Glaube und Lernen 1/2014 - Einzelkapitel: Diakonie 3846999608, 9783846999608

Im vorliegenden Heft vermittelt das Kennwort von Wolfgang Maaser einen profunden historischen und problemorientierten Ei

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Glaube und Lernen 1/2014 - Einzelkapitel: Diakonie
 3846999608, 9783846999608

Table of contents :
Kennwort
Theologische Klärung
Gespräch zwischen Disziplinen
Impulse für die Praxis
Rezension

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Zu diesem Heft Martin Rothgangel Ein wesentliches Kennzeichen dieser Zeitschrift ist der interdisziplinäre Dialog zwischen den verschiedenen Teildisziplinen der Theologie, wobei der Blick auch auf benachbarte Disziplinen geworfen wird. Gerade dadurch kann das jeweilige Thema aus ganz verschiedenen Perspektiven erhellt und für religiöse Bildungsprozesse fruchtbar gemacht werden. Im vorliegenden Heft vermittelt das Kennwort von Wolfgang Maaser einen profunden historischen und problemorientierten Einstieg in das Thema „Diakonie“. Nach seiner Darlegung grundlegender geschichtlicher Aspekte des Verhältnisses zwischen verfasster Kirche und Diakonie sowie seiner Diskussion theologischer Grundlagen markiert Maaser abschließend Herausforderungen, die deutlich auch gegenwärtige Probleme markieren: „Die kirchliche Rolle als Arbeitgeber, besonders die Arbeitergeberrolle gegenüber 430.000 Mitarbeitern in Einrichtungen des Diakonischen Werks erfordert faire Konfliktlösungen, um weitere Reputationsverluste zu vermeiden und Vertrauen zu bilden.“ (S. 15) Es folgen die Ausführungen von Anni Hentschel mit dem beredten Titel „Diakonie – Sprachverwirrung um einen griechischen Begriff“. Ihre Exegese einschlägiger Texte aus dem Neuen Testament führt nämlich zu dem Befund, „dass eine Übersetzung mit ‚Dienst, Dienen‘ der neutestamentlichen Wortverwendung nicht gerecht wird. Außerdem lässt sich eine Verwendung im Sinne von ‚Liebesdienst‘ nicht nachweisen, da eine diakonos primär im Dienste ihres Auftraggebers steht“ (S. 29). Johannes Eurich wirft in seinem Beitrag die Frage nach dem christlichen Profil von Diakonie auf und eröffnet seine differenzierten Ausführungen mit der jüngeren Diskussion um die Begründung diakonischen Handelns. Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen ist, „wie die christliche Perspektive HilfeHandeln orientieren kann“, wobei „als Bezugspunkt […] die Motivation der Liebe [sc. dient], die in christlicher Deutung eine spezifische Ausrichtung des Hilfehandelns bewirkt.“ (S. 37) Das Gespräch zwischen den Disziplinen wird von Eberhard Hauschildt mit dem entsprechenden Titel „Anschlussfähigkeit und Proprium von ‚Diakonie’ problematisiert, die abschließend in den folgenden Gedanken kulminieren: „Ihre Anschlussfähigkeit erreicht ihr Ziel, wenn dabei nicht nur das Gemeinsame, sondern genauso auch ihr Proprium als genuin ihr zugehörig

Martin Rothgangel, Zur Einführung

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erscheint: eine aus bestimmter und bestimmbarer Tradition erwachsene gelebte Sensibilität für Ethik und Religion als integrale Bestandteile des Helfens zum Vorteil derer, die Hilfe brauchen.“ (S. 61) Die Impulse für die Praxis werden eröffnet mit dem Artikel von Heinz Schmidt zum sozial-diakonischen Lernen in der Schule, in dem der Akzent auf Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven gelegt wird. Damit verbunden sind die beiden praxisbezogenen Beiträge von Christiane Oeming, die ein Diakonie- bzw. Sozialpraktikum sowie einen interdisziplinären ‚Seminarkurs’ der beiden Fächer Religion und Gemeinschaftskunde reflektiert. Als Herausgeber wünschen wir den LeserInnen eine fruchtbare Lektüre und anregende Impulse dieser verschiedenen Perspektiven zum Thema Diakonie. Martin Rothgangel

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Glaube und Lernen, 29/2014, Heft 1 Zu diesem Heft

Kennwort

Diakonie Wolfgang Maaser 1. Kirche und Diakonie In der Öffentlichkeit wird die evangelische Kirche häufig von kirchenfernen und -distanzierten Menschen im Lichte ihrer diakonischen Aktivitäten wahrgenommen. Dabei ist weniger die Gemeindediakonie im Blick, sondern die Vielfalt von vereinsrechtlich organisierten diakonischen Organisationen, die der Kirche zugeordnet sind und die mit ihren insgesamt über 430.000 Mitarbeitern einen wichtigen Beitrag in der Wohlfahrtspflege erbringen.1 Ihr Spektrum reicht von der Obdachlosenhilfe über die Jugendhilfe bis hin zu Altenheimen und komplexen Krankenhausverbünden. Die kirchlichen Organisationen verfügen in diesem Zusammenhang über einen erheblichen Vertrauensvorschuss auf Seiten ihrer Nutzer. Insgesamt gilt das soziale Engagement der Kirche als ein Zeichen moralischer Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit, aber auch als eine Chance kirchlicher Präsenz in der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund haben sich die Konflikte um das kirchliche Arbeitsrecht und die verfassungsrechtlich eingeräumten Selbstbestimmungsmöglichkeiten in den letzten zehn Jahren umso schmerzlicher ausgewirkt, da die diakonischen Einrichtungen zunehmend in den Verdacht geraten sind, den so genannten Dritten Weg für eine tarifliche Deregulierung von Arbeitsverhältnissen zu nutzen.2 Aus kircheninterner Sicht stellt sich das Problem vielschichtiger dar. Kirche und Diakonie gehören zwar substantiell zusammen; ihre diakonischen Organisationsformen, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet haben, existierten jedoch lange Zeit unabhängig von der verfassten Kirche und haben erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine organisatorische und 1 2

Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (Hg.), Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege. Gesamtstatistik 2008, Berlin 2009. Vgl. Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag „Grundrechte der Beschäftigten von Kirchen in kirchlichen Einrichtungen stärken“, (BT-Drucksache 17/5523), Berlin 2012.

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DOI 10.2364/3846999608

kirchenrechtliche Verzahnung erfahren.3 Die zuvor verbreitete Parallelstruktur war seit der Gründung des Zentralausschusses für Innere Mission 1848 ein fortlaufend umstrittenes Thema und Konfliktfeld, das die Geschichte der Inneren Mission in unterschiedlichen Varianten bis heute begleitet. Auch wenn die christliche Ausrichtung der Anstaltsdiakonie seit ihrer Gründung selbstverständlich unumstritten war – Gründungsväter wie z.B. Wichern verstanden sich zumeist als Avantgarde der Kirche –, war doch ihre organisatorische Selbständigkeit ein Stein des Anstoßes, weil sie dem steuernden Einfluss der verfassten Kirche entzogen war. Gleichzeitig war es jedoch gerade diese Selbständigkeit, durch die Theologen, Pfarrer und Laien auf die beginnenden Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts reagieren konnten, denn die soziale Frage des 19. Jahrhunderts war nicht mehr mit den Mitteln eingeführter Armenfürsorge und parochialer Gemeindediakonie zu bewältigen.4 Daher dokumentieren die vereinsrechtlich organisierten diakonischen Organisationen auch, wie Teile der Kirche die durch die Industriegesellschaft induzierten gesellschaftlichen Differenzierungen und den sozialen Wandel aufgriffen: Die Industrialisierung verwandelte die Familienstrukturen, überschaubare Räume des Zusammenlebens wurden zunehmend von anonymen Großstadtstrukturen abgelöst und die Entstehung der Arbeiterschaft mit der Erfahrung der Massenarmut ließen den Einfluss der Kirche zurücktreten. Mit Hilfe von über die Gemeinde hinausreichenden diakonischen Aktivitäten spielte die Kirche ihre Deutungskompetenz in die Gesellschaft ein. Die neuen Formen der Diakonie waren daher nicht allein der Nächstenliebe und dem Mitleid geschuldet, sondern bildeten eine kompakte Einheit mit volksmissionarischen Motiven: Mit ihren diakonischen Aktivitäten und durch Innere Mission trat die Kirche auch volksmissionarisch der das Bürgertum durchdringenden Säkularisierung entgegen. 3

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Vgl. Jörg Winter, Die Kirche und ihr Diakonisches Werk, in: Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/Klaus Schlaich (Hg.), Das Recht der Kirche 3, Zur Praxis des Kirchenrechts (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 51), Gütersloh 1994, 238– 258; ders., Diakonie im Spannungsfeld von kirchlichem und staatlichem Recht, in: Günter Ruddat/Gerhard K. Schäfer (Hg.), Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, 287– 299. Vgl. Christoph Sachße,/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland II: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Stuttgart 1988. Zum Überblick Jähnichen, Traugott/Friedrich, Norbert, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus, in: Walter Euchner/Helga Grebing/Franz-J. Stegmann/Peter Langhorst/Traugott Jähnichen/Norbert Friedrich (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, 2. Aufl., Wiesbaden 2005, 873–1133.

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Die von der Kirche organisatorisch unabhängige Diakonie erfuhr während der Weimarer Republik in einem weiteren Schritt eine überraschende Aufwertung: Ihre im Wohlfahrtsverband gebündelten Einrichtungen wurden – ähnlich wie andere, wohlfahrtsverbandlich organisierte Einrichtungen aufgrund des katholischen Subsidiaritätsprinzips5 und durch die Politik der Zentrumspartei – Teil des modernen Sozialstaats. Mit entsprechender Finanzierung, Gewährleistungsgarantie und subsidiärer Vorrangstellung entwickelte sich Diakonie zum wichtigen parastaatlichen Hilfeakteur. Trotz dieser Privilegien blieb das evangelisch-diakonische Milieu gegenüber der Weimarer Republik eher skeptisch und befreundete sich nicht mit der neuen Demokratie.6 Hitlers Machtübernahme von 1933 und seine anfänglich freundlich erscheinende Kirchenpolitik sahen viele als eine politische Weichenstellung, manche sogar als geschichtstheologische Fügung, die versprach, dem Christentum seine zentrale gesellschaftliche Stellung zurückzugeben. Wirkliche und tiefgreifende Ernüchterungsprozesse traten in der Diakonie erst Ende der dreißiger Jahre ein, als – ähnlich wie im ‚angeschlossenen‘ Österreich – ihre unmittelbare Gleichschaltung mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt drohte.7 Die 1940 erfolgte organisatorische Zuordnung der Inneren Mission zur verfassten Kirche trug dazu bei, dies zu verhindern, war aber gleichzeitig das Signal dafür, dass die Diakonie in der Nachkriegszeit konsequent aus dem kirchlichen Selbstverständnis heraus ein Teil der verfassten (Landes-)Kirche wurde. Diese Entwicklung wurde in der frühen Nachkriegszeit besonders durch den Einfluss der Bekennenden Kirche vorangetrieben, zumal das 1947 gegründete Evangelische Hilfswerk diesem Anspruch und Selbstverständnis nachkam.8 Eine zentrale Weichenstellung in der Verbindung von Kirche und Diakonie erfolgte durch den arbeitsrechtlichen Sonderweg, den die verfasste Kirche im Bezug auf die ihnen privatrechtlich zugeordneten Einrichtungen 5

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Vgl. ders., Subsidiarität: Leitmaxime deutscher Wohlfahrtsstaatlichkeit, in: Stefan Lessenich (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt a. M. 2003, 191–214. Vgl. Theodor Strohm, Innere Mission, Volksmission, Apologetik. Zum soziokulturellen Selbstverständnis der Diakonie. Entwicklungslinien bis 1937, in: Jochen- Christoph Kaiser/Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938, Berlin 1996, 17–40; Gesamtüberblick bei Jochen-Christoph Kaiser, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914–1945, München 1989. Vgl. Kaiser, a.a.O., 429 f. Vgl. Johannes Michael Wischnath, Kirche in Aktion: Das Evangelische Hilfswerk 1945– 1957 und sein Verhältnis zu Kirche und Innerer Mission, Göttingen 1986.

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einleitete; die Einrichtungen der Diakonie fallen demnach nicht unter das Betriebsverfassungsgesetz9 von 1952. Die Schaffung von Mitarbeitervertretungen als Analogie zu den Betriebsräten sollte auch Ausdruck einer stärkeren Verbindung von verfasster Kirche und Diakonie sein. Gleichzeitig lockerte sich die Verbindung durch die rasante Expansion diakonischer Einrichtungen, die seit Beginn der 1960er Jahre durch programmatische Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Subsidiarität eingeleitet wurde.10 In der steigenden Anzahl der Mitarbeiter ließen sich auch die Säkularisierungsprozesse der Bundesrepublik beobachten. Infolgedessen entwickelte die Kirche eine Loyalitätsrichtlinie für die Mitarbeiter, um die Erwartungen und die Erfordernisse in Bezug auf die kirchliche Orientierung ihrer Angestellten auch arbeitsrechtlich transparent zu machen.11 Gleichzeitig veränderte die Sozialpolitik ab Anfang der 1990 Jahre die Rahmenbedingungen der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Wettbewerbliche Elemente sowie neuere Steuerungskonzepte veränderten die Finanzierungsmodalitäten und ließen insgesamt eine Sozialwirtschaft entstehen, die für das Selbstverständnis diakonischer Einrichtungen und ihrer Organisationsformen zu der vermutlich zentralsten gegenwärtigen Herausforderung geworden ist. Vertragliche Vereinbarungen und fest definierte Leistungsstandards professioneller sozialer Dienstleistungserbringung verschärfen die Frage nach dem kirchlichen Proprium diakonischer Einrichtungen. Aber auch die klassischen Organisationsmilieus bzw. Organisationskulturen sind nicht mehr überall verbreitet. Sie haben sich pluralisiert; in den neuen Bundesländern, in die man die bundesrepublikanischen Strukturen der freien Wohlfahrtspflege ab Anfang der 1990er Jahre einführte, waren sie kaum vorhanden – häufig sind die dort arbeitenden Mitarbeiter zum überwiegenden Teil kirchlich nicht gebunden oder kirchendistanziert. Die facettenreichen Problemlagen fordern die Theologie dazu heraus, die Dimension des Diakonischen, vor allem der wohlfahrtsverbandlich organisier-

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Vgl. Traugott Jähnichen, „Dass die Kirche hierbei allen berechtigten sozialen Anforderungen … nachkommt, ist selbstverständlich“, in: Jürgen Klute/Franz Segbers, „Gute Arbeit verlangt ihren gerechten Lohn“. Tarifverträge für die Kirchen, Hamburg 2006, 58–68. 10 Vgl. Christoph Sachße, Subsidiarität, 200–207. 11 Hans-Richard Reuter, Kirchenspezifische Anforderungen an die privatrechtliche berufliche Mitarbeit in der Evangelischen Kirche und ihrer Diakonie, in: Reiner Anselm/Jan Hermelink (Hg.), Der Dritte Weg auf dem Prüfstand. Theologische, rechtliche und ethische Perspektiven des Ideals der Dienstgemeinschaft in der Diakonie, Göttingen 2006, 33– 69.

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ten Diakonie, als konstitutiven Teil von Kirche zu reflektieren.12 Nirgendwo verschärfen sich die Fragen um einen selbstreflexiven Umgang der Kirche mit Säkularisierung bzw. Säkularität, mit ihrer partikularen Rolle und ihren unaufgebbaren Wahrheitsansprüchen so deutlich wie hier, ist doch die wohlfahrtsverbandliche Diakonie erklärtermaßen kirchenrechtlich Teil der verfassten Kirche. Gleichzeitig wird an kaum einer anderen Stelle der Dienst der Kirche an der Gesellschaft und ihre Stellung gegenüber und ihre Rolle im Gemeinwesen so deutlich wie hier. 2. Theologische Grundlagen der Diakonie Diakonie ist ein unverzichtbarer Grundvollzug kirchlichen Seins. Sie beschreibt neben anderen Kennzeichen, sog. ‚notae‘ (z.B. martyria, leiturgia, koinonia) eine zentrale Dimension, die nach christlichem Selbstverständnis nicht fehlen darf. Die tätige Nächstenliebe (caritas) vollzieht sich sowohl in der Lebenspraxis christlicher Individuen als auch auf der Ebene des gemeindlichen Lebens. Aber auch wenn der anschauliche Bereich personaler Interaktion verlassen wird und sich anonyme und komplexere Organisationsformen herausbilden, muss die Dimension der Nächstenliebe nach kirchlichem Selbstverständnis als zentrales und vorrangiges Organisationsziel mit seinen unterschiedlichen Konkretisierungen sichtbar bleiben. In der programmatischen Formulierung „Diakonie ist eine Lebens- und Wesensäußerung der Kirche“13 hat die evangelische Kirche der Nachkriegszeit dies vielfach hervorgehoben und herausgestellt. Die vier Kennzeichen der Kirche stehen in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang; sie umschreiben nicht sukzessiv ablaufende, voneinander ablösbare Phasen, sondern spezifische kirchliche Vollzüge, die zwar jeweils in den Vordergrund treten, dabei jedoch gleichzeitig im Hinblick auf die jeweils drei anderen Vollzüge durchsichtig sind oder sein sollten; so verweist z.B. das gottesdienstliche Geschehen als Teil von Leiturgia in der Fürbitte und der Kollekte auf das Diakonische. Jedes dieser vier Kennzeichen bündelt begrifflich unterschiedliche Dimensionen, die sich aus einer Vielzahl von biblischen Erzählungen ergeben. Der Bogen ist dementsprechend weit gespannt: Er reicht im Falle der Diakonie von Solidaritätspraktiken gegenüber Armen, Witwen und Waisen über die universale Stoßrichtung des 12 Das Positionspapier von Uwe Becker (Hg.), Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel, Neukirchen-Vluyn 2011, ist ein erster Schritt. 13 Winter, a.a.O.

