Glaube und Lernen - Einzelkapitel: Martin Luther aus römisch-katholischer Perspektive 3846999769, 9783846999769

Durch Peter Walter erfolgt ein römisch-katholischer Blick auf Martin Luther, der sich im Kontext der katholischen Luther

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Glaube und Lernen - Einzelkapitel: Martin Luther aus römisch-katholischer Perspektive
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Gespräch zwischen Disziplinen
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Glaube und Lernen Einzelkapitel - Martin Luther aus römisch-katholischer Perspektive: Themenheft

Gespräch zwischen Disziplinen

Martin Luther aus römisch-katholischer Perspektive Peter Walter 1.

Kirchenhistorische Präliminarien

Der jüngst verstorbene römisch-katholische Theologe Otto Hermann Pesch (1931–2014)1, der lange Jahre an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Hamburg lehrte, war seit seiner bahnbrechenden Dissertation „Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin“2 nicht nur einer der besten Kenner des in seiner Kirche noch immer als „Normtheologe“ geltenden Thomas von Aquin3, sondern auch Martin Luthers4. Und er hat gezeigt, dass es zwischen beiden in der Frage der Rechtfertigung größere Übereinstimmungen gibt, als man aufgrund von konfessionellen Vorurteilen gemeinhin annehmen möchte. Gerade als subtiler Kenner beider konfessioneller Traditionen hinterlässt Pesch eine große Lücke, die so schnell nicht zu füllen sein wird. Man mag sich fragen, ob angesichts der Voraussetzungslosigkeit historischer Forschung die Konfessionszugehörigkeit oder auch Nichtzugehörigkeit eines Forschers überhaupt nötig oder hilfreich ist. Faktisch aber gibt es gerade in der konfessionell gebundenen Theologie blinde Flecken in der Fremd- wie in der Selbstwahrnehmung, wodurch zahlreiche Vorurteile über die konfessionellen Unterschiede unhinterfragt tradiert werden. Außenperspektiven sind zudem immer gut, um einen vermeintlichen Konsens der Forschung, insoweit es so etwas überhaupt gibt, auf den Prüfstand zu stellen und neue, unerwartete 1

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Zu ihm vgl. Rolf Decot, Katholische Lutherforschung, in: Jörg Ernesti – Wolfgang Thönissen, Die Entdeckung der Ökumene. Zur Beteiligung der katholischen Kirche an der ökumenischen Bewegung (Konfessionskundliche Schriften des Johann-Adam-MöhlerInstituts 24), Paderborn – Frankfurt am Main 2008, 17–34, hier 31–33. Vgl. Otto Hermann Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Mainz 1967, ²1985. Vgl. Otto Hermann Pesch, Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie. Eine Einführung, Mainz 1988. Vgl. Otto Hermann Pesch, Hinführung zu Luther (1982), Dritte, aktualisierte u. erweiterte Neuauflage, Mainz 2004.

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DOI 10.2364/3846999769

Einsichten zu gewinnen. Was nun gerade die Zugehörigkeit eines Lutherforschers zur römisch-katholischen Kirche angeht, kann sie, wie die im Folgenden zu nennenden Beispiele zeigen, positiv wie negativ nicht nur der protestantischen Forschung Impulse geben, sondern auch in die eigene Kirche hineinwirken. Die jüngere römisch-katholische Lutherforschung hat beides getan. Die klassische Kontroverstheologie hat Luther zum einen inhaltlich zu widerlegen versucht, sie hat ihn zum andern aber auch als Person diffamiert. Luther war für sie der entlaufene Mönch, der sich aus Eigennutz gegen seine Kirche gestellt und der durch seine Lügen viele verführt hat, der schließlich ein unrühmliches Ende fand, gar von Selbstmord war in diesem Zusammenhang die Rede. An seinen Schriften ließ man kein gutes Haar und verunglimpfte ihn als Lügner.5 Dies hat sich erst im 20. Jahrhundert langsam geändert.6 Noch der bedeutende Mediävist und Erforscher der mittelalterlichen Mystik, der Dominikaner Heinrich Suso Denifle (1844–1905), hat mit intensiven Quellenstudien den von Grund auf verdorbenen Charakter Luthers nachzuweisen versucht. Er hat damit aber auch die Erforschung des „jungen“ Luther angeregt. Der Jesuit Hartmann Grisar (1845–1932) hat die Persönlichkeit Luthers neuropathologisch erhellen wollen, ohne allerdings über eine entsprechende Qualifikation zu verfügen. Letztlich warf er Luther Subjektivismus vor, wie das auch im 19. Jahrhundert die ultramontane und neuscholastische Bewegung getan hat, welche Aufklärung und Französische Revolution und damit den von ihr als negativ eingeschätzten Umsturz aller bisherigen Werte direkt auf Luther zurückführte. Auch Joseph Lortz (1887–1975), der mit seinem 1939 erstmals erschienenen, mehrfach neu aufgelegten und in zahlreiche Sprachen übersetzten zweibändigen Werk „Die Reformation in Deutschland“ die Wende des katholischen Lutherbildes einläutete, warf ihm Subjektivismus und Abfall vor. Aber er anerkannte sein religiöses Genie und wies einen gewaltigen Teil der Mitschuld an der Spaltung den Missständen in der spätmittelalterlichen Kirche und dem Versagen ihres Führungspersonals vor. Die von O. H. Pesch und anderen katholischen Lutherforschern vorgenommene systematisch-theologische Lutherinterpretation stieß bei den Vertretern der Lortz-

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Vgl. Adolf Herte, Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochläus, 3 Bde., Münster in Westfalen 1943. Für das Folgende vgl. Jos E. Vercruysse, Katholische Lutherforschung im 20. Jahrhundert, in: Rainer Vinke (Hg.), Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte. Beiheft 62), Mainz 2004, S. 191–212.

