luthers nicht hinterlassen — ergeben ein widersprüchliches Bild. Schattenhaft zeigt sich der Umriß eines deklassierten Renaissance-Gelehrten, der sich sehr wohl bei einigen gebildeten und hochstehenden Zeitgenossen Ansehen zu verschaffen wußte, der aber auch, sei es aus Not, sei es aus Neigung, sein Auskommen durch magische Praktiken bei einfachen Leuten und Bauern suchte. Der Ruf, den der Charakter des historischen Faust genoß, war nicht der beste, an moralischen Vorwürfen mangelte es nicht, der Teufelsbündlerei aber ist er nicht geziehen worden. Anders als die drei Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin, anders als die großen Renaissance-Gelehrten Erasmus und Reuchlin, Kepler und Paracelsus, ist der historische Faust eine Figur von provinziellem Zuschnitt. Aber gerade die Bedeutungslosigkeit des historischen Faust, der Mangel an Nachrichten über seine Person und über sein Denken war eine günstige Voraussetzung dafür, daß zu dem Namen eine Gestalt erfunden werden konnte, die in der Legende zu finsterer Größe heranwuchs. Das geschah nun nicht s Z u m Folgenden vgl. insbes. Frank Baron, Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, München 1982.

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in Deutschland schlechthin, sondern ausschließlich im lutherischen Deutschland. Bis hin zu Goethe gibt es keinen nennenswerten Beitrag aus dem katholischen Deutschland zur Entstehung und Ausgestaltung der Faust-Legende. Und das ist kein Zufall, es hat vielmehr zu tun mit dem spannungsreichen Verhältnis von lutherischer R e formation und Renaissance-Gelehrsamkeit und später von lutherischer Orthodoxie und Aufklärung. Zuerst sind Luther und Melanchthon die Erben der augustinischen Curiositas-Problematik; im 18. Jahrhundert kämpfen ihre Nachfolger, die lutherisch-orthodoxen Theologen, schon auf verlorenem Posten, wenn sie deren Verdammung in vollem Umfang, also auch die der theoretischen, der Forscher-Neugier, aufrechterhalten wollen. Goethe hat erkannt, daß die Wißbegierde allein das Problemzentrum der Faust-Legende nicht mehr bilden konnte, und so hat er Fausts Streben wieder mit einem weiteren Verständnis der Concupiscentia verknüpft. Seine Gestaltung der Legende verbindet sich aber auch mit jenem Kritizismus, den die Aufklärung selbst aus sich hervortrieb und der große Bereiche der Erkenntnis dem Zugriff methodischen Forschens a priori entzog. Und sein Werk hat überdies die Legende von ihrer alten Bindung an die lutherische Theologie befreit — für einen M o ment nur gewann sie einen universellen Gehalt, denn alsbald schon geriet sie in eine neue Enge, in die der Ideologie vom deutschen Nationalcharakter. Bis hin zu Thomas Mann finden sich in allen Faust-Gestaltungen des 19. Jahrhunderts wenigstens Spuren, zumeist aber sehr massive Elemente einer, wie man sie zu nennen pflegt, altdeutschen, romantisch getönten Faust-Rezeption. Was der Faust-Legende im späten achtzehnten Jahrhundert an kulturpatriotisch begründetem Antiklassizismus und Antigallizismus zuwuchs, verengt sich zu einem Faust als der exemplarischen Gestalt einer deutschen Ideologie. Als durchgeführtes literarisches Werk wird die Faust-Legende erstmals im Spies sehen Buch von 1587 greifbar: Historia von D. Johann Fausten/dem weitbeschreyten Zauberer unnd Schwartzkünstler/Wie er sich gegen dem Teuffei auff eine benandte zeit verschrieben/Was er hierzwischen für seltzame Abentheuwer gesehen/ selbs angerichtet und getrieben/biß er endelich seinen wol verdienten Lohn empfangen. Mehrertheils auß seinen eygenen hinderlassenen Schtifften / allen hochtragenden / fürwitzigen und Gottlosen Menschen

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zum schrecklichen Beyspiel/abscheuwlichen E x e m p e l / u n d treuwhertziger Warnung zusammen gezogen/und in den Druck verfertiget. I A C O B I IUI. Seyt Gott underthänig/widerstehet dem Teuffel/so fleuhet er von euch. 9

Alle diesem Buch vorausliegenden schriftlichen Zeugnisse, sei es zum historischen Faust, sei es pure Erfindung, sei es eine Mischung aus beidem, ergeben noch keine Faust-Legende. Für das besondere Gewicht, das der Name Faust gewann, haben jedoch vor allem die Wittenberger Theologen Luther und Melanchthon sowie Melanchthons Schüler Johann Manlius Vorarbeit geleistet. Dabei kann man, was die Gestalt Fausts betrifft, Luther noch beinahe übergehen. Denn Luther hat zwar Faust als sündigen Zauberer in den >Tischgesprächen< diskreditiert und ihn in die rein textliche Nachbarschaft seiner Teufelstheologie gerückt, eine besonders enge Verbindung zum Teufel aber hat er ihm nicht nachgesagt. Wohl aber ist die >Historia von D. Johann Fausten< ganz von Luthers massiver Teufelsvorstellung geprägt, einem Erbe, das der Reformator aber keineswegs speziell der >Historia< vermacht hat, es gehört vielmehr allgemein zur lutherischen Theologie der zweiten und dritten Generation. Von den bei Luther überlieferten Teufelsbegebenheiten haben sich einige später in der >Historia< mit Fausts Namen verbunden, ohne daß Luther selbst eine solche Verbindung hergestellt hätte. Zum ersten Mal findet sich bei Melanchthon die Verbindung von Faust mit einer Begebenheit, die später fester Bestandteil der Faust-Legende wurde: Faust habe sich dank der Hilfe des Teufels in die Lüfte erhoben. Das ist insofern von Bedeutung, als ein prominenter anderer Zauberer eben dasselbe mit dem Teufel zustandebrachte: Simon Magus, der Widerpart der Apostel, um den sich ebenfalls und schon seit Jahrhunderten eine Antilegende gebildet hatte. Wiederum einen Schritt auf die Herausbildung der FaustLegende zu vollzieht Melanchthons Schüler Johannes Manlius. Und wie Melanchthon die Faust-Gestalt in die Nähe des Simon Magus gerückt hatte, so überträgt Manlius Gerüchte um Agrippa von Nettesheim auf Faust: von hier kommt das Motiv, der Teufel habe Faust ständig in der Gestalt eines Hundes begleitet, in die Faust-Legende. Trotz dieser bedeutsamen Vorklänge bleibt die >Historia< von 1587 9

Historia von D. Johann Fausten, a.a.O. (Anm. 4), Titel.

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fiir die Entstehung der Faust-Legende grundlegend. Das gilt insbesondere für Fausts Pakt mit dem Teufel und für sein Motiv dazu. Der unbekannte Verfasser dieses Buches stellt uns im Kind und im Jugendlichen Faust einen Menschen von hoher natürlicher Begabung vor und rühmt »sein trefflich ingenium und memoriam«, seine rasche Auffassungsgabe, seine außergewöhnlichen Erfolge im Studium der Theologie und schließlich sein Hinüberwechseln zur Magie und Medizin: DAs gefiel D. Fausto wol/speculiert und studiert Tag und Nacht darinnen/wolte sich hernacher keinen Theologum mehr nennen lassen/ward ein Weltmensch/nandte sich ein D. Medicinae/ward ein Astrologus unnd Mathematicus/und zum Glimpff ward er ein Arzt.

Er gibt sich aber nicht zufrieden mit dem, was er auf natürlichem Wege erkennen, erfahren und bewirken kann, sondern er will mehr und schreitet dabei aus den Grenzen des dem Menschen Zugemessenen — er ist von der Sünde der Superbia, der Hochfahrenheit ergriffen: denn er hat nicht nur einen »gelernigen und geschwinden Kopff«, sondern auch einen »thummen/unsinnigen unnd hoffertigen KopfF«. Seine Curiositas ist die spezifische Form, in der seine Superbia, sein Hochmut sich auslebt: Wie obgemeldt worden/stunde D. Fausti Datum dahin/das zulieben/ das nicht zu lieben war/dem trachtet er Tag und Nacht nach/name an sich Adlers Flügel/wolte alle Gründ am Himmel und Erden erforschen/dann sein Fürwitz/Freyheit und Leichtfertigkeit stäche unnd reitzte jhn also/ daß er aufFeine Zeit etliche zauberische vocabula/figuras/characteres und coniurationes/damit er den Teufel vor sich möchte fordern/ins Werck zu setzen/und zu probiern j m furname.