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Liebesgebots, der prophetischen Sozialkritik und der Kodifizierung von Rechtsansprüchen im Alten Testament bis zu den jesuanischen Hilfe- und Heilungsgeschichten, dem Doppelgebot der Liebe und paradigmatischen Beispielerzählungen.14 Immer waren es diese Geschichten, die den Stimulations- und Inspirationsraum für die Gemeinden abgaben, eingeführte Hilfepraktiken als substantiellen Teil ihres Selbstverständnisses und ihrer Lebenspraxis zu pflegen, sie finanziell mitzutragen sowie neue Hilfeprozesse zu erfinden und sich hiermit auch gegenüber ihrer Umwelt zu profilieren. Auf sie in der heutigen Orientierung kirchlicher Diakonie zu verzichten hieße, sich um identitätsstiftende Orientierungsmuster zu berauben. Biblische Grundlinien und ihre aktuelle Bedeutung lassen sich mit Hilfe dogmatischer und ethischer Überlegungen profilieren. Im Zusammenhang diakonischer Handlungsorientierung zielt die Dogmatik vor allem auf das Selbstverständnis und die Zukunftserwartungen des Handelnden bzw. der handelnden Organisation. Hier spielt die Rechtfertigungslehre für das protestantische Selbstverständnis eine entscheidende Rolle: Auch diakonische Handlungen sind in ihrem Licht zu betrachten und dürfen daher nicht zum Selbstrechtfertigungsinstrument der eigenen Identität werden. Wenn moralische Selbstverständnisse für sich genommen wie so häufig eine Eigendynamik gewinnen, dienen sie am Ende der Selbstaffirmation der Handelnden. Auf diese Weise werden die Ambivalenz, die Fragmentarität und das Scheitern als Teil von Handlungen in den Hintergrund gedrängt. Zentrale Aspekte der Rechtfertigungslehre legen hingegen eine realistischere Selbstwahrnehmung nahe. Die Einsicht in die Ambivalenz der Werteorientierung befreit eine kirchlich grundierte Diakonie von der Forderung, dass ihr Proprium in einer besonders gesteigerten Hilfsbereitschaft bestehen müsse. „Was der Christ für andere tut, das tut er eben. Er würde die Qualität seines Handelns nicht verbessern, sondern verderben, wenn er ihm einen religiösen Mehrwert an Bedeutung zuerkennt. Er würde damit die Würde des Selbstverständlichen zerstören, die alles gute Handeln auszeichnet.“15 Das Proprium der Diakonie kann auch realistischerweise nicht in einem geltend gemachten Hypermoralismus bestehen. Selbstverständlich gibt es auch andere gesellschaftliche Akteure, die aus ihrer eigenen Motivation und ihren Gründen heraus helfen. Die Einsicht und der selbstreflexive Umgang mit der Ambivalenz von Moral legt vielmehr eine prinzipielle, unprätentiöse und reflektierte 14 Zum Überblick vgl. Heinz Rüegger/Christoph Sigrist, Diakonie – eine Einführung. Zur theologischen Begründung helfenden Handelns, Zürich 2011, 43–86. 15 Eberhard Jüngel, Das Opfer Jesu Christi als Sacramentum et Exemplum, in: Jahrbuch des Diakonischen Werks der EKD 86/87, Stuttgart 1987, 22.

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Lernbereitschaft nahe. Für den akut Hilfebedürftigen ist es überdies nachrangig, wer und aus welchen Gründen ihm in actu hilft. In langfristigen Hilfeprozessen werden allerdings komplexere, handlungsleitende Vorstellungen vom Helfen sichtbar, die sich dem theologischen Selbstverständnis verdanken. Dies geschieht nicht nur auf der Ebene interpersonaler Begegnungen, sondern auch durch bestimmte kontextuelle Settings. Hierin wird die Dimension des Diakonischen als substantieller Bestandteil christlicher Lebensausrichtung und ihrer Organisationsformen deutlich; sie ist mehr als eine gefühlsmäßige, motivationale Zuwendung. Zu ihr gehört auch die stetige Selbstreflexion des Vorgangs. Überdies umfasst sie die eher kategorialen und symbolischen Dimensionen der Wahrnehmung, wie sie die biblischen Texte und diakonischen Hilfetraditionen bereitstellen, aber auch ggf. die Einsicht, dass man nicht ausreichend oder gar nicht geholfen hat, im Helfen gescheitert ist, andere als bloß uneigennützige Motive verfolgt hat usw. All dies lässt sich nicht auf ein allgemeines anthropologisches Existential des Helfens reduzieren. Die Hilfsbereitschaft liegt nicht einfach auf der Hand; der Einzelne ist weder stetig hilfsbereit noch ist mit der prinzipiellen Hilfsbereitschaft aller Menschen zu rechnen. Ebensowenig werden kirchenferne Menschen, die das auch aus christlicher Sicht Gebotene tun, zu ‚anonymen‘ Christen. Das Proprium des Diakonischen muss folglich im Spannungsfeld von theologischem Selbstverständnis und entsprechender Handlungsorientierung reflektiert werden. Die unauflösliche Spannung zwischen theologischdogmatischem Selbstverständnis und theologisch-ethischer Handlungsorientierung lässt sich mit Hilfe der theologischen Anthropologie rekonstruieren. 2.1 Theologische Anthropologie und Ethik Das, was gemeinhin als moralisch vernünftig erachtet wird, wurde in der Geschichte der Ethik durch die praktische Vernunft reflektiert. Sie bot hierfür unterschiedliche Begründungsansätze an, die sich jeweils ablösten oder neue Synthesen eingingen; das Spektrum reicht von naturrechtlichen bis zu alteritätstheoretischen Begründungen. In der Moderne macht sich hier ein breites, spannungsreiches, pluralistisches und keineswegs konsensuelles Feld unterschiedlicher Ansätze geltend. Das, was alle Menschen normativ binden soll, lässt zwar einige Kristallisationspunkte erkennen (Menschenrechte, Menschenwürde), die allerdings bei genauerer Analyse unterschiedlichen Deutungen mit teilweise kontroversen Handlungskonsequenzen unterliegen. Die Gestalt der praktischen Vernunft besitzt eine gewisse Flexibilität und erweist sich als nicht abgeschlossen. Auf diesen Sachverhalt trifft Diakonie spätestens dann, wenn sie sich mit ihrem spezifischem Selbstverständnis

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und ihrer Handlungsorientierung in den öffentlichen Diskurs über das Helfen und die Not in der Gesellschaft einmischt. Sie findet hier keinen natürlichen Konsens, wenn auch kaum einer prinzipielle Einwände gegen Solidarität und Hilfe erhebt. In diesem Kontext muss die Diakonie ihr Besonderes, ihr Proprium geltend machen, d.h. sie muss aufzeigen, wie sich aus ihrem Selbstverständnis heraus spezifische Sichtweisen und normative Handlungsanforderungen für sie selbst ergeben, die allerdings gleichzeitig das moralische Selbstverständnis der Gesellschaft konkretisieren und erweitern.16 Dabei sind die differenten Aspekte gegenüber der jeweils geltenden Gestalt der praktischen Vernunft interessanter als die unstrittigen oder ähnlichen Dimensionen wie die Betonung des ‚ganzheitlichen‘ Menschen, die Leiblichkeit etc. Die Propriumsdiskussion zielt somit auf Profilierung, Erweiterung und Kritik der praktischen Vernunft, nicht auf Differenz um jeden Preis. Den Referenzrahmen gibt der im Prinzip offene Gemeinwohldiskurs ab, in den es die Propria einzuspielen gilt und in dem sie auszuhandeln sind.17 Denn unter den gegenwärtigen Verfassungsbedingungen besitzen weder Staat noch Kirche eine vorrangige Definitionsgewalt über das Gemeinwohl.18 Die Gemeinwohlbestimmung bleibt unter demokratischen Bedingungen vorläufig und ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen, in welche die von ihrer eigenen Auffassung überzeugten Interessengruppen ihre inhaltlichen Optionen einbringen und andere davon überzeugen wollen. Gemeinwohlorientierung ist für die Diakonie daher keine Aufforderung zur Selbstrelativierung, sondern eine Ermunterung, die eigenen Gesichtspunkte gesprächsbereit in den Dialog und die Auseinandersetzung mit anderen Auffassung argumentativ einzubringen sowie ihre Orientierungskraft und ihre Lebensfreundlichkeit aufzuzeigen. Die theologische Anthropologie bündelt die biblischen Perspektiven und lenkt gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die anthropologischen Hinter16 Als Beispiel zur gesellschaftlichen Herausforderung von Demografie und Pflege vgl. Cornelia Coenen-Marx, „Wir sind es wert – Vom Wert der Pflege“, 29.09.2011, http://www.devap.info/bundeskongress [Zugriff: 26.09.2013]. 17 Vgl. Wolfgang Maaser, Gemeinnützigkeit und prozeduralisierter Gemeinwohlbegriff in diakonischer Perspektive, in: Zukunft verantworten – Teilhabe gestalten. Zivilgesellschaftliche Impulse Gustav Werner, hg. v. Lothar Bauer u.a., Heidelberg 2012, 39–50. 18 Vgl. Hasso Hofmann, Verfassungsrechtliche Annäherungen an den Begriff des Gemeinwohls, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin 2002, 25–41; ebenso Michael Stolleis, Das Menschenbild der Verfassung, in: Hans-Reiner Duncker (Hg.), Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, Stuttgart 2006, 369–378.

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grundsüberzeugungen im Allgemeinen (‚Menschenbild‘). Eine zu den verbreiteten und eingeführten Hintergrundsüberzeugungen eher quer stehende Vorstellung dokumentieren die auf die Armen bezogenen Seligpreisungen Jesu (Mt. 5,3–12/Lk. 6,20–23). Sie passen weder in die antike Vorstellung vom Menschen, der sich durch intellektuelle Anstrengung, Selbstmotivation und eigene Anstrengung sein Glück erarbeitet, noch zum neuzeitlichen Ideal der Autonomie. Die Armen, deren Lebenslage bereits in den Seligpreisungen der Bergpredigt eine Gemengelage von materieller Armut, mangelnder Teilhabe an religiöser und allgemeiner Bildung sowie von sozialer religiöser Ächtung umfasst, zeigen in ihrer Erfahrung des Mangels eine das ganze Leben kennzeichnende Bedürftigkeit und Verletzlichkeit, die besonders im Vollzug des Leidens deutlich wird. Das, was das menschliche Leben ausmacht, liegt im Empfangen, nicht in der Leistung oder in der aufrechnenden Gegenseitigkeit. Diese Einsicht verbindet sich gleichzeitig mit der biblischen Aufforderung, sich den Armen zuzuwenden (Mt. 25,31–46)19. Die enge Verbindung und Überschneidung der frühen Abendmahlsfeiern mit den Armenspeisungen (1. Kor. 11,17–34) sowie von gottesdienstlichem Vollzug und Diakonie (leiturgia und diakonia), dokumentiert ebenso diese zentrale Verbindung. Derartige Dimensionen des Menschenbildes irritieren die eingeführten und eingeübten Menschenbilder, die sich gemeinhin an der eigenen Leistungsfähigkeit und Identitätssicherung orientieren. Sie sensibilisieren gleichzeitig für die von Exklusion bedrohten und bereits exkludierten Menschen, denen die reale Erfahrung von Selbstanerkennung und Anerkennung durch andere fehlt und deren Subjektstellung in den unterschiedlichen sozioökonomischen Dynamiken gefährdet ist. Bereits in den überschaubareren sozialen Verhältnissen neutestamentlicher Zeiten stellte sich die Frage, wer überhaupt als Nächster wahrgenommen wurde und wer diesem zum Helfer wird (Lk. 10,29–37). Die Entdeckung des Nächsten, die in den biblischen Kontexten an den Rändern der lebensweltlichen Vollzüge geschieht, besitzt in komplexen systemischen Zusammenhängen naturgemäß eine verstärkte Brisanz. Elend, Not und Verfolgung bleiben in modernen, bürokratischen Prozessen meist unsichtbar. Was nicht öffentlich kommuniziert wird, gibt es gewissermaßen gar nicht, es besitzt keine Relevanz. Umso drängender bleibt der biblische Impuls, den Nächsten in der Anonymität der Systeme zu ent-

19 Zu diesem diakonie- und wirkungsgeschichtlich zentralen Text vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3, Neukirchen-Vluyn 1997, 513–544.

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decken.20 Die biblische Verkündigung hält die Entdeckung des Nächsten unter jeweils wechselnden historischen Situationen kontrafaktisch in zweifacher Hinsicht wach: Wer wird nicht angemessen als Geschöpf Gottes wahrgenommen und geht in seiner Subjektstellung unter? Was brauchen diejenigen, um sich als Subjekte zu erfahren? Beides droht heute wie damals in den gesellschaftlichen Habitualitäten und sozialen Aufmerksamkeitstypologien21 zu verschwinden. Unter dem Begriff der vorrangigen Option für die Armen wird die im Menschenbild begründete Ausrichtung unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zusammengefasst.22 Die heutige Gesellschaft verfügt über facettenreiche Informationen, Statistiken und Kenntnisse über komplexe Problemlagen und Habitualitäten von Armutskulturen. Das Wissen über Armut und ihre Entstehung hat sich im letzten Jahrhundert gigantisch erweitert. Theorien der sozialen Ungleichheit haben die wichtigsten Stellschrauben (Einkommen, Beruf, Bildung, Macht, Prestige) der unterschiedlichen Verteilung von Lebenslagen herausgearbeitet und untersucht.23 Die sozialanwaltschaftliche Rolle der Diakonie ist vor diesem Hintergrund nicht mehr allein die eines Hilfeakteurs; zu ihrer Professionalität gehört es ebenso, kritischer Beobachter und zivilgesellschaftlicher Berichterstatter auf der Basis dieses Wissens zu sein.24 Auch so greift sie in den gesellschaftlichen Diskurs über diese Stellschrauben ein und ist aufgrund des Subsidiaritätsprinzips zudem politischer Mitgestalter. Ihr Blick ist vorrangig auf diejenigen gerichtet, deren Bedingungen der Anerkennung und der Anerkennungserfahrung gefährdet oder nicht gegeben sind. Die vorrangige Orientierung an den Armen ist keine sentimentale Restgröße der 68er-Moral, sondern die diskursive Aufforderung, den normativen Anspruch der Freiheit – er bezieht sich auf die Würde aller Menschen als Zeichen ihrer Geschöpflichkeit und 20 Besonders die Ökumene hat seit Jahrzehnten durch ihre Betonung des fernen Nächsten und der Liebe durch Strukturen auf dieses Problem aufmerksam gemacht; vgl. Max Kohnstamm, Person und Struktur am Beispiel internationaler Beziehungen, in: ZEE 14, 1970, 193–203. 21 Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987, 97–121. 22 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1994; ebenso Hermann Steinkamp, Solidarität und Parteilichkeit. Für eine neue Praxis in Kirche und Gemeinde, Mainz 1994. 23 Vgl. Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland, 8. Aufl., Wiesbaden 2005. 24 Vgl. hierzu Alexander Dietz, Ungünstige Rahmenbedingungen für verbandliche Sozialanwaltschaft, in: Barmherzigkeit drängt auf Gerechtigkeit. Anwaltschaft, Parteilichkeit und Lobbyarbeit als Herausforderung für Soziale Arbeit und Verbände, hg. v. dems. u. Stefan Gillich, Leipzig 2013, 109–130.

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die daraus folgende wechselseitige Anerkennung – vorrangig von den schlechtesten Realisierungschancen in der Gesellschaft her zu denken. Sie steht nicht im Gegensatz zum Universalisierungsgrundsatz, sondern ist vielmehr dessen Konsequenz, da sie das Inklusionspostulat und seine universale Adressierung unter realen gesellschaftlichen Bedingungen Ernst nimmt.25 Eine Gemeinwohlfunktion von Diakonie besteht somit in der anwendungsorientierten, vor allem an Benachteiligten orientierten Verwirklichung des gesellschaftlichen Selbstanspruches einer für alle geltend gemachten Freiheit und Subjektorientierung. Praktische Hilfe gegenüber Armen muss folglich auf mehr als auf bloße Hilfe zielen. Der Subjektstatus der Bedürftigen muss dabei von professionell Helfenden selbstreflexiv gegenüber (eigenen) patriarchalen Hilfepraktiken und -bedürfnissen zur Geltung gebracht werden. Hierin drückt sich auch die Anerkennung des vollen Bürgerstatus aus, den Arme lange Zeit nicht besaßen. Diejenigen, die von hinreichenden Lebenschancen ausgeschlossen sind, können auch heute ihre Rechte und Interessen als Bürger nicht hinreichend wahrnehmen. Diakonische Hilfeprozesse arbeiten an der Befähigung zur selbständigen Lebensführung mit; dies impliziert auch die politische Partizipationsfähigkeit. Da jegliche Demokratie auf die Beteiligung ihrer Bürger angewiesen ist, erfüllt die Diakonie auch hier eine zivilgesellschaftliche Funktion. 2.2 Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Nimmt man die prinzipielle Subjekthaftigkeit der Menschen im Hilfeprozess Ernst, so geraten auch die prinzipiellen Rechte auf Hilfe in den Blick. Sie kommen in Gerechtigkeitsdiskursen zur Sprache. Gerechtigkeit geht dabei von wechselseitigen Ansprüchen aus, die Menschen qua Menschsein besitzen sollten. Barmherzigkeit hingegen hebt auf ungeschuldete freiwillige Taten und Gaben ab. Regeln der Barmherzigkeit gelten als wünschenswert, ihre Einhaltung besitzt freiwilligen Charakter. Gerechtigkeit hingegen drängt auf rechtliche Verwirklichung. Diese analytische Unterscheidung dient der Orientierung, erfasst das Spannungsverhältnis in den realen Lebensverhältnissen jedoch nicht hinreichend. Was sich in bestimmten historischen Epochen als Barmherzigkeit darstellte, ist heute zur selbstverständlichen Gerechtigkeitsidee und zu einem Teil unserer tiefsitzenden Gerechtigkeitsintuitionen ge25 Vgl. hierzu Wolfgang Maaser, Öffentliche Diakonie im Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft, in: Johannes Eurich/Wolfgang Maaser, Diakonie in der Sozialökonomie, Leipzig 2013, 40–74.