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Schule7, namentlich Erwin Iserloh (1915–1996)8 und Peter Manns (1923– 1991), auf teilweise heftigen Widerspruch. Mittlerweile ist der Schlachtenlärm verhallt. Auf längere Sicht hat sich der Ansatz Peschs durchgesetzt. Er hat maßgeblich die römisch-katholische Position bei der Untersuchung der Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts geprägt9 und dadurch wesentlich die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ mit vorbereitet, die methodisch jener folgt.10 2.

Luther aus systematisch-theologischer Perspektive

2.1 Ein persönlicher Zugang Es wäre durchaus möglich, die Werke katholischer Systematiker und Systematikerinnen daraufhin zu befragen, welche Rolle Martin Luther für diese spielt. Dies wäre jedoch Stoff für eine Dissertation. Darum wähle ich für diesen zweiten Teil, auch auf die Gefahr hin, wichtige Aspekte zu übergehen, einen subjektiven Weg und stelle die vielfältigen Anregungen dar, die ich selber durch die Beschäftigung mit Luther bekommen habe. Bereits während meines Studiums, das ich hauptsächlich an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom absolvierte, die vielleicht nicht als eine Hochburg des Lutherstudiums gilt, habe ich mich in einer Lehrveranstaltung von P. Jos E. Vercruysse SJ auf der Basis von Walther von Loewenichs damals wieder neu aufgelegtem gleichnamigem Buch mit Luthers „theologia crucis“ beschäftigt.11 Auch wenn mir die Auffassung Luthers, dass Gott sich 7

Zu Lortz und seinen beiden im Folgenden genannten Schülern vgl. Decot, Lutherforschung (wie Anm. 1), 21–31. 8 Zu ihm vgl. jüngst Uwe Wolff, Erwin Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt (Studia Oecumenica Friburgensia 61), Basel 2013. 9 Vgl. Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. 1: Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, hg. von Karl Lehmann und Wolfhart Pannenberg (Dialog der Kirchen 4), Freiburg i. Br. – Göttingen 1986. Vor allem die methodischen Vorüberlegungen des Teildokuments über die Rechtfertigung (vgl. ebd., 35–48) sowie weite Teile desselben gehen auf O. H. Pesch zurück. 10 Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 3, hg. und eingel. von Harding Meyer, Damaskinos Papandreou, Hans-Jörg Urban, Lukas Vischer, Paderborn – Frankfurt am Main 2003, 419–441. Zur Vor- und Nachgeschichte des Dokumentes vgl. Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 305–310, 383–388. 11 Walther von Loewenich, Luthers theologia crucis (1929), Witten 51967.

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„sub contrario“ zu erkennen gebe, etwas schematisch vorkam, so, als müsse man immer das Gegenteil dessen erschließen, was man wahrnehme, ist mir der Verweis auf die Verborgenheit Gottes bis heute wichtig. Nicht zuletzt im barocken Rom, das so ganz auf die äußere „gloria“ der Selbstdarstellung der nachtridentinischen katholischen Kirche zu setzen schien, bot mir die Auseinandersetzung mit dieser Seite von Luthers Theologie einen gewissen Kontrapunkt, auch wenn der damals amtierende Papst, Paul VI. (1963– 1978), dazu wenig Anlass bot. An der Gregoriana wurde in einer Lehrveranstaltung des Spezialisten für die niederländische Mystik, P. Albert Deblaere SJ12, mein Interesse für Erasmus von Rotterdam geweckt, der dem Gründer des Jesuitenordens so wenig geheuer war wie dem Wittenberger Reformator. 2.2 Sakramententheologie Bei der Ausarbeitung meiner sakramententheologischen Vorlesung, mit der ich 1990 meinen dogmatischen Zyklus in Freiburg eröffnete, habe ich mich selbstverständlich auch mit der reformatorischen Sakramententheologie beschäftigt.13 Im Blick auf Luthers Sakramentsbegriff fiel mir auf, dass dieser, was die Reduktion der Zahl der Sakramente angeht, keineswegs nur biblisch argumentiert, sondern auch von Augustins Sakramentsverständnis abhängig ist. Wie anders konnte er der für ihn so zentralen Buße, für die es klare biblische Verheißungen gibt (vgl. Joh 20,23), wegen des fehlenden äußeren Zeichens den Status eines Sakraments absprechen? Besonders wichtig wurde mir allerdings Luthers Theologie der Taufe. Bei ihm steht weniger die Einmaligkeit des Empfangs dieses Sakramentes im Vordergrund als das tägliche mit Christus Sterben und Auferstehen, das lebenslange Hineinwachsen in das durch die Taufe geschenkte göttliche Leben. In scholastischer Terminologie gesprochen geht es ihm weniger um das „sacramentum transiens“ (das vorübergehende Sakrament) als um das „sacramentum permanens“ (das bleibende Sakrament). Diesen letzteren Aspekt sieht er nun nicht statisch als einfaches Vorhandensein, sondern zutiefst dynamisch. Im Großen Katechismus nennt er das christliche Leben „eine tägliche Taufe, einmal ange-

12 Vgl. Joseph Alaerts, Albert Deblaere, S.J. (1916–1994). An Inspired and Inspiring Live, in: Albert Deblaere, S.J. (1916–1994), Essays on Mystical Literature […], hg. von Rob Faesen (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 177), Leuven 2004, XV–XX. 13 Hilfreich war mir dabei vor allem Ulrich Kühn, Sakramente (Handbuch Systematischer Theologie 11), Gütersloh 1985.

