Glaube und Lernen 1/2016 - Einzelkapitel - Heilige Schriften 3846999806, 9783846999806

»Im Kennwort befasst sich Peter Müller mit den beiden Elementen des Begriffs Heilige Schrift. Heiligkeit wird als Bezieh

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Glaube und Lernen 1/2016 - Einzelkapitel - Heilige Schriften
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Heilige Schriften
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Kennwort

Heilige Schriften Peter Müller „Ich scheue mich davor, zuzugeben, dass es für mich heilige Schriften gibt. Wenn ich so vor meinem Bücherregal stehe und auf die Buchrücken schaue, wenn ich dieses oder jenes Buch herausziehe und darin blättere, dann muss ich mir allerdings eingestehen, dass es Texte gibt, die einen gewissen heiligen Status für mich haben. […] Wenn zwei zusammenkommen, denen die gleichen Schriften heilig sind, dann bildet sich Gemeinschaft. Man liest sich gegenseitig den einen oder anderen Abschnitt vor, sieht die leuchtenden Augen des Anderen, merkt, dass man einander durch und in diesen Texten versteht. Und man ist verwundert und berührt von der Tatsache, dass ein paar Worte, vor langer Zeit geschrieben, den Autor mit uns hier und jetzt zu einer Gemeinschaft vereint. Das ist ja überhaupt das Heilige: Dass es auf intuitive Weise Gemeinschaft herstellt, mit anderen, die anwesend sind, aber auch mit denen, die schon zuvor dieses Heilige erfahren haben. […] Diese Art von Religiosität ist vielleicht wirklich eine zutiefst menschliche Angelegenheit, die die Identifikation und Gemeinschaft mit weit entfernten und längst verstorbenen Menschen eben über diese gemeinsamen Ideen, die uns Sterbliche überdauern, ermöglicht. Das ist ganz wunderbar, und wir täten gut daran, das Phänomen der Religiosität aus der Enge der Kirchen herauszuholen und es viel allgemeiner und selbstverständlicher zu beschreiben.“1

Ob Kirchen tatsächlich „enge“ Räume sind, soll einmal dahingestellt sein (wobei dies da und dort vermutlich schon zutrifft). Es soll hier auch nicht in erster Linie um „heilige Bücher“ im Bücherregal gehen, sondern um diejenigen Schriften, die den großen Religionsgemeinschaften als heilig gelten – und zwar der Kürze dieses einführenden Beitrags entsprechend „nur“ dem Judentum, Christentum und dem Islam. Der Hinweis auf das besondere Buch im Bücherregal ist gleichwohl wichtig, weil er deutlich macht, dass die 1

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Jörg Friedrich, Heilige Schriften, http://diekolumnisten.de/2016/08/19/heilige-schriften/ am 1.9.2016.

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DOI 10.2364/3846999806

„Heiligkeit“ von Schriften nicht nur ein religiöses Phänomen ist. Werke von Mao und Marx, von Rilke, Thomas Mann und anderen gelten manchen ihrer Verehrer in einem Maß als außerordentlich, das nahe an religiöse Verehrung heranreicht. Schon daran zeigt sich, dass beide Bestandteile der Wendung „heilige Schriften“ schwer zu fassen sind. Was heilig heißt, hat sich trotz einer langen Diskussion der definitorischen Exaktheit bisher entzogen2 und wird in den verschiedenen Religionen sehr unterschiedlich bewertet3; und auch der Begriff der „Schriften“ ist so eindeutig nicht, wie er auf den ersten Blick erscheint. Handelt es sich um Schriften, die in großen Religionsgemeinschaften in Geltung stehen oder die eher begrenzten Einfluss haben, ist der Inhalt bestimmter Schriften gemeint oder geht es um ihre materielle Existenz als Buch, Rolle, Gravur etc., und was unterscheidet heilige Schriften von anderen, denen dieses Prädikat nicht zuerkannt wird? Im Folgenden wird es deshalb zunächst darum gehen, wie das „Heilige“ der heiligen Schriften, wenn schon nicht definiert, so doch wenigstens mit 4 einigen wenigen Hinweisen umschrieben werden kann. Im Anschluss daran kommen dann heilige Schriften in den Blick, u.z. als Objekte, mit bestimmten Inhalten und Merkmalen, wobei für den Umgang mit ihnen bestimmte Vorschriften gelten können. Die Frage nach der Vermittlung dieser Schriften schließt diesen einleitenden Aufsatz ab. 1.

Heilige Schriften

Einflussreich war die Unterscheidung zwischen „heilig“ und „profan“, die Émile Durkheim seiner Vorstellung vom Heiligen zugrunde legte.

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William E. Paden, Heilig und profan. I. Religionsgeschichtlich, in: RGG 4, Band 3, 1528–1530, hier 1529: „Der Begriff des Heiligen ist von irritierender Vieldeutigkeit.“ Vgl. Colpe, Carsten, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt/M. 1990, 16: Hellenistische Juden übersetzten „das qadoš aus der hebräischen Bibel mit hágios, lateinische Christen dieses aus Septuaginta und Neuem Testament mit sanctus und deutsche Mönche und Humanisten dieses aus der Vulgata mit heilig […]. Diese Übersetzungen sind unwiderrufbar und ehrwürdig. Aber wir wissen, im Wechselspiel welcher historischen Umstände, ja Zufälligkeiten sie geschehen sind, und dass, wären sie bloß auf den Ebenen der Etymologie und der Synonymik vonstattengegangen, auch ganz andere Wörter hätten etabliert werden können.“ Udo Tworuschka, Heilige Schriften. Eine Einführung, Frankfurt/M./Leipzig 2008, 13. Vgl. Carsten Colpe, heilig (sprachlich), in: H. Cancik/B. Gladigow/K.-H. Kohl (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe III, Stuttgart 1993, 74–80, hier 76f.; Wolfgang Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Marburg 1998.

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„Alle bekannten religiösen Glaubensweisen […] haben den gleichen Zug: sie setzen eine Klassifizierung der realen oder idealen Dinge, die sich die Menschen vorstellen, in zwei Klassen, in zwei entgegengesetzte Gattungen voraus, die man im allgemeinen durch zwei unterschiedliche Ausdrücke bezeichnet hat, nämlich durch profan und heilig. Die Aufteilung der Welt in zwei Bereiche, von denen der eine alles umfasst, was heilig ist, und der andere alles, was profan ist; das ist Unterscheidungsmerkmal religiösen Denkens: die Überzeugungen, die Mythen, die (Erd)Geister, die Legenden sind entweder die Darstellungen die oder Systeme von Darstellungen, die die Natur der heiligen Dinge ausdrücken, die Tugenden und die Kräfte, die ihnen zugeschrieben werden, ihre Geschichte, ihre Beziehungen untereinander und mit den profanen 5 Dingen.“

Zwar ist es nach Durkheim nicht leicht, Gattungsmerkmale heiliger Dinge zu benennen, die sie von profanen unterscheiden. Das nahe liegende hierarchische Argument (Heiliges ist würdiger, mächtiger etc. als Profanes) bleibt ungenau. Letzten Endes bleibt nur die Andersartigkeit übrig, „um den um den Unterschied zwischen Heiligen und Profanen zu definieren. Diese Andersartigkeit genügt aber, um die Klassifizierung der Dinge erschöpfend zu charakterisieren: Denn sie ist absolut. In der Geschichte des menschlichen Denkens gibt es kein Beispiel zweier Kategorien von Dingen, die so tief verschieden und einander so radikal entgegengesetzt sind. […] Wenn auch die Kontrastformen variabel sind, bleibt die Tatsache des Gegensatzes doch allgemein.“6

Nun trifft dieser Gegensatz in der Realität von Religionen und Kulturen in der von Durkheim behaupteten Absolutheit aber keineswegs immer zu.7 Dass es verschiedene Grade des Heiligen gibt, widerspricht dabei der These Durkheims noch nicht, wenngleich es vermutlich doch Überschneidungs5

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Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übersetzt von Ludwig Schmidts, Frankfurt/Main 1981, 62. Anders als Durkheim und Marcel Mauss, die das Heilige als soziologische Kategorie verstanden Integration des Einzelnen in die Gesellschaft), vertraten Nathan Söderblom, Rudolf Otto u.a. einen phänomenologischen Ansatz, der das Heilige aus der religiösen Erfahrung des Individuums zu erklären suchte (vgl. hierzu ausführlich Gantke, Begriff, 212–271) Durkheim, ebd., 64f. Dies gilt trotz der der bekannten Aussage Nathan Söderbloms: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott. Die wahre Religion kann ohne bestimmte Auffassung von der Gottheit bestehen, aber es gibt keine echte Religion ohne Unterscheidung zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘“ (Das Heilige [Allgemeines und Ursprüngliches], jetzt in: Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, Darmstadt 1977, 76–116, hier 76.