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worden. „Die Gerechtigkeit von heute ist die Liebe von gestern, die Liebe von heute ist die Gerechtigkeit von morgen“26. Dieses optimistische Gefälle dokumentiert die wandlungsfähige Grenze zwischen Liebe und Gerechtigkeit, die Gesellschaften konstruieren und konkretisieren. Sie legen (vorläufig) fest, was sich die Menschen rechtlich schulden und was darüber hinaus als Gabe gilt. Was heute intuitiv als gerecht betrachtet wird und damit im Regelfall Rechtsansprüche gegenüber anderen nach sich zieht, kann morgen bereits als ungeschuldet angesehen und eher altruistischer Barmherzigkeit zugeordnet sein. In diesem Spannungsfeld streitet eine Sozialkultur um das, was konkret als geschuldet bzw. ungeschuldet angesehen wird. Das Ergebnis lebt dabei in nicht geringem Umfang von werthaften Voraussetzungen, die in den kirchlichen Hilfekulturen und ihren Hilfepraktiken in unserer Gesellschaft lebendig sind.27 Die konkrete Gestalt sozialer Gerechtigkeit und ihr gesellschaftliches Verständnis bleiben allerdings ein komplexes Ergebnis aus kulturellen Hilfetraditionen sowie gesellschaftlichen Interessens- und Aushandlungsprozessen, die auf dem Wege der Sozialpolitik Eingang in sozialrechtliche Regelungen gefunden haben. 3. Herausforderungen Die Diakonie der evangelischen Kirche steht heute vor mannigfaltigen Herausforderungen. Die Einrichtungen, die sich unter dem Dach des Diakonischen Werks versammeln, leisten vielfältige Beiträge zur Erhaltung und Konkretisierung des Sozialstaatsziels. Ihr Pluralismus bedarf allerdings einer stärkeren Profilierung, die die Dimension des spezifisch Diakonischen sichtbarer macht und fördert. Eine stärkere Zusammenarbeit und Verzahnung von Kirchengemeinden und diakonischen Organisationen in den unterschiedlichen Sozialräumen kann besser verdeutlichen, dass diakonisches Engagement Teil einer christlichen Zuwendung zur Welt ist, zu der auch die Kennzeichen von Zeugnis, Gottesdienst und Gemeinde gehören. Auf dieser Ebene ließe sich das Verhältnis von Ehrenamt und Professionalität als ein fruchtbares, 26 Erik Wolf, Zur rechtstheologischen Dialektik von Recht und Liebe, in: ders., Rechtstheologische Studien, Frankfurt a.M. 1972, 115–137, 136, im Anschluss an P. Gillet: „La justice d’aujourd’hui est la charité d’hier; la charité d’aujourd’hui est la justice de demain“. 27 „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht – Staat – Freiheit, Frankfurt a.M. 1976, 60.

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d.h. sich gegenseitig ermöglichendes und unterstützendes Spannungsverhältnis weiter entwickeln. Hier wie dort gilt es auch, die prinzipielle Artikulationsfähigkeit der Akteure zu fördern wie auch insgesamt eine diakonische Unternehmenskultur zu pflegen.28 Seit den 1950er Jahren ist es für den kirchlichen Selbstanspruch selbstverständlich, „dass die Kirchen hierbei allen berechtigten sozialen Anforderungen gegenüber den bei ihr Beschäftigten in vollem Umfange nachkommt“29. Die kirchliche Rolle als Arbeitgeber, besonders die Arbeitergeberrolle gegenüber 430.000 Mitarbeitern in Einrichtungen des Diakonischen Werks erfordert faire Konfliktlösungen, um weitere Reputationsverluste zu vermeiden und Vertrauen zu bilden.30 Zudem machen die einschlägigen Gerichtsurteile eine durchsichtige Verzahnung, Verbindung und Steuerung der Diakonie durch die verfasste Kirche zum zentralen Erfordernis kirchlichen Arbeitsrechts.31 Auch dies verdeutlicht den gegenwärtigen Trend: Eine stärkere Annäherung von Diakonie und verfasster Kirche steht auf der Tagesordnung.

28 Vgl. Beate Hofmann: Diakonische Unternehmenskultur. Ein Handbuch für Führungskräfte, unter Mitarbeit von Cornelia Coenen-Marx, Otto Haussecker, Dörte Rasch und Beate Baberske Krohs, 2. Aufl., Stuttgart 2010 29 So Heinz Brunotte, Präsident der Kirchenkanzlei, zit. nach Jähnichen, 2006, 60 f. 30 Vgl. Nikolaus Schneider, Dritter Weg für faire Arbeitsbedingungen, Eichstädt, 05.03.2012 (abrufbar unter www.ekd.de/presse/pm47_2012_schneider_arbeitsrecht.html; [Zugriff: 25.05.2013]); vgl. auch Dienstgemeinschaft: Ein Begriff auf dem Prüfstand, hg. vom Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik, Dokumentation epd, Nr. 17, 2013; ebenso Frank Bsirske/Ellen Paschke/Berno Schuckart-Witsch (Hg.), Streik in Gottes Häusern: Protest, Bewegung, Alternativen in kirchlichen Betrieben, Hamburg 2013; vgl. auch Hartmut Kreß, Aktuelle Probleme des kirchlichen Arbeitsrechts. Der Dritte Weg, das Streikrecht und die Mitarbeiterrepräsentanz, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 45, 2012, 103–105. 31 Vgl. Maaser, 2013, 66–71.

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Abstract This article illustrates the historical stages and the emergence of problems in the relationship between Church and diaconia, which have arisen from the social economy of the 1990s in particular. The accompanying standardisation and economisation of social services exacerbates the question concerning the protestant proprium. Ethical perspectives founded on biblical baselines are developed through dogmatic reflection and with the help of theological anthropology. They understand church-bound diaconia as a justice-oriented non-profit-actor that introduces its specific convictions and beliefs on successful life into civil society in a discourse- and criticismoriented way. In this way, diaconia intervenes in the definition of the common good, and distinguishes its proprium through self-engagement with others.

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Theologische Klärung

Diakonie – Sprachverwirrung um einen griechischen Begriff Anni Hentschel 1. Ist alles nur Dienst? In der altgriechischen Sprache, in der das Neue Testament verfasst ist, finden sich ganz unterschiedliche Verben, um Dienstverhältnisse aller Art zu beschreiben. Während z.B. douleuo das abhängige Dienen eines Sklaven oder einer Sklavin bezeichnet, wird durch therapeuo eher Verehrung oder Fürsorge ausgedrückt, leitourgeo bezeichnet v.a. öffentliche, amtliche Dienstleistungen, u.a. Geldspenden für öffentliche Bauwerke. Die Grundbedeutung von diakoneo wurde lange Zeit im Tischdienst gesehen, verstanden als niedrige Frauen- und Sklavenarbeit, außerdem ‚für den Lebensunterhalt sorgen‘ und schließlich Dienen im allgemeinen Sinn. Gemäß Hermann Wolfgang Beyer habe diakoneo im Vergleich mit anderen griechischen Dienstbegriffen „den besonderen Klang, daß es die ganz persönlich einem anderen erwiesene Dienstleistung bezeichnet.“1 Auf dieser Grundlage habe sich im Neuen Testament ein neues Verständnis des Nomens diakonia im Sinne von ‚Liebesdienst‘ entwickelt.2 Beyer ergänzt, dass in „den Augen des Griechen […] Dienen etwas Minderwertiges“ sei, eine verachtete, eines freien Mannes nicht würdige Tätigkeit.3 Allerdings beruft er sich dabei auf einen Beleg bei Plato (Plato, Gorgias 491e), der douleuo als Verb verwendet: D.h. das Dienen als Sklave (!) wird in der zitierten Stelle als Hinderungsgrund für das Glück eines freien Mannes benannt, nicht jedoch ein Tun im Sinne von diakoneo. Damit zeigt sich bereits die erste Problematik, wenn man sich mit Dienstvorstellungen und mit der Bedeutung von diakoneo befasst: Die unterschiedlichen griechischen Dienstbegriffe werden in deutschen Übersetzungen und 1 2 3

Hermann Wolfgang Beyer, Art, διακονέω, διακονία, διάκονος, in: ThWNT II, 81–93, 81. Ebd. Ebd.

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DOI 10.2364/3846999615

auch in wissenschaftlichen Studien oft wie Synonyme behandelt, v.a. werden immer wieder Belege von douleuo zum Verständnis von diakoneo herangezogen. So erklärt sich, dass auch diakoneo im Sinne einer niederen, nicht angesehenen Tätigkeit verstanden wird. Auf der dunklen Folie eines so beschriebenen, oder besser gesagt, so gedeuteten antiken Dienstverständnisses stellt Beyer die neutestamentliche Wortverwendung dar. Im Judentum sieht Beyer zwar grundsätzlich eine positive Bewertung des Dienstes, diese sei im Laufe der Zeit jedoch verfälscht worden.4 Diese idealisierende Abgrenzung des Christentums sowohl vom Judentum als auch von seiner antiken Umwelt ist mittlerweile wissenschaftlich durch neue Forschungen längst überholt, wird aber bis heute mit dem dargestellten Begriffsverständnis von diakoneo und diakonia unreflektiert in neue Studien zur Diakonie und Ekklesiologie eingetragen. Im frühen Christentum sei das Dienen neu interpretiert und v.a. aufgewertet worden. Jesus selbst sei mit seinem Lebensopfer zum Inbegriff und Vorbild des Dienens geworden, das als „Hingabe des Lebens verstanden wird, die ihrerseits Inbegriff des Dienens, des Für-dieAnderen-daseins im Leben und Sterben ist“5. Sowohl die Nachfolge aller Christinnen und Christen als auch die Ausübung von Aufgaben und Ämtern in den entstehenden Gemeinden solle von einer solchen Haltung des Dienens geprägt sein, die auf Macht und Herrschaft verzichtet, um nach dem Vorbild Christi ganz in der selbstlosen „liebevollen Zuwendung für den Anderen“ aufzugehen.6 Dieses von Beyer mit dem Nomen diakonia verbundene ‚spezifisch christliche‘ Dienstverständnis durchzieht bis heute das Verständnis von Diakonie, Nächstenliebe und der kirchlichen Ämter. So kann z.B. Hans-Joachim Eckstein feststellen, dass „angefangen bei dem Sendungsbewusstsein und dem Nachfolgeruf Jesu über die ethische Unterweisung des Apostels bis hin zur Charakterisierung des Apostelamts und des Verkündigungsamts der frühen Kirche – die Begriffe ‚Dienen‘, ‚Diener‘ und ‚Dienst‘ von grundlegender Bedeutung sind. Im Gegenüber zu Gott ist diákonos – ‚Diener‘, ‚Diakon‘ – zugleich Demutsbezeichnung wie Ehrentitel als ‚Diener Gottes‘; im Hinblick auf die Menschen ist es Ausdruck der Verpflichtung zu hingebungsvoller Zuneigung und von Liebe bestimmter Zuwendung; in Hinsicht auf das Selbstverständnis ist es die Verpflichtung, sich ohne Eitelkeit und egoistische Machtinteressen verantwortlich und treu

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A.a.O. 83. A.a.O. 85. A.a.O. 92, vgl. auch 86 f.

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der Aufgabe zu widmen, die einem von Gott selbst zugunsten der Menschen aufgetragen ist.“7 Neue Studien zur Wortbedeutung widerlegen dieses Wortverständnis.8 Dass im Neuen Testament die Nächstenliebe und die barmherzige Fürsorge von Jesus hervorgehoben und von den ihm Nachfolgenden erwartet werden, wird dadurch nicht (!) bestritten. Doch der Begriff diakonia wird im Neuen Testament weder im Sinne eines ehrlosen, niedrigen Dienstes noch als Terminus technicus für den christlichen Liebesdienst verwendet. Der australische Theologe John N. Collins kommt zu folgenden Ergebnissen:9 Der Tischdienst ist nicht die Grundbedeutung von diakoneo. Die Wortgruppe bezeichnet Tätigkeiten, die im Namen eines Auftraggebers zu erledigen sind und die häufig mit einer Vermittlungs- oder Botentätigkeit verbunden sind. Eine oder ein diakonos ist also oft eine Botin, die Sachen, Nachrichten oder eben auch Speisen von einem Ort an einen anderen bringt, oder auch ein Agent, der im Namen eines Auftraggebers zum Teil wichtige Aufgaben zu erledigen hat.10 Da Collins in seiner Studie v.a. den Vermittlungsaspekt hervorhebt, wird dieser in manchen aktuellen Studien zur Diakonie aufgegriffen und mehr oder weniger explizit zur neuen Grundbedeutung erklärt. Diakonie sei nicht der Liebesdienst, sondern vielmehr eine Vermittlungstätigkeit oder ein Vermittlungsdienst, z.B. als Kommunikation des Evangeliums, als prophetische Diakonie, die den Willen Gottes kritisch einzubringen habe, oder auch als Außenbezug der Kirche, da die Diakoninnen und Diakone die Liebe Gottes über die Grenzen der Kirche hinaus in die Welt vermitteln.11 Das Problem dieser neueren Ansätze ist, dass wieder ein einzelner Aspekt aus dem weiten Bedeutungsspektrum herausgegriffen und zur angeblichen Grundbedeutung 7

Hans-Joachim Eckstein, Amt und Amtsverständnis im Neuen Testament, in: Annette Noller/Ellen Eidt/Heinz Schmidt (Hg.), Diakonat – theologische und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf ein kirchliches Amt, Stuttgart 2013, 21–41, 39. 8 John N. Collins, Diakonia. Re-interpreting the Ancient Sources, New York/Oxford 1990; Anni Hentschel, Diakonia im Neuen Testament, WUNT II/226, Tübingen 2007; dies. Gemeinde, Ämter, Dienste, BThSt 136, Neukirchen-Vluyn 2013. 9 Vgl. zum Folgenden J.N. Collins, Diakonia, v.a. 335–337. 10 Das grammatisch maskuline Verbalsubstantiv diakonos wird sowohl für männliche als auch für weibliche Subjekte verwendet, es existiert kein Femininum. Deshalb verwende ich als Übersetzung abwechselnd männliche und weibliche Begriffe. 11 Wolfgang Stegemann, Diakonie als „Kommunikation des Evangeliums“, Neuendettelsau 2006, 5–18; Hans-Jürgen Benedict, Die größere Diakonie, in: Volker Hermann/Rainer Merz/Heinz Schmidt (Hg.), Diakonische Konturen, VDWI 18, Heidelberg 2003, 127– 135; Dirk Starnitzke, Diakonie in biblischer Orientierung, Stuttgart 2011.

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erklärt wird. Dies ist sowohl sprachlich als auch theologisch mit Willkür verbunden, was sich in den anhaltenden Diskussionen um das Diakonieverständnis und die dadurch entstehende Verunsicherung zeigt. Während einige froh sind, von dem niedrigen, selbstlosen, sich ganz dem Nächsten hingebenden und darin angeblich spezifisch christlichen Dienstverständnis befreit zu sein, versuchen andere vehement, eben dieses Dienstverständnis festzuhalten, welches das christliche Diakonie- und Amtsverständnis zutiefst geprägt hat. Der biblischen Wortverwendung wird beides jedoch nicht gerecht! Meine eigenen Untersuchungen antiker griechischer Texte haben ergeben, dass der Aspekt der Beauftragung bei der Wortverwendung eine wichtige Rolle spielt.12 Die Wortgruppe findet sich v.a. dann, wenn ausgedrückt werden soll, dass etwas im Auftrag einer anderen Person getan wird. Verantwortlich für diese Tätigkeit ist der Auftraggeber, eine diakonos ist sozusagen das ausführende Organ. Während ein diakonos, nachdem er den Auftrag freiwillig akzeptiert hat, seinem Auftraggeber zur Rechenschaft verpflichtet ist, kann er gegenüber den Adressaten im Namen seines Auftraggebers mit einer delegierten Autorität handeln. Um sich ein Bild davon machen zu können, wer eine diakonos aber konkret ist, muss man zuerst wissen, wer sie mit welcher Tätigkeit beauftragt hat. Wenn der hellenistische Satiriker Lukian schreibt, dass man Zeus nicht verehren brauche, da er (nur) der diakonos der Schicksalsgöttinnen sei, wird erkennbar, dass Zeus – hier abwertend verstanden – nur das ausführende Organ der Schicksalsgöttinnen ist (Lukian, Jupiter confutatus 11). Wenn der jüdische Philosoph Philo ein himmlisches Wesen namens Dike, ‚Gerechtigkeit‘, als hypodiakonos13 vorstellt, die im Auftrag Gottes den Menschen ihre gerechte Strafe in Form von Krieg übermittelt, während Gott selbst nur Frieden bringen will, wird deutlich: Dike handelt als eine Beauftragte im Namen Gottes mit göttlicher Autorität und sie agiert den Menschen gegenüber keineswegs wohltätig (Philo, Decal 176–178).14 In einer Schrift Platos werden führende Staatsmänner Athens dafür kritisiert, dass sie (nur) diakonoi des Volkes seien, die bereitwillig und pflichtbewusst wie Bäcker und Köche dessen Wünsche erfüllen (Plato, Gorgias 515–520). Diakonoi ist hier abwertend verwendet, da die Staatsmänner gehorsam, aber unkritisch die Aufträge des Volkes ausführen. In einer anderen Schrift Platos geht es jedoch um die Frage, welche diakonoi etwas zur 12 A. Hentschel, Diakonia, 85–89. 13 Die griechische Vorsilbe hypo signalisiert zusätzlich Unterordnung. 14 Vgl. die Wortverwendung in Röm 13,4.

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Staatskunst, zur Herrschaft im Staat beitragen können (Plato, Politicus 290a–d): Sklaven und verschiedene Bedienstete des Staates werden ausgeschieden, da sie unfrei sind bzw. sich freiwillig in die Abhängigkeit von Menschen begeben haben. Priester und Wahrsager werden schließlich als diejenigen identifiziert, die etwas zur Herrschaft im Staat beitragen können, da sie – frei und unabhängig von Menschen – zwischen Göttern und Menschen vermitteln und darin Anteil haben an der ‚Kunst eines diakonos‘. Hier liegt der Schwerpunkt der Wortverwendung auf der Ausführung einer Vermittlungstätigkeit, die als freie, ehrenvolle und für die Herrschaft des Staates positive bewertet wird. Diese wenigen Verwendungsbeispiele zeigen bereits, wie differenziert und unterschiedlich die griechische Wortgruppe je nach Situation und sprachlichem Kontext verwendet wird. M.E. liegt aber genau darin der ‚besondere Klang‘ der Wortgruppe, dass diese die Art und Weise einer Tätigkeit beschreiben kann, die im Namen eines anderen oder aufgrund einer die Handlung erfordernden Situation geschieht und oft mit einer vermittelnden Funktion verbunden ist. Und das gilt auch für den Bereich des Tischdienstes. Diakonos beschreibt nicht einfach den ‚Tischdiener‘, sondern einen Beauftragten, der bei einem besonderen Anlass den Tischdienst auszuführen hat. Bei kultischen Feiern im Tempel hat man den Tischdienst meist nicht von Sklaven – wie üblich – verrichten lassen, sondern es wurden z.B. junge Männer als diakonoi mit der Aufwartung bei Tisch beauftragt, um die Heiligkeit der Feier zu gewährleisten. Die Bezeichnung diakonos sagt hier also nichts über den Status dieser Männer aus, denn die Tätigkeit ist nicht im Sinne eines niedrigen, alltäglichen Dienstes zu verstehen. Vielmehr signalisiert die Verwendung von diakoneo für den Tischdienst, dass ein besonderer Anlass vorliegt, z.B. die Anwesenheit eines Ehrengastes wie etwa Jesus, dem eine feierliche Form des Tischdienstes gebührt (Mk 1,31 par. Mt 8,15 par. Lk 4,39; Joh 12,2)15. Diese Aufwartung ist für den Gastgeber keine Erniedrigung, sondern vielmehr Zeichen von Höflichkeit und Hinweis darauf, dass jemand weiß, was sich gehört. D.h. jedoch, dass nicht einmal bei der Verwendung von diakoneo für Tischdienst ein Verständnis im Sinne eines niedrigen, sich dem anderen unterordnenden Dienstes angemessen ist. Und hier zeigt sich das zweite Problem beim Ver15 Diakoneo beschreibt nicht die Zubereitung des Essens, sondern nur die Aufwartung, s. Joh 12,2; Lk 17,8. Diakonia in Lk 10,40 ist möglicherweise umfassender zu verstehen und die einzige Stelle in den Evangelien, wo ein mit diakoneo bezeichnetes Tun kritisiert wird. In Lk 22,27 wird Jesus als der beschrieben, der wie der Aufwartende beim Mahl anwesend ist. Durch den Kontext wird hier der Statusunterschied zwischen den Mahlteilnehmern und demjenigen, der die Aufwartung durchführt, hervorgehoben.