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fangen und immer darin gegangen“14, beziehungsweise bezeichnet er die Taufe „als sein täglich Kleid, darin er [sc. der Getaufte] immerdar gehen soll, daß er sich allezeit in dem Glauben und seinen Fruchten finden lasse, daß er den alten Menschen dämpfe und im neuen erwachse.“15 2.3 Ekklesiologie In unmittelbarem Zusammenhang mit Luthers Tauftheologie steht seine Wiederentdeckung des allgemeinen Priestertums, die eine zweifache Relativierung des geistlichen Amtes bedeutet. Dieses wird zum einen dadurch relativiert, dass Luther einen eigenen geistlichen Stand bestreitet. Geistlich wird ein Mensch, wie er zu Beginn seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ schreibt, durch die Taufe und allein durch diese.16 Zum andern wird das Amt strikt als Dienst am Priestertum aller Getauften und damit relativ, d.h. bezogen auf dieses, gesehen.17 Dass damit das geistliche Amt keineswegs nur als eine Delegation der Gemeinde zu verstehen ist, wie man entsprechende Aussagen der Adelsschrift deuten kann,18 sondern durchaus eine unableitbare Funktion besagt, habe ich von Ulrich Kühn gelernt.19 Nach ihm unterscheidet Luther zwei Begründungsstränge für das kirchliche Amt, die aber aufs engste zusammengehören: Auf der einen Seite einen ekklesiologischen, nach dem der Amtsträger sein Amt im Namen der Kirche ausübt, auf der anderen einen christologischen, nach dem die Ämter in den von Christus zur Auferbauung der Gemeinde verliehenen Charismen gründen. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass die Ämter auch insofern auf Jesus Christus zurückgehen, als ihre Aufgaben, die Wortverkündigung und die Sakramentsverwaltung, von jenem gewollt und in diesem Sinn eingesetzt sind. Von hier her lässt sich eine Brücke zur Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ des 2. Vaticanums schlagen, wie ich es in meiner ekklesiologischen Vorlesung versuche, die sowohl das Gemeinsame Priestertum aller Getauften wie auch das Amtspriestertum als jeweils spezifische Teilhabe am Pries14 BSLK 704, 34f. 15 BSLK 707, 22–26. 16 Vgl. Martin Luther, Studienausgabe, hg. von Hans-Ulrich Delius, Bd. 2, Berlin 1982, 99– 101. 17 Vgl. ebd., 101. 18 Vgl. ebd., 99f. 19 Für das Folgende vgl. Ulrich Kühn, Kirche (Handbuch Systematischer Theologie 10), Gütersloh 1980, 30–32.

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tertum Jesu Christi bestimmt und die Aufgabe des Amtes als Dienst am Priestersein aller versteht.20 Dadurch gelingt es dem Konzil, eine Christusunmittelbarkeit aller Christen zu denken, ohne jedoch eine amtliche Vermittlung auszuschließen. Dies wird nicht zuletzt auch dadurch deutlich, dass es die Aufgaben aller Christen, nicht nur der Amtsträger, nach der von Calvin systematisierten Lehre der drei Ämter Christi, des Propheten, Priesters und Königs, durchbuchstabiert. Als ein wichtiges Strukturelement nicht nur der Kirchenkonstitution sucht man sie in den maßgeblichen deutschsprachigen Kommentaren zum 2. Vaticanum allerdings vergeblich. Dort taucht sie nur am Rande auf. Die Bezüge zur reformatorischen Theologie werden anscheinend nicht reflektiert.21 Das letzte Konzil hatte von Anfang an eine ökumenische Zielrichtung, mag diese zunächst auch eher auf die Rückkehr der getrennten Christen in die katholische Kirche gedacht worden sein und weniger auf eine gemeinsame Zukunft hin. Gerade um den evangelischen Christen entgegenzukommen, wurden bereits in der Vorbereitungsphase von verschiedenen Bischofskonferenzen und Theologen Vorschläge gemacht, die sich auf dem Konzil durchsetzen konnten, nicht weil sie als diplomatische Zugeständnisse, sondern weil sie als sachgemäß empfunden wurden. Dazu gehört eine Theologie des Wortes Gottes, wie sie in der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“22 und in der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ entwickelt wurde, der reicher gedeckte Tisch des Wortes Gottes in der Liturgie,23 die Verwendung der Muttersprache,24 die Ausweitung der Möglichkeit der Kommunion unter beiden Ge20 Vgl. Lumen gentium, Nr. 10; Henricus Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum/Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von Peter Hünermann, Freiburg – Basel – Wien 44 2014 (im Folgenden DH), Nr. 4125f. 21 Diesen Eindruck erweckt zumindest das Register von Herders Theologischem Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, hg. von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath, 5 Bde., Freiburg – Basel – Wien 2004–2006. Hier erscheint das Stichwort „Amt Christi, dreifaches“ nur in Bd. 2, 590 in Bezug auf die Liturgiekonstitution. Noch immer hilfreich und zudem aus der Feder eines engagierten Konzilsvaters: Emile Joseph de Smedt, Das Priestertum der Gläubigen, in: De Ecclesia. Beiträge zur Konstitution „Über die Kirche“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, hg. von Guilherme Baraúna, 2 Bde., Freiburg u.a. 1966, hier Bd. 1, 380–392, sowie Bertulf van Leeuwen, Die allgemeine Teilnahme am Prophetenamt Christi, ebd., 393–419. Vgl. auch Ludwig Schick, Das Dreifache Amt Christi und der Kirche. Zur Entstehung und Entwicklung der Trilogien (Europäische Hochschulschriften 23, 171), Frankfurt am Main – Bern 1982; zum 2. Vaticanum ebd., 131–138. 22 Vgl. Sacrosanctum Concilium (SC), Nrn. 7, 24, 33, 35; DH Nr. 4007, 4024, 4033, 4035. 23 Vgl. SC, Nr. 35; DH 4035. 24 Vgl. SC, Nr. 36; DH 4036.