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bereiche gibt, in denen Profanes und Heiliges changieren können.8 Geht man einmal von der biblischen Schöpfungserzählung in Gen1 aus, so gilt freilich, dass alles Geschaffene zur Welt und damit zum Profanen gehört.9 Nach Albert Lang kann deshalb nur von Gott als im eigentlichen Sinn heilig gesprochen werden; in der geschaffenen Welt begegnen allenfalls „Ausstrahlungen“ des Heiligen. Sie sind nicht als solche heilig, sondern weil sie in einer Beziehung zum Heiligen stehen. Dies bezeichnet Lang als „Relationsheiligkeit“: „Heilig bzw. geheiligt sind Gegenstände, Orte und Personen, die mit dem H[eiligen] in Berührung stehen, weil sich Gott durch sie kundgetan hat oder weil er sie zu seinem Kult besonders erwählt oder ermächtigt hat. Aber auch die Dinge u. Personen, die der Mensch für Gott u. den Dienst Gottes bestimmt und ausgeschieden hat, erhalten durch diese Ausrichtung […] eine besondere Unantastbarkeit u. treten dem Profanen nun als das Geweihte gegenüber. So werden die kultischen Orte, die zum Ritus bestimmten Dinge, besonders die Opfergaben geweiht, d. h. in den Bereich des Numinosen übergeführt […] Ihre kultische Heiligkeit ist begründet in der Heiligkeit Gottes, deren Kult sie zugeordnet sind, die sie somit repräsentieren u. vertreten.“10

Lang hat seine Vorstellung einer „Relationsheiligkeit“ aus einer christlichen Perspektive entwickelt. Trotz dieser Perspektivität ist die Vorstellung auch auf andere Religionen und Kulturen übertragbar, weil sie Heiligkeit nicht „als solche“ beschreibt, sondern in Beziehung zu Gott oder – in der Sprache der Religionswissenschaft – einem Numinosum. Gegenstände, Personen oder Schriften lassen sich demgemäß als heilig bezeichnen, wenn sie in einer (mehr oder weniger nahen) Beziehung zu einem Numinosum stehen.11

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Vgl. Gantke, Begriff, 166–212. Vgl. hierzu George Hunsinger, Heilig und profan V: Dogmatisch, in: RGG4, Band 3, 1534–1537, hier1534: „In dem Maße wie die radikale Unterscheidung zw. Gott und der Welt in der christl. Theol. anerkannt wird, lösen sich die Unterschiede zw. ‚hl.‘ und ‚profan‘ innerhalb der geschaffenen Ordnung zumeist auf. Nichts innerhalb der geschaffenen Ordnung ist seinem Wesen nach schädlich oder profan. Ebenso ist nichts Geschaffenes in sich selbst hl. Oder göttlich. Denn Gott allein ist h., und alles andere ist als Gottes Schöpfung weder hl. Noch profan, sondern lediglich wesentlich gut.“ 2 10 Albert Lang, Heilig/das Heilige II. Religionsphilosophie, in: LThK Band 5, 1960, 87–89. 11 Daniela C. Luft, Einleitung: Heilige Schriften und ihre Heiligkeit in Umgang und materieller Präsenz, in: J. F. Quack/D. C. Luft (Hg.), Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften, Materiale Textkulturen 5, Berlin/München/Boston 2014, 3–38, hier 32; vgl ebd., 25: Heiligkeit als „Beziehungskategorie der Nähe und Ferne zum göttlichen/numinosen Bezugspunkt einer Religion“, die zugleich flexibel genug ist, „um den

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Damit ist zugleich eine Einschränkung verbunden: Wenn Heiligkeit als Relationsgröße verstanden wird, dann ist sie nicht unabhängig von denjenigen, die auf diese Beziehung verweisen oder sich in ihr stehend verstehen. Dann gilt umgekehrt aber auch, dass das Heilige nicht unabhängig von denjenigen betrachtet werden kann, die darauf verweisen.12 Und noch weitergedacht: Wer eine solche Beziehung nicht zu sehen vermag oder sich ihr verweigert, wird dementsprechend auch das Numinosum selbst nicht anerkennen. Heiligkeit markiert deshalb, eben weil es sich um einen Beziehungsbegriff handelt, keinen objektiven Sachverhalt.13 Heiligkeit wird zugeschrieben – innerhalb eines religiösen Rahmens, in dem sie erkannt und angenommen ist – und lässt sich deswegen auch nicht objektiv bestimmen. „Das Heilige beschreibt den Wert, den ein Gegenstand/eine Person für Menschen besitzt, aber diese Wertschätzung ist eine religiöse und basiert auf dessen größerer Nähe zum Numinosen.“14 Sie ist auf Erfahrung angewiesen, „die man nur macht, wenn man für sie offen ist, wenn man sie erwartet und sucht. […] Die Erfahrung von Heiligkeit entsteht erst in der Interaktion von Objekten, Räumen oder anderem mit dem Menschen, der sie aufnimmt und erfährt, weil er sich des Heiligen bewusst ist.“15Gleichwohl bleibt die Frage, ob es Merkmale16 gibt, die für diese Art der Beziehung zu einem

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Gegebenheiten einzelner Religionen allgemein und deren Erscheinungsformen praktischer Nutzen Heilige-Schrift-Objekte angepasst werden zu können“ (ebd., 28). Dies muss z.B. gegenüber Mircea Eliade festgehalten werden, der in seinen Arbeiten das Heilige als Realität eigener Art (im Sinne einer kulturübergreifenden religiösen Sphäre) eher voraussetzt als begründet (vgl. Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt/M. 1984, 13–16) Selbstverständlich geht die christliche Theologie davon aus, dass es Gott „gibt“ (Jak 2,19) und dass er sich in Jesus Christus den Menschen gezeigt hat (Joh 1,18). Das ist aber nur innerhalb des christlichen Denkhorizonts plausibel und wahr. Man mache einfach nur die Gegenprobe und frage Christen, ob sie den Koran als endgültige Offenbarung Gottes und als heilige Schrift ansehen wollen. Luft, Schriften, 33. Luft, Schriften, 29. Luft, Schriften, 5f. geht von drei Merkmalen des Heiligen aus, nämlich von der „Annahme, dass das Heilige im Außeralltäglichen zu verorten ist und dass es sich zudem um etwas handelt, das in Beziehung zu einem wie auch immer gearteten Numinosen (als übergreifender Begriff gemeint) steht“; der Hinweis auf das Außeralltägliche ist aber z.B. für das Christentum problematisch … ferner können „neben ideellen Vorstellungen zum Heiligen … auch unterschiedlichste Objekte und Räume als heilig angesprochen und identifiziert“ werden; schließlich vereinen heilige Schriften in besonderem Maß „sowohl den Objektzugang als auch den über (im weitesten Sinn) religiöse Vorstellungen in sich.“ Vgl. ebd., 17: Inhaltlicher Stellenwert, konkrete Objekthaftigkeit und Bewertungskategorie im Verhältnis zum Numinosen.

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Numinosen charakteristisch sind. Dies wird im Folgenden an einem spezifischen Phänomen behandelt, dem der heiligen Schriften. 2.

Heilige Schriften

Dass Heiligkeit als Relationsbegriff zu bestimmen ist, gilt in gleicher Weise für heilige Schriften. Auch wenn bestimmte Schriften innerhalb einer Religionsgemeinschaft als heilig gelten, können sie von Menschen außerhalb dieser Gemeinschaft als bedeutungslos angesehen werden.17 Heiligkeit ist deshalb keine Eigenschaft, die einer bestimmten Schrift objektiv innewohnt. Religionsintern gelten sie aber als grundlegende Referenz. Die Art und Weise dieser Referenz kann allerdings unterschiedlich ausgestaltet sein. Am Beispiel der sogenannten Buchreligionen kann dies deutlich gemacht werden. Bekanntlich unterscheiden sich das Christentum und der Islam in der Bewertung von Bibel und Koran erheblich voneinander: Während das Christentum von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ausgeht und das Neue Testament als Urkunde und zugleich grundlegende erste Deutung dieser Offenbarung versteht, ist im Islam der Koran selbst das geoffenbarte Wort Gottes; grob gesprochen hat der Koran im Islam deshalb den Stellenwert, den im Christentum Christus innehat. Dass dies Konsequenzen für das Verständnis und die Interpretation der beiden Schriften hat, liegt auf der Hand. Der Begriff der Buchreligion bezieht sich deshalb recht verstanden eher auf das „Objekt Buch“ als auf dessen Inhalt oder Interpretation. Im Blick auf die Objekthaftigkeit der Schrift ist es aber durchaus angemessen, Islam und Christentum und ebenso das Judentum, auf dem beide aufruhen, 18 als „Buchreligionen“ zu verstehen. 17 Dies kann sogar so weit gehen, dass diese Schriften als ketzerisch angesehen werden; damit wird aber der Heiligkeitsdiskurs nicht verlassen, sondern in sein Gegenteil verkehrt. 18 Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, 148, unterscheidet Kult- und Buchreligionen. Während in der Kultreligion die religiösen Texte „in das Ritual eingebettet und ihm untergeordnet“ seien, werde in der Buchreligion „der Text in Form kanonisierter Schriften das Entscheidende, und das Ritual hat nur noch rahmende und begleitende Funktion“ – deshalb spricht Assmann in diesem Zusammenhang von „sekundärer Religion“. Den kanonischen Texten stellt er „kulturelle Texte“ entgegen, die ebenfalls eine Sinnwelt strukturierten und Identität stifteten, die aber veränderbar seien und im Blick auf die jeweiligen Bedürfnisse angepasst würden (ebd., 150). Die Unterscheidung Assmanns ist allerdings sehr schematisch und nimmt die multiple Bedeutung heiliger Schriften gerade in den Buchreligionen (mit ihren Ritualen und ihrem Lebensweltbezug) nicht wirklich ernst. Richtig bleibt allerdings, dass die Kanonisierung von Schriften immer auch mit einer Bedeutungsreduktion anderer religiöser Schriften einhergeht.