In der Verschreibungsurkunde, mit der sich Faust dem Teufel übergibt, lautet es entsprechend: Nach dem ich mir fiirgenommen die Elemente zu speculieren/und aber auß den Gaaben/so mir von oben herab bescheret/und gnedig mitgetheilt worden/solche Geschickligkeit in meinem KopfF nicht befinde/ unnd solches von den Menschen nicht erlehrnen mag/So hab ich gegenwertigen gesandtem Geist/der sich Mephostophiles nennet Historia< keinen Vorläufer in der bis 1587 vorliegenden Faust-Uberlieferung. Mit dem Pakt selbst und weiter mit dem Motiv für den Pakt hat er dem Faust-Stoff überhaupt erst das Zentrum gegeben, an dem sich die literarische und künstlerische Uberlieferung immer wieder neu befruchten konnte. Altere Sagen und Legenden, ferner die Protokolle des Hexenwahns im 15. und 16. Jahrhundert kannten als Paktmotive Geldgier, Machtgier und Sexualität; ein Teufelspakt, um »alle Gründ am Himmel und Erden« zu erforschen, das ist neu. Außer diesem Hauptmotiv hat der Verfasser der >Historia< noch eine ganze Reihe anderer bedeutender Motive für die Legende bereitgestellt. Dazu gehört das vom Teufel verhängte Eheverbot, denn die Ehe ist ein Stand, »so Gott geordnet unnd eingesetzt hat«, wie es in der >Historia< in Anlehnung an Luther heißt. 12 Hier liegt der Keim für die Erweiterungen der Erkenntnistragödie und Gelehrtentragödie zum Geschlechterdrama, das so viele Gestaltungen des FaustStoffs mitgeprägt hat. Ein großer Teil der >Historia< ist der Unterrichtung Fausts durch die Lehren des Teufels und durch die Reisen zunächst in Hölle und Sternenhimmel, dann auch über die Erde bis an ihre Grenze, zum irdischen Paradies, gewidmet: Astronomie, Astrologie, Kalendermacherei, Wetterkunde stehen im Vorder11

Luthers Werke in Auswahl. Unter Mitwirkung von Albert Leitzmann hrsg. von

O t t o Clemen. Vierter Band, Bonn 1913, S. 54. 12

Martin Luther, Vom ehelichen Leben, in: Luthers Werke in Auswahl, a.a.O.

(Anm. 11). Zweiter Band, S. 351: »das Gott die ehe selbs eyngesetzt«; S. 353: »stand (.. .)/den Gott eyngesetzt hatt«; S. 354: »Gott, der sie alßo verordnet hatt«.

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grund. Im dritten Teil der >Historia< ruft Faust mit der Hilfe von Mephostopheles Alexander den Großen und seine Gemahlin R o xane aus der Unterwelt herauf - ein Motiv, das sich zuvor schon in den Anekdoten über Tritemius hatte finden lassen —, und es kommt zu dem gestaltungsträchtigen Motiv der Beschwörung Helenas, die der Autor in ihrer Schönheit mit spürbarem Eifer beschreibt — die anwesenden Studenten verlieben sich nicht nur in sie, sie wollen auch einen Maler herbeischaffen, »der solte sie abconterfeyten«,13 wozu es Faust aber nicht kommen läßt. Und schließlich berichtet die >Historia< »Von der Helena auß Griechenland/so dem Fausto Beywohnung gethan in seinem letzten Jahre«,14 und daß Faust mit ihr einen Sohn hatte, der die Zukunft voraussagen konnte und mitsamt der Mutter bei Fausts jämmerlicher Höllenfahrt verschwand. Mit dieser Reihe von Motiven war ein ausgestaltungs- und ausdeutungsfähiges Fundament für das Weiterleben des Stoffes in der Poesie, der bildenden Kunst und auch der philosophisch-weltanschaulichen Traktat- und Essayliteratur gelegt. Gegen Ende der >HistoriaHistoria< von 1587 war ein großer unmittelbarer publizistischer Erfolg beschieden, der auch über verschiedene Bearbeiter bis ins 17. und 18. Jahrhundert anhielt. Aber bis in die Zeit der Aufklärung hinein hat der Stoff in Deutschland keinen bedeutenden Dichter oder Künstler herausgefordert, die Faust-Legende blieb eine Angelegenheit der Trivialliteratur und der vorwiegend evangelischen Erbauungs- und Mahnliteratur. Das zu erklären, vermag vielleicht ein Blick in die Philosophiegeschichte zu helfen. Hans Blumenberg, dessen Forschungen zum Curiositas-Problem in der frühen Neuzeit 13 14 15

Historia von D. J o h a n n Fausten, a.a.O. (Anm. 4), S. 98. Ebd., S. 110. Ebd., S. 123.

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für die Faust-Forschung noch nicht hinreichend beachtet worden sind, hat dargestellt, wie spätestens von Giordano Bruno an, über Francis Bacon, Galilei und Descartes, bis in die frühe Aufklärung die Wißbegierde als Forscherneugier immer weniger dem theologisch-moralischen Verdikt verfällt.16 Entsprechend mußte der FaustStoff für die Gebildeten an Pathos verlieren. Schon von Giordano Bruno kann Blumenberg schreiben: »Er ist zumindest in dem, was er der Welterkenntnis des Menschen zutraut, die reale Faustgestalt des Jahrhunderts, dem poetischen Genossen an Nachmittelalterlichkeit weit voraus.« 17 Zwar nicht in Deutschland, wohl aber in England hat allerdings die >Historia von D. Johann Fausten< sogleich ein dichterisches Werk von hohem R a n g angeregt. 1604 erschien im Erstdruck Christopher Marlowes >The Tragicall History of D. FaustusDie Legitimität der NeuzeitQuo ruitis?< einer harschen Kritik unterzogen. Darin faßt er den Standpunkt der lutherischen Orthodoxie in sechs Thesen zusammen, deren zweite und sechste mit den Begriffen »Geheimnis« und »Wunderwerk« die gedankliche Sphäre des Faust-Stoffes berühren: Unstreitig ist es, daß die wahre geoffenbarte Religion »ohne wahre Geheimnisse, welche in diesem Leben nicht zu ergründen sind, nicht bestehen könne«, und weiter, daß sie es nicht vertragen könne, »wenn die Lehren vom Gebeth und von den Wunderwercken nicht rein erhalten werden«; und Löscher vergleicht den Anspruch der neuen aufklärerischen Philosophie mit dem Turmbau zu Babel, neben der Metapher von den Adlersflügeln und dem Vergleich mit Ikarus das dritte große Bild für die Hybris des Menschen: Gott verhüte, daß m a n unter d e m Schein des augmenti scientiarum, und bey d e m Vorhaben, die Philosophie aufs höchste zu treiben, nicht abermahls in den ungeheuren Vorsatz ausbreche: Wolauf, last uns eine Stadt und einen Thurm bauen, dessen Spitze biß in den Himmel reiche, daß wir uns einen Nahmen machen.20 Valentin Ernst Löscher, Q u o ruitis? Erstes Pensum, (zuerst 1735). Zitiert nach: 18. Jahrhundert. Texte und Zeugnisse. In Verbindung mit Christoph Pereis hrsg. von Walther Killy. Erster Teilband, München 1983, S. 20f., S. 23. (Die Deutsche Literatur. Bd. IV). 20

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Die alte augustinische Verdammung der Curiositas erweist sich hier im vorgerückten 18. Jahrhundert durchaus noch als virulent. U n d noch Lavater bestätigt fünfzig Jahre nach Löscher, »daß es Fakt α gibt, vor denen die Weltweisheit den Finger auf den Mund legen muß.« 2 1 Aber damit stehen wir schon in der Epoche der die Bereiche des der Forschung und Erkenntnis Zugänglichen neu vermessenden Vorromantik, in der die Faust-Legende ihre erste dichterische Blütezeit erlebte. Zurück zu Lessing. Eine Bearbeitung der Faust-Legende muß er schon als Student in Leipzig kennengelernt haben, und im Verlauf seines Lebens als dramatischer Dichter ist er zumindest mit zwei Konzepten eines eigenen Faust-Dramas umgegangen. Zunächst instrumentalisiert er die Schauspiele vom Dr. Faust in seinem Kampf gegen Gottsched und gegen dessen Propagierung des französischen Theaters. Stattdessen empfiehlt er Shakespeare und Stücke, die dessen Dramaturgie verwandt sind — womit er, wohl ohne von Marlowe zu wissen, den elisabethanischen Ursprung der auf den Jahrmärkten gespielten Faust-Dramen indirekt zur neuen deutschen Theaternorm macht. Im 17. Literaturbrief, 1759, schreibt er: Daß aber unsre alten Stücke wirklich sehr viel Englisches gehabt haben, könnte ich Ihnen mit geringer Mühe weitläuftig beweisen. N u r das b e kannteste derselben zu nennen: >Doctor Faust< hat eine Menge Szenen, die nur ein Shakespearesches Genie zu denken vermögend gewesen. U n d wie verliebt war Deutschland, und ist es zum Teil noch, in seinen >Doctor FaustBerliner Szenar< ist das Grundthema der Faust-Legende angeschlagen: Z u viel W i ß b e g i e r d e ist ein Fehler; u n d aus e i n e m Fehler k ö n n e n alle Laster e n t s p r i n g e n , w e n n m a n i h m zu sehr n a c h h ä n g e t . N a c h diesem Satze e n t w i r f t d e r Teufel, d e r i h n v e r f u h r e n will, seinen P l a n . 2 3