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stalten25 und anderes mehr. Otto Hermann Pesch stellt einerseits fest: „Es ist undenkbar, dass Luther nach dem Besuch einer ganz ‚normalen‘ sonntäglichen Eucharistiefeier in einer lebendigen katholischen Gemeinde von heute seine Schrift ‚Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche‘ noch so hätte schreiben können, wie theologische Klarsicht und prophetischer Zorn sie ihm damals eingaben.“26 Anderseits erinnert er daran, dass Luther und die lutherische Theologie Vorbehalte hegen könnten gegen allzu viel menschliche Aktivität im Gottesdienst.27 2.4 Theozentrik Als ich vor einigen Jahren eine Handschrift der Freiburger Universitätsbibliothek als Fragment der von Sebastian Münster (1488–1552) angefertigten und zum Druck beförderten deutschen Übersetzung von Martin Luthers Predigten zu den zehn Geboten aus den Jahren 1517/18 identifizieren konnte28, hat mich an diesem Text vor allem die grundlegende Bedeutung angesprochen, die Luther dem ersten Gebot zuweist: „Damit du es besser verstehst, sollst Du wissen, dass das erste Gebot alle anderen in sich begreift, und wer also das erste hält, der hält sie alle, und wer eines von den anderen nicht hält, der hält auch das erste nicht. Denn sein Herz sieht etwas anderes als Gott an.“29 Diese Argumentation erscheint durchaus logisch: Ein Mensch, der das erste Gebot beachtet, lässt sich ganz von Gott bestimmen und hält deshalb auch alle anderen Gebote, nicht nur das erste. Und umgekehrt gilt: Derjenige, welcher eines der anderen Gebote nicht hält, befolgt auch das erste nicht, weil sein Herz in der Übertretung der anderen Gebote 25 26 27 28

Vgl. SC, Nr. 55; nicht in DH. Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 172. Vgl. ebd., 172f. Vgl. Peter Walter, Vom Suchen und Finden in der Freiburger UB. Über ein bislang unbekanntes Manuskript Sebastian Münsters, in: Die Bibliothek – von außen und von innen. Aspekte Freiburger Bibliotheksarbeit – Für Bärbel Schubel, hg. von Albert Raffelt (Schriften der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau 28), Freiburg 2008, S. 91–120 (Elektronische Publikation: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5000/). Mittlerweile liegt die 1520 erstmals gedruckte Münstersche Übersetzung in einer Neuausgabe vor: Martin Luthers Dekalogpredigten in der Übersetzung von Sebastian Münster, hg. von Michael Basse (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 10), Köln u.a. 2011. 29 „Daß du es baß verstandist, soltu wissen, daß das erst gebott begrifft yn im alle andre gebott. Vnn also welcher daß erst helt, der helt sie all, vnn welcher der andern eynß nit helt, der helt auch daß erst nit, dan syn hertz sicht etwas anderst an weder got.“ UB Freiburg Hs. 1500, 23, Fol. l [1] r. Vgl. Luthers Dekalogpredigten (wie Anm. 28), 65, 19–22.

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zeigt, dass es anderen Göttern folgt. Im Großen Katechismus heißt es zum ersten Gebot: „Worauf du nu […] Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“30 Diese Aussage und noch mehr diejenige aus dem Großen Galaterbriefkommentar über den Glauben als „Schöpfer der Gottheit“31 lässt an den Feuerbachschen Projektionsverdacht denken. Solches liegt Luther, wie Feuerbach selber feststellt32, jedoch völlig fern. In Formulierungen wie diesen zeigt sich vielmehr der existentielle Ernst der Lutherischen Theologie. Glaube ist für ihn mehr als ein intellektuelles Für-wahrHalten, als eine sich auf bestimmte „Gegenstände“ richtende „fides historica“, sondern eine umfassende Ausrichtung des Menschen auf Gott hin, von der für den Menschen, aber eben auch für Gott, der sich auf den Menschen eingelassen hat, alles abhängt.33 2.5 Glaubensverständnis Bei der Auseinandersetzung mit den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts hat die katholische Theologie Luthers „sola fide“ neu verstehen gelernt als existentielle Hinwendung des glaubenden Menschen zu Gott, von dem er alles und nichts von sich selber erwartet, wodurch er gerade Trost und Zuversicht findet. Es gehört zur Tragik des 16. Jahrhunderts, dass von katholischer Seite dieses Glaubensverständnis Luthers nicht adäquat gewürdigt werden konnte und auf dem Trienter Konzil als „eitle[s] und von jeder Frömmigkeit entfernte[s] Vertrauen“34 missverstanden wurde.35 Selbst ein Luther so nahestehender Theologe wie der damalige Generalobere der Augustinereremiten, Girolamo Seripando (um 1492–1563), sah Luthers Vertrauensglauben und Heilsgewissheit „als pharisäisches Sichbrüsten“36.

30 BSLK 560, 23f. 31 Vgl. WA 40 I, 360,5 und 25. 32 Vgl. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Bearbeiter: Werner Schuffenhauer – Wolfgang Harich (Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke 5), Berlin 1973, 228f. 33 Vgl. Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh ³1972, 50. 34 Konzil von Trient, Dekret über die Rechtfertigung, Kap. 9; DH 1533. 35 Vgl. dazu Peter Walter, Zum Glaubensverständnis des Rechtfertigungsdekrets des Trienter Konzils, in: Gottvertrauen. Die ökumenische Diskussion um die fiducia, hrsg. von Ingolf U. Dalferth – Simon Peng-Keller (Quaestiones disputatae 250), Freiburg – Basel – Wien 2012, 243–254. 36 Adolf Stakemeier, Das Konzil von Trient über die Heilsgewißheit, Heidelberg 1947, 105. Vgl. Klaus Ganzer, Art. Seripando, in: LThK³ 9 (2000) 487f.