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2.1 Die heiligen Schriften gelten als zentrale Dokumente der jeweiligen Religion. Dies bedeutet allerdings nicht, das in ihnen alle „wesentlichen Glaubensinhalte in systematisierender Weise“ enthalten sind.19 Neben der Hebräischen Bibel stellen die religiösen Vorschriften und deren Kommentierungen, die in der talmudischen Literatur zusammengefasst sind, eine zweite Säule jüdischen Glaubens, Denkens und Handelns dar.20 Neben die christliche Bibel treten Glaubensbekenntnisse, dogmatische Festlegungen, Bekenntnisschriften und Katechismen, in denen die Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens zusammengefasst sind.21 Und im Islam steht die Sunna mit ihren gesammelten Aussprüchen und Gewohnheiten des Propheten Muhammad mit nahezu gleichem Recht neben dem Koran.22 Die zentrale Bedeutung und Wertschätzung, die die grundlegenden heiligen Schriften in diesen Religionen einnehmen, sind „bis zu einem gewissen Grad relativ unabhängig davon, in welchem Verhältnis der Inhalt einer solchen Schrift zu den wesentlichsten Glaubensgrundlagen steht.“23 Dies hat Auswirkungen auf den Stellenwert der heiligen Schriften in dem gesamten Vorstellungssystem der Religionen und auf ihre Interpretation. Wenn eine Heilige Schrift selbst für viele Angehörige einer Religion unverständlich ist (Koranarabisch, Kirchenlatein oder der hebräische Text, der in der Diaspora nur noch eingeschränkt verständlich war), dann müssen entweder bestimmte Auslegungsinstanzen oder weitere Schriften oder beide die Vermittlungsaufgabe übernehmen. Diese Funktion kommt im Judentum der talmudischen Literatur zu, die „für die religiösen Vollzüge bald 24 wichtiger wurde als die Bibel.“ Im Christentum und hier besonders im Katholizismus bestimmen Tradition und Lehramt die Auslegung der Bibel mit; im Protestantismus hat die Bibel durch das sola-scriptura-Prinzip zwar eine unangefochtene Vorrangstellung, durch sogenannte Kernstellen und Überschriften, in denen lutherische Theologie Ausdruck gewinnt, wird aber auch in der Lutherbibel die Bibellektüre gelenkt.25 Und wenn der Theorie 19 Luft, Schriften, 11. 20 Zu Mischna und Gemara als grundlegenden Teilen des Talmuds vgl. Günter Stemberger, Der Talmud. Einführung, Texte, Erläuterungen, München 1987. 21 Vgl. hierzu u.a. Irene Dingel (Hg.): Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche: Vollständige Neuedition, Göttingen 2014. 22 Vgl. hierzu Adel. Th. Khoury, Der Islam. Sein Glaube, seine Lebensordnung, sein Anspruch, Freiburg/Basel/Wien 41988, 42–44. 23 Luft, Schriften, 11.30. 24 So Konrad Schmid in seinem Artikel im vorliegenden Heft. 25 Auch in der aktuellen Revision der Lutherbibel sind die Kernstellen beibehalten: „Die Hervorhebung von Kernstellen durch eine besondere Schriftart ist ein Proprium der Lu-

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nach die Lesungen und Predigttexte im Gottesdienst im Lauf von sechs Jahren einen großen Teil der biblischen Tradition abdecken, so trifft dies allenfalls den Verstehenshorizont der theologischen Fachleute. Im Islam sunnitischer Prägung entfaltet die Sunna, die Überlieferung des Propheten und seiner Vertrauten, für den Alltag der Muslime oft prägendere Kraft als der Koran selbst. In jeder dieser drei Religionen haben wir es mit einer „abgestuften Heiligkeit“ ebenso zu tun wie mit hermeneutischen Rahmenbedingungen, in die das Lesen und Verstehen der heiligen Schriften eingeordnet wird. 2.2 Die Wertschätzung, die einer heiligen Schrift entgegengebracht wird, bezieht sich freilich nicht nur auf ihren Inhalt, und das Lesen der Texte macht dementsprechend nur einen Teil dessen aus, was im Umgang mit der 26 Schrift Bedeutung hat. Die aufgeschlagene Bibel auf dem Altar einer christlichen Kirche, der oberste Platz für den Koran in einem Buchregal oder der bekrönte Schrein (aron ha-kodesch) für die Torarolle in der Synagoge verweisen auf die Achtung, die dem heiligen Buch als solchem entgegengebracht wird. Als Objekte sind die Schriften „Teil der menschlichen Umgebung, können durch ihre bloße Existenz teilnehmen an Interaktionen mit Menschen, die ihnen begegnen. […] Sie nehmen für die Zeit ihrer Existenz eine Position im Raum ein, stehen in Beziehung zur Umgebung, zu anderen Objekten, finden sich an Orten, an denen sie gesehen oder nicht gesehen werden können. Mit ihnen und an ihnen kann menschliche Handlung stattfinden. Nicht zuletzt – und eventuell durch die Handlung und ihr Arrangement im Raum bestimmt – werden sie von Menschen mit Bedeutung versehen, regen sie in Menschen unterschiedliche Gefühle an, lösen Emotionen aus.“ Betrachtet man „die Textträger als solche, wird der Inhalt ein Faktor neben anderen, wie z.B. der Materialbeschaffenheit; und für die therbibel, das es so in keiner anderen Bibelübersetzung gibt und das auf den Reformator selbst zurückgeht. Er hat damit zunächst nur wenige ausgewählte, im Laufe der Zeit aber immer mehr Worte hervorgehoben, die beim Lesen der Bibel helfen sollten“ (Christoph Kähler, Die Revision der Lutherbibel zum Jubiläumsjahr – 500 Jahre Reformation, in: Hannelore Jahr [Hg.], „… und hätte der Liebe nicht“. Die Revision und Neugestaltung der Lutherbibel zum Jubiläumsjahr 2017: 500 Jahre Reformation, Stuttgart 2016, 7–20, hier 19. 26 Vgl. hierzu und zum Folgenden Luft, Schriften, 14: „Buchreligionen erschöpfen sich nicht in Theologie. Die Praxis der Religion stellt eine weiter Ebene dar, die für das strukturelle Verstehen einer Religion von Bedeutung ist.“ Außerdem verweise ich auf Eilert Herms, der zwischen der Existenz und dem Inhalt der Schrift unterscheidet (Was haben wir an der Bibel? Versuch einer Theologie des christlichen Kanons, in: JBTh 12, 1998, 99–152.