Leider erfahren wir weder aus diesem Szenar noch aus späteren Berichten über Lessings Pläne, wie die Verführung im einzelnen vonstatten gehen sollte. Nach Blanckenburgs Aufzeichnung tritt am Schluß ein Engel mit folgendem Satz gegen die Teufel auf: T r i u m p h i e r t nicht, ihr h a b t nicht ü b e r M e n s c h h e i t u n d Wissenschaft g e siegt; die G o t t h e i t hat d e m M e n s c h e n nicht d e n edelsten d e r T r i e b e g e g e b e n , u m i h n e w i g u n g l ü c k l i c h zu m a c h e n . 2 4

Johann Jakob Engel teilt unter anderem mit, die ganze Verführungsgeschichte durchlebe Faust nur im Traum: Alles (...) ist T r a u m g e s i c h t f ü r d e n schlafenden w i r k l i c h e n Faust: dieser erwacht, da s c h o n die Teufel sich schamvoll u n d w ü t e n d e n t f e r n t h a b e n , u n d dankt der V o r s e h u n g f ü r die W a r n u n g , die sie d u r c h e i n e n so l e h r r e i c h e n T r a u m i h m hat g e b e n w o l l e n . 2 5

Die Curiositas als Wißbegierde ist nun nicht mehr, wie der »Fürwitz« in der >Historia von D. Johann FaustenFaust< kommen darin überein, daß der Charakter des noch jünglinghaften Helden sehr hoch angesetzt war: »Ganz der Weisheit ergeben«, »jeder Leidenschaft absagend«, und nach dem Warntraum »fester in Wahrheit und Tugend, als jemals«, so charakterisiert ihn Johann Jakob 23

Gotthold Ephraim Lessing, Werke, a.a.O. (Anm. 22). Zweiter Band. Trauerspiele, Nathan, Dramatische Fragmente, S. 489. 24 Ebd., S. 780. 25 Ebd., S. 783.

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Engel. 26 Wir haben ihn uns wohl als einen jener Charaktere vorzustellen, wie sie Lessing generell für das Drama forderte: E i n M e n s c h k a n n s e h r g u t sein u n d d o c h n o c h m e h r als e i n e S c h w a c h h e i t h a b e n , m e h r als e i n e n F e h l e r b e g e h e n , w o d u r c h e r sich i n u n a b s e h l i c h e s U n g l ü c k s t ü r z e t {...> 2 7

vielleicht, um die Fallhöhe zu vergrößern, noch etwas näher an den tugendhaften Helden der klassizistischen Tradition. Wenn die Wißbegierde als Streben nach Wahrheit ein von Gott dem Menschen verliehener Trieb ist, dann verändert auch der Begriff »Geheimnis« von Grund auf seine Bedeutung: er wird dann von dem, was nicht erforscht werden darf, zu dem, was noch nicht erforscht ist — der Begriff wird zu einem negativen, in genauem Gegensatz zu dem, was Löscher als eins der Fundamente jeder geoffenbarten Religion festgelegt hatte. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf Lessings hochkompliziertes Verhältnis zur lutherischen Orthodoxie einzugehen, mit der er sich sein Leben lang auseinandersetzte. Soviel aber sei festgestellt, daß der Lessing der fünfziger Jahre in seinen religionskritischen Schriften den Geheimnis-Begriff, wie ihn die Orthodoxie vertrat, ausdrücklich verwarf. 28 Eine vom Gegenstand der Erkenntnis her begründete Begrenzung der Wißbegier konnte es für ihn im Zeitalter der Aufklärung nicht mehr geben. Es bleiben dennoch genug dramatisch fruchtbare Motive übrig, um sich andere Wege vorzustellen, auf denen die Wißbegier in Schuld fallen kann. Aus den vorliegenden Zeugnissen zu Lessings >Faust< aber sind sie nicht zu rekonstruieren. Nachdem der Dichter 1759 eine Szene aus seinem frühen FaustKonzept veröffentlicht hat, wußte die Sturm und Drang-Generation, daß Lessing an diesem Stoff arbeitete. Das Thema war damit gleichsam für die hohe Literatur geadelt — und die jungen Dichter nahmen sich seiner unter ihren, von denen Lessings freilich völlig verschiedenen, Voraussetzungen her an.

26

Ebd., S. 7 8 2 f . Gotthold Ephraim Lessing, Werke, a.a.O. (Anm. 22). Vierter Band. Dramaturgische Schriften, S. 613f. (Hamburgische Dramaturgie, 82. Stück). 28 Vgl. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, 4. Aufl., Z ü r i c h 1981, S. 216 f. 27

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Mit dem Fortschreiten der Aufklärung in Deutschland verloren nicht nur die Teufel an Kredit, sondern auch die Magie; die pansophisch eingebundene Alchymie wandelte sich in zunehmend empirisch betriebene Chemie, die Astrologie wurde zur physikalischen Astronomie, und die Forscherneugier unterlag nicht nur immer weniger religiös begründeten Restriktionen, sondern erhielt im Gegenteil den R a n g eines eigenen ethischen Wertes, bis Humboldt die uneingeschränkte Freiheit des Forschens und die Einsamkeit des allein der Wissenschaft verpflichteten Forschers zu Prinzipien einer von Preußen her ganz Deutschland ergreifenden R e f o r m des Universitätswesens machte. 29 Daß in diesem hier nur angedeuteten allgemeinen Kontext die Faust-Legende nicht nur nicht unterging, sondern im Gegenteil auf völlig neuer Grundlage zu höchster Blüte kam, ist einzig und allein das Werk Goethes. Der Held seiner >FaustFaustProlog im Himmel·, das Hinauswachsen des Problems über den älteren engen Ausgangspunkt hinaus von vornherein thematisiert. Von Fausts Erkenntnisproblematik ist hier gar nicht erst die Rede, sondern von einem weit mehr umfassenden Anspruch. Mephisto sagt es metaphorisch: Ihn treibt die G ä h r u n g in die Ferne, Er ist sich seiner Tollheit halb bewußt; V o m Himmel fordert er die schönsten Sterne U n d v o n der Erde j e d e höchste Lust, U n d alle Näh' und alle Ferne Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.

Der Herr drückt das Wesen Fausts begrifflich aus und wertet dabei die negativ konnotierte Cupiditas oder Concupiscentia in das positiv konnotierte »Streben« um: Es irrt der Mensch, solang' er strebt. 3 1

Oder er spricht vom »dunklen Drange« Fausts. Ein solches »Streben«, das auf die Ausformung der ganzen Individualität zielt, realisiert sich in der Dynamisierung aller menschlichen Vermögen, nicht nur der intellektuellen Vermögen, und schon gar nicht in der bloßen Wissensanhäufung. Sein Entfaltungsraum ist nicht so sehr die Wörterwelt der Buchgelehrsamkeit, sondern weit mehr die Erfahrungswelt: hier, in Versagen und Bewährung, in Irrtum und Erkenntnis vollzieht sich das »Streben«, das Gott nicht nur Faust oder dem Teufelsbündler oder dem echten Forscher, sondern dem Menschen schlechthin eingepflanzt hat. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 1956, besonders klar in der Kontrastierung von Paracelsus und Faust S. 325 £F. 31 Goethes Werke Band III, a.a.O. (Anm. 6), S. 17f.

