Glaube und Lernen - Einzelkapitel: Martin Luther 3846999721, 9783846999721

Einen vorzüglichen Überblick von gegenwärtigen Themen der Lutherforschung kann man anhand des einleitenden Kennworts von

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Glaube und Lernen - Einzelkapitel: Martin Luther
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Theologische Klärung

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Zu diesem Heft Martin Rothgangel Das Reformationsjubiläum 2017 wirft seit geraumer Zeit seine Schatten voraus. Dabei wird schon im Vorfeld deutlich, dass keineswegs unkritisch ein zum Heroen stilisierter Martin Luther gefeiert wird. Vielmehr zeichnet die jüngere Lutherforschung ein facettenreiches Bild, wobei dunkle Seiten wie etwa der Antijudaismus des späten Luther keineswegs ausblendet werden. Einen vorzüglichen Überblick von gegenwärtigen Themen der Lutherforschung kann man anhand des einleitenden Kennworts von Michael Basse gewinnen: Er diskutiert insbesondere die zeitgeschichtliche Verortung Luthers, den Zusammenhang von Luthers Biographie und Theologie, Luthers Frauenbild, Luthers Haltung zu Judentum und Islam, Luthers Verhältnis zu Politik, Bildung, Kunst und Musik sowie Luther in ökumenischer und interkultureller Perspektive. Eine wichtige und zugleich herausfordernde theologische Klärung wird von Notger Slenczka vorgenommen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu „Reformation und Selbsterkenntnis“ ist die vielfältige Deutung der Reformation seit ihren Anfängen, sein Kontrapunkt ist die EKD-Publikation „Reformation und Freiheit“. Eine wesentliche Weichenstellung für Slenczkas Gedankengang findet sich bei Hegel und Troeltsch, nach denen die Reformation weniger ein theologie-, sondern ein welt- und geistesgeschichtliches Ereignis ist. „Es ist das Denkangebot der christlichen Tradition, das möglicherweise der Reflexionskultur des Abendlandes zugrunde liegt: dass der Mensch die Aufgabe hat, sich selbst zu erkennen, und dass diese Aufgabe eine Problematik in sich schließt. Diese Frage erstens neu eingeschärft und zweitens außergewöhnlich beantwortet zu haben, ist eine (!) Leistung der Reformation.“ (S. 39f) Eine zweite weiterführende theologische Klärung erfolgt von Athina Lexutt, die sich mit der Genese der Theologie Luthers auseinandersetzt. Dabei rekonstruiert sie Luthers Theologie als das Resultat von Luthers Auseinandersetzungen mit der Scholastik, der Mystik und dem Humanismus. Insbesondere die durch Staupitz vermittelte Mystik sowie die antipelagianischen Schriften Augustins spielen eine prägende Rolle für die Theologie Martin Luthers, die auch in der Folgezeit bei aller Geprägtheit durch diverse Traditionen und Kontroversen Luthers eine unverwechselbare Kontur aufweist.

Martin Rothgangel, Zur Einführung

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Das Gespräch zwischen den Disziplinen wird durch den Beitrag von Ute Mennecke zur sprach- und literaturgeschichtlichen Bedeutung Martin Luthers eröffnet. Mit Blick auf seine deutsche Bibelübersetzung, geistlichen Lieder, Briefe und prosaischen Werke legt sie eingehend dar, dass Luther „die Sprache evangelischer Frömmigkeit und Theologie weithin erst geschaffen (sc. hat). Dies ist nicht so zu verstehen, dass er vor allem Neologismen geprägt hätte, sondern in dem Sinne, dass er ein vorhandenes Vokabular aus verschiedenen Verwendungsbereichen und praktischen Kontexten zu einer konsistenten religiösen Sprache formte.“ (S. 62) Darüber hinaus zeigt sie, dass Luthers viel diskutierter Einfluss auf die Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache keineswegs zu unterschätzen ist. Im Anschluss daran erfolgt durch Peter Walter ein römisch-katholischer Blick auf Martin Luther, der sich im Kontext der katholischen Lutherforschung verortet und gerade auch durch seine persönliche Noten sowie durch die Erörterung verschiedener theologischer Themen (Sakramententheologie, Ekklesiologie, Theozentrik, Glaubensverständnis, relationale Ontologie, Rechtfertigung und Freiheit) eine Bereicherung dieses Heftes darstellt. Konsequenzen für den ökumenischen Dialog beschließen diesen Beitrag. Ausgangspunkt der Impulse für die Praxis in diesem Heft ist die Beobachtung, dass schon seit nahezu vier Jahrzehnten in religionspädagogischer Theorie und Praxis ein weitgehendes Schweigen hinsichtlich der Katechismen Martin Luthers vorherrscht. Abgesehen von bemerkenswerten Ausnahmen erfolgt kaum eine eingehende religionspädagogische Auseinandersetzung mit dem Kleinen Katechismus. Im Beitrag von Martin Rothgangel wird zunächst danach gefragt, welche Probleme zum gegenwärtigen Schweigen hinsichtlich des Kleinen Katechismus geführt haben. Daran anschließend werden gleichermaßen dessen Potentiale herausgearbeitet. Probleme wie Potentiale sind eine entscheidende Voraussetzung dafür, um schließlich Impulse für eine gegenwärtige, religionspädagogisch verantwortete Katechismuserstellung geben zu können. Martin Rothgangel

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Glaube und Lernen, 30/2015, Heft 1, Zu diesem Heft

Kennwort

Martin Luther Michael Basse Das Reformationsjubiläum 2017 gibt in besonderem Maße dazu Anlass, Martin Luthers Lebenswerk und dessen Wirkungsgeschichte in den Blick zu nehmen. In der neueren Lutherforschung kristallisieren sich dabei verschiedene Themenschwerpunkte heraus, die zum Teil auch kontrovers diskutiert werden.1 1.

Martin Luther – Reformator im Übergang oder an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit?

Nachdem lange Zeit die Auffassung vorherrschte, mit Luther und der Reformationszeit sei eine neue Epoche der Geschichte angebrochen, werden in der neueren Forschung immer stärker die Verbindungen zwischen dem Spätmittelalter und der Reformationszeit herausgestellt.2 Das betrifft theologiegeschichtliche Aspekte, wie etwa das Verhältnis Luthers zur mittelalterlichen Mystik und monastischen Theologie, sowie gesellschafts- und kulturgeschichtliche Fragestellungen wie die politische Ethik oder das Frauenbild des Wittenberger Reformators.

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Vgl. Volker Leppin, Lutherforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 19–34. – Der Zugang zu dem umfangreichen Werk Martin Luthers, dessen kritische Gesamtausgabe – die ‚Weimarer Ausgabe‘ – mit der Veröffentlichung des letzten Registerbandes im Jahre 2009 zum Abschluss gekommen ist, wird durch zwei jeweils zweisprachige Studienausgaben erleichtert, wovon die eine wichtige lateinische Schriften sowie deren deutsche Übersetzung beinhaltet und die andere frühneuhochdeutsche Schriften und deren Übertragung in die heutige Sprache (Martin Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, hg. v. Wilfried Härle u.a., 3 Bde. Leipzig 2006–2009; ders., Deutsch-Deutsche Studienausgabe, hg. v. Johannes Schilling, 3 Bde., Leipzig 2012–2015). Vgl. Berndt Hamm, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010; Christoph Burger, Tradition und Neubeginn. Martin Luther in seinen frühen Jahren, Tübingen 2014.

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DOI 10.2364/3846999721

Im Blick auf Luthers Verbindungen zur mittelalterlichen Mystik wird auf der einen Seite die Auffassung vertreten, Luthers Theologie zeige „in ihrer Gesamtkomposition mystischen Charakter“3, während auf der anderen Seite die „Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther“4 vor allem in Bezug auf die zentrale Dialektik von Gesetz und Evangelium, die Rechtfertigungslehre und die Lehre vom allgemeinen Priestertum betont werden und die Externität der Gnade als eine entscheidende Differenz zur Mystik markiert wird. Mit dem Verhältnis von Reformation und Mönchtum rückt ein weiterer Themenaspekt in den Vordergrund, der von grundlegender Bedeutung für die Lutherforschung ist, insofern damit die Genese der Reformation in ihrem theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext beleuchtet wird. Nach Auffassung von Berndt Hamm können die Anfechtungserfahrungen, die Luther in den frühen Klosterjahren machte, nicht nur als ein Impuls, sondern selbst schon als tragendes Moment der Reformation angesehen werden.5 Die lebenslange Auseinandersetzung Luthers mit seiner monastischen Herkunft spiegelt sich nicht nur in seiner kritischen Haltung zu den Mönchsgelübden wider,6 sondern auch in dem Festhalten an monastischen Lebensformen wie dem Stundengebet.7 Einen ganz eigenen Lösungsansatz, das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit innerhalb der Biographie Martin Luthers zur Sprache zu bringen, hat der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin in seiner viel beachteten und zugleich umstrittenen Luther-Biographie gewählt, indem er konsequent für den Zeitraum bis 1517 den Geburtsnamen ‚Luder‘ verwendet und erst ab dem Zeitpunkt 3

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Berndt Hamm, Wie mystisch war der Glaube Luthers?, in: ders./Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther (Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe 36), Tübingen 2007, 237–287, hier: 242. Volker Leppin, Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in: B. Hamm/V. Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren, a.a.O. (wie Anm. 3) 165–185. Vgl. Berndt Hamm, Naher Zorn und nahe Gnade. Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Athina Lexutt u.a. (Hg.), Reformation und Mönchtum. Aspekte eines Verhältnisses über Luther hinaus (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 43), Tübingen 2008, 103–143. Vgl. Wolf-Friedrich Schäufele, „… iam sum monachus et non monachus“. Martin Luthers doppelter Abschied vom Mönchtum, in: Dietrich Korsch/Volker Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 53), Tübingen 2010, 119–139. Vgl. Andreas Odenthal, „… totum psalterium in usu maneat“. Martin Luther und das Stundengebet, in: D. Korsch/V. Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie, a.a.O. (wie Anm. 6) 69–117.

Glaube und Lernen, 30/2015, Heft 1, Kennwort

von ‚Luther‘ spricht, als der Wittenberger Reformator seinen Namenswechsel vollzog und damit zum Ausdruck brachte, dass er sich nunmehr als der „Freie“ – abgeleitet von dem griechischen „Eleutherius“ – verstand.8 Dieser Ansatz hat auf Grund der kritischen Einwände, die dagegen erhoben wurden,9 eine „neue Luther-Debatte“10 entfacht. Im Zusammenhang mit der Frage, wie Leben und Werk Luthers theologie- und kulturgeschichtlich zu verorten sind, geht es um die generelle Einordnung und Beurteilung der Reformation, die in unterschiedlichen theoretischen Modellen in Bezug auf die „Einheit und Vielfalt der Reformation“ zum Ausdruck kommen.11 Auch wenn die besondere Bedeutung Martin Luthers für die Geschichte der Reformation und den Protestantismus insgesamt außer Frage steht, findet doch immer mehr nicht nur seine Kooperation mit anderen wichtigen Persönlichkeiten der Wittenberger Reformation Beachtung, sondern es wird auch deren Verknüpfung mit anderen Zentren der Reformation – Zürich, Straßburg, Genf – in den Blick genommen. Die persönlichen Verbindungen der Reformatoren und Reformatorinnen ließen ein ‚Netzwerk‘ entstehen, das für das Gelingen der Reformation von entscheidender Bedeutung war und das im historischen Rückblick die europäischen Dimensionen der Reformation erkennen lässt.12 2.

Biographie und Theologie

Hinsichtlich des Zusammenhangs von Biographie und Theologie Luthers ist das „Verhältnis von historischer Kontextualisierung und theologischer Entkontextualisierung“13 zu berücksichtigen, insofern Luthers Theologie zunächst in ihrem historischen Entstehungszusammenhang betrachtet werden muss, bevor ihre grundsätzliche Bedeutung auch für die Theologie der Ge8 9

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Vgl. Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006. Vgl. Dorothea Wendebourg, Süddeutsche Zeitung v. 19.02.2007, 14; Thomas Kaufmann, in: Archiv für Reformationsgeschichte. Literaturbericht 36 (2007), 17–19; Albrecht Beutel, in: Theologische Literaturzeitung 132 (2007), 1221–1224; Dietrich Korsch, Volker Leppin, Luther im Gespräch, in: Luther 79 (2008), 45–55. Vgl. Volker Leppin, Ein neue Luther-Debatte: Anmerkungen nicht nur in eigener Sache, in: Archiv für Reformationsgeschichte 99 (2008), 297–307. Berndt Hamm/Bernd Möller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt a.M./Leipzig 2009, 12–32. Vgl. Irene Dingel/Volker Leppin (Hg.), Das Reformatorenlexikon, Darmstadt 2014. Volker Leppin, Biographie und Theologie Martin Luthers – eine Debatte und (k)ein Ende? Ein Nachwort, in: D. Korsch/V. Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie, a.a.O. (wie Anm. 6) 313–318, hier: 313.

Michael Basse, Martin Luther

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genwart erörtert werden kann. Das gilt gerade auch für die kritische Auseinandersetzung mit problematischen Aspekten der Theologie Luthers wie etwa seine Haltung zum Judentum. Im Zusammenhang von Luthers Biographie und Theologie bildet das Verhältnis von „altem“ und „jungem“ Luther noch einmal ein eigenes Thema der Forschung, die sich bislang vor allem auf den ‚jungen‘ Luther konzentrierte, während die bedeutenden Schriften seiner späten Schaffenszeit noch nicht in gleicher Weise im Fokus standen.14 Die Frage nach dem Anfang bzw. dem ‚Durchbruch‘ der Reformation, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontrovers diskutiert wurde, bis dann ein Forschungskonsens in der Hinsicht erzielt werden konnte, dass auf eine Datierung verzichtet und stattdessen der Prozesscharakter der reformatorischen Entdeckung Luthers betont wurde, erfährt durch den Göttinger Reformationshistoriker Thomas Kaufmann in einer soeben erschienen Publikation zu Luthers Schrift ‚An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung‘ aus dem Jahr 1520 eine neue Zuspitzung, insofern dieser die These aufstellt, Luther sei durch diese Schrift zum Reformator geworden.15 3.

Luthers Frauenbild

Besonders umstritten ist in der neueren Forschung die Frage, welche Auswirkung die Reformation auf die gesellschaftliche Rolle der Frau(en) hatte.16 Auf der einen Seite wird die Auffassung vertreten, die Lebensoptionen der Frauen seien durch die Reformation eingeschränkt worden, da ihnen mit der reformatorischen Kritik am Mönchtum und der weitgehenden Abschaffung der Orden nur noch eine gesellschaftliche Rolle, nämlich die der Ehefrau und Mutter, offen geblieben sei. Auf der anderen Seite wird demgegenüber – nicht zuletzt am Beispiel der Katharina von Bora – auf die Entscheidungsfreiheit von Frauen hingewiesen, die Klöster zu verlassen. Die Betrachtung von Luthers Frauenbild im Zusammenhang seiner Ehelehre lässt trotz einiger ambivalenter Äußerungen insgesamt doch eine Wertschät14 Vgl. Thomas Kaufmann, Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem, in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe (Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe 37), Tübingen 2007, 187–205. 15 Vgl. ders., An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (Kommentare zu den Schriften Luthers 3), Tübingen 2014, 509. 16 Vgl. Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002, 92–99.

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zung der Frauen erkennen. Im Blick auf seine eigene Rolle als Ehemann und Familienvater wird deutlich, wie respekt- und liebevoll sich Luther gegenüber seiner Frau wie auch seinen Kindern verhalten hat.17 Gleichwohl gilt es, in der Wirkungsgeschichte des Frauenbildes der Reformation die gesellschaftliche Stellung der Frauen kritisch zu beurteilen. 4.

Luther und die Politik

Nicht allein die verhängnisvolle Rolle, die eine (neu-)lutherische Zweireichelehre in der NS-Zeit spielte, warf nach dem Zweiten Weltkrieg – und dann vor allem seit den 1960er Jahren – besonders kritisch die Frage nach Luthers politischer Ethik auf, sondern auch schon seine Stellungnahme im Bauernkrieg gab und gibt immer noch dazu Anlass.18 Die Unterscheidung der beiden Reiche ist trotz ihrer grundlegenden Funktion eines kritischen Korrektivs gegenüber der Vermischung göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit von Luther selbst doch nicht so zur Geltung gebracht worden, dass er um der menschlichen Gerechtigkeit willen mit Hilfe der von ihm in politischer Hinsicht so geschätzten Vernunft zu dem Schluss gekommen wäre, über die Veränderung bestehender Verhältnisse nachdenken zu müssen – hier blieb er in einem problematischen Sinne ‚konservativ‘ im Blick auf das Gesellschafts- und Herrschaftssystem seiner Zeit, das er als Gottes Stiftung ansah. Eine problematische Wirkung zeitigte auch das landesherrliche Kirchenregiment, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Bestand hatte und die enge Bindung der evangelischen Kirche an die politische Obrigkeit über Jahrhunderte hin begründete, obgleich es für Luther zunächst nur ein ‚Notregiment‘ war, mit dem die religionspolitischen und kirchenorganisatorischen Probleme in den Anfängen der Reformationszeit bewältigt werden sollten. 5.

Luthers Haltung zum Judentum und zum Islam

Angesichts der fatalen Wirkungsgeschichte von Luthers späten Judenschriften ist es in besonderem Maße erforderlich, zwischen der historischen Kon17 Vgl. Volker Leppin, Luther privat. Sohn, Vater, Ehemann, Darmstadt 2006. 18 Vgl. Michael Basse, Freiheit und Recht in biblischer Perspektive – Luthers Stellungnahme zu den Zwölf Artikeln der Schwäbischen Bauern, in: Görge Hasselhoff/David von Mayenburg (Hg.), Die Zwölf Artikel von 1525 und das „Göttliche Recht“ der Bauern – rechtshistorische und theologische Dimensionen (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft 8), Würzburg 2012, 163–177.

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textualisierung dieser Schriften einerseits und ihrer theologischen Beurteilung aus heutiger Sicht zu unterscheiden.19 Zudem sind sowohl in historischer als auch theologischer Hinsicht Luthers Äußerungen und Schriften aus den Jahren 15151523 zu berücksichtigen, deren „judenfreundliche[n], in mancher Hinsicht innovative[n] Perspektiven“ sich deutlich von der Polemik seiner späten Schriften abheben20. In der Beurteilung der späten Judenschriften Martin Luthers gehen die Ansichten in der neueren Forschung auseinander – während auf der einen Seite dargelegt wird, dass Luther in diesen Schriften zunehmend juristische Argumentationsfiguren verwendet, und das als Reaktion auf die jüdische Schriftauslegung interpretiert wird, die von Luther als „bleibende Infragestellung des eigenen Schriftverständnisses empfunden wurde“21, wird auf der anderen Seite demgegenüber der apokalyptische Deutungshorizont dieser Schriften betont.22 Wird Luthers Haltung zum Judentum auf Grund der fatalen Wirkungsgeschichte seiner späten Judenschriften schon länger kritisch betrachtet, so ist das Türken- und Islambild des Wittenberger Reformators erst in neuerer Zeit genauer untersucht worden.23 Dabei wird auf den Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Islam im Spätmittelalter verwiesen, der sich darin zeigt, dass Luther selbst daran beteiligt war, Neudrucke vorreformatorischer Türkenschriften zu veröffentlichen, um so bestimmte Stereotypen des spätmittelalterlichen Islambildes weiter zu tradieren.24 In die gleiche Richtung zielte auch seine Unterstützung des reformierten Theologen und Hebraisten 19 Vgl. Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen 2 Kontextualisierung, Tübingen 2013. 20 Vgl. Hans-Martin Kirn, Luther und die Juden, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, a.a.O. (wie Anm. 1) 217–224, hier: 217. 21 Anselm Schubert, Fremde Sünde. Zur Theologie von Luthers späten Judenschriften, in: D. Korsch/V. Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie, a.a.O. (wie Anm. 6) 251–270, hier: 270. 22 Vgl. Hans-Martin Kirn, Luther und die Juden, a.a.O. (wie Anm. 20), 220–223; ders., Martin Luthers späte Judenschriften – Apokalyptik als Lebenshaltung? Eine theologische Annäherung, in: D. Korsch/V. Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie, a.a.O. (wie Anm. 6) 271–285. 23 Vgl. Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam: Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546) (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Band 80), Gütersloh 2008; Michael Klein, Geschichtsdenken und Ständekritik in apokalyptischer Perspektive. Martin Luthers Meinungs- und Wissensbildung zur „Türken“-Frage auf dem Hintergrund der osmanischen Expansion und im Kontext der reformatorischen Bewegung, Hagen 2004. 24 Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 67), Tübingen 2012, 106.

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Theodor Bibliander bei dessen Edition einer lateinischen Übersetzung des Koran, wovon Luther sich versprach, dass dadurch die ‚Häresie‘ des Islam offenbar werde.25 So traditionell diese Strategie der geistigen Auseinandersetzung mit dem Islam war, so innovativ war demgegenüber Luthers Absage an einen Kreuzzug gegen die Osmanen, wie er sie schon 1515/16 in seinen Dekalogpredigten formulierte,26 dann 1518 in den Ausführungen zu seinen 95 Thesen erneuerte und auch 1529/30 in der Schrift ‚Vom Kriege wider die Türken‘ sowie in der ‚Heerpredigt wider den Türken‘ betonte.27 Ganz im Sinne seiner politischen Ethik verurteilte Luther die religiöse Begründung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Islam, sprach sich aber zugleich dafür aus, dass die weltliche Obrigkeit ihre Aufgabe wahrnehmen müsse, sich gegen die osmanische Expansion zur Wehr zu setzen. In einer gegenwartsorientierten Perspektive, in der es um Luthers Beitrag zum modernen Toleranzgedanken geht, gilt es seine Auffassung herauszustellen, dass die Toleranz anderen gegenüber in der Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens begründet ist.28 6.

Luther und die Bildung

Auch wenn die allgemeine Bedeutung der Reformation für die Geschichte der Bildung wie auch der spezielle Beitrag, den Martin Luther hierzu geleistet hat, von der neueren Forschung weiterhin anerkannt werden, wird doch eine stärkere Kontextualisierung eingefordert.29 Luthers Bildungsverständnis lässt sich zum einen aus seiner Auseinandersetzung mit dem Humanismus 25 Vgl. Hartmut Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation. Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa (Beiruter Texte und Studien 42), Beirut/Stuttgart 1995 (ND Beirut/Würzburg 2008), 159–275. 26 Vgl. Michael Basse, Einleitung, in: ders. (Hg.), Martin Luthers Dekalogpredigten in der Übersetzung von Sebastian Münster (Archiv zur Weimarer Ausgabe 10), Köln/Wien 2011, IX–XXVI, hier: XXI. 27 Vgl. Ehmann, Luther, Türken und Islam, a.a.O. (wie Anm. 23); Siegfried Raeder, Luther und die Türken, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, a.a.O. (wie Anm. 1) 224–231, hier: 225–229. 28 Vgl. Wilfried Härle, Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz, in: Christoph Schwöbel/Dorothee C. von Tippelskirch (Hg.), Die religiösen Wurzeln der Toleranz, Freiburg i. B. 2002, 77–97; Christoph Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 235ff; Michael Basse, Christentum und Toleranz. Die Geschichte einer ambivalenten Beziehung, in: Glaube und Lernen 26 (2011), 26–38, hier: 31. 29 Vgl. Markus Wriedt, Bildung, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, a.a.O. (wie Anm. 1) 231–236.

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entfalten und ist zum anderen im Zusammenhang mit seiner Zweireichelehre zu betrachten. In Abgrenzung zum Humanismus resultiert das Sein des Menschen nach Luthers Auffassung nicht aus einem Bildungsprozess, sondern es wird allein durch die Rechtfertigung konstituiert.30 Trotz dieser Absage an das humanistische Bildungsideal und das ihm zugrundeliegende Menschenbild gab Luther aber das Bildungsprogramm des Humanismus nicht auf, vielmehr teilt auch er das humanistische Interesse vor allem an einer sprachlichen Bildung, die er in den Dienst sowohl der Kirche als auch der politischen Gemeinschaft gestellt sah. 7.

Luther und die Musik

Aus den vielfältigen kirchen- und kulturgeschichtlichen Ansätzen, Martin Luther in den unterschiedlichen Facetten seiner Persönlichkeit wahrzunehmen, resultiert auch die besondere Beachtung, die der Musik im Leben und Werk des Wittenberger Reformators geschenkt wird.31 Das Themenjahr ‚Reformation und Musik‘ innerhalb der Lutherdekade hat sich in dieser Hinsicht als besonders ertragreich erwiesen.32 Dabei korrelieren historische und gegenwartsorientierte Perspektiven nicht nur in der liturgischen Praxis, die sich an dem Stellenwert von Lutherliedern im evangelischen Gottesdienst ablesen lässt, sondern auch in der damit verbundenen Einsicht in die theologischen Dimensionen einer Verkündigung, in der auf ganz spezifische Weise ‚Herz und Mund‘ miteinander verknüpft sind. 8.

Luther und die Kunst

Neben der Kirchenmusik ist es auch die Kunst, deren Relevanz für die Geschichte der Reformation und die spezifische Ausprägung einer lutherischen Konfessionskultur zunehmend Beachtung findet.33 Zum einen geht es dabei um kulturgeschichtliche Aspekte der visuellen Vermittlung zentraler Inhalte reformatorischer Theologie und zum anderen um die grundsätzliche 30 Vgl. Karl-Heinz zur Mühlen, Glaube, Bildung und Gemeinschaft bei Luther, in: ders., Reformatorische Prägungen. Studien zur Theologie Martin Luthers und zur Reformationszeit, hg. v. Athina Lexutt/Volkmar Ortmann, Göttingen 2011, 199–209, hier: 206. 31 Vgl. Johannes Schilling, Musik, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, a.a.O. (wie Anm. 1) 236–244. 32 Vgl. ders., Reformation und Musik. Zum Ertrag des Themenjahrs der Reformationsdekade 2012 – Ausstellungen und Neuerscheinungen, in: Luther 85 (2014), 194–203. 33 Vgl. Freya Strecker, Bildende Kunst, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch (wie Anm. 1), 244–249.

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Frage nach der Rolle und der Berechtigung der Bilder sowie anderer Kunstgegenstände im Kirchenraum. Letzeres hängt mit dem ‚Bilderstreit‘ der 1520er Jahre zusammen, als zunächst vor allem Andreas Karlstadt während Luthers Aufenthalt auf der Wartburg eine radikale Abkehr von der traditionellen Frömmigkeit forderte und sich deshalb auch für eine Entfernung aller Bilder aus den Kirchen einsetzte. Demgegenüber vertrat Luther die Auffassung, dass Bilder in den Kirchen weiterhin gestattet werden sollten, wenn sie der Veranschaulichung des Glaubens dienten, nicht aber jener Schaufrömmigkeit, wie sie in der römischen Kirche gepflegt wurde. Mit dem Bildtypus des Lehrgemäldes ‚Gesetz und Gnade‘, das vor allem Lucas Cranach d.Ä. geradezu programmatisch entworfen hat, konnte der Fokus auf Luthers Rechtfertigungslehre gerichtet werden.34 9.

Luther in ökumenischer Perspektive

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam es insbesondere im Kontext des 450. Jubiläums der Confessio Augustana im Jahre 1980 zu einer Intensivierung des ökumenischen Dialogs, der dann nach langwierigen Vorbereitungen mit der Unterzeichnung einer Konsenserklärung zur Rechtfertigungslehre am 31. Oktober 1999 einen vorläufigen Höhepunkt fand. In diesem Zusammenhang wurde Luthers Theologie von römisch-katholischer Seite mit neuem Interesse wahrgenommen. Die interkonfessionelle Zusammenarbeit von Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistorikern, die sich mit der eingangs skizzierten Frage nach der Kontinuität bzw. Diskontinuität der Reformation(en) im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit befassen, hat ihren Anteil an der ökumenischen Offenheit, mit der Martin Luther heute in der (Kirchen-) Geschichtsforschung betrachtet wird. Im Blick auf die Rezeption seiner Theologie sowohl in historischer als auch gegenwartsorientierter Perspektive ist grundsätzlich zu klären, inwieweit theologische Differenzen, die im 16. Jahrhundert scharf markiert wurden, für den Protestantismus der Gegenwart als überholt angesehen bzw. in hermeneutischer Hinsicht im Sinne einer Konsensökumene eingeebnet werden können oder vielmehr das konfessionelle Profil des Protestantismus ausmachen und deshalb auch im ökumenischen Dialog in Theologie und Kirche zur Geltung gebracht werden müssen.

34 Vgl. Heimo Reinitzer, Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, Hamburg 2006.

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Eine spezifische Erweiterung der ökumenischen Perspektive erfuhr die neuere Lutherforschung durch Beiträge, die von dem finnischen Reformationshistoriker Tuomo Mannermaa verfasst bzw. angeregt wurden – hier wird die These vertreten, die Theologie Luthers weise eine Nähe zur theologischen Tradition der Orthodoxie auf, insofern die Erlösung des Menschen als dessen „Vergottung“ verstanden werde.35 Dieser Auffassung ist jedoch entgegengehalten worden, „daß Luther das Wort ‚deificare‘ samt Derivaten nur sehr spärlich gebraucht und sich auch in diesen wenigen Fällen keineswegs auf weitergehende Überlegungen zur Vergöttlichung des Menschen einlässt“.36 Die Frage, inwieweit es sowohl reformationsgeschichtlich als auch systematisch-theologisch fruchtbar sein kann, Verbindungen zwischen Luthers Theologie und der Orthodoxie weiter nachzugehen, ist damit allerdings noch nicht abschließend beantwortet. 10. Luther aus interkultureller Perspektive Die zunehmende Internationalisierung der Lutherforschung bringt nicht nur neue Fragestellungen und Akzentsetzungen mit sich,37 sondern zugleich wird in einer interkulturellen Perspektive auch nach der Wirkung Martin Luthers und seines Erbes gefragt und das erkenntnisleitende Interesse an einer Positionierung des Reformators „zwischen den Kulturen“ begründet.38 Dabei wird ein historisch-kulturwissenschaftlicher Zugang zu Martin Luther „jenseits einseitiger konfessioneller Vereinnahmungen und Frontstellungen“ gesucht, um demgegenüber die „vielfältigen Wahrnehmungen Luthers und des Luthertums in anderen Kulturen“ außerhalb Europas zur Geltung zu bringen39. Mit einem solchen rezeptionsgeschichtlichen Ansatz können aber nicht nur die globalen Wirkungen Luthers und des Luthertums 35 Vgl. Tuomo Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog (Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums. Neue Folge 8), Hannover 1989; Risto Saarinen, Partizipation als Gabe: Zwanzig Jahre neue finnische Lutherforschung, in: Ökumenische Rundschau 57 (2008), 131–143. 36 Albrecht Beutel, Antwort und Wort. Zur Frage nach der Wirklichkeit Gottes bei Luther, in: ders., Protestantische Konkretionen. Beiträge zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 28–44, hier: 32. 37 Vgl. Robert Kolb/Irene Dingel/Lʼubomír Batka (Hg.), The Oxford Handbook of Martin Lutherʼs Theology, Oxford 2014. 38 Vgl. Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004. 39 Dies., Einleitung – Von der Lutherverehrung zur konfessionellen Lutherforschung und darüber hinaus, a.a.O. (wie Anm. 38), 11–30, hier: 11f.

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in verschiedenen – in sich wiederum vielfältigen – Kulturen anderer Kontinente wahrgenommen werden, sondern auch Wechselwirkungen mit anderen Religionen, indem z.B. jüdische und islamische Lutherdeutungen in den Blick kommen.40 11. Luther im Religions- und Geschichtsunterricht Martin Luther gehört zu den Persönlichkeiten, die in fast allen Lehr- und Bildungsplänen des Unterrichtsfachs Evangelische Religionslehre Berücksichtigung finden, weshalb Person und Theologie Luthers auch in den Schulbüchern relativ ausführlich behandelt werden. Darüber hinaus gibt es aus neuerer Zeit Unterrichtsmaterialien, die auf dem Stand gegenwärtiger Religionspädagogik und Kirchengeschichtsdidaktik unterschiedliche, den jeweiligen Schulformen und -stufen angemessene Zugänge zum Thema ‚Martin Luther‘ eröffnen.41 Dabei werden die Ansätze der neueren Lutherforschung berücksichtigt, indem grundlegende – und auch problematische – Aspekte der Biographie und Theologie Luthers sowohl kontextualisiert als auch in einer systematischen Perspektive betrachtet werden. Eine ganz eigene Frage ergibt sich aus dem Vergleich der jeweiligen Thematisierung Luthers im Religionsunterricht einerseits und im Geschichtsunterricht andererseits, was nicht zuletzt für eine Kooperation beider Fächer zu bedenken ist. So sehr sich die (kirchen-)geschichtsdidaktischen Methoden gleichen, die in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien beider Fächer dargelegt und konkretisiert werden, so sehr können doch im schulischen Alltag die Geschichtsbilder differieren, die mit Martin Luther im Religionsunterricht und im Geschichtsunterricht verknüpft werden, zumal auch in der Beschäftigung der Allgemeinhistoriker mit Leben und Werk 40 Vgl. Christian Wiese, „Auch uns sei sein Andenken heilig!“ Idealisierung, Symbolisierung und Kritik in der jüdischen Lutherdeutung von der Aufklärung bis zur Schoa, in: H. Medick/P. Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen, a.a.O. (wie Anm. 38), 215–259; Jan Slomp, Christianity and Lutheranismus from the Perspective of Modern Islam, a.a.O. 277–296. 41 Vgl. Marita Koerrenz: Der Mensch Martin Luther. Eine Unterrichtseinheit für die Grundschule, Göttingen 2011; Michael Wermke/Volker Leppin: Lutherisch – was ist das? Eine Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe I, Göttingen 2011; Judith Krasselt-Maier: Luther: Gottes Wort und Gottes Gnade. Bausteine für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II, Göttingen 2012; Annette Adelmeyer/Siegfried Both: Luther entdecken. Ein Buch zum Stöbern und Nachschlagen, hg. v. Stiftung Luthergedenkstätten in SachsenAnhalt/Landesinstitut für Lehrerfortbildung, Lehrerweiterbildung und Unterrichtsforschung von Sachsen-Anhalt, Kropstädt 2005.

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Luthers eigene Schwerpunktsetzungen und Fragehorizonte zur Geltung kommen.42 12. Der Thesenanschlag und Luthers Rolle in der Erinnerungskultur des Protestantismus der Gegenwart Die symbolträchtige Bedeutung des Jahres 1517 für die Erinnerungskultur des Protestantismus hat in jüngerer Zeit noch einmal zu einer Forschungskontroverse in Bezug auf die Historizität des Thesenanschlags geführt, nachdem darüber bereits in den 1960er Jahren gestritten worden war.43 2007 wurde dann in der Thüringischen Universitäts- und Landesbibliothek Jena eine handschriftliche Notiz von Luthers Sekretär Georg Rörer wieder aufgefunden, die für die Authentizität des Thesenanschlags zu sprechen scheint, deren Quellenwert jedoch in der Forschung umstritten ist.44 Das ‚Lutherjahr‘ 2017 wirft – ebenso wie die Reformationsjubiläen vergangener Zeiten – Fragen nach den zeittypischen Merkmalen der vergegenwärtigenden Erinnerung an den Wittenberger Reformator auf: Welche theologischen und kulturpolitischen Zugänge zur Person und zum Werk Martin Luthers stehen im Vordergrund? Welcher spezifischen Ausdrucksformen bedient sich die Erinnerungskultur heute? Welche Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen engagieren sich hierbei und von welchen Motiven bzw. Interessen werden sie bestimmt? Einen Beitrag zur innerkirchlichen wie auch gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung Luthers und seiner Wirkungsgeschichte leisten die jeweiligen Themenjahre zur sogenannten Lutherdekade, die von der EKD seit 2008 initiiert werden.45 In vielfältiger Form – mit Veranstaltungen, Publikationen, Projekten u.a. – wird hier Luthers Relevanz für den Protestantismus in Geschichte und Gegenwart thematisiert und auch problematisiert. Eine besonders anschauliche Ausdrucksform der Erinnerungskultur ist seit dem 19. Jahrhundert die Ausstellung in Museen. Wie stark insbesondere die Anziehungskraft des Lutherhauses in Wittenberg vom jeweiligen Zeit42 Vgl. Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 22013. 43 Vgl. Erwin Iserloh, Luther zwischen Reform und Reformation: der Thesenanschlag fand 3 nicht statt, Münster (1961) 1968; Heinrich Bornkamm, Thesen und Thesenanschlag Luthers: Geschehen und Bedeutung, Berlin 1967. 44 Vgl. Joachim Ott/Martin Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 9), Leipzig 2008. 45 Vgl. http://www.ekd.de/themen/luther2017.html [Zugriff: 28.10.2014].