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meiste Zeit des menschlichen Umganges mit einem Textträger reicht allenfalls das Wissen um den Inhalt aus – keinesfalls nur, aber natürlich auch bei illiteraten Handelnden.“ Aus diesem Grund können auch äußere Faktoren wie der Beschreibstoff27, die Herstellungsart, die Aufbewahrung und der Umgang mit heiligen Schriften hohe Bedeutung erlangen. Am deutlichsten lässt sich dies an der Tora-Rolle zeigen, die „derart substanzhaft mit der göttlichen Heiligkeit verbunden vorgestellt (ist), dass sie nicht weniger als eine unmittelbare Präsenz und Erfahrbarkeit der göttlichen Gegenwart garantiert. Hier ist ein Objekt darüber, dass es die Heilige Schrift (Inhalt) trägt, derart mit Bedeutung aufgeladen, dass es selbst zu einem zentralen Kultgegenstand wird – und dementsprechend eine Fülle von Umgangsvorschriften (Regelungen bei der Materialauswahl, Reinigungsriten der Schreiber, Ehrbezeugungen 28 vor dem Objekt, Bestattung …) an dieses gebunden werden.“ Die respektvolle Bestattung einer unbrauchbar gewordenen Torarolle ist hier das eindrücklichste Beispiele; die Tora und liturgische Schriften, die das Tetragramm oder andere Gottesbezeichnungen enthalten, dürfen nicht einfach weggeworfen werden, sondern werden in einer Geniza, einem Raum zur Aufbewahrung unbrauchbar gewordener Schriften, „bestattet“. Für den Umgang mit dem Koran sind ebenfalls bestimmte Regeln einzuhalten, die sowohl den Umgang mit dem Koran selbst als auch seine Rezitation betreffen. Ausgehend von Sure 73,4 („Trage den Koran auf deutlich Weise vor“) hat sich die Kunst der Koranrezitation (ʿilm at-taǧwīd) als Teil der Wissenschaft von den Koranlesarten entwickelt, die durch Anweisungen 29 zum korrekten Benehmen vor und während der Rezitation ergänzt wird (vor allem die rituelle Reinheit und die Ausrichtung zur Quibla, der Gebetsrichtung nach Mekka, bei der Rezitation). Im Christentum gelten für den Umgang mit der Bibel dagegen keine besonderen Vorschriften.30 Zwar 27 Er spiegelt in der Regel den Wert wider, der dem darauf festgehaltenen Inhalt zugesprochen wird. 28 Luft, Schriften, 23. Zu den Vorschriften beim Anfertigen einer Tora-Rolle vgl. Hanna Liss., Vom sefer tora zum sefer: Die Bedeutung von Büchern im „Buch der Frommen“ des R. Yehuda ben Shemu’el he-Chasid, in: Quack/Luft, Erscheinungsformen (vgl. Anm. 11), 207–227, besonders 209–211. 29 Vgl. Kristina Nelson, The Art of Reciting the Qurʾan, Kairo, 2001. Unter „Anstandsregeln für das Lesen des heiligen Qurân“ die Regeln leicht verständlich unter http:// www.islamweb.net/grn/index.php?page=articles&id=154057 aufgelistet (Zugriff am 2.11. 2016). 30 Bruno Reudenbach, Der Codex als Verkörperung Christi. Mediengeschcihtliche, theologische und ikonographische Aspekte einer Leitidee früher Evnaglienbücher, in: Quack/

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wird dem Bibelbuch Achtung entgegengebracht, wie z.B. der Umgang mit der Bibel im Gottesdienst oder die Wertschätzung einer über Generationen weitergegebenen Familienbibel zeigen (die man sich im Umgang mit Schulbibel bisweilen auch wünscht). Darüber hinaus gelten aber keine weiteren Vorschriften, und auch eine unbrauchbar gewordene Bibel erfordert keinen besonderen Umgang mehr. Dass die Bibel und ihre Texte in künstlerischästhetischen Zusammenhängen breit aufgegriffen werden, zeigt freilich ihre Wirkung selbst in säkularisierten Kontexten. Vielfach jedenfalls ist ersichtlich, dass „das Zusammenspiel zwischen der Gestaltung des textlichen Objekts und/oder seiner kontextuellen Einbindung in Verwendungsrahmen zusammen mit dem Inhalt für die Schaffung von Sinn und Bedeutung rele31 vant ist.“ Der konkrete Umgang mit heiligen Schriften stellt ein nicht zu vernachlässigendes Element ihrer Bedeutung dar. Offensichtlich ist es nicht nur ihr Inhalt, der sie zu heiligen Schriften macht. 2.3 Die besondere Geltung heiliger Schriften steht häufig in Zusammenhang mit ihren Autoren, denen besondere Einsicht zugesprochen wird, von dem Religionsgründer, frühen Repräsentanten der jeweiligen Religion oder – in einem darüber hinausgehenden Gedankenschritt – von Gott selbst mittels einer Offenbarung. Dies hebt heilige Schriften von allen anderen Schriften ab. Oft ist damit der Gedanke der Inspiration verbunden; mit ihr kann die Vorstellung verknüpft sein, dass die Schriften schon vor ihrer Niederschrift in einer jenseitigen Welt existiert haben. Dies ist besonders im Judentum und im Islam der Fall: nach dem Talmudtraktat bSchab 88b empfing Mose am Sinai die Tora, die aber schon vor der Schöpfung bei Gott als Geheimnis vorhanden war, und für Muslime sind die Wendungen von der „wohl verwahrten Tafel“ (Sure 85,21f.), vom „verborgenen Buch“ (Sure 56,77f.) und von der „Mutter des Buches“ (Sure 3,7; 13,39; 43,4) Hinweise auf den bei Gott von allem Anfang an vorhandenen Koran. Dementsprechend ist der Koran Gottes offenbartes Wort, das sich wortwörtlich Gott verdankt (vgl. Sure 36,69f.; 43,2–4). Auch die orthodoxe jüdische Interpretation geht von der direkten Herkunft der Tora von Gott aus, während das konservative und 32 erst recht das liberale jüdische Verständnis davon ausgeht, dass die Tora ein Luft, Erscheinungsformen (vgl. Anm. 11), 229–244, verweist auf den Kodex als signum christlicher Schriftbedeutung. Dies gilt zwar für die Frühzeit der neutestamentlichen Schriften, kann aber, nachdem der Kodex sich aufgrund seiner praktischen Vorzüge gegenüber der Buchrolle durchgesetzt hat, nicht mehr als Unterscheidungskriterium gelten. 31 Luft, Schriften, 21. 32 Das sogenannte konservative Judentum unterscheidet sich als eigene jüdische Denomina-

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menschliches Dokument ist, das in Reaktion auf die Gottesoffenbarung am Sinai verfasst wurde. Im Christentum hat man sich zur Begründung der Inspiration der Schrift auf 2Tim 3,16 („alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zu Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“) und 2Petr 1,21 („Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet“) berufen. Dort ist von einer göttlichen Wirksamkeit und Inspiration von Schrift und Weissagung die Rede, ohne jedoch die Art dieser Wirksamkeit festzulegen. In der christlichen Dogmatik wurde die Vorstellung von der göttlichen Inspiration der Schrift auf unterschiedliche Weise ausformuliert: Die so genannte Realinspiration sieht Gott in Jesus Christus selbst, seinem Handeln und seiner Verkündigung am Werk. Die biblischen Schriftsteller lassen sich davon ansprechen und schreiben ihre Werke unter dem Eindruck dieses Wirkens und im Glauben daran. Die Personalinspiration geht davon aus, dass die biblischen Schriftsteller von Gottes Geist bewegt wurden und so angeregt ihre Schriften verfasst haben. Am weitesten geht die Verbalinspiration, die die biblischen Autoren als Werkzeuge Gottes auffasst, die wörtlich das aufgeschrie33 ben haben, was Gott ihnen eingab. Es liegt auf der Hand, dass die Vorstellung einer Verbalinspiration (ob in Tora, Bibel oder Koran34) zwar einerseits die „Heiligkeit“ der jeweiligen Schrift am stärksten hervorhebt und sie ganz an den göttlichen Ursprung bindet, sie aber zugleich auch am stärksten reglementiert und den Gedanken der Beziehung vernachlässigt: Jüdische und christliche Bibel oder Koran sind demnach in sich und als solche absolut wahr; wer dies nicht anerkennt, befindet sich entweder im Irrtum oder macht sich – radikaler gesprochen – gegenüber der heiligen Schrift und ihrem Urheber schuldig, mit unangenehmen Konsequenzen im Jenseits. tion vom orthodoxen wie vom liberalen Judentum. Konservativ ist es im Vergleich mit dem liberalen, reformorientiert jedoch im Vergleich mit dem orthodoxen Judentum. Vgl. David Golinkin/Michael Panitz, Conservative Judaism, in: Encyclopaedia Judaica, Band 5, 2007, 171–177.; Pnina Navè Levinson, Einführung in die rabbinische Theologie, Darmstadt 31993, 9–15. 33 Vgl. hierzu beispielsweise Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 22000, 119–123. 34 Das islamische Konzept der Inspiration (Ilham, eigentlich „Verschlingen Lassen“) bezieht sich allerdings nicht auf den Koran, sondern stellt eine göttliche Mitteilung an einzelne Menschen dar und hat deshalb die die gleiche Bedeutung wie die Offenbarung für alle Menschen, die im Koran vorliegt; vgl. www.eslam.de/begriffe/i/inspiration.htm, Zugriff am 25.11.2016.