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So verknüpft sich mit der Gelehrtentragödie die Gretchentragödie als Fausts Versagen in der Welt der emotionalen und sozialen Bindungen. Weit mehr als in der Gestalt Faustens konnte eine spezifisch deutsche Faust-Legende in der Gestalt Gretchens und ihrer Welt ein Stück deutscher Sozialgeschichte dargestellt finden — und gerade die Gretchentragödie hat in ihrer Ausformung kein Vorbild in den älteren Bearbeitungen des Faust-Stoffes. Das alte, vom Teufel verhängte Eheverbot der Legende hat sich erst in Goethes Werk zur Tragödie mit Verführung, Mord, Totschlag, Kindsmord und Gericht ausgewachsen, angesiedelt in der sozialen Enge eines halbmittelalterlichen deutschen Stadtmilieus. Aus dem alten Motiv der Beschwörung Helenas und ihrer Verbindung mit Faust hat Goethe ein Drama von Fausts Begegnung mit der Welt des Mythos, der Welt der Antike und der Welt der Kunst geschaffen; aus dem alten Motiv von Fausts Zauberkunststükken am Kaiserhof wurde bei Goethe ein Erfahrungsraum des höfischen Lebens, der Welt politischer Macht und mehr noch Ohnmacht, des Krieges und schließlich eigenen Herrschens und Regierens — und alles ins Zwielicht gezogen durch den Anteil Mephistos an der Öffnung dieser Welten. Erfahrung widerfährt einem, und er produziert sie selbst. Die ganze >FaustAbendlied< >Der Mond ist aufgegangen< schließt den Teil >Deutsche Lieder< in den >Stimmen der VölkerDu Morgenstern, du Licht vom LichtFragmenten über die Neuere Deutsche Literatur< 1765 — 1767 und mit den b r i tischen Wäldern< 1769 hatte er in die Literaturkritik und in die Kunsttheorie eingegriffen. Unter anderem hatte er sich mit Lessings >Laokoon< angelegt, und der junge Goethe bemerkt etwas süffisant, Lessing werde wohl »in Herrn Herders Wäldgen garstig Holz machen«7 — Goethe sah ihn damals als einen Teilnehmer des theoretischen Diskurses unter den bloßen Buchgelehrten, und die schätzte er, weil sie keine Erfahrung als ausübende Künstler hatten, nicht 5

Herders Sämmtliche Werke, a.a.O. (Anm. 1), 25. Bd., Berlin 1885, S. 544. Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelische Landeskirche Anhalts, die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, die Evangelische Kirche der schlesischen Oberlausitz, die Pommersche Evangelische Kirche, die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Berlin und Leipzig 1993. 6

7

DjG I, S. 274. An Oeser 14. Februar 1769.

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besonders hoch: »Pour parier des beaux arts il faut plus que d'etre critique«. 8 Schon ein Jahr später sollte er in der persönlichen Begegnung mit Herder gründlich eines besseren belehrt werden. Viel umfangreicher als das, was er bis dahin veröffentlicht hatte, und voller Keime des Künftigen waren die Materialsammlungen, Pläne, Skizzen und Entwürfe, die Herder aus seiner Heimat mitbrachte. Während der Reise reicherte er sie beständig an, und es hat beinahe symbolische Bedeutung, daß er seinen Weg über Paris und Holland nimmt, ehe er in unmittelbaren Austausch mit den deutschen Dichtern und Schriftstellern und zumal den jüngeren unter ihnen tritt. Denn Herder bringt vieles vom Reichtum der europäischen Aufklärung in sein eigenes Denken ein: Anregungen von Spinoza, Shaftesbury und Hume, Gedanken von Condillac und Montesquieu, von Diderot und Rousseau, aber auch von Piaton und Leibniz hat er noch einmal durchdacht und in zustimmender oder kritischer Auseinandersetzung mit ihnen die Grundlagen seiner Anthropologie, seiner Theologie, seiner Gedanken vom Ursprung und Gang der Sprache und der Literaturen erarbeitet und entwickelt. Ein systematischer Denker wie nur irgendeiner, war er doch ein erklärter Gegner großer philosophischer Systeme mit ihren alles aus logischen Deduktionen und mit einem ausgefeilten Begriffsapparat erklärenden zwingenden Wahrheitsansprüchen. Rhapsodisch, andeutend und oft scheinbar abbrechend wie sein Satzbau und sein Prosatil, muten mitunter seine Werke an, darum nennt er sie auch gern »Fragmente«, »Ideen« oder »Zerstreute Blätter«. Als »Orphischen Gesang« bezeichnet Goethe 9 einmal eine der umfangreichsten Frühschriften Herders, die >Älteste Urkunde des MenschengeschlechtsAlteste Urkunde< wurde von den Jüngeren geradezu verschlungen, Claudius rezensierte sie höchst positiv im >Wandsbecker Botenc Sie betrifft aber die Schöpfungsgeschichte Moses', die unser Verfasser auf Adlerflügeln von einem neuen u n d äußerst simpeln M e c h a n i s m o aus all e m B e d r u c k der tausend und tausend Ehrenschändungen allerlei gelehrter Zünfter und Handwerker heimholen oder vielmehr auf ihren eigenen Flügeln, die ihr bisher niemand angesehen hat, selbst heimfliegen lassen will. 2 0

Goethe äußert sich noch emphatischer, und er ist es auch, der andeutend Herders Verfahren umreißt: E r ist in die Tiefen seiner E m p f i n d u n g hinabgestiegen, hat drinne all die h o h e heilige Krafft der simpeln N a t u r aufgewühlt und fuhrt sie nun in d ä m m e r n d e m , wetterleuchtendem hier und da morgenfreundlichlächlend e m , O r p h i s c h e m Gesang v o n A u f g a n g herauf über die Weite Welt, n a c h d e m er vorher die Lasterbrut der neuern Geister, D e - und Atheisten, Philologen, Textverbesserer, Orientalisten, mit Feuer und Schwefel u n d Fluthsturm ausgetilget. 2 1

Einer der aufmerksamsten Leser des Theologen Herder war Jakob Michael Reinhold Lenz, und Herder dankte es ihm - mit seelsorgerlichen Briefen, mit der Zusendung seiner Apokalypse-Interpretation noch vor dem Druck, mit der Vermittlung von Verlegern für Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio, Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772, Tübingen 1966, S. 652, Nr. 116. 2 0 Matthias Claudius, Werke, Erster Band, Dresden o.J., S. 48. 2 1 DjG, a.a.O. (Anm. 9), An Schönborn. 19

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Lenz sehe Werke. Es machte den Dichter stolz, daß Herder aus seinem Stück >Der neue Menoza< in der >Altesten Urkunde< zitierte,22 und er nimmt ihn lebhaft gegenüber seinem Vater vor dem Vorwurf der Heterodoxie in Schutz. 23 Herder ist für ihn »Posaune des Erzengels«, »Hirte«, »großer, göttlicher der Männer«, »Hierophant«, ja einmal nennt er ihn sogar »Heiland«.24 Von Herder angeregt schrieb er den Traktat >Meinungen eines Laien zum Besten der Geistlichem, Herder half ihm hinweg über bedrängende Zweifel am Dogma der Erbsünde und am geistlichen Sinn des alttestamentlichen Opferrituals. In seinen letzten Weimarer Wochen legt Lenz dem Theologen Herder eine Frage vor, die, scheinbar auf Erkenntnistheorie und praktische Philosophie zielend, doch ins Zentrum der Hermeneutik, der Lehre vom rechten Verständnis, wie Herder sie forderte und praktizierte, traf — auch ins Zentrum der Herderschen Bibelhermeneutik. W i e weit der Zweifel gehen dürfe bei Untersuchung der Wahrheit und was eigentlich Moralische Gewißheit sei. Das heißt die Grenzen des Verstandes und des Herzens zu ziehen und zu bestimmen, welche von beiden in K o l l i s i o n e n am meisten gehört werden müssen, das heißt ob eine Evidenz im Verstände durch das G e f ü h l a l l e i n hervorgebracht werden könne — müsse? 25

Im Grunde fragt Lenz damit nicht mehr und nicht weniger als nach den subjektiven Voraussetzungen des christlichen Glaubens. Und Herder hat in der Tat den Glaubensakt subjektiviert, ohne ihn doch darum zu einer unverbindlichen Privatsache zu machen. Denn sein HumanitätsbegrifF schließt die Gefuhlsevidenz von Gottes-Erfahrungen zwingend mit ein. Die Glaubensbindungen, die über die partikulare Haltung des einzelnen Gläubigen oder Ungläubigen

22 Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz, a.a.O. (Anm. 14), S. 502. An Herder 9. oder 10. Oktober 1776. 23 Ebd., S. 350. An den Vater 18. November 1775. 24 Ebd., S. 360, S. 390, S. 332 f., S. 329, S. 342 (Lenz zitiert den ersten Teil vom Gesang des Simeon, Lukas 2, 29f.: »Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen« und bezieht das auf das Erscheinen Herders). Briefe an Herder vom Dezember 1775, Anfang März 1776, 28. August 1775, 23. Juli 1775, 30. September 1775. 25

Ebd., S. 508. An Herder November 1776.