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ständnis von diakonia und seinen Ableitungen: Es gibt keinen deutschen Begriff, der das Bedeutungsspektrum dieser Wortgruppe auch nur annähernd auf den Punkt bringt, häufig ist man auf eine umschreibende Übersetzung angewiesen. Fakt ist jedoch, dass sich im Neuen Testament ca. 100 Belege dieser Wortgruppe finden und zwar in zentralen Texten zu Themen wie Nachfolge, Gemeindeorganisation, Verkündigung und den entstehenden christlichen Ämtern. Je nachdem, wie diese Belege jeweils verstanden und übersetzt werden, wird sich das Bild der ersten christlichen Gemeinden gravierend verändern. Da die Bibel die normativ verbindliche Grundlage unseres theologischen Nachdenkens und unseres kirchlichen Engagements ist, kann man sich bei einem so zentralen und häufig verwendeten griechischen Begriff nicht mit einer einseitigen Übersetzung zufriedengeben, die sich darauf beschränkt, dass diakonia schon irgendwie auch ‚Dienste‘ bezeichne, während man die konkrete Interpretation des jeweiligen ‚Dienstes‘ den Vorstellungen des Interpreten bzw. der Interpretin überlässt.16 An einzelnen zentralen neutestamentlichen Texten soll deshalb nun kurz dargestellt werden, wie sich die dargestellte Interpretation und Übersetzung von diakonia und seinen Ableitungen auf das Verständnis des Gemeindelebens und der Nachfolge auswirken. 2. Verschiedene Formen von diakonia im Neuen Testament Die ältesten Texte im Neuen Testament sind die Briefe des Paulus, der diese wahrscheinlich zwischen 50 und 56 n. Chr. geschrieben hat. Er verwendet diakonos für sich und weitere Mitarbeitende, um sie und sich als von Gott oder Christus mit der Verkündigung des Evangeliums Beauftragte zu charakterisieren. Zur glaubwürdigen Ausführung des Verkündigungsauftrags gehört nach Paulus das evangeliumsgemäße Verhalten, das sowohl die zuverlässige, uneigennützige Ausführung des Verkündigungsauftrags als auch die karitative Verantwortung für die Gemeinde einschließt. Dies führt Paulus gerade im Streit um seine Anerkennung als legitimer diakonos (Beauftragter/Bote) oder apostolos (Gesandter) Christi als Argument für seine Glaubwürdigkeit und Autorität an (v.a. 2 Kor 6,3–10; 11,5–33). Im Verkündigungskontext bezeichnet diakonia die „Beauftragung mit der Verkündigung 16 Als ein Beispiel unter vielen sei hier verwiesen auf Jens Schröter, Neutestamentliche Schlaglichter zur Begründung des pastoralen Dienstes, in: Markus Iff/Andreas Heiser (Hg.), Berufen, beauftragt, gebildet – Pastorales Selbstverständnis im Gespräch, BThSt 131, Neukirchen-Vluyn 2012, 1–29; 28 f.

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des Evangeliums“ (vgl. Röm 11,13; 12,7; 2 Kor 4,1; 5,18: 6,3).17 Außerdem verwendet Paulus diakonia und diakoneo, um den Botengang zur Überbringung der gesammelten Kollekte nach Jerusalem zu beschreiben (2 Kor 8,4.19 f; 9,1.12 f; vgl. Röm 15,25.31). Eine Botentätigkeit war in der Antike aufwändig, teuer und zum Teil auch gefährlich. Karitativ aktiv waren die paulinischen Gemeinden, welche die Gelder zum Ausgleich und zur Unterstützung der Gemeinde in Jerusalem gesammelt haben (v.a. 2 Kor 8,7–15; 9,5–11), die Boten überbringen ‚nur‘ das Ergebnis der Spendenaktion. Paulus verwendet diakoneo und seine Ableitungen weder im Mahlkontext noch im Zusammenhang des Abendmahls. Für das spezifisch karitative Engagement ist also die Wortverwendung bei Paulus auf den ersten Blick wenig relevant, doch muss man bedenken, dass zur glaubwürdigen Evangeliumsverkündigung als diakonos oder apostolos im Auftrag Gottes oder Christi auch das evangeliumsgemäße Verhalten gehört (1 Kor 9,27; 10,33–11,1), v.a. der Verzicht auf Bereicherung durch die Verkündigungstätigkeit (1 Kor 9,14–18; 2 Kor 11,7–11), der verantwortliche, nicht missbräuchliche Umgang mit der eigenen Autorität (bes. 2 Kor 10,8; 11,20 f; 13,10) und die von Liebe bestimmte ganzheitliche Zuwendung zu den Menschen (v.a. 1 Kor 13,1–2; 2 Kor 6,6–10). Evangeliumsverkündigung ohne evangeliumsgemäßes Verhalten, ohne Liebe, ist unglaubwürdig (vgl. Mt 7,15 f.22 f; 23,3–23). Unmittelbar relevant für die Frage nach der Diakonie ist jedoch die Darstellung der Gemeinde als Leib Christi (1 Kor 12). In 1 Kor 12,5 beschreibt Paulus alle Begabungen der Gemeindeglieder als diakoniai. Die Übersetzung von diakonia verändert den Klang des ganzen Textes, je nachdem ob es in der Gemeinde „verschiedene Dienste, aber einen Herrn“ oder „verschiedene Beauftragungen, aber einen Herrn“ gibt. In der Regel wird der Text so verstanden, dass alle Aufgaben in der Gemeinde für das Wohl der anderen sorgende Dienste (diakoniai) seien.18 Auch die gegen Ende genannten Amtsträger „Apostel, Propheten und Lehrer“ (1 Kor 12,28 f) müssten ihre Bestimmung darin sehen, auf Macht und Ehre zu verzichten und ganz dem Leib zu dienen. Doch diese Übersetzung entspricht nicht der Wortverwendung. In 1 Kor 12,5 deutet Paulus jede Begabung von Gemeindegliedern, jedes Charisma, als eine offizielle ‚Beauftragung‘ durch Christus, den Herrn und Auftraggeber, die inhaltlich darin besteht, die jeweilige Begabung für das Gemeindeleben und dessen Auferbauung (1 Kor 12,7) einzubringen und 17 In Röm 12,7 steht diakonia als Charisma neben Prophetie und Lehre und bezeichnet die – in unserem Sprachgebrauch – ‚apostolische‘ Verkündigungstätigkeit. Zur synonymen Verwendung von diakonia und apostole vgl. auch Apg 1,17.25; 20,24; 21,19. 18 Vgl. z.B. H.-J. Eckstein, Amt, 32–35.39.

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dadurch zur Lebensfähigkeit des Leibes beizutragen. Paulus wertet hier nicht die mit Autorität und Ansehen verbundenen Beauftragungen von Aposteln, Propheten und Lehrern zu niedrigen Diensten ab, sondern er wertet jegliche Form der Mitarbeit zu offiziellen, wichtigen Beauftragungen durch Christus selbst auf.19 Es geht also nicht um den Verzicht auf Ehre und Autorität in der christlichen Gemeinde, sondern um den angemessenen, differenzierten Umgang mit ihnen. Paulus kritisiert einerseits die seiner Meinung nach unangemessenen Minderwertigkeitsgefühle mancher Gemeindeglieder (1 Kor 12,15–18.22–24), andererseits die übermäßige Hochschätzung bzw. möglicherweise Überheblichkeit derjenigen, deren Aufgaben für besonders wichtig gehalten werden (1 Kor 12,21–26). Bemerkenswert ist, dass die Glieder des Leibes, die weniger ehrbar ‚scheinen‘, grundsätzlich sogar mit mehr Ehre bekleidet werden, ja sogar von Gott selbst größere Ehre bekommen (1 Kor 12,23 f). Das Ziel ist, auf diese Weise – durch Gleichheit im hohen Ansehen – Spaltungen im Leib zu vermeiden und so zu ermöglichen, dass die Glieder in Gegenseitigkeit und sozusagen auf Augenhöhe füreinander sorgen (1 Kor 12,25). Im Hinblick auf die erst am Ende genannten Amtsträger fragt Paulus, ob alle Apostel, Propheten und Lehrer sind (1 Kor 12,29 f). Dies erinnert an seine Ausführungen zur Bedeutung des besonders angesehenen Auges in 1 Kor 12,17, das in Vers 21 im Bild darauf hingewiesen wird, dass der Körper auf das Zusammenwirken mit den anderen Gliedern angewiesen ist und nicht nur aus Augen bestehen kann. Die übermäßige Hochschätzung bestimmter Gemeindefunktionen wird von Paulus also in ihre Grenzen gewiesen zugunsten der Vielfalt und des Zusammenwirkens aller Glieder. Das Kriterium für das gute Zusammenwirken der Glieder ist die Liebe, die ‚höhere Gabe‘, nach der die Korinther streben sollen und an der die Qualität aller Gaben bemessen wird, sowohl der eher auf Verkündigung ausgerichteten als auch der explizit karitativen Tätigkeiten (1 Kor 12,31– 13,3). Hier findet sich also sozusagen die karitative oder diakonische Dimension des paulinischen Gemeindebilds. Diese wird jedoch nicht mit Dienstbegriffen, auch nicht mit diakonia ausgedrückt. Paulus fordert weder Erniedrigung noch Selbstaufopferung für andere, die man nach dem Vorbild Christi anstreben müsse. Die diakonische Verantwortung ist nach Paulus vielmehr mit allen Charismen verbunden und wird mit Begriffen wie ‚Nut19 Im Bild des Leibes gesprochen betont Paulus, dass Gott selbst jedes Glied offiziell in seine Aufgabe eingesetzt hat (1 Kor 12,18). Er verwendet für deren Einsetzung durch Gott dasselbe griechische Verb wie in 1 Kor 12,28 bzgl. der Apostel, Propheten und Lehrer!

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zen‘, ‚Auferbauung‘ und ‚Liebe‘ ausgedrückt, zu der alle in gleichwertiger gegenseitiger Verantwortung verpflichtet sind (1 Kor 12,7.24–27; 13,1–3). Es gibt in der korinthischen Gemeinde wohl Aufgabenbereiche, die sich explizit der Fürsorge für Kranke und Notleidende widmen (1 Kor 12,9.28), das Vorhandensein dieser Charismen entbindet jedoch die Mitarbeitenden in eher wortbezogenen Aufgabenbereichen nicht von ihrer karitativen Verantwortung (1 Kor 13,1 f). 20 Paulus verwendet diakonia nicht für die christliche Nächstenliebe. Wenn man sich der Wortverwendung in den Evangelien und der Apostelgeschichte zuwendet, die wahrscheinlich etwa zwischen 70 und 100 n.Chr. entstanden sind und den Sprachgebrauch der zweiten bis dritten christlichen Generation widerspiegeln, lässt sich auch dort kein spezifisch christliches Verständnis von diakonia im Sinne eines ‚Dienstes der Nächstenliebe‘ finden. Alle Belege der Wortgruppe können auf dem Hintergrund der dargestellten Wortverwendung in griechischen Texten verstanden werden. Da sind die Engel, die nach dem Wüstenaufenthalt für Jesus Aufträge ausführen, ihn vermutlich nach der langen Fastenzeit mit Speisen versorgen (Mk 1,13 par. Mt 4,11). Außerdem wird wiederholt erzählt, dass Jesus in Häusern zu Gast ist und ihm dort feierlich aufgewartet wird (Mk 1,31 par. Mt 8,15 par. Lk 4,39; Joh 12,2). Tischdienst ist im Übrigen keine Frauenaufgabe. Auch die Männer müssen Aufgaben im Bereich der Zubereitung des Essens und des Tischdienstes übernehmen, dies wird jedoch nicht mit diakoneo ausgedrückt (vgl. z.B. Mk 6,37.41; 8,6 f; 14,15 f). Im Markusevangeliums wird diakoneo schließlich noch verwendet, um drei namentlich genannte Frauen in der Nachfolge Jesu besonders hervorzuheben (Mk 15,40 f): Unter dem Kreuz finden sich nach der Flucht aller männlichen Jünger drei Frauen, welche Jesus seit den Anfängen in Galiläa nachfolgen und ‚für ihn Aufträge ausgeführt haben‘. Eine Übersetzung mit ‚dienen‘ ist hier nicht angemessen, da es nicht darum geht, die Frauen als persönliche Dienerinnen Jesu zu qualifizieren, sondern als engagierte Jüngerinnen, die wie die Jünger von Jesus Aufträge, auch Verkündigungsaufträge erhalten und diese ausgeführt haben und

20 Die Glaubwürdigkeit der Lehre bemisst sich am evangeliumsgemäßen Verhalten, vgl. z.B. Röm 16,17 f; 2 Kor 2,17; 6,3–10; 7,2; 11,20. Dies gilt nicht nur für Paulus, vgl. z.B. Mt 7,15–23; 24,11 f; Apg 20,33–35; s. auch die Kritik am Verhalten von manchen Schriftgelehrten oder Pharisäern, deren Unglaubwürdigkeit sich in einem falschen Streben nach persönlicher Ehre und der fehlenden Fürsorge für Witwen zugunsten der eigenen Bereicherung zeigt (Mt 23,3.23; Mk 12,38–40).

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die nun als einzige aus dem Nachfolgekreis Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung bezeugen können (Mk 14,50; 15,40 f.47; 16,1–7).21 Besonders weitreichend für das Verständnis von diakonia im Sinne eines nächstenliebenden Dienstes wurde jedoch die Interpretation von Mk 10,42– 45, die Jesus als einen Diener der Menschen versteht, der sein Leben für sie opfert. Gemäß Mk 10,35–40 streben zwei der Jünger Jesu nach Ehren- und Herrschaftsplätzen im Reich Gottes. Jesus weist dieses Ansinnen nicht grundsätzlich zurück, nimmt es aber zum Anlass, seine Jünger über Ehre und Herrschaft zu belehren. Während die Könige dieser Welt ihre Macht zum eigenen Vorteil missbrauchen (10,42), soll dies in der Nachfolgegemeinschaft nicht so sein: „Wer unter euch groß sein will, soll euer diakonos sein, wer unter euch Erster sein will, soll Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er andere für sich Aufträge ausführen lässt (diakoneo), sondern um selbst einen Auftrag auszuführen (diakoneo), nämlich sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (10,43b–45). Im Hintergrund der Verwendung von diakoneo steht auch hier kein Sklavendienst, sondern eine Botenvorstellung: Jesus ist von Gott gesandt, um sein Leben einzusetzen als Lösegeld für alle. Jesus wird im Neuen Testament nirgends als Sklave der Menschen bezeichnet, er ist der Gesandte Gottes (diakonos oder apostolos), dessen Aufgabe darin besteht, den Menschen im Namen Gottes das Heil zu bringen.22 D.h. zwar, dass er den Menschen einen großen Dienst erweist, doch er ist deshalb noch lange nicht der Diener oder gar Sklave der Menschen! Jesus ist einzig und allein von Gott beauftragt. Die treue Ausführung seines Auftrags wird Jesus jedoch nicht zu weltlichen Ehren führen, auch nicht zur Herrschaft über andere Menschen, obwohl ihm das als Sohn und Bote Gottes durchaus zustehen würde, sondern sein Weg führt ihn aufgrund der Sünde der Menschen ans Kreuz (v.a. Mk 8,22– 10,52). In diesem Bewusstsein sollen auch die Jünger und Jüngerinnen miteinander umgehen. Macht und Ehre werden nicht grundsätzlich verboten – offensichtlich ist es weiterhin möglich, danach zu streben, etwas bewirken zu können bzw. als Erster zu gelten –, doch beides ist kein Wert an sich. Wer nach Einfluss oder Macht strebt, wird ermahnt, dass er oder sie nur 21 Während Matthäus diese Darstellung von Markus übernimmt, die Frauen aber den Verkündigungsauftrag zuverlässig und erfolgreich ausführen (Mt 27,55 f; 28,1–11.16.), sind bei Lukas auch die Männer als Zeugen anwesend, das Zeugnis der Frauen wird als unglaubwürdig eingestuft (Lk 22,53–24,11). 22 Gemäß Phil 2,7 nimmt Jesus die Gestalt eines Sklaven an und wird darin den Menschen gleich, er wird jedoch kein Sklave der Menschen. Hinter der Verwendung von diakonos in Röm 15,8 und Gal 2,17 steht eine Botenvorstellung, ebenso hinter Hebr 3,1.