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Glaube und Lernen, 31/2016, Heft 1, Kennwort

Aus christlicher Sicht bleibt die in der Bibel bezeugte Offenbarung aber wirkungslos und insofern unvollständig, so lange sie nicht zu einer persönlichen Gewissheit führt. Martin Luther hat dies mit der Unterscheidung von Buchstabe und Geist erläutert: Die Bibel kann bloß Geschriebenes sein, ohne dass sie existenzielle Bedeutung erlangt, Buchstabe eben. Sie kann aber auch zum bewegenden und geistvollen Wort werden und zu innerer Gewissheit führen, die sich nach christlichem Verständnis dem Wirken Gottes verdankt.35 Nicht im Sinne einer formalen Autorität ist die Bibel deshalb Grund und Quelle des Glaubens, sondern auf Grund ihres Geistes und der in ihr verhandelten Sache: der Offenbarung Gottes. Diesem Kommunikationsgeschehen kann die Verbaltinspiration nicht gerecht werden. Sie versucht, die Offenbarung objektiv zu sichern, was aber nicht gelingen kann, weil selbst das so abgesicherte Bibelwort „bloßer Buchstabe“ und damit bedeutungslos bleiben kann. Umgekehrt aber kann ein Bibelwort, das anspricht und bewegt, als geistvoll und als „Wort Gottes“ erfahren werden.36 Hier sind Differenzen zwischen Muslimen und Christen, aber auch z.B. zwischen fundamentalistischen und nicht-fundamentalistischen Christen unübersehbar. Im Judentum findet sich eine Position, die die Herkunft der Heiligen Schrift von Gott mit einer großen Freiheit zur Interpretation verbindet: Zwar ist das Wort der Tora wörtlich von Gott inspiriert, bis hin zu den kleinen Zeichen der althebräischen Schrift37; da aber nicht einmal die größten Gelehrten den Reichtum der göttlichen Offenbarung umfassend erkennen können, und da auch sie sich bisweilen irren, führt die Heilige

35 Die Bibel ist geschriebener, lesbarer, deutbarer, deutungswürdiger Text und zugleich aktualisiertes, gesprochenes und anregendes Wort. Nicht bloß „Lesewort“ enthält sie, „sondern eitel Lebewort“ (Martin Luther, WA 31,1; 67 24–27). Sie ist kein Lehrbuch, sondern ein Buch des Lernens, des Glaubens und des Lebens. Zum Lebensbuch wurde und wird sie für diejenigen, die sich ihre Worte nehmen und zum eigenen Wort machen, um damit ihre Hoffnung auf Gott und ihre Sehnsucht nach einer gerechten Welt laut werden zu lassen. Vgl. hierzu auch Ernstpeter Maurer, Inspiration, in: WiBiLex, www.bibel-wissenschaft.de/wibilex, dort Artikel Inspiration (Zugriff am 20.11.2016). 36 Gerade deshalb fordert die Bibel zum Suchen auf und verknüpft es mit der Verheißung des Findens: „Bittet, so wird euch gegeben. Suchet, so werdet ihr finden. Klopfet an, so wird euch aufgetan“ (Lukas 11,9). 37 Annett Martini/Susanne Talabardon, Bibelauslegung. Jüdische, in: WiBiLex, http:// www.bibelwissenschaft.de/wibilex (Zugriff am 20.11.2016): Zu den Grundvoraussetzungen der rabbinischen Schriftinterpretation gehören Omnisignifikanz (jedes einzelne Wort und Schriftzeichen hat eine eigene Bedeutung) und Polysemanz (der Text hat stets mehrere Bedeutungsebenen, vgl. Ps 62,12).

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Schrift gerade nicht zur festgelegten Auslegung, sondern im Gegenteil zur Freiheit der Interpretation.38 2.4 In diesem Zusammenhang ist auch die Sprache von Bedeutung, in der die heiligen Schriften verfasst sind. Wenn die Aussagen dieser Schriften auf Beziehung aus sind und nur in ihr Bedeutung gewinnen, liegt auf der Hand, dass sie verstehbar sein müssen. Das großartige Projekt der Bibelübersetzung Luthers und ihres hermeneutischen Grundsatzes, bei der Übersetzung „den Leuten aufs Maul zu schauen“, zeigt dies exemplarisch an. Die Kenntnis der biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch ist aus christlicher Sicht zwar für die Erhellung des Ursprungssinns unaufgebbar, nicht aber für den Vollzug des Glaubens; das Bibelwort kann in jeder Sprache zum Zuspruch und Anspruch Gottes werden. Selbst fundamentalistische Christen lesen die Bibel in ihrer jeweiligen Sprache. In den beiden anderen Religionen geht man von einer größeren Nähe bestimmter Sprachen zum Numinosen aus. Nach islamischer Auffassung hat Gott nur im Koranarabischen seinen Willen kundgetan. So bringt bereits die Form des arabischen Alif (ein gerader Strich von oben nach unten), des ersten Buchstabens im arabischen Alphabet, die Einheit und Einzigkeit 39 Gottes zum Ausdruck. Deshalb kommt dem „Lesen“ eine andere Funktion zu. Der biblischen Frage „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30) steht koranisch die Aufforderung zum rezitierenden Lesen gegenüber. Rezitieren ist die eigentlich angemessene Form des Lesens.40 Eine Übersetzung – 38 Schon im Frühjudentum lassen sich unterschiedliche Akzentsetzungen im Blick auf die Inspiration der Schrift erkennen. Während nach der Darstellung des Aristeasbriefes (301– 307) die Übersetzer der Septuaginta durch Vergleiche in einem Wortlaut übereinkamen und die göttliche Leitung sich vor allem darin zeigt, dass die die 72 Übersetzer ihre Arbeit in 72 Tagen vollendeten, stellt Philo von Alexandrien die Übersetzung selbst als durch Gottes Eingebung geleitet dar: „[…] verdolmetschten sie wie unter göttlicher Eingebung nicht jeder in anderen, sondern alle in den gleichen Ausdrücken für Begriffe und Handlungen, als ob jedem von ihnen unsichtbar ein Lehrer diktierte“ (Vit Mos II 37). Zur Vorstellung vom göttlichen Ursprung der heiligen Schrift in der rabbinischen Theologie vgl. Paul Billerbeck (Strack-Billerbeck), Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch IV, München 51969, 435–451. 39 Nach der islamischen Mystik entspricht der erste Buchstabe des arabischen Alphabets dem Zahlenwert eins, und das Wort Allah beginnt mit einem Alif; so bezeichnet bereits dieser Buchstabe die Einheit und Einzigkeit Gottes und lädt zur Meditation ein. Wenn salafistische Prediger der Gegenwart ihre Predigten häufig mit dem erhobenen Zeigefinger unterstreichen, soll dies auf die Einzigkeit Gottes hinweisen. 40 Die zeigt sich schon am Begriff „Koran“ selbst, der „Lesung, Rezitation, Vortrag“ bedeutet. Nach Sure 72,1 haben wir „einen wunderbaren Koran gehört, der auf den rechten Weg führt“. Aus einem Hadith von Buchari geht die herausragende Bedeutung der Rezi-

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und mag sie auch noch so wortgetreu sein – ist immer nur eine Annäherung, die die Fülle des Gemeinten nicht sachgemäß zum Ausdruck bringen kann. Mit dem Rezitieren und dem Hören koranischer Verse werden dagegen heilige Worte laut, und zwar potenziell unabhängig vom Verstehen. Die Wahl der Schriftzeichen und der Sprache stellt damit bereits einen essentiell wichtigen Teil dar für die Wirksamkeit der gesamten Schriftobjekte oder der Ritualpraktiken, in denen Schriftzeichen zum Einsatz kommen.“41 Im Judentum gilt das Bibelhebräisch als die Sprache, mit der Gott „mit unseren Propheten, den späteren Rabbinern und mit uns und allen anderen, die diese Schriften studieren, in Interaktion tritt.“42 Bereits die Vokalisierung des hebräischen Konsonantentexts gilt als Interpretation43, und die griechische Übersetzung der Schriften, die sogenannten Septuaginta, wird durchaus als problematisch gesehen; jedenfalls gilt der 8. Tewet (der zehnte Monat des jüdischen Jahres), ein Tag, an dem zumindest die Frommen fasten, als unheilvoll, weil an diesem Tag die Tora ins Griechische übersetzt worden sein soll.44 Keine Übersetzung ist in gleicher Weise in der Lage die ganze Fülle des Gotteswortes zu erschließen wie der hebräische Text. Gleichwohl werden Übersetzungen auch positiv gewürdigt. Schon in der Antike waren Übersetzungen der Tora ins Aramäische notwendig (Targum), da nicht alle Juden das Hebräische verstanden, und die Septuaginta hatte natürlich den

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tation anschaulich hervor: „Das Gleichnis des Gläubigen, der den Koran rezitiert und danach handelt, ist das einer Zitruspflanze, die gut schmeckt und riecht. Und das Gleichnis für einen Gläubigen, der den Koran nicht rezitiert, aber nach ihm handelt, ist das einer Dattel, die gut schmeckt, aber nicht duftet. Und das Gleichnis des Heuchlers, der den Koran rezitiert, ist das von Basilikum, das gut riecht, aber bitter ist. Und das Gleichnis für den Heuchler, der den Koran nicht rezitiert, ist das einer Koloquinte, die bitter schmeckt und keinen Duft hat“; Sahīh al-Buchārī, Band 6, Buch 61, Hadith 579 vgl. Dieter Ferchl (Hg.), Sahīh al-Buchārī. Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad, Stuttgart 1991. Vgl. auch Frederick M. Denny, Qur’an Recitation: A Tradition of Oral Performance and Transmission, in: Oral Tradition 4/1–2, 1989, 5–26. Luft, Schriften, 24. Markus Sternecker, Umgang mit der Heiligen Schrift – Praxiserfahrungen aus dem jüdischen Religionsunterricht, in: B. Schröder u.a. (Hg.) Heilige Schriften, RPE 6, 228f. (im Druck). Vgl. hierzu ausführlicher Marianne Grohmann, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1999, 78f. Vgl. hierzu Stemberger, Text, 63, sowie http://www.juefo.com/judentum/die-juedischenmonate/385-der-monat-tewet. html, am 30.11.2016. Der 8. Tewet wird auch mit dem Tag gleichgesetzt, an dem das Goldene Kalb angefertigt worden sein soll.