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geist und von politischen Umständen abhing, wird bereits an der Konzeption und dann auch an der Realisierung des Museums im 19. Jahrhundert deutlich.46 Hier zeigte sich ein regelrechter Reliquienkult, der dem ursprünglichen Anliegen der Reformation widersprach und sich aus den vielfältigen Intentionen einer nicht zuletzt konfessionell geprägten Erinnerungskultur erklärt, womit Anschaulichkeit gefördert, aber auch Verehrung erzeugt werden kann. Konzeptionelle Neuansätze, wie sie nicht nur im Lutherhaus zu Wittenberg, sondern auch in dem Museum ‚Luthers Elternhaus‘ in Mansfeld verfolgt wurden,47 spiegeln sich in entsprechenden Umbauten wider, die heutigen rezeptionsgeschichtlichen und museumsdidaktischen Grundsätzen entsprechen und dabei auch der Forderung einer Kontextualisierung Luthers nachkommen. ‚Erinnerungsorte‘ spielen auch darüber hinaus in der gegenwärtigen Konfessionskultur des Protestantismus eine wichtige Rolle. Im Blick auf Luthers Theologie und deren Bedeutung für die Gegenwart gilt es vor allem herauszustellen, dass hier „Theologie als Schriftauslegung“48 entfaltet wird und damit Zugänge zur biblischen Botschaft eröffnet werden, die der Selbstvergewisserung evangelischen Christseins dienen und zur kritischen Auseinandersetzung mit den Fragen unserer Zeit anregen. In dieser Hinsicht sind in erster Linie die christologisch begründeten „externen Relationen des Seins eines Christenmenschen“49 wahrzunehmen, die die Beziehung zu Gott einerseits und zum Nächsten sowie zur Welt andererseits bestimmen. Abstract The Reformation jubilee in 2017 especially gives cause to bring Martin Luther’s work and its historical influence into focus. In the newer research different key subjects become apparent which are discussed partly also con46 Vgl. Stefan Laube, Das Lutherhaus Wittenberg – eine Museumsgeschichte, mit einem Exkurs zur Sammlungsgeschichte von Uta Kornmeier, im Auftrag der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in SachsenAnhalt 3), Leipzig 2003. 47 Vgl. Gaby Kuper, „Ich bin ein Mansfeldisch Kind“. Zur neuen Dauerausstellung in Luthers Elternhaus in Mansfeld, in: Luther 85 (2014), 207–209. 48 Albrecht Beutel, Theologie als Schriftauslegung, in: ders. (Hg.), Luther Handbuch, a.a.O. (wie Anm. 1), 444–449. 49 Karl-Heinz zur Mühlen, Ausblick: Überlegungen zur bleibenden Bedeutung von Martin Luthers Theologie für die Gegenwart. Ein Beitrag zur Luther-Dekade bis 2017, in: ders., Reformatorische Prägungen, a.a.O. (wie Anm. 30) 341–355, hier: 354.

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troversially. These include the question about continuity or discontinuity of the Late Middle Ages and Reformation, about Luther’s political ethic and his attitude towards Judaism as well as towards Islam and about his historical influence with regard to the memory culture of Protestantism.

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Theologische Klärung

Reformation und Selbsterkenntnis Systematische Erwägungen zum Gegenstand des Reformationsjubiläums Notger Slenczka 1.

Einleitung

1.1 Die Vieldeutigkeit der Reformation Was bejubeln wir beim Reformationsjubiläum? Was feiern wir? Oder was bedenken wir? Die Antwort auf diese Frage ist zugleich die Antwort auf die Frage danach, was das Zentrum der Reformation ist – und ob sie überhaupt ein Zentrum hat und nicht vielmehr viele? Viele Protestanten werden sich darauf beziehen, dass die Entdeckung der Rechtfertigung des Sünders im Zentrum steht und werden, näher befragt, auf die vier ‚particulae exclusivae – die Ausschlußwendungen‘ verweisen. Es handelt sich um die Wendungen, die auf die Frage nach dem Grund der Rechtfertigung den Glauben, Christus, die Gnade, und das Wort (der Schrift) benennen (sola fide; solus Christus; sola gratia; sola scriptura bzw. solo verbo) und damit alle anderen Gründe, insbesondere das Werk des Menschen, ausschließen: ‚Allein‘ der Glaube, die Gnade, Christus, das Wort rechtfertigen den Menschen. Darauf weist auch der EKD-Text ‚Rechtfertigung und Freiheit‘1 mit Nachdruck hin und erhebt den Anspruch, damit 1

Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017, Gütersloh 2014. Ich werde im Folgenden kritisch Bezug nehmen auf diese Veröffentlichung. Dabei ist mir klar und ich weise ausdrücklich darauf hin, dass das Ergebnis einer Kommissionsarbeit nicht den Kommissionsmitgliedern jeweils individuell zugerechnet werden kann, sondern an vielen Stellen einen Kompromiss darstellt, den mit Sicherheit mindestens manche Mitglieder der Kommission nur mit Bauchschmerzen mittragen konnten; einige der Kommissionsmitglieder haben den hier geäußerten Einwänden in ihren sonstigen Veröffentlichungen Rechnung getragen (z.B. Volker Leppin, s.u.).

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zugleich etwas zur Geltung zu bringen, was – als Freiheitsimpuls – auch heute noch plausibel und bedenkenswert ist2; aber: ist unser Verständnis von Freiheit wirklich dasjenige Luthers?3 Und wie rechtfertigt sich die Konzentration auf Luther – muss man nicht die vielen parallelen Entwicklungen – die Schweizer Reformatoren, die Bauern, die ‚Schwärmer‘ – mit einbeziehen, um das eigentümliche Phänomen ‚der‘ Reformation zu erfassen?4 Hat dann nicht Thomas Kaufmann recht, wenn er darauf hinweist, dass es mitnichten eindeutig ist, was das Zentrum der Reformation ist5, und zwar bereits zur Zeit Luthers selbst 2 3

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Zum Sinn der Bezugnahme auf das Freiheitsverständnis der Reformation: ebd. 98–104. Diese Frage wird in der genannten Veröffentlichung durchaus angedeutet und festgestellt, dass das Freiheitsverständnis Luthers „nicht einfach bruchlos mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu identifizieren“ sei, aber doch „in enger Beziehung zur europäischen Freiheitsgeschichte“ stehe (Zitate 98, vgl. 101f.) – hier wird die etwa von Marcuse und anderen vorgetragene Kritik, nach der das Verständnis der Freiheit als kontrafaktischer Zuspruch und als ‚innere‘ Freiheit (im Unterschied zur äußeren Gebundenheit) eher ein Hindernis der europäischen Freiheitsgeschichte als deren Beförderung war, abgeblendet (Herbert Marcuse, Autorität und Familie, in: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1969, 55–156); dazu: Notger Slenczka, Neuzeitliche Freiheit oder ursprüngliche Bindung? Zu einem Paradigmenwechsel in der Reformations- und Lutherdeutung, in: Notger Slenczka; Walter Sparn (Hgg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers; Festschrift für Jörg Baur zum 75. Geburtstag, Tübingen 2005, 205–244. Vgl. auch die Auslegung der Freiheitsschrift: Slenczka, Freiheit von sich selbst – Freiheit im Dienst – zur Freiheitsschrift, in: Christine Axt-Piscalar (Hg.), Dimensionen christlicher Freiheit. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung von Luthers Theologie, Leipzig 2014, 81–118, vgl. auch die anderen Beiträge in diesem Band. Das erwähnte Papier tut das nur am Rande, aber es handelt sich schließlich auch nicht um eine reformationsgeschichtliche Abhandlung: a.a.O. 11–23. Es ist nicht möglich, die folgenden programmatischen Ausführungen im Rahmen des zur Verfügung stehenden Raumes zu befußnoten und auch nur mit einem Grundstock der einschlägigen Literatur abzugleichen. Da dem Ganzen ein Modell der Reformulierung reformatorischer Einsichten zugrunde liegt, dessen Teile ich in gelegentlichen Aufsätzen vorgestellt habe, verweise ich häufiger als eigentlich angemessen auf eigene Arbeiten; dort findet sich wenigstens ausgewählte Literatur. Der Blick auf die historische Reformationsforschung konzentriert sich exemplarisch auf die Position Thomas Kaufmanns, gerade weil sie sich – auf den ersten Blick – einem systematischen Zugriff gegenüber sehr spröde verhält – vgl. dazu auch den ‚Vorbehalt‘ unter 7., unten S. 40. Kaufmann schlägt daher in der Auseinandersetzung mit der Annahme, dass das Phänomen ‚der‘ Reformation nur im Plural (‚die‘ Reformationen) fassbar sei, vor, von einer zwar letztlich einheitlichen, aber jeweils spezifisch kontextualisierten Bewegung auszugehen, in der eine Antwort auf die Heilsfrage des Menschen untrennbar mit einer Kirchenkritik verbunden ist, wobei aber gilt, dass es diese Einheit nur „in, mit und unter“ der jeweils spezifischen Kontextualisierung und im klärenden Prozess der Auseinandersetzung der Kontextualisierungen überhaupt gibt (Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation.

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nicht: Luther selbst ist in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern immer wieder gezwungen, sich gegen Fehldeutungen seiner Intentionen abzugrenzen: Denn viele von ihm als häretisch betrachteten Positionen berufen sich auf Luthers Werke und erheben den Anspruch, ihn besser zu verstehen, als er sich selbst versteht, den ‚jungen‘ gegen den ‚alten‘ Luther zur Geltung zu bringen – so etwa Zwingli; die Bauern; Karlstadt und andere.6 Es ist aber nun auch weitergehend nicht so, dass damit ‚Fehldeutungen‘ des Anliegens Luthers dem einsinnig klaren Selbstverständnis Luthers gegenüberstünden.7 Der bemerkenswerte Vorschlag eines gegenwärtigen Theologen, einfach einmal die Texte der Reformation zu lesen, um Klarheit herzustellen, mag ein individuelles Defizit lösen, bleibt aber als Antwort auf die Frage nach dem ‚Wesen‘ der Reformation oder dem Zentrum der Theologie Luthers hermeneutisch unreflektiert. Denn der Rückgang auf ‚die Texte selbst‘ und die Beschäftigung mit dem Selbstverständnis Luthers führt lediglich auf den Grund der Vielfalt der damaligen und gegenwärtigen Deutungen: Auch Luther für sich selbst ist von Anfang an ein in sich vielfältiges Phänomen, er ist lebenslang mit beständigen Vollzügen der Selbstreflexion und der Selbstdeutung befasst, die mitnichten auf einen eindeutigen Nenner zu bringen sind. Am Anfang steht also nicht etwas Klares und Eindeutiges, sondern am Anfang steht eine Vielfalt der Interpretationen: zunächst die Selbstinterpretationen Luthers, dann die Deutungen und Inanspruchnahmen Luthers durch die Humanisten, das Reformmönchtum, die Bauern, die Ritter, die Städte. Diese Interpretationen des reformatorischen Anliegens schlagen dann selbst wieder zurück auf die Selbstdeutung Luthers, der erst allmählich, im Umgang mit diesen Fremdwahrnehmungen, in Abgrenzung und Aufnahme sich über sich selbst klar wird.8 Und erst nach und nach legt sich der Staub und es stellt sich heraus, was eigentlich das Zentrum

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Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012, hier 15–24). Dies verdient in Erinnerung gerufen zu werden angesichts der eigentümlichen Behauptung, Kaufmann vertrete mit der Rede von ‚Reformationen‘ ein ‚dekonstruktivistisches‘ Modell einer auf Einheit verzichtenden Reformationsdeutung – das tut er ganz ausdrücklich nicht: vgl. ebd. 3. Kaufmann hat diese Beobachtung erstmals in seiner Dissertation vorgetragen (ders., Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528, Tübingen 1992, hier bes. 83 Anm. 554; 82–95; 103f.; 130–142 u.ö.) und dann etwa in den unter dem Titel ‚Der Anfang der Reformation‘ versammelten Studien entfaltet (Anm. 5). Dazu wieder erhellend: Kaufmann, Anfang (Anm. 5) 589–605, hier bes. 596–602. In der differenzierten Darstellung der Bedeutung der Mystik im Denken des frühen Luther hat Volker Leppin diesen Prozess der Selbstdeutung exemplarisch nachgezeichnet: ‚Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit‘. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in: ARG 93 [2002] 7–25, bes. 23f.

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der Theologie Luthers, und was eigentlich die Reformation und was eigentlich das Luthertum ist – aber auch das eben nicht so, dass man nun weiß, was am Anfang war, sondern so, dass im Streit sich diese Identität erst klärt und herstellt: indem sich zentrale Interpretationsmodelle ausbilden und – im Laufe eines Debattengangs und oft lediglich durch eine autoritative Entscheidung – durchsetzen und fortan als ‚das‘ Lutherische oder als Essenz der Reformation wirksam und zum hermeneutischen Schlüssel der Ursprünge werden. Man kann das am Beispiel der Ausbildung der konfessionellen Identität des Luthertums klarmachen: Was ‚lutherisch‘ und was ‚die Reformation‘ ist, stellt sich erst im Verlauf der abgrenzenden Klärungen heraus, die in vielen Streitgängen zwischen ‚Philippisten‘ und ‚Gnesiolutheranern‘ um die Deutung des Lutherischen zur Konkordienformel und zum Konkordienbuch führen. Es geht hier nicht um die Bewahrung oder Bestreitung einer bereits vorhandenen, eindeutigen Identität, sondern im Verlauf der Streitigkeiten stellt sie sich erst heraus. Eindeutigkeit bezüglich der Lutherischen Identität gibt es erst seit 1580. Aber auch diese Eindeutigkeit täuscht, und zwar einerseits in der Abgrenzung gegen die Folgeentwicklung: Die innerlutherischen Schulauseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts drehen sich vielfach um die Deutung und Vereindeutigung eben dieser nur scheinbar klaren und unmissverständlichen Identität.9 Andererseits täuscht die Eindeutigkeit der im Laufe der Auseinandersetzungen zwischen 1548 und 1580 gewonnenen Identität des Lutherischen auch im Blick auf die Vorgeschichte: auch hier ist die Grenze mitnichten so eindeutig, dass erst nach 1548 die Streitigkeiten begannen, deren Lösung dann die Konkordienformel dokumentiert, während zuvor eine eindeutige Linie der Theologie Luthers als Kriterium Lutherischer Identität und als Maßstab der Auseinandersetzungen herrschte: bekanntlich haben alle Streitgänge nach 1548 ihren Vorlauf in Auseinandersetzungen zwischen Melanchthon- und Lutherschülern in den 20er und 30er Jahren, die lediglich durch die Autorität der Schulhäupter am expliziten Ausbruch gehindert, aber mitnichten inhaltlich geklärt wurden; sie kamen eben dann zum Ausbruch, als seit 1546 die Massivität Luthers die Schreibfedern nicht mehr 9

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Vgl. hier nur: Jörg Baur, Auf dem Weg zur klassischen Tübinger Christologie, in: Luther und seine klassischen Erben, Göttingen 1993, 204–276; Ulrich Wiedenroth, Krypsis und Kenosis. Studien zu Thema und Genese der Tübinger Christologie im 17. Jahrhundert, Tübingen 2012. Der ‚Tübinger-Gießener Streit‘ ist einer der bekanntesten, aber mitnichten der einzige derartige Streitgang innerhalb der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts.

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bremste und politische Rücksichten nach den wechselvollen Auseinandersetzungen des Schmalkaldischen Krieges und nach dem Frieden von 1555 ihren Charakter wechselten. Und auch in den vorausgehenden 20er Jahren hat man es, wie gesagt, mit einer Reihe von Streitgängen – Ritter; Bauern; Spiritualisten; Zwingli/Ökolampad; Erasmus – zu tun, in denen sich erst klärt, was eigentlich die Reformation – und auch: was die Theologie Luthers – ist.10 Das wäre bei einem Blick auf die reformierte Tradition noch deutlicher erkennbar; es legt eine Verallgemeinerung nahe: ‚die‘ Reformation gibt es in der Tat nicht, sondern es gibt sie ausschließlich im Konzert der Interpretationen eines Impulses, der erst im Verlauf dieser Interpretationen sich über sich selbst klar wird.11 Die Feststellung der Pluralität und Kontextualität des Phänomens und seiner Rezeption bedeutet dabei aber gerade nicht, dass man auf die Frage nach seiner Einheit oder auch nach einer angemessenen Deutung verzichtet (dazu unten 2.), wohl aber, dass man die Frage nach der Einheit und der angemessenen Deutung des Phänomens und die Antworten darauf nicht abseits der Pluralität und Kontextualität stellen und gewinnen kann – hinter die hermeneutischen Einsichten, die Troeltsch etwa in seiner Wesensschrift skizziert hat, sollte man nicht ohne Not zurückfallen. Wenn das endlich einmal zu Verständnis und Bewusstsein käme und den Versuchen ein Ende machte, das Wesen der Reformation ohne Abarbeitung an den vielfältigen Kontexten, in denen sie sich im 16. Jahrhundert und in der Rezeptionsgeschichte darstellt, eineindeutig festzustellen – dann wäre damit ein Niveaugewinn erreicht, der dem weiteren Verlauf der Reformationsdekade nur guttun würde. 1.2 Historische Vieldeutigkeit als Eröffnung gegenwärtiger Rezeptionsperspektiven Der dogmatisch selbstgewisse, aber hermeneutisch naive Griff nach ‚dem‘ Zentrum der Reformation lässt die interne Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit dieser Bewegung außer Acht. Denn es ist nicht zufällig, dass die Reformation Luthers vielen zeitgenössischen Strömungen als verwandt erschien und diesen die Möglichkeit bot, die eigenen, teilweise ‚politischen‘ im heutigen Sinne, Anliegen im Medium der Religion zur Sprache zu bringen – den Rittern, den Städten, den Bauern, den Humanisten und den 10 Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt u.a. 2009, hier bes. die Kap 8 und 9. 11 Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur, Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, hier zusammenfassend bes. 25f.

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Kirchenreformern.12 Damit stellt sich eben auch die Frage, in welchem Sinne im Zentrum der Reformation ein um die Rechtfertigungsfrage gruppiertes „religiöses Thema“ steht, und vor allem: was genau diese Feststellung bedeutet in einer Zeit, in der alle Lebensbereiche religiös begründet und von Religion durchwoben waren? Schon angesichts dessen hat mit Recht der Versuch Widerspruch geweckt, einen ‚theologischen‘ oder ‚religiösen‘ Begriff der Reformation trennscharf fassen zu wollen und alles übrige als ‚Folgen‘ des spezifisch Religiösen oder Theologischen zu verorten, wie das das bereits erwähnte Papier tun zu können beansprucht.13 Das Abblenden der Pluralität ist auch im Sinne des Vermittlungsanliegens, das die jüngste Veröffentlichung der EKD leitet, bedauerlich: Gerade diese Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass diese Bewegung zeitgenössisch so wirkungsreich war, und dafür, dass sie über die Jahrhunderte und auch heute für Zugriffe aus einer Fülle von Perspektiven anschlussfähig und sogar für religiös unmusikalische Zeitgenossen faszinierend ist. Diese Möglichkeit, sich aus einer Gegenwart ins Verhältnis zu dieser Bewegung zu setzen, hängt an der Wahrnehmung dieser ursprünglichen Vieldeutigkeit, nach der die Reformation immer schon nur im Vollzug der Rezeption das geworden ist, von dem die deutende Gegenwart herkommt.14 Es ist kein Verlust, dass die Frage nach dem Wesen der Reformation nicht eineindeutig beantwortbar ist, und die EKD beispielsweise ist gut beraten, wenn sie darauf verzichtet, auch nur 12 Ich verweise jetzt nur (unter dem in 7. notierten Vorbehalt) auf: Kaufmann, Geschichte (Anm. 10), hier bes. die Kap 6–8. 13 Rechtfertigung und Freiheit (Anm. 1) 14; dazu Thomas Kaufmann/Heinz Schilling, Die EKD hat ein ideologisches Luther-Bild, in: Die Welt, 24.05.2014 http://www.welt.de/ debatte/kommentare/article128354577/Die-EKD-hat-ein-ideologisches-Luther-Bild.html, [Zugriff: 1.12.2014]; vgl. auch: Kaufmann, Geschichte (Anm. 10) 18f. 14 Vgl. die Sammlungen rezeptionsgeschichtlicher Studien: Michael Trowitzsch/Christoph Markschies (Hgg.), Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999; Walter Sparn/Notger Slenczka (Hgg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers, Tübingen 2005; Christian Danz/Rochus Leonhardt (Hgg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin u.a. 2008. Insgesamt: Karl-Heinz zur Mühlen, Wirkung und Rezeption, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther-Handbuch, Tübingen 2005, 461–488. Vgl.: Hans Medik/Peer Schmidt (Hgg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004. Zur Reformationsdeutung: Klaus Tanner (Hg.), Konstruktion von Geschichte. Jubelrede – Predigt – protestantische Historiographie, Leipzig 2012; Stefan Laube/Karl-Heinz Fix (Hgg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung, Leipzig 2002; zur Lutherforschung exemplarisch: Rainer Vinke (Hg.), Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, Mainz 2004.

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innerkirchlich auf das Privilegieren einer religiösen Deutungsperspektive zu insistieren und Kritik am Deutungsvorschlag ‚Rechtfertigung und Freiheit‘ als eine Art Majestätsbeleidigung zu behandeln. Vielmehr ist diese religiöse Deutungsperspektive als eine mögliche zu profilieren und nicht a priori, sondern folgeweise in der Auseinandersetzung mit anderen Deutungen in ihrem Recht und hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft auszuweisen; dies dadurch, dass sie eine Deutung und einen Umgang mit den Lebenskonflikten erschließt und ermöglicht, denen auch die gegenwärtigen Zeitgenossen nicht entgehen – dazu gleich unter 2.2. 1.3 Ziel des Folgenden Ich will im Folgenden versuchen, einen Zugang zum Phänomen der Reformation zu beschreiben, der exemplarisch und sicher verbesserungsbedürftig zeigt, wie man dieser Komplexität gerecht werden könnte.15 Ich greife eine These über das Wesen der Reformation auf, die im 19. Jahrhundert leitend war und die die Reformation nicht als theologisches, sondern als welt- und geistesgeschichtliches Ereignis in Anspruch nimmt. Diese etwa von Hegel und Troeltsch vorgetragene These ist eine ‚Perspektivenidee‘ oder, mit Troeltsch zu sprechen, ein ‚divinatorischer‘ Zugriff, der ein Gebiet durch eine Perspektive erschließt. Ich werde zunächst diese These vorstellen (2.1.), dann die Frage nach dem Status solcher Perspektivenideen und die Frage nach der Verifizierbarkeit stellen (2.2.) und dann in zwei weiteren Abschnitten (3.–4.) fragen, inwieweit diese Perspektivenidee das Phänomen erschließt. 2.

Die Reformation als Entdeckung der Autonomie des Subjekts? – zugleich: der Sinn des Rückgangs auf die Texte

2.1 Die These Hegels Der im vorangehenden Abschnitt aufgeworfene Fragekomplex der Hermeneutik der Reformationsdeutung ist in höchst reflektierter Form bei Ernst

15 Ich beziehe mich dafür auf Phänomene, die ich bereits anderweitig beschrieben habe, und auf Texte, die ich bereits in anderen Zusammenhängen analysiert habe, vgl. dazu die Hinweise zu Beginn der folgenden Abschnitte.

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Troeltsch geleistet,16 der der Reformation darum epochalen Charakter zuschreibt, weil sich in ihr das Prinzip der Neuzeit – die Orientierung an der Subjektivität und ihrer Freiheit – darstellt. Zugleich aber, so die Diagnose Troeltschs, verwirklicht sich dieser Freiheitsimpuls unter den Bedingungen eines autoritären Verständnisses von Kirche, Staat und Lehre und ringt sich erst im Laufe einer komplexen Geschichte von gegenläufigen Momenten frei. Diese Deutung ist Lessing einerseits, vor allem aber Hegel andererseits geschuldet: nach Letzterem liegt die weltgeschichtliche Bedeutung der Reformation darin, dass sich bei Luther das Grundprinzip des europäischen Geistes auf dem Gebiet der Religion manifestiert: „Das Prinzip des europäischen Geistes ist die selbstbewußte Vernunft, die zu sich das Zutrauen hat, daß Nichts gegen sie eine unüberwindliche Schranke sein kann, und die daher Alles antastet, um sich selbst darin gegenwärtig zu werden.“17

Dieses Prinzip der Selbsterfassung und der Selbstbestimmung und damit der nicht sinnlichen, sondern allgemeinheitsfähigen Freiheit manifestiert sich im geographischen Europa im Laufe einer Geschichte, in der die Reformation eine entscheidende weltgeschichtliche Funktion einnimmt, die Hegel in seiner Philosophie der Weltgeschichte würdigt: „Erst die germanischen Nationen sind im Christenthume zum Bewußtseyn gekommen, daß der Mensch als Mensch frei, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; dies Bewußtseyn ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber dieses Princip auch in das weltliche Wesen einzubilden, das war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere lange Arbeit der Bildung.“18

Das Prinzip der Subjektivität meldet sich, so Hegel, in der Person Luthers und ist der entscheidende Gewinn der Reformation; dort erfolgt die Transformation der objektiven Gestalt des Geistes – des Christentums, das sich in der kirchlichen Anstalt, in der gegenständlichen Lehre und in den Sakra16 Was heißt ‚Wesen des Christentums‘?, in: Hans Baron (Hg.), Gesammelte Schriften 2, Nachdruck 2. Aufl. Aalen 1981, 386–451; zur folgend dargestellten Deutung der Reformation durch Troeltsch vgl.: Ernst Troeltsch, Luther und die moderne Welt, in: KGA 8, Berlin/New York 2001, [53] 59–97, hier 69ff.; ders., Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, ebd. [183] 199–313. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie III, § 393 [Zusatz], Theorie Werkausgabe 10,62. 18 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe 12,31.

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menten darstellt – in individuelle Subjektivität. Im Rekurs Luthers auf die Unvertretbarkeit des individuellen Glaubens ist die Bedeutung der Subjektivität entdeckt – so Hegel – und die Neuzeit, diese eigentümliche Epoche, die spezifisch ist für Europa, beginnt nach Hegel mit dieser Entdeckung der konstitutiven Funktion des individuellen Subjekts. 2.2 Wesensdeutung als Wesensgestaltung Diese hier nur angerissene Deutung der Reformation ist bei Hegel, bei Troeltsch ganz ausdrücklich eine Deutung des Wesens der Reformation aus der Perspektive ihrer Wirkungsgeschichte und steht damit unter dem Anliegen der Fortschreibung dieses Impulses, wie Troeltsch in seiner hermeneutisch hochdifferenzierten Feststellung festhält, nach der ‚Wesensdeutung zugleich Wesensgestaltung‘ ist: Die gegenwärtige Reformationsdeutung ist immer Formulierung des Selbstverständnisses, das sich diesem Impuls verdankt und ihn mit dem Ziel der Fortschreibung dieses Impulses gegenwärtig deutet und in der Gegenwart kontextualisiert. Dabei verfährt die Gegenwart aber eben nicht beliebig; die Kirche ist gut beraten, wenn sie sich nicht einfach frei fühlt, „sich aus der Geschichte etwas herauszusuchen und zu sagen – das ist es“, wie ein gegenwärtiger Theologe leider formulierte, sondern sie ist verwiesen auf die Texte des 16. Jahrhunderts nicht nur, sondern zugleich auf die Texte der der eigenen Deutung vorangehenden Deutungsgeschichte. Diese Texte der Reformationszeit wiederum sind allerdings – das ergibt sich aus dem unter 1. Gesagten – kein jeder Deutung vorgegebenes, eineindeutiges Kriterium gegenwärtiger Deutungen. Vielmehr sind sie insofern Kriterium, als sie sich unter einer gegenwärtigen Leseperspektive erschließen und mehr oder weniger leicht lesen lassen. Das Recht einer Leseperspektive ergibt sich zunächst daraus, dass sie die Texte verständlich und leicht lesbar macht.19 Das Lesen der reformatorischen Ereignisse und Texte hat somit nicht den Charakter, dass aus ihnen das allen Deutungen vorausliegende Wesen der Reformation herausgeklaubt werden könnte – dafür müsste man sie, wie man gern sagte, ohne ein Vorverständnis lesen können, und dass das nicht möglich ist, gehört zu den Binsenwahrheiten neuzeitlicher Hermeneutik. Vielmehr stoßen die Texte und die bisherigen Rezeptionsgewohnheiten – etwa der 19 Das gilt übrigens schon für die Bekenntnisschriften (Notger Slenczka, Die Bekenntnisschriften als Schlüssel zur Schrift, in: ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen, Göttingen 2003, 65–89); aus dem Satz, dem diese Anm. angehängt ist, könnte man eine ganze Schrifthermeneutik entfalten – vgl. den eben genannten Text und: ders., Das Evangelium und die Schrift, ebd. 39–65.

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Vorschlag Hegels – im gegenwärtigen Leser eine Idee zu einer gegenwärtigen Deutung an: sie werden zum hermeneutischen Schlüssel. Diese Deutungsidee hat sich dann aber dadurch auszuweisen, dass sie fähig ist zur Integration der weiteren Dokumente der reformatorischen Bewegung einerseits, und andererseits dadurch, wie sich diese Deutung der Reformation ins Verhältnis setzt zur vorausliegenden Wirkungs- und Deutungsgeschichte eben dieser Reformation. Das ist nicht das einzige Kriterium der Angemessenheit einer Leseperspektive; auf ein zweites Kriterium des Rechtes einer Deutungsidee werde ich noch zu sprechen kommen (unten 8.). In diesem Sinne nehme ich die Einsicht Hegels als Deutungsanstoß und lasse meinen Blick leiten von diesen Deutungsvorschlägen Hegels und Troeltsch. Sie beide machen auf einen Zug der Lutherschen Theologie aufmerksam, neben dem es weitere gibt; der Versuch, die Texte von hier aus zu lesen, wird sich als weiterführend erweisen, modifiziert dann aber die Leseperspektive, die Hegel und Troeltsch vorschlagen. Die Texte Luthers lassen sich in der Tat als ‚Entdeckung des individuellen Selbstbewusstseins‘ lesen und erschließen sich, jedenfalls zu einem Teil, als Manifestation, Ausdruck und Reflexion und vor allem Neubestimmung einer Gestalt des Selbstbewusstseins; diese zentrale Einsicht Luthers ist aber etwas anders gefasst als diejenige, die Hegel vor Augen hat. Ich kann hier nur Linien skizzieren:20 3.

Luther und die ‚Selbsterkenntnis‘

Die Einsicht Luthers, auf die Hegel sich bezieht, ist von Hegel nicht dort gewonnen, aber m.E. am besten greifbar in der Gestalt, die Luther ihr in der ersten Psalmenvorlesung 1513, also in der Frühzeit seiner akademischen Tätigkeit gibt – nur ein Beispiel.21

20 Die im Folgenden vorgetragenen Interpretationen Luthers und Bernhards habe ich in weiteren Texten genauer behandelt, etwa: Notger Slenczka, Cognitio hominis et Dei. Die Neubestimmung des Gegenstandes und der Aufgabe der Theologie in der Reformation, in: Heinz Schilling (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017 – eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme, München 2014, 205–229. 21 Ausführlich entfaltet in: Die Seele und ihre passiones. Luther im Gespräch mit der vorreformatorischen Anthropologie, in: J. Dierken (Hg.), Leibbezogene Seele?, Berlin u.a. 2014, 46–69, zur hier interpretierten Passage: 55–65.

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3.1 Die Erste Psalmenvorlesung – der Psalm als Medium der Selbsterkenntnis Luther befasst sich hier in der Auslegung von Psalm 1 mit dem Lob des Gerechten, der nach diesem Psalm ‚über dem Gesetz des Herrn grübelt Tag und Nacht‘ („in lege eius meditatur die ac nocte“); und Luther stellt das ‚meditari – grübeln über [dem Text]‘ dem ‚imaginari – sich vorstellen‘ und ‚cogitare – bedenken‘ gegenüber: „Die Fähigkeit zum meditari ist eine rationale Fähigkeit. Meditari und cogitare sind nämlich etwas Unterschiedliches, denn meditari bedeutet hartnäckig, tief, sorgfältig cogitare zu tun, und ist eigentlich ein Wiederkäuen im Herzen [ruminare in corde]. Daher heißt meditari eigentlich in der Mitte [wegen ‚medium – Mitte‘] bewegen oder in der Mitte und im Innersten bewegt werden [in medio et intimo moveri]; wer also innerlich und sorgfältig denkt [cogitat], fragt, erwägt, der meditatur.“22

Was heißt ‚das Gesetz meditari‘ – fragt Luther. Dieses meditari des Gesetzes hat die Liebe zum Gesetz zur Voraussetzung, so Luther, denn nur über dem, was wir lieben, grübeln wir sorgfältig, während wir über das, was wir hassen oder was uns gleichgültig ist, leicht hinweggehen. Cogitare und meditari sind hier einander nicht einfach entgegengesetzt, sondern das meditari ist gleichsam ein ‚tiefergelegtes‘ cogitare, in dem die Instanz des Herzens oder des ‚Inneren‘ mitbetroffen ist. Das ‚meditari‘ vollzieht sich „nicht im Mund oder auf der Zunge, auch nicht in den Häuten des Herzens, sondern drinnen in der Mitte und im innersten Mark des Herzens.“23 Das meditari des Gesetzes ist keine bloß oberflächliche, kognitive Kenntnisnahme, es ist auch nicht ein Wollen; sondern dies meditari verbindet Luther mit einer ins Extrem ausgearbeiteten Bußtheologie: der Gerechte meditiert, indem er ein ‚accusator sui – ein Ankläger seiner selbst‘ ist. Das meditari des Gesetzes vollzieht sich im emotionalen Akt der ‚contritio – der im Bußsakrament erforderlichen ‚Zerknirschung‘ über die Sünde‘. Das ins Herz gehende meditari über dem Gesetz ist die contritio; es ist ein cogitare, bedenken, das in eine emotionale Selbstwahrnehmung am Leitfaden des Gesetzes übergeht, die er, die Kommentierung des Ps 1 abschließend, in einem corrolarium (exkursartige Anmerkung) zum Stichwort ‚iudicium – Gericht / Urteil‘ entfaltet: 22 Luther, Dictata super Psalterium, WA 55; 11,26–12,5 (alle Übers. hier und im ff. N.Sl.) 23 Ebd. 30,28f.

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„[...] was unsere Scholastiker in theologischer Terminologie die Akte der Buße [actus penitentiae] nennen, nämlich: sich selbst mißfallen, verabscheuen, verurteilen, anklagen, der Wille anzuklagen, sich zu strafen, zu tadeln und mit innerer Bewegung [cum affectu (korr. aus effectu)] das Böse zu hassen und sich selbst zu zürnen, das nennt die Schrift mit einem Wort ‚Urteil‘ [...] So ist insgesamt das Sein, die Heiligkeit, die Wahrheit, die Gutheit, das Leben Gottes etc. nicht in uns, wenn wir nicht erst nichts, unheilig, Lügner, böse und tot vor Gott werden [...]“24

Dieses meditari des Gesetzes, das aus der Liebe zum Gesetz kommt, ist daran erkennbar, dass es die Gestalt der ‚accusatio suiipsius – der Selbstanklage‘ hat: die Erkenntnis des Gesetzes ist nicht intentional verfasst – orientiert sein über den Sachgehalt der Forderungen – sondern reflexiv: Erkenntnis des Gesetzes ist Selbsterkenntnis. Das hat viele Implikationen; für mein leitendes Anliegen ist entscheidend, dass hier wie in den anderen einschlägigen Texten erkennbar wird: es geht nicht nur um die Beschreibung einer thematischen Selbsterkenntnis, sondern es geht bei diesem negativen Selbstverhältnis der Buße um eine vorthematische Intensität dieses negativen Selbstverhältnisses, für die er zum Begriff des affectus greift und den emotionalen Mehrwert in Anspruch nimmt, die die affektiven Begriffe ‚Zorn‘, ‚Hass‘ etc. enthalten (vgl. im Zitat oben: „mit innerer Bewegung das Böse zu hassen und sich selbst zu zürnen“). Der Unterschied zur thematischen Selbsterkenntnis liegt nach Luther darin, so könnte man jetzt im einzelnen zeigen, dass dieses emotionale Selbstverhältnis nicht gewählt ist, sondern das Subjekt überfällt, wenn es ‚meditari‘ tut mit Bezug auf das Gesetz. Luther kommt es offensichtlich darauf an, den religiösen Akt nicht als gegenständliches Erkennen, sondern als eine den Menschen im Innersten erfassende Bewegung des Selbstverhältnisses bzw. der Selbsterkenntnis zu beschreiben. Das göttliche Gesetz und das göttliche Wort insgesamt ist nicht dann erfasst, wenn es als Quelle von Erkenntnissen oder von Handlungsanweisungen verstanden ist – das wäre ‚cogitare‘, oder übersetzt in eine gängige Kategorie: ‚fides historica – Tatsachenglaube‘. Verstanden ist das Gesetz dann, wenn es erstens zur Quelle einer Selbsterkenntnis wird, die aber zweitens der Mensch nicht vollzieht, sondern die sich an ihm vollzieht. Der religiöse Akt ist nicht dem cogitare verwandt, sondern dem Überfallartigen des Affekts, der ‚passio – Leidenschaft‘. Und diese passio ist eine Gestalt der emotionalen Selbsterkenntnis: contritio – Zerknirschung; odium sui – Selbsthass;

24 Ebd. 37,10–13. 19–21. 26–30; vgl. auch 26.

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und genau dies negative Selbstverhältnis ist gemeint, so Luther, wenn die Tradition vom ‚Jüngsten Gericht‘ oder von der ‚Hölle‘ spricht. Und genau dies ist es, was er in den 95 Thesen einschärft – darum sind die 95 Thesen von so ungeheurer Bedeutung und das (angebliche) Datum ihrer Veröffentlichung ein geeigneter Anlass der Reformationserinnerung. Darum sind sie bedeutsam: Weil sie in eine nicht-institutionelle, lebensbegleitende Bewegung der Selbstreflexion einweisen. Diese Bewegung der Selbstreflexion ist christentumsgeschichtlich und weltgeschichtlich bedeutsam – und zwar, so wird sich zeigen, nicht als reformatorische Neubildung, sondern als Wiederentdeckung eines Grundanliegens des christlichen Glaubens. Die These wäre also die, dass diese von Troeltsch und Hegel auf Luther zurückgeführte Linie, nach der in der Reformation die Entdeckung der Subjektivität sich vollzieht, in dem Sinne die Texte erschließt, als sie Luthers eigentümliches und seine gesamte theologische Entwicklung begleitendes Insistieren darauf, dass die religiösen Gehalte des christlichen Glaubens angeeignet werden wollen, gerecht wird und auf den Begriff bringt; es geht dann darum, dass die religiöse Überlieferung in eine Form des individuellen Selbstverständnisses und des Selbstvollzuges ‚übersetzt‘ werden muss. Hier wäre nun, wenn man die Kraft dieser These zur Integration der Texte prüfen wollte, der Deutung des Verhältnisses von Glaubensvollzug und gegenstand nachzugehen, die sich in den Texten Luthers in der Folgezeit manifestiert , und es wäre dabei auch zu fragen, wie sich die Gegeninstanzen, die diese These nicht bruchlos integrieren kann – das Insistieren auf dem ‚extra nos‘ etwa –, einfügen. Diese zuletzt genannte Problemstellung ist eingefahren und bekannt; ich lasse mich daher nicht auf diese Schützengräben ein, sondern folge einer anderen Linie. Denn man sieht gerade dann, wenn man die Erste Psalmenvorlesung unter dieser Perspektive liest, dass dieser Gedanke Luthers – Religion ist vortheoretisches Wissen um sich selbst – eine produktive Aufnahme einer weiter zurückreichenden Geschichte der Verständigung über das Wesen des Christentums darstellt;25 ich folge diesem Verweis nur im knappen Zugriff auf exemplarische Positionen: 3.2 Bernhard von Clairvaux – Gotteserkenntnis durch Selbsterkenntnis Dieses Insistieren darauf, dass Religion nicht Erkennen von göttlichen Gegenständen, sondern Selbsterkenntnis ist, und dass diese Selbsterkenntnis 25 Zur Verortung Luthers vgl. Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006.