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diakonos ist, d.h. ein Beauftragter, der im Namen eines anderen eine Aufgabe erfüllen muss, ggf. durchaus mit delegierter Autorität. Doch er ist und bleibt ‚nur‘ Beauftragter, der nie autonom und zum eigenen Vorteil handeln kann (Mk 10,43). Wer Erster sein will, wird dabei behaftet, dass er nur Sklave aller sei (Mk 10,44).23 Das bewusste Streben nach Ehre wird dadurch also grundsätzlich ad absurdum geführt, denn ein Sklave gilt als das Eigentum seines Herrn und verfügt nicht über eine persönliche Ehre. Folglich ist Mk 10,42–45 kein Text, der die Nachfolgenden Jesu zum Sklavendienst, zur selbstlosen und grenzenlosen, nächstenliebenden Hingabe an andere auffordert, sondern es geht vielmehr um den treuen, uneigennützigen Umgang mit Verantwortung, Einfluss und Ehre im Jüngerkreis. Jesu Vorbildlichkeit besteht in diesem Text24 nicht darin, dass er sein Leben für andere opfert, sondern konkret darin, dass er treu und zuverlässig – auch angesichts von Leiden, Schande und sogar Tod – seinen Auftrag ausführt und diesen nicht für eigene Herrschaftsansprüche missbraucht. Wenn man diakonos sachgemäß übersetzt, fallen viele Belegstellen im Neuen Testament weg, von denen man ein Dienstethos für Gemeindeglieder bzw. auch Gemeindeleitende in den ersten christlichen Gemeinden ableiten könnte. Denn nur in Ausnahmefällen findet sich im Neuen Testament Sklaventerminologie, um das zwischenmenschliche Verhalten oder auch die Beziehung von Leitungspersonen zur Gemeinde zu beschreiben. Sie wird dann jedoch oft pointiert verwendet, um falsche Ansichten abzuwehren, z.B. auf dem Hintergrund eines bestimmten Freiheitsverständnisses (1 Kor 9,19; 2 Kor 4,5; Gal 5,13; s. auch 1 Kor 7,15). Zum völligen Gehorsam im Sinne eines Sklavendienstes ist ein Gemeindeglied oder auch eine Leitungsperson nur Gott gegenüber verpflichtet (z.B. Röm 12,11; 14,18; Gal 1,10; 1 Petr 2,16), während der sklavische Gehorsam gegenüber Menschen insgesamt abgelehnt wird (z.B. 1 Kor 7,23; Gal 1,10; 2,4). Allerdings werden die Gemeinden und ihre Verantwortlichen immer wieder, offensichtlich aus gegebenem Anlass, daran erinnert, dass Mitarbeitende stets unter Gott bzw. Christus stehen und nicht autonom wie Herrscher schalten 23 Während diakonos auf die Tätigkeit, die Funktion zielt, ist doulos hier v.a. Statusbegriff. Beide Begriffe sind hier herrschafts- bzw. statuskritisch verwendet. Auch wenn Lk 22,26 auf doulos verzichtet, sieht man, dass das eine Vergleichspaar auf den Status, das andere – formuliert durch Partizipien – auf das Tun zielt. 24 Diese Interpretation betrifft nur diesen Text. Damit ist nicht abgestritten, dass Jesus in anderen Texten zur Nächstenliebe auffordert, die radikal verstanden werden kann und von seinen Jüngerinnen und Jüngern Hingabe und Selbstlosigkeit verlangt. Diesen Gedanken findet man am deutlichsten in Joh 13,1–17; 15,1–17, allerdings werden die Nachfolgenden hier explizit als Freunde Jesu und nicht mehr als Sklavinnen und Sklaven bezeichnet.

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und walten können (z.B. Mt 10,24 f; Mk 10,42–45 par.; Joh 13,16; 15,20; Röm 16,18). Diese Belehrungen dienen also dazu, um Machtmissbrauch zu kritisieren, nicht um einen Machtgebrauch grundsätzlich zu verbieten. Die neutestamentliche Darstellung, auch die Verwendung von Sklaventerminologie ist in diesem Punkt viel differenzierter als manche ihrer Interpretationen. Denn selbst wenn im Bild eines antiken Haushalts Leitungspersonen mit Sklaven verglichen werden, kann ihnen mit dieser Rolle auch eine delegierte Autorität und Einfluss in ihrem Aufgabenbereich zukommen, die jedoch verantwortlich und auftragsgemäß wahrzunehmen sind (z.B. Mt 24,45–51; Mk 13,34–36; Lk 12,35–48). Mk 10,35–45 kann entsprechend nicht als Aufforderung zu einem auf Macht und Ehre, sich ganz dem Nächsten hingebenden (Sklaven-)Dienst nach dem Vorbild Jesu verstanden werden, sondern ist differenziert im Zusammenhang der Erfüllung von Aufträgen und dem damit verbundenen Umgang mit delegierter Autorität, Verantwortung, Ehre und Rechenschaftspflicht zu sehen. Meistens wird Apg 6,1–6 als Grundlegung für das Diakonenamt im Sinne eines karitativen Amtes gelesen. Doch auch der Verfasser der Apostelgeschichte verwendet diakonia u.a. im Sinne der Beauftragung mit der – im heutigen Sprachgebrauch – ‚apostolischen‘ Evangeliumsverkündigung (vgl. Apg 1,17.25; 20,24; 21,19), außerdem für Botengänge zwischen den Gemeinden (Apg 11,29; 12,25). Eine sorgfältige Lektüre der Apostelgeschichte zeigt zudem, dass alle, die für die Verkündigung beauftragt werden, sich auch im eher praktisch-karitativen Bereich bewähren müssen (z.B. Apg 4,35–37; 5,2; 5,15 f; 6,1; 11,27–30; 12,25; 20,33–35). Eine strikte Aufgabentrennung in Ämter der Wortverkündigung und Ämter des sozialkaritativen Engagements gibt es nach Lukas ebenfalls nicht. Einen anderen Eindruck legt jedoch Apg 6,1–6 nahe. Dort wird beschrieben, dass die Zwölf mit ihren gemeindeleitenden Aufgaben aufgrund des Wachstums der Gemeinde überfordert sind. Sie lösen das Problem, indem sie Mitarbeitende suchen, die für die ‚tägliche diakonia‘ zur Versorgung der hellenistischen Witwen offiziell eingesetzt werden, während sie bei der ‚diakonia des Wortes‘ bleiben. Es stehen sich also in Apg 6,1–6 zwei Arten von Beauftragungen gegenüber, wobei die eine die Wortverkündigung, die andere eine sozialkaritative Tätigkeit als Inhalt hat. Diakonia ist aber auch hier nicht geprägter Terminus für ein sozial-karitatives Dienstamt. Weder bekommen die Sieben eine entsprechende Amtsbezeichnung, noch treten sie im weiteren Verlauf als Armenpfleger in Erscheinung. Sie agieren vielmehr als Missionare vergleichbar mit den Zwölf, zuständig für Lehre, Gemeindeorganisation und

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karitative Angelegenheiten (Apg 6–8).25 Problematisch ist jedoch die Wirkungsgeschichte dieses Textes, die angesichts der Anschaulichkeit der Darstellung dazu führte, dass darin die offizielle Unterscheidung in ein – v.a. oder ausschließlich auf die Verkündigung konzentriertes – Wortamt und ein sozial-karitativ ausgerichtetes Dienstamt in den frühchristlichen Gemeinden gesehen wurde. Historisch betrachtet will Lukas hier jedoch kein sozialkaritatives Amt begründen, sondern die Sieben, die ein wahrscheinlich unabhängiges Leitungsgremium des griechischsprechenden Gemeindeteils in Jerusalem bildeten, unter die Autorität der Zwölf unterordnen. Gemäß der Darstellung in Apg 6,1–6 hat eine Gemeinde nach Lukas jedoch die Freiheit, angesichts einer gegebenen (Not-)Situation eine offizielle Beauftragung (diakonia) für einen bestimmten Aufgabenbereich zu erteilen. 3. Diakonia und Diakonie – Chancen und Probleme Die Exegese wichtiger neutestamentlicher Texte hat ergeben, dass eine Übersetzung mit ‚Dienst, Dienen‘ der neutestamentlichen Wortverwendung nicht gerecht wird. Außerdem lässt sich eine Verwendung im Sinne von ‚Liebesdienst‘ nicht nachweisen, da eine diakonos primär im Dienste ihres Auftraggebers steht, nicht jedoch den Adressaten dient - außer der Auftrag hat einen sozial-karitativen Inhalt (Apg 6,1; vgl. auch 1 Kor 12,5– 11.28; Mt 25,44). Dies hat mehrere Konsequenzen: (1) Für alle, die Jesus nachfolgen, aber besonders für die, die im Kontext der Kirche ‚Beauftragte‘ sind, bedeutet dies zunächst einmal die Befreiung von einem einseitig verstandenen, angeblich spezifisch christlichen Dienstverständnis. In der Nachfolge Christi muss man nicht grundsätzlich auf Macht verzichten, ein sowieso illusorisches und nie zu erreichendes Ziel. Außerdem werden Macht und die Möglichkeit, etwas zu bewirken, im Neuen Testament nicht grundsätzlich negativ bewertet. Es geht vielmehr darum, christusgemäß und verantwortlich mit der eigenen Macht umzugehen. (2) In der Kirche darf es auch hierarchische Strukturen geben, die sich mit bestimmten Aufgabenteilungen, Beauftragungen und Kompetenzen fast zwangsläufig ergeben, allerdings sind diese Strukturen nicht göttlich vorgegeben, sondern sie müssen sowohl im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit dem Evangelium als auch bzgl. der Sachgemäßheit angesichts der aktuellen Situation immer wieder neu überprüft werden. Diese hierarchischen Strukturen dürfen des25 Vgl. die Beschreibung der umfassenden Ausführung der Beauftragung (diakonia) mit der Evangeliumsverkündigung durch den lukanischen Paulus in Apg 20,17–35.

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halb nicht durch einen falsch verstandenen, Probleme verschleiernden Dienstbegriff unsichtbar oder theologisch unangreifbar gemacht werden. Die Herrschaftskritik biblischer Texte ist keine Aufforderung zum demütigen Dienst für alle, sondern richtet sich explizit an diejenigen, die ihre Position und Macht missbrauchen. (3) Alle, die sich und ihre Gaben als Glieder der Gemeinde einbringen, verdienen in gleicher Weise Ehre und Ansehen. (4) Die im Gebot der Nächstenliebe grundlegend formulierte und in unterschiedlichen neutestamentlichen Texten für bestimmte Situationen aktualisierte Aufforderung zur Liebe sollte deshalb nicht im Bild eines niedrigen, sich ganz für andere hingebenden und auf eigene Ehre verzichtenden Dienstes dargestellt werden. Das Doppelgebot der Liebe charakterisiert die Beziehungen zu Gott, zum Nächsten und auch zu sich selbst als Liebesbeziehungen, alle drei Ebenen müssen beim Verständnis eines christlich motivierten karitativen Engagements theologisch reflektiert werden. Helfendes Handeln ist nicht erst dann wertvoll, wenn es in selbstloser und angeblich nur darin christusgemäßer Weise geschieht. (5) Nächstenliebe und von Liebe getragene Beziehungen, Solidarität und helfendes Handeln entsprechen dem Willen Gottes auch dann, wenn ein Mensch den christlichen Glauben nicht teilt oder sogar ablehnt.26 Ein spezifisch christliches Verständnis von Nächstenliebe im Sinne eines sich selbstlos dem anderen hingebenden Dienstes, der nur von Christinnen und Christen in dieser Weise ausgeübt werden könnte, lässt sich im Neuen Testament nicht nachweisen. Es stellt sich nun noch die Frage, ob man angesichts der dargestellten Aspekte auf die Bezeichnung ‚Diakonie‘ für das wohltätige, diakonische Engagement einer Kirche verzichten sollte. Es ist richtig, dass diakonia im Griechischen zunächst ein formaler Begriff ist, der eine Beauftragung beschreibt, die erst durch den Kontext inhaltlich gefüllt werden muss. Andererseits kann Paulus, wenn seine Adressaten um den Kontext wissen, durchaus ohne weitere Ergänzungen von der diakonia sprechen und diesen formalen Begriff z.B. im Sinne von ‚Verkündigungsauftrag‘ verwenden (Röm 12,7; 2 Kor 4,1; 6,3). Wenn heute im christlichen Kontext von Diakonie gesprochen wird, ist den meisten Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche bewusst, dass es um ein karitatives Handeln geht. V.a. in Deutschland sind die Begriffe ‚Diakonie‘ und ‚diakonisch‘ nicht zuletzt aufgrund der Diakonischen Werke, der Wohlfahrtseinrichtungen der Evangelischen Kirche, fest im Sprachgebrauch verankert, so dass der Begriff nicht ohne Weiteres verabschiedet werden 26 In wünschenswerter Klarheit dargestellt bei Heinz Rüegger/Christoph Sigrist, Diakonie – eine Einführung, Zürich 2011, v.a. 113–188.

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kann. Was spricht dagegen, diese Diakonie im Sinne einer diakonia – einer Beauftragung zum helfenden Handeln – durch Gott zu verstehen? Diesen Auftrag können sowohl Christinnen und Christen als auch nicht vom christlichen Glauben überzeugte Menschen in gleicher Weise ausführen, da die Auftragsausführung selbst, das helfende Handeln, nicht spezifisch christlich qualifiziert ist, sondern ein allgemein menschliches Hilfehandeln meint, das sowohl in Mt 25,31–46 als auch in Lk 10,30–37 anschaulich dargestellt wird. Dieses Diakonieverständnis ist exegetisch gut begründet, theologisch sinnvoll und zwingt nicht dazu, einen geprägten Begriff aufzugeben. Allerdings ist die Beibehaltung des Begriffs mit der Herausforderung verbunden, diesen Diakoniebegriff biblisch-theologisch fundiert neu zu erläutern und von Missdeutungen und Engführungen zu befreien.

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Abstract The Greek term diakonia is neither used to describe not very highly esteemed services from women or slaves, nor as a technical term for a labour of love in the New Testament. Diakonia rather denotes an assortment of services of all kinds that are performed on behalf of someone else. In the New Testament, diakonia is often used for the mission of the propagation of the Gospel, which on the one hand, includes a selfless understanding of one’s own authority, and on the other, the holistic and also caritative responsibility for the congregation. In addition, diakonia can also indicate a command for charitable actions, which can be seen as a link to the modern usage of the word ‘diaconia’ in a social-caritative context.

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Profillose Diakonie? Zur Diskussion um die Begründung diakonischen Handelns Johannes Eurich 1. Neuere Ansätze zur Begründung diakonischen Handelns Seit Collins‘1 Untersuchung zur Wortbedeutung von diakonia wurden in den letzten Jahren mehrere Beiträge veröffentlicht, die sowohl neue Thesen zu den Ursprüngen sozial-karitativen Handelns im Christentum2 als auch zum Verständnis der Diakonie3 vorbrachten und so die herkömmliche Begründung diakonischen Handelns4 in Frage stellten. 2011 wurde von zwei schweizer Diakonikern ein einführendes Buch zur Diakonie vorgelegt, in welchem die Autoren einige Konsequenzen aus der Diskussion ziehen und 1

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John Collins, Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources, New York/Oxford 1990. In Deutschland hat Hans-Jürgen Benedict die Thesen von Collins aufgegriffen und in die Diskussion eingeführt, vgl. Hans-Jürgen Benedict, Die größere Diakonie: Versuch einer Neubestimmung im Anschluss an John C. Collins, in: Wege zum Menschen 53/2001, 349–358. Anni Hentschel hat 2007 eine umfassende Dissertation vorgelegt, in der Collins Thesen untersucht wurden: Anni Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 226), Tübingen. Vgl. Kari Latvus, The Conventional Theory about the Origins of Diaconia. An Analysis of Arguments, in: Johannes Eurich/Ingolf Hübner (eds.): Diaconia against Poverty and Exclusion in Europe. Challenges, Contexts, Perspectives (VDWI 48), Leipzig 2013: Ev. Verlagsanstalt, 196–213, sowie die Replik von Andreas Müller, Diakonia in the Ancient Church – A Reply to Kari Latvus, in: dies. (eds.): Diaconia against Poverty and Exclusion in Europe. Challenges, Contexts, Perspectives (VDWI 48), Leipzig 2013, 214–226. Vgl. auch Kari Latvus, Diaconal Ministry in the Light of Reception and Re-Interpretation of Acts 6, in: Diaconia 1/2010, 1, 82–102. Vgl. hierzu die Beiträge in dem Sammelband von Volker Herrmann/Rainer Merz/Heinz Schmidt (Hg.): Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit (VDWI 18), Heidelberg 2003. Vgl. z.B. Reinhard Turre, Diakonik. Grundlegung und Gestaltung der Diakonie, Neukirchen-Vluyn 1991.

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DOI 10.2364/3846999622

vorschlagen, auf den Begriff der Diakonie gänzlich zu verzichten, weil er mehr in die Irre führe als hilfreich sei.5 Stattdessen plädieren sie unter Abblendung eines dezidiert christlichen Begründungsansatzes der Diakonie für ein Verständnis von Helfen als allgemein-menschlichem Phänomen. Damit entfallen alle Versuche, ein diakonisches Profil in Unterschied zu jenem – etwa durch eine besondere Qualität der Zuwendung oder spezifische ethische Standards – zu begründen. Dieser Ansatz hat seine sympathischen Züge darin, dass die teilweise überhöhten theologischen Positionen, welche einen diakonischen Mehrwert etwa im Zuge der Propriums-Diskussionen markieren wollten, entsorgt werden zugunsten einer Diakonie, die im helfenden Handeln selbst ihre sachliche Mitte hat. Er entspricht damit dem professionellen Verständnis vieler Mitarbeitender der Diakonie. Zudem soll auf diese Weise ein gesamtbiblischer Ansatz gewonnen werden, der alttestamentliche Begründungen für soziales Hilfe-Handeln gleichrangig neben neutestamentliche stellt.6 Hier müssen jedoch erste Fragezeichen gesetzt werden, denn dieser Begründungsansatz ist selbst nicht frei von neuen Einseitigkeiten. So scheint zum Beispiel der Vorschlag, den Begriff ‚Diakonie‘ nicht mehr zu verwenden, nun in anderer Hinsicht eine Engführung vorzunehmen, die neue Probleme aufwirft. Im Folgenden sollen daher in einem ersten Schritt einige Fragen zur allgemein menschlichen Begründung diakonischen Handelns gestellt werden, die anhand von drei Dimensionen für die weitere Diskussion aufgefächert werden. Dabei möchte ich von praktischen Erwägungen aus zum sachlichen Kern, der theologischen Orientierung diakonischen Handelns, vorstoßen. Wie sich aus der theologischen Begründung die Ausrichtung diakonischen Handelns ergeben kann, soll im zweiten Schritt exemplarisch in einigen Überlegungen zum christlichen Verständnis von Liebe skizziert werden. (1) Die pragmatische Dimension: Mit der Preisgabe des Begriffs ‚Diakonie‘ würde der eingeführte Begriff für christliches Engagement zugunsten von Menschen in Notlagen, wie er sich historisch herausgebildet hat und heute gesellschaftlich weithin anerkannt ist, ersatzlos aufgegeben. Der Mar5 6

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Heinz Rüegger/Christoph Sigrist, Diakonie – eine Einführung. Zur theologischen Begründung helfenden Handelns. Zürich 2011, 31 sowie 81. Dies war in den bisherigen Entwürfen oftmals nicht der Fall (vgl. Turre, Diakonik, 1), auch wenn einzelne Beiträge anders argumentierten (vgl. z.B. Herbert Haslinger, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn 2009, 218–237; Manfred Oeming, Das Alte Testament als Grundlage des diakonischen Handelns der Kirche, in: H.-D. Neef (Hg.), Theologie und Gemeinde. Beiträge zu Bibel, Gottesdienst, Predigt und Seelsorge, Stuttgart, 95–114).