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Gestützt vor allem auf die Vorarbeit von Otto Hermann Pesch37 hat das Dokument „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ im Hinblick auf den Glaubensbegriff des Konzils von Trient festgestellt: „Die Trienter Konzilsväter denken mit der mittelalterlichen Tradition bei dem Wort ‚Glaube‘ (in der semantischen Spannung von ‚fides‘ und ‚credere‘!) zunächst an die Zustimmung des Verstandes zum geoffenbarten Wort Gottes einerseits und an den ‚objektiven‘ Glauben anderseits, wie er in Bekenntnis und Lehrverkündigung der Kirche niedergelegt ist. Von daher und aufgrund der dem Konzil von Trient vorliegenden ‚Irrtumskataloge‘ reformatorischer Sätze verstehen die Konzilsväter die reformatorische Redeweise von der Rechtfertigung ‚allein durch den Glauben‘ (‚sola fide‘) so, als werde damit die Wirksamkeit der Sakramente, die Bedeutung der guten Werke und die Notwendigkeit eines verbindlichen Bekenntnisses, das ‚Zustimmung‘ erfordert, ausgeschlossen.“38 Nachdem es den reformatorischen Glaubensbegriff gewürdigt hat,39 kommt das Dokument zu dem Ergebnis: „Übersetzt man von einer Sprache in die andere, dann entspricht einerseits die reformatorische Rede von der Rechtfertigung durch den Glauben der katholischen Rede von der Rechtfertigung durch die Gnade, und dann begreift anderseits die reformatorische Lehre unter dem einen Wort ‚Glaube‘ der Sache nach, was die katholische Lehre im Anschluß an 1 Kor 13,13 in der Dreiheit von ‚Glaube, Hoffnung und Liebe‘ zusammenfaßt. Dann aber können die gegenseitigen Verwerfungen in dieser Frage heute als nicht mehr treffend erachtet werden“40. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ hat dieser Deutung zur kirchlichen Anerkennung des Lutherischen Weltbundes und der katholischen Kirche verholfen.41 2.6 Relationale Ontologie Womit sich Katholiken noch immer schwertun, ist Luthers relationale Ontologie, wie sie etwa in der Formel „simul iustus et peccator“ zum Ausdruck kommt. Im Nachgang zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, in der diese Thematik als eine die heutigen Partnerkirchen nicht 37 Vgl. Otto Hermann Pesch, Die Canones des Trienter Rechtfertigungsdekretes: Wen trafen sie? Wen treffen sie heute?, in: Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, Bd. 2, hrsg. von Karl Lehmann, Freiburg i. Br. – Göttingen 1989 (Dialog der Kirchen 5), 243–282. 38 Lehrverurteilungen – kirchentrennend? (wie Anm. 9), 56. 39 Vgl. ebd., 56–59. 40 Ebd., 59. 41 Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (wie Anm. 10), 425f.

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mehr trennende Auffassung verbucht wurde,42 wurde die Simul-Formel von römischer Seite als ein noch keineswegs ausgeräumter Gegenstand der Kontroverse dargestellt.43 Angesichts dessen sah sich der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen herausgefordert, das Thema noch einmal aufzugreifen und die Position der „Gemeinsamen Erklärung“ zu untermauern.44 Solche umfangreichen und differenzierenden Studien werden jedoch außerhalb der Fachwelt kaum wahrgenommen. Kirchliche Entscheidungsträger, die Anlass zur Revision ihrer Auffassung hätten, nehmen sie ohnehin kaum zur Kenntnis. Die ganze Diskussion hätte man sich ersparen können, wenn man das großartige 11. Kapitel in Otto Hermann Peschs „Hinführung zu Luther“ rezipiert hätte.45 Hier wird deutlich, dass es unterschiedliche theologische Denkstile gibt, die sich auf der vordergründigen Ebene widersprechen: in der katholischen Lehrtradition das Denken in Beschaffenheiten wie Sünde und Gnade, die nicht gleichzeitig im selben Subjekt bestehen können,46 bei Luther das Denken in personalen Beziehungen. Für diesen sind „Sünde und Gnade […] gegenläufige Beziehungen, in denen der Mensch lebt. Sünde ist […] die vom Menschen abgebrochene Gottesbeziehung. Gnade, Gerechtigkeit dagegen ist die Beziehung der Freundschaft, der Gemeinschaft, der Zuwendung, die Gott mit dem Menschen trotz seiner Sünden, gegen seine Sünde immer wieder neu begründet. Ein Zugleich dieser beiden Beziehungen zu denken ist keineswegs unmöglich“47. Da Luther und die katholische Lehrtradition mit denselben Begriffen etwas Unterschiedliches bezeichnen, können sie nach Pesch gar „nicht Ja und Nein zur selben Frage sein“48. Oder, wie er gleich zu Beginn seiner Darlegungen hervorhebt: „Zwischen dem Sünder, der nichts als Sünder ist, und dem Sünder, der zugleich gerecht ist, liegt ein Abgrund – genau jener Abgrund, der auch nach katholischer Lehre den Gerechtfertigten vom Nicht-Gerechtfertigten trennt.“49 Bedenkenswert ist auch der Versuch Peschs, im Anschluss an Johann Baptist Metz die Lutherische Formel 42 Vgl. ebd., 426f. 43 Vgl. Guido Bausenhart, Simul iustus et peccator. Zum römischen Einspruch gegen die „Gemeinsame Erklärung zwischen der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre“, in: Catholica 53 (1999), 122–141. 44 Vgl. Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, hg. von Theodor Schneider und Gunther Wenz (Dialog der Kirchen 11), Freiburg i. Br. – Göttingen 2001. 45 Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 212–226: „Wenn wir auf uns selbst schauen“. 46 Vgl. ebd., 217f. sowie ebd., 219. 47 Ebd., 218. 48 Ebd. 49 Ebd., 215.