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hinausweisen, liegen in der Natur und in der Geschichte oder Tradition. Hier nun verknüpfen sich Herders Bibelhermeneutik und seine Literaturtheorie. Und gerade die Verknüpfung mußte einer jüngeren Dichtergeneration, die zum einen mehr als andere unter der Glaubenskrise im Zeitalter der Aufklärung litt, und die zum anderen, nachdem die besten von ihnen - Goethe, Lenz, Maler Müller, sogar Claudius — in wenigen Jünglingsjahren die unter den Normen der Regelpoetik möglichen dichterischen Formen erprobt und hinter sich gelassen hatten, nach neuen Grundlagen dichterischer Praxis suchte, gerade diese Verknüpfung mußte ihnen wie eine doppelte Befreiung erscheinen. Herder ist, um noch einmal Goethes Wort zu zitieren, »in die Tiefen seiner Empfindung hinabgestiegen, hat drinne all die hohe heilige Kraft der simpeln Natur aufgewühlt«. Es ist in der Tat Herders Meinung, daß der rechte Sinn, das richtige Gefühl für das Andere nur entstehen könnte, wenn ihm das Selbstgefühl des Interpreten zur Seite stünde. Es ist ein gereinigtes, gekräftigtes, erweitertes Fühlenkönnen, das den Einzelnen in den Stand setzt, die neu entdeckten oder wieder entdeckten Textwelten Homers, Shakespeares, der orientalischen Uberlieferungen, der Volkslieder einfühlend zu erfahren und zu erleben. Wer auf den Grund seiner eigenen Ursprünglichkeit, auf die »hohe heilige Kraft der simpeln Natur« in sich selbst gelangt ist, der wird des Ursprünglichen in der Poesie aller Zeiten und Zonen innewerden. Und wer über die Berührung mit dem eigenen, ursprünglichen Gefühl selbst poetisch produktiv wird, der ist ein »Genie«. In seinem Genie-Konzept wies Herder den jungen Dichtern den Weg von einer normativen und einer Wirkungsästhetik zu einer neuen Produktionsästhetik — in der Erkenntnis der überlieferten poetischen Werke als ursprünglichen, die Besonderheit einer historischen Menschheitsepoche ausdrückenden Kunstwerken liegt zugleich die Aufforderung an die jungen Künstler, ihrerseits ihre Kunst nicht länger auf dem rational Richtigen und Allgemeinen, sondern auf dem im Fühlen freigelegten Individuellen und Besonderen zu gründen. Denn Herders Wendung zu den alten, verschütteten Literaturtraditionen, ihre Aufwertung als Ausdruck größerer Naturnähe, geschieht auch um der Gegenwart willen. Insofern ist Herder Aufklärer wie Rousseau. Aber anders als

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Rousseau entdeckt Herder das, was die damals so viel berufene »Mutter Natur« der Gegenwart zu schenken hat, nicht im Gegenbild eines glücklichen Urzustandes, sondern im weiten konkreten Reich der Geschichte, ihrer Vielfalt und ihrer überlieferten Sprachund Kunstdenkmäler. 26 Diesen Reichtum zu demonstrieren, in Anthologien und Editionen zugänglich zu machen und zu seinem Verstehen anzuleiten, das sind, anstelle der alten Regelwerke und Beispielsammlungen, die wahren Mittel, in der Gegenwart das schlummernde Genie zu wecken. Wie nahe sich Herder seinerseits seinen dichtenden Freunden fühlt, das zeigt sein Anteil an deren gemeinschaftlich publizierten Werken: mit Goethe, Merck, Schlosser und anderen zusammen arbeitet er am Jahrgang 1772 der Frankfurtischen gelehrten Anzeigen, 27 zu seiner Volksliedanthologie trägt Goethe auf Herders Anregung gesammelte Texte bei, 28 die von Herder edierte Schrift >Von Deutscher Art und Kunst< bringt neben Herders eigenen Aufsätzen >Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker< (darin eine frühe Fassung von Goethes >HeidenrösleinShakespeare< auch Goethes hymnischen Essay >Von deutscher BaukunstEifersucht< (nach Dryden), S. 229 >Seligkeit der Liebe« (nach Gilbert Cooper).

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Was sie u n d was schließlich die so oft ihre besten Traditionen vernachlässigende deutsche Geistes- u n d Kulturgeschichte überhaupt i h m zu verdanken haben, hat einer, der die längste Zeit in Herders nächster N ä h e verbrachte u n d nicht w e n i g unter Herders oft scharfem Urteil u n d seinen nicht seltenen düsteren S t i m m u n g e n zu leiden, der aber stets Herders B e d e u t u n g fur i h n selbst o f f e n ausgesprochen hatte, G o e t h e nämlich, in Verse gebracht — der große T h e o l o g e Karl Barth hat sie 1 9 3 3 in einer Vorlesung über Herder zitiert. Karl Barth schreibt: U n d das eben ist der Genius Herders (ob gut oder böse, haben wir nicht zu entscheiden), das Neue u n d Epochemachende in seiner geistigen Erscheinung, seine völlige, liebevolle und aufmerksame Aufgeschlossenheit für die konkrete Wirklichkeit der Geschichte. Man kann Herder nicht schöner und verständnisvoller charakterisieren, als dies lange nach seinem Tode kein Anderer als Goethe getan hat: Ein edler Mann, begierig zu ergründen, Wie überall des Menschen Sinn ersprießt, Horcht in die Welt, so Ton als Wort zu finden Das tausendquellig durch die Länder fließt. Die ältesten, die neuesten Regionen Durchwandelt er und lauscht in allen Zonen. U n d so von Volk zu Volke hört er singen, Was jeden in der Mutterluft gerührt, Er hört erzählen was von guten Dingen Urvaters Wort dem Vater zugeführt. Das alles war Ergetzlichkeit und Lehre, Gefühl und Tat, als wenn es e i n e s wäre. Was Leiden bringen mag und was Genüge, Behend verwirrt und ungehofft vereint, Das haben tausend Sprach- und Redezüge, Vom Paradies bis heute, gleich gemeint. So singt der Barde, spricht Legend' und Sage, Wir fühlen mit, als wärens unsre Tage. Wenn schwarz der Fels, umhangen Atmosphäre Zu Traumgebilden düstrer Klage zwingt, Dort heiterm Sonnenglanze im offnen Meere Das hohe Lied entzückter Seele klingt Sie meinen's gut und fromm im Grund, sie wollten Nur Menschliches, was alle wollen sollten.

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Wo sich's versteckte, wußt' er's aufzufinden, Ernsthaft verhüllt, verkleidet leicht als Spiel, Im höchsten Sinn der Zukunft zu begründen: Humanität sei unser ewig Ziel. O, warum schaut er nicht, in diesen Tagen, Durch Menschlichkeit geheilt die schwersten Plagen! 31

Der neuere Theologe und der klassische Dichter im Rühmen Herders, des Theologen unter den Klassikern und des Klassikers der Literaturtheorie vereint — eine Konstellation, wie sie keiner zweiten großen Gestalt des deutschen 18. Jahrhunderts beschieden sein dürfte. Aber eben in dieser Zusammenführung liegt Herders eigentümliche Bedeutung.

3 1 Karl Barth, a.a.O. (Anm. 26), S. 2 9 0 f . - Das Goethe-Zitat, aus den >Maskenzügen< von 1 8 1 8 , bei Barth und hier nach der Jubiläumsausgabe Bd. 9, S. 350.