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kenname ‚Diakonie‘ ist in hohem Maße positiv besetzt und generiert einen Vertrauensvorschuss unter der Bevölkerung. Der Verzicht auf diesen Begriff würde daher einen handfesten Nachteil bedeuten. Anzumerken ist hier, dass die Diskussion über das Proprium diakonischer Hilfe, die unter Bezug auf fragwürdige theologische Begründungen aufzeigen wollte, dass die Diakonie besser ist als andere Hilfe-Anbieter, und die nun im Plädoyer auf den Verzicht des Begriffs ein Echo gefunden hat,7 heute überholt ist. Denn unter sozialmarktlichen Bedingungen hat sich die Ausgangslage grundlegend verändert: es geht nicht mehr um überhöhte theologische Ansprüche der Diakonie, sondern um eine Positionierung diakonischer Dienstleister innerhalb eines wettbewerblichen Umfelds. Hier ist es geradezu zwingend, ein diakonisches Profil als Unterscheidung zum Profil anderer Dienstleister herauszustellen. Dieses besteht im Ausweis der spezifischen Leistungen, die ein sozialwirtschaftliches Unternehmen auf der Grundlage seiner weltanschaulichen Orientierung erbringt. D.h., gerade wenn die Diakonie heute in der Leistungserbringung in die wettbewerbliche Konkurrenz mit anderen Dienstleistern tritt, ist es zentral, das, was in der Spannung zwischen ökonomischen Anforderungen und christlichen Grundlagen auszubalancieren ist, als Profil so zu gestalten, dass die christliche Dimension gewahrt und erkennbar bleibt. Die Herausforderung heute besteht nicht in einem zu hohen theologischen Anspruch, sondern in der Funktionalisierung theologischer Grundlagen für betriebswirtschaftliche Zwecke.8 (2) Die legitimatorische Basis: Diese Überlegungen führen zu einem grundsätzlichen Legitimationsproblem, welches die Begründung diakonischen Handelns als allgemein-menschliches Hilfe-Handeln nach sich zieht. Wenn es kein Unterscheidungsmerkmal zwischen den unterschiedlichen Anbietern gibt, weil die Diakonie wie andere Anbieter auch einfach das tut, was allgemein menschlich ist, welche Begründung gibt es dann noch für christliche Einrichtungen? Konsequenterweise müssten diese vollständig in allgemein-philanthropische überführt werden. Letztlich würde die Diakonie in einer solidarischen Funktion der Gesellschaft aufgehen und ihre gesellschaftliche Legitimation als kirchliche Einrichtung verlieren. In Deutschland 7 8

Vgl. Rüegger/Sigrist, Diakonie, 81. Vgl. hierzu Johannes Eurich, Nächstenliebe als berechenbare Dienstleistung. Konsequenzen der neuen Wohlfahrtspolitik für das theologische Selbstverständnis und die Restrukturierung der Diakonie, in: Johannes Eurich/Wolfgang Maaser, Diakonie in der Sozialökonomie. Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik, Leipzig 2013: Evangelische Verlagsanstalt, 75–99 sowie ders., Zur theologischen Funktion und zivilgesellschaftlichen Einbettung der Diakonie, in: Eurich/Maaser, Diakonie in der Sozialökonomie, 163–178.

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eröffnet aber gerade der weltanschaulich neutrale Staat den Kirchen den Freiraum, entsprechend ihrer religiösen Überzeugung eigene Hilfs-Organisationen zu unterhalten. So umfasst die im Grundgesetz verankerte Selbstbestimmung der Kirchen auch die konfessionellen Wohlfahrtsverbände und ist in Verbindung mit den entsprechenden Artikeln der Weimarer Reichsverfassung auch auf das ‚Bedürfnis‘ als katholischer Christ oder evangelische Christin zu beziehen, eben in einem entsprechenden konfessionellem Haus behandelt werden zu können.9 Wenn die Konfessionalität der Einrichtung aus grundsätzlichen Erwägungen aufgegeben wird, entfällt genau diese Legitimationsfigur. Damit würde zugleich der positive Beitrag und der Stellenwert religiöser Gemeinschaften für (die Ausbildung von) Moralität (bzw. spezifischer moralischer Überzeugungen) im öffentlichen Raum unterminiert werden. Dem gegenüber sieht sich der unspezifische Begriff von Diakonie als allgemein menschliches Hilfe-Handeln der Rückfrage gegenüber, ob denn tatsächlich alles helfende Handeln – ohne Bezug zu zugrundeliegenden Motivationen – immer gleich ist, so als ob Menschenbilder und damit verbundene ethische Überzeugungen keinerlei Einfluss auf Hilfsakte hätten. (3) Die ethische Dimension: Helfendes Handeln kann als vieldeutiges Phänomen charakterisiert werden, weil es keine Letztbegründung dafür geben kann.10 Diese Offenheit im Blick auf zugrunde liegende Motivationen und Begründungen bedeutet jedoch nicht, dass helfendes Handeln unabhängig von solchen Begründungen in einem verkürzten Zugriff auf naturhafte Aspekte zutreffend beschrieben werden kann. Selbst wenn man eine anthropologische Disposition für Liebe, Mitmenschlichkeit oder ähnliche Phänomene als gegeben ansieht, so gibt es solche Phänomene nie in gleichsam neutralem Gewand, sondern immer nur in kulturell vermittelten Ausprägungen. Der auf den ersten Blick entlastend wirkende Ansatz einer philanthropisch ausgerichteten Diakonie, die auf ideologische anmutende theologische Ansprüche oder Voraussetzungen wie Glaube/Kirchenmitgliedschaft, Bekenntnis, christologische Begründung o.ä. verzichtet und an deren Stelle eine schöpfungstheologische Basis setzen will mit dem Ziel, auf diese Weise die Anschlussfähigkeit mit einem allgemein menschlichen Altruismus herzustellen, sieht sich folgender Kritik ausgesetzt: „In naiver Weise werden aus unstrittig vorhandenen Motivationen wie Empathie, Mitgefühl 9 Vgl. Art. 140 GG. 10 Vgl. Knud E. Løgstrup, Norm und Spontaneität. Ethik und Politik zwischen Technik und Demokratie, Tübingen 1989, 6 f.

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und ‚Liebe‘ allgemeingültige Normen und verbindliche Zielorientierungen. Unreflektiert bleibt, dass ‚allgemein-menschlich‘ altruistische Motive neben egoistischen stehen und von diesen unwirksam gemacht werden können.“11 Schöpfungstheologisch könnte ebenso dafür argumentiert werden, „Hass, Neid und Aggression als allgemein-menschliche Motivationen moralisch als Leitwerte“ 12 zu generalisieren. In christlicher Perspektive ist die Schöpfung jedoch nicht ‚neutral‘, sondern als erlösungs- und versöhnungsbedürftig zu verstehen. Pointiert bringt Heinz Schmidt dies als Alternative auf den Punkt: „Welche Diakonie ist realistischer: eine, die ontologisch auf eine Humanität des Daseins setzt, oder eine, die christologisch die Versöhnungsbedürftigkeit des Daseins sehen kann, weil sie aus der Verheißung der Versöhnung lebt?“13 Im Folgenden soll mit der Skizzierung einer aus der theologischen Ethik hergeleiteten Sichtweise des Hilfehandelns exemplarisch gezeigt werden, wie die christliche Perspektive Hilfe-Handeln orientieren kann. Als Bezugspunkt dient die Motivation der Liebe, die in christlicher Deutung eine spezifische Ausrichtung des Hilfehandelns bewirkt. 2. Die Bestimmung von Liebe in theologisch-ethischer Perspektive Ich möchte mit einer binären Unterscheidung im Blick auf die Liebe einsetzen, die in ethischer Hinsicht fundamental zu sein scheint. So kann man Liebe nach zwei Ebenen differenzieren: (1) Sie beinhaltet zum einen die emotionale Ebene des Affiziert-Seins, des innerlichen Angerührt-Seins, die auch das innerliche Brennen für einen anderen Menschen im Stadium des Verliebt-Seins beinhalten kann, aber nicht muss. Diese Wahrnehmungsebene besteht - noch vor der Alternative von Wollen und Sollen – „in der ungeschiedenen Einheit von Hingeneigt-Sein-Zu und Verbunden-Sein-Zu“14 und bewirkt ein intuitives Gerichtet-Sein im Hinblick auf ein bestimmtes Handeln oder Verhalten. Man kann also sagen, dass dieses intuitive GeneigtSein zu und Verbunden-Sein mit dem Anderen im Erleben von Situationen 11 Heinz Schmidt, Diakoniewissenschaft seit 2000: Ethik – Menschenwürde – Diakonie, in: Theologische Rundschau 78/2013, H. 2, 201–236, 214. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Johannes Fischer, Jenseits reiner Normativität. Skizze einer theologisch-ethischen Annäherung an die Gerechtigkeitsthematik, in: Peter Dabrock u.a. (Hg.): Kriterien der Gerechtigkeit. Begründungen – Anwendungen – Vermittlungen. FS Christofer Frey, Gütersloh 2003, 137–153, 143 f.

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fundiert ist und eine bestimmte Handlungs- und Verhaltensdisposition bewirkt. (2) Davon zu unterscheiden ist zum anderen die Ebene der propositionalen Explikation, die für das Verständnis der Liebe grundlegend ist und angibt, woraufhin die Liebe in ihrer intuitiven Impulsivität gerichtet ist. Die Liebe im christlichen Verständnis ist – wie die Sphäre des Sittlichen insgesamt – nur von der Verschränkung dieser zwei Ebenen her zu begreifen:15 Dem entsprechend wird man in theologischer Ethik die Liebe so beschreiben, dass sie auf der „Ebene der intuitiven, vorpropositionalen sittlichen Perzeption, […] ihre inhaltliche Bestimmtheit – als Wahrnehmung des Nächsten, des Bruders, des Mitgeschöpfes usw. – aus der christlichen Symbolisierung der Lebenswirklichkeit bezieht.“16 In diesem Sinne hat die christliche Tradition den Begriff Liebe umfassend für die sittliche Ausrichtung christlicher Existenz entfaltet. Glaube und Liebe gehören untrennbar zusammen. Martin Luther hat dies prägnant so bestimmt, „dass alle Werke dem Nächsten zugute gerichtet sein sollen, dieweil ein jeglicher für sich selbst an seinem Glauben genug hat und ihm alle anderen Werke und das Leben übrig sind, seinem Nächsten damit aus freier Liebe zu dienen“17. Die Pointe liegt in der Freiheit des Glaubenden, der von Gott befreit wurde von der Sorge für die eigene Existenz und der deshalb aus Liebe ganz für den Nächsten sorgen kann: „Die als Lebenshingabe verstandene Liebe richtet sich vielmehr stets auf ein Handeln, das seine Konkretion darin findet, dass Christen wie Christus nicht für sich selbst, sondern für andere da sind.“18 Doch was bedeutet, für andere da zu sein? In ethischer Hinsicht ist genauer zu fragen, was dem Nächsten zugute heißt. Wie wird folglich das Gute bestimmt? Zur Beantwortung dieser Frage muss man zunächst nochmals die Verschränkung beider Ebenen betrachten. Diese liegt darin begründet, dass die erste Ebene des intuitiven Geneigt-Seins-Zu der ständigen Überprüfung daraufhin bedarf, „ob der solchermaßen bestimmte Richtungssinn der Liebe tatsächlich gewahrt ist und nicht aus intuitivem Antrieb aufgrund problematischer Folgen und Nebenfolgen dem Nächsten zum Schaden gehandelt

15 Vgl. ebd. 16 Ebd. 17 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Lutherausgabe 7), Weimar 1897, 20–38, 35. 18 Michael Wolter, Ethisches Subjekt und ethisches Gegenüber. Aspekte aus neutestamentlicher Perspektive, in: Heinz Schmidt, Renate Zitt (Hg.): Diakonie in der Stadt. Reflexionen, Modelle, Konkretionen, Stuttgart 2003, 44–50, 49.

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wird.“19 Hier wird deutlich, dass die christliche Liebe auf das kritische Vermögen der Vernunft angewiesen ist und inhaltlich auf diskursive Weise bestimmt wird. Andererseits wird der Nächste, der gemäß der zweiten Ebene inhaltlicher Bezugspunkt christlicher Liebe ist, über die erste Ebene im unmittelbaren Erleben wahrgenommen und intuitiv erschlossen, z.B. über das Medium des Bildes oder auf narrative Weise. Daher geht auch die erste Ebene „in die Bestimmung dessen ein, was ‚dem Nächsten zugute’ ist. Beide Ebenen sind wechselseitig miteinander verschränkt.“20 Im christlichen Verständnis der Liebe haben wir daher eine Ausrichtung dieses umfassend verstandenen Ethos an den Folgen, die eine Handlung (für den Nächsten) hat. Johannes Fischer macht darauf aufmerksam, dass man dabei freilich nicht an die übliche Bedeutung denken darf, die mit einer Folgenethik, z.B. dem Konsequentialismus verbunden wird.21 Diese besagt, dass eine Handlung ihr Gutsein von den Konsequenzen der Handlung her empfängt. Im evangelischen Glauben ist dies anders: Luther geht von der Person des Glaubenden und ihrem Glauben aus. „Von dieser her empfangen die Werke ihr Gutsein“22. Luther hat dies pointiert in dem Sermon von den guten Werken so beschrieben: „Das erste und höchste, alleredelste gute Werk ist der Glaube an Christus. […] Denn in diesem Werk müssen alle Werke ergehen und das Einströmen ihres Gutseins wie ein Leben empfangen.“23 Wird das Gutsein des Handelns aber nicht von den Folgen der Handlung her, sondern von der Person des Glaubenden her bestimmt, kommt es zu einer radikalen Entmoralisierung des Handelns. „Denn Liebe, die aus der Freiheit des Glaubens kommt, tut das, was sie tut, nicht deshalb, weil es gut ist oder weil es einen moralischen Wert realisiert, sondern ganz um dessen willen, dem sie zugewandt ist.“24 Damit ist zugleich ein weiterer Kontrapunkt zu heutigen Verständnissen des (Hilfe-)Handelns gesetzt, die vor allem im Konsequentialismus die Folgen der Handlung an sich in den Mittelpunkt stellen. Im christlichen Verständnis gilt dies nur eingeschränkt: Das, was eine Handlung zu einer guten Handlung macht, entscheidet sich an der Gerichtetheit des Lebensvollzugs im Glauben und der Liebe. Diese besagen, dass die Konsequenzen einer Handlung dem Nächsten zugute sein 19 20 21 22 23

Fischer, a.a.O., 145. Fischer, a.a.O., 145 f. Vgl. zum Folgenden Fischer, a.a.O., 146. Ebd. Martin Luther, Sermon von den guten Werken, in: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI, Weimar 1888, 202–276, 204, zit. nach Fischer ebd. 24 Fischer, a.a.O., 146, Hervorh. i.O.

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sollen.25 „Was nun freilich ‚dem Nächsten zugute‘ und also im Sinne der Liebe ist, das steht nicht für alle Zeiten fest, sondern muss angesichts sich wandelnder kultureller und sozialer Umstände für jede Zeit neu erfragt und gefunden werden.“26 3. Diakonisches Handeln als Ausdruck christlicher Liebe Christliche Liebe hat einen grenzüberschreitenden Charakter, so lernen wir bereits in der Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 25–37). Eine Pointe der Erzählung ist die Überschreitung eines ethnisch fixierten Ethos. Moralische Regeln galten jeweils nur für die eigene ethnische Gruppe, Mitglieder anderer ethnischer Gemeinschaften waren nicht bzw. nur im Ausnahmefall eingeschlossen. Die Erzählung vom barmherzigen Samariter überschreitet solche Grenzen auf eindrückliche Weise, so dass Gerd Theißen als charakteristisches Merkmal christlicher Liebe deren Tendenz zu einem universalen Hilfsethos festhält.27 Rebekka Klein hat in diesem Sinne jüngst in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Evangelische Ethik Nächstenliebe anhand der Samariter-Erzählung als transgressive Norm charakterisiert.28 Die Erzählung vom barmherzigen Samariter hat auch darin ihren Charme, dass bei zwei Menschen die jeweilige Wahrnehmung des Notleidenden zu anderen Verhaltensfolgen führt als beim dritten, dem Samariter, der die sozialen Erwartungen durchbricht. Offenbar geht die Wahrnehmung des anderen als Person der Liebe bzw. genauer, dem Liebeshandeln voraus. Dies schließt an die erste Ebene der Liebe, die Ebene der intuitiven sittlichen Wahrnehmung an. Die Frage ‚wer aber ist mein Nächster?‘, die ja auch zu Beginn der Erzählung vom barmherzigen Samariter steht, ist also nicht nur eine Frage nach dem Adressaten der Hilfeleistung, die oftmals so beantwortet wird: „(D)er Nächste ist der, der uns braucht.“29 Sie weist vielmehr darauf hin, dass das Liebesgebot als allgemeine Verhaltensregel immer in einem 25 Vgl. ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. Gerd Theißen: Die Bibel diakonisch lesen: Die Legitimitätskrise des Menschen und der barmherzige Samariter, in: Gerhard K. Schäfer/Theodor Strohm (Hg.): Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen (VDWI 2). 3. Auflage, Heidelberg 1998, 376– 401, 391 sowie Gerd Theißen, Universales Hilfsethos gegenüber allen Menschen? – Neutestamentliche Wurzeln der Diakonie, in: Arnd Götzelmann (Hg.), Einführung in die Theologie der Diakonie. Heidelberger Ringvorlesung, Heidelberg 1999, 34–54, 50 ff. 28 Rebekka Klein, Nächstenliebe als transgressive Norm. Situationsethik und die Heuristik kontextueller Verhaltensorientierungen, in: ZEE 56/2012, 36–48. 29 Wolfgang Trillhaas, Ethik, 2. Auflage, Berlin 1965, 263.