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ins Heute zu übersetzen: „gläubig und glaubenslos zugleich“.50 Der Unglaube ist „die dunkle andere Möglichkeit, der der Glaube nie ein für allemal hinter sich bringt, darum auch gedanklich nie ein für allemal einholt, von der er sich darum immer neu ablösen muß, um er selbst zu werden und zu sein.“51 2.7 Rechtfertigung und Freiheit Ich möchte allerdings nicht verschweigen, dass ich mit Luthers Aussagen vom „versklavten Willen“, wie er sie in seiner gleichnamigen Schrift gegen Erasmus entwickelt hat, und mit seiner maßlosen Polemik gegen den Humanisten Probleme habe. Es fällt mir nicht schwer, die von Luther in der Heidelberger Disputation bezogene52 und danach in seiner „Assertio“ gegen die Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“ verschärfte Position53 als Ausdruck für die von ihm vertretene absolute Notwendigkeit der Gnade Gottes zu verstehen. Aber warum kann er dann nicht den Verständigungsversuch des Erasmus akzeptieren, der in seiner Schrift vom freien Willen dieses ja in keiner Weise bestreitet, sondern im Gegenteil bejaht? Denn Erasmus vertritt keineswegs die Auffassung von Freiheit im Hinblick auf die Erlangung des ewigen Heils, die Otto Hermann Pesch als „autonome Freiheit des Menschen Gott gegenüber“ bezeichnet und von der er zu Recht sagt, dass „sie in der Tradition nie vertreten worden ist.“54 Pesch zitiert, um Luthers harsche Ablehnung der erasmischen Position verständlich zu machen, eine „Formel“ aus „De libero arbitrio“, die er anscheinend für „einen humanistischen Freiheitsbegriff“55 hält: „Unter Entscheidungsfreiheit (liberum arbitrium) verstehen wir an dieser Stelle die Kraft des menschlichen Willens, durch die sich der Mensch dem zuwenden kann, was zum ewigen Heile führt, oder sich davon abwenden kann.“56 An dieser Übersetzung erscheint die Wieder50 Ebd., 226. 51 Ebd. 52 Vgl. Martin Luther, Disputatio Heidelbergae habita, These 13, in: Martin Luther, Studienausgabe, hg. von Hans-Ulrich Delius, Bd. 1, Berlin 1979, 205. 53 Vgl. Martin Luther, Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum, Art. 36, in: WA 7, 142–149. 54 Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 208. In der dritten Auflage schränkt Pesch gegenüber der ersten ein, Erasmus referiere nur und behaupte nicht. Vgl. auch ebd. 209 Anm. 39 den Hinweis auf die neuere Erasmusforschung. 55 Ebd. 56 Ebd. Im lateinischen Original lautet das Zitat: „Porro liberum arbitrium hoc loco sentimus vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam

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gabe von „vis“ mit „Kraft“ zwar selbstverständlich, sie ist jedoch nicht ganz unproblematisch. Denn mit Kraft verbindet man einen Vollzug, einen „Kraftakt“, während hier eher ein „Vermögen“ gemeint ist, was im Lateinischen ebenfalls mit „vis“ bezeichnet werden kann. Von diesem Vermögen sagt Erasmus wenig später, dass es durch die Erbsünde geschwächt sei, weshalb sich der Mensch nicht aus eigenen Stücken auf Gott zu bewegen könne.57 Der freie Wille ist daher auch für Erasmus im Hinblick auf das Heil keineswegs „autonom“. Erasmus beschreibt die Aufgabe des menschlichen Willens vielmehr als verdankte Freiheit, die sich zur göttlichen Gnade verhält wie die Zweit- zur Erstursache,58 und illustriert dies mit dem einprägsamen Bild eines Kindes, das noch nicht allein laufen kann, welchem der Vater einen Apfel zeigt. Das Kind würde bei dem Versuch, an den Apfel zu kommen, straucheln, wenn der Vater es nicht hielte und seine Schritte lenkte. So gelangt es zu dem Apfel, den der Vater ihm schenkt als Lohn für seine Mühen. „Das Kind hätte sich nicht aufrichten können, wenn der Vater es nicht gestützt hätte, es hätte den Apfel nicht gesehen, wenn der Vater ihn ihm nicht gezeigt hätte, es hätte nicht vorankommen können, wenn der Vater seine kraftlosen Schritte nicht ständig unterstützt hätte, es hätte den Apfel nicht erreicht, wenn ihn der Vater ihm nicht in die Hand gegeben hätte. Was kann sich das Kind zurechnen? Und doch hat es nicht nichts getan, aber es hat auch nichts, dessen es sich als seiner eigenen Kräfte rühmen könnte, da es sich vollkommen dem Vater verdankt.“59 Für ein an die traditionelle Unterscheidung von Erst- und Zweitursachen gewöhntes katholisches Denken erscheint das Insistieren Luthers auf die Alleinwirksamkeit Gottes im Akt der Rechtfertigung ebenso problematisch wie sein Herausstreichen der Freiheit des gerechtfertigten Menschen. Dass beides zusammengeht, und dass darin das Neue an beziehungsweise die Neuzeitlichkeit von Luthers Position besteht, hat Karlheinz Ruhstorfer herausgearbeitet. Luther denkt sowohl den göttlichen als auch den menschlichen Willen als erstursächlich und stellt deshalb die traditionelle Zuordnung, wie sie auch bei Erasmus zu finden ist, infrage: „Gnade und Freiheit salutem, aut ab iisdem avertere.“ Desiderius Erasmus Roterodamus, De libero arbitrio diatribe sive collatio, hg. von Johannes von Walter (Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 8), Leipzig 1935, 18, 7–10. 57 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio (wie Anm. 56), 21f. 58 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio (wie Anm. 56), 82f. Die Position des Erasmus entspricht damit letztlich der des Thomas von Aquin, wie Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 207, sie vorstellt. 59 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio (wie Anm. 56), 84, 5–11.