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Zweck, die Tora den griechisch sprechenden Juden zugänglich zu machen.45 So ermöglichten diese und ermöglichen heutige Übersetzungen den Zugang zu den Schriften des Tanach, aber sie sind sozusagen Mittel zum Zweck: „Das Ziel der jüdischen Erziehung … muss sein, dass wir unsere heiligen Schriften, zu denen seit ihrer Aufzeichnung auch Mischna und Talmud gehören, im Urtext verstehen, um ihren Geist unversehrt in uns aufzunehmen und im Leben zu betätigen.“46 2.5 Die heiligen Schriften bilden weiterhin einen mehr oder weniger verbindlichen Kanon der als authentisch geltenden Überlieferung.47 Für eine Religion wie das Judentum, dessen Schriften über einen sehr langen Zeitraum hinweg entstanden sind, ergibt sich das Problem der Kanonisierung gleichsam „von selbst“. Keine der Schriften der Hebräischen Bibel ist als „heilige Schrift“ entstanden, erst im Nachhinein wurden sie als solche anerkannt und ihr Bestand festgelegt, wobei bereits der Kanon der hebräischen Schriften sich vom Kanon der Septuaginta unterscheidet. Das entstehende Christentum hat daran insofern Anteil, als es die Schriften des „Alten Tes48 49 taments“ als heilige Schrift übernimmt. Aber auch diejenigen Schriften, die im frühen Christentum neu hinzutreten, gelten nicht von vornherein als kanonisch, sondern werden dies erst in einem längeren Selektionsprozess. Dabei geht sowohl im Judentum als auch im frühen Christentum mit der Kanonisierung von Schriften eine Abwertung bestimmter Schriften einher, die zum Teil absichtsvoll nicht kanonisiert werden, weil sie mit den Grundsätzen der Kanonbildung nicht oder nur einschränkt kompatibel sind, oder die für die Kanonisierung nie in Frage kamen, gleichwohl aber in hohem 50 Ansehen standen oder stehen. 45 Vgl. hierzu Annette M. Boeckler, Mit anderen Worten, Veröffentlichungen des Zenralrats der Juden in Deutschland 12. Jahrgang Nr. 9/28. September 2012, http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3829.mit-anderen-worten.html am 30.11.2016. 46 Selig Bamberger (Hg.), Raschis Pentateuch-Kommentar, Basel 2202. 47 Das genaue Festhalten an einem bestimmten Überlieferungsbestand ist vor allem in Religion wichtig, die ihre Schriften auf eine göttliche Offenbarung zurückbeziehen. 48 Der Katholizismus bezieht sich dabei auf die Septuaginta, während die protestantischen Kirchen auf den Tanach zurückgreifen, gleichwohl aber die Reihenfolge der einzelnen Bücher nach der Septuaginta anordnen. 49 Die christlichen Verfasser des Neuen Testaments gehen davon aus, dass sich die jüdischen Schriften im vollen Sinn erst vom Wirken Jesu aus erschießen, gleichwohl aber unaufgebbar bleiben. 50 Für das frühe Christentum gilt dies beispielsweise für die Klemensbriefe oder die Theklaakten, auch wenn sie von einzelnen Kirchenvätern kritisiert wurden.

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Der Islam beruft sich demgegenüber auf eine Offenbarung Gottes, die dem (des Schreibens unkundigen Muhammad) durch den Engel Gabriel in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum zuteilwurde und mit der letzten geoffenbarten Sure abgeschlossen war. Zu Lebzeiten des Propheten wurden seine Worte sorgfältig aufbewahrt, allerdings als lose Sammlung; nach seinem Tod wichtiger Gefolgsleute bemühte man sich die offenbarten Worte vor Veränderung und Verfälschung zu bewahren. Abu Bakr, der Schwiegervater Muhammads sammelte als erster Kalif Koranteile und ergänzte sie durch mündliche Miteilungen. Der dritte Kalif, Uthman, ließ aufgrund dieser Sammlungen ein Koranwerk erstellen, das in der Folge als Standard51 werk angesehen wurde und bis heute Gültigkeit hat. Die im Vergleich mit der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament vergleichsweise kurze Entstehungszeit des Korans wird von Muslimen als Argument für seine Authentizität gewertet. 2.6 Die Schriften der drei Religionen gelten als normativ: Glaubensfragen, ethische Probleme und/oder rituelle Abläufe werden im Rückgriff auf sie entschieden. Diese Entscheidung hat einen hohen Grad an Verbindlichkeit, verdankt sich aber einer unterschiedlichen Hermeneutik. Die rabbinische Hermeneutik geht von der Schrift als Offenbarung aus, die alles enthält: „Wende und wende die Tora, denn alles ist in ihr“ (Pirque Aboth 5,22). Interpretation gehört deshalb von Anfang an als Prinzip zur 52 Tora hinzu ; sie umfasst auch die Anwendung der Tora auf die jeweils sich ändernden Lebensbedingungen ihrer Ausleger. Von hier aus erklärt sich die Hochschätzung der „mündlichen Tora“. Wenn nämlich die schriftliche Tora eine unendliche Fülle an Auslegungsmöglichkeiten eröffnet, besteht die Gefahr einer völligen Beliebigkeit der Auslegung. Die mündliche Tora, die in der Gemeinschaft der Gläubigen tradiert wird, weist in dieser potenziellen Beliebigkeit den religiös gangbaren Weg.53 Eine Anekdote in bSchab 31a verdeutlicht nicht nur den unterschiedlichen Charakter der beiden Lehrer Schammai und Hillel, sondern auch den unauflöslichen Zusammenhang von schriftlicher und mündlicher Tora: „Einst trat ein Nichtjude vor Schammai und sprach zu ihm: Wieviel Torot hab ihr? Dieser erwiderte. Zwei; eine schriftliche und eine 51 Vgl. Adel Th. Khoury, Der Islam. Sein Glaube, seine Lebensordnung, sein Anspruch, 4 Herder Spektrum 4167, Freiburg/Basel/Wien 1996, 36f. 52 Belege bei Günter Stemberger, Vollkommener Text in vollkommener Sprache. Zum rabbinische Schriftverständnis, in: JBTh12, 1998, 53–65, hier 59. 53 Vgl. hierzu Sternberger, Text, 64f.

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mündliche. Da sprach jener, mache mich zum Proselyten (d.h. erlaube mir den Übertritt zum Judentum), unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst. Dieser schrie ihn an und entfernte ihn mit einem Verweis. Darauf trat er vor Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten. Am ersten Tag lehre er ihn Aleph, Beta, Gimel, Dalet (d.h. die ersten vier Buchstaben des hebräischen Alphabets), am folgenden Tag aber lehrte er ihn umgekehrt. A sprach jener: Gestern hast du mich ja anders gelehrt! Dieser erwiderte: Wenn du dich auf mich verlässt, so verlas dich auch auf mich bezüglich der mündlichen Tora.“

Die Bindung an die jüdische Auslegungsgemeinschaft bewirkt auch, „dass nach rabbinischer Auffassung ein Nichtjude zwar den Text der Bibel haben mag, er ihn aber doch nicht richtig auszulegen versteht, sondern ständig Missverständnissen unterliegt.“54 In der christlichen Theologie wird die Bedeutung der Auslegungstraditiion unterschiedlich bewertet. Die protestantische, insbesondere die lutherische Theologie verleiht der Bibel den Rang der „norma normans“ (also der normierenden Größe), während die Bekenntnisschriften als „norma normata“ gelten.55 Schon innerhalb der lutherischen Theologie differiert aber das Verständnis der Bekenntnisschriften, je nachdem, ob die Beziehung der Bekenntnisschriften zur Bibel eng ist, weil sie sich oder insofern sie sich auf die Bibel beziehen. Bezieht man die katholische Position mit ein, so zeigt sich, dass hier die Lehrtradition höher bewertet wird. Zwar wird auch im Katholizismus der Vorrang der Schrift prinzipiell nicht in Frage gestellt. Es geht allerdings um die kritische Funktion der Schrift gegenüber der Tradition und umgekehrt um die Bedeutung der Tradition für die Auslegung der 56 Schrift. Sie „vor Verirrungen und Glaubensschwäche“ zu schützen und „den ursprünglichen Glauben irrtumsfrei zu bekennen“ ist Aufgabe des Lehramts.57 Genau dagegen wandte sich bereits Luther, der festhielt, „dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle

54 Stemberger, Text, 64. 55 Vgl. Artikel 1 der Konkordienformel aus dem Jahr 1577: „Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen, sind allein die prophetischen und apostolischen Schriften altes und neues Testament …“ 56 Von katholischer Seite wird darauf hingewiesen, dass die Schrift die Tradition nicht nur kennt und empfiehlt (1Kor 11,2.23; 2Thess 2,15; 3,6; 2Petr 2,21 Jud 3), sondern selbst in einem langen Tradierungsprozess entstanden ist, wie umgekehrt die Tradition ihre Inhalte weitgehend aus der Schrift nimmt. 57 Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, 262.