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kein thematisches Erkennen, sondern ein vorbewusster, vorthematischer Akt ist, der den Menschen überfällt mit der Kraft der Emotion – diese Einsicht hat Luther nicht erfunden, sondern er übernimmt sie von Bernhard von Clairvaux,26 den er gerade in der Zeit der Ausarbeitung seiner Ersten Psalmenvorlesung sehr genau liest und in der Auslegung des Psalters ausdrücklich heranzieht. Hier trifft er auf eine Position, die die Gotteserkenntnis und die Selbsterkenntnis nicht nur engstens verschränkt; vielmehr erklärt Bernhard die Selbsterkenntnis zur Voraussetzung der Gotteserkenntnis; noch genauer müsste man sagen: In der Selbsterkenntnis liegt die Gotteserkenntnis. Auch Bernhard geht es, wie Luther, um eine Selbsterkenntnis, die eine Gestalt der Demut, genauer: der ‚contritio – der Zerknirschung‘ ist: „Ich wünsche deshalb, daß eine Seele zuallererst sich selbst erkennt [...] Durch eine solche Erfahrung und in einer solchen Ordnung gibt sich Gott auf heilsame Weise zu erkennen, wenn sich der Mensch zuerst in seiner Bedürftigkeit erfährt und dann zum Herrn ruft. […] Eben auf diese Weise wird deine Selbsterkenntnis ein Schritt (gradus) zur Gotteserkenntnis sein; und in seinem Bild, das in dir wiederhergestellt wird, 27 wird er selbst zu sehen sein.“

Genau um dieses jede Gotteserkenntnis begründende Wissen um sich selbst geht es in der Demut, zu der Bernhard seine Mönchsbrüder in Predigten, die geniale Seelenleitung sind, anzuweisen sucht, denn auch hier: Von der Selbsterkenntnis im Modus der ‚humilitas – Demut‘ wird man im Hören der Predigt oder im Lesen der Schrift ergriffen.

26 Vgl. zu Luthers Verhältnis zur Mystik nur: oben Anm. 20; sodann die Beiträge in: Berndt Hamm/Volker Leppin, Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007, darin bes: Sven Grosse, Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie, aaO. 187–235, der das ‚pro me‘ als den Beitrag der Mystik zum Denken Luthers bestimmt und darin zu demselben Ergebnis kommt wie der vorliegende Beitrag. Zum Verhältnis Luthers speziell zu Bernhard: Ulrich Köpf, Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Christoph Markschies (Hg.), Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999, 17–35; ders., Religiöse Erfahrung in der Theologie Bernhards von Clairvaux, Tübingen 1980; zum Verhältnis zu Luther auch: Theo Bell, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, VIEG 148, Mainz 1993; zu den hier im Folgenden analysierten Passagen aus Luthers Dictata: 42–81. 27 Bernhard von Clairvaux, Sermones in Canticum Canticorum, Sermo 36, aus IV,5 und 6 (Werke V,568–571); Übersetzung nach dieser Ausgabe, nötigenfalls stillschweigend korrigiert.

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Alle Feinheiten muss ich hier weglassen;28 Luther ist mit seiner Einsicht nicht allein, sondern auch bei Bernhard geht es im christlichen Glauben wesentlich um Selbsterkenntnis, und auch hier geht es wieder um eine Selbsterkenntnis, die ihren Ort nicht in der Helle des thematischen ‚Wissens über‘ sich selbst hat, sondern im Halbdunkel der ‚contritio – Zerknirschung‘. 3.3 Das Bußsakrament Damit bewegen wir uns im Rahmen der mönchischen Seelsorge und, zwei Jahrhunderte nach Bernhard, im Rahmen des Bußsakraments, das ich persönlich als die wichtigste Kulturleistung des Christentums im westlichen Europa betrachte. Bekanntlich wird mit dem Vierten Laterankonzil 1215 die jährliche Beichtpflicht verordnet:29 Einmal im Jahr mussten alle religionsmündigen Menschen zum Bußsakrament gehen, und das heißt: die Selbsterforschungskultur, die das Mönchtum bereits lange vor Bernhard ausgebildet hatte, wurde – jedenfalls der normativen Idee nach – allgemein. Und es handelt sich in der Tat nicht einfach um ein Instrument zur Sozialdisziplinierung. Denn der Idee nach ist das Verhältnis von Beichtkind und Beichtvater nicht so strukturiert, dass der Beichtvater Repräsentant der Öffentlichkeit, Staatsanwalt oder Richter ist, der die Abgründe der Seele des Beichtkindes erforscht und erkennt; er hat vielmehr die Aufgabe, im unverbrüchlichen Schweigen und in der Privatheit des Gesprächs das Beichtkind zur Erkenntnis der Wahrheit seiner selbst, in das Selbstverhältnis der ‚contritio – Zerknirschung‘ zu leiten. Es geht gerade nicht darum, dass der Beichtvater erkennt und urteilt, sondern das Beichtkind muss sich selbst erkennen, um eigens ‚contritio – Zerknirschung‘ empfinden zu können. Die jährliche Beichtpflicht etabliert also eine Kultur der Selbsterkenntnis. Und genau dies steht auch im Zentrum der Reformation; sie ist unter dieser Perspektive lediglich die Ausweitung und Ent-Institutionalisierung dieser Kultur der Selbsterforschung; nicht mehr einmal im Jahr ist diese Selbsterforschung angesagt, sondern der gesamte Lebensvollzug tritt unter das Vor28 Dazu: Slenczka, Cognitio (Anm. 20). 29 Dazu die grundlegende Abhandlung zum mittelalterlichen Bußwesen bis 1215: Martin Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im hohen und späten Mittelalter, Tübingen 1995. Zur Theologendiskussion: Reinhard Schwarz, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968. Ferner unüberholt: Karl Müller, Der Umschwung in der Lehre von der Buße während des 12. Jahrhunderts. In: ders. u.a. (Hgg.), Theologische Abhandlungen (FS C.v. Weizsäcker), Freiburg 1892, 289–320. Ferner: L. Hödl, Die Geschichte der scholastischen Literatur und Theologie der Schlüsselgewalt, Münster 1960.

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zeichen der contritio, das heißt: Einer beständigen negativ wertenden Wahrnehmung des eigenen Lebensvollzuges: „Als Jesus Christus sagte: Tut Buße, da wollte er, dass unser ganzes Leben eine Buße sei.“ Damit wird deutlich, dass es zum Verständnis dessen, was ‚Reformation‘ ist, eben nicht genügt, dass man ein an den ‚particulae exclusivae – den solusPrinzipien‘ orientiertes abstract zusammenstellt, sondern es ist nicht nebensächlich, dass Luther sich in einer Abarbeitung am Sinn des Bußsakraments vom vorreformatorischen Kirchenwesen losringt: der institutionelle Kontext des Bußsakraments ist in dem Sinne wichtig, als eine (!) Wirkung der Reformation darin besteht, dass die aneignende Selbstreflexion, die sich im 1215 verallgemeinerten Bußinstitut vollzieht, nun von diesem Institut selbst abgelöst wird und in dieser noch einmal verallgemeinerten Form den christlichen Lebensvollzug tagtäglich bestimmt. Das gilt unbeschadet dessen, dass in den protestantischen Territorien die Grundzüge des Bußinstituts bis hin zur Beichtpflicht vor dem Empfang des Sakraments zunächst bestehen bleiben, und es gilt unbeschadet dessen, dass dies nicht die einzige Deutungshinsicht ist, unter der sich die Theologie Luthers oder das Wesen der Reformation erschließt – aber es ist ein wichtiger Aspekt, in dem sich die Deutung Hegels und Troeltschs profilieren lässt: Die Reformation ist darin bedeutsam, dass sich hier eine ent-institutionalisierte Form der Selbstreflexion etabliert, die vorreformatorische Frömmigkeitsgestalten, gerade aus der Mystik, aufnimmt und in der Folgezeit die biblischen Texte und die traditionellen Frömmigkeitstraditionen als Instrumente und Medien diesem Vorgang der Selbstreflexion und -deutung einzeichnet – genau dies ließe sich eben an der Psalmenauslegung, am Schriftverständnis Luthers, an seinem Umgang mit der Liturgie, den Sakramenten, oder auch in der Gestaltung der Medien der individuellen Frömmigkeit aufweisen. Dies bleibt, Luthers Unterscheidung aufnehmend, auf der Ebene des ‚Gesetzes‘. Aber dies ist der unverzichtbare Hintergrund, vor dem sich dann das spezifisch Reformatorische profiliert: Es handelt sich im ‚Evangelium‘ um einen besonderen Umgang mit der Problematik der im Bußsakrament beheimateten Selbsterkenntnis. Unter dem Titel der ‚Rechtfertigung sola fide‘ geht es um den Umgang mit der Einsicht, dass der Mensch, der es mit der eigenen, im Lebensvollzug erworbenen Identität nicht aushält, sich mit der fremden und doch für ihn gültigen, weil ihm zugesprochenen Identität Christi beschenkt weiß. Es geht eben auch hier wesentlich um Selbsterkenntnis – aber eben um eine bestimmte, alle gängigen Identitätskonstrukti-

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onen durchbrechende ‚cognitio suiipsius ab extra – eine Selbsterkenntnis aus dem anderen seiner selbst‘.30 Ich lasse das stehen und gehe historisch noch einen Schritt weiter zurück: 3.4 Augustin und die Scham Letztlich geht diese Aufmerksamkeit auf die individuelle Subjektivität, wie fast alles im westlichen Europa, zurück auf Augustin, auf den sich gerade auch Bernhard von Clairvaux einerseits und die monastische Bußtheologie insgesamt deutend bezieht. Augustin hat insbesondere in seinen Beiträgen zum Verständnis des Willens, dann aber insbesondere in den Confessiones und in De Trinitate ein Verständnis der individuellen Subjektivität ausgearbeitet, das darin seine Besonderheit hat, dass es nicht begrifflich geleitet ist, sondern einer intensiven Selbstreflexion und dem Bemühen um eine phänomengerechte Selbstbeschreibung entspringt, von der her Augustin die ihm überkommene anthropologische Terminologie neu justiert.31 Ich konzentriere mich auf eine einzige exemplarische Passage aus den Confessiones, aus Buch 8, das in der Beschreibung der berühmten Gartenszene ausmündet, in der sein Weg zu Gott zu einem vorläufigen Ziel kommt.32 Augustin beschreibt hier den Zustand, dass ihm im Sinne der kognitiven Einsicht bereits von seinem neuplatonischen Erbe her die Wahrheiten über Gott und auch über den Logos einsichtig sind; er beschreibt den Zustand, dass ihm auch einsichtig ist, was von ihm gefordert ist – nämlich die unzweideutige Hingabe des gesamten Lebens an ein Ziel, und das heißt für ihn: Die Aufgabe seiner Konkubine. Er beschreibt dies allerdings als den Zustand eines Zwiespaltes des Willens, beschreibt sich als gebunden an die Welt und als unfähig, seinen Willen zu regieren. Was ihm fehlt, so konstatiert er, ist nicht die Einsicht in das, was er soll, sondern er ist unfähig, zu wollen, was er soll.33 Die eigentliche Wandlung des Willens vollzieht sich in zwei Schritten, deren erster in der Überzeugungskraft eines fremden Bekehrungserlebnisses 30 Notger Slenczka, Die Rechtfertigung des Sünders, in: ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen, Göttingen 2003, 210–226. 31 Dazu nur die fabelhafte Studie von Roland Kany, Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu ‚De trinitate‘, Tübingen 2007, hier 405–534, bes. 507ff., hier 531–534. 32 Im Blick ist damit Augustin, Confessiones Buch 8, IV,9–XII,30; die im Folgenden referierte Passage: VI,14–VII,16. 33 Confessiones Buch 8, V,11–V,12.

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seinen Ursprung hat – Augustin beschreibt, wie er durch die Erzählung von zwei jungen Männern, die nach der zufälligen Lektüre der Vita Antonii den Staatsdienst aufgaben und Mönche wurden, erschüttert wurde; und er beschreibt die Erschütterung mit folgenden Worten, auf die es ankommt: „Dies erzählte Ponticianus. Du aber, Herr, hast mich während seiner Worte gewaltsam gegen mich selbst zurückgewendet, mich hinter meinem Rücken hervorholend, wo ich mich niedergelassen hatte, weil ich nicht aufmerken wollte auf mich selbst, und du hast mich vor mein Angesicht gestellt, dass ich sähe, wie schändlich ich sei, wie verdreht und schmutzig [...] Und ich sah und erschrak und es gab keinen Ort, an den 34 ich vor mir selbst fliehen könnte.“

Das ist eine ungeheuer kunstvolle Beschreibung, denn in gewisser Weise sind wir alle in unserem Rücken: unser Gesicht sehen wir nicht, sondern wir sehen mittels unseres Gesichts, stehen also in der Tat gleichsam hinter dem Rücken unseres Gesichts. Augustin beschreibt nicht, dass er sich erstmals sieht, sondern dass er sich erstmals ins Gesicht sieht. Die emotionale Selbstidentifikation mit den jungen Männern, von deren Entscheidung ihm erzählt wird – er liebt sie, sagt er im folgenden Zitat –, führt dazu, dass er sich sieht, den er, wie er schreibt, wohl kannte, aber über den er sich hinwegtäuschte und den er vergaß: „Dann aber, je brennender ich sie [die jungen Männer, die sich bekehrten] liebte, von denen ich hörte, dass sie sich mit gesunder Leidenschaft dir ganz zur Heilung übergeben hatten, desto unsäglicher hasste ich mich selbst im Vergleich mit ihnen.“35

Dieser negativ wertende Blick auf sich selbst ist lediglich die Kehrseite der Identifizierung mit dem Guten, das ihm in Gestalt der beiden jungen Männer entgegentritt. Derjenige, der emotional vom Guten ergriffen ist – es liebt –, trennt sich von sich selbst, tritt sich selbst gegenüber und sieht sich selbst ins Gesicht. Dieser Zustand der vollendeten, täuschungsfreien Selbsterkenntnis ist ein emotionaler Zustand den Augustin als Selbsthass oder als Scham zusammenfasst. Auch hier: Bei Augustin – darum ziehe ich ihn hier heran – kommt alles darauf an, dass dieser Vorgang keine kognitive Erkenntnis ist und nichts, was ein Mensch wählen könnte. Dass ein Mensch überhaupt zur Einsicht in die Wahrheit seiner selbst gelangt, ist, so Augustin, ein unwillkürlicher Vorgang, 34 Augustin, Confessiones Buch 8, VII,16 (Übers. von mir). 35 Ebd. VII,17.

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der das Subjekt mit der elementaren Kraft und Unentrinnbarkeit des Gefühls überfällt: ‚contritio – Zerknirschung‘, oder ‚erubescentia – Scham‘. 4.

Gericht und Erlösung

Und dennoch ist hier, bei Augustin, wie auch bei Bernhard und Luther und vielen anderen, ein entscheidendes Moment an dieser Erfahrung, das Moment der Evidenz: das Bewusstsein, nun und nun erst richtig und in Durchbrechung aller Täuschungen vor sich selbst und vor seiner Wahrheit zu stehen. Und eben dieser Evidenz des ‚dies bin ich in Wahrheit und diesseits aller Täuschungen‘ trägt die Rede vom göttlichen Richter Rechnung, mit dessen Urteil der Mensch, wenn er so vor sich selbst gestellt ist, übereinstimmt – denn Gott ist, jedenfalls nach den reflektiertesten Gestalten der mittelalterlichen Gotteslehre, mitnichten da draußen irgendwo und sieht mich, sondern er ist mir innerlicher als ich mir selbst bin, wie Augustin sagt. Gott ist – so müsste man das auslegen, wenn man den Raum dazu hätte – ein Moment in meinem emotionalen Verhältnis zu mir selbst, und die explizite Rede von Gott als dem Richter bringt genau dies zur Sprache.36 Daher ist die schlimmste These, die die Schrift ‚Rechtfertigung und Freiheit‘ sich leistet, das Nachschwatzen der Behauptung, dass ‚heute‘ mit dem Problem, das die Erwartung des Jüngsten Gerichts damals bedeutete, nichts mehr anzufangen und daher die Rechtfertigungslehre ohne diesen Rahmen zu reformulieren sei.37 Das liest man häufig, und es muss daher einmal mit großem Nachdruck gesagt werden: Das! Ist! Quatsch! und einer theologischen Stellungnahme nun wirklich unwürdig!38 Denn die Erwartung des Jüngsten Gerichts markiert vielmehr in einer Kultur der wertenden, emotionalen Selbstreflexion die Unentrinnbarkeit der 36 Auf diesen Punkt kommt es mir an, daher einige Texte, in denen ich das weiter ausgeführt habe: Notger Slenczka, Gericht, in: C. Breytenbach (Hg.), Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche, Neukirchen 2012, 161–176; ders., Problemgeschichte der Christologie, in: E. Gräb-Schmidt u.a. (Hgg.), Christologie, MJTh XXIII, Leipzig 2011, 59–111; ders., Entzweiung und Versöhnung. Das Phänomen des Gewissens und der Erlösung in Shakespeares ‚King Richard III.‘ als Hintergrund eines Verständnisses der „imputativen Rechtfertigung“ bei Luther, in: Kerygma und Dogma 50 (2004) 289–319; ders., Der endgültige Schrecken. Das Jüngste Gericht und die Angst in der Religion des Mittelalters, in: Das Mittelalter 12 (2007) 105–121. 37 Rechtfertigung (Anm. 1) 26; 28f. 38 Zur Reformulierung des Programms einer existentialen Interpretation, das dem Folgenden zugrunde liegt, erscheint demnächst ein Text: Historizität und normative Autorität der Schrift. Ein neuer Blick auf alte Texte, in: Chr. Landmesser (Hg.), [Titel noch nicht bekannt], Vorträge der Tagung der Int. Bultmann-Gesellschaft 2013, 2014.

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Frage nach der eigenen Identität39, zu der im Bußsakrament alle Menschen angehalten und die in den genannten Positionen – Luther, Bernhard, Augustin – nur exemplarisch in ihrer existentiellen Bedeutung durchsichtig gemacht ist.40 Im abendländischen Christentum steht von Augustin her die Frage nach der eigenen Identität im Zentrum. Ein Schuh wird aus den Problemen mit einem gegenständlichen Verständnis des Gerichtes als einer Art ausstehendes Ereignis, wenn man das Verhältnis umkehrt und es existential deutet: Die emotionale Selbstreflexion entspringt nicht der gegenständlichen Information, dass auf den Menschen nach dem Ende der Zeit ein Gericht wartet; vielmehr verschafft sich in der Rede vom Gericht die Tatsache Ausdruck, dass wir immer schon vorthematisch wertend um uns selbst wissen – in Erfahrungen der Scham, des Gewissens, des Stolzes etc. – und darin ausgreifen auf eine Feststellung unserer Identität jenseits aller irrtumsfähigen Urteile.41 Die Erwartung eines Jüngsten Gerichts verschafft der Erfahrung der Fraglichkeit und Fragwürdigkeit menschlicher Identität eine Sprache: Diese Frage verschafft sich Ausdruck in der Rede vom ‚Jüngsten‘ – unüberholbaren – ‚Gericht‘. Eine derartige ‚existentiale‘ Deutung der Gerichtserwartung und deren Einzeichnung in eine Phänomenologie vorthematischer Selbstverständigungsvorgänge und Selbsterfahrung würde dann auch die Möglichkeit ergeben, das christliche Erbe plausibel zu erschließen, das als Umgang mit dem Jüngsten Gericht ein Umgang mit diesem anthropologischen Phänomen der identitätsstiftenden Selbstbewertung und ihrer Problematik ist.42 Und von dieser Frage oder Problematik her erschließt sich allererst, was ‚Rechtfertigung‘ und ‚Rechtfertigung sola fide – allein aus Glauben‘ oder: was ‚Evangelium‘ bedeutet: dass ein Mensch nicht durch sich selbst, sondern durch einen anderen er selbst ist – der Mensch wird außerhalb seiner selbst begründet.43

39 Vgl. oben Anm. 36. 40 Notger Slenczka, Quid sum miser tunc dicturus? Die christliche Rede vom Jüngsten Gericht als Beitrag zur Diskussion um die Einheit der Person, in: Trigon 10 (2012), 169– 183. 41 Notger Slenczka, „Allein durch den Glauben“ – Antwort auf die Frage eines mittelalterlichen Mönchs oder Angebot zum Umgang mit einem Problem jedes Menschen?, in: Christoph Bultmann (Hg.), Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007, 291–315. 42 Notger Slenczka, ‚Sich schämen‘. Zum Sinn und theologischen Ertrag einer Phänomenologie negativer Selbstverhältnisse, in: Cornelia Richter (Hg.), Dogmatik im Diskurs, Leipzig 2014, 241–261. 43 Vgl. die in Anm. 36, 41 und 42 genannten Texte.

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Die abendländische Kultur der Selbsterfassung

Ich habe Hegels Deutung der Reformation als Entdeckung der Zentralstellung individueller Autonomie aufgenommen und – im Bewusstsein der Kontextualität dieser Perspektive – als Lesehilfe für ‚die Reformation‘ gewählt. Die These erschließt die Texte und wird durch die Texte modifiziert; sie erschließt die Texte Luthers daraufhin, dass es Luther unter dem Stichwort ‚Glauben‘ um die Aneignung der christlichen Tradition geht: Die Texte der Tradition werden – traditionell gesprochen: – als Gesetz und Evangelium zum Medium der Selbsterkenntnis. Ich habe die Voraussetzungen dieses Gedankens skizzenartig aufgenommen und gezeigt, dass Luther damit nur ein Grundthema der abendländischen Christentumsgeschichte in Erinnerung ruft, das über Bernhard und das Bußsakrament weiter zurück bis zu Augustin verfolgt werden kann, der explizit das ‚Erkenne dich selbst‘ des Gottes von Delphi als das Grundgebot des Christentums auslegt.44 Dass die Selbsterkenntnis dem Menschen eigentümlich und zugleich aufgegeben ist; dass die traditionellen Texte ein Medium der Selbsterkenntnis sind und der Mensch sie nur dann richtig liest, wenn er durch sie vor sich selbst gestellt wird – das ist die Grundeinsicht, auf die ein durch Hegel geleiteter Blick auf die Lutherschen Texte führt. Und damit wird eben auch sehr viel schärfer als in dem Papier ‚Rechtfertigung und Freiheit‘ klar und deutlich, was ‚Glaube‘ eigentlich bedeutet: Glaube ist ein auf das Evangelium und daher unableitbar neu begründetes, emotionales ‚Selbstverständnis‘ oder ‚Identitätsbewusstsein‘ und nichts sonst, und dieses ‚Selbstverständnis‘ ist ein Umgang mit der Grundaufgabe des Menschen und eine Antwort auf sie: sich selbst zu deuten und zu verstehen. Das ist nun philosophiegeschichtlich anschlussfähig – nicht, wie Hegel das wollte, an die neuzeitliche Subjekttheorie, die an die kognitive Klarheit des Selbstverhältnisses anschließt, nicht an das ‚ich denke‘, das alle meine Anschauungen begleiten können muss, damit sie meine heißen können, so Kant. Anschlussfähig ist dieses religiöse Konzept des Gewahrseins seiner selbst vielmehr für eine Hermeneutik der Existenz im Gefolge Heideggers, Merleau-Pontys oder Ricoeurs. Hier zeigt sich, dass nicht nur historisch, sondern auch phänomenologisch der expliziten Klarheit des Wissens um sich selbst ein nicht-gegenständliches, emotionales Gewahrsein seiner selbst zugrunde liegt, das sich bei Heidegger eben beispielsweise in der Gestimmtheit der Angst greifen und beschreiben lässt, oder das bei Sartre beispielswei44 Etwa: Augustin, De trinitate X,5,4 und X,9,12.

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se in den sozialen Emotionen der Scham als Grundlage der ursprünglichen, aber konflikthaltigen Sozialität der menschlichen Existenz ausgesprochen wird und theologisch anschlussfähig ist. 45 Dass aber im Abendland das Interesse an der am Subjekt sich vollziehenden Selbsterkenntnis dominiert; dass die Texte der Tradition nicht einfach als Fakten übernommen werden, sondern diesem Prozess dienen, liegt geistes- und mentalitätsgeschichtlich an dem von Augustin herkommenden, im Mönchtum und im Bußsakrament gepflegten und bei Luther entinstitutionalisierten emotionalen Selbstverhältnis der ‚contritio – Zerknirschung‘: Das als passives Widerfahrnis erlebte, wertende Erfassen seiner selbst, das in den kirchlichen Heilsmitteln – der Schrift, der Verkündigung, den Sakramenten – hervorgerufen wird und den Menschen fremdbestimmt, aber als Modus des Verstehens seiner selbst überfällt. Dass die Frage, wer wir sind, dass die Aufgabe der Selbsterkenntnis, dass die Frage, wie wir – im Gewirr der vielfältigen Urteile anderer über uns und unserer selbst von uns – uns selbst in Wahrheit sehen – dass diese Frage uns beständig begleitet, ist eine Kulturwirkung des Christentums, genauer: des in der ‚Gerichtsverkündigung‘ kulminierenden Bußsakraments, das eben ganz darauf gerichtet ist, das Beichtkind zur unvertretbaren Aufmerksamkeit auf sich selbst anzuleiten. Und diesen Vorgang in Erinnerung gerufen und von seiner institutionellen und jahreszeitlichen Verankerung gelöst zu haben – ist ein wichtiger Zug an dem, was sich bei Luther vollzieht. Seitdem ist in der reformatorischen Tradition – und übrigens auch in der katholischen Schwesterkirche – ein Typus der Frömmigkeit etabliert, der dieses vorthematische Selbstverhältnis als Zentrum menschlicher Existenz ernst nimmt und mit ihm umgeht. Alle gegenständlichen Aussagen der christlichen Religion und alle ihre Institutionen sind Anleitung zur Deutung und Bewältigung der Problematik dieses Selbstverhältnisses. Es ist eine Aufgabe, der beispielsweise Ricoeur, aber eben auch Heidegger in den Vorlesungen seiner Frühphase, sich gestellt haben – diesen existentialen Sinn der gegenständlichen christlich-religiösen Aussagen herauszuarbeiten: Die gegenständlichen Aussagen des christlichen Glaubens – alle, auch die Rede von einem Gott – sind, recht verstanden, übersetzbar in eine Phänomenologie des vorrationalen Selbstverständnisses.

45 Dazu Slenczka, Realpräsenz und Ontologie, Göttingen 1993, Teil II. Ferner: Slenczka, Sich schämen (Anm. 42); ders., Seele (Anm. 21).

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6.

Der epochale Charakter der Reformation und die kulturgründende Funktion des Christentums

In diesem Sinne ist die Reformation ein epochemachendes Ereignis – nicht in dem Sinne, dass sie nun gegen den Katholizismus zu profilieren wäre, sondern in dem Sinne, dass sie diesen Sinn des Christentums explizit macht: Erstens: dass es hier um die Selbsterkenntnis des Individuums geht; zweitens: dass die Aussagen des christlichen Glaubens dieser Selbsterkenntnis (Gesetz) und vor allem – das ist der Sinn des Evangeliums – der Bewältigung ihrer Krisen dienen; und drittens: dass die christliche Tradition insgesamt zur Aneignung in diesem Vollzug der Selbsterkenntnis bestimmt ist. Das würde die Einsicht Hegels modifizieren, dabei aber der Bedeutung des Christentums für die ‚Entdeckung der Subjektivität‘ eine besondere Pointe geben, wenn man nicht mit ‚Rechtfertigung und Freiheit‘ zum Zweck des Nachweises der positiven Wirkungen der Reformation den vielbegangenen Weg von der ‚Annahme durch Gott‘ zu den Menschenrechten weiter plattlatschen würde, sondern folgender Frage nachgehen würde: Ist es denkbar, dass die europäische Idee der ursprünglichen Erschlossenheit des Individuums für sich selbst und der individuellen Selbstbestimmung ihren Grund hat im Bußsakrament? In der Entdeckung des Privaten, der Privilegierung des Blickes auf sich selbst, der jedem anderen Blick entzogen ist und nur dem Individuum selbst sich entdeckt? Das Sigel des Schweigens, das das Bußsakrament umgibt, ist getragen von diesem Wissen um das Selbstverhältnis: Der Beichtvater ist eben, wie gesagt, nach dem Verständnis der mittelalterlichen Theologen nicht ein zur Öffentlichkeit verpflichteter Staatsanwalt oder Richter, sondern ein Helfer zur Selbsterkenntnis, und zur Erkenntnis nicht nur, sondern zur ‚contritio – Zerknirschung‘, eben zu diesem emotionalen negativen Selbstverhältnis, das die Tradition mit ‚Gewissen‘ bezeichnet. Diese in Frageform markierte genealogische These, die als systematische These einholbar ist, wäre die: Die Entdeckung des Selbstbewusstseins ist fundiert im Phänomen des Gewissens und damit in einer religiösen Kultur der Selbsterforschung, die geleitet ist von der Frage nach der Wahrheit meiner selbst. Nun könnte man die philosophische, neuzeitliche Entdeckung der Privilegierung des Selbstbewusstseins und dessen von Hegel beschriebene kulturelle Funktion etwas primitiv als einen Vorgang der Säkularisierung eines ursprünglich religiösen Gedankens lesen: Dieser religiöse Ursprung ist die Leiter, derer man nicht mehr bedarf, wenn man den gewünschten Stand in der Helle des Selbstbewusstseins erreicht hat. Man könnte diesen Gedanken – dass das Helle im Halbdunkel der Emotion fundiert ist – aber auch so fassen: könnte es nicht sein, dass die Klarheit

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einer kulturbestimmenden Idee eines kulturellen Untergrundes bedarf, nicht nur, um zu entstehen, sondern um zu bleiben? Bedarf eine Kultur der Individualität nicht der Institutionen, in denen diese reflexive Individualität am Leitfaden der Frage nach sich selbst nicht nur gedacht, sondern elementar gelebt und erfahren wird? Sind nicht Religionen solche Institutionen, in denen zur Frage nach sich selbst im Angesicht des beständigen Verdachtes, sich zu seinem ewigen Schaden über sich selbst zu täuschen, angeleitet wird? Eine offene Frage, die als Frage nach dem Stellenwert der Religion – nicht nur der christlichen – im Untergrund der Ausgelegtheit einer Gesellschaft auszuformulieren und zu bearbeiten wäre. 7.

Vorbehalt

Ich habe mir in diesem Entwurf die Reformationsdeutung Thomas Kaufmanns als ‚historischen Sparringpartner‘ gewählt – selbstverständlich in dem Wissen darum, dass diese nur eine, wenn auch prominente Deutung ist. Dieser mögliche Einwand ist aber kein Einwand gegen die vorgetragenen Positionen und die markierten monita, sondern unterstreicht sie lediglich: Auch die Reformationsgeschichtsschreibung ist, wie das Phänomen und seine Rezeption, plural. Es geht nicht darum, einen der vielen wissenschaftlichen Zugänge zum Phänomen systematisch zu adeln. Ich will vielmehr darauf aufmerksam machen, was ein gegenwärtiges Reformationsgedenken gewinnt, wenn es nicht in fehlberatenem Eigensinn ohne Berücksichtigung der historischen Forschung sein eigenes Modell ‚der‘ reformatorischen Rechtfertigungslehre bastelt, sondern der Pluralität und Kontextualität des Phänomens, das es zu feiern gilt, und der dadurch legitimen Kontextualität und Pluralität der Blicke und Interessen der ‚Feierbiester‘ ansichtig wird und also die hermeneutische Frage mit Nachdruck stellt. Das ist, dem genus und dem genius loci publicationis geschuldet, hier nur unvollkommen und erweiterungsbedürftig skizziert – aber es sind doch immerhin Fragen gestellt und Wege vorgezeichnet, denen nachzugehen sich lohnt. 8.

Und die Frage nach der Wahrheit?

Geht nun alles in partiellen und kontextuellen Perspektiven auf? Die Angst des hermeneutischen idiota ist ernst zu nehmen – aber ihr begegnet man nicht mit dem Festklopfen und mit dem kirchenamtlichen Privilegieren von Deutungsperspektiven. Das stünde auch im Widerspruch zum Phänomen der Reformation: Wenn es nachvollziehbar ist, was (nicht nur) ich als – ein perspektivisch sich zeigendes – Grundanliegen der Reformation im Sinne

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Luthers, aber auch als ein Grundanliegen der abendländischen Christenheit herausgestellt habe: die individuelle Aneignung der christlichen Tradition in einem Selbstverständnis – dann entscheidet sich eben im Sinne dieses Anliegens die Wahrheit der ‚Zugänge‘ zum Phänomen der Reformation nicht, oder nicht nur, an der Integrationskraft, die ein Modell mit Bezug auf die vergangenen Texte hat, sondern vor allem daran, ob ein Deutungsmodell, das durch die Texte oder deren Deutungsgeschichte ausgelöst ist und sich vor den Texten der Reformationszeit und der Wirkungsgeschichte verantworten kann, einen Erschließungsgewinn für einen gegenwärtigen Existenzvollzug hat und eben in diesem Sinne aneignungsfähig ist. Diese Frage und das darin liegende Kriterium einer ‚existenzorientierenden Wahrheit‘ ist dann nicht an die Reformation herangetragen, sondern entspricht genau dem, was sie will.46 Es ist das Denkangebot der christlichen Tradition, das möglicherweise der Reflexionskultur des Abendlandes zugrunde liegt: dass der Mensch die Aufgabe hat, sich selbst zu erkennen, und dass diese Aufgabe eine Problematik in sich schließt. Diese Frage erstens neu eingeschärft und zweitens außergewöhnlich beantwortet zu haben, ist eine (!) Leistung der Reformation. Die Frage, die dann zu stellen ist, ist diese: wird damit menschliche Existenz angemessen zur Sprache gebracht, so dass sich dies in ein Selbstverständnis übersetzt, in dem ein gegenwärtiger Mensch sich und seine Lebensproblematik wiedererkennt? Und ist der spezifisch reformatorische Umgang mit dieser Problematik – die Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen durch die Zuschreibung der Gerechtigkeit (Identität) Christi – übersetzbar in ein zum Leben befähigendes Selbstverständnis: dass ein Mensch nicht durch sich selbst er selbst ist? 9.

Schluss

Eine solche Reflexion, deren Komplexheit hier nur angedeutet ist und die hier nur angestoßen sein soll, wäre ein sinnvollerer und weiterführender Beitrag der protestantischen Kirchen und ihrer Theologie zum Reformationsjubiläum als die reflexionsfreien Plattheiten des genannten ad hocPapiers, das sich mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer elementarisierenden Übersetzung die Entschuldigung für ihre Plattheit immer schon 46 Diese Feststellung ist natürlich unter den Vorbehalt zu stellen, dass auch diese Feststellung selbst nicht platt historistisch ist, sondern geleitet von einem spezifisch spätneuzeitlichen Wahrheitskriterium, das, unter anderem, in der Wirkungsgeschichte dieser reformatorischen These steht. Für solche hermeneutischen Zirkel gilt der einschlägige Satz Heideggers.

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griffbereit legt. Eine Elementarisierung, die sich um die – auch hier nur angedeuteten – Reflexionen vollständig drückt, ist eine Simplifizierung oder besser Banalisierung, die man sich sparen sollte. Es muss den Kirchen nicht darum gehen, normative Reformationsdeutungen vorzuschreiben, sondern darum, ihre Hermeneuten – Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrer und Lehrerinnen – in diesen eigenständigen und exemplarischen Vollzug der existenzbezogenen Erschließung der Tradition einzuweisen. Dass dies nicht geschieht, daran hapert das Reformationsgedenken, nicht am Mangel von hermeneutisch banalen Leitworten. Und nur so – wenn die Differenz und die Gemeinsamkeit mit der römisch-katholischen Theologie am Grundthema des Bußsakraments und damit der Selbsterkenntnis des Menschen gestellt wird, wird auch ein Weg eröffnet, auf dem jede römisch-katholische Theologie ein Wahrheitsmoment im Anliegen Luthers anerkennen kann auch dann, wenn sie die spezifische Antwort Luthers auf die Frage des Menschen nach sich selbst nicht teilt: anerkennungsfähig ist doch wohl auch für die Römische Kirche, dass Luther den Ernst und die Unentrinnbarkeit der Selbsterkenntnis als Grundthema der christlichen Theologie eingeschärft hat. Abstract The paper reflects on the question that the Reformation is an ambiguous occurrence already in its origins and even more so in its reception. (1.1.). The author proposes to avoid crude definitions of the Reformation’s nature which he identifies in the EKD paper “Rechtfertigung und Freiheit” but rather to see the ambiguity of the Reformation not as a threat but as an opportunity (1.2.). Following the interpretation of the Reformation as “discovery of the subject” by Hegel and Troeltsch he identifies the issue of human identity as the question that Reformation theology deals with. It is a key question of Western Christianity that not only Luther addresses but that can be traced back to Bernard of Clairvaux and Augustine and is related to the radicalization of Penance. The idea that self-knowledge and knowledge of God belong together and that talking of God means interpreting one’s own identity is deeply rooted in Western culture. Thus, the Reformation can be seen a specific interpretation of a universal human question. A significant cultural impact of the Reformation might be the radicalization of the Sacrament of Penance which shapes the Western culture of self-reflection. The human question concerning one’s own identity is the guiding question of Western Christianity and of the current secular self-understanding with which the Reformers deal when speaking of judgement (!) and justification in a varied but specific way.