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sind nicht mehr auf zwei radikal unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln und ihr Verhältnis kann mithin nicht mehr als das von Erst- zu Zweitursache beschrieben werden. Göttlicher und menschlicher Wille werden als auf einer Ebene befindlich vorgestellt, und deshalb kann nur einer von beiden bestehen. An die Stelle des hypothetischen Verhältnisses von Ursache und Wirkung ist die disjunktive Wechselwirkung getreten: entweder Gnade oder Freiheit.“60 Das bedeutet jedoch nicht, dass Luther die Freiheit des Menschen geringachtet. Seine Einsicht in den disjunktiven Charakter des Verhältnisses von Gnade und Freiheit führt im Gegenteil „zur neuartigen ‚Freiheit eines Christenmenschen‘. Der Christi weiß sich gerade befreit von der Notwendigkeit, sich selbst rechtfertigen zu müssen. Frei, als Frucht seiner vollzogenen Rechtfertigung kann er und soll er gute Werke verrichten.“61 Von den sogenannten reformatorischen Hauptschriften Luthers aus dem Jahre 1520 ist es wohl der „Tractatus de libertate christiana“ beziehungsweise in gekürzter deutscher Übersetzung die Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“62, die heute noch unmittelbar anspricht. Auch abgesehen von den Klagen über die kirchlichen Zustände der Zeit und den Forderungen nach Reform, die sie mit den beiden anderen Hauptschriften „An den christlichen Adel der deutschen Nation von des christlichen Standes Besserung“63 und „De captivitate Babylonica ecclesiae“64 teilt, wird hier ein überzeugendes Plädoyer für die befreiende Kraft des christlichen Glaubens gehalten, der zu selbstloser Liebe befähigt.65 Luther gelingt dies in plastischer Sprache und rhetorisch geschickt,66 indem er unter anderem traditionelle 60 Karlheinz Ruhstorfer, Der Gnadenstreit „de auxiliis“ im Kontext, in: Dominik Burkard – Tanja Thanner (Hg.), Der Jansenismus – eine ‚katholische Häresie‘? Das Ringen um Gnade, Rechtfertigung und die Autorität Augustins in der frühen Neuzeit (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 159), Münster 2014, 57–69, hier 62f. Zu dem auf Kant zurückgehenden Gebrauch der Begriffe „Disjunktion“ und „Wechselwirkung“ vgl. Karlheinz Ruhstorfer, Das Prinzip ignatianischen Denkens. Zum geschichtlichen Ort der „Geistlichen Übungen“ des Ignatius von Loyola (Freiburger theologische Studien 161), Freiburg – Basel – Wien 1998, 23f. Zwar hat auch Pesch, Hinführung (wie Anm. 4), 206f., die bei Luther wahrzunehmende Spannung festgestellt, bietet dafür jedoch keine Erklärung. 61 Ruhstorfer, Gnadenstreit (wie Anm. 60), 63. 62 Synoptisch einander gegenübergestellt in Luther, Studienausgabe (wie Anm. 16), (260) 263–309. 63 Vgl. ebd., (89) 96–167. 64 Vgl. ebd., (168) 172–259. 65 Vgl. vor allem Luther, Von der Freiheit, „Czu(m) achten“ – „Czu(m) dreytzehenden“; Luther, Studienausgabe (wie Anm. 16), 271–279. 66 Zu Luthers Rhetorik vgl. Birgit Stolt, Studien zu Luthers Freiheitstraktat mit besonderer Rücksicht auf das Verhältnis der lateinischen und der deutschen Fassung zu einander und

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Motive wie das der Vergöttlichung des Menschen aufgrund der Menschwerdung Gottes („fro(e)lich wechßel und streytt“67) oder das der christlichen Seele als Braut Christi68 einsetzt. Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass es zwischen dem Freiheitstraktat Luthers und den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola (1491–1556), den man gemeinhin mit der Gegenreformation verbindet, trotz aller Unterschiede doch wesentliche Übereinstimmungen gibt, etwa was das disjunktive Verhältnis von Freiheit und Gnade und die daraus resultierende Sicht der von Gott begnadeten menschlichen Freiheit angeht.69 Man vergleiche nur die den Freiheitstraktat eröffnende Antithese der Freiheit und Dienstbarkeit eines Christenmenschen70 mit der im „Prinzip und Fundament“ der Exerzitien herausgestellten „Indifferenz“ gegenüber den geschaffenen Dingen.71