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konkreten Kontext angewandt werden muss und sich bei der Umsetzung dieser Verhaltensregel ein gewichtiger Interpretationsspielraum ergibt.30 „Wie soll ich den Nächsten identifizieren?“ könnte man daher die Frage des Schriftgelehrten mit Klein reformulieren.31 Die Erzählung zeigt dann, dass die Hilfe des Samariters spontan geschieht, aufgrund der konkreten Situationswahrnehmung. „Es ist also nicht seine rationale Beurteilung, sondern seine affektive Wahrnehmung der Situation, durch die sein Verhalten orientiert wird.“32 Gleichwohl bedeutet das nicht, dass die intuitive Situationswahrnehmung unbeeinflusst von der Ebene der Symbolisierung der Lebenswirklichkeit zu verstehen ist, da sie ja gerade von dieser her ihre inhaltliche Bestimmung erfährt. Dies wird auch daran deutlich, dass der Priester und Levit an dem Verwundeten achtlos vorbeigehen, obwohl sie ihn ebenso gesehen haben. Dass der Priester und der Levit, obwohl sie den Hilfebedürftigen gleichermaßen gesehen haben, einfach weitergehen, hängt eben auch mit der propositionalen Ebene zusammen (so hätten sie sich als Tempeldiener am Verletzten verunreinigen können). In christlicher Perspektive sprechen wir auf dieser Ebene den anderen Menschen als Mitgeschöpf, als Bruder oder Schwester, an: „Innerhalb des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, das Jesu Tod am Kreuz als integralen Bestandteil der Offenbarung von Gottes universalem Heilswillen deutet, wird jeder Mensch gewissermaßen zu einem ‚Für-den-Christus-gestorben-ist‘. Innerhalb dieses Wirklichkeitsverständnisses wird ihm damit eine Identität zugeschrieben, die ihren konkret wahrnehmbaren Ausdruck in einem Handeln für ihn findet, und zwar durch diejenigen, die ihm diese Identität zuschreiben.“33 Eine im Kreuzesgeschehen fundierte christologische Anthropologie nimmt den Nächsten in einem spezifischen Sinn wahr und orientiert dadurch christliches Hilfehandeln. Die Wahrnehmung eines in Not geratenen Menschen kann folglich nicht losgelöst von weltanschaulichen Grundfragen und somit nicht inhaltlich unbestimmt als allgemein-menschlicher Aspekt beschrieben werden kann. Der Grund hierfür ist, dass die Situationswahrnehmung eben durch die mit ihr verschränkte Weltanschauung präfiguriert wird. Daher bedürfen die aus der Wahrnehmungsebene stammenden Impulse zu handeln auch der ständigen Überprüfung anhand inhaltlich bestimmter Kriterien, damit die Ausrichtung des dann erfolgenden Handelns nicht aus intuitivem Antrieb zu 30 31 32 33

Vgl. Klein, a.a.O., 40. A.a.O., 41. Ebd. Wolter, Ethisches Subjekt, 50.

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problematischen Folgen und eventuellem Schaden des Nächsten führt (z.B. könnte man in dem Impuls, einem am Kopf verletzten Menschen zu helfen, größere Schäden verursachen als bei einer sachgerechten Behandlung durch den Notarzt). 4. Praktische Schlussfolgerungen Diese Überlegungen sollen abschließend mit einem praktischen Beispiel veranschaulicht werden. Die Frage ‚wer ist mein Nächster?‘ kann auch in unserer Zeit nicht einfach mit ‚jeder, der Hilfe braucht‘ übersetzt werden. Sie hat einen Interpretationsspielraum, der durch heutige Bedingungen wie die sozialstaatliche Absicherung, die viele Hilfeleistungen übernommen hat und so in der Breite Hilfe gewährleistet, die Reaktionen auf die Situationswahrnehmung von Not verändert. So fahren viele Autofahrer nicht nur dann an einem Unfallort vorbei, wenn dort bereits ein Krankenwagen steht, sondern auch dann, wenn noch keiner da ist, da sie um die Delegation dieser Hilfeleistung an professionelle Dienste wissen. Gleichwohl bleiben natürlich viele Unfallopfer auf die Leistung von Erster Hilfe bis zum Eintreffen des Krankenwagens angewiesen. Das Wissen um die sozialstaatlich vorgehaltene Absicherung etwa durch Rettungsdienste kann die spontane Reaktion auf die Wahrnehmung von Not unterbinden – dies unterstreicht nochmals, dass die erste Ebene der intuitiven Wahrnehmung ihre inhaltliche Bestimmtheit aus der zweiten Ebene der rationalen Deutung bezieht. Auf dieser zweiten Ebene wird keine Exklusivität christlichen Hilfehandelns begründet – dies wäre auch gar nicht möglich. Wenn andere weltanschauliche bzw. religiöse Orientierungen in ihrer Perspektive ebenso zu je eigenen Begründungen des Hilfehandelns gelangen, ist dies einerseits zu begrüßen, da auf diese Weise Not gelindert wird; andererseits kann dies jedoch die Unterschiede zwischen den einzelnen Begründungen nicht negieren. Zugleich schmälert dies keinesfalls den eigenen christlichen Beitrag in diesen Begründungszusammenhängen. Mit anderen Worten: Zu sagen, man handelt aus einer spezifischen christlichen Orientierung heraus, ist kein zu streichendes Überbleibsel einer vormodernen Diakonie, sondern auch gerade heute ein unverzichtbarer Beitrag zur Vielgestaltigkeit eines pluralen Wohlfahrtsarrangements.

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Abstract The biblical foundation for Diaconia (Christian social service) has been challenged in the last years. The reference to a traditional christological approach was substituted by the notion that helping one’s neighbour is a universal aspect of mankind. It is therefore no longer possible to argue for specific Christian social services. This approach is analysed in the first part with regard to practical consequences, consequences concerning legal principles, and ethical consequences. On theological grounds, traits of human nature such as love, empathy etc. are universal, however the same is true of traits like hate, disgust a.s.o. One cannot derive at moral principles by simply referring to human nature. Furthermore, to help another person is an ambiguous act, but this does not mean that underlying principles have no impact on the bias of the helping act as such. This argument is developed in the second part referring to the Christian understanding of love. By reference to the Good Samaritan, the direction of Christian love is explained. This does not exclude other foundations of love, but points out, that loving acts are not independent of such underlying foundations. Thus, a Christian perspective is still necessary for the specific contribution Diaconia can make in modern welfare states.

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Anschlussfähigkeit und Proprium von ‚Diakonie‘ Zwischen Fachlichkeit, Ethik und Theologie Eberhard Hauschildt 1. Wovon reden wir, wenn wir ‚Diakonie‘ sagen? Diakonie ist im deutschsprachigen Raum, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, ein den allermeisten Menschen bekannter Begriff – als Name für einen der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bzw. der ihm angeschlossenen Organisationen, als eine der kirchlichen Grundtätigkeiten neben anderen, als Bestandteil der Amtsbezeichnungen Diakonisse und Diakon/ Diakonin. Doch diese scheinbare Gegebenheit von etwas, was man nur mit Diakonie bezeichnen kann, täuscht. Diakonie bezeichnet gerade nicht trennscharf ein bestimmtes, von anderem Handeln unterscheidbares Tun: Eine Blinddarmoperation wird vorgenommen, ein Erwachsener hilft einem Schulkind bei den Hausaufgaben, ein Brunnen wird gebohrt – das alles kann, aber muss nicht Diakonie sein. Diakonie erweist sich somit als ein Interpretationsbegriff. Damit verhält sich die Rede von Diakonie auch anders als die von ‚Gottesdienst‘, ‚Predigt‘ und ‚Religionsunterricht‘. Hier jedenfalls ist an dem Handeln selbst samt der in ihm typischerweise mitlaufenden institutionalisierten Formen sogleich erkennbar: Wenn die Glocken aufhören zu läuten und die Orgel einsetzt – da fängt Gottesdienst an. Wenn die Pfarrerin im Talar auf die Kanzel steigt und vor ihr die Bibel (oder das Manuskript einer Rede über sie) liegt, dann ist Predigt. Wenn am Pult, die Tafel im Rücken, der Erwachsene steht und über Religion redet und ihm gegenüber Kinder an Tischen sitzen, denen Fragen gestellt werden, dann ist Religionsunterricht. Natürlich müssen Gottesdienst, Predigt und Unterricht nicht immer so aussehen. Auch anderes wie die Morgenandacht könnte als Verkündigung (Gottesdienst und Predigt) verstanden werden, auch ein Gespräch im Stuhlkreis oder eine Buchveröffentlichung könnte als religiöse Bildung gelten.

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DOI 10.2364/3846999639

Aber die institutionalisierte Mitte und das Bild von typischen Handlungen sind eindeutig und anderes lässt sich dem als Variante zuordnen. Der Diakonie aber sieht man viel weniger, in der Regel gar nicht, unmittelbar an, dass sie Diakonie ist. Wer ‚Diakonie‘ sagt, nimmt eine Interpretation vor. Diakonie ist in besonders hohem Maße ein Interpretationsbegriff. Wer Diakonie sagt, nimmt eine Interpretation in zweierlei Stufen vor. Zunächst: Das Handeln wird als ‚helfendes Handeln‘ verstanden. Schon das ist aus dem Handeln selbst nicht ersichtlich: Es könnte sich z.B. bei Nachhilfeunterricht, Brunnenbohrung und Operation auch schlicht um gegen Geld eingekaufte (Dienstleistungs-)Produkte handeln oder auch – so das Beispiel der Brunnenbohrung – einen illegalen Akt des Diebstahls darstellen (jemand zapft heimlich das Grundwasser an). Helfen besagt hingegen typischerweise, dass jemand sich als hilfebedürftig und sein Gegenüber als helfend versteht.1 Die eine Person gilt zwischen den beiden Beteiligten als solche, die einer Sache bedarf, die sie sich nicht selbst verschaffen kann, und die zweite Person als eine, die bereit ist, diesen Bedarf zu erfüllen (idealiter freiwillig und nicht nur unter der Bedingung von Gegenleistung). Zur Diakonie wird dieses Helfen erst dann, wenn eine zweite Interpretation vorgenommen wurde, die dieses Helfen in den Zusammenhang von Religion bringt. Dabei steht ‚Diakonie‘ typischerweise nicht für religiöses Helfen an sich, sondern für christliches Helfen im Kontext des (evangelischen) Christentums (im katholischen Bereich begegnet dafür gerne die Rede von ‚Caritas‘). Dass zur Religion auch karitatives Handeln hinzugehört, gilt selbstverständlich für die christliche Herkunft aus dem Judentum; es gilt in vielen Teilen schon etwa fürs antike Ägypten, ebenso für den Islam. Auch ganze andere ‚Religionen‘ wie der Hinduismus haben spätestens auf die Begegnung mit dem Christentum mit einer Akzentuierung ihrer karitativen Traditionen reagiert.2

1

2

Vgl. Niklas Luhmann, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: Hans-Uwe Otto/Siegfried Schneider (Hg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit. Erster Halbband, Neuwied/Berlin 1973, 21–43, hier: 23. Vgl. z.B. Emma Brunner-Traut, Wohltätigkeit und Armenfürsorge im Alten Ägypten, in: Gerhard K. Schäfer/Theodor Strohm (Hg.): Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen, Heidelberg 1990, 23–43; Matthias Bernd/Edmund Weber (Hg.), Diakonie der Religionen 1. Studien zu Lehre und Praxis karitativen Handelns in der christlichen, buddhistischen, Hindu und Sikk Religion (Theion. Jahrbuch für Religionskultur ,VII), Frankfurt a.M. 1996; Helmut Weiß u.a. (Hg.), Ethik und Praxis des Helfens in verschiedenen Religionen, Neukirchen 2005.

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Bei solch einem Sachverhalt erstaunt es nicht, dass Interpretationsbreiten von ‚Diakonie‘ extrem variieren können.3 In homogenen kulturellen Kontexten mag es dann Zeiten gegeben haben, in denen für alle (innerhalb der Kultur) es klar und eindeutig war, was ‚Diakonie‘ meint (so zuletzt innerhalb des von Deutschland beeinflussten Protestantismus des 19. Jahrhunderts). Doch diese Zeiten sind vorbei, und das erhöht den Bedarf, die Frage nach dem ‚Proprium‘ der Diakonie erneut zu stellen. Das wird noch verstärkt dadurch, dass mit einigem Recht sich der Begriff der ‚Diakonie‘ sachlich auch auf anderes als (evangelisches) christliches Helfen übertragen lässt: Die Sache, auf die sich die Rede von Diakonie bezieht, erweist sich zugleich extrem anschlussfähig, sodass möglicherweise die gesuchte Differenz sich als kaum beschreibbar und gesamtgesellschaftlich auch gar nicht gewollt erweisen könnte. Die Propriumsfrage sucht nach dem, was der Diakonie eigen ist. Woran lässt sie sich von anderem unterscheiden? Wie macht sich der christliche Kontext bemerkbar? Drei Antwortrichtungen bieten sich an und ihnen wird im Folgenden nachgegangen: Diakonie ist letztlich ein von der (evangelischen) Kirche her erfolgendes Handeln (Abschnitt 2). Diakonie ist letztlich ein von christlicher Motivation her erfolgendes Handeln (Abschnitt 3). Diakonie ist letztlich ein theologisch begründetes Handeln (Abschnitt 4). Und noch etwas lässt sich beobachten: Es gibt einige Parallelen zwischen der Frage nach dem Proprium des konfessionellen Helfens zu der nach dem Proprium des konfessionellen Religionsunterrichts. Im Vergleich zum Religionsunterricht spitzen sich hier aber die Dinge noch weiter zu. Ähnlich wie beim klassischen Religionsunterricht der Evangelischen Unterweisung, so konnte auch die Diakonie des 19. Jahrhunderts noch von der bekannten Trias aus (protestantischer) Christlichkeit 1. der Handlungsanbieter, 2. der Handlungsrezipienten und 3. der Handlung selbst ausgehen. Gläubige Christen im Auftrag der Kirche handeln an Gemeindegliedern und bringen in ihrem Handeln explizit den Glauben zur Sprache. Doch ist diese Trias im Vergleich zum Religionsunterricht bei der Diakonie noch viel deutlicher gelockert: − Zu den Handlungsrezipienten: Es richtet sich das diakonische Helfen ohne jeden Zweifel von Vornherein an alle, die hilfsbedürftig sind, gleich welcher Glaubenszugehörigkeit. 3

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Der Artikel von Anni Hentschel in diesem Heft führt das für die Begriffsverwendung im Neuen Testament vor.

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− Zur Handlung selbst: Im 19. Jahrhundert; in dem Diakonie vor allem unter dem Begriff der ‚Inneren Mission‘ lief, lag dem ein Modell eines Dreischritts zugrunde. Der setzt mit der diakonischen Hilfe bei Physischem ein, um zur Hilfe bei Sittlichem fortzuschreiten und in der Hilfe bei Geistlichem (idealiter: der Bekehrung zum christlichen Glauben) sein Ziel zu erreichen. Daraus ist, trotz der gegenläufigen Zielsetzung der Akteure, im Verlauf der Zeit ein eindeutiges Schwergewicht bei materiellem und psycho-sozialem Helfen geworden. Damit wird die geistliche Seite deutlich weniger zwingend explizit als im Religionsunterricht. Heute würden die meisten diakonischen Organisationen dem Satz zustimmen: Wir wollen garantiert nicht missionieren. − Zu den Handlungsanbietern: Anders als beim Religionsunterricht liegt bei der organisierten Diakonie nicht nur ein Zusammenwirken von Staat und Kirche vor, sondern es sind von beidem unterscheidbare ‚freie‘ diakonische Organisationen mit mehr oder weniger Verbindungen zu Kirche maßgeblich mitbeteiligt. Und: Diejenigen Professionellen, die in der Diakonie arbeiten, haben, anders als beim Religionsunterricht, in der Masse heute keine theologische Ausbildung. 2. Inwiefern ist Diakonie ein letztlich von der Kirche her organisiertes Handeln? Diakonie ist ein in der Öffentlichkeit der Kirche zugerechnetes Handeln. Und dieses ihr diakonisches Handeln hat eine öffentliche Zustimmung als ein sinnvolles und relevantes Handeln wie sonst kein anderes.4 Es ist für alle Individuen potentiell relevant und dient dem gesellschaftlichen Frieden als Ganzem. Nicht zuletzt darum ist auch im Religionsunterricht Diakonie ein interessantes Thema. Es lässt sich ja am Gegenstand ‚Diakonie‘ demonstrieren, dass zur Kirche etwas gehört, was für alle wichtig ist. Mit dem Unterrichtsgegenstand ‚Diakonie‘, der Religion als relevant erscheinen lässt, kann man zugleich anzeigen: Evangelisch Religion zu thematisieren, wie das im staatlich vorgesehenen konfessionellen Religionsunterricht stattfindet, ist relevant. Doch dieser Zusammenhang zwischen Diakonie und Kirche ist deutlich vermittelter, als viele das vermuten. Er besteht zweifelsohne bei der gemeindlichen 4

Ebenso unter den Mitgliedern: Die Erwartung an die Kirche mit der höchsten Zustimmungsrate (Ost 82%, West 87%) ist, „Alte, Kranke und Behinderte [zu] betreuen“ (Wolfgang Huber/Johannes Friedrich/Peter Steinacker (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, 59).

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Diakonie und auch noch relativ deutlich bei der Arbeit von regionalen Diakonieverbänden und Diakonischen Werken eines Kirchenkreises oder einer Landeskirche. Deutlich anders sieht das aber bei den großen sogenannten freien diakonischen Trägern aus, zu deren Arbeit, was den Einsatz von Kirchensteuermittel angeht, die Kirchen praktisch nichts beitragen. Die starke Stellung freier diakonischer Träger geht auf Entwicklungen im 19. Jahrhundert zurück. Hier entstand ja eine Diakoniebewegung, die zwar kirchlich war in dem Sinne, dass sie auf Reform von Kirche und Rechristianisierung der Gesellschaft zielte. Doch bediente sie sich dafür der organisatorischen Struktur von freien Vereinen. So entstand eine Parallelorganisation neben der verfassten Kirche – mit den Merkmalen eines bürgerlichen, eines zivilgesellschaftlichen, eines selbstgesteuerten Engagements. Dabei gab es zwar vielerlei personelle und mentale Verbindungen zur Kirche. Große Gründergestalten wie Theodor Fliedner und Johann Hinrich Wichern, um nur zwei zu nennen, waren für das Pfarramt ausgebildete Theologen, Fliedner handelte aus der Anstellung als Gemeindepfarrer heraus. Beide verstanden ihr Programm als Kirchenkritik und Kirchenreform angesichts eines Versagens der evangelischen Kirche in Sachen christlichen Handelns überhaupt und besonders christlichen Reagierens auf die sozialen Herausforderungen im Gefolge der Industrialisierung. Aber auch die Theologen Fliedner und Wichern handelten diakonisch doch nicht als Amtsträger, sondern als Christenmenschen, seit an seit mit anderen bürgerlichen Christinnen und Christen. Etwa wäre hier, wiederum nur als ein besonderes herausragendes Beispiel unter vielen, die Hamburger Senatorentochter Amalie Sieveking zu nennen. Sie startete eine Initiative christlich gesinnter weiblicher Pflegekräfte für die Krankenpflege, die zu den Wurzeln des Krankenschwesternberufs gehört. Sie wollte damit zugleich der als säkularisiert gedeuteten Welt ein positives Beispiel von der Wirkkraft christlichen Glaubens geben.5 Je mehr dann schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts und dann insbesondere im 20. Jahrhundert diese freien diakonischen Organisationen wuchsen, desto selbstbewusster konnten sie in der Gesellschaft neben der Kirche (für 5

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In ihrem Aufruf von 1831 (also etwas früher als Fliedner und Wichern!) geht es Sieveking darum, „ein Beispiel christlicher Krankenpflege aufzustellen, davon die Ungläubigen selber gestehen müßten, daß es […] etwas anderes und viel Schöneres sei als alle ihre nur auf dem Grunde der weltförmigen Moral erbauten Institutionen.“ Denn hier wird man tätig nicht nach „Mietlingsart, sondern in freier Liebe und wahrhaftig um des Herrn willen“ (zitiert nach Herbert Krimm (Hg.), Quellen zur Geschichte der Diakonie, Stuttgart Bd 2, o.J [1963], 157).