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Theologische Klärung

Die Genese der Theologie Martin Luthers Athina Lexutt 1.

Gewordenes oder Eigenes? – Eine Diskussion

Es ist nicht zu übersehen: Das Reformationsjubiläum 2017 naht mit Riesenschritten. Wie die vergangenen Jubiläen wird auch dieses seine ganz eigene Prägung haben und sich daher deutlich von den anderen unterscheiden. Eine Besonderheit wird sicher sein, die Wittenberger Reformation viel stärker in die gesamteuropäische Umbruchbewegung der Frühen Neuzeit eingebunden zu betrachten, ihre politische, mediale und soziale Dimension wahrzunehmen sowie den historischen Elementen gegenüber den theologischen den Raum zu widmen, der ihnen zweifellos gebührt. Und auch die Gestalt Martin Luthers, der mindestens durch das Datum des Jubiläums immer noch eine zentrale Rolle zugestanden wird, erhält ein Gesicht, an das manche sich erst gewöhnen müssen. Viele Ereignisse um ihn und mit ihm in der Hauptrolle werden als Legenden entlarvt: die Anrufung der Heiligen Anna bei seinem Gewittererlebnis, der Thesenanschlag, die berühmten Worte auf dem Reichstag zu Worms, der Aphorismus vom Apfelbäumchen, um nur die bekanntesten zu nennen. Luther wird von den Sockeln namentlich des 19. Jahrhunderts heruntergeholt, aus dem Helden wird ein Mensch mit Ecken und Kanten, aus dem Kämpfer für Freiheit und Nation wird ein mitunter recht eigenwilliger Dickkopf mit wenig Gespür für die Anliegen anderer. Und aus dem genialen und originellen Denker wird mehr und mehr ein Rezipient und Transformator, der in größerem Maße, als bisher erkannt, Ideen aus den Traditionen geschöpft hat, in denen er als Kind seiner Zeit stand. Gerade die jüngere Forschung ist darum bemüht, den wahren Luther, der unter so manchem Goldstaub verborgen ist, freizulegen. Und dies nun in einer solchen Weise, dass manch einer erschrocken fragt: Haben wir 2017 eigentlich noch irgendetwas zu feiern? Mit anderen Worten: Bleibt von Luther noch etwas Originelles, etwas Eigenes, was nicht vorher schon gedacht, gesagt und geschrieben worden wäre? War die Kirchenspaltung, die sich an seinen Texten und seinem assertorischen Beharren entzündete, dann doch ein tragischer, theologiegeschichtlicher Unfall, der

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nicht hätte geschehen müssen, wenn nicht die Fronten so verhärtet und die Protagonisten so uneinsichtig gewesen wären? Der folgende Beitrag wird diese Fragen nicht endgültig lösen können. Er will es auch gar nicht, denn es ist vielmehr zu hoffen, dass die Debatte darum noch recht lange andauert und die Themen dadurch im Gespräch bleiben. Kontroversen halten die Geister wach! Was dagegen der Beitrag beabsichtigt, ist zunächst eine knappe Darstellung, mit welchen Traditionen Luther sich hauptsächlich wie und mit welchem Ergebnis auseinandergesetzt hat. Dass dabei etwas durchaus Eigenes und Originelles herausgekommen ist, so dass die Tatsache, dass Luther in bestimmten Traditionen steht, und seine theologische Genialität nicht im Widerspruch stehen müssen – das soll in einem dritten Teil noch einmal pointiert zum Ausdruck kommen.1

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Dabei sieht sich dieser Beitrag durchaus in einer gewissen Nähe zu den vor allem von Volker Leppin aufgebrachten Beobachtungen in seiner Lutherbiographie [Martin Luther (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), 2., durchges., bibliogr. aktualisierte und mit einem neuen Vorwort vers. Aufl. Darmstadt 2010], die eine heftige Kontroverse provoziert hat, gegen die wiederum Leppin einiges klar gestellt hat (Eine neue LutherDebatte: Anmerkungen nicht nur in eigener Sache, in: ARG 99, 2008, 297–307); seine Äußerung in diesem Zusammenhang, „eine Kontinuitäten nicht ausblendende Sicht hilft dazu, die Entwicklungen Luthers im Sinne von Transformationen zu verstehen, in denen auch dort Altes erhalten bleibt, wo Neues, auch radikal Neues entsteht“ (ebd. 305) ist dazu geeignet, seine schärfsten Kritiker in die Schranken zu weisen, ggf. auch ihn selbst, wenn er im Zuge der Verteidigung seiner durchaus bedenkenswerten Thesen den Eindruck erweckt, er sehe an Luther nur noch Altes und nichts Neues, schon gar nichts radikal Neues. – Um diesen Beitrag nicht unnötig durch viele Literaturverweise zu belasten (die könnten und müssten just zu diesem Thema endlos werden!) verweise ich auch dafür auf die die Biographie Leppins, der ein ausführliches Literaturverzeichnis bietet (401–420). Ansonsten stehen im Hintergrund meiner Darstellung, ohne stets auf sie zu verweisen, besonders die Untersuchungen von: Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995; Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, 3. Aufl. Tübingen 2007; Berndt Hamm, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010; die gesammelten Aufsätze von Karl-Heinz zur Mühlen in: Johannes Brosseder und Athina Lexutt (Hgg.), Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, Göttingen 1995, sowie in: Athina Lexutt, Volkmar Ortmann (Hgg.), Reformatorische Prägungen. Studien zur Theologie Martin Luthers und zur Reformationszeit, Göttingen 2011. Für kurze Überblicke über die vorgestellten Personen und ihre Beziehung zu Luther vgl. die nützlichen Einträge in Volker Leppin, Gury Schneider-Ludorff (Hgg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014; dort ist im Anschluss an die jeweiligen Artikel auch noch einmal wichtigste Literatur zum Thema versammelt.

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2.

Luthers Theologie als Ergebnis von Auseinandersetzungen – Eine Untersuchung

Zu konstatieren, dass die Reformation Teil einer gesamteuropäischen Umbruch- und Freiheitsbewegung gewesen ist und sich beileibe nicht nur in der sächsischen Provinz abgespielt hat, ist heutzutage beinahe schon trivial. Viel ist hier vor allem der Konfessionalisierungsdebatte zu verdanken und dem neu erwachten, fruchtbaren Gespräch zwischen Allgemein- und Kirchengeschichte, welche die Reformation in diesem größeren Kontext verortet haben. Wurde in diesem Zusammenhang schon befürchtet, es käme vielleicht die Reformation abhanden, so konnte dem noch gewehrt werden durch die kluge Unterscheidung von „der Reformation“ und „dem Reformatorischen“. Nun sieht es allerdings beinahe so aus, als dauerte es nicht mehr lang, bis auch dieses Reformatorische abhanden kommt. Denn aus der wiederum schon beinahe trivialen Feststellung, dass Luthers Theologie natürlich nicht vom Himmel gefallen ist, lässt sich vermeintlich leicht folgern, es sei gar nicht so neu, was da als reformatorische Entdeckung seit Jahrhunderten immer wieder präsentiert wird. Natürlich hat Luther gelernt und gelesen, dieses Gelernte und Gelesene bedacht und in seine Texte einfließen lassen. Und da der Plagiatsfall im 16. Jahrhundert vermutlich noch kein Straftatbestand war, hat er seine Quellen nicht immer kenntlich gemacht. Reicht aber die Entdeckung, dass er Gedanken und Aussagen, ja gar Denkstrukturen und -muster in seine Theologie einfließen ließ, um ihm das Neue, um ihm die reformatorische Entdeckung und Ausdeutung dieser Entdeckung abzusprechen? Dieser Frage soll nun anhand der wichtigsten Bewegungen und Geistesströmungen nachgegangen werden, mit denen Luther sich auseinanderzusetzen hatte. 2.1 Luthers Auseinandersetzung mit der Scholastik Luthers Worte gegen die wissenschaftliche Theologie seiner Zeit sind bekannt. „Scholastici“ – die Schultheologen, das kam bei ihm einem Schimpfwort gleich, und seine Aggression gegen ihre falsche Auslegungsweise entlud sich dann auch schon einmal im mitten im lateinischen Text auftretenden „Sautheologen“. Bisweilen nannte er sie auch „sophistici“, eine Bezeichnung, die sprechend wiedergibt, was er an ihnen kritisierte: ihr Bemühen, durch Wortverdreherei und logische Tricks zu dem Ergebnis zu kommen, das sie von Anfang an im Blick hatten. Die universitären und schriftlich fixierten Disputationen galten ihm als Ausbund solcher Scheingefechte, die nicht ein wirkliches Ringen mit der Schrift und theologisch

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relevanten Fragen widerspiegeln, sondern die eigene Behauptung unangreifbar machen sollten. Die abwertenden Benennungen verwendete Luther summarisch für die Methode, Theologie zu treiben, ohne dass er zwischen den einzelnen Schulrichtungen Unterschiede machte. Neben der Methode waren es aber natürlich auch die inhaltlichen Momente, speziell aus dem Bereich der Anthropologie, die seiner Ansicht nach nicht mit dem Zeugnis der Schrift übereinstimmten. Doch war er nicht „von Anfang an und immer schon“ ein erklärter Gegner scholastischer Methode und mit dieser Methode verhandelter Inhalte. Zunächst stellt sich daher die Frage, welche „Scholastiker“ er überhaupt kannte. An der Universität Erfurt war Luther die Scholastik durch seine Lehrer Jodokus Trutvetter und Bartholomäus Arnoldi von Usingen in Form der sogenannten „via moderna“ begegnet, einer Schulrichtung, die wesentlich von Franziskanertheologen getragen war und gegenüber dem Primat der Vernunft der dominikanisch bestimmten „via antiqua“ den Primat des Willens setzte. Das Collectorium Biels dürfte wohl der Text gewesen sein, auf den sich Luther hauptsächlich bezog, wenn er die „Moderni“ oder die Ockhamisten kritisch in den Blick nahm.2 Nichtsdestoweniger hat er mit dem Collectorium gearbeitet und einen Großteil seines theologischen Wissens aus diesem Werk bezogen. Biel ist es auch gewesen, der ihn in die „Sekte Ockhams“ getrieben habe.3 Auch Ockham gehörte später in die Riege derer, die das Verhältnis zwischen Gottes Gnadenhandeln einerseits und menschlicher Sünde andererseits in eine Schieflage bringen, wenn sie ein Mitwirken des Menschen – in wie geringem Maße auch immer – annehmen. In diesem Zusammenhang kann er ihn in einem Atemzug mit den Pelagianern nennen.4 In der distanzierten Rückschau aber konnte sich Luther durchaus auch positiv zu Ockham äußern. Er nannte ihn seinen „liebe[n] Meister“5 und gestand ihm immerhin zu, er sei der „Scholasticorum doctorum sine dubio princeps et ingeniosissimus“6 – was nicht unbedingt 2

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Vgl. dazu u.a. Volker Leppin, Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“, in: Berliner Theologische Zeitschrift 22, 2005, 55–69, hier besonders 61. Dass Luther die Ockhamisten als „Sekte“ bezeichnete, belegt etwa folgender Text WA.TR 5, Nr. 6419, 653/1–5: „Scholastici. Terministen hieß man eine secten in der hohen schulen, vnter welchen ich auch gewesen. Die selbigen haltens wider die Thomisten, Scotisten vnd Albertisten vnd hießen auch Occamisten von Occam, ihrem ersten anfenger, vnd sein die aller neuesten secten, vnd ist die mechtigste auch tzu Paris.“ Vgl. etwa WA 39/II, 419. WA 30/II, 300/10. WA 6, 183/3f.

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ein Kompliment sein muss, wenn man weiß, wie Luthers Urteil über die Scholastiker generell lautete. Im Streit mit den Fakultäten in Paris und Löwen um die Frage, wem Autorität in Lehrfragen gebührt, empfahl er: „Wolt yhr myr [in der Feststellung, dass alle Schulen, Väter und Konzilien irren können] nit glewben, glewbt ewrem Occam.“7 Wieviel Luther von Thomas von Aquin kannte, ist nicht ganz klar zu eruieren. Es wird nicht sehr viel gewesen sein, er kannte eher die Thomas-Schule als Thomas im Original. Ein Umstand, der manche, namentlich katholische Lutherforscher8 zu der Annahme verleitete, dass Luther, hätte er den Aquinaten selbst in größerem Maße und nicht in der Form der Thomisten (etwa Cajetan und Ambrosius Catharinus) zur Kenntnis genommen, hätte erkennen müssen, dass ihr Verständnis von Rechtfertigung nicht so weit auseinanderliegt. Bei genauer Lektüre indes stellt sich freilich heraus, wie sehr sich die beiden unterscheiden, man denke nur an die Rolle, die das liberum arbitrium als Motor der Hinwendung des Menschen zu Gott bei Thomas spielt, ohne die Rechtfertigung nicht möglich ist. Gemeinsam mit dem Humanismus stellte Luther früh die Vorrangstellung des Aristoteles in Frage; es kam ihm merkwürdig vor, in der Theologie nicht Theologie zu treiben, sondern Philosophie; er wollte sich nicht mit philosophischen Methoden im äußeren Kreis der Sache aufhalten, sondern zum Kern der Nuss vordringen.9 Mehr als ein Fragezeichen, dem aber noch kein eindrückliches, eigenes Ausrufezeichen folgte, war dies jedoch erst einmal nicht. Insgesamt muss festgehalten werden, dass sich Luther als junger Dozent noch sehr stark in den Bahnen scholastischer Tradition bewegt hat. Die späteren Tiraden gegen die scholastische Theologie sind zu verstehen aus seinen inzwischen gewonnenen Einsichten; wenn er aber in der Retrospektive diese Front schon früher verortet, dann deshalb, weil er sich vermutlich nicht mehr vorstellen kann, je selbst auf diesem Holzweg unterwegs gewesen zu sein. Nach dem Erwerb des Grades des Baccalaureus biblicus 1509 aber tat er das, was jeder Theologiestudent im Laufe seines Studiums getan haben musste, nämlich die „Normaldogmatik“ der Zeit, die Sentenzen des Petrus Lombardus, intensiv studieren und kommentieren. Seine Randnotizen sind ein eindrückliches Zeugnis dafür, dass er die Theo7 8 9

WA 8, 298/23f. Hier ist vor allem Otto Hermann Pesch zu nennen. Vgl. WA.B 1, Nr. 5, 17/40–44: „Quod si statum meum nosse desideres, bene habeo Dei gratia, nisi quod violentum est studium, maxime philosophiae, quam ego ab initio libentissime mutarim theologia, ea inquam theologia, quae nucleum nucis et medullam tritici et medullam ossium scrutatur.“

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logie des Lombarden nicht beanstandete, gelegentliche kritische Bemerkungen oder Anfragen vor allem unter Zuhilfenahme von Augustin sind eher als so etwas wie theologische Fingerübungen zu betrachten oder aber als Versuche, sich als in der Logik als mindestens genauso clever wie der Kommentierte zu erweisen. Erst mit der nach erfolgter Promotion möglichen Übernahme der theologischen Professur in Wittenberg 1512, die ihn zu intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Schrift brachte, lässt sich ein „neuer“ Luther erahnen, dem stark an einer Verknüpfung der wissenschaftlichen Arbeit und der seelsorgerlichen Funktion der Theologie gelegen war. Um diese zu erreichen, variierte er die übliche Auslegungsmethode nach dem vierfachen Schriftsinn, indem er schon bei dem historischen, dem Literalsinn danach fragte, was dies für eine Bedeutung für den Glaubenden habe, und diese nicht erst in dem allegorischen Sinn erblickte. Mit dieser Entdeckung des Literalsinns ebnete Luther den Weg für das spätere Schriftprinzip der „sacra scriptura“ als „sui ipsius interpres“, dem die Betonung der Klarheit der Schrift in „De servo arbitrio“ 1525 korrespondiert: Die Schrift muss nicht erst allegorisch gedeutet werden, um ihr ihre tröstende Kraft und ihren wahren Sinn zu entlocken, sie öffnet diese jedem, der sich durch sie auslegen lässt. Einen ersten „Feldzug“ gegen die Scholastik führte Luther 1517 in der „Disputation gegen die scholastische Theologie.“10 In den Thesen 41 bis 44 erteilte er der bisherigen Methode, Theologie zu treiben, eine klare Absage: „41. Tota fere Aristotelis Ethica pessima est gratiae inimica. Contra Scholast. 42. Error est, Aristotelis sententiam de foelicitate non repugnare doctrinae catholicae. Contra Morales. 43. Error est dicere: sine Aristotele non fit theologus. Contra dictum commune. 44. Immo theologus non fit nisi id fiat sine Aristotele.“11 An dieser Stelle mischt sich die sachliche Auseinandersetzung um die Fähigkeiten des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen, die später in der Thesenreihe wieder aufgenommen wird, mit einer grundsätzlichen Kritik an der Methode. Es scheint fast so, als würde der Philosoph mitver10 Die Disputation über die Frage, „ob der Mensch aus natürlichen Kräften die Gebote Gottes halten kann“, die Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch 1516 ganz im Sinne Luthers gehalten hat, scheint mir – im Gegensatz zur Beurteilung V. Leppins (Martin Luther, 97–100) – mit der Betonung des sola gratia noch ziemlich in den traditionellen Bahnen zu verlaufen. Auch die Tradition konnte das sola gratia auf ihre Weise betonen. Es mag richtig sein, dass hier ganz zaghaft etwas auf dem Weg ist – aber es ist noch nicht, wie Leppin auch richtig festhält, zum eigentlich den Gegensatz anzeigenden sola fide gekommen. 11 WA 1, 226/10–16.

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antwortlich dafür gemacht, wie wenig richtig bisher vom Zusammenhang zwischen Sünde und Gnade verstanden wurde. Luther hatte sich aber inzwischen intensiv mit dem antipelagianischen Augustin auseinandergesetzt und bei ihm gelernt, dass die biblische Einsicht in das, was der Mensch ist und vermag, mit den Ansichten des antiken Philosophen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Also muss um der Sache willen Aristoteles dann aufgegeben werden, wenn er der Schrift widerspricht. Hauptsächlicher Gegner in dieser Thesenreihe war indes Gabriel Biel12. Hier wie auch in der Heidelberger Disputation ein Jahr später grenzte sich Luther scharf gegen dessen Position ab, der Mensch könne mit seinen natürlichen Kräften etwas zu seinem Heil beitragen. In seinen Focus gerieten dabei auch Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, die in ihrem Gnadenverständnis in ähnlicher Weise von einer Mitwirkung des Menschen ausgegangen waren. Schon in der 4. These wird der eigentliche Streitpunkt benannt: „Veritas itaque est quod homo arbor mala factus non potest nisi malum velle et facere.“13 Indem an dieser Stelle auch die Unmöglichkeit des Wollens des Guten herausgehoben ist, der Mensch als durch und durch verdorbener Baum beschrieben wird, wird das letzte scholastische Schlupfloch geschlossen, neben dem sola gratia irgendeine Mitwirkung des Menschen annehmen zu können. Es gibt keine Freiheit, das Gute zu wollen. In These 17 heißt es daher pointiert: „Non potest homo naturaliter velle deum esse deum, Immo vellet se esse deum et deum non esse deum.“14 Tiefer als auf diese Weise kann die Sünde nicht beschrieben werden. Und schließlich die 40. These: „Non efficimur iusti iusta operando, sed iusti facti operamur iusta. Contra philosophos.“15 Das gerechte Werk setzt die Rechtfertigung voraus – niemals umgekehrt! Damit wird die Gerechtigkeit bereits als passive demonstriert und dem scholastischen Gnadenverständnis der Boden entzogen.

12 Leif Grane hat seine Untersuchung zu dieser Disputation daher nicht umsonst mit „Contra Gabrielem“ betitelt (Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der „Disputatio contra scholasticam theologiam 1517“ [Acta Theologica Danica 4], Kopenhagen 1962). 13 WA 1, 224/13f. 14 WA 1, 225/1f. 15 WA 1, 226/8f.

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2.2 Luthers Auseinandersetzung mit der Mystik Spätestens die Kenntnis Gabriel Biels hat Luther auch mit der Mystik in näheren Kontakt gebracht, denn Biel, als Vertreter der Via moderna und als Bruder vom gemeinsamen Leben zugleich Vertreter der Devotio moderna, kann selbst in bestimmter Hinsicht als Mystiker gelten.16 Viel bedeutender indes ist der Einfluss seines Beichtvaters Johann Staupitz gewesen, in dem man sicher so etwas wie eine Vaterfigur Luthers wird sehen können. Durch ihn ist Luther, der Suchende und Fragende, ganz neu in die Schrift hineingeführt worden. Staupitz hat dem Mönch, der vor allem im Psalmengebet zuhause war, das Neue Testament näher gebracht, und er hat ihm vor allem einen Christus gezeigt, den Luther so vorher noch nicht gekannt haben dürfte, nämlich denjenigen, der sich – wie in der Ikonographie des großen Mystikers Bernhard von Clairveaux eingefangen – vom Kreuz herab dem Betenden zuwendet und ihn in der unio mystica mit Liebe umfängt. Beeinflusst von Staupitz dürfte nicht nur Luther gewesen sein, sondern ein ganzer Kreis von jungen Theologen um Staupitz herum.17 Dabei wird Staupitz dafür gesorgt haben, dass die Mystik insgesamt, vor allem aber der Mystiker Johannes Tauler, diesen Theologen die theologischen Fragen neu aufgeschlossen hat, und das vor allem über zwei Zentralbegriffe: Buße und Demut. Luther schickte Staupitz 1516 Predigten Taulers zu mit der Empfehlung: „Addo tamen et meum consilium: si te delectat puram, solidam, antiquae simillimam theologiam legere in germanica lingua effusam, Sermones Tauleri Iohannis praedicatoriae professionis tibi comparare potes. Cuius totius velut Epitomen Ecce hic tibi mitto. Neque enim ego vel in latina vel nostra lingua theologiam vidi salubriorem et cum Euangelio consonantiorem. Gusta ergo et vide, quam suavis est dominus, ubi prius gustaris et videris, quam amarum est, quicquid nos sumus.“18 Das ist ein neues Gottesbild, das Luther hier mit Tauler zu entdecken begann. Ebenfalls plausibel nachgewiesen ist, dass Luthers Bußverständnis19, wie er es in den 95 Thesen 16 Vgl. dazu die umfassende Untersuchung von Detlef Metz, Gabriel Biel und die Mystik (Contubernium 55), Stuttgart 2001. 17 Vgl. dazu V. Leppin, Martin Luther, vor allem 84f. 18 WA.B 1, Nr. 30, 79/58–64. 19 Dazu summarisch V. Leppin, Martin Luther, 87: „Es bildet sich nun aus diesem Ineinander von Gespräch und Lektüre bei dem jungen Luder auf der Basis einer Konzentration auf Jesus Christus ein neues Bußverständnis im Sinne der Innerlichkeit einerseits und der das ganze Leben begleitenden Dimension andererseits, zwei Elemente, die er der mystischen Tradition entnimmt und die ihn in Spannung zu einem sakramentalen Verständnis von Buße bringen.“ Ausführlich Ders., „Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“

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zugrunde legt, auf Tauler’schen Einfluss zurückzuführen ist. Die sakramentale Engführung der Buße wird hier aufgebrochen und damit ein Gegenüber zur kirchlichen Praxis angedeutet, das dann mit den 95 Thesen und den daran anschließenden Diskussionen entsprechend die Gemüter erregen wird.20 Auch die Aufgabe des eigenen Willens mit gleichzeitiger Betonung des Glaubens ist ein Element, auf das er ansatzweise in der Tauler-Lektüre gestoßen sein dürfte – allerdings wird er später bezüglich der Willensfreiheit zu einer Schärfe vordringen, die weit über Taulers monastisch-mystische Forderung nach der Brechung des Eigenwillens hinausgeht. Jedenfalls war Tauler der Mystiker, der ihm am nächsten gestanden hat und den er durchweg hochschätzte. Er bezeichnete ihn als „doctissimus Doctor“21, als „homo Dei“22. Wieder einmal gegen die Pariser Theologen nannte er ihn als wahres Vorbild: „Inn den predigten Johannis Tauleri, ynn deutscher sprach geschrieben, find ich (spricht Luther) mehr lautter und gegrundter Theologie, denn ynn allenn aller hohen schulen Schullerernn erfunden ist odder erfunden mag werden ynn alle yhren hohen synn schrifften.“23 Überhaupt ist ihm Tauler eine Hilfe bei der Übersetzungsarbeit, und zwar entweder, um den rechten deutschen Ausdruck für etwas zu finden, das bisher nur lateinisch ausgedrückt wurde, oder um eine lateinische Übersetzung eines griechischen Ausdrucks in Frage zu stellen.24 Aus dem gleichen Grund lobte er die „Theologia deutsch“, die er für ein Werk Taulers hielt oder jedenfalls in großer Nähe zu ihm verortete und 1516 herausgab: „Ich danck Gott, das ich yn deutscher zungen meynen gott alßo höre und finde, als ich und sie mit myr alher nit funden haben, Widder in lateynischer, krichscher noch hebreischer zungen. Gott gebe, das dißer puchleyn mehr an tag kumen, ßo werden wyr finden, das die Deutschen Theologen an zweyffell die beßten Theologen seyn, Amen.“25 Und an anderer Stelle 1522: „Ich freue mich ..., daß Deutschlands Schätze ans Licht kommen. ... Wahrhaftig, ich sehe, daß (hier)

20

21 22 23 24 25

– Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in ARG 93, 2002, 7–25. Luther betonte dies selbst bereits in der zweiten These: „Quod verbum de penitentia sacramentali (id est confessionis et satisfactionis, que sacerdotum ministerio celebratur) non potest intelligi.“ (WA 1, 233/12f.). WA 1, 674/34. WA 5, 165/18. WA 8, 289/10–14. Etwa WA 5, 473/34–36: „‚Observare‘ enim in utranque partem accipi potest, sicut Alemanice ‚acht haben‘, vel propriissime, quo Taulerus sepe utitur, ‚warnehmen‘.“ WA 1, 379/8–12.

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eine lautere Theologie war und ist (bisher) bei den Deutschen verborgen.“26 Die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen, die im Freiheitstraktat von 1520 strukturgebend ist, und die Verwendung dieser Begriffe als Bezeichnungen von Relationen ist ebenfalls schon bei Tauler vorgeprägt, wenngleich die stringente Durchführung dieser Unterscheidung und ihre Konsequenzen dann schon weit über den dominikanischen Mystiker hinausgehen. Im Freiheitstraktat diente ein weiterer Mystiker Luther als Quelle: Bernhard von Clairveaux. Bernhard hatte Luther bereits mehrfach als vorbildlichen Mönch genannt27, und wiederum von Staupitz wird Luther auf seine Christusfrömmigkeit aufmerksam gemacht worden sein. So verwies er auf ihn in einer späten Predigt folgendermaßen: „Aber wen Munche haben sollen selig werden, so haben sie mussen wider zum Creutze Christi kriechenn. Also hat auch S. Bernhard gethan, welchen ich fur den aller fromsten Munch halte und allen andern Munchen, auch S. Dominico, furziehen, und er ist auch allein werd, das man ihnen Pater Bernhardus nenne und den man mit vleiss ansehe. Den er steckt in der kappen, aber wie thutt er, da es zum treffen kompt? Ehr heltt seine kappen nicht gegen Gottes gerichte, sondern ergreifft Christum.“28 Wie viel Bernhard in der Kreuzestheologie, wie sie vor allem in der Heidelberger Disputation 1518 entfaltet ist, zugrunde gelegt ist, muss gefragt werden. Unumstritten ist dagegen, dass das berühmte Bild von Braut und Bräutigam, das Luther bereits im der Römerbriefauslegung 1515/1629 und dann wieder im Freiheitstraktat verwendet, um die communicatio idiomatum zu veranschaulichen, Bernhards Hoheliedpredigten entlehnt ist. Die Mystik des Dionysius Areopagita mit ihrer Auffassung, man könne über Gott besser nicht reden, weil er über jedem Menschenwort stehe, wolle man also über ihn reden, dann gehe dies am besten via negationis, war Luther zunächst hilfreich, um gegen die spekulative Theologie der Scholastik zu argumentieren. Endgültig hat er aber diesen Weg dann durch seine Ent26 WA 10/II, 329/22–25. 27 Vgl. als ein Beispiel von vielen WA 16, 399/31–33: „Des woellen wir Sanct Bernhard zum exempel nemen, den ich gern fur andere Muenich anzihe, Denn ist yhe ein fromer Muenich gewesen, so ists Sanct Bernhard gewesen.“ 28 WA 47/109/18–25. 29 Luther gelangte hier mit Hilfe dieses Bildes zu einer Pointierung des Gedankens, dass die seligmachende Gerechtigkeit außerhalb der Seele des Menschen liegt: „Semper petit, Semper desiderat, Semper commendat sponsum. Quo manifeste sese vacuam et pauperem ostendit intra se esse, et extra se esse plenitudinem et Iustitiam suam.“ (WA 56, 279/27– 32).

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deckung der assertorischen Rede überwunden, die einerseits die Unmöglichkeit respektierte, mit dem Menschenwort das göttliche Wort angemessen wiedergeben zu können, andererseits jedoch den Weg eröffnete, zum so nötigen Bekenntnis- und Verkündigungswort zu kommen. Diese assertorische Rede wiederum hat ihren Grund in der Tatsache, dass aus dem Deus absconditus in Jesus Christus der Deus revelatus geworden ist – ein Gedanke, der in der bisherigen Tradition der Rede von Deus absconditus nicht so radikal gedacht worden ist wie bei Luther.30 Mit einem unvergleichlichen Neuansatz erledigte Luther schließlich die areopagitische, aber auch jede andere Art des mystischen Zugangs. In der Psalmenvorlesung 1521/22 warnte er: „Senserunt autem contraria negativae theologiae, hoc est nec mortem nec infernum dilexerunt, ideo impossibile fuit, ut non fallerent tam seipsos quam suos lectores. Haec admonendi gratia velim, quod passim circumferuntur tum ex Italia tum Germania Commentaria Dionysii super Theologiam mysticam, hoc est mera irritabula inflaturae et ostentaturae seipsam scientiae, ne quis se Theologum mysticum credat, si haec legerit, intellexerit, docuerit seu potius intelligere et docere sibi visus fuerit. Vivendo, immo moriendo et damnando fit theologus, non intelligendo, legendo aut speculando.“31 Hier wird unvergleichlich deutlich, wie nur mitten im Leben und nur mitten in der Anfechtung und im Zweifel Gotteserkenntnis möglich ist. Gerade also nicht in dem Augenblick, in dem der Mensch sich selbst entrückt wird, begegnet ihm Gott, erfährt er Gott, sondern dort, wo Gottes Heilswort ihn mitten in seiner gebrochenen Existenz als Angefochtener, als Zweifelnder, als Sünder trifft. 2.3 Luthers Auseinandersetzung mit dem Humanismus Auch mit dem Humanismus ist Luther bereits in seiner Erfurter Studienzeit in Berührung gekommen. Insbesondere Mutianus Rufus, der 1515 in den Dunkelmännerbriefen hervortrat und damit zum bedeutendsten Humanistenkreis um Johannes Reuchlin zu zählen war, sammelte etliche Gleichgesinnte um sich und dürfte viel dazu beigetragen haben, dass Erfurt ein Zentrum humanistischer Interessen und Studien wurde. Als Luther 1508 nach Wittenberg wechselte, um dort als Dozent in den artes liberales zu wirken, kam er an eine junge Universität, die der Landes30 V. Leppin (Martin Luther, 254f.; ausführlich in seinem Beitrag „Deus absconditus und Deus revelatus“, hier besonders 65–67) macht darauf aufmerksam, dass diese neue Rede vom Deus absconditus auf Staupitz zurückgeht. 31 WA 5, 163/22–29.

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fürst Kurfürst Friedrich der Weise 1502 bewusst in humanistischem Sinne gründete. Obwohl Luther, wie gezeigt wurde, erst mit der Übernahme der theologischen Dozentur 1512 vorsichtig Kritik an der scholastischphilosophischen Methode zu üben begann bzw. sie ihm langsam als angemessene Weise des Umgangs mit der Schrift fraglich wurde, dürfte er doch auch schon in dieser Zeit von dem neuen Geist, der dort wehte, nicht unberührt geblieben sein. Luther lernte hier zunächst vor allem einen neuen Zugang zur Schrift kennen, der sich langsam von den Interpretationen der Kirchenväter und den dogmatischen Vorgaben der Sentenzen zu emanzipieren begann und sich dazu zunächst den Texten in ihren Ursprachen näherte, die über Jahrhunderte im Gebrauch stehende lateinische Übersetzung des Hieronymus, die Vulgata, beiseite legend. Die Kenntnis des Hebräischen und des Griechischen schloss ihm ein neues, ursprüngliches Verständnis bestimmter Begriffe und Zusammenhänge auf, so wiederum die Bedeutung der Buße als innerer Umkehr und nicht vordergründig als sakramentales Beichtgeschehen. Schon Luthers Römerbriefvorlesung 1516 lebte von dem gerade erschienenen Griechischen Neuen Testament, das Erasmus von Rotterdam publiziert hatte, und Luther hat auch die methodischen Anleitungen zur Auslegung, den Methodus, gekannt, den Erasmus später unter dem Titel „Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam“ separat herausgegeben hatte. Von daher erklärt sich auch eine gewisse Hochschätzung des niederländischen Humanisten. Im Oktober 1516 nannte er ihn einen „hom[o] eruditissim[us]“32 und in einem Brief an ihn von 1519 überschüttet er ihn mit Lobesfloskeln.33 Schon früh ist allerdings auch eine Skepsis spürbar, wenn er schreibt: „Erasmum nostrum lego, et indies decrescit mihi animus erga eum“, und dies folgendermaßen begründet: „timeo, ne Christum et gratiam Dei non satis promoveat“.34 Diese Skepsis war es, die sich durchhielt und sich vollends bestätigte, als es 1524/25 zum Disput über die Frage des menschlichen Willensvermögens kam. Einer der wichtigsten theologischen Texte Luthers, seine Antwort an Erasmus, die Schrift „De servo arbitrio“, erkannte einerseits an, dass Erasmus im Gegensatz zu vielen anderen endlich den Kern der theologischen Auseinandersetzung getroffen hatte, dass ihm aber andererseits genau das fehlte, was Luther schon 1517 festgestellt hatte: Christus und das über die Christologie zu definierende 32 WA.B 1, Nr. 27, 70/4. 33 WA.B 1, Nr. 163, 361/2–363/48. 34 WA.B 1, Nr. 35, 90/15–18.

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Gnadenverständnis. Hatte Luther noch im November 1520 gehofft, „Erasmus und [er], will’s Gott, wollen wohl eins bleiben“35, und bekannt, er und Melanchthon würden wohl darüber diskutieren, „wie nah oder weit Erasmus von dem Weg sei“36, so war nach 1525 die Sache entschieden. Luther sah zwischen sich und Erasmus das Tischtuch zerschnitten, weil der Humanist nicht nachvollziehen konnte, dass dem Menschen im Heilsgeschehen keinerlei, wirklich keinerlei Mitwirkung zugesprochen werden konnte und das Attribut des „liberum arbitrium“ allein Gott zukomme. Wiederum dem Humanismus verdankte Luther dagegen eine intimere Kenntnis der Kirchenväter, die er nunmehr nicht allein in den Ausschnitten in den Sentenzen und in anderen Werken scholastischer Theologen las, sondern deren Werke er im Zusammenhang im Original zur Kenntnis nahm. Das gilt vor allem auch für den Kirchenvater, der ihm als Ordenspatron am nächsten stand: Augustin. Insbesondere der Augustin der antipelagianischen Schriften begegnete ihm neu und weckte bei dem jungen Luther ein neues Verständnis der Kraft und Macht der Erbsünde, die den ganzen Menschen bestimmt und auch seine vornehmsten Kräfte niemals zum Zuge kommen lässt. 1517 schrieb Luther in einem Brief an Johannes Lang, Augustin und die Schriftlektüre selbst beginne in Wittenberg nach und nach Aristoteles und die Sentenzen zu verdrängen – ein Umstand, den er augenscheinlich sehr begrüßte und an dem er sich eine „Mitschuld“ zurechnete.37 Damit dürfte nicht nur das formale Ergebnis gemeint sein, sondern auch ein inhaltliches. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass ein Großteil seiner frühen Mitstreiter aus humanistischen Kreisen stammte, allen voran Philipp Melanchthon, sein enger Vertrauter und nach 1521 so etwas wie das öffentliche Sprachrohr der Reformation. Gegenseitige Befruchtungen sind bei einem so engen Kontakt selbstverständlich, insbesondere dürfte Luther einen Großteil seiner Kenntnisse der antiken Literatur und natürlich vor allem der antiken Sprachen seinem besonderen Verhältnis zu Melanchthon zu verdanken haben. Die erwähnte Debatte, die beide über Erasmus führten, zeigt aber, dass spätestens mit dem Disput über das menschliche Willensvermögen 35 WA.B 2, Nr. 353, 217/18f. 36 WA.B 2, Nr. 353, 217/20f. 37 Vgl. WA.B 9, Nr. 41, 99/8–13: „Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant innostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad ruinam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve alium ecclesiasticae autoritatis doctorem velit profiteri.“

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Luther ein gespaltenes Verhältnis zum Humanismus und insbesondere zu seinem Menschenbild gehabt hat – ein Umstand, der Luther und Melanchthon zwar nicht gerade entfremdete, jedoch für die spätere Entwicklung des Luthertums, vor allem die Auseinandersetzungen zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern, bedeutende Folgen hatte. 3.