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Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen.“58 Das Verhältnis von (Lehr-) Amt, Tradition und Schrift gehört deswegen zu den schwierigen Fragen im innerchristlich-konfessionellen Dialog. Im Islam ist die Sunna, d.h. die Überlieferung von dem vorbildlichen Leben Muhammads, die zweite Hauptquelle neben dem Koran. Ihre Bedeutung ist im Koran grundgelegt: „Gehorcht Allah und Seinem Gesandten, wenn ihr gläubig seid!“ heißt es in Sure 8,1.46; 3,32 u.ö.). Den Worten des Propheten zuwiderzuhandeln wird ausdrücklich verboten (Sure 58,5.20 u.ö.), und Sure 33,36 hält fest: „Weder für einen gläubigen Mann noch für eine gläubige Frau gibt es, wenn Allah und Sein Gesandter eine Angelegenheit entschieden haben, die Möglichkeit, in ihrer Angelegenheit zu wählen. Und wer sich Allah und Seinem Gesandten widersetzt, der befindet sich ja in deutlichem Irrtum.“ Dementsprechend gilt umgekehrt: „Wer dem Gesandten gehorcht, der gehorcht Allah“ (Sure 4,80). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im Alltag die Vorschriften und das Beispiel Muhammads eine größere Bedeutung haben als der Koran selbst 3.

Vermittlung

Dass die heiligen Schriften an die junge Generation weitergegeben werden sollen, ist in ihrer grundlegenden Bedeutung für die jeweiligen Religionen begründet. Mit dem Kennenlernen der Schriften können junge Menschen zugleich eigene Erfahrungen im Umgang mit einem zentralen Element der jeweiligen Religion machen. Dies gilt auch im Blick auf das Kennenlernen anderer Religionen; neben Alltagserfahrungen spielen auch hier die heiligen Schriften im Unterricht eine zentrale Rolle. Mitchell hat in seinem Beitrag zu Heiligen Christen und interkultureller Begegnung auf drei grundlegende hermeneutische Herangehensweisen an Texte aufmerksam gemacht: Reading „behind the Text“, „in the text“ und 59 „in front of the text“. „Reading behind the text“ fragt nach Entstehungsbedingungen, Herkunft, Motiv- und Traditionsgeschichte sowie sozialen und historischen Rahmenbedingungen von Texten; „reading in the text“ bezieht sich auf die Textaussagen selbst, ihre Aussage- und Wirkabsicht sowie ihre literarisch-ästhetische Qualität; „reading in front of the text“ hat 58 WA 11, 408–416. 59 Gordon Mitchell, Heilige Schriften und interkulturelle Begegnung, in: P. Schreiner/U. Sieg/V. Elsenbast (Hg.), Handbuch interreligiösen Lernens, Gütersloh 2005, 657–577. Die hermeneutische Diskussion ist sehr viel differenzierter als diese Schlagworte, die jedoch die Problematik gut auf den Punkt bringen.

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die Rezeption der Texte im Blick, die kulturell vermittelt sind (z.B. Literatur, Theater, Film) oder persönliche verantwortet werden. Diese Zugangsweisen stehen in den drei Religionen in unterschiedlicher Weise in Geltung. Kinder die Tora zu lehren hat im Judentum einen außerordentlich hohen Stellenwert und ist nach Dtn 11,19 Pflicht. Nach den „Sprüchen der Väter (Aboth 5,24) soll man mit fünf Jahren die Heilige Schrift lesen, mit zehn die Mischna, mit dreizehn die Gebote erfüllen und mit fünfzehn den Talmud studieren. Schon der Dreijährige lernt das Sch’ma Israel (Dtn 6,4 „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein“), und die Kinder werden an den familiären Festlichkeiten entlang in die Tradition eingeführt: „Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Sohn sagen …“ (Dtn 6,20 im Blick auf das Passafest). Mit dreizehn Jahren ist der Sohn religionsmündig und zählt bei der notwendigen Zahl 60 der Besucher für den Synagogengottesdienst mit. Vor diesem Hintergrund sind die Talmud-Stellen zu verstehen, die die Wichtigkeit des Lernens hervorheben: „Die Welt besteht nur durch den Hauch der Schulkinder“ (bSchab 119b), und nach Jeb 1b wäre nicht einmal die Arbeit am Tempel ein hinreichender Grund Kinder vom Unterricht abzuhalten. Alle wichtigen Quellen des Judentums führen „den Lehr- und Lernbegriff im Titel […]: Tora, Talmud, Mischna, Gemara, Mischne Tora, Mischna Brura“, und das Lernen wiegt alle anderen religiösen Pflichten auf.61 Dabei geht es nicht lediglich um das Lesen und Lernen der Texte, sondern um ihre Aktualisierung („reading in front of the text“), wie schon Dtn 6,21–23 zeigt: Wer sich an den Auszug Israels aus Ägypten erinnert, stellt sich selbst in diese Tradition hinein und spricht sie nach als habe er sie selbst erlebt.62 In der Traditionsvermittlung kommt es deshalb darauf an, wie die „Geschehnisse von damals im religiösen Gedenken verarbeitet und was sie für das religiöse Bewusstsein der Juden bis heute bedeuten“, deshalb sind Kenntnisse in der jüdischen Bibelauslegung 60 Vgl. Sternecker, Umgang, 228: „Zentrales Ziel des jüdischen Religionsunterrichts ist es, jüdischen Schülerinnen und Schülern die Kompetenz zu vermitteln, am Synagogeng’ttesdiest aktiv teilhaben zu können.“ 61 So Daniel Krochmalnik, Jüdische Religionslehre, -pädagogik und -didaktik, auf der Homepage der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, http://www.hfjs.eu/hochschule/leh-re/religion.html 62 Dtn 6,21–23 „Wir waren Knechte des Pharaos in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand; und der HERR tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unseren Augen und führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unseren Vater geschworen hatte.“

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und der rabbinischen Literatur für Lehrkräfte unerlässlich, aber auch für Schüler/innen gefordert.63 „Für die jüdische Religionspädagogik ergibt sich aus dieser einzigartigen Hochschätzung des ‚Lernens‘ in der jüdischen Tradition die Möglichkeit und Aufgabe, ihre Grundbegriffe aus den jüdischen Quellen zu entwickeln und so einen eigenen Stand in der gegenwärtigen Religionspädagogik zu behaupten.“64 Das Kennenlernen der Bibel spielt in der Traditionsvermittlung des Christentums eine große Rolle, mit Abstufungen in den verschiedenen Konfessionen. Im Protestantismus ist dies durch den Grundsatz „allein die Schrift“ (sola scriptura) grundgelegt. Seit dem „hermeneutischen Religionsunterricht“ und der Schülerorientierung bzw. auf katholischer Seite der Korrelationsdidaktik wird in der christlichen Religionspädagogik dabei großer Wert auf das Verstehen der Texte gelegt. Verstehen ist nicht lediglich als intellektueller Nachvollzug gefasst, sondern schließt das Sich-in65 Beziehung-Setzen zu den Texten mit ein. Ob Kinder und Jugendliche die biblische Botschaft für sich selbst gelten lassen, liegt jedoch in ihrer freien Entscheidung. Zum Verstehen der Botschaft im Sinne einer „Auslegungskompetenz“ kann der Unterricht aber anleiten. Hierzu dienen Kenntnisse, die den Umgang mit der Bibel erleichtern, Grundkenntnisse zum Inhalt der Bibel66 sowie die Einübung in einen selbständig-verstehenden Umgang mit biblischen Texten mit dem Ziel, „die Bibel als ‚Lebensbuch‘ eigenständig und reflektiert gebrauchen und auf das eigene Leben beziehen zu können“67 – und zwar unter Berücksichtigung der Freiheit von Schülerinnen und Schülern zum eigenen Urteil.68 Der Katechismusunterricht spielt demge63 Vgl. Sternecker, Umgang, 229. 64 Krochmalnik, ebd. Die Tora „Tag und Nacht zu lernen“ Jos 1,8 ist deshalb zum Motto der Hochschule geworden. 65 Vgl. hierzu Mirjam Schambeck, Bibeldidaktik. Grundfragen, in: WiReLex, https://www. bibelwissenschaft.de, Zugriff am 24.11.2016. 66 Vgl. hierzu Peter Müller, Schlüssel zur Bibel. Eine Einführung in die Bibeldidaktik, Stuttgart 2009. 67 Cornelia Weber, „Verstehst du auch, was du da liest?“ Die Bibel im Evangelischen Religionsunterricht, in: B. Schröder u.a. (Hg.) Heilige Schriften, RPE 6, 228f. (im Druck), 248. 68 Vgl. Mirjam Schambeck, Bibeldidaktik. Grundfragen, in: WiReLex (Zugriff am 1.12.16): „Biblisches Lernen erreicht damit nicht erst dort sein Ziel, wo Menschen die Worte der Bibel als Wort Gottes lesen, das auch an sie selbst gerichtet ist und von ihnen für ihr Leben in ‚Gebrauch genommen‘ wird. Biblisches Lernen – zumindest im Religionsunterricht – ist auch dort schon gelungen, wo Schüler und Schülerinnen um biblische Erzählungen, Deutungen und vom Wort Gottes geprägte Lebensentscheidungen wissen, sie verstehen und beurteilen können, um so eine eigene, begründete Position in Bezug auf den Gehalt und die Gestalt biblischer Aussagen zu gewinnen.“