» I C H B E G R E I F E , DASS G O E T H E S I C H S O G A N Z A N SIE A T T A C H IE R T HAT« Über Charlotte von Stein

Als um 1750 die kleineren Residenzen im alten Deutschen Reich, als Karlsruhe, Mannheim, Darmstadt und auch Weimar sich zu Musenhöfen entwickelten, da traten auch die Musen selbst aus ihrem rein literarischen Dasein heraus und begegneten den Dichtern in leibhaftiger Gestalt: als Hofdamen mit verfeinerter seelischer und intellektueller Kultur, formvollendet in allen Künsten höfischer Geselligkeit, gewandt und anregend in der Konversation; als Mädchen und Frauen des gehobenen Bürgertums, empfindsam und belesen, ausgebildet im Musizieren und mitunter auch im Zeichnen, inspirierende und teilnehmende Begleiterinnen und auch Trösterinnen der zumeist mit materiellen Gütern nicht eben gesegneten Poeten. Ein knappes Jahrhundert fiel den Frauen diese Rolle zu, bis sie gegen dessen Ende mehr und mehr ihren Kunstanspruch kraft eigenen Rechts geltend machten, selbst zur Feder griffen und Schriftstellerinnen wurden. Am Beginn dieser Epoche, die die bedeutendste der deutschen Literatur geworden ist, steht die von Friedrich Gottlieb Klopstock angebetete Fanny Schmid. Und die Epoche endet mit einer tragischen Selbstaufopferung: am 29. Dezember 1834 nahm sich Charlotte Stieglitz in Berlin das Leben, um ihren als Schriftsteller nur mittelmäßig begabten Mann Heinrich Stieglitz durch den großen Schmerz zum wahren Dichter werden zu lassen. In der langen Reihe der Frauen, die hier zu nennen wären, ragen zwei hervor, unsterblich geworden durch Goethe und Hölderlin: Charlotte von Stein und Susette Gontard. Und als die 30jährige Susette Gontard im Sommer 1799 Goethes >Tasso< las, da muß sie im Reich der Dichtung auch der zur Prinzessin Leonore d'Este verwandelten und gesteigerten Weimarer Hofdame begegnet sein, die sie im wirklichen Leben niemals getroffen hat. Und es ist sicher, daß sie, die in Hölderlin einen zweiten

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Tasso sah, 1 ihr Musenamt ähnlich verstand wie die Prinzessin i m Drama das ihrige und wie Charlotte von Stein ihre Aufgabe gegenüber Goethe. Es ist geradezu das Charakteristikum dieser Frauen, daß sie uns k a u m anders als in dem Licht erscheinen, in das die verehrenden und liebenden Dichter sie getaucht haben. Wer waren sie, wer war Charlotte von Stein, eine Frau, die länger als 10 Jahre G o e t h e in ihren B a n n zog? E i n e Ausnahmeerscheinung gewiß! Das bestätigen viele Zeugnisse, die nicht im Verdacht der Parteilichkeit oder eigennützigen Interesses stehen. Im D e z e m b e r 1774, lange bevor von einer Verbindung zu Goethe die R e d e sein kann, schildert sie der Hannoversche Arzt Johann G e o r g Z i m m e r m a n n : Sie hat überaus große schwartze Augen von der höchsten Schönheit. Ihre Stimme ist sanft und bedrückt. Ernst, Sanftmuth, Gefälligkeit, leidende Tugend und feine tiefgegründete Empfindsamkeit sieht jeder Mensch beym ersten Anblick auf ihrem Gesichte. Die Hofmanieren, die Sie vollkommen an sich hat, sind bey ihr zu einer sehr seltenen hohen Simplicität veredelt. Sie ist sehr fromm, und zwar mit einem rührend schwärmerischen Schwung der Seele. Aus ihrem leichten Zephirgang und aus ihrer theatralischen Fertigkeit in künstlichen Täntzen würdest Du nicht schließen, was doch sehr wahr ist, daß stilles Mondenlicht und Mitternacht ihr Hertz mit Gottesruhe füllt. Sie ist einige und dreißig Jahre alt, hat sehr viele Kinder und schwache Nerven. Ihre Wangen sind sehr roth, ihre Haare ganz schwartz, ihre Haut italiänisch wie ihre Augen. Der Körper mager; ihr gantzes Wesen elegant mit Simplicität.2 Viele Jahre später versucht Karl L u d w i g von Knebel, der lange Zeit a m Weimarer H o f verbrachte, seiner Schwester ein Bild Charlottes zu vermitteln; es bestätigt und ergänzt die Beschreibung Z i m m e r manns: Frau v. Stein ist Diejenige hier unter Allen, von der ich am meisten Nahrung für mein Leben ziehe. Reines, richtiges Gefühl, bei natürlicher, leidenschaftsloser, leichter Disposition haben sie bei eigenem Fleiß und 1

Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke, hrsg. von Friedrich Beißner, 7. Band, 1. Teil,

hrsg. von Adolf Beck, Stuttgart 1968, S. 80: »heute laß ich im Tasso, und fand unverkennbare Z ü g e von Dir. ließ ihn auch einmal wieder.« 2

Goethes Briefe an Charlotte von Stein, hrsg. von Jonas Frankel, umgearbeitete

Neuausgabe, erster B d . , Berlin 1960, S. 3. B r i e f Zimmermanns an Lavater 12. D e zember 1774. (Diese Edition im folgenden abgekürzt »Frankel«),

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durch den Umgang mit vorzüglichen Menschen, der ihrer äußerst feinen Wißbegierde zu statten kam, zu einem Wesen gebildet, dessen Dasein und Art in Deutschland schwerlich oft wieder zustande kommen dürfte. Sie ist ohne alle Prätension und Ziererei, gerad, natürlich, frei, nicht zu schwer und nicht zu leicht, ohne Enthusiasmus und doch mit geistiger Wärme, nimmt an allem Vernünftigen Anteil und an allem Menschlichen, ist wohlunterrichtet und hat feinen Takt, selbst Geschicklichkeit fur die Kunst. 3 Wenig später korrigiert er seinen Eindruck noch einmal: Sie Don Carlos< i m Gepäck, am 21. Juli 1787 nach Weimar g e k o m m e n in der vagen H o f f n u n g , sich in der Sphäre dieses Musenhofes eine Existenz zu schaffen. Gegenüber d e m Freund K ö r n e r berichtet er von den verschiedenen Bekanntschaften, die er gemacht hat, und unter allen Angehörigen des H o fes hat ihn Charlotte am tiefsten beeindruckt. Er schreibt a m 12. August 1787: Dieser Tage habe ich in großer adliger Gesellschaft einen höchst langweiligen Spaziergang machen müssen. Das ist ein notwendiges Übel, in das mich mein Verhältnis mit Charlotten [von Kalb!] gestürzt hat - und wie viel flache Kreaturen kommen einem da vor. Die beste unter allen war Frau v. Stein, eine wahrhaftig eigene interessante Person, und von der ich begreife, daß Goethe sich so ganz an sie attachiert hat. Schön kann sie nie gewesen sein, aber ihr Gesicht hat einen sanften Ernst und eine ganz eigene Offenheit. Ein gesunder Verstand, Gefühl und Wahrheit liegen in ihrem Wesen.5 Drei Urteile von drei dem Alter, der gesellschaftlichen Stellung d e m Bildungsgang nach höchst verschiedenen Zeitgenossen sie k o m m e n alle darin überein, daß Charlotte von Stein eine von außergewöhnlicher Ausstrahlung gewesen sein muß. U n d

und und Frau daß

Ebd., S. 3 f., Brief vom 13. Aprü 1788. Ebd., S. 4, Brief vom 11. Oktober 1788. 5 Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, hrsg., ausgewählt und kommentiert von Klaus L. Berghahn, München 1973, S. 59. 3 4

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sie es war, verdankte sie nicht etwa günstigen äußeren Voraussetzungen. Eher gilt das Gegenteil. A m 25. Dezember 1742 wird sie in Eisenach geboren, Tochter des Hofmarschalls Wilhelm Christian von Schardt und der aus schottischem Adel stammenden Mutter Concordia Elisabeth. Schon im folgenden Jahr siedelt die Familie nach Weimar über, und weit über Weimar ist Charlotte in ihrem langen Leben — sie starb als 84jährige im Januar 1827 — nicht hinausgekommen. Eine glückliche Kindheit hatte sie nicht. Von den elf Geschwistern überlebten fünf, drei Schwestern und zwei Brüder, die frühe Kindheit, Charlotte als älteste unter ihnen. Die von Schardts waren keine vermögende Familie, was sich desto drückender auswirkte, als der Vater bei karger Besoldung doch auch in seinem Hause Repräsentationspflichten für den Herzog Ernst August übernehmen mußte und alles andere als ein kluger Oekonom war. Daran änderte sich auch nichts, als Herzog Konstantin die Regierung übernahm. Eine entscheidende Wende trat erst 1758 ein. Herzog Konstantin starb, die eben 19jährige Herzoginwitwe Anna Amalia übernahm mit fester Hand die Regentschaft für den erst ein Jahr alten Erbprinzen Carl August, und von diesem Wechsel war die Familie von Schardt in doppelter Weise betroffen. Im Zuge einer energischen Reorganisation der zerrütteten Verwaltung und der nicht weniger zerrütteten Finanzen des Herzogtums schickt die R e gentin den erst 47 Jahre alten Hofmarschall in Pension, der darauf untätig zuhaus sitzt, nichts mit sich anzufangen weiß und seiner Frau und seinen Kindern das Leben noch schwerer macht, als es ohnehin schon ist. Im selben Jahr 1758 aber wird Charlotte Hofdame bei der Herzogin. Die Ausbildung, die sie bis dahin erfahren hat, dürfte sich nicht von der zeitüblichen für junge adlige Mädchen unterschieden haben: sie umfaßte über Lesen, Schreiben und Rechnen hinaus selbstverständlich Religion und neben Grundwissen in Hauswirtschaft und feinerer Handarbeit vor allem Französisch in Wort und Schrift, ein wenig Geographie und Geschichte, Klavierund Tanzunterricht. Alles dies beherrschte das zugleich anmutige und ernste Mädchen perfekt, das überdies in der vor allem von der Mutter geprägten Frömmigkeit einen festen Halt gewonnen hatte. In diesen Jahren in nächster Nähe der jungen Herzogin dürfte sie den höfischen Schliff bis zur Vollkommenheit ausgebildet haben. Ihr wacher und heller Verstand begnügte sich damit freilich nicht.