Das gewordene Eigene – Ein diskutables Ergebnis

Dieser denkbar knappe Überblick über einige Traditionen, die Luther kennengelernt, in denen er sich bewegt und die er schließlich in der ein oder anderen Weise transformiert oder aber auch abgebrochen hat, zeigt, dass Luther – wie auch nicht anders zu erwarten – einen großen Teil seines Gedankenguts nicht selbst erfunden, sondern zumindest Bruchteile davon bereits vorgefunden hat. Mehr als alles andere schält sich die Mystik in der Vermittlung durch Staupitz dabei als die Bewegung heraus, die Luther am nachhaltigsten beeinflusst hat und der er – mit bedeutenden Änderungen – in manchen Punkten treu geblieben ist. Leppin fasst treffend zusammen: „Was ihn prägte, war ein Ineinander von Staupitz, Mystik, Augustin und Paulus. All diese Einflüsse, die sich nach und nach in seiner Entwicklung verifizieren lassen und die begleitet werden von einer Auseinandersetzung mit der scholastischen Theologie in der Fassung, wie er sie kennengelernt hat, stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Sie sind auch letztlich nicht klar hierarchisiert, sondern sie bilden zusammen den Stoff, aus dem Luder seine eigenen Überzeugungen gewinnt und nun forciert kritisch gegen hergebrachte Auffassungen an die – universitätsinterne – Öffentlichkeit bringt.“38 Diese Zusammenfassung für den jungen Luther ließe sich mutatis mutandis auch für Luthers weitere Entwicklung fortführen: Seine Überzeugung der Notwendigkeit des verbum externum gewinnt er in der Abgrenzung zu den Schwärmern; seine Betonung der Kindertaufe in der mit den Täufern; die Realpräsenz wird ihm im Streit mit Zwingli zu einem unaufgebbaren Element; die Gesetzespredigt gewinnt Kontur in der Zurechtweisung der Antinomer – und so weiter und so fort. Es ist eine Stärke der Theologie Luthers, dass sie auf konkrete Fragen und Probleme konkrete Antworten gibt, die darum notwendig scharf sind, weil sie eindeutig und unverwechselbar daherkommen wollen. Nur so kann Theologie das leisten, was sie leisten soll: die Schrift als Zeugnis des göttlichen Wortes angemessen zur Sprache bringen, um sie für die Menschen als tröstliches, befreiendes 38 Martin Luther, 100.

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und gewiss machendes Wort erfahrbar werden zur lassen. Was Luther in dem Kern der Nuss finden wollte, war eine Theologie, die, aufgespannt zwischen Schriftzeugnis und Seelsorge, dem Menschen in seinen existenziellen Spannungen helfen konnte, diese Spannungen auszuhalten und zu gestalten. Dafür reichten die theologischen Zugänge, die Luther kennengelernt hatte, nicht mehr aus. Sie alle trauten dem Menschen und seinen natürlichen und im Gnadenakt der Taufe wieder freigelegten Kräften zu, am Heil in irgendeiner Form – vorbereitend, begleitend, vervollkommnend – mitzuwirken. Demgegenüber entwickelte Luther ein namentlich an der Schrift und an Augustin neu geschultes Menschenbild, dass diese Mitwirkung radikal ausschloss. Wird auf der einen Seite der Mensch in seinem Sündersein ernstgenommen und auf der anderen Seite Gott als treuer und barmherziger in Menschwerdung und Kreuzestod seines Sohnes, dann bleibt für ein Mittun des Menschen keinerlei Raum. Diese Einsicht in das Sosein Gottes, das Sosein des Menschen und das Sosein der Beziehung von Schöpfer und Geschöpf ist es, die Luther dauerhaft von der Tradition trennte und die auch die bleibende Bedeutung des Reformatorischen ausmacht. Dass er auf dem Weg dahin von diesen Traditionen lebte und mit ihnen rang, steht nicht im Widerspruch dazu, dass er mit dieser Einsicht selbst Staupitz und Augustin gegenüber in der Theologie radikal Neues gesetzt hat. Abstract As research has increasingly identified in recent years, Luther did not develop his theological beliefs "ex nihilo". Rather, he built on various traditions. Through his confessor Staupitz he became acquainted with the mysticism of Johannes Tauler which stimulated his new understanding of the confession beyond the purely sacramental use. The encounter with humanism facilitated his understanding of the Bible as encompassing the comforting and quickening power of the Word of God already in its literal and not only its allegorical interpretation. Gradually a skeptical attitude towards the scholastic method developed. Especially through the intensive study of the antiPelagian Augustine Luther discovered the radical nature of sin, which corresponds with a radicality of grace, and a different conception of human kind. This finally provoked the break with all these traditions at a central point and the originality of Luther’s theology.

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Gespräch zwischen Disziplinen

Zur sprach- und literaturgeschichtlichen Bedeutung Luthers Luthers Zuwendung zum Deutschen als Sprache von Theologie und Frömmigkeit Ute Mennecke Martin Luthers sprach- und literaturgeschichtliche Bedeutung wurzelt grundlegend in seiner Zuwendung zum Deutschen als Sprache von Theologie und Frömmigkeit. Im Mittelalter war die Sprache der Theologie wie aller Wissenschaft und Bildung das Lateinische. Luther, der Universitätstheologe, maß doch zugleich in seiner theologischen Arbeit der deutschen Sprache eine solche Bedeutung bei und gewährte ihr einen Raum, wie schlichtweg kein Theologe vor ihm und wie lange Zeit keiner nach ihm. Für die Zeit vor ihm kann man allenfalls an Meister Eckhart denken, der auf der einen Seite scholastische Schriften im gelehrten Universitätslatein abfasste, andererseits im Rahmen seiner Wahrnehmung der cura monialium auch ein ganzes Corpus deutscher Predigten und auch eine deutsche Consolatio, das „Buch der göttlichen Tröstung“, verfasste.1 Allerdings gab es auch vor der Reformation, beginnend mit dem 14. Jh. und zunehmend seit dem 15.Jh., religiöse Literatur in der Volkssprache, um die Bedürfnisse der Laien nach religiöser Lektüre zu Anleitung und Erbauung zu befriedigen. Bei dieser Literatur, Gebet- und Erbauungsbüchern, Literatur zur Sterbevorbereitung, Beichtanleitungen, usw.2 handelt es sich überwiegend um Übersetzungsliteratur aus dem Lateinischen. Von dieser meist von Klerikern verfassten Literatur zu unterscheiden ist die volks1 2

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Vgl. Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe – Prediger – Mystiker, München 1985, bes. 95–114. Vgl. Johann Janota, Art, Spätmittelalter, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3, 460–464 mit Literaturangaben.

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DOI 10.2364/3846999752

sprachliche Literatur, die die Mystik hervorgebracht hat. Sie ist im Kern keine Übersetzungsliteratur, sondern wurde einerseits von den (des Lateins meist unkundigen) Nonnen selbst verfasst, die ihre mystischen Erlebnisse und Erfahrungen zum Ausdruck bringen wollten, und andererseits von lateinisch gebildeten Theologen, denen diese Frauen seelsorgerlich anvertraut waren. Die deutschsprachige Mystik ist gegenüber der lateinischen Theologie ausgesprochen sprachschöpferisch. Allerdings hat sie die Trennung zwischen der Sphäre der frommen Laien und der akademischen Theologie nicht durchbrochen. Luther knüpft zweifelsohne an die spätmittelalterliche Frömmigkeitstheologie an, wenn er in den ersten Jahren seiner öffentlichen Wirksamkeit für die Diskussion theologischer Fragen unter Gelehrten weiterhin das Lateinische benutzt und für die Behandlung seelsorgerlicher Themen v.a. in seinen Sermonen zur deutschen Sprache greift.3 Aber er bringt doch einen neuen Impuls mit. Seine erste eigene Veröffentlichung, eine Übersetzung und Auslegung der Sieben Bußpsalmen im Frühjahr 1517 (WA 1, 158-220), war in deutscher Sprache abgefasst, aber sie vertritt doch einen ganz anderen Schrifttyp als die bisher üblichen Schriften für Laien. Luther legt eine Bibelübersetzung vor und benutzt dafür die beste damals verfügbare philologische Grundlage, die hebräische Septene Johannes Reuchlins. Er verfolgt mit diesem Werk mithin gewissermaßen auch einen wissenschaftlich-exegetischen Anspruch. Wie ungewöhnlich sein Vorhaben gewesen sein muss, zeigt sein Vorwort, in dem er von seiner Vermessenheit spricht, die Psalmen auszulegen, „sunderlich yns deutsche“ (158, 15f.). Auch dezidiert Luther seine Schrift „Allen lieben glidmaßen Christi die diß puchleyn lesen“, also nicht lediglich den frommen Laien. Dieser Vorgang ist so bedeutungsvoll, dass er hier noch etwas ausführlicher dargestellt werden soll. Für Luthers Zuwendung zum Deutschen bildet in Sonderheit die spätmittelalterliche deutsche Mystik den Anknüpfungspunkt: sein Bekanntwerden mit Taulers Predigten, die er auch mit in den akademischen Unterricht einbezog, und dem Büchlein „Der Franckforter“ im Frühjahr 1516. Der Freund Johannes Lang hatte seinem Ordensbruder Luther seine Ausgabe der Deutschen Predigten Taulers (Augsburger Druck 1508), die er selbst von einer Wittenberger Bürgerin Ursula Schreiber geschenkt bekommen hatte, überlassen. Luthers Randbemerkungen in dem Taulerdruck, entstanden

3

Vgl. Johannes Schilling, Erbauungsschriften, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2010, 295–305.

Ute Mennecke, Zur sprach- und literaturgeschichtlichen Bedeutung Luthers

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wohl vor dem 29. Mai 1516, sind erhalten.4 Etwa zeitgleich kam Luther auch an eine unvollständige Handschrift des sog. Frankforters, eines mystischen Texts des 14. Jhs aus dem Umkreis der dominikanischen Mystik,5 den er 1516 unter dem Titel „Ein geistlich edles Buchlein. Von rechter underscheyd und vorstand. Was der alt vn new mensche sey. Was Adams und was Gottis kind sey. Vnd wie Adam in uns sterben vnnd Christus ersteen sall“, veröffentlichte. Gegenüber Spalatin empfahl Luther auf dessen Anfrage hin, welche Texte er ihm für eine Veröffentlichung in deutscher Übersetzung empfehle, diesen „geistlich edlen“ Text mit den Worten: „Wenn es dir gefällt, eine reine, solide, der alten höchst ähnliche, in deutscher Sprache herausgegebene Theologie zu lesen, dann kannst du dir die Predigten des Johannes Tauler vom Predigerorden anschaffen. Eine Art Kurzfassung des Ganzen schicke ich dir hiermit. Ich kenne nämlich keine Theologie, weder in Latein noch in Deutsch, die heilsamer wäre und mit dem Evangelium mehr übereinstimmt. Schmecke also und sieh, wie süß der Herr ist, wenn du vorher schmeckst und siehst, wie bitter das ist, was immer wir sind.“6

In seiner kurzen Vorrede zu dem Druck hatte Luther die Leser gewarnt, sich nicht durch die ungewöhnliche Sprachgestalt des Werks den Sinn für dessen bedeutenden, „gründlichen“, d.h. auf den Grund gehenden, wesentlichen Inhalt verstellen zu lassen. „Ja es schwebt nit oben, wie schaum auf dem wasser, Sunder es ist auß dem Grund des Jordans von einem warhafftigen Israeliten erleßen“ (WA 1,153). Zwar sei das Deutsch des Texts eigentlich keine Theologensprache („untüchtig“ = untauglich, unvermögend, ungeeignet), aber darin sieht er das neutestamentliche Zeugnis bestätigt (1. Kor 1,23), dass die Wahrheit der Heiligen Schrift der Weltweisheit widerstreite und deshalb auch eine andere Ausdrucksform als diese finden müsse. Eineinhalb Jahre später, bei seiner zweiten vollständigen Edition des Werks (4. Juni 1518), hat Luther die apologetische Haltung abgelegt und stellt nunmehr mit Festigkeit die Relevanz des Buches fest, das jetzt „Eyn deutsch Theologia, das ist/ Eyn edles Buchleyn“ betitelt ist. Den alten Vorwurf, „wir seien deutsche Theologen“, will er sich nun gern gefallen lassen, denn die deutschen Theologen seien ohne Zweifel die besten, und:

4 5 6

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WA 9,97–104. Vg. Ute Mennecke, Theologia deutsch. In: Dictionnaire de Spiritualité, 15, Sp. 459–463. Brief v. 14. Dez. 1516, WA 1, Nr. 30.

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„Ich danck Gott, dass ich yn deutscher zungen meynen gott also höre und finde, als ich und sie mit mir alher nit funden haben, weder in lateinischer, krichscher noch hebreischer zungen.“7

In diesen Ausführungen ist „deutsch“ zu weit mehr geworden als zu einer Bezeichnung der Sprache, nämlich zu einer Bezeichnung der theologischen Eigenart, des modus loquendi theologicus8, den auszeichnet, von menschlicher Weisheit und Wohlredenheit zu göttlicher Kraft und Weisheit durchzudringen. Luther „findet seinen Gott“ in deutscher Sprache in einer Weise, wie er ihn bisher in den traditionellen Sprachen der Theologie nicht gefunden habe. Seine eigene Zuwendung als Theologe zum Deutschen erscheint vor diesem Hintergrund also noch in einem andern Licht als dem der Erschließung des Lesepublikums der Laien. Eine zweifache Konsequenz ist festzuhalten: Im Rahmen seiner reformatorischen Neuorientierung wird zum einen für Luther die Trennungslinie zwischen Klerus und Laien theologisch hinfällig. Jeder getaufte gläubige Christ ist insofern ein Theologe, als er die Bibel selber lesen, richtige von falschen Glaubenslehren unterscheiden und wichtige Glaubensaussagen selbst vertreten können soll. Zahlreiche grundlegende Schriften, darunter auch die meisten der sog. „reformatorischen Hauptschriften“, erscheinen in deutscher Sprache (Sermon von den guten Werken, An den Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, Von der Freiheit eines Christenmenschen [deutsch und lateinisch], von dem Papsttum zu Rom usw.), aber auch spätere grundlegende Schriften (Von den Konziliis und Kirchen, Wider Hans Worst, Schmalkaldische Artikel, usw.). So wird das Deutsche auch die Sprache der Theologie. Zum andern ist die Verwendung des Deutschen auch Ausdruck der antischolastischen Wende in Luthers neuem Verständnis der Theologie als einer praktischen, erfahrungsbezogenen Disziplin. Ihre Aufgabe besteht weniger in begrifflichem Zergliedern und logisch-dialektischem Begründen, sondern ist eine wesentlich exegetische.9 Luther betreibt Exegese in einem SichVersenken in den Bibeltext und gedanklich-sprachlichen Umkreisen biblischer Aussagen, solange bis er Gehalt und Aussage einer Stelle präzis und bildhaft formulierend erfasst. Dieses exegetische Verfahren lässt der sprachlichen Entfaltung großen Raum, ja lebt geradezu von ihr. 7 8 9

WA 1, 378f. Vgl. Leif Grane, Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518) (AThD 12), Leiden 1975. Vgl. Albrecht Beutel, Theologie als Schriftauslegung, in: Ders., Luther Handbuch, Tübingen 2005, 444ff.

Ute Mennecke, Zur sprach- und literaturgeschichtlichen Bedeutung Luthers

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1.

Das Deutsche als Sprache evangelischer Theologie und Frömmigkeit

Luther hat in der Folge die Sprache evangelischer Frömmigkeit und Theologie weithin erst geschaffen. Dies ist nicht so zu verstehen, dass er vor allem Neologismen geprägt hätte, sondern in dem Sinne, dass er ein vorhandenes Vokabular aus verschiedenen Verwendungsbereichen und praktischen Kontexten zu einer konsistenten religiösen Sprache formte. Luthers Bedeutung in dieser Hinsicht ist noch erstaunlich wenig erforscht,10 weil in den letzten Jahrzehnten sprachgeschichtliche Studien hinter sozialgeschichtlichen zurückstanden. Erschwerend kommt für die Erforschung von Luthers Deutsch die verzögerte Forschungslage bezüglich des Frühneuhochdeutschen hinzu.11 Dieses bildet aber den „Referenzrahmen“, den man kennen muss, um erfragen zu können, wie durch Luther einzelne Wörter entweder überhaupt erst in den religiösen Sprachschatz überführt oder aber mit evangelischem Geist gefüllt werden. Luther konnte dabei ohne Zweifel an das Sprachgut der deutschen Mystik anknüpfen, wobei deren Beitrag zu Luthers Sprache noch nicht genauer untersucht ist.12 Einen wichtigen Anknüpfungspunkt stellt die starke Bezogenheit auf religiöse Erfahrung mit den beiden Polen Anfechtung und Trost dar. Deutlich identifizierbar ist das Sprachgut der Mystik beispielsweise in der erläuternden Verdeutschung der Sieben Bußpsalmen: Gelassenheit, sich lassen usw. Ein Zentralwort evangelischer Frömmigkeit, das ein ganzes

10 Vgl. Johannes Erben, Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache, in: Friedrich Maurer/Heinz Rupp (Hg.), Deutsche Wortgeschichte I.3, neubearb. Aufl. Berlin/New York 1974, 509–581. – Ders., Luthers Bibelübersetzung, in: Knut Schäferdiek (Hg.), Martin Luther im Spiegel heutiger Wissenschaft, Bonn 1985, (Studium Universale 4), 33–50. Neuere Arbeiten zu Luthers Sprache sind eher linguistisch ausgerichtet: Söhnke Hahn, Luthers Übersetzungsweise im Septembertestament von 1522, Hamburg 1973 (Hamburger philologische Studien 29). – Sebastian Seyferth, Sprachliche Varianzen in Martin Luthers Bibelübertragung von 1522–1545. Eine lexikalisch-syntaktische Untersuchung des Römerbriefs (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel 4), Stuttgart 2003. 11 Das seit 2013 an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen installierte Frühneuhochdeutsche Wörterbuch, 1977 von Otto Reichmann u.a. gegründet, sollte drei Bände umfassen und innerhalb von 15 Jahren fertiggestellt sein. Inzwischen ist es auf 13 Bände konzipiert und soll 2027 abgeschlossen werden. Die Bd. 1–4, 6, 9.1 liegen vor, von Bd. 5, 7, 8 und 11 einzelne Lieferungen. 12 Zu Luthers theologischer Mystik-Rezeption vgl. Karl-Heinz zur Mühlen, Nos Extra nos. Luthers Theologie Zwischen Mystik und Scholastik (BHTh 46), Tübingen 1972: Luther habe die mystische Sprachlichkeit als vorübergehende Hilfe zum Ausdrücken reformatorischer Theologie aufgenommen.

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Wortfeld neu prägt, gehört allerdings gerade nicht zum mystischen Wortschatz: Glaube.13 Eine erste theologische Sprachlehre in deutscher Sprache liefert er in seiner Vorrede zum Römerbrief aus dem Septembertestament (1522).14 Hier finden sich Luthers berühmte Formulierungen dessen, was der Glaube sei: „Glaube ist eyn gotlich werck ynn uns, das uns wandelt und new gepirt aus Gott“ (WADB 7,10,6f.). 2.

Die deutsche Bibelübersetzung

Die Wittenberger Bibelübersetzung ist dasjenige Werk, in dem Luthers Umorientierung im Zeichen des Priestertums aller Gläubigen am deutlichsten ihren Ausdruck fand. Pläne, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen, sind im Wittenberger Umkreis zum ersten Mal 1520 bezeugt.15 Wenn Luther laut Vorrede zum Septembertestament durch seine Übersetzung den „einfältigen Mann“ aus seinem alten Wahn auf die rechte Bahn führen will (WADB 6, 2, 8–10), so benutzt er zwar den Topos des „interessierten frommen Laien“, aber seine Intention geht doch gerade bei der Bibelübersetzung weit darüber hinaus, eine bestimmte Zielgruppe ansprechen zu wollen.16 Während der Wartburgzeit hatte Luther, wie er in einer Tischrede mitteilt, Anfang Dezember 1521 (bei einem Kurzaufenthalt in Wittenberg) ein Gespräch mit Melanchthon, der ihn darauf hinwies, dass die bestehenden Übersetzungen des NT schlecht seien und dass insbesondere im Hinblick auf den ganz verdunkelten Paulus die Arbeit der Übersetzung nötig sei. Das Geschäft des Übersetzens wird von Anfang an gleichzeitig auch als die Aufgabe theologischer Reinigung aufgefasst. Luthers Bibelübersetzung als an den frommen Laien gerichtet zu verstehen, hieße, zu verkennen, dass er mit der deutschen Sprache z. e. die Gesamtheit der Christen ansprechen wollte17 und dass es ihm z. a. darum ging, mit der Übersetzung zugleich den evangelischen Gehalt des NT aus dem griechischen Urtext in die deutsche Sprache gewissermaßen „hinüberzuholen“. 13 Vgl. Berndt Hamm, Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens? in: Ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 65–89. 14 WADB 7,2ff. Vgl. Jörg Armbruster, Vorreden Luthers auf die Bibel, in: Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 734–739. 15 Heinz Blanke, Bibelübersetzung, in: A. Beutel, 259–265. 16 Ebd. 17 Vgl. Thomas Kaufmann, Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium, in: ZThK 101, 2004, 138–174.

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3.

Luther als Übersetzer der deutschen Bibel

Im Blick auf die bereits vor Luther geschaffenen deutschen Bibeln – 14 hoch- und vier niederdeutsche Gesamtausgaben – sieht man inzwischen deutlicher, dass Luthers Übersetzungsleistung, was die sprachliche Beherrschung des Deutschen betrifft, nicht völlig einzigartig dasteht. Es gab durchaus Texte, die „die Bibel und biblische Stoffe in der Volkssprache angemessen überlieferten. Es sind dies die Historienbibeln und Weltchroniken, Armenbibeln und Heilsspiegel, Reimbibeln und Legenden“.18 Die sprachliche Unbeholfenheit der meisten vorlutherischen deutschen Bibeln rührt daher, dass diese im Allgemeinen gar nicht einen Text bieten wollten, der den lateinischen Urtext ersetzt hätte. Sie ahmen den Buchstaben und den Satzbau des Lateinischen absichtlich nach, um den Geist der Heiligen Sprache zu bewahren. Auch Hieronymus hatte die Syntax des hebräischen als inspiriert angesehen. Praktisch könnten diese Bibeln als „Lern- und Lesehilfe bei Welt- und Ordensgeistlichen, Stiftsdamen und Klosterschülern“ verwendet worden sein, die nicht genug Latein konnten, um sich den VulgataText ohne Übersetzungshilfe anzueignen. Luthers Anliegen ist es demgegenüber, einen autarken deutschen Bibeltext zu schaffen und damit die deutsche Sprache unter die linguae sacrae aufzunehmen.19 Neu an Luthers Übersetzungsweise ist zweierlei. In sprachlicher Hinsicht ist es die konsequente Orientierung an der Zielsprache statt an der Ausgangssprache. In theologischer Hinsicht ist es die Entschiedenheit und Konsequenz, mit der er „aus der Sinnmitte der Schrift heraus“, dem Glauben an Jesus Christus,20 theologisch übersetzt. So urteilt auch Georg Steer: „Völlig neu hingegen ist innerhalb der Geschichte der deutschen Bibelübersetzung Luthers theologisch akzentuierende, aus dem Gesamtverständnis der Bibel interpretierende Übersetzungsweise.“21 Er charakterisiert sie als „textsynoptisch, bibelsynoptisch, exegetisch und somit nicht wörtlich“.22 Luthers Verständnis der Schrift, dass es nur ein Evangelium gibt, 18 Heimo Reinitzer, Wort und Bild. Zu Übersetzungsprinzipien und Illustrationsweisen der Luther-Bibel (Septembertestament), in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Martin Luther (Text und Kritik, Sonderband), München 1983, 62. – Vgl. ders., Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel 1983. 19 H. Reinitzer, Wort und Bild, 63. 20 A.a.O., 65. 21 Georg Steer, Intentionen der Bibelübersetzung im deutschen Spätmittelalter bei Martin Luther und den Katholiken des 16. Jahrhunderts. Ein Exposé, in: H. L. Arnold, Martin Luther, 59–61, hier: 60. 22 Ebd.

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musste ihn zu der Überzeugung bringen, eine Übersetzung des NT, ja schließlich der ganzen Bibel, aus einem Guss sei erforderlich, um eben auch sprachlich durch bestimmte Techniken der Übersetzung dieses eine Evangelium erkennbar zu machen. Von daher ist es nachvollziehbar, dass er bereits vorliegende Übersetzungsversuche für ungenügend erklärte, weil sie jeweils nur Teile der Bibel enthielten.23 Luther verteidigte seine Übersetzungsweise 1530 gegenüber altgläubigen Angriffen im Sendbrief vom Dolmetschen (WA 30,2,632-646) und charakterisierte diese hier als ein „dem Volk aufs Maul schauen“. Gemeint war damit seine Absicht, eine autarke Übersetzung in der Zielsprache zu schaffen, die sich um eines idiomatisch richtigen Deutsch willen von der Wort-für-WortWiedergabe dispensiert sieht. Luthers Übersetzungsgrundsatz ist, besonders in der Revision von 1975, als Wahl der Umgangs- oder Alltagssprache missverstanden worden. Vielmehr hatte Luther, wie besonders die schwedische Germanistin Birgit Stolt herausgearbeitet hat,24 bei seiner Bibelübersetzung von Anfang an auch die gottesdienstliche Verwendung im Blick. Dies machte es einerseits nötig, Texte zu schaffen, die gut lesbar und im Hören gut verstehbar sind.25 Mit Hilfe der Virgel (/) ließ sich ein Satz in kürzere Sinneinheiten gliedern als durch die neuhochdeutsche Kommasetzung. Das lässt sich beispielsweise am Beginn der Weihnachtsgeschichte (nach der Fassung von 1545) zeigen: „Da machte sich auff auch Joseph/ aus Galilea/ aus der stad Nazareth/ in das Jüdische land/ zur stad David/ die da heisset Bethlehem/ Darumb das er von dem hause und Geschlechte Davids war“.26 Zum andern kommt hinzu, dass Luther durch sprachliche Mittel wie Satzrhythmus und eine bestimmt lautliche „Tönung“ des Textes (in diesem Falldurch den a-Vokal) auch sangbare Texte schafft, die akustisch gut tragen. „Luther hat seine Bibeltexte so formuliert, dass sie sich gut singen und gut vertonen lassen. In seiner ‚Deutschen Messe‘ von 1526 gibt Luther seiten-

23 H. Reinitzer, Wort und Bild, 63f. 24 Vgl. Birgit Stolt, Neue Aspekte der sprachwissenschaftlichen Luther-Forschung, in: H. L. Arnold, Martin Luther, 6–16, S.16 bibliographische Hinweise auf weitere wichtige Lutherarbeiten Stolts. 25 Vgl. dies., Martin Luthers rhetorische Syntax. In: Gert Ueding/Walter Jens (Hg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften, Tübingen 1991. 26 Vgl. Werner Besch, Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung, Berlin 2014, 52.

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weise ausführliche Notenbeispiele dafür, wie die Psalmen, Evangelien und Episteln gesungen werden sollen[…]“27 Nicht zuletzt erfordert die gottesdienstliche Verwendung und der „göttliche“ Gegenstand der Texte aber auch eine gewisse Feierlichkeit. „Luther hat eine Sakralsprache bewusst angestrebt, und das sonn- und feiertägliche Klima war an vielen Stellen von Anfang an beabsichtigt.“28 Mittel einer solchen „sakralsprachlichen Stilisierung“ ist z.B. die Beibehaltung von Biblizismen, die dem Bibeltext auch die Aura ehrwürdigen Alters geben und einen Abstand zur Umgangssprache schaffen: die Einleitungsformel „es begab sich“, das häufige „aber“ an zweiter oder dritter Stelle im Text (Maria aber), „siehe“, das reihende „und“, usw. Ehrfurcht, Andacht und geschärfte Aufmerksamkeit sollen mit Hilfe dieser Sprache geweckt werden.29 Zu dieser Übersetzungsweise gehört auch, dass Luther, wo er es für richtig befand, Spracheigentümlichkeiten der hebräischen Ausgangssprache bewahrte, etwa bei der Übersetzung von Ps 68,19: „Du bist in die Höhe gefahren und hast das Gefängnis gefangen“. Wir müssten „der hebräischen Sprache Raum lassen, wo sie es besser macht als unsere deutsche tun kann.“30 Die von Luther zur Erläuterung seiner Übersetzungsweise im Sendbrief verwendeten Beispiele machen aber auch auf ein weiteres wichtiges Prinzip seines Übersetzens aufmerksam: das Wecken des affektiven Gehalts der biblischen Aussage. Luther will in Lk 1,28 den Engelsgruß an Maria, das „Ave [Maria] gratia plena“ nicht mit „vol gnaden“ übersetzen, sondern als „du holdselige Maria, du liebe Maria“, denn: „Wer Deutsch kan, der weis wol, welch ein hertzlich fein wort das ist: die liebe Maria, der lieb Gott[…] und ich weis nicht, ob man das wort ‚liebe‘ auch so hertzlich und gnugsam in Lateinischer oder andern sprachen reden müg, das also dringe und klinge ynns hertz, durch alle sinne, wie es thut un vnser sprache“(WA 30,2,638, 13-639, 3). Die deutsche Sprache konnte für Luther deswegen zur echten lingua sacra werden, weil sie „ynns hertz“ dringt. Luther entdeckte insbesondere die emotive Qualität der deutschen Sprache und fand in ihr das geeignete sprachliche Gefäß für die Evangeliumsbotschaft, weil Gottes Wort auf das Herz, das Innere des Menschen zielt und umwandeln will – wie er in den 27 Ernst Arfken, Zu Luthers Kirchenliedern, in: H.L. Arnold, Martin Luther, 105–120, bes. 119. – Ein Beispiel für diese Sangbarkeit ist Bachs Vertonung der Weihnachtsgeschichte in den Rezitativen seines Weihnachtsoratoriums! 28 B. Stolt, Aspekte, bes. 14. 29 Ebd. 30 Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens, WA 38,13, 5–21 (vgl. B. Stolt, Aspekte, 13).

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Ausführungen der Vorrede zur Römerbriefübersetzung über den Glauben darlegt. Anderen (Volks-)sprachen will Luther damit natürlich diese Qualität gar nicht absprechen;31 aber es ist eine Qualität, die nur von einem Muttersprachler „zum Klingen“ gebracht werden kann. Das Lateinische seiner Zeit besaß offenbar für Luther diese Qualität nicht mehr, obwohl es ja nicht nur Gelehrten- sondern auch die Sprache der Liturgie und für den Mönch auch die Sprache der Psalmen war. Luther hat bei seiner Rechenschaftslegung über seine Übersetzungsweise diese beiden Aspekte, den idiomatischen und den affektiven, betont; aber den seines theologischen Übersetzens bemerkenswerterweise nicht eigens thematisiert. Was für das Beispiel der Einfügung des sola in Röm 3,28 gilt, dass es sich nämlich doch auch um eine theologische Akzentuierung handelt,32 das gilt ähnlich auch für Lk 1,28, denn die Vorstellung, Maria sei ein besonderes Gefäß der göttlichen Gnade, widerstrebt Luthers Rechtfertigungslehre. „Luthers Septembertestament ist nicht nur philologische Übersetzungsarbeit, es ist auch Provokation.“33 Solche theologische Akzentuierungen ändern aber nichts an Luthers grundlegendem Bemühen um eine getreue Wiedergabe des biblischen Texts. In seinen besten Übersetzungen gelang es ihm, philologische Genauigkeit, muttersprachliche Prägung, sprachlich-klangliche Schönheit und evangelischen Gehalt zu einem Einklang zu bringen.34 Alle diese Aspekte machen gemeinsam das sprachliche Kunstwerk aus, als das seine Bibelübersetzung anzusehen ist. Luther war sich seiner Leistung bewusst: „Ich kan dolmetschen, Das können sie nicht“ (WA 30,2, 635,21).35

31 Unter die Bücher, die in eine gute Bibliothek gehören, zählt Luther prinzipiell alle Übersetzungen in die Volkssprache: „Erstlich sollt die heylige schrifft beyde auf Lateinisch/ Kriechisch/ Ebreisch/ -und Deutsch/ vnd ob sie noch ynn mehr sprachen were/-drynnen seyn“ (Ratsherrenschrift 1524, WA 15, 52, 1–3). 32 H. Reinitzer, Wort und Bild, 66f. 33 A.a.O., 67. 34 Vgl. W. Besch, Luther, 46ff die Synopse zur Übersetzung des Ps 23. Und das Fazit: „Es dürfte schwer sein, ihm hier irgendeine Spur von ‚Fälschung‘ des ‚Wortes Gottes‘ nachzuweisen. 35 Vgl. Hans-Jürgen Schrader, Zwischen verbaler Aura und Umgangsdeutsch. Zur Sprachgestalt der Luther-Bibel und zur Problematik ihrer Revision, in: Corinna Dahlgrün/Jens Haustein (Hg.), Anmut und Sprachgewalt. Zur Zukunft der Lutherbibel. Beiträge der Jenaer Tagung 2012, 145–180. – Siehe auch die anderen Beiträge dieses Bandes!

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4.

Luther und die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache

Mit Luthers Bibelübersetzung hängt aufgrund von deren Druck- und Verbreitungsgeschichte die Frage nach der sprachgeschichtlichen Bedeutung Luthers zusammen, nach seinem Einfluss auf die Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Man hat Luther den „Vater“, gar „Schöpfer“ dieser deutschen Sprache genannt.36 Wiewohl solche Einschätzungen übertrieben sind, spielt Luthers Deutsche Bibel dennoch eine wesentliche Rolle in diesem Prozess, wobei aber mehrere Faktoren zu berücksichtigen sind. In Luthers Zeit gab es noch keine verbindliche deutsche Schriftsprache,37 sondern eine regionale Vielfalt an Dialekten und auch binnensprachlich eine Vielzahl von Varianten auf dem Gebiet der Laute, ihrer Schreibung und der flexivischen Formen (Konjunktion, Deklination), aber auch des Wortschatzes. Die Vielzahl der Formen bedeutete auch Konkurrenz. Im 15. Jahrhundert lässt sich in der Schriftsprache gegenüber dem vorhergehenden Jahrhundert „eine Schwerpunktverschiebung vom Süden hin zur Mitte, vom traditionsreichen Oberdeutschen zum Mitteldeutschen östlicher Region“ beobachten (38). Die bisherige Vorrangstellung des südwestlichen Oberdeutschen verlagert sich zugunsten einer Kombination des Ostoberdeutschen mit dem Ostmitteldeutschen (Thüringisch, Obersächsisch, Schlesisch). Diese Schreibsprache, auch von den sogenannten Kanzleien (der Fürsten, Magistrate, Universitäten usw.), aber auch von privaten Druckereien gepflegt, implizierte Vereinheitlichung und Variantenreduzierung. Luthers Bemühen um die äußere Gestalt der deutschen Sprache ist eingebettet in diese sprachliche Entwicklung.38 „Luthersprache“ ist insofern ein „personifizierendes Synonym für die Wittenberger Druckersprache schlechthin“ (35). Aber hinzukam, dass Luther selbst auch zunehmend sensibel wurde für die Frage der Schrift- und Druckgestalt des Deutschen und bei den (Korrektur-)Arbeiten an der Deutschen Bibel von der ersten Wittenberger Vollbibel 1534 bis zur Lutherbibel letzter Hand (1545) dieses Bemühen um Variantenreduzierung und Gebrauch vermittelnder Formen konsequent fortsetzte, so dass er „mit großem Zutun seiner Korrektoren in der Gestalt der Bibel von 1545 einen deutlich systematisierten Druck-Usus“ hinterließ 36 Ebd. 11. 37 Zum folgenden vgl. v.a. W. Besch, Luther. 38 Vgl. dazu Luthers vielzitierte Beschreibung seiner eigenen Sprache in WA TR 2, Nr. 2758 b: Nullam certam linguam Germanice habeo, sed communem, ut me intelligere possint ex superiori et inferiori Germania. Er bezeichnet hier die Schreibweise der sächsischen Kanzlei als die communissima lingua Germaniae.

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(35). Dies wurde bedeutsam für die weitere Entwicklung der Deutschen Schreibsprache, weil die Wittenberger Bibel von 1545 „eine Art kanonischer Dignität“ für die weitere Bibeltradierung erhielt (58), die für ihre überregionale Einigungswirkung sorgte (54). Nachdrucke an anderen Orten behielten Orthographie und Vokabular der Lutherbibel bei; Ungewohntes wurde lieber mit Glossaren erläutert als geändert. Dies ist außerordentlich bemerkenswert und vielleicht auch ein einmaliger Tradierungsfall, da es im 16. und 17. Jh. an sich völlig normal war, Texte bei Nachdrucken lautlich der Region anzupassen. Nur ins Niederdeutsche musste die Bibel übersetzt werden; 1620 erlischt diese Tradition. Zum Ende des 17. Jh. erscheint das Phänomen des „Veraltens“ der bis dahin textstabilen Lutherbibel, so dass nun beigefügte Glossare dem Zweck dienen, als veraltet empfundenes zur erläutern (69). 5.

Luthers geistliche Lieder

Der Impetus, der Luther die Bibel ins Deutsche übersetzen ließ, machte ihn auch zum Verfasser geistlicher Lieder.39 Luthers dichterischer Beitrag zum deutschsprachigen geistlichen Lied ist bedeutend und eigenständig, wobei er an verschiedene vorhandene Liedtypen (vorreformatorischer, volksliedhafter Typ, Gesellschaftslied, Meistersingerlied) anknüpft.40 Den Anlass zu seinem erstem Lied bildete der Feuertod der ersten protestantischen Märtyrer in Brüssel 1523 (AWA 4,247.188), den er in einem Erzähl- und Zeitlied dichterisch verarbeitete, das zur Weiterverbreitung des Ereignisses geeignet war. Mit diesem Lied war offenbar seine dichterische Gabe geweckt. 24 Lieder von Luther – das sind fast zwei Drittel der Gesamtzahl – finden sich im Chorgesangbuch des Johannes Walther von 1524.41 Seine mit musikalischer Begabung einhergehende Hochschätzung der Musik als Lenkerin der Affekte42 und die darauf gegründete Überzeugung, dem Gemeindegesang komme ein fester Platz im Gottesdienst zu, bildeten den Hintergrund für das Entste39 Überblick: Patrice Veit, Art, Lied, in: Luther-Lexikon, 385–389. – Grundlegend: Gerhard Hahn, Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes (MTU 73), München 1981. – Wichman von Meding, Luthers Gesangbuch. Die gesungene Theologie eines christlichen Psalters (Theos 24), Hamburg 1998. – E. Arfken, Kirchenlieder. 40 A.a.O., 108. 41 Vgl. Christian Möller (Hg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte. Ein hymnologisches Arbeitsbuch (Mainzer Hymnologische Studien 1), Tübingen 2000, 75f. – E. Arfken, Kirchenlieder, 107. 42 Johannes Schilling, Musik, in: A. Beutel, Luther Handbuch, 236–244, bes. 241.