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genüber im schulischen Religionsunterricht kaum mehr eine Rolle, im kirchlichen eine geringe.69 Für Muslime ist der koranische Satz „Gutes gebieten und Schlechtes verbieten“ (Sure 3,110) grundlegend. Das Tun des Guten und die Abkehr vom Schlechten zeichnen zusammen mit dem Glauben an Allah die „beste menschliche Gemeinschaft“ der Muslime aus.70 Gerechtigkeit gilt als besondere Tugend (vgl. Sure 5,8 u.ö.), im öffentlichen wie im privaten Leben, ebenso die Liebe zur Wahrheit (Sure 33,70f.188 u.ö.), Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit ebenso (Sure 33,70f.; 70,32–35). Was das Gute ist, erkennt der Mensch nach islamischer Auffassung aber nicht aufgrund eigener Einsicht oder objektiver Normen, sondern in der Bindung an Gottes Willen: „Wir hätten unmöglich die Rechtleitung gefunden, wenn uns Allah nicht rechtgeleitet hätte“ (Sure 7,43). Die Gebote Gottes zu kennen und seiner 71 Rechtleitung zu folgen ist deshalb elementar wichtig. Da aber der Gehorsam gegenüber Gott alle Bereiche des Lebens umfasst, nicht nur solche, die ausdrücklich im Koran behandelt sind, tritt die Überlieferung des Propheten, die Sunna mit ihren Hadithen, als zweite Quelle der Rechtleitung neben den Koran.72 In den Hadith-Sammlungen sind Aussagen, Anweisungen und Empfehlungen von Muhammad und seinen Vertrauten wie auch Geschichten über sie enthalten. Neben dem Ideal, den Koran rezitieren zu können, spielt die Überlieferung des Propheten in der Vermittlung und Weitergabe islamischer Grundsätze eine wesentliche Rolle, denn das Leben des Propheten Muhammad hat für gläubige Muslime Vorbildcharakter: 69 Vgl. zum Katechismusunterricht Clauß Peter Sajak, Katechismus/Katechismusunterricht, in: www.wirelex.de (Zugriff am 25.11.2016). Er zeigt, dass durch die Aufwertung der Katechismen im Zeitalter der Konfessionalisierung diese grundsätzliche Problemstellung noch wesentlich verschärft worden ist: „Ob Luthers traditionsprägende Katechismen, der Heidelberger Katechismus oder der Catechismus Romanus der katholischen Kirche, die Verwendung dieses Mediums, das ursprünglich als didaktisches Instrument entwickelt worden war, trug als Bekenntnisschrift und Dokumentation einer kirchlichen Glaubenslehre entsprechend zu einer Steigerung von theologischem Umfang und sprachlicher Komplexität bei, die wiederum einem tatsächlich pädagogischen Einsatz entgegenstand.“ 70 „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allah. Und wenn die Leute der Schrift glauben würden, wäre es wahrlich besser für sie. Unter ihnen gibt es Gläubige, aber die meisten von ihnen sind Frevler.“ 71 Vgl. Anis Hamadeh, Islam für Kids, Heidelberg 2007, 156: „Beim Jüngsten Gericht müssen alle Menschen sich rechtfertigen und Gott entscheidet, ob sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Die Menschen werden zu guten Taten aufgerufen, damit sie ins Paradies eintreten können. Das ist der Bund Gottes mit den Menschen.“ 72 Vgl. Sure 59,7: „Und was euch der Gesandte gibt, das nehmt, und was er euch verwehrt, von dem lasst ab und fürchtet Allah. Siehe, Allah straft streng.“

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„Wahrlich in dem Gesandten Allahs hattet ihr ein schönes Beispiel für jeden, der auf Allah und den Jüngsten Tag hofft und oft Allahs gedenkt“ (Sure 33,21). Wenig später wird in derselben Sure Vorbildcharakter als Verpflichtung formuliert: „Und nicht geziemt es einem gläubigen Mann oder Weib, wenn Allah und Sein Gesandter eine Sache entschieden hat, die Wahl in ihren Angelegenheiten zu haben. Und wer gegen Allah und Seinen Gesandten aufsässig wird, der ist in offenkundigem Irrtum“ (33,36; vgl. 4,14). Da viele Verhaltensweisen für den Alltag nicht im Koran geregelt sind, sondern auf Hadithe zurückgehen, spielen diese in der religiösen Erziehung eine wesentliche Rolle. Islamische Ideale wie Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft werden mit Hilfe der Erzählungen von Muhammad, seiner Frau Chadidscha, seiner Tochter Fatima und anderen personalisiert und dadurch nachvollziehbar. Als Beispielerzählungen in der eigenen Sprache sind sie für die islamische Traditionsvermittlung unverzichtbar und haben oft größere Wirkung als der Koran selbst. Den Koran (und die Hadithe) zu lesen genügt nach den Vorstellungen der aktuellen islamischen 73 Religionspädagogik in Deutschland allerdings nicht. Deutlicher als in Koranschulen, in denen die Koranrezitation als Glaubenspraxis eingeübt wird, kommt es im schulischen Religionsunterricht darauf an, Koranverse in ihren jeweiligen Kontext und historischen Ort einzuordnen, um sie angemessen verstehen zu können.74 Insgesamt zeigt sich: Bei der Vermittlung kommt es zu Defiziten, wenn „reading behind“, „reading in“ und „reading in front of“ jeweils einseitig betont werden. Beim „reading behind“ kann es zu einer Verobjektivierung der Texte kommen, in deren Folge ihre Lebensdienlichkeit aus dem Blick gerät; das „reading in“ bemüht sich um die Aussageabsicht der Texte, kann aber bei einem ästhetischen Goutieren der Texte oder der Anerkenntnis ihrer Fremdheit verweilen; die existenzielle Lektüre kann zu einer vorschnellen Übertragung der Texte in die jeweilige Gegenwart und das eigene Verstehen führen, ohne ihre eigene Aussageabsicht zu berücksichtigen und ohne sich von ihnen hinterfragen zu lassen. Vor Vereinseitigungen, unangemessenen Interpretationen, Herrschaftsansprüchen und hermeneutischen Kurzschlüssen ist keine heilige Schrift gefeit. Der inhaltlichen Fülle dieser 73 Vgl. Harry Harun Behr/Mathis Rohe/Hansjörg Schmid (Hg.), „Den Koran zu lesen genügt nicht.“ Fachliches Profil und realer Kontext für ein neues Berufsfeld. Auf dem Weg zum islamischen Religionsunterricht (Islam und Schule 1), Berlin/Münster 2008. 74 Vgl. hierzu Imran Schröter, Über den Umgang mit dem Koran und andere Heilige Schriften im islamischen Religionsunterricht, in: B. Schröder u.a. (Hg.) Heilige Schriften, RPE 6, 228f. (im Druck), 259.

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Schriften wird man nur gerecht, wenn man ihnen mit ihnen mit Respekt und verschiedenen Erschließungsmöglichkeiten begegnet. Dabei geht es nicht um einen unkritischen Umgang mit ihnen – Heilige Schriften verlieren ihre Besonderheit nicht, wenn man sie kritisch hinterfragt – wohl aber den respektvollen, der mindestens anerkennt, dass diese Schriften vielen Menschen Orientierung und Halt gegeben haben und geben. Abstract This article deals with the two elements of the notion holy/sacred scriptures. Holiness is introduced as a category of relation. It does not adhere to objects, processes or persons as such but is attributed in relation to them. This also applies to holy scriptures. Their holiness refers to their contents as well as their material appearance. This is explained in detail by means of basic texts of Judaism, Christianity, and Islam, and concentrated on the communication of holy texts.

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