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U n d wenn sie in späteren Briefen schreibt, Goethe habe ihr Interesse an deutschem Stil, an Mineralogie und Osteologie geweckt, 6 so darf man vermuten, daß sie auch schon lange vor der Zeit mit Goethe für geistige Anregungen ungewöhnlich offen war. Davon war freilich in Weimar um 1760 nicht viel zu haben. Bis 1767 gab es kein Theater in der Stadt, und mit der Berufung des Schriftstellers Johann Karl August Musäus als Pagenerzieher an den Hof kündigte sich das vorklassische und klassische kulturelle Leben des künftigen Weimar erst sehr zaghaft an. Überdies warteten nun andere Pflichten auf Charlotte. Im Mai 1764 heiratet die graziöse und elegante Hofdame den Kammeijunker und Stallmeister Josias Friedrich von Stein. Es war eine konventionelle Versorgungsehe, und Stein, zwar vollendeter Kavalier und nicht ohne Güte und Toleranz, konnte zum geistigen und seelischen Leben seiner Frau nicht das geringste beitragen. Ihn interessierten solche Dinge nicht. Außer um seine Aufgaben am Hof kümmerte er sich um sein Gut Groß-Kochberg, und dort verbrachte nun auch Charlotte viele Monate des Jahres, als Gutsherrin und Mutter. Zwischen 1765 und 1774 brachte sie sieben Kinder zur Welt, von denen die drei Söhne Karl, Ernst und Friedrich auch heranwuchsen, während die vier Mädchen früh starben. Charlotte hat die Schwangerschaften zweifellos als eine Last empfunden; aber sie hat ihre eigenen Kinder weder entgelten lassen, daß sie selbst auf eine freudlose Kindheit zurückblickte, noch daß sie deren Vater nicht liebte. Im Gegenteil, sie hatte Vergnügen an Kindern, ein Zug, den sie mit Goethe teilte und der die beiden von vornherein verband. Aus dem eigentlichen Hofdienst schied Charlotte mit ihrer Heirat aus, aber natürlich nahm sie weiter am Hofleben teil, wenn sie mit der Familie in der Residenz war. Von 1764 an verfugte die Familie von Stein über eine Stadtwohnung in der Kleinen Teichgasse, vom Herbst 1777 an über das große Haus an der Ackerwand, nur wenige Schritte vom Eingang in den Ilm-Park entfernt. Inzwischen beginnt Weimar kulturell aufzublühen. Anna Amalia zieht bedeutende Köpfe in ihre kleine Residenz: 1772 wird Chri6 An Zimmermann 10. Mai 1776; an Knebel 1. Mai 1784. Beide in: "Wilhelm Bode (Hrsg.), Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, Bd. 1, 1749— 1793, München 1979, S. 180, S. 301.

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stoph Martin Wieland als Lehrer des Erbprinzen, ein Jahr später der hochgebildete Offizier Karl Ludwig von Knebel als Hofmeister des Prinzen Konstantin nach Weimar berufen, seit 1775 wirkt hier der Maler und Zeichner Georg Melchior Kraus. Auch das Theaterleben setzte wieder ein, zunächst kam die berühmte Kochsche Theatertruppe, von 1771 an die Seylersche Schauspielergesellschaft, mit Konrad Ekhof, der schon zu Lessings Hamburger Zeit in ganz Deutschland berühmt war. Mit der Uraufführung von Christoph Martin Wielands >Alceste< schrieb diese Truppe 1773 in Weimar Theatergeschichte. 7 Freilich brannte schon im Mai 1774 mit dem Weimarer Schloß auch dessen Theatersaal nieder, die Truppe wechselte nach Gotha, und es gab nun nur noch Liebhaberaufführungen - Charlotte von Stein beteiligte sich aktiv daran, gelegentlich übernahm sie auch eine Rolle. Zugleich nahm sie als Leserin lebhaften Anteil an der jüngeren deutschen Literaturentwicklung. Kuraufenthalte 1773 und 1774 in Bad Pyrmont brachten ihr die Bekanntschaft des schon erwähnten Arztes Zimmermann, mit dem sie über Goethes >Werther< und >Clavigo< korrespondiert. Zimmermann war es denn auch, der Goethe erstmals mit dem Namen Charlotte von Stein bekannt machte. Noch ehe der Dichter seine künftige Muse und Geliebte persönlich kennenlernt, zeigt ihm Zimmermann im Juli 1775 in Straßburg Charlottes Silhouette. »Es wäre ein herrliches Schauspiel zu sehen, wie die Welt sich in dieser Seele spiegelt. Sie sieht die Welt wie sie ist, und doch durch's Medium der Liebe. So ist auch Sanftheit der allgemeinere Eindruck«, schreibt Goethe unter den Schattenriß. 8 Und wenig später verfaßt er für Lavater eine Art physiognomische Analyse des Profils: Festigkeit / Gefälliges unverändertes Wohnen des Gegenstands. Behagen in sich selbst. Liebevolle Gefälligkeit / Naivetät und Güte, selbstfliesende Rede. Nachgiebige Festigkeit. Wohlwollen. Treubleibend / Siegt mit Netzen. 9

7 U n t e r anderem dadurch, daß die Hauptdarstellerin in altgriechischer Kleidung spielte. Das geschah hier z u m ersten Mal auf einer deutschen Bühne. 8 9

D j G V, S. 232. Ebd., S. 244.

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Schon zuvor, im Januar 1775, hat Charlotte durch Zimmermann eine Portraitsilhouette Goethes erhalten, und in zwei langen Briefen hat er ihr Goethes Charakter, — »er ist der furchtbarste und der liebenswürdigste Mensch«10 — wie er ihn sah, beschrieben. Charlotte steht also nicht außerhalb des literarischen Gesprächs der Zeit, und beide, sie wie Goethe, sind aufeinander vorbereitet, als der Dichter im Herbst 1775 in Weimar eintrifft und wenig später Charlotte in Groß-Kochberg besucht. Ihr erster Eindruck: sie findet ihn zugleich anziehend und abstoßend. Das nun in Weimar angehende rauhbeinige Sturm und Drang-Treiben, den Aufstand gegen die Etikette, das wilde Reiten und Jagen, die Lust an tollen Streichen und erotische Zügellosigkeiten lastet sie zwar eher dem Herzog an als Goethe — »Gewiß sind dies seine Neigungen nicht; aber eine Weile muß er's so treiben, um den Herzog zu gewinnen und dann Gutes zu stiften«11 —, trotzdem: »Ich fiihl's, Goethe und ich werden niemals Freunde. Auch seine Art, mit unsern Geschlecht umzugehn, gefällt mir nicht. Er ist eigentlich, was man coquet nennt. Es ist nicht Achtung genug in seinen Umgang«, so urteilt sie im März 1776.12 Goethes gesellschaftliche Erfolge, zumal bei den Damen, nimmt sie überraschend humorvoll auf, ja sie schreibt ein hübsches Dramolett in Knittelversen, in dem sie Goethe als »Rino«, Anna Amalia als »Adelhaite«, die Hofdame von Göchhausen als »Thusnelde«, Frau von Werther als »Kunigunde« und sich selbst als »Gertrude« auftreten läßt und sich über alle lustig macht. 13

10 Wilhelm Bode, a.a.O. (Anm. 6), S. 102. - Zimmermann zitiert aus einem Brief, den Lavater am 23. Juni 1774 aus Frankfurt am Main, unter dem Eindruck der persönlichen Begegnung mit Goethe, geschrieben hat. 11 12 13

Ebd., S. 166. - An Zimmermann 6 . - 8 . März 1776. Ebd., S. 169. Frankel (Anm. 2), S. 5 0 5 - 5 1 1 .