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hen seiner Kirchenlieder.43 Der Gemeindegesang sollte an die Stelle des lateinischen Chorgesangs treten. Dafür arbeitete Luther die wichtigsten liturgischen Stücke der Messe zu deutschen Gesängen um (Kyrie, Sanctus, Te Deum laudamus, deutsche Litanei).44 Weitere Einsatzorte des Gemeindegesangs im Gottesdienst sind zunächst das Lied nach der Epistel (Graduallied) und das Predigtlied. Luther schuf dafür die wichtigsten Typen des evangelischen Kirchenlieds, das Psalmlied (Ps 46 ein feste Burg, Ps 130 Aus tiefer not schrey ich zu dir, außerdem Ps 12,14,67,124,128) und das Katechismuslied, das Stücke des Katechismus in Strophenform umdichtet (Dies sind die heil’gen 10 Gebot, Credo-Lied, Vaterunser-Lied, Taufflied), aber auch u.a. das Festlied und das Begräbnislied. Luthers geistliche Lieder sind dezidiert Kirchenlieder, geschrieben für den Gemeindegesang, während die Einsatzmöglichkeiten volkssprachlichen geistlichen Liedguts im Gottesdienst vor der Reformation beschränkt waren.45 In ihnen steht neben dem „wir“ des Bekenntnisses bzw. dem „ihr“/„euch“ der Anrede das „ich“ des Glaubens in dem Sinn, dass das Ich, die Person, in der Gottesbeziehung nicht vertretbar ist. Es ist kein Zufall, dass Luthers Lieddichtungen erst nach der Wartburgzeit einsetzen, denn die Sprache seiner Lieder setzt die Sprache der deutschen Bibel voraus. Luther gibt mit ihrer Hilfe den „Grundsituationen“ des Christseins eine sprachliche Gestalt: der Verzweiflung und dem Angefochtensein durch die Sündennot, dem Getröstetsein durch die Erfahrung von Gottes Geist, und dem Getrost- und Unverzagtsein, der Festigkeit des Glaubens. Die sprachlichen Mittel, die er in ihnen verwendet, sind denen der Bibelübersetzung zu vergleichen. Dies soll an einem Beispiel gezeigt werden. In keinem Lied ist wohl die poetische Sprachgestaltung so dicht, um die von der Evangeliumsbotschaft geweckte Freude, ja geradezu Fröhlichkeit und Ausgelassenheit zum Ausdruck zu bringen, wie in dem Weihnachtslied für Kinder „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ (1535).46 In ihm gestaltet Luther, anknüpfend an das spätmittelalterliche „Kränzellied“, von dem er fast die ganze erste Strophe übernimmt, die Verkündigung des Engels an die 43 In seiner Vorrede zu Johann Walthers Chorgesangbuch von 1524 weist er auf die atl. Psalmen als Vorbild christlichen Gotteslobs hin, das im NT durch Paulus (1.Kor 14, Kol 3,16), bestätigt werde. 44 Vgl. Gerhard Hahn/Jürgen Henkys (Hg.), Liederkunde zum EG, Heft 6/7 (Handbuch zum Ev. Gesangbuch 3), Göttingen 2003, zu Nr. 178.3 (Kyrie eleison 1526), 178.4 (deutsches Kyrielied), 183 (Wir glauben all an einen Gott), 191 (Herr Gott, dich loben wir/Te Deum). 45 Vgl. dazu C. Möller, Kirchenlied, 33–40. 46 Vgl. zu diesem Lied G. Hahn, Evangelium, 133–143.

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Hirten und ihren anschließenden Besuch des Kinds in der Krippe wie den äußeren Ablauf eines Krippenspiels, wobei auch der Brauch des Kindelwiegens (Susaninne) anklingt. In den Strophen 1-5 erklingt die Verkündigung des Engels, in Strophe 6 die Stimme der Hirten als Stimme der Gemeinde (lasst uns hineingehen) und in den Strophen 7-14 die Stimme eines einzelnen Hirten bzw. des gläubigen Ich vor der Krippe; in der Abschlussstrophe 15 noch einmal der Dank der ganzen Gemeinde. Hier ist also zum einen nachvollzogen, wie die Verkündigung der biblischen Botschaft über die Gemeinde zum gläubigen Ich gelangt, tief in sein Innerstes, seines „Herzens Schrein“. An diesem Lied kann man aber auch studieren, mit welcher hohen Meisterschaft Luther das Evangelium als die „frohe Botschaft“, mit Mitteln der Sprache vermitteln will. Luther benutzt das Mittel der konsonantischen Alliteration (Stabreim), aber auch des vokalischen Gleichklangs, um, auch mit Hilfe von Wortwiederholungen, regelrechte Klangketten zu bilden. In der ersten Zeile des Liedes (Vom Himmel hoch da komm ich her) wird etwa durch das dreimalige „h“ im Anlaut jeweils auf einer betonten Silbe (plus einmal „ch“ im Auslaut) durch den Hauchlaut „h“ der Himmel als die geistige Sphäre Gottes untermalt (was durch die Bewegung der Melodie von oben nach unten kongenial unterstrichen wird). Mit gleicher Intention dominieren das spitze, hohe „i“ und die verwandten „e/eu“ fast das gesamte Lied. Der „i“-Klang verbindet so den „Himmel“, das „Kindlein“ und den „Christ“, unsern „Heiland“. – Daneben tritt als weiteres Mittel sprachlicher Gestaltung das Ausmalen eines Wortfeldes: „viel Gute (neue) Mär“ als Umschreibung für das „Eu-angelion“ weckt die „Freud und Wonne“ über das Kind in der Krippe und in Windeln, das „zart und fein“ ist, „lieb“, „schön“ und „edel“, also wahrlich kostbar ist. Es bringt „alle Seligkeit“, es ist Gottes an Weihnachten geschehene „Bescherung“ für den Menschen; Grund zur Aufforderung „des lasst uns alle fröhlich sein“. Die gehäuften Verkleinerungsformen (mit „i“!) (Windelein, Krippelein, Kindelein, Jesulein, Wiegelein, Bettelein) haben eine mehrfache Funktion. Zum einen heben sie die Geringfügigkeit und Einfachheit des Kinds in der Krippe hervor, zum andern betonen sie aber auch als Bestandteil einer preziösen Sprache die Kostbarkeit dieses Geschenks, das rein äußerlich so „wenig hermacht“, dem Aufmerken des Herzens (Str. 7) sich aber in seiner Bedeutung offenbart, und schließlich bringen sie auch als Ausdruckmittel einer affektiven Sprache, die innige Gefühlsbindung, Liebe und Dankbarkeit des Sängers zu Ausdruck: „Wie soll ich immer danken Dir?“ Nachdem die Strophen 9-12 diesen Gegensatz zwischen Groß und Klein und das Wunder des Eingehens des Großen in das Kleine ausmalen, brechen ab Strophe 13 diese Gefühle aus

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dem Sänger geradezu heraus, in Springen und Singen. Diese Bewegung nach außen korrespondiert mit der Bewegung nach innen. 6.

Luther als Briefschreiber

Literaturgeschichtliche Bedeutung kommt Luther auch als Briefschreiber zu,47 allerdings nicht in dem Sinne, dass er der Schöpfer des Privatbriefs gewesen sei. Der Gattung des Briefs hat man schon im Mittelalter und ganz besonders im Humanismus, zurückgreifend auf die antike Tradition, literarischen Charakter zuerkannt. Im Humanismus war es besonders das Genus des Freundschaftsbriefs, das gepflegt wurde. Daneben gibt es auch eine mittelalterliche Tradition des geistlichen, seelsorgerlichen Briefes in der Volkssprache, der besonders in mystischen Kreisen gepflegt wurde. Luther beherrscht die humanistische Briefkunst, aber sie liegt ihm weniger, und er knüpft eher an die Tradition religiös-seelsorgerlicher Briefschreiberei an. Dem humanistischen Brief kam abgesehen vom praktischen Zweck, Informationen auszutauschen, in literarischer Hinsicht die Funktion zu, sich im Medium elaborierter, geformter Sprache als gebildete Persönlichkeit zu präsentieren, sich so als der Zugehörigkeit zur universitas litteraria würdig zu erweisen und an deren Ausweitung mitzuwirken. Direkte literarische Verwendung hatte die Gattung des Briefs im Zusammenhang mit dem römischen Ketzerprozess gegen Reuchlin gefunden, in dem zunächst der Angeklagte selbst Briefe berühmter europäischer Gelehrter an ihn veröffentlichte, um die breite gelehrte Öffentlichkeit zu seinem Schutz und seiner Unterstützung in Anspruch zu nehmen, und daraufhin war auch von einigen Humanistenfreunden in den „Dunkelmännerbriefen“, mit den Mitteln der kontrafaktischen Satire die Sache Reuchlins vertreten worden. – Gegenüber dem humanistischen Brief ist Luthers Verständnis dieser Gattung vor allem durch seine Entdeckung geprägt, dass im Neuen Testament der Brief zum sprachlichen „Gefäß“ der Verkündigung des Evangeliums wird. Daran anknüpfend verfasste er in den frühen 20ger Jahren eine Reihe von „apostolischen Sendschreiben“, mit denen er Gemeinden, aber auch einzelnen Personen, die wegen ihrer evangelischen Glaubenshaltung unter Druck gerieten, den Trost des Evangeliums, und zugleich publizistische Unterstützung zukommen ließ. Später wurde der neutestamentlichpaulinische Impetus des Briefschreibens vor allem in privater brieflicher Seelsorge umgesetzt. Luther stellte den Brief in den Dienst umfassender, in einem 47 Überblick: Ute Mennecke, Art, Briefe Luthers, in: Luther-Lexikon, 120–124, dort weitere Literaturangaben.

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weiten Sinn seelsorgerlicher ratgeberlicher Tätigkeit, er konnte aber auch einen regelrecht prophetischen Mahnruf (etwa gegenüber Albrecht von Mainz) durch ihn artikulieren. Insgesamt geht es ihm weniger um Selbstdarstellung als darum, mit dem Briefschreiben den Dienst wahrzunehmen, zu dem er sich als berufen versteht. Freilich gibt es im Gesamt seines umfangreichen Briefcorpus Beispiele, in denen dem Brief die Entfaltung von Intimität und Eröffnung des eigenen Selbst anvertraut wird (u.a. in den Briefen an seine Frau Katharina von Bora). Literarische Qualität in dem Sinne, dass Sprache bewusst geformt wird, erhalten Luthers Briefe vielfach durch den eigenständigen Umgang mit den in der ars dictaminis formulierten Regeln bzw. formal stärker festgelegten Teilen des Briefs. Dies gilt z. e. für seinen z. T. spielerischen Umgang mit den Regeln für Adressierung und Anrede, in denen die hierarchische Ordnung der Gesellschaft zum Ausdruck kam. Es gilt auch für die Verwendung der traditionellen Briefform mit ihren fünf Teilen in kongenialer Anpassung an den jeweils verfolgten Zweck. Generell kann man sagen, dass Luther die Gattungsregeln nicht ignoriert, sondern auf freie, souveräne Weise handhabt. In seinen seelsorgerlichen Briefen dient z. B. die herkömmliche Abfolge von narratio und petitio / exhortatio der Darlegung des geistlichen Trosts und der sich an sie anschließenden Ermunterung, zur Aneignung des Gesagten. Hier kann Luther alle auch sonst von ihm beherrschten Mittel sprachlicher Gestaltung, Prosarhythmus, konsonantischen Anlaut, Vokalgleichlaut usw. einsetzen, um die Fähigkeit der Sprache, affektiv eindringlich zu wirken, mit der Intention zu nutzen, den Trost des Evangeliums zu artikulieren und gleichsam Gott selbst zum Menschen sprechen zu lassen. 7.

Luther als Prosaschriftsteller

Das Dichtungs- bzw. Literaturverständnis der Reformation entspricht dem pragmatischen Literaturbegriff der Frühen Neuzeit insgesamt, in dem sprachliche Gestaltung oder sprachliche Schönheit keinen ästhetischen Selbstzweck haben. Es dominiert weithin das geistliche Schrifttum; Weltliches wird aber nicht grundsätzlich abgelehnt, sofern es einen Erfahrungsbezug und einen (moralischen) Nutzen verspricht. Dies gilt neben der Geschichtsschreibung (Melanchthon: historia magistra vitae), und Sprichwortsammlungen auch für die Äsop’schen Fabeln. Die Reformation knüpft bezüglich ihrer weltlichen Literaturproduktion recht weitgehend an den Humanismus an, der diese Literaturformen ebenfalls gepflegt hatte. Dies gilt auch für Luther, der sich in dieses Spektrum einerseits mit seiner Sammlung

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von 489 Sprichwörtern48 und andererseits mit seinen 1530 während des Coburg-Aufenthaltes erarbeiteten Prosa-Beiträgen zur Äsop’schen Fabel49 einfügt. Die von ihm geplante eigene Fabelsammlung blieb unvollendet. Es sind diese literarischen Formen, die Luthers Sinn für kurze, prägnante und gleichwohl bildhafte Ausdrucksweise entgegenkamen, eine Kunst, die er meisterhaft beherrscht und auch für seine Theologie fruchtbar macht. Aber auch abgesehen von der Verwendung spezifischer Prosaformen kommt Luthertexten vielfach literarische Qualität zu.50 Luther beherrschte das rhetorische Handwerkszeug seiner Zeit, aber er wendet die Regeln der dispositio u.a. nicht sklavisch an, sondern passt die äußere Gestalt seiner Aussageintention an. Luther ist nicht unbedingt als Meister der prosaischen Großform zu bezeichnen, die ihm manchmal zu zerfließen droht, aber er hat ein großes Gespür für die sprachliche Gestaltung kleinerer textlichen Einheiten. Manche hoch wirkungsvollen Formen der Rhetorik wie Klimax, Paradoxie, Überbietung beherrscht er meisterhaft. Er beweist immer wieder auch einen ausgesprochenen Spaß am Wortwitz bzw. am Spiel mit Wort und Klang. Nicht zuletzt steht ihm auch eine schier unerschöpfliche Gabe, sprachliche Bilder zu finden und zu entfalten, zu Gebote. Alle diese Fähigkeiten machen ihn übrigens auch zu einem brillianten Polemiker. Literarische Polemik war im 16. Jh. nichts Ehrenrühriges, vielmehr ein legitimes Mittel des „Wortkampfs“.51 So widerlegt er etwa Karlstadts Interpretation der Einsetzungsworte Christi “tuto esti to Soma mu“, wonach Christus mit dem „tuto“ auf sich selber gewiesen habe, nicht nur philologisch, sondern er macht sich auch lustig über „alles, was D. Carlstad Tuttet odder tattet, kuckelt oder kakellt“.52 8.

Zusammenfassung

Der evangelische Theologe Gerhard Ebeling hat Luther ein „Sprachereignis“ genannt.53 Tatsächlich kamen mehrere Faktoren „ereignishaft“ zusammen, die Luthers Sprachschaffen ermöglichten. Auf der einen Seite sind da sein „Sprachingenium“54, Sprachbegabung, Musikalität und Sinn für das 48 Vgl. Anja Lobenstein-Reichmann, Art, Sprichwörter, in: Luther-Lexikon, 655–657. 49 Vgl. Peter Walter, Art, Fabeln, in: Luther-Lexikon, 215. 50 Vgl. dazu die Textsammlung (mit Einführung) von Martin Brecht, Luther als Schriftsteller. Zeugnisse seines dichterischen Gestaltens, Stuttgart 1990 ( ctb 18). 51 Vgl. Hellmut Zschoch, Streitschriften, in: A. Beutel, 277–294, zur literarischen Polemik. 52 Wider die himmlischen Propheten (1525), WA 18, 151,25. – 157, 17. 53 Gerhard Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 16f. 54 W. Besch, Luther, 52.

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„Instrument“ der Sprache; und als äußerer Umstand die besondere, zukunftsweisende Bedeutung der sächsischen Kanzlei. Hinzukommt Luthers reformatorische Entdeckung des Evangeliums als der frohmachenden Botschaft für alle und der Kontakt mit der deutschsprachigen Mystik; aus alledem resultierte der Plan, das Wort Gottes für alle Christen so in die deutsche Sprache zu bringen, dass das Evangelium aus ihm ins Herz spräche. Bei allem seinem Schreiben, ob in Predigten, Briefen, Liedern, blieb dieses letztlich immer seine eigentliche Intention, die er mit ähnlichen Mitteln umsetzte. Luthers Hochschätzung der Sprache, die ihn zu lebenslanger Arbeit an dieser Sprache, zum „Üben“ auf diesem Instrument, motivierte, beruhte letztlich auf seiner Erkenntnis, dass – gemäß Joh 1,14 – das Wort Fleisch geworden ist, also auf dem weihnachtlichen Inkarnationswunder. So kann man sagen, dass sich bei Luther sprachtheologisches Denken55 und konkretes Sprachschaffen kongenial bedingen und bereichern. Die Sprache von Luthers Bibel, Liedern und Katechismen erreichte so viele Menschen im Schulunterricht, im Gottesdienst, in der häuslichen Andacht, dass sie über Jahrhunderte hinweg und letztlich wohl bis heute die Sprache evangelischer Frömmigkeit und Theologie zu prägen vermochte. Abstract Within the context of his new reformation awareness Luther turned his attention to German as a language of religious devotion and theology. He transcended the late medieval custom of producing devotional literature for ordinary people in their own language by using German (i.e. the language of the people) as the language of the priesthood of all believers, thus uniting Christians of all ranks. He also elevated German to the means through which God’s liberating, comforting word appeals to the very heart of man. In his Bible translation Luther endeavoured to combine philological accuracy with theological accentuation and everyday language with linguistic beauty. He appropriated existing assimilating tendencies between regional dialects and paid heed to minimalizing variants in the resulting Bible text; thus he created an amazingly robust text of great impact which has been preserved in print throughout the centuries. Luther’s gift for composition using biblical language also finds expression in his other creative writings such as hymns and letters. 55 Zusammenfassend: Albrecht Beutel, Art, Sprache/Sprachverständnis, in: Luther-Lexikon, 652–655.

Ute Mennecke, Zur sprach- und literaturgeschichtlichen Bedeutung Luthers

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Gespräch zwischen Disziplinen

Martin Luther aus römisch-katholischer Perspektive Peter Walter 1.

Kirchenhistorische Präliminarien

Der jüngst verstorbene römisch-katholische Theologe Otto Hermann Pesch (1931–2014)1, der lange Jahre an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Hamburg lehrte, war seit seiner bahnbrechenden Dissertation „Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin“2 nicht nur einer der besten Kenner des in seiner Kirche noch immer als „Normtheologe“ geltenden Thomas von Aquin3, sondern auch Martin Luthers4. Und er hat gezeigt, dass es zwischen beiden in der Frage der Rechtfertigung größere Übereinstimmungen gibt, als man aufgrund von konfessionellen Vorurteilen gemeinhin annehmen möchte. Gerade als subtiler Kenner beider konfessioneller Traditionen hinterlässt Pesch eine große Lücke, die so schnell nicht zu füllen sein wird. Man mag sich fragen, ob angesichts der Voraussetzungslosigkeit historischer Forschung die Konfessionszugehörigkeit oder auch Nichtzugehörigkeit eines Forschers überhaupt nötig oder hilfreich ist. Faktisch aber gibt es gerade in der konfessionell gebundenen Theologie blinde Flecken in der Fremd- wie in der Selbstwahrnehmung, wodurch zahlreiche Vorurteile über die konfessionellen Unterschiede unhinterfragt tradiert werden. Außenperspektiven sind zudem immer gut, um einen vermeintlichen Konsens der Forschung, insoweit es so etwas überhaupt gibt, auf den Prüfstand zu stellen und neue, unerwartete 1

2 3 4

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Zu ihm vgl. Rolf Decot, Katholische Lutherforschung, in: Jörg Ernesti – Wolfgang Thönissen, Die Entdeckung der Ökumene. Zur Beteiligung der katholischen Kirche an der ökumenischen Bewegung (Konfessionskundliche Schriften des Johann-Adam-MöhlerInstituts 24), Paderborn – Frankfurt am Main 2008, 17–34, hier 31–33. Vgl. Otto Hermann Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Mainz 1967, ²1985. Vgl. Otto Hermann Pesch, Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie. Eine Einführung, Mainz 1988. Vgl. Otto Hermann Pesch, Hinführung zu Luther (1982), Dritte, aktualisierte u. erweiterte Neuauflage, Mainz 2004.

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DOI 10.2364/3846999769

Einsichten zu gewinnen. Was nun gerade die Zugehörigkeit eines Lutherforschers zur römisch-katholischen Kirche angeht, kann sie, wie die im Folgenden zu nennenden Beispiele zeigen, positiv wie negativ nicht nur der protestantischen Forschung Impulse geben, sondern auch in die eigene Kirche hineinwirken. Die jüngere römisch-katholische Lutherforschung hat beides getan. Die klassische Kontroverstheologie hat Luther zum einen inhaltlich zu widerlegen versucht, sie hat ihn zum andern aber auch als Person diffamiert. Luther war für sie der entlaufene Mönch, der sich aus Eigennutz gegen seine Kirche gestellt und der durch seine Lügen viele verführt hat, der schließlich ein unrühmliches Ende fand, gar von Selbstmord war in diesem Zusammenhang die Rede. An seinen Schriften ließ man kein gutes Haar und verunglimpfte ihn als Lügner.5 Dies hat sich erst im 20. Jahrhundert langsam geändert.6 Noch der bedeutende Mediävist und Erforscher der mittelalterlichen Mystik, der Dominikaner Heinrich Suso Denifle (1844–1905), hat mit intensiven Quellenstudien den von Grund auf verdorbenen Charakter Luthers nachzuweisen versucht. Er hat damit aber auch die Erforschung des „jungen“ Luther angeregt. Der Jesuit Hartmann Grisar (1845–1932) hat die Persönlichkeit Luthers neuropathologisch erhellen wollen, ohne allerdings über eine entsprechende Qualifikation zu verfügen. Letztlich warf er Luther Subjektivismus vor, wie das auch im 19. Jahrhundert die ultramontane und neuscholastische Bewegung getan hat, welche Aufklärung und Französische Revolution und damit den von ihr als negativ eingeschätzten Umsturz aller bisherigen Werte direkt auf Luther zurückführte. Auch Joseph Lortz (1887–1975), der mit seinem 1939 erstmals erschienenen, mehrfach neu aufgelegten und in zahlreiche Sprachen übersetzten zweibändigen Werk „Die Reformation in Deutschland“ die Wende des katholischen Lutherbildes einläutete, warf ihm Subjektivismus und Abfall vor. Aber er anerkannte sein religiöses Genie und wies einen gewaltigen Teil der Mitschuld an der Spaltung den Missständen in der spätmittelalterlichen Kirche und dem Versagen ihres Führungspersonals vor. Die von O. H. Pesch und anderen katholischen Lutherforschern vorgenommene systematisch-theologische Lutherinterpretation stieß bei den Vertretern der Lortz-

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Vgl. Adolf Herte, Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochläus, 3 Bde., Münster in Westfalen 1943. Für das Folgende vgl. Jos E. Vercruysse, Katholische Lutherforschung im 20. Jahrhundert, in: Rainer Vinke (Hg.), Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte. Beiheft 62), Mainz 2004, S. 191–212.

Peter Walter, Martin Luther aus römisch-katholischer Perspektive

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Schule7, namentlich Erwin Iserloh (1915–1996)8 und Peter Manns (1923– 1991), auf teilweise heftigen Widerspruch. Mittlerweile ist der Schlachtenlärm verhallt. Auf längere Sicht hat sich der Ansatz Peschs durchgesetzt. Er hat maßgeblich die römisch-katholische Position bei der Untersuchung der Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts geprägt9 und dadurch wesentlich die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ mit vorbereitet, die methodisch jener folgt.10 2.

Luther aus systematisch-theologischer Perspektive

2.1 Ein persönlicher Zugang Es wäre durchaus möglich, die Werke katholischer Systematiker und Systematikerinnen daraufhin zu befragen, welche Rolle Martin Luther für diese spielt. Dies wäre jedoch Stoff für eine Dissertation. Darum wähle ich für diesen zweiten Teil, auch auf die Gefahr hin, wichtige Aspekte zu übergehen, einen subjektiven Weg und stelle die vielfältigen Anregungen dar, die ich selber durch die Beschäftigung mit Luther bekommen habe. Bereits während meines Studiums, das ich hauptsächlich an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom absolvierte, die vielleicht nicht als eine Hochburg des Lutherstudiums gilt, habe ich mich in einer Lehrveranstaltung von P. Jos E. Vercruysse SJ auf der Basis von Walther von Loewenichs damals wieder neu aufgelegtem gleichnamigem Buch mit Luthers „theologia crucis“ beschäftigt.11 Auch wenn mir die Auffassung Luthers, dass Gott sich 7

Zu Lortz und seinen beiden im Folgenden genannten Schülern vgl. Decot, Lutherforschung (wie Anm. 1), 21–31. 8 Zu ihm vgl. jüngst Uwe Wolff, Erwin Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt (Studia Oecumenica Friburgensia 61), Basel 2013. 9 Vgl. Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. 1: Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, hg. von Karl Lehmann und Wolfhart Pannenberg (Dialog der Kirchen 4), Freiburg i. Br. – Göttingen 1986. Vor allem die methodischen Vorüberlegungen des Teildokuments über die Rechtfertigung (vgl. ebd., 35–48) sowie weite Teile desselben gehen auf O. H. Pesch zurück. 10 Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 3, hg. und eingel. von Harding Meyer, Damaskinos Papandreou, Hans-Jörg Urban, Lukas Vischer, Paderborn – Frankfurt am Main 2003, 419–441. Zur Vor- und Nachgeschichte des Dokumentes vgl. Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 305–310, 383–388. 11 Walther von Loewenich, Luthers theologia crucis (1929), Witten 51967.

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„sub contrario“ zu erkennen gebe, etwas schematisch vorkam, so, als müsse man immer das Gegenteil dessen erschließen, was man wahrnehme, ist mir der Verweis auf die Verborgenheit Gottes bis heute wichtig. Nicht zuletzt im barocken Rom, das so ganz auf die äußere „gloria“ der Selbstdarstellung der nachtridentinischen katholischen Kirche zu setzen schien, bot mir die Auseinandersetzung mit dieser Seite von Luthers Theologie einen gewissen Kontrapunkt, auch wenn der damals amtierende Papst, Paul VI. (1963– 1978), dazu wenig Anlass bot. An der Gregoriana wurde in einer Lehrveranstaltung des Spezialisten für die niederländische Mystik, P. Albert Deblaere SJ12, mein Interesse für Erasmus von Rotterdam geweckt, der dem Gründer des Jesuitenordens so wenig geheuer war wie dem Wittenberger Reformator. 2.2 Sakramententheologie Bei der Ausarbeitung meiner sakramententheologischen Vorlesung, mit der ich 1990 meinen dogmatischen Zyklus in Freiburg eröffnete, habe ich mich selbstverständlich auch mit der reformatorischen Sakramententheologie beschäftigt.13 Im Blick auf Luthers Sakramentsbegriff fiel mir auf, dass dieser, was die Reduktion der Zahl der Sakramente angeht, keineswegs nur biblisch argumentiert, sondern auch von Augustins Sakramentsverständnis abhängig ist. Wie anders konnte er der für ihn so zentralen Buße, für die es klare biblische Verheißungen gibt (vgl. Joh 20,23), wegen des fehlenden äußeren Zeichens den Status eines Sakraments absprechen? Besonders wichtig wurde mir allerdings Luthers Theologie der Taufe. Bei ihm steht weniger die Einmaligkeit des Empfangs dieses Sakramentes im Vordergrund als das tägliche mit Christus Sterben und Auferstehen, das lebenslange Hineinwachsen in das durch die Taufe geschenkte göttliche Leben. In scholastischer Terminologie gesprochen geht es ihm weniger um das „sacramentum transiens“ (das vorübergehende Sakrament) als um das „sacramentum permanens“ (das bleibende Sakrament). Diesen letzteren Aspekt sieht er nun nicht statisch als einfaches Vorhandensein, sondern zutiefst dynamisch. Im Großen Katechismus nennt er das christliche Leben „eine tägliche Taufe, einmal ange-

12 Vgl. Joseph Alaerts, Albert Deblaere, S.J. (1916–1994). An Inspired and Inspiring Live, in: Albert Deblaere, S.J. (1916–1994), Essays on Mystical Literature […], hg. von Rob Faesen (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 177), Leuven 2004, XV–XX. 13 Hilfreich war mir dabei vor allem Ulrich Kühn, Sakramente (Handbuch Systematischer Theologie 11), Gütersloh 1985.

Peter Walter, Martin Luther aus römisch-katholischer Perspektive

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fangen und immer darin gegangen“14, beziehungsweise bezeichnet er die Taufe „als sein täglich Kleid, darin er [sc. der Getaufte] immerdar gehen soll, daß er sich allezeit in dem Glauben und seinen Fruchten finden lasse, daß er den alten Menschen dämpfe und im neuen erwachse.“15 2.3 Ekklesiologie In unmittelbarem Zusammenhang mit Luthers Tauftheologie steht seine Wiederentdeckung des allgemeinen Priestertums, die eine zweifache Relativierung des geistlichen Amtes bedeutet. Dieses wird zum einen dadurch relativiert, dass Luther einen eigenen geistlichen Stand bestreitet. Geistlich wird ein Mensch, wie er zu Beginn seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ schreibt, durch die Taufe und allein durch diese.16 Zum andern wird das Amt strikt als Dienst am Priestertum aller Getauften und damit relativ, d.h. bezogen auf dieses, gesehen.17 Dass damit das geistliche Amt keineswegs nur als eine Delegation der Gemeinde zu verstehen ist, wie man entsprechende Aussagen der Adelsschrift deuten kann,18 sondern durchaus eine unableitbare Funktion besagt, habe ich von Ulrich Kühn gelernt.19 Nach ihm unterscheidet Luther zwei Begründungsstränge für das kirchliche Amt, die aber aufs engste zusammengehören: Auf der einen Seite einen ekklesiologischen, nach dem der Amtsträger sein Amt im Namen der Kirche ausübt, auf der anderen einen christologischen, nach dem die Ämter in den von Christus zur Auferbauung der Gemeinde verliehenen Charismen gründen. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass die Ämter auch insofern auf Jesus Christus zurückgehen, als ihre Aufgaben, die Wortverkündigung und die Sakramentsverwaltung, von jenem gewollt und in diesem Sinn eingesetzt sind. Von hier her lässt sich eine Brücke zur Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ des 2. Vaticanums schlagen, wie ich es in meiner ekklesiologischen Vorlesung versuche, die sowohl das Gemeinsame Priestertum aller Getauften wie auch das Amtspriestertum als jeweils spezifische Teilhabe am Pries14 BSLK 704, 34f. 15 BSLK 707, 22–26. 16 Vgl. Martin Luther, Studienausgabe, hg. von Hans-Ulrich Delius, Bd. 2, Berlin 1982, 99– 101. 17 Vgl. ebd., 101. 18 Vgl. ebd., 99f. 19 Für das Folgende vgl. Ulrich Kühn, Kirche (Handbuch Systematischer Theologie 10), Gütersloh 1980, 30–32.

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tertum Jesu Christi bestimmt und die Aufgabe des Amtes als Dienst am Priestersein aller versteht.20 Dadurch gelingt es dem Konzil, eine Christusunmittelbarkeit aller Christen zu denken, ohne jedoch eine amtliche Vermittlung auszuschließen. Dies wird nicht zuletzt auch dadurch deutlich, dass es die Aufgaben aller Christen, nicht nur der Amtsträger, nach der von Calvin systematisierten Lehre der drei Ämter Christi, des Propheten, Priesters und Königs, durchbuchstabiert. Als ein wichtiges Strukturelement nicht nur der Kirchenkonstitution sucht man sie in den maßgeblichen deutschsprachigen Kommentaren zum 2. Vaticanum allerdings vergeblich. Dort taucht sie nur am Rande auf. Die Bezüge zur reformatorischen Theologie werden anscheinend nicht reflektiert.21 Das letzte Konzil hatte von Anfang an eine ökumenische Zielrichtung, mag diese zunächst auch eher auf die Rückkehr der getrennten Christen in die katholische Kirche gedacht worden sein und weniger auf eine gemeinsame Zukunft hin. Gerade um den evangelischen Christen entgegenzukommen, wurden bereits in der Vorbereitungsphase von verschiedenen Bischofskonferenzen und Theologen Vorschläge gemacht, die sich auf dem Konzil durchsetzen konnten, nicht weil sie als diplomatische Zugeständnisse, sondern weil sie als sachgemäß empfunden wurden. Dazu gehört eine Theologie des Wortes Gottes, wie sie in der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“22 und in der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ entwickelt wurde, der reicher gedeckte Tisch des Wortes Gottes in der Liturgie,23 die Verwendung der Muttersprache,24 die Ausweitung der Möglichkeit der Kommunion unter beiden Ge20 Vgl. Lumen gentium, Nr. 10; Henricus Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum/Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von Peter Hünermann, Freiburg – Basel – Wien 44 2014 (im Folgenden DH), Nr. 4125f. 21 Diesen Eindruck erweckt zumindest das Register von Herders Theologischem Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, hg. von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath, 5 Bde., Freiburg – Basel – Wien 2004–2006. Hier erscheint das Stichwort „Amt Christi, dreifaches“ nur in Bd. 2, 590 in Bezug auf die Liturgiekonstitution. Noch immer hilfreich und zudem aus der Feder eines engagierten Konzilsvaters: Emile Joseph de Smedt, Das Priestertum der Gläubigen, in: De Ecclesia. Beiträge zur Konstitution „Über die Kirche“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, hg. von Guilherme Baraúna, 2 Bde., Freiburg u.a. 1966, hier Bd. 1, 380–392, sowie Bertulf van Leeuwen, Die allgemeine Teilnahme am Prophetenamt Christi, ebd., 393–419. Vgl. auch Ludwig Schick, Das Dreifache Amt Christi und der Kirche. Zur Entstehung und Entwicklung der Trilogien (Europäische Hochschulschriften 23, 171), Frankfurt am Main – Bern 1982; zum 2. Vaticanum ebd., 131–138. 22 Vgl. Sacrosanctum Concilium (SC), Nrn. 7, 24, 33, 35; DH Nr. 4007, 4024, 4033, 4035. 23 Vgl. SC, Nr. 35; DH 4035. 24 Vgl. SC, Nr. 36; DH 4036.

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stalten25 und anderes mehr. Otto Hermann Pesch stellt einerseits fest: „Es ist undenkbar, dass Luther nach dem Besuch einer ganz ‚normalen‘ sonntäglichen Eucharistiefeier in einer lebendigen katholischen Gemeinde von heute seine Schrift ‚Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche‘ noch so hätte schreiben können, wie theologische Klarsicht und prophetischer Zorn sie ihm damals eingaben.“26 Anderseits erinnert er daran, dass Luther und die lutherische Theologie Vorbehalte hegen könnten gegen allzu viel menschliche Aktivität im Gottesdienst.27 2.4 Theozentrik Als ich vor einigen Jahren eine Handschrift der Freiburger Universitätsbibliothek als Fragment der von Sebastian Münster (1488–1552) angefertigten und zum Druck beförderten deutschen Übersetzung von Martin Luthers Predigten zu den zehn Geboten aus den Jahren 1517/18 identifizieren konnte28, hat mich an diesem Text vor allem die grundlegende Bedeutung angesprochen, die Luther dem ersten Gebot zuweist: „Damit du es besser verstehst, sollst Du wissen, dass das erste Gebot alle anderen in sich begreift, und wer also das erste hält, der hält sie alle, und wer eines von den anderen nicht hält, der hält auch das erste nicht. Denn sein Herz sieht etwas anderes als Gott an.“29 Diese Argumentation erscheint durchaus logisch: Ein Mensch, der das erste Gebot beachtet, lässt sich ganz von Gott bestimmen und hält deshalb auch alle anderen Gebote, nicht nur das erste. Und umgekehrt gilt: Derjenige, welcher eines der anderen Gebote nicht hält, befolgt auch das erste nicht, weil sein Herz in der Übertretung der anderen Gebote 25 26 27 28

Vgl. SC, Nr. 55; nicht in DH. Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 172. Vgl. ebd., 172f. Vgl. Peter Walter, Vom Suchen und Finden in der Freiburger UB. Über ein bislang unbekanntes Manuskript Sebastian Münsters, in: Die Bibliothek – von außen und von innen. Aspekte Freiburger Bibliotheksarbeit – Für Bärbel Schubel, hg. von Albert Raffelt (Schriften der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau 28), Freiburg 2008, S. 91–120 (Elektronische Publikation: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5000/). Mittlerweile liegt die 1520 erstmals gedruckte Münstersche Übersetzung in einer Neuausgabe vor: Martin Luthers Dekalogpredigten in der Übersetzung von Sebastian Münster, hg. von Michael Basse (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 10), Köln u.a. 2011. 29 „Daß du es baß verstandist, soltu wissen, daß das erst gebott begrifft yn im alle andre gebott. Vnn also welcher daß erst helt, der helt sie all, vnn welcher der andern eynß nit helt, der helt auch daß erst nit, dan syn hertz sicht etwas anderst an weder got.“ UB Freiburg Hs. 1500, 23, Fol. l [1] r. Vgl. Luthers Dekalogpredigten (wie Anm. 28), 65, 19–22.