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die Stilmittel der Rhetorik (Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholmer Germanistische Forschungen 6), Stockholm 1969; dies., Martin Luthers Rhetorik des Herzens (UTB 2141), Tübingen 2000. Ebd., 277,1. Zum Motiv vgl. Albert Franz, Reinhard Flogaus, Peter Fonk, Art. Vergöttlichung, in: LThK³ 10 (2001), 664–667. Vgl. Luther, Studienausgabe (wie Anm. 16), 275,19–277,17. Vgl. Marianne HeimbachSteins, Art. Brautsymbolik II. Brautmystik, in: LThK³ 2 (1994), 665f. Vgl. Ruhstorfer, Prinzip (wie Anm. 60), 372–388, bes. 380–382. „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr / u(o)ber alle ding / vnd niemandt vnterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan.“ Luther, Studienausgabe (wie Anm. 16), 265, 6–9. Zur Antithese als bevorzugtem Gliederungsprinzip des Freiheitstraktates vgl. Stolt, Studien (wie Anm. 66), 91f. Vgl. Ignatius de Loyola, Exercitia spiritualia, hg. von Iosephus Calveras und Candidus de Dalmases (Monumenta Historica Societatis Iesu 100), Rom 1969, 164–167. Deutsche Übersetzung: „Der Mensch ist geschaffen dazu hin, Gott Unseren Herrn zu loben, Ihn zu verehren und Ihm zu dienen, und so seine Seele zu retten. Die andern Dinge auf Erden sind zum Menschen hin geschaffen, und um ihm bei der Verfolgung seines Zieles zu helfen, zu dem hin er geschaffen ist. Hieraus folgt, daß der Mensch sie soweit zu gebrauchen hat, als sie ihm zu seinem Ziele hin helfen, und soweit zu lassen, als sie ihn daran hindern. Darum ist es notwendig, uns allen geschaffenen Dingen gegenüber gleichmütig (indifferentes) zu machen, überall dort, wo dies der Freiheit unseres Wahlvermögens eingeräumt und nicht verboten ist, dergestalt, daß wir von unserer Seite Gesundheit nicht mehr als Krankheit begehren, Reichtum nicht mehr als Armut, Ehre nicht mehr als Ehrlosigkeit, langes Leben nicht mehr als kurzes, und dementsprechend in allen übrigen Dingen, einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem wir geschaffen sind.“ Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, übertragen von Hans Urs von Balthasar (Sigillum 1), Einsiedeln 51965, 15.

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3.

Konsequenzen für das ökumenische Gespräch

Karlheinz Ruhstorfer fordert aus der Einsicht heraus, dass die neuzeitliche Philosophie der Freiheit aus dem von Luther angeregten protestantischen Denken entsprungen sei, eine ökumenische Verständigung über die Rechtfertigungslehre, die nicht nur nach rückwärts auf die Lehrverurteilungen der Reformationszeit blickt, sondern auch die weitere Entwicklung hin zur neuzeitlichen Freiheitsphilosophie einbezieht.72 Letztere ist, wie nicht zuletzt das Werk von Thomas Pröpper zeigt,73 durchaus in der katholischen Theologie angekommen. Das kirchliche Lehramt tut sich freilich, trotz des 2. Vatikanischen Konzils,74 noch schwer damit. Der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen betont in seiner jüngsten Veröffentlichung, einer von allen Mitgliedern gemeinsam mitgetragenen Erklärung im Blick auf das Jahr 2017, „dass ökumenische Reflexionen nicht einfachhin einen Brückenschlag von heute ins 16. Jahrhundert (und umgekehrt) wagen können, ohne die Entwicklungen in den Jahrhunderten dazwischen zu beachten.“75 Als Beispiel wird die Frage genannt, „wie die Kirchen in ihrer Selbstorganisation auf die Entwicklungen und Werte der Moderne reagieren.“76 Auch wenn das Papier bei den konkreten Aspekten („konsequente Gewaltenteilung, Fragen der Partizipation und Geschlechtergerechtigkeit, der Menschenrechte“77) beide Konfessionen zu weiteren Reflexionen genötigt sieht, kann nicht bestritten werden, dass die katholische hier einen größeren Nachholbedarf hat. Die Art und Weise, wie Papst Franziskus Probleme angeht, lässt hoffen, dass die

72 Vgl. Karlheinz Ruhstorfer, Sola gratia. Der Streit um die Gnade im 16. Jahrhundert, seine Auswirkungen für die Neuzeit und seine Virulenz in der Gegenwart, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 126 (2004), 257–268, hier 266–268. 73 Vgl. vor allem Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, 2 Bde., Freiburg – Basel – Wien 2011. Für seinen freiheitstheoretischen Ansatz spielt Luther freilich keine besondere Rolle, ebenso wenig wie für Karl Rahner oder Walter Kasper, deren Impulse Pröpper aufnimmt und in eigenständiger Weise weiterführt. 74 Vgl. Peter Walter, Der Geist der Freiheit und der Geist des Konzils. Zur Rezeption der Neuzeit durch das II. Vatikanum, in: Christlichkeit der Neuzeit – Neuzeitlichkeit des Christentums. Zum Verhältnis von freiheitlichem Denken und christlichem Glauben, hg. von Wilhelm Metz und Karlheinz Ruhstorfer, Paderborn – München – Wien – Zürich 2008, 193–204. 75 Reformation 1517–2017. Ökumenische Perspektiven. Für den Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen hg. von Dorothea Sattler und Volker Leppin (Dialog der Kirchen 16), Freiburg i. Br. – Göttingen 2014, 67. 76 Ebd. 77 Ebd., 67f.

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„kritische Zeitgenossenschaft“78, zu der das 2. Vaticanum die römischkatholische Kirche befähigen wollte, konsequent verwirklicht wird. Dann tut sie sich vielleicht auch leichter, Martin Luther positiv zu würdigen. Abstract In the course of the 20th century, Catholic historiography has gradually overcome the purely negative image of Martin Luther shaped by controversial theology. The reformer’s religious genius has been recognized, and Catholic systematic theology has finally acknowledged him as an interlocutor. The author gives a personal account of how Luther has stimulated his thinking, even if he does not agree with him in all points. He touches upon sacramental theology, ecclesiology and ecclesiastical ministry, Luther’s theocentrism, his concept of faith, his relational ontology and his view on justification and freedom. He concludes with some reflections on the consequences for ecumenical dialogue.

78 Vgl. dazu Ansgar Kreutzer, Kritische Zeitgenossenschaft. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes modernisierungstheoretisch gedeutet und systematisch-theologisch entfaltet (Innsbrucker theologische Studien 75), Innsbruck – Wien 2006.

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