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Personen Rino

Goethe

Adelhaite

Herzogin Mutter

Thusnelde

Fräulein Goechhaus ihre H o f d a m e

Kunigund

Frau von Werther geb. Münchhaus

Gerthrude

Frau von Stein I Rino tritt im Saal, wo eben getanzt wird

Rino bey Seite Sind da eine Menge Gesichter h e r r u m , Scheinen alle recht adlich gänße d u m m . Verschiedene werden presentirt Adelhaite W i r haben dich lang bey uns erwart D u einziges Geschöpf in deiner Art. Rino beugt sich Thusnelde Ich bin sehr neugierich auf dich gewesen S'ist n u n mahl so in meinem Wesen. Rino K ö n n e n also jetzt Ihre Neugier stillen Wie's Ihnen beliebt, nach Ihren Willen. Gerthruth von weiten Gleichgültig ist er mir eben nicht, D o c h weiß ich nicht ob er oder Werther [mich sticht] mir spricht. Kunigunde Ja ja's ist Werther ganz u n d gar. So liebenswerth als er mir immer war. Gerthruthe und Kunigunde werden presentirt Gerthruth Ich freue mich Ihre Bekandschafft zu machen. Rino verbeugt sich

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Gerthruth Apropos des Bals; mögen Sie gern tanzen u n d lachen? Rino M a n c h mal, doch meistens schleicht mit mir H e r r u m ein trauriges Gefühl Ueber das ewge Erdengewühl. Geht ab Gerthruth Ist mir doch als war das Intreße der Gesellschaft vorbey. Adelhaite Mir ist [] hier alles recht ennuyant einerley. Kunigunde traurig H e u t mag ich gar nicht gern tanzen. Thusnelde N u n daß er auch fort ist, über den d u m m e n Hanßen. Streichen sich II Die Unterredung ist auf der Redoute Rino tanzt, Adelhaite, Gerthrut, Kunigunde, sitzen in einer Ecke des Saals

Thusnelde

Gerthrut auf Rino deutend Ich bin ihn zwar gut, doch Adelhaite glaub mirs nur Er geht auf aller Frauen Spuhr; Ist würcklich was man eine coquette nennt, Gewiß ich hab ihn nicht verkennd. Adelhaite D u solst mit deiner Lästrung schweigen Sonst werd' ich dir noch heut meine Ungenade zeigen, Hat dir gewiß was nicht recht gemacht. Thusnelde U n d wer hat dich denn zu den Gedancken gebracht? Sag doch, da du keine Heilige bist, Warum er dir so gleichgüldig ist? Wilst gewiß dahinder was verstecken. Gerthrut N u n über das Mädchen ihr Necken; Für mich ist die Liebe vorbey, Auch schein ich ihm sehr einerley.

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Kunigunde Ich i h m leider es bin, doch kann ich wohl fühlen; W i e k ö n n t e ich denn sonst so gut Luise spielen. Thusnelde Bey mir die Liebe m e h r auf der Z u n g e ist; D r u m mein Herz du nicht zu bedauren bist. M e i n e n W i t z will ich recht an ihn reiben In Freyheits-Streit mit ihm die Zeit mir vertreiben. Sie stehn auf und tanzen

ΙΠ Im Zimmer der Adelhaite. Gerthrut, Thusnelde,

Kunigunde

Adelhaite H e u t k o m m t der Freund zu mir, U n d ich laß ihn weder dir, dir, noch dir. Will m i c h ganz allein an ihn laben U n d ihr sollt nur das Zusehn haben. Thusnelde W i ß e n daß recht gut zu verstehn Wird auch wohl nach keiner von uns sehn. Kunigunde, mit einem Seufzer Ja ich m u ß ihn wohl cediren D e n n meine Augen können ihn am wenigsten rühren. Gerthrut Er hat mir wohl so mancherley gesagt, Daß, hat ich es nicht reiflich überdacht Ich war stoltz auf seinen Beyfall worden. D o c h treibt ihn immer Liebe fort Ein [neues Mädchen] neuer Gegenstand an j e d e m neuen O r t . Die schönern Augen sind gleich sein O r d e n Vor die m u ß er manch [zärtlich] treues Herz ermorden; So ist er gar nicht H e r r von sich, D e r a r m e Mensch, er dauert mich. Thusnelde W i e sie n u n wieder ihre Weißheit purgirt, Ach Kind, wirst von dir selbst bey der Nase geführt! Hätst n u n billets wie unsereins! —

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Gerthrut U n d glaubst D u denn ich hätte keins?

Thusnelde N u n so weis d o c h dein Portefeuil.

Gerthrut weißts Adelhaite Wahrhaftig so ein dick Paquet wie ich!

Kunigunde U n d eben soviel als ihr er schrieb an mich.

Thusnelde U n d meine dazu, so wirds ein recueil.

Was ihre Freundschaft zu Goethe angeht, hat sich Charlotte allerdings gründlich geirrt. Das beweisen die über 1600 Briefe und Zettel, die Goethe ihr bis zu seiner Flucht nach Italien im September 1786 schrieb, es beweisens sein italienisches Tagebuch für sie und wöchentliche Briefe von dort, bis es im Sommer 1789 zum Bruch zwischen beiden kam. Wie oft umgekehrt sie an ihn geschrieben hat, wissen wir nicht, denn sie forderte von Goethe ihre Briefe zurück und vernichtete sie. Wenige waren es bestimmt nicht. Sehr rasch wurde sie Goethes Vertraute, und zwar war es ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis. Es gab kritische Phasen, so vor allem gleich 1776, als Goethes Sturm und Drang-Freunde Lenz und Klinger nach Weimar kamen. Charlotte von Stein wußte aber stets ihre Unabhängigkeit zu wahren, so daß sie sich keine Vorwürfe zu machen brauchte, als Goethe es ihr verübelte, daß sie Lenz in GroßKochberg Gastfreundschaft gewährte und mit ihm Englischstudien betrieb. 1 4 Im Spiegel der Briefe Goethes und in ihrer Korrespondenz mit dritten sind zwei Ziele erkennbar, die sie sich gesetzt hatte: als erstes sah sie ihre Aufgabe darin, Goethes ungestümes Wesen wenigstens soweit zu zähmen, daß er sich nicht durch Äußerlichkeiten Leute zu Feinden machte, wo es von der Sache her nicht nötig war. Daß das gelingen könnte, hatte sie seine rasche Versöhnungsbereitschaft gegenüber Christoph Martin Wieland gelehrt. N o c h wichtiger war wohl, daß ihr Vertrauen ihn seine bald übernommenen zahlreichen amtlichen Funktionen überhaupt zehn Jahre ertra14

Vgl. Hans-Gerd Winter, J. M. R . Lenz, Stuttgart 1987, S. 91.

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gen ließ. Vielleicht hat sie schneller als Goethe selbst erkannt, wie weit Herzog Carl August in der R e f o r m des Herzogtums allenfalls zu gehen bereit war. So konnte sie ihm raten, auf welchem Wege Teilziele zu erreichen sein mochten, und ihn trösten, wenn er an der Sprunghaftigkeit und am absolutistischen Selbstbewußtsein seines H e r r n wieder einmal gescheitert war. Goethe konnte sich stets sicher sein, daß sie in den Zielen: einer soliden Finanzpolitik und einer friedenwahrenden Kulturpolitik innerhalb der sehr begrenzten Möglichkeiten des Sachsen-Weimarischen Kleinstaats, mit ihm einig war. Bei ihrem ausgeprägten Verantwortungsbewußtsein war es ein besonders hoher Vertrauensbeweis, daß sie ihm im Mai 1783 ihren 10jährigen Sohn Fritz zur Erziehung ins Haus gab. In dieser Phase korrespondierte der junge Baron auch mit Catharina Elisabeth Goethe und besuchte sie 1785 in Frankfurt am Main. Man muß sich Charlottes schwärmerische, aber durchaus konfessionell gebundene Religiosität vor Augen halten, u m diesen Schritt ganz zu ermessen. Goethe war zwar fromm, aber er war es auf seine Weise. Sein hoher Anteil an der Berufung Herders nach Weimar zum obersten Geistlichen des Landes mochte ihr zwar eine gewisse Garantie sein. Aber Herders eigene Theologie stimmte ja auch nicht gerade mit den religiösen Lehrmeinungen überein, in denen sie aufgewachsen war. Daß sie in dieser Hinsicht mit vollem Bewußtsein des Problems handelte, dafür gibt es ein schönes Zeugnis. Es belegt zugleich, wie wenig wir in ihr eine kritiklose Verehrerin der Goetheschen Poesie erblicken dürfen. Im Oktober 1779 sandte ihr der Dichter aus der Schweiz den >Gesang der Geister über den WassernTassoIphigenie< entstand 1779, die Arbeit am >Tasso< begann 1780. Und in beiden Werken hat Goethe seiner Vertrauten und Muse am Weimarer Hof ein Denkmal gesetzt. Ein Denkmal ohne Selbstverleugnung. Denn jedenfalls im >Tasso