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zeigt, dass es anderen Göttern folgt. Im Großen Katechismus heißt es zum ersten Gebot: „Worauf du nu […] Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“30 Diese Aussage und noch mehr diejenige aus dem Großen Galaterbriefkommentar über den Glauben als „Schöpfer der Gottheit“31 lässt an den Feuerbachschen Projektionsverdacht denken. Solches liegt Luther, wie Feuerbach selber feststellt32, jedoch völlig fern. In Formulierungen wie diesen zeigt sich vielmehr der existentielle Ernst der Lutherischen Theologie. Glaube ist für ihn mehr als ein intellektuelles Für-wahrHalten, als eine sich auf bestimmte „Gegenstände“ richtende „fides historica“, sondern eine umfassende Ausrichtung des Menschen auf Gott hin, von der für den Menschen, aber eben auch für Gott, der sich auf den Menschen eingelassen hat, alles abhängt.33 2.5 Glaubensverständnis Bei der Auseinandersetzung mit den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts hat die katholische Theologie Luthers „sola fide“ neu verstehen gelernt als existentielle Hinwendung des glaubenden Menschen zu Gott, von dem er alles und nichts von sich selber erwartet, wodurch er gerade Trost und Zuversicht findet. Es gehört zur Tragik des 16. Jahrhunderts, dass von katholischer Seite dieses Glaubensverständnis Luthers nicht adäquat gewürdigt werden konnte und auf dem Trienter Konzil als „eitle[s] und von jeder Frömmigkeit entfernte[s] Vertrauen“34 missverstanden wurde.35 Selbst ein Luther so nahestehender Theologe wie der damalige Generalobere der Augustinereremiten, Girolamo Seripando (um 1492–1563), sah Luthers Vertrauensglauben und Heilsgewissheit „als pharisäisches Sichbrüsten“36.

30 BSLK 560, 23f. 31 Vgl. WA 40 I, 360,5 und 25. 32 Vgl. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Bearbeiter: Werner Schuffenhauer – Wolfgang Harich (Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke 5), Berlin 1973, 228f. 33 Vgl. Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh ³1972, 50. 34 Konzil von Trient, Dekret über die Rechtfertigung, Kap. 9; DH 1533. 35 Vgl. dazu Peter Walter, Zum Glaubensverständnis des Rechtfertigungsdekrets des Trienter Konzils, in: Gottvertrauen. Die ökumenische Diskussion um die fiducia, hrsg. von Ingolf U. Dalferth – Simon Peng-Keller (Quaestiones disputatae 250), Freiburg – Basel – Wien 2012, 243–254. 36 Adolf Stakemeier, Das Konzil von Trient über die Heilsgewißheit, Heidelberg 1947, 105. Vgl. Klaus Ganzer, Art. Seripando, in: LThK³ 9 (2000) 487f.

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Gestützt vor allem auf die Vorarbeit von Otto Hermann Pesch37 hat das Dokument „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ im Hinblick auf den Glaubensbegriff des Konzils von Trient festgestellt: „Die Trienter Konzilsväter denken mit der mittelalterlichen Tradition bei dem Wort ‚Glaube‘ (in der semantischen Spannung von ‚fides‘ und ‚credere‘!) zunächst an die Zustimmung des Verstandes zum geoffenbarten Wort Gottes einerseits und an den ‚objektiven‘ Glauben anderseits, wie er in Bekenntnis und Lehrverkündigung der Kirche niedergelegt ist. Von daher und aufgrund der dem Konzil von Trient vorliegenden ‚Irrtumskataloge‘ reformatorischer Sätze verstehen die Konzilsväter die reformatorische Redeweise von der Rechtfertigung ‚allein durch den Glauben‘ (‚sola fide‘) so, als werde damit die Wirksamkeit der Sakramente, die Bedeutung der guten Werke und die Notwendigkeit eines verbindlichen Bekenntnisses, das ‚Zustimmung‘ erfordert, ausgeschlossen.“38 Nachdem es den reformatorischen Glaubensbegriff gewürdigt hat,39 kommt das Dokument zu dem Ergebnis: „Übersetzt man von einer Sprache in die andere, dann entspricht einerseits die reformatorische Rede von der Rechtfertigung durch den Glauben der katholischen Rede von der Rechtfertigung durch die Gnade, und dann begreift anderseits die reformatorische Lehre unter dem einen Wort ‚Glaube‘ der Sache nach, was die katholische Lehre im Anschluß an 1 Kor 13,13 in der Dreiheit von ‚Glaube, Hoffnung und Liebe‘ zusammenfaßt. Dann aber können die gegenseitigen Verwerfungen in dieser Frage heute als nicht mehr treffend erachtet werden“40. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ hat dieser Deutung zur kirchlichen Anerkennung des Lutherischen Weltbundes und der katholischen Kirche verholfen.41 2.6 Relationale Ontologie Womit sich Katholiken noch immer schwertun, ist Luthers relationale Ontologie, wie sie etwa in der Formel „simul iustus et peccator“ zum Ausdruck kommt. Im Nachgang zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, in der diese Thematik als eine die heutigen Partnerkirchen nicht 37 Vgl. Otto Hermann Pesch, Die Canones des Trienter Rechtfertigungsdekretes: Wen trafen sie? Wen treffen sie heute?, in: Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, Bd. 2, hrsg. von Karl Lehmann, Freiburg i. Br. – Göttingen 1989 (Dialog der Kirchen 5), 243–282. 38 Lehrverurteilungen – kirchentrennend? (wie Anm. 9), 56. 39 Vgl. ebd., 56–59. 40 Ebd., 59. 41 Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (wie Anm. 10), 425f.

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mehr trennende Auffassung verbucht wurde,42 wurde die Simul-Formel von römischer Seite als ein noch keineswegs ausgeräumter Gegenstand der Kontroverse dargestellt.43 Angesichts dessen sah sich der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen herausgefordert, das Thema noch einmal aufzugreifen und die Position der „Gemeinsamen Erklärung“ zu untermauern.44 Solche umfangreichen und differenzierenden Studien werden jedoch außerhalb der Fachwelt kaum wahrgenommen. Kirchliche Entscheidungsträger, die Anlass zur Revision ihrer Auffassung hätten, nehmen sie ohnehin kaum zur Kenntnis. Die ganze Diskussion hätte man sich ersparen können, wenn man das großartige 11. Kapitel in Otto Hermann Peschs „Hinführung zu Luther“ rezipiert hätte.45 Hier wird deutlich, dass es unterschiedliche theologische Denkstile gibt, die sich auf der vordergründigen Ebene widersprechen: in der katholischen Lehrtradition das Denken in Beschaffenheiten wie Sünde und Gnade, die nicht gleichzeitig im selben Subjekt bestehen können,46 bei Luther das Denken in personalen Beziehungen. Für diesen sind „Sünde und Gnade […] gegenläufige Beziehungen, in denen der Mensch lebt. Sünde ist […] die vom Menschen abgebrochene Gottesbeziehung. Gnade, Gerechtigkeit dagegen ist die Beziehung der Freundschaft, der Gemeinschaft, der Zuwendung, die Gott mit dem Menschen trotz seiner Sünden, gegen seine Sünde immer wieder neu begründet. Ein Zugleich dieser beiden Beziehungen zu denken ist keineswegs unmöglich“47. Da Luther und die katholische Lehrtradition mit denselben Begriffen etwas Unterschiedliches bezeichnen, können sie nach Pesch gar „nicht Ja und Nein zur selben Frage sein“48. Oder, wie er gleich zu Beginn seiner Darlegungen hervorhebt: „Zwischen dem Sünder, der nichts als Sünder ist, und dem Sünder, der zugleich gerecht ist, liegt ein Abgrund – genau jener Abgrund, der auch nach katholischer Lehre den Gerechtfertigten vom Nicht-Gerechtfertigten trennt.“49 Bedenkenswert ist auch der Versuch Peschs, im Anschluss an Johann Baptist Metz die Lutherische Formel 42 Vgl. ebd., 426f. 43 Vgl. Guido Bausenhart, Simul iustus et peccator. Zum römischen Einspruch gegen die „Gemeinsame Erklärung zwischen der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre“, in: Catholica 53 (1999), 122–141. 44 Vgl. Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, hg. von Theodor Schneider und Gunther Wenz (Dialog der Kirchen 11), Freiburg i. Br. – Göttingen 2001. 45 Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 212–226: „Wenn wir auf uns selbst schauen“. 46 Vgl. ebd., 217f. sowie ebd., 219. 47 Ebd., 218. 48 Ebd. 49 Ebd., 215.

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ins Heute zu übersetzen: „gläubig und glaubenslos zugleich“.50 Der Unglaube ist „die dunkle andere Möglichkeit, der der Glaube nie ein für allemal hinter sich bringt, darum auch gedanklich nie ein für allemal einholt, von der er sich darum immer neu ablösen muß, um er selbst zu werden und zu sein.“51 2.7 Rechtfertigung und Freiheit Ich möchte allerdings nicht verschweigen, dass ich mit Luthers Aussagen vom „versklavten Willen“, wie er sie in seiner gleichnamigen Schrift gegen Erasmus entwickelt hat, und mit seiner maßlosen Polemik gegen den Humanisten Probleme habe. Es fällt mir nicht schwer, die von Luther in der Heidelberger Disputation bezogene52 und danach in seiner „Assertio“ gegen die Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“ verschärfte Position53 als Ausdruck für die von ihm vertretene absolute Notwendigkeit der Gnade Gottes zu verstehen. Aber warum kann er dann nicht den Verständigungsversuch des Erasmus akzeptieren, der in seiner Schrift vom freien Willen dieses ja in keiner Weise bestreitet, sondern im Gegenteil bejaht? Denn Erasmus vertritt keineswegs die Auffassung von Freiheit im Hinblick auf die Erlangung des ewigen Heils, die Otto Hermann Pesch als „autonome Freiheit des Menschen Gott gegenüber“ bezeichnet und von der er zu Recht sagt, dass „sie in der Tradition nie vertreten worden ist.“54 Pesch zitiert, um Luthers harsche Ablehnung der erasmischen Position verständlich zu machen, eine „Formel“ aus „De libero arbitrio“, die er anscheinend für „einen humanistischen Freiheitsbegriff“55 hält: „Unter Entscheidungsfreiheit (liberum arbitrium) verstehen wir an dieser Stelle die Kraft des menschlichen Willens, durch die sich der Mensch dem zuwenden kann, was zum ewigen Heile führt, oder sich davon abwenden kann.“56 An dieser Übersetzung erscheint die Wieder50 Ebd., 226. 51 Ebd. 52 Vgl. Martin Luther, Disputatio Heidelbergae habita, These 13, in: Martin Luther, Studienausgabe, hg. von Hans-Ulrich Delius, Bd. 1, Berlin 1979, 205. 53 Vgl. Martin Luther, Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum, Art. 36, in: WA 7, 142–149. 54 Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 208. In der dritten Auflage schränkt Pesch gegenüber der ersten ein, Erasmus referiere nur und behaupte nicht. Vgl. auch ebd. 209 Anm. 39 den Hinweis auf die neuere Erasmusforschung. 55 Ebd. 56 Ebd. Im lateinischen Original lautet das Zitat: „Porro liberum arbitrium hoc loco sentimus vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam

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gabe von „vis“ mit „Kraft“ zwar selbstverständlich, sie ist jedoch nicht ganz unproblematisch. Denn mit Kraft verbindet man einen Vollzug, einen „Kraftakt“, während hier eher ein „Vermögen“ gemeint ist, was im Lateinischen ebenfalls mit „vis“ bezeichnet werden kann. Von diesem Vermögen sagt Erasmus wenig später, dass es durch die Erbsünde geschwächt sei, weshalb sich der Mensch nicht aus eigenen Stücken auf Gott zu bewegen könne.57 Der freie Wille ist daher auch für Erasmus im Hinblick auf das Heil keineswegs „autonom“. Erasmus beschreibt die Aufgabe des menschlichen Willens vielmehr als verdankte Freiheit, die sich zur göttlichen Gnade verhält wie die Zweit- zur Erstursache,58 und illustriert dies mit dem einprägsamen Bild eines Kindes, das noch nicht allein laufen kann, welchem der Vater einen Apfel zeigt. Das Kind würde bei dem Versuch, an den Apfel zu kommen, straucheln, wenn der Vater es nicht hielte und seine Schritte lenkte. So gelangt es zu dem Apfel, den der Vater ihm schenkt als Lohn für seine Mühen. „Das Kind hätte sich nicht aufrichten können, wenn der Vater es nicht gestützt hätte, es hätte den Apfel nicht gesehen, wenn der Vater ihn ihm nicht gezeigt hätte, es hätte nicht vorankommen können, wenn der Vater seine kraftlosen Schritte nicht ständig unterstützt hätte, es hätte den Apfel nicht erreicht, wenn ihn der Vater ihm nicht in die Hand gegeben hätte. Was kann sich das Kind zurechnen? Und doch hat es nicht nichts getan, aber es hat auch nichts, dessen es sich als seiner eigenen Kräfte rühmen könnte, da es sich vollkommen dem Vater verdankt.“59 Für ein an die traditionelle Unterscheidung von Erst- und Zweitursachen gewöhntes katholisches Denken erscheint das Insistieren Luthers auf die Alleinwirksamkeit Gottes im Akt der Rechtfertigung ebenso problematisch wie sein Herausstreichen der Freiheit des gerechtfertigten Menschen. Dass beides zusammengeht, und dass darin das Neue an beziehungsweise die Neuzeitlichkeit von Luthers Position besteht, hat Karlheinz Ruhstorfer herausgearbeitet. Luther denkt sowohl den göttlichen als auch den menschlichen Willen als erstursächlich und stellt deshalb die traditionelle Zuordnung, wie sie auch bei Erasmus zu finden ist, infrage: „Gnade und Freiheit salutem, aut ab iisdem avertere.“ Desiderius Erasmus Roterodamus, De libero arbitrio diatribe sive collatio, hg. von Johannes von Walter (Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 8), Leipzig 1935, 18, 7–10. 57 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio (wie Anm. 56), 21f. 58 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio (wie Anm. 56), 82f. Die Position des Erasmus entspricht damit letztlich der des Thomas von Aquin, wie Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 207, sie vorstellt. 59 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio (wie Anm. 56), 84, 5–11.

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sind nicht mehr auf zwei radikal unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln und ihr Verhältnis kann mithin nicht mehr als das von Erst- zu Zweitursache beschrieben werden. Göttlicher und menschlicher Wille werden als auf einer Ebene befindlich vorgestellt, und deshalb kann nur einer von beiden bestehen. An die Stelle des hypothetischen Verhältnisses von Ursache und Wirkung ist die disjunktive Wechselwirkung getreten: entweder Gnade oder Freiheit.“60 Das bedeutet jedoch nicht, dass Luther die Freiheit des Menschen geringachtet. Seine Einsicht in den disjunktiven Charakter des Verhältnisses von Gnade und Freiheit führt im Gegenteil „zur neuartigen ‚Freiheit eines Christenmenschen‘. Der Christi weiß sich gerade befreit von der Notwendigkeit, sich selbst rechtfertigen zu müssen. Frei, als Frucht seiner vollzogenen Rechtfertigung kann er und soll er gute Werke verrichten.“61 Von den sogenannten reformatorischen Hauptschriften Luthers aus dem Jahre 1520 ist es wohl der „Tractatus de libertate christiana“ beziehungsweise in gekürzter deutscher Übersetzung die Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“62, die heute noch unmittelbar anspricht. Auch abgesehen von den Klagen über die kirchlichen Zustände der Zeit und den Forderungen nach Reform, die sie mit den beiden anderen Hauptschriften „An den christlichen Adel der deutschen Nation von des christlichen Standes Besserung“63 und „De captivitate Babylonica ecclesiae“64 teilt, wird hier ein überzeugendes Plädoyer für die befreiende Kraft des christlichen Glaubens gehalten, der zu selbstloser Liebe befähigt.65 Luther gelingt dies in plastischer Sprache und rhetorisch geschickt,66 indem er unter anderem traditionelle 60 Karlheinz Ruhstorfer, Der Gnadenstreit „de auxiliis“ im Kontext, in: Dominik Burkard – Tanja Thanner (Hg.), Der Jansenismus – eine ‚katholische Häresie‘? Das Ringen um Gnade, Rechtfertigung und die Autorität Augustins in der frühen Neuzeit (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 159), Münster 2014, 57–69, hier 62f. Zu dem auf Kant zurückgehenden Gebrauch der Begriffe „Disjunktion“ und „Wechselwirkung“ vgl. Karlheinz Ruhstorfer, Das Prinzip ignatianischen Denkens. Zum geschichtlichen Ort der „Geistlichen Übungen“ des Ignatius von Loyola (Freiburger theologische Studien 161), Freiburg – Basel – Wien 1998, 23f. Zwar hat auch Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 206f., die bei Luther wahrzunehmende Spannung festgestellt, bietet dafür jedoch keine Erklärung. 61 Ruhstorfer, Gnadenstreit (wie Anm. 60), 63. 62 Synoptisch einander gegenübergestellt in Luther, Studienausgabe (wie Anm. 16), (260) 263–309. 63 Vgl. ebd., (89) 96–167. 64 Vgl. ebd., (168) 172–259. 65 Vgl. vor allem Luther, Von der Freiheit, „Czu(m) achten“ – „Czu(m) dreytzehenden“; Luther, Studienausgabe (wie Anm. 16), 271–279. 66 Zu Luthers Rhetorik vgl. Birgit Stolt, Studien zu Luthers Freiheitstraktat mit besonderer Rücksicht auf das Verhältnis der lateinischen und der deutschen Fassung zu einander und

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Motive wie das der Vergöttlichung des Menschen aufgrund der Menschwerdung Gottes („fro(e)lich wechßel und streytt“67) oder das der christlichen Seele als Braut Christi68 einsetzt. Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass es zwischen dem Freiheitstraktat Luthers und den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola (1491–1556), den man gemeinhin mit der Gegenreformation verbindet, trotz aller Unterschiede doch wesentliche Übereinstimmungen gibt, etwa was das disjunktive Verhältnis von Freiheit und Gnade und die daraus resultierende Sicht der von Gott begnadeten menschlichen Freiheit angeht.69 Man vergleiche nur die den Freiheitstraktat eröffnende Antithese der Freiheit und Dienstbarkeit eines Christenmenschen70 mit der im „Prinzip und Fundament“ der Exerzitien herausgestellten „Indifferenz“ gegenüber den geschaffenen Dingen.71

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71

die Stilmittel der Rhetorik (Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholmer Germanistische Forschungen 6), Stockholm 1969; dies., Martin Luthers Rhetorik des Herzens (UTB 2141), Tübingen 2000. Ebd., 277,1. Zum Motiv vgl. Albert Franz, Reinhard Flogaus, Peter Fonk, Art. Vergöttlichung, in: LThK³ 10 (2001), 664–667. Vgl. Luther, Studienausgabe (wie Anm. 16), 275,19–277,17. Vgl. Marianne HeimbachSteins, Art. Brautsymbolik II. Brautmystik, in: LThK³ 2 (1994), 665f. Vgl. Ruhstorfer, Prinzip (wie Anm. 60), 372–388, bes. 380–382. „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr / u(o)ber alle ding / vnd niemandt vnterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan.“ Luther, Studienausgabe (wie Anm. 16), 265, 6–9. Zur Antithese als bevorzugtem Gliederungsprinzip des Freiheitstraktates vgl. Stolt, Studien (wie Anm. 66), 91f. Vgl. Ignatius de Loyola, Exercitia spiritualia, hg. von Iosephus Calveras und Candidus de Dalmases (Monumenta Historica Societatis Iesu 100), Rom 1969, 164–167. Deutsche Übersetzung: „Der Mensch ist geschaffen dazu hin, Gott Unseren Herrn zu loben, Ihn zu verehren und Ihm zu dienen, und so seine Seele zu retten. Die andern Dinge auf Erden sind zum Menschen hin geschaffen, und um ihm bei der Verfolgung seines Zieles zu helfen, zu dem hin er geschaffen ist. Hieraus folgt, daß der Mensch sie soweit zu gebrauchen hat, als sie ihm zu seinem Ziele hin helfen, und soweit zu lassen, als sie ihn daran hindern. Darum ist es notwendig, uns allen geschaffenen Dingen gegenüber gleichmütig (indifferentes) zu machen, überall dort, wo dies der Freiheit unseres Wahlvermögens eingeräumt und nicht verboten ist, dergestalt, daß wir von unserer Seite Gesundheit nicht mehr als Krankheit begehren, Reichtum nicht mehr als Armut, Ehre nicht mehr als Ehrlosigkeit, langes Leben nicht mehr als kurzes, und dementsprechend in allen übrigen Dingen, einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem wir geschaffen sind.“ Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, übertragen von Hans Urs von Balthasar (Sigillum 1), Einsiedeln 51965, 15.

Peter Walter, Martin Luther aus römisch-katholischer Perspektive

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3.

Konsequenzen für das ökumenische Gespräch

Karlheinz Ruhstorfer fordert aus der Einsicht heraus, dass die neuzeitliche Philosophie der Freiheit aus dem von Luther angeregten protestantischen Denken entsprungen sei, eine ökumenische Verständigung über die Rechtfertigungslehre, die nicht nur nach rückwärts auf die Lehrverurteilungen der Reformationszeit blickt, sondern auch die weitere Entwicklung hin zur neuzeitlichen Freiheitsphilosophie einbezieht.72 Letztere ist, wie nicht zuletzt das Werk von Thomas Pröpper zeigt,73 durchaus in der katholischen Theologie angekommen. Das kirchliche Lehramt tut sich freilich, trotz des 2. Vatikanischen Konzils,74 noch schwer damit. Der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen betont in seiner jüngsten Veröffentlichung, einer von allen Mitgliedern gemeinsam mitgetragenen Erklärung im Blick auf das Jahr 2017, „dass ökumenische Reflexionen nicht einfachhin einen Brückenschlag von heute ins 16. Jahrhundert (und umgekehrt) wagen können, ohne die Entwicklungen in den Jahrhunderten dazwischen zu beachten.“75 Als Beispiel wird die Frage genannt, „wie die Kirchen in ihrer Selbstorganisation auf die Entwicklungen und Werte der Moderne reagieren.“76 Auch wenn das Papier bei den konkreten Aspekten („konsequente Gewaltenteilung, Fragen der Partizipation und Geschlechtergerechtigkeit, der Menschenrechte“77) beide Konfessionen zu weiteren Reflexionen genötigt sieht, kann nicht bestritten werden, dass die katholische hier einen größeren Nachholbedarf hat. Die Art und Weise, wie Papst Franziskus Probleme angeht, lässt hoffen, dass die

72 Vgl. Karlheinz Ruhstorfer, Sola gratia. Der Streit um die Gnade im 16. Jahrhundert, seine Auswirkungen für die Neuzeit und seine Virulenz in der Gegenwart, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 126 (2004), 257–268, hier 266–268. 73 Vgl. vor allem Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, 2 Bde., Freiburg – Basel – Wien 2011. Für seinen freiheitstheoretischen Ansatz spielt Luther freilich keine besondere Rolle, ebenso wenig wie für Karl Rahner oder Walter Kasper, deren Impulse Pröpper aufnimmt und in eigenständiger Weise weiterführt. 74 Vgl. Peter Walter, Der Geist der Freiheit und der Geist des Konzils. Zur Rezeption der Neuzeit durch das II. Vatikanum, in: Christlichkeit der Neuzeit – Neuzeitlichkeit des Christentums. Zum Verhältnis von freiheitlichem Denken und christlichem Glauben, hg. von Wilhelm Metz und Karlheinz Ruhstorfer, Paderborn – München – Wien – Zürich 2008, 193–204. 75 Reformation 1517–2017. Ökumenische Perspektiven. Für den Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen hg. von Dorothea Sattler und Volker Leppin (Dialog der Kirchen 16), Freiburg i. Br. – Göttingen 2014, 67. 76 Ebd. 77 Ebd., 67f.

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„kritische Zeitgenossenschaft“78, zu der das 2. Vaticanum die römischkatholische Kirche befähigen wollte, konsequent verwirklicht wird. Dann tut sie sich vielleicht auch leichter, Martin Luther positiv zu würdigen. Abstract In the course of the 20th century, Catholic historiography has gradually overcome the purely negative image of Martin Luther shaped by controversial theology. The reformer’s religious genius has been recognized, and Catholic systematic theology has finally acknowledged him as an interlocutor. The author gives a personal account of how Luther has stimulated his thinking, even if he does not agree with him in all points. He touches upon sacramental theology, ecclesiology and ecclesiastical ministry, Luther’s theocentrism, his concept of faith, his relational ontology and his view on justification and freedom. He concludes with some reflections on the consequences for ecumenical dialogue.

78 Vgl. dazu Ansgar Kreutzer, Kritische Zeitgenossenschaft. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes modernisierungstheoretisch gedeutet und systematisch-theologisch entfaltet (Innsbrucker theologische Studien 75), Innsbruck – Wien 2006.

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Impulse für die Praxis

Martin Luthers Katechismen Probleme – Potentiale – Impulse Martin Rothgangel Schon seit nahezu vier Jahrzehnten herrscht in religionspädagogischer Theorie und Praxis ein weitgehendes Schweigen gegenüber den Katechismen Martin Luthers. Abgesehen von vereinzelten Ausnahmen, darunter drei 1 2 praktische Arbeitshilfen , haben sich neben Wolfgang Grünberg , Christoph 3 4 Bizer und Ingrid Schoberth nur wenige ReligionspädagogInnen eingehender mit dem Kleinen Katechismus (im Folgenden: KK) auseinandergesetzt. Deshalb wird in einem ersten Schritt danach gefragt, welche Probleme zum gegenwärtigen Schweigen hinsichtlich des KK geführt haben. Im Anschluss daran werden gleichermaßen Potentiale des KK herausgearbeitet. Probleme wie Potentiale sind eine entscheidende Voraussetzung dafür, um Impulse für eine gegenwärtige, religionspädagogisch verantwortete Katechismuserstellung geben zu können. 1

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Schmidt, L. (Hg.), Hören und lernen. Ein Arbeits- und Lesebuch zum Kleinen Katechismus Luthers. Gütersloh 1984; Denk mal nach … mit Luther: der kleine Katechismus – heute gesagt. Hg. v. der Kirchenkanzlei der EKU, Gütersloh 1989; Schoberth, I., Religionsunterricht mit Luthers Katechismus. Sekundarstufe I, Göttingen 2006. Grünberg, W., Lernen im Rhythmus des Alltags. Luthers Kleiner Katechismus nach 451 Jahren. Anmerkungen zu einem theologisch-pädagogischen Konzept, in: Pastoraltheologie 70 (1981), 258–274; O. Meyer/W. Grünberg, Auf dem Weg zu einem Katechismus für Jugendliche, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 65 (1976), 422–435; W. Grünberg: Bildung und Frömmigkeit. Zur Geschichte der Handbücher – unter besonderer Berücksichtigung von Luthers Enchiridion von 1529, in: Pastoraltheologie 73 (1984), 354–367. Vgl. bes. Bizer, C., Luthers Kleiner Katechismus, im Blick auf den Konfirmandenunterricht aufs Neue gelesen, in: Dressler, B./Klie, Th./Mork, C. (Hg.), Konfirmandenunterricht. Didaktik und Inszenierung, Hannover 2001, 88–130. Vgl. v.a. Schoberth, I., Glauben-lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, Stuttgart 1998.

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DOI 10.2364/3846999776

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Probleme

1.1 Historische Fehlurteile Luthers Luther ging davon aus, dass der Dekalog seit der frühen Christenheit eine zentrale Rolle spielte. Dementsprechend ordnet er den Dekalog den Hauptstücken zu und nicht das Gebot der Nächsten- und Gottesliebe. Demgegenüber ist jedoch festzustellen, dass der Dekalog erst im Verlauf des 13. Jahrhunderts im Kontext der Beichtpraxis populär wurde. Auch in einem weiteren Punkt liegt Luther aus der Perspektive heutiger theologischer Forschung historisch nicht richtig: Er ist der Ansicht, dass sich der Text des Credos seit den Kirchenvätern nicht mehr geändert hätte und hebt dessen unveränderte Textgestalt hervor. Aus didaktischer wie theologischer Perspektive ist es jedoch bemerkenswert, dass das Credo nicht einfach in fertiger Gestalt vorgelegen hat. Beginnend mit unterschiedlichen Formulierungen innerhalb neutestamentlicher Gemeinden über das römische Taufsymbol weist dieses eine relativ lange und vielfältige Genese auf. Damit gewinnt theologisch der Entstehungsprozess an Gewicht gegenüber dem feststehenden Endprodukt sowie didaktisch der Lernprozess im Vergleich zum Memorieren des Endprodukts. 1.2 Soziologische Relativierung als Kehrseite der Lebensrelevanz Der nächste Problempunkt hinsichtlich einer heutigen Rezeption ist unmittelbar mit einer Stärke des KK verbunden. Der KK ist nicht nur ein Lehr6 und Lernbuch, sondern gerade auch ein Lebensbuch. Daraus resultiert nach H.-J. Fraas eine problematische Kehrseite: „Mit dem Anspruch eines Lebensbuchs gerät der KK in die Gefahr, soziologisch relativiert zu werden. Tatsächlich ist er auf einen bestimmten Lebenskreis, ein bestimmtes patriarchalisches Familienbild zugeschnitten, wie das im 16. Jh. nicht anders erwartet werden kann. Die Sicht wird aber noch enger und damit problematischer durch K. Bornhäusers Beobachtung, dass dieser Patriarchalismus eine spezifisch bäuerliche Prägung habe. Bornhäuser bezeichnet den KK als ‚Volks- und Bauern5

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Die Ausführungen dieses Teils sind eine gekürzte und aktualisierte Version von Rothgangel, M., Luthers Kleiner Katechismus – Probleme der Unterweisung, in: Dennerlein, N./Grünwaldt, K./Rothgangel, M.: Die Gegenwartsbedeutung der Katechismen Martin Luthers, Gütersloh 2005, 36–56. In diesem Sinne sucht C. Bizer, a.a.O., vom Anhang des KK her dessen Relevanz zu erweisen.

Martin Rothgangel, Martin Luthers Katechismen

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büchlein‘, ein ‚Buch für das Dorf, für das sächsische Bauerndorf zu Luthers Tagen‘. Es ist offensichtlich, dass besonders im 1. Artikel der Hausvater als wohlhabender Bauer vorgestellt ist, dass ländliche Verhältnisse und, was schwerer wiegt, ein gewisser Besitz vorausgesetzt werden.“7

Befremdend und beredt zugleich sind die Konsequenzen, die Bornhäuser daraus zieht. Seines Erachtens müssen derartige bäuerliche Verhältnisse wieder hergestellt werden, wenn der KK seine Bedeutung behalten soll: „Man hat wohl gesagt, weil der Kleine Katechismus Luthers so ganz auf ländliche Verhältnisse eingestellt sei, während die Mehrzahl der Deutschen in Städten wohne, müsse man neben ihm einen Stadtkatechismus schaffen, der die Verhältnisse der Stadt berücksichtige. Aber man versuche es einmal, einen christlichen Katechismus zu schreiben, der auf die Wohnungsverhältnisse von Tausenden von Bewohnern unserer Großund Weltstädte zutrifft. Man wird den Versuch bald aufgeben. Denn es ist nicht möglich. Nicht Luthers Katechismus ist zu ändern oder gar zu beseitigen, sondern Verhältnisse sind zu schaffen, für die er wieder paßt oder doch wenigstens, wenn auch durch einige Vermittlung hindurch, verständlich und anwendbar gemacht werden kann.“8

Natürlich spiegeln Bornhäusers Präferenzen für das deutsche Bauernhaus deutlich Anschauungen wieder, wie sie zur Abfassungszeit seiner Publikation um 1933 populär waren. Ungeachtet dessen tritt mit diesem pointierten Beispiel der zweifellos bestehende Zusammenhang von Lebensform einerseits und Inhalt des Kleinen Katechismus andererseits deutlich hervor. Damit wird in aller Radikalität die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern der KK für die völlig veränderten Lebensformen im 21. Jahrundert relevant ist und welche Konsequenzen daraus für eine Revision zu ziehen sind. 1.3 Strafmaßnahmen und ‚einheitliche‘ Lebensform Luther hatte sehr ‚handfeste‘ Vorstellungen davon, wie Obrigkeit und Eltern ihre Macht in rechter Weise auszuüben hätten. Dies wird in der Vorrede zum KK an dem Punkt deutlich, wo Luther auf diejenigen eingeht, die nicht lernen wollen. Ohne mögliche andere Motive, wie eine Abneigung gegen das Memorieren, in Betracht zu ziehen, setzt Luther diese Unlust am Lernen 7 8

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Fraas, H.-J., Katechismustradition. Luthers kleiner Katechismus in Kirche und Schule (Arbeiten zur Pastoraltheologie 7), Göttingen 1971, 24. Bornhäuser, K., Der Ursinn des Kleinen Katechismus Dr. Martin Luthers, Gütersloh 1933, 167 (Hervorhebung im Original).

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mit Unlust am Christentum gleich. Er fordert drastische Konsequenzen: Solche Personen sollen „nicht zum Sakrament zugelassen werden, kein Kind aus der Taufe heben, auch kein Stück der christlichen Freiheit in Anspruch nehmen, sondern einfach den Papst und seinen Beamten, dazu dem Teufel 10 selbst überlassen bleiben.“ Damit aber nicht genug: „Dazu sollen ihnen die Eltern und Hausherren Essen und Trinken versagen und sie anzeigen, dass der Fürst solche hohen Leute aus dem Land jagen möge usw. Denn obwohl man niemand zum Glauben zwingen kann oder soll, so soll man doch die Leute dahin weisen und bringen, dass sie wissen, was Recht und Unrecht ist dort, wo sie wohnen, sich nähren und leben wollen. Denn wer in einer Stadt wohnen will, der soll das Stadtrecht kennen und halten, dass er für sich in Anspruch nehmen will, gleichgültig, ob er glaubt oder im Herzen ein Schalk oder Spitzbube ist.“11

Mit diesen Ausführungen wird deutlich, dass Luther für den KK zumindest dem äußeren Verhalten nach eine einheitliche, christlich geprägte Lebensweise voraussetzt. Um diese Einheitlichkeit, diese konfessionelle Homogenität zu erhalten, empfiehlt er sogar für Nicht-Lernwillige die Ausweisung aus dem jeweiligen Ort. Dieser gesellschaftliche Hintergrund für das Lernen des KK bildet eine Lebensform, die gegenwärtigen Umständen – zugespitzt formuliert – diametral entgegengesetzt ist. Die von Luther geforderte Ausweisung von Personen, die den Katechismus nicht lernen wollen, ist unter den heutigen gesellschaftlichen Vorzeichen von ,Individualisierung‘ und ,Pluralisierung‘ reiner Anachronismus und widerstreitet schlicht der Religionsfreiheit. Vor diesem Hintergrund lautet vergleichbar zum obigen Punkt eine entscheidende und komplexe Frage, welche Konsequenzen aus diesen unhintergehbaren, pluralisierten Lebensformen des 21. Jahrhunderts für eine Revision des Kleinen Katechismus abzuleiten sind. 1.4 Memorierverfahren und ‚einheitlicher‘ Katechismusinhalt Eine methodische Problematik wurde schon früh moniert: das Auswendiglernen. Dabei ist zu bedenken, dass Luthers erschreckende Erfahrungen während der Visitation dazu geführt haben, dass er seine Arbeit am Großen Katechis9

Meyer, J., Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, Gütersloh 1929, 136. 10 Vorrede KK, in: BSLK 501–507, daraus sprachlich modernisiert die folgenden Zitate. 11 Vorrede KK.

Martin Rothgangel, Martin Luthers Katechismen

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mus unterbrach, um daneben noch eine memorierbare Form zu verfassen. Letzteres wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, dass man sich im Vergleich zu heute eine gänzlich andere Bildungssituation vorstellen muss: Die 12 Analphabetenquote um 1520 lag bei ca. 90 % der Bevölkerung. Die Katechismuspredigten, die der Große Katechismus enthält, wurden aufgrund der Visitationserlebnisse also durch eine „Zusammenstellung knapper memorier13 barer Formulierungen“ ergänzt, damit diese von großen Teilen der Bevölkerung rezipiert werden können. Zu diesem Zweck war es nach Luthers Ansicht ganz wesentlich, dass immer die gleiche Textform verwendet wird. Luther 14 begründet diese Forderung psychologisch und historisch. Unterschiedliche Textfassungen und Erklärungen sind zwar geeignet für gelehrte und verständige Menschen, anders ist es jedoch bei dem – wie Luther schreibt – „junge(n) 15 und alber(n) Volk“ . Diese Kinder und Ungebildeten muss man mit einer ganz bestimmten Textversion unterrichten. Gleichwohl hatte Luther insofern kein stupides Memorieren im Sinn, als er den Katechismus aufs Engste mit dem alltäglichen und kirchlichen Leben verwoben sah. Anschaulich ist bei W. Grünberg beschrieben, wie sich unter dem Vorsitz des Hausvaters in der Hausgemeinschaft ein Katechismuslernen 16 im Rhythmus des Alltags vollzogen haben könnte. Darüber hinaus setzte Luther bei seinen Adressaten das Erleben z.B. von Katechismuspredigten voraus. Diese Bedingungen sind gegenwärtig in ganz verschiedener Hinsicht nicht mehr gegeben. Bei alledem besteht auch kein Ausweg dahingehend, dass man das Memorieren durch eine ‚moderne Pädagogik‘ ersetzt und allein die pädagogischen Momente von Luther beibehält, die man als weiterführend erachtet, wie z.B. seine Verzahnung von Lehre und Leben. Man würde dabei gewissermaßen auf halbem Wege stehen bleiben: Die jetzt vorliegende Textgestalt der Erklärungen ist wie gesagt auch dadurch bedingt, dass Luther den KK speziell zum Auswendiglernen verfasste. Dies ist ihm, mit der ihm eigenen Sprachgenialität, vorzüglich gelungen. Hätte Luther aber moderne LehrLernmethoden oder gar die digitalen Möglichkeiten von heute gekannt, 12 Vgl. Grünberg, Bildung und Frömmigkeit, 357. 13 Meyer, a.a.O., 125. 14 Vgl. Meyer, a.a.O., 133. Historisch versucht Luther sein Anliegen durch die Behauptung zu unterstreichen, dass auch die Kirchenväter der alten Kirche die Hauptstücke alle auf eine Weise gebraucht hätten, ohne diese zu verändern. Die Problematik dieses Argumentes wurde bereits oben erwähnt. 15 Vorrede KK. 16 Grünberg, W., Lernen im Rhythmus des Alltags, 266ff.

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dann würden seine Erklärungen im KK kaum eine für das Memorieren angepasste Textgestalt besitzen. 1.5 Problematische Wirkungsgeschichte Die genannten Problempunkte sind keineswegs nur theoretischer Natur, vielmehr zeigen exemplarisch ausgewählte Aspekte aus der Wirkungsgeschichte, dass diese in der katechetischen Praxis zu verschiedenen Zeiten immer wieder hervortraten. Obwohl die Katechismen Luthers den Status von Bekenntnisschriften erhielten und allein dieser Vorgang eine sehr hohe Wertschätzung zum Ausdruck bringt, setzten schon Ende des 16. Jahrhunderts Klagen über das Memorieren des KK ein. Eugen Paul weist u.a. auf 17 die katholisch wie evangelisch verbreiteten Katechismusschwänke hin, die das bei Katechismus-Examinationen „zutagetretende Wissens- und Interessensgefälle zwischen Fragendem und Befragtem [demonstrieren], so z.B., wenn ein Bauer dem nach der Zahl der Sakramente fragenden Jesuiten antwortet, dass wisse er genauso wenig, wie der Jesuit wisse, wie viele Zinken die Egge habe. Oder, wenn ein Bauer, der im Beichtstuhl das Vaterunser hersagen soll, dem Priester antwortet, wenn er das lernen solle, dann müsse der Beichtvater auch lernen, wie man einen Strohhut flechte; oder er gibt gar die Antwort: nicht er, sondern der Beichtvater werde für das ,Vaterunserkennen‘ bezahlt: Alltagswissen hier (Pfarrer/Theologe) und dort (Bauer)! Solche Schwänke signalisieren demnach beträchtliche Verständigungsprobleme, denen ge18 nauer nachzugehen wäre.“

Dieses ‚Auf und Ab‘ in der Wertschätzung des KK setzte sich fort, wie durch einen kurzen Blick auf Aufklärung sowie Restauration dargelegt werden kann: Die Diskussion in der Aufklärung drehte sich entscheidend um die ‚Maieutik‘, die sokratische Gesprächsführung. Dementsprechend wurde insbesondere das Auswendiglernen im Katechismusunterricht kritisch hinterfragt. Im Zuge der restaurativen Tendenzen, nach der gescheiterten März-Revolution, gelangte auch der KK zu neuem Ansehen. So bestand „das äußere Ergebnis der Restauration […] darin, dass seit etwa 1850 in allen lutherischen Landeskirchen der KK wieder in seine alten Rechte ein19 gesetzt“ war. 17 Paul, E., Geschichte der christlichen Erziehung, Bd. 2, Freiburg 1995, bes. 66–86, 163– 176. 18 Ebd., 176 (ohne die Hervorhebung im Original). 19 Fraas, a.a.O., 195.

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Jedoch wurde in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erneut eine deutliche ‚Katechismusnot‘ empfunden. So stellt Friedrich Sattig im Jahre 1897 Theorie und Praxis des Katechismusunterrichts in Schlesien prinzipiell in Frage: „Die Katechismusstunde wurde zur ödesten Stunde, recht dazu angetan, den Jungen allen Geschmack an der Religion zu verleiden. Eingepaukte Definitionen wurden hergebetet, Sprüche als Belegstellen gedankenlos aufgesagt, nur der Verstand, nicht das Herz in Anspruch genommen und drum die persönlich wie religiös wertvollsten Gedanken mit derselben kalten Objektivität von den Schülern wiedergegeben wie etwa die Teile des Alpensystems oder die Nebenflüsse der Donau. Geht dann der Junge aus der Schule, so glaubt er das alles zu können; das hat er ja alles gründlich eingepaukt bekommen und wörtlich herbeten müssen. Mit dem Christentum ist er fertig. Und es zeugt eigentlich nur von einem im Grunde recht gesunden Geschmack und Sinn, wenn er mit diesem 20 Christentum fertig sein will.“

Dementsprechend bündeln sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Anfragen an den KK. Die Argumente sind nicht unbedingt neu, sondern „seit der 21 Aufklärung, teilweise schon seit der Reformorthodoxie geläufig.“ Durch die Rezeption historisch-kritischer Forschung sowie psychologischer und pädagogischer Erkenntnisse wirkt diese Diskussion jedoch „gezielter, geball22 ter, formierter“ . Ungeachtet der genannten Kritikpunkte verständigten sich gegen Ende des Kaiserreiches die ReligionslehrerInnen mehrheitlich darauf, den Katechismus in der Schule zu belassen. Ernüchternd ist allerdings, dass „schließlich allein das Argument eine Rolle [spielt], dass der 23 Katechismus ein aktuell nicht zu ersetzendes religiöses Dokument sei.“ 20 Roggenkamp-Kaufmann, A., Religionspädagogik als "Praktische Theologie". Zur Entstehung der Religionspädagogik in Kaiserreich und Weimarer Republik (Arbeiten zur Praktischen Theologie 20), Leipzig 2001, 498f Anm. 98 (Hervorhebung im Original). 21 Fraas, a.a.O., 234. 22 Fraas, a.a.O., 235. 23 Roggenkamp-Kaufmann, a.a.O., 513. Bemerkenswert ist, dass in einer jüngeren Rezension ein vergleichbares Resümee gezogen wird: „Die evangelische Christenheit hat sich dem lutherischen Kleinen Katechismus weithin entfremdet. Theologiestudenten, Theologen, Pfarrer finden vielfach keinen Zugang mehr zu ihm. Nicht nur Konfirmanden tun sich schwer mit seiner Sprachform. Dennoch bleibt er bis auf weiteres unentbehrlich. Es gibt bisher keinen wirklich überzeugenden Versuch der Neugestaltung eines evangelischen Katechismus von der Knappheit und Qualität des kleinen lutherischen auf dem theologischen und didaktischen Niveau unserer Zeit.“ (Schmutzler, S., Rez.: Schmidt, L. (Hg.), Hören und lernen. Ein Arbeits- und Lesebuch zum Kleinen Katechismus Luthers. Gütersloh 1984, in: EvErz 41 (1989), 358–360, hier. 358).

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Grundsätzlich stellt sich an diesem Punkt die Frage, ob „es nicht gegen Luthers Absicht [ist], wenn eine Interpretationshilfe ihrerseits interpretationsbedürftig geworden ist und nun mit großem Kraftaufwand tradiert wer24 den muss.“ Schließlich wollte Luther „mit seinen Katechismen dem biblischen Wort dienen, wollte es den Menschen seiner Zeit konzentriert und 25 fundamental nahe bringen.“ Ein vorerst letzter breitenwirksamer Versuch, den KK zu beleben, kann im 20. Jahrhundert im Rahmen der Evangelischen Unterweisung gesehen werden – ein Versuch dessen Scheitern allerspätestens Ende der 1960er Jahre besiegelt war. Damit schließt sich der Kreis zu der eingangs getroffenen Feststellung, dass seit geraumer Zeit ein weitgehendes religionspädagogisches Schweigen gegenüber dem KK vorherrscht. 2.

Potentiale

Trotz des ‚Auf und Ab‘ über Jahrhunderte hinweg sind m.E. die genannten Probleme zu gravierend, um sich im 21. Jahrhundert für Religionsunterricht und Konfirmandenarbeit eine erneute Konjunktur des KK nach den Jahrzehnten des Schweigens wünschen zu können. Ungeachtet dessen sollte man nicht vorschnell den KK ad acta legen, sondern gleichermaßen dessen Potential wahrnehmen, weil man daraus für einen heutigen ‚Elementarkate26 chismus‘ in transfomierter Gestalt lernen kann. 2.1 Konzentration auf das Elementare Zu Recht wird eine beachtliche Leistung Luthers darin gesehen, dass er mit dem KK im Vergleich zur mittelalterlichen Tradition eine konsequente Stoffreduktion vorgenommen hat. So entfallen z.B. die ‚unevangelischen‘ Sakramente, die Sündengattungen und nach einigem Zögern auch das Ave 27 Maria. Seine Intention kann dementsprechend darin gesehen werden, dass er die in der alten Kirche vorherrschenden Lehrstücke in den Mittelpunkt stellen und die aus dem Mittelalter resultierende Stofffülle beseitigen möch24 Winkler, E., Luther und die gegenwärtige Katechetik, in: Die Christenlehre 32 (1979), 291–299, hier: 293. 25 Ebd. 26 Hier handelt es sich um einen Arbeitstitel, wie er gegenwärtig im Katechismusausschuss der VELKD verwendet wird. Alternativ wird im vorliegenden Beitrag auch von ‚Basics christlichen Glaubens‘ gesprochen. 27 Vgl. Fraas, a.a.O., 15.

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te. Ein Punkt wird in diesem Zusammenhang m.E. nicht ausreichend gewürdigt: Die von Luther ‚wiederentdeckte‘ Rechtfertigungslehre erhält von ihm keinen ausdrücklichen Platz im KK, sondern prägt den KK implizit. Das ist alles andere als selbstverständlich und unterstreicht, wie gezielt Luther die Stoffreduktion vornahm. Mit guten Gründen wird von H.-J. Fraas bis hin zu I. Schoberth die Nähe von Luthers KK zu didaktischen Elementarisierungsstrategien gesehen 29 und erörtert. Die von Luther für seine Zeit so brillant durchgeführte Elementarisierung stellt eine bleibende Aufgabe dar. Ähnlich konsequent wie von Luther selbst sind dabei die jeweiligen Adressaten und ihre Lebenswelt zu bedenken. Angesichts der zunehmenden Pluralisierung stellt sich jedoch die Frage, ob die Erstellung eines einzigen Kleinen Katechismus ausreichend ist oder wie man anderweitig diese Herausforderung produktiv aufgreifen 30 kann. 2.2 Outputorientierung und ‚Basics‘ christlichen Glaubens Angesichts der religionspädagogisch ambivalenten Diskussion um Bildungsstandards, Kompetenzen, Evaluationen usw. ist es interessant zu sehen, dass Luther bei den Kirchenvisitationen offensichtlich bestimmte ‚Outputs‘ erwartete und davon enttäuscht die Abfassung des Großen Katechismus unterbrach um den KK zu schreiben. Es geht mit der Hervorhebung dieses Punkts keineswegs darum, religiöse Bildung auf überprüfbare oder gar memorierbare Inhalte zu reduzieren. Gleichwohl ist es umgekehrt von mündigen Christinnen und Christen erwartbar, dass sie bestimmte ‚Basics‘ des christlichen Glaubens kennen, verstehen, kommunizieren und gestalten können. Von daher wäre es wünschenswert, dass erstens eine Verständigung über sogenannte ‚Minimalstandards‘ christlichen Glaubens erfolgt, wohlwissend, dass es sich hier nur um den operationalisierbaren Teilbereich handelt und gerade das grundlegende Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch ein unverfügbares Werk des Heiligen Geistes ist. Zweitens wäre bezogen auf diese Minimalstandards ein ‚Kerncurriculum‘ festzulegen, in dem vergleichbar zum Kleinen Katechismus diese ‚Basics‘ christlichen Glaubens enthalten sind. Die grundsätzliche Unverfügbarkeit des Glaubens28 Vgl. ebd., 14. 29 Vgl. Fraas, a.a.O., 318ff; Schoberth, a.a.O., 139ff. 30 Angeregt durch mündliche Beiträge von Manfred Pirner sei plakativ festgehalten, dass gegenwärtige kirchliche Bildungsarbeit eher im Sinne Melanchthons gebildete ,ZEITLeserInnen‘ im Blick hat, nicht aber im Sinne von Luthers KK auch ,BILD-LeserInnen‘.

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geschehens sowie auch die Prozesshaftigkeit von Bildung sollte nicht dazu führen, dass man jegliche ‚Wegbereitung‘ (Dietrich Bonhoeffer) unterlässt und keine grundlegende Wegmarkierungen vergleichbar zu Luthers Kleinem Katechismus setzt. 2.3 Interdependenz von Form und Inhalt Schon seit Jahrzehnten wird mit guten Gründen das Memorieren nicht mehr wie in früheren Zeiten als eine vorherrschende Lernmethode praktiziert. Dabei ist dessen relativer Wert durchaus anzuerkennen und ist Memorieren auch im Rahmen religiöser Bildung in einem eingeschränkten Ausmaß sinnvoll. Richtet man seinen Blick auf einen für die Gegenwart zu entwickelnden ‚Elementarkatechismus‘, dann sind in jedem Fall gegenwärtige Lehr-Lernmethoden (wie z.B. das prozessorientierte Lernen) grundlegend. Der entscheidende Punkt ist jedoch an dieser Stelle ein anderer: Zu Luthers Zeiten war das Memorieren aufgrund der hohen Analphabetenquote eine naheliegende und verbreitete pädagogische Option. Vor diesem Hintergrund stellt es eine beachtliche Leistung Luthers dar, dass er eine für das Memorieren geeignete Textfassung erstellt. Gleiches gilt es auch gegenwärtig zu leisten: ‚Basics‘ christlichen Glaubens sind je nach favorisierter Methode oder bevorzugtem Medium (z.B. Handyapp) passend zu gestalten, es ist wie beim KK auf eine Stimmigkeit zwischen Form und Inhalt zu achten. 2.4 Passung zwischen Text und Lebenswelt Es wurde deutlich, dass Luther bei der Abfassung des KK auf vielfältige Weise die gesellschaftlichen Lebensumstände seiner Zeit im Blick hatte und allein aufgrund der völlig veränderten heutigen Lebenswelt grundlegende Änderungen des KK notwendig sind. Weil die Abfassung eines ‚zeitlos‘ gültigen KK nicht möglich ist und mangels Adressatenbezug unzureichend wäre, ist vergleichbar zum KK ein auf die gegenwärtige Lebenswelt bezogener ‚Elementarkatechismus‘ zu verfassen. Letztlich besteht das Potential des KK sowohl im konsequenten Bezug auf die damalige Lebenswelt, als auch durch die Einbindung in den Tagesablauf, wodurch er geradezu als ein ‚Lebensbuch‘ konzipiert ist. Der Lebensweltbezug ist jedoch leichter gefordert als realisiert: Moderne Gesellschaften sind u.a. durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, durch Pluralisierung und Individualisierung bestimmt. Der Lebensweltbezug ist damit ungleich schwieriger zu realisieren als zu Luthers Zeiten. Gleichwohl ist

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zu beachten: Auch die spätmittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Gesellschaft war alles andere als homogen und keineswegs nur durch Hausvater und ländliche Verhältnisse bestimmt. Kurz gesagt: Luther hat den Lebensweltbezug in exemplarischer Hinsicht vorgenommen. Auch in dieser Hinsicht kann sich ein ‚moderner Elementarkatechismus‘ am KK orientieren. 2.5 Existenzbewegung Ein weiterer Punkt wurde u.a. von Notger Slenczka differenziert herausgearbeitet: Er begründet die Reihenfolge der ersten drei Hauptstücke (Dekalog, Credo, Vaterunser) damit, dass Luther auf diese Weise eine Existenzbe31 wegung bei den RezipientInnen des KK anstrebt. Letzteres zeigt sich m.E. auch im Detail, wenn man etwa Luthers berühmte Auslegung des 1. Artikels im Credo bedenkt, wo es heißt: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat ...“. Diese persönlich wie existenziell ausgerichteten Erläuterungen im KK sind keineswegs zufällig. Sie verdanken sich auch dem Umstand, dass Luthers Fastenpredigten und Katechismuspredigten als Vorlagen für seinen 32 KK dienten. Auch dieser Punkt lässt sich im Rahmen eines ‚Elementarkatechismus‘ keineswegs leicht realisieren. Insbesondere stellt sich die Frage nach der Adressatenorientierung: Sind z.B. primär Jugendliche im Blick oder allgemein ‚mündige‘ Christinnen und Christen? Sollen primär ‚kirchenferne‘ oder ‚kerngemeindliche‘ Christinnen und Christen angesprochen werden? Mit welcher Textgattung (z.B. Dialog, Erzählung) oder mit welchem Medium kann diese Existenzbewegung gegenwärtig ausgelöst werden? 3.

Impulse

Zahlreiche Versuche sind bislang gescheitert, ein vergleichbares Werk wie Martin Luthers Katechismus zu schaffen. Auch die folgenden Überlegungen sind bewusst nur als ‚Impulse‘ formuliert und wollen primär zum Weiterdenken in dieser Hinsicht in Anbetracht der bevorstehenden Reformationsfeiern 2017 anregen.

31 Vgl. Slenczka, N., Zur Theologie des Kleinen Katechismus Martin Luthers, in: Dennerlein, N./Grünwaldt, K./Rothgangel, M.: Die Gegenwartsbedeutung der Katechismen Martin Luthers, Gütersloh 2005, 9–35, bes. 12 u.ö. 32 Vgl. Slenczka, a.a.O., 12–14, 23.

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3.1 Konzeptionelle Grundgedanken Der Katechismus ist inzwischen vom Religionsbuch an öffentlichen Schulen abgelöst worden, ebenso wie die Katechetik als wissenschaftliche Disziplin von der Religionspädagogik an Universitäten. Dem Wortsinn nach leitet sich Katechismus von dem griechischen Wort ‚katechein‘ (= unterrichten) ab, was wortwörtlich übersetzt ‚von oben herab‘ (= kata) ‚schallen‘ bzw. ‚tönen‘ (= echein) bedeutet. Dieses ‚herrschaftliche‘ Gefälle kann durch das Frage-Antwort-Schema vieler Katechismen noch verstärkt werden: Auf eine Frage, die in der Regel keineswegs eine echte SchülerInnenfrage ist, wird gewissermaßen eine ‚fertige‘ Antwort gegeben. Diese Problematik hat bereits bei der ersten Auflage des Evangelischen Erwachsenenkatechismus (EEK) aus dem Jahr 1975 zu einer grundlegenden Revision des Aufbaus geführt, weil diese nach dem Schema „Einstieg – Information – Reflexion – Konkretion“ konzipiert wurden, was eine Kor33 rektur am herkömmlichen deduktiven Ansatz darstellt. In der jüngsten 8. Auflage des EEK findet sich der religionspädagogische etablierte Dreischritt „Wahrnehmung – Orientierung – Gestaltung“. Der erste Schritt der Wahrnehmung gibt demnach nicht einfach eine Frage vor, vielmehr motiviert der Wahrnehmungsschritt auch zu eigenem Nachfragen. Der Orientierungsteil setzt keineswegs eine(!) feststehende Antwort vor, vielmehr stellt er Informationen und Argumente als Deutungsangebote zur Verfügung. Schließlich geht es im Rahmen des Gestaltungsteils darum, welche Konsequenzen daraus u.a. auch für die eigene Lebensgestaltung in Betracht gezogen werden können. Bei alledem versagt sowohl die jüngste Ausgabe des EEK mit 1020 Seiten als auch der aus dem EEK entwickelte „Kleine Evangelische Erwachsenenkatechismus“ (KEEK) mit 304 Seiten bei der Aufgabe der Elementarisierung. Bereits seit geraumer Zeit setzt sich der Katechismusausschuss der VELKD mit der konzeptionellen Grundlegung und der Abfassung eines sogenannten ‚Elementarkatechismus‘ (= Arbeitstitel) auseinander. Dabei wurde neben früheren Impulsreferaten von Bernd Schröder und Manfred Pirner auch Christian Grethleins Ansatz bei der ‚Kommunikation des Evangeliums‘ intensiv diskutiert und gleichfalls wurde der Blick auf vergleichbare jüngere 34 Publikationen gerichtet. Des weiteren spielen die Erfahrungen bei der 33 Vgl. Meyer/Grünberg, a.a.O., 424. 34 Ein Überblick vergleichbarer Werke findet sich bei R. Leonhardt, Christliche Identität in postsäkularer Ziet. Die Rückkehr der Religion im Spiegel neuerer Einführungen in den christlichen Glauben, in: ThLZ 133 (2008), 123–142.

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Überarbeitung des EEK sowie des KEEK eine nicht zu unterschätzende Rolle und last but not least die theologische Auseinandersetzung mit Luthers Katechismen. Eine zentrale und wegweisende Entscheidung für einen ‚Elementarkatechismus‘ besteht in der Auswahl der Inhalte sowie dem Gliederungsprinzip. Favorisiert wird nach längeren Überlegungen gegenwärtig ein Schema, das sich einerseits am Lebenslauf sowie andererseits an kirchlichen Feiern und Festtagen orientiert. Auf diese Weise werden auf insgesamt ca. 80 Seiten voraussichtlich 17 Abschnitte entfaltet. Anhand der inhaltlichen Konkretionen der einzelnen Abschnitte wird sich zeigen, ob und inwieweit sich diese konzeptionellen Grundgedanken bewähren. Die einzelnen Abschnitte sollen mit dem Dreischritt „öffnen – verdichten – öffnen“ so dargelegt werden, dass diese Grunderfahrungen existentiell ansprechen. Dabei orientiert sich dieser Dreischritt zwar an „Wahrnehmung – Orientierung – Gestaltung“ aus dem EEK, er ist aber etwas flexibler gefasst. Entsprechend der obigen Überlegungen besteht eine wesentliche Intention darin, dass nicht einfach eine ‚fertige‘ Antwort am Ende steht, sondern eher ein persönlicher Prozess hervorgerufen wird. 3.2 Eine exemplarische Konkretion: „Was (vom Leben) bleibt?“ Nachstehend findet sich ein erster vorläufiger Entwurf des Abschnitts „Was (vom Leben) bleibt?“ für den ‚Elementarkatechismus‘. Er orientiert sich am Schema „öffnen – verdichten – öffnen“ und folgt in etwa den Vorgaben bezüglich Umfang. Zentrale Themen dieses Abschnitts sind die Auseinandersetzung mit der Frage „Was darf ich hoffen?“ sowie „Bestattung“. Entsprechend der obigen Überlegungen ist insbesondere darauf zu achten, dass keine distanzierende Information ‚über‘ diese Thematik dominiert, sondern eine ‚Existenzbewegung‘ ausgelöst wird. Zieht man diesbezüglich Martin Luthers Kleinen Katechismus zu Rate, dann zeigt sich allerdings, dass Luther in dieser Hinsicht den Schöpfungsartikel viel persönlicher zu formulieren vermochte, als etwa seine Ausführungen zur Auferstehung und zum ewigen Leben. Gleichwohl zeigt sich auch an den folgenden Ausführungen, dass es leichter ist zu kritisieren, als konstruktiv eine Alternative zu setzen. Öffnen Alle Menschen sind sterblich. Dieser Satz ist zweifellos wahr und doch ist er unbegreiflich. Obwohl jeder Mensch weiß, dass seine Lebenszeit begrenzt ist, bleibt uns der Tod fremd. Moderne Medizin und moderne Pflege drängen den Tod zunehmend aus dem Alltag zurück. Er ist zum Altersphäno-

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men geworden und findet in Institutionen wie Krankenhaus und Pflegeheim statt. Auf diese Weise ist er noch unbegreiflicher geworden als in früheren Jahrhunderten. (vgl. EEK) „Warum musste mein Tier/meine Oma sterben?“, „Muss ich auch sterben?“, „Warum muss man sterben?“, „Wo sind die Menschen, die gestorben sind?“, „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“, „Ist mit dem Tod alles aus?“ (Kinderfragen)35 Denn es geht dem Menschen wie dem Tier: wie dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben alle einen Lebensatem, und der Mensch hat nichts voraus vor dem Tier; denn es ist alles eitel. Es fährt alles an einen Ort. Es ist alles aus Staub geworden und wird wieder zu Staub. Wer weiß, ob der Lebensatem der Menschen aufwärts fahre und der Lebensatem des Tiers hinab unter die Erde fahre? So sah ich denn, dass nichts Besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahin bringen, dass er sehe, was nach ihm geschehen wird? (Pred 3,19-22) Verdichten Bestattungsrituale sind ein fester Bestandteil in den verschiedensten Religionen und Kulturen. Sie stellen eine Hilfe für die Trauerbewältigung dar. Die Möglichkeiten, den Abschied und die Bestattung von Familienangehörigen und Freunden zu gestalten, sind in jüngerer Zeit individueller und vielfältiger geworden. Neben Erdbestattungen ist die Einäscherung mit der Beisetzung der Urne auf dem Friedhof verbreitet, darüber hinaus nehmen auch weitere alternative Formen zu (z.B. FriedWald). Wie wird im Rahmen einer evangelischen Trauerfeier auf die Trauer, Ängste und Gefühle der Angehörigen und Freunde eingegangen? Wir können dies bei dem Gottesdienst erfahren, der zur Bestattung in der Kirche oder Friedhofskapelle gefeiert wird. Die Musik, Gebete, biblischen Lesungen und Lieder dieses Gottesdienstes erinnern uns zum einen an unsere eigene Vergänglichkeit und helfen, unsere Trauer und Klage vor Gott zum Ausdruck zu bringen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ (Mk 15,34; Ps 22,2). Zum anderen wird uns die in Tod und Auferstehung von Jesus Christus begründete Hoffnung auf die Auferstehung 35 Scherer, G., Umgang mit Tod, Sterben und Trauer. Kinder beschäftigen sich mit existentiellen Fragen, in: http://religion.bildung-rp.de/fileadmin/_migrated/content_uploads/04Tod-Online-mit_Arbeitsblaettern.pdf (Zugriff 25.3.2015).

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von den Toten, auf ein ewiges Leben, zugesprochen. In der Beerdigungsansprache wird das zu Ende gegangene Leben als die einmalige Geschichte Gottes mit diesem Menschen beschrieben und gedeutet. Beim dreimaligen Erdwurf am Grab nennt der Pfarrer/die Pfarrerin nochmals den Namen des Toten und übergibt ihn in die gnädige Hand Gottes mit segnenden Worten. Wenn zum Abschluss alle Anwesenden diesen Erdwurf fortsetzen, beteiligen sie sich am gemeinsamen Begraben des/der Vestorbenen. Somit ist die Bestattung auch ein Erweis der Liebe und Achtung gegenüber der/dem Verstorbenen. Die Bestattung stellt einen Beginn der Trauerarbeit dar. Keineswegs sind damit alle Zweifel und Fragen nach dem Warum behoben. Diese benötigen ihre Zeit. Vergeblich suchen wir beweisbare Antworten, warum der Tod uns geliebte Menschen und Tiere entreißt und was nach dem Tod kommt. Bei solchen Fragen können wir begrenzte Menschen uns nur vertrauensvoll in den Bereich der Hoffnung begeben. Die Sprache der Hoffnung kommt in der Bibel sowie in der christlichen Tradition vielfältig zum Ausdruck, sie kann die Grenzen dieser Welt und des Todes überschreiten. Die christliche Hoffnung stellt dabei keine billige Vertröstung auf ein Jenseits dar und hat keineswegs nur den Menschen, sondern die ganze Schöpfung im Blick. Ein Beispiel unter vielen ist das Gedicht und Kirchenlied von Kurt Marti „Der Himmel, der ist“ (EG 153). Öffnen Allmächtiger und barmherziger Gott, wir trauern um (Name). Er/sie wird uns sehr fehlen. Aber wir geben (Name) in deine Hand und wissen ihn/sie in deiner Liebe geborgen. Wir haben Angst vor dem Tod. Tröste uns in unserem Leid. Tröste uns, wenn wir selber einmal sterben müssen. Denn du hältst uns und lässt uns nicht fallen, was auch geschehen mag. Amen (Gebet von Hinterbliebenen) Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. (Röm 8,38-39)

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In mir ist es finster, aber bei dir ist Licht. Ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht. Ich bin kleinmütig, aber bei Dir ist Hilfe. Ich bin unruhig, aber bei dir ist Frieden. In mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld. Ich verstehe deine Wege nicht, aber du weißt den Weg für mich. (Dietrich Bonhoeffer)

Abstract For nearly four decades now, widespread silence with regard to Martin Luther’s Catechisms has been prevalent in the theory and practice of religious education. Apart from occasional exceptions, there is scarcely any extensive engagement with the Small Catechism. The present contribution asks first which problems have lead to the present silence with regard to the Small Catechism. Subsequently, the Small Catechism’s potentials are worked out. Problems and potentials alike are a decisive presupposition for giving impulses for the construction of a catechism which is contemporary and responsible in terms of religious education.

Martin Rothgangel, Martin Luthers Katechismen

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Rezension

Thomas Kaufmann: Luther Uwe Hauser Der renommierte Göttinger Kirchengeschichtler mit Arbeitsschwerpunkt Reformation legt mit seinem Büchlein Luther auf 128 Seiten einen kompakten und präzisen Aufriss des Reformators Martin Luthers und seiner Zeit vor. Aber es ist mehr als das. Es ist auch eine knappe Einführung in seine Theologie und die grundlegenden Weichenstellungen der Reformation. In der Einleitung wird die Zerrissenheit der Persönlichkeit Luthers deutlich herausgearbeitet. Er ist öffentlicher Mensch, der auf den Instrumenten der Publizistik seiner Zeit virtuos zu spielen vermag, und gleichzeitig zurückgezogen und ganz dem Gebet hingegeben lebt. Er ist Beter und Täter. Die Zerrissenheit reicht bis in die Tiefen seiner Existenz. Zeit seines Lebens lebt er in tiefster Anfechtung: Sollte er allein recht und die katholische Kirche mit vielen Kirchenvätern geirrt haben? Und andererseits der hohen und selbstbewussten Gewissheit, dass durch seine Verkündigung das Evangelium endlich wieder an den Tag gekommen sei. Kaufmann versteht es meisterlich, die wechselseitige Beziehung zwischen der Biographie Luthers und der Deutung, seines eigenen Lebens und Wirkens unter dem Aspekt des Lebens im Horizont der „Reformation Gottes“ zu entfalten. Er stellt dabei sehr eindrücklich dar, wie sehr Luther seine Kindheit und auch die hohe Zeit des reformatorischen Aufbruchs aus dem Rückblick heraus rekonstruiert und natürlich auch stilisiert hat. Gerade über die frühe Zeit Luthers haben wir eben keine anderen Informationen außer von Luther selbst. Sehr präzise zeichnet Kaufmann Luther als Kind seiner Zeit, die von Auf- und Abbrüchen geprägt war und die in der Erwartung des nahen Endes und des kommenden Jüngsten Tages lebte. Die Jahrhundertpersönlichkeit Luthers fiel eben nicht aus der Zeit, vielmehr in sie hinein und wies gleichzeitig über sie hinaus. Kaufmann referiert im ersten Teil den Stand der Forschung. Das ist hilfreich, gut und notwendig, um allerlei aktualistische Vereinnahmungen (Luther als Tourismusmagnet, Stichwortgeber zum Thema Toleranz) abzuwehren. Denn die historische Persönlichkeit Luther und sein theologisches

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Glaube und Lernen, 30/2015, Heft 1, Rezension

Denken entziehen sich allen wohlfeilen Verteufelungen oder Banalisierungstendenzen. Mit großem Gewinn ist der dritte Teil des Buches zu lesen, der wichtige Punkte der lutherischen Theologie nachzeichnet und sie in größere Zusammenhänge stellt. So wird unter anderem das Verhältnis der Person Luthers zu ihrer Lehre, das Schöpferische und Formatierende ihrer Sprachbilder behandelt. Eines der stärksten Kapitel stellt „Katheder und Kanzel“ dar. Kaufmann stellt den Wurzelgrund der lutherischen Wirksamkeit heraus: Die enge wechselseitige Bezogenheit zwischen seiner Tätigkeit als Stadtpfarrer, der mehrmals die Woche die Kanzel bestieg, und der eines Universitätslehrers. Dass Kaufmann die dunklen Seiten Luthers, seine Feinde und Feindbilder, nicht ausspart, sie in einen größeren Zusammenhang stellt, trägt eminent zur Versachlichung des Diskurses um Luthers Rezeption und seine heutige Salonfähigkeit bei. Dabei schöpft der Autor aus seiner sehr kompakten und präzisen Arbeit zu „Luther und die Juden vorgestellt“, die hier ebenfalls zur gewinnbringenden Lektüre empfohlen sei. Jeder Form von Anachronismus und wohlfeiler Ablehnung Luthers, aber auch der Heroisierung hält Kaufmann nüchterne historische Fakten entgegen. Luthers Feindbilder verdanken sich seiner apokalyptischer Zeitdeutung („die Türken“ als „Zuchtrute Gottes“ vor dem nahen Gericht) oder der Enttäuschung gegenüber der Ablehnung des Evangeliums (dass die Juden unter dem Papsttum keine Christen werden wollten, habe an der Äußerlichkeit des Bekehrungseifers gelegen. Aber nun bekehren sich die Juden nicht, obwohl ihnen das Evangelium rein und lauter gepredigt wird. Das könne nur an ihrer „Verstocktheit“ liegen). Luthers Kampf richtete sich Zeit seines Lebens auch gegen das Papsttum. Seine große Lebensleistung besteht sicher darin, dass die evangelische Kirche aus dem Wort geboren wurde und daraus lebt. Die Freiheit von autoritativer Bindung bei gleichzeitiger Rückbindung an das Wort Gottes wird zum Proprium der Kirche. Damit ist eine Gestalt der Kirche Wirklichkeit geworden, in der der Mensch von einem herzlichen Vertrauen auf Gott lebt. Für die Lehrkraft, die evangelische Religionslehre unterrichtet, enthält dieses kleine Bändlein alle wesentlichen Daten und Fakten auf dem neuesten Stand aufbereitet und eine kurze Einführung und seine Theologie sowie eine Einordnung der dunklen Seiten Luthers in den historischen Kontext. Mehr kann man angesichts der Knappheit des Bandes nicht verlangen.

Uwe Hauser, Thomas Kaufmann: Luther

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Glaube und Lernen Theologie interdisziplinär und praktisch 27. Jahrgang – Heft 1 – ISSN 0179-3551 Herausgegeben von Michael Basse (Dortmund), Wolfgang Maaser (Bochum), Ernstpeter Maurer (Dortmund), Peter Müller (Karlsruhe), Martin Rothgangel (Wien), Hartmut Rupp (Karlsruhe), Konrad Schmid (Zürich) und Michael Wolter (Bonn) Schriftleitung: Prof. Dr. Ernstpeter Maurer und Prof. Dr. Martin Rothgangel (verant- wortlich i. S. des niedersächsischen Pressegesetzes), Institut für Religionspädagogik, Schenkenstraße 8–10, 1010 Wien, Österreich, [email protected] Beiträge, Rezensionen und redaktionelle Mitteilungen bitte an die Schriftleitung. Die Bearbeitung und Rücksendung unverlangt eingesandter Beiträge und unverlangt zur Rezension eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. Diese Zeitschrift und ihre Beiträge dürfen nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Verlags öffentlich zugänglich gemacht werden. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. »Glaube und Lernen« erscheint in 2 Heften pro Jahr und kann zum Preis von € 31,90 (D) / € 32,79 (A) / SFr 53,50 zuzüglich Porto bezogen werden. Preise beziehen sich auf den laufenden Jahrgang. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, wenn bis zum 1. Dezember keine Abbestellung erfolgt. Einzelhefte: € 16,90 (D); ab 10 Hefte € 9,90 (D). Bestellungen an [email protected] © Edition Ruprecht, Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2011, www.edition-ruprecht.de Satz: Maria Valencia und mm interaktiv, Umschlag: klartext GmbH, Druck: Meta-Systems GmbH Inklusion ........................................................................................................... 114 Hartmut Rupp Vielfalt von Lernen und Lehren im Neuen Testament . .......................................... 125 Tor Vegge »Du sollst dir kein Bild machen« ........................................................................ 139 Anita Müller-Friese

Medienethik im Internetzeitalter Christina Costanza und Christina Ernst (Hrsg.) Personen im Web 2.0 Kommunikationswissenschaftliche, ethische und anthropologische Zugänge zu einer Theologie der Social Media Edition Ethik Band 11 226 Seiten mit 2 Abbildungen s/w, Hardcover ISBN 978-3-8469-0082-6 € 36,90 (D) / € 37,93 (A) / sFr 49,90 auch als

Soziale Netzwerke, Web-Logs und Wikis – das Web 2.0 wird zunehmend von Menschen in ihren Alltag integriert. Wie gestaltet sich die Kommunikation in virtuellen Räumen und die Verknüpfung von Online- und Offline-Lebenskontexten? Verändern sich das Selbst-, Welt- und schließlich das Gottesverständnis des Einzelnen durch die lebensweltliche Präsenz der Social Media? Und vor welchen Herausforderungen steht damit die kirchliche Praxis? Die Beiträge dieses interdisziplinären Tagungsbandes untersuchen, wie in und durch das Web 2.0 Menschenbilder, Kommunikationsweisen und Wertvorstellungen transformiert werden. Die gemeinsame Leitfrage nach dem Personsein im Web 2.0 führt zu Impulsen für eine »Theologie der Social Media«, welche zu entwerfen eine der wichtigsten theologischen Herausforderungen der Gegenwart ist. ´ Mit Beiträgen der Herausgeberinnen und von Vera Dreyer, Alexander Filipovic, Christoph Gieseler, Anne Lück, Konstanze Marx, Andrea Mayer-Edoloeyi, Thomas Zeilinger

Warum Religionspädagogik auch Inklusionspädagogik sein muss ........................... 153 Monika Jakobs Anerkennung erfahren und geben lernen . ............................................................ 164 Katharina Kammeyer Inklusion und Beachtung von Diversität als menschenrechtlicher Anspruch an die Pädagogik.............................................. 181 Sigrid Graumann Vielfalt im Religionsunterricht organisieren .......................................................... 195 Wolfhard Schweiker

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K., Postfach 1716, 37007 Göttingen www.edition-ruprecht.de