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die lokale Politik etwa viel relevanter als die Kirchenvertreter) und ebenso auch ihr gegenüber agieren. Weil soziale Dienstleistungen und deren Finanzierung und die Sozialpolitik überhaupt wichtig sind, bekommen inzwischen Leitenden der Diakonie einen tieferen Zugang zu politischen Vertretern als die der Kirche. Sie stellen mehr Arbeitsplätze als die Kirchen zu Verfügung, können ihre Organisationen viel stärker auch top down durchgestalten (sind also innerhalb der eigenen Organisation wichtiger als die Bischöfe in ihrer) und verdienen als Topmanager auch noch erheblich mehr als sie. Insgesamt hat ein Ausdifferenzierungsprozess christlichen Handelns stattgefunden, bei dem die Diakonie einen öffentlichen Bedeutungsgewinn erfahren hat, während die Amtskirche im gleichen Zeitraum einem öffentlichen Bedeutungsverlust unterlag. Ausdifferenzierung zieht beiderseitige Entfremdungsgefühle und Abgrenzungsbedürfnisse nach sich. Dabei erweist sich nun die Debatte um das ‚Proprium‘ selbst als ein Mittel in der Auseinandersetzung zwischen Kirche und sogenannter ‚freier Diakonie‘. Von Seiten der Kirche erscheint die Diakonie als hochgefährdet darin, nicht christlich und das heißt für sie zugleich: nicht kirchlich genug zu sein; sie müsse wieder missionarischer werden. Von Seiten der Diakonie lässt sich dann kontern, die verfasste Kirche sei nicht modern und gesellschaftsrelevant genug, während die Diakonie die christliche Avantgarde im Vergleich zu den in sich gekehrten und traditionalistischen Parochien darstelle. Eine solche Diskurslage leidet nach meiner Analyse genau daran, dass sie von einem Ideal der höchstmöglichen Gleichheit und Einheit von Kirche und Diakonie ausgeht. Wenn aber die einander von beiden Seiten gewollte Zusammengehörigkeit6 als Einheit Gleicher beschworen wird, dann befördert genau dies die Entfremdungsprozesse.7 Viel konstruktiver ist es, die Ausdifferenzierung von Kirche und Diakonie zu würdigen, weil sie beiden Organisationen gegenseitige Entlastungs- und Ergänzungsmöglichkeiten eröffnet. Gemeinde (samt Gemeindediakonie) ist stark im Explizieren des Glaubens und im integralen und ganzheitlichen christlichen Helfen, eng verwoben mit Geselligkeit und Andacht, so etwa schon bei der gängigen Kinderarbeit 6

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In der Grundordnung der EKD Art. 15 gilt die Diakonie als „Wesens-und Lebensäußerung“ der Kirche. Umgekehrt lautet im „Leitbild Diakonie“ des nationalen Diakonischen Werks aus dem Jahr 1997 einer der sieben Hauptsätze „Wir sind Kirche.“ Vgl. dazu und zu weiteren Inhalten dieses Abschnitts Eberhard Hauschildt, Wider die Identifikation von Diakonie und Kirche. Skizze vom Nutzen einer veränderten Verhältnisbestimmung, in: Pastoraltheologie 89 (2000), 411–415.

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und Seniorenarbeit. Umgekehrt fehlen den Kirchengemeinden bereits bei der spezialisierten und professionalisierten Hilfe für ihre eigenen Gemeindeglieder die nötigen Kapazitäten. Die ausdifferenzierten diakonischen Organisationen hingegen sind genau darin stark und ebenso in der Öffnung für Menschen jenseits von Kirche und quer durch die Milieus. Andererseits bleiben diakonische Organisationen in der Explikation des christlichen Glaubens viel diffuser und indirekter. Beide Seiten, ‚Kirche‘ wie ‚Diakonie‘, haben etwas von der Differenz. Wenn die Kirche in sozialen Fragen der Gesellschaft mit Kompetenz, Sachkenntnis und Gewicht als Akteur der Zivilgesellschaft wirken will, dann hat sie bei einer starken Diakonie dazu besondere Möglichkeiten. Wenn die großen diakonischen Organisationen heute vor der Herausforderung der Ambulantisierung von Pflege stehen und der Sozialraum wiederentdeckt wird, so verfügen sie bei Zusammenwirken mit Kirchengemeinden über besondere Möglichkeiten. Außerdem könnte das jeweilige kritische Gegenüber dabei helfen, eigene Schwächen zu erkennen. Das Zusammenwirken beider Organisationsausprägungen ist also vorteilhaft. Es bleibt aber auch komplex. Dass der Steuerbefreiungsstatus der Diakonie an ihrer Kirchlichkeit hänge, wie oft behauptet, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Fehlschluss. Eine Gemeinnützigkeit ist auch ohne das gegeben – und wo sie nicht vorliegt, nützt auch die Verbundenheit zur Kirche nichts. Derzeit ist offen, wie sich jüngste Sozialgerichtsentscheidungen zu Fragen des Arbeitsrechts in diakonischen Organisationen auswirken. Geht der Weg dahin, dass Diakonieorganisationen sich einheitlichen Vorgaben der Kirche stärker unterwerfen müssen, weil sie nur dann die kirchlichen Sonderrechte nutzen können? Oder geht er dahin, dass, wenn Diakonieorganisationen Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten nicht wollen, dies gerade ihre Mitgliedschaft im Diakonischen Werk gefährdet? In der katholischen Kirche behält sich das Episkopat für die Caritas ein Letztbestimmungsrecht vor. Berüchtigter Punkt in der jüngeren Vergangenheit dafür war der Fall, dass 1998, vom Papst veranlasst, über die Bischöfe allen Organisationen der Caritas der Ausstieg aus der Schwangerschaftskonfliktberatung verordnet werden konnte. Inwiefern Diakonische Organisationen den Interpretationszusammenhang ‚Diakonie‘ plausibel machen, entscheidet sich allerdings nicht allein an organisations- und organisationsrechtlichen Fragen. Darum sind jetzt die beiden anderen Dimensionen des ‚Propriums‘ in den Blick zu nehmen.

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3. Christliche Motivation und Fachlichkeit In der Diakonie wird geholfen. Dass überhaupt jemand hilft, mag nach einer Erklärung rufen. Das ist vor allem da der Fall, wenn die Hilfe nicht erwartbar war. Das Helfen fällt dann besonderes auf, wenn die Hilfe an jemandem geschieht, der allgemein nicht als liebenswert gilt, oder wenn sie Unannehmlichkeiten bis Risiken für die helfende Person beinhaltet. Es kann zum Markenzeichen ‚Diakonie‘ werden, wenn bestimmte Gruppen von Christen da helfen, wo man sonst nicht hilft. Definitiv der Fall war das bei den Anfängen der diakonischen Organisationen im 19. Jahrhunderts, Jahrzehnte vor den ersten Ansätzen zu neuen staatlichen Sozialsicherungssystemen unter Bismarck. Anschaulich kann die christliche Motivation auch dadurch werden, dass bestimmte Personen dazu bestimmt werden, Aufgaben der ‚Diakonie‘ zu übernehmen. Dies findet sich in der Geschichte der Kirche schon früh, als man bestimmte Gemeindeglieder begann ‚Diakone‘ zu nennen.8 Auch wenn das karitative Helfen damals nur ein Teil des Spektrums jenes Amts ausmachte, so war es doch ein Zeichen, das Helfen als wichtige Aufgabe der Kirche sichtbar macht. Nun wurde im Verlauf der Jahrhundert das Amt des Diakons seit dem frühen Mittelalter zu einem fast nur liturgischen Dienst, Durchgangsstufe auf dem Weg ins Priesteramt. Die Reformation hingegen sah das Helfen als das Zentrum eines diakonischen Amts, auch wenn es de facto zu wenig konkreten Gestaltungen kam. Hier bildete nun das 19. Jahrhundert einen Neuansatz. Aus dem da und dort bekannten protestantischen gemeindlichen Ehrenamt des Diakons und der Diakonisse auf Zeit wurden zwei kirchliche Haupt- und Lebensberufe. Diakonissen vor allem und auch Diakone (die Zahlen lagen meist bei nur 10% der Diakonissen9) prägten mit ihrem religiösen Beruf die Diakonie. Entsprechend gehören persönliche Frömmigkeit und kirchlich-theologische Kenntnisse zum Grundprofil dieser beiden Berufe, hinzu traten – und dies im Laufe der Jahre immer mehr und ausgeprägter – 8

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Man beachte: Es gibt auch frühe Belege dafür, dass Frauen damals ebenso diakonische Ämter ausfüllten. Das gilt neutestamentlich für Phoebe, die als „Diakon“ der Gemeinde von Kenchreä den Römerbrief des Paulus überbringt (Röm 16,1) und wohl auch für die „Witwen“ (1. Tim 5,3–16). Aus der Alten Kirche ist ein Ordinationsformular für Diakonissen überliefert, das in den Ordinationsgebeten auf die Linie großer alttestamentlicher Frauen ausdrücklich ausführt (Herbert Krimm (Hg.), Quellen zur Geschichte der Diakonie, Stuttgart Bd 1, o.J [1961], 63 f.). Michael Häusler, „Dienst an Kirche und Volk“. Die Deutsche Diakonenschaft zwischen beruflicher Emanzipation und kirchlicher Formierung (1913–1947), Stuttgart 1995, 29.

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fachliche pädagogische, krankenpflegerische und sozialarbeiterische Ausbildungsanteile. Beachtenswert ist: Dieser religiöse Beruf wurde in den diakonischen Organisationen selbst entwickelt und umgesetzt, nicht in der Amtskirche. Dazu gehört auch eine ordinationsähnliche, aber nicht kirchenrechtlich ordinationsgleiche Einsegnung innerhalb der Diakonieorganisationen. Die Diakonissen und Diakone waren gewissermaßen Eigentum der Diakonieorganisationen und konnten an nicht-kirchliche Einrichtungen (als soziale Fachkräfte) und genauso auch an kirchliche Einrichtungen (als religiös-soziale Fachkräfte: Gemeindeschwester, Gemeindediakon) abgesandt werden. Damit wurde anschaulich: Diakonie ist jedenfalls erwartbar da, wo Diakonissen und Diakone tätig sind. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kommt es nun bei diesen Leitberufen der diakonischen Organisationen zu einer doppelten gravierenden Veränderung: zum einen durch die Angleichung der diakonischen Berufe an staatliche und zum anderen durch das radikale Absinken des Anteils der diakonischen Berufe unter den bei der Diakonie Beschäftigten. Stück für Stück bilden sich, im 20. Jahrhundert mit zunehmender Dynamik, nichtkirchliche Fachberufe der Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Krankenpflege heraus und eine dementsprechende nicht religiös durchformte Fachlichkeit des Helfens. Ab den 1970er Jahren setzt sich durch, dass auch diakonische Ausbildungsstätten eine den sozialstaatlichen Standards entsprechende Ausbildung und damit auch staatlicherseits anerkennbare Abschlüsse in Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Krankenpflege bieten. Diakoninnen und Diakone erhalten seit dem in der Regel mit ihrem Abschluss eine sozialberufliche Qualifikation auf Fachhochschulebene.10 Für Helfen im Sozialstaat auch durch die Diakonieorganisationen, sofern sie dafür als Teil der subsidiäre sozialstaatliche Leistungsansprüche erfüllen, ist eine entsprechende staatlich geregelte Fachlichkeit seitdem Voraussetzung. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert wird der Kontrast deutlich: Damals, in Gründerjahren der diakonischen Organisationen, waren diese Organisationen die einzigen, die, durch Spenden christlicher Sympathisanten finanziert, mithilfe eines religiösen Berufs physische, soziale und religiöse Hilfe anboten. Nun, mit der endgültigen Etablierung des Sozialstaats, gibt es ein Bürgerrecht auf soziale Dienstleistungen, an deren Erfüllung auch diakonischer Organisationen beteiligt sind (z.B. Krankenhäuser, Altenheime, Be10 Eine Fachschulausbildung statt Fachhochschulausbildung zum Diakon/zur Diakonin gibt es weiterhin in Nischen.

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hindertenheime, Beratungsdienste). Diakonieorganisationen haben dazu den allgemeinen staatlich geforderten Stand an Fachlichkeit vorzuhalten. Die Leistungen sind durch die sozialstaatlich vorgesehene Kostenträger finanziert. Strukturell ist damit christliche Motivation überflüssig geworden. Es kommt auch ohne sie zur Hilfe in der Gesellschaft, weil der Staat Rechtsansprüche und Finanzierungsvorsorge eingerichtet hat. Nun ist das für die Diakonie insoweit noch keine ganz so große Herausforderung für ihr Proprium, solange diese Hilfe von Fachkräften geleistet wird, die zugleich als Diakonissen und Diakone erkennbar sind und erwartbar eine christliche Motivation mitbringen (entsprechendes gilt auch für Einrichtungen der Caritas und deren Nonnen und Pflegeorden). Mit dem religiösen Beruf verbindet sich ja weiterhin anschaulich der christliche Kontext, dass hier nicht gegen Lohn, sondern im Einsatz für die Idee des Helfens gearbeitet wird, in Verbindung mit einer besonderen religiösen Gemeinschaft und der Altersversorgung über sie. Damit verbindet sich bei denen, die Hilfe erfahren, Einiges an besonderen Erwartungen: Solche Menschen haben altruistische Motive; sie engagieren sich über normale Lohnarbeitszeiten hinaus; sie sind auch auf Glaubensfragen hin ansprechbar. Wenn inzwischen ein den staatlichen Ausbildungsstandards entsprechender Arbeitslohn gezahlt wird, so liegt auch darin noch nicht der tiefgreifendste Wandel. Er ergibt sich vielmehr daraus, dass die religiösen Berufe von Diakonisse und Diakon inzwischen vom Normalfall zum Sonderfall der in der Diakonie Beschäftigten geworden sind. Für die Diakonissen spielte dabei eine große Rolle: Die Zölibatserwartung auf Lebenszeit passt nicht mehr in die Zeit, ganz anders als im 19. Jahrhundert, als die Diakonie den ersten Frauenberuf geschaffen hatte, gibt es inzwischen viele alternative Berufe. Aber auch die Diakone und Diakoninnen sind in das Hintertreffen geraten. Die Doppelqualifikation aus diakonischer Ausbildung und fachlicher Ausbildung und der damit verbundene höhere Ausbildungsaufwand schlägt sich bei den diakonischen Organisationen nicht in spezifischen Stellen für sie nieder. Für sie stehen in den Diakonieorganisationen die gleichen Stellen wie für sonstige Sozialberufe bereit, auch wenn man bei ihnen die erwartbare individuelle christliche Religiosität im Gegensatz natürlich schätzt.11 Im Zahlenmix wurden darum innerhalb weniger Jahrzehnte nicht nur die Diakonissen, sondern ebenso auch die Diakoninnen und Diakone zu 11 Vgl. Claudia Schulz, Diakoninnen und Diakone unter Vertrag. Von diakonischen und strukturellen Baustellen aus der Perspektive von Anstellungsverantwortlichen, in: dies./Ellen Eidt (Hg.), Evaluation im Diakonat. Sozialwissenschaftliche Vermessung diakonischer Praxis, Stuttgart 2013, 55–81

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einer quantitativ in der Diakonie vernachlässigbaren Größe.12 Damit wird in den diakonischen Organisationen das Diakonische nun eben nicht mehr an den Mitarbeitenden und Mitarbeitenden selbst anschaulich. Die Mitarbeitenden sind nicht mehr erwartbar durch eine bestimmte evangelische kirchliche bestimmte Frömmigkeit geprägt, bestenfalls finden sich hier (nämlich da, wo man an der Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche als Voraussetzung für die Einstellung bei der Diakonie festhält), durchschnittliche Verhältnisse wie unter den Mitgliedern der evangelischen Volkskirche auch.13 Christliche Motivation ist insoweit zur pluralen Privatsache von in ihrer Fachlichkeit handelnden Fachkräften der Diakonie geworden. Woran erkennt man aber dann noch, dass die jeweilige Organisation Diakonie betreibt? 4. Christliche Diakonie als ein letztlich theologisch zu begründendes Handeln Wenn nun das Diakonische an helfenden Handlungen selbst uneindeutig ist, umso mehr wenn sie den Charakter von geldwerten Dienstleistungen auf der Basis von Rechtsansprüchen und geregelten Geldflüssen aus der Sozialkasse, Krankenkasse etc. angenommen haben, wenn sie fachberuflich durchformt sind und man auch in der Diakonie nicht mehr auf die alten religiösen Berufe des Diakonisse und des Diakons stößt, denen man das Diakonische ansehen konnte – dann stellt sich die Frage: Was besagt die Interpretation ‚Diakonie‘ überhaupt noch? Manchmal wird in der Debatte die Position vertreten, man solle die Grundkonstellation in die Richtung zu verändern, dass sie wieder von der Art wird, wie sie es im 19. Jahrhundert war. Diakonie hätte sich dann aus den sozialstaatlichen Zusammenhängen zu verabschieden, sich auf solche Handlungen zu beschränken, auf die es keinen Rechtsanspruch und für die es keine Kostenträger gibt, und grundsätzlich sich allein aus Spendengeldern oder Stiftungserträgen zu finanzieren. Sie könnte dann auch ihre religiöse Sonderkultur durchgehend aufbauen, Verkündigung und Helfen, Gottesdienst und Pflegen wieder zu einer Einheit und gemeinsamen Frömmigkeit zusammenführen – für die, die die Hilfe ausüben, und ebenso die, die die Hilfe

12 Auf einer Tagung wurde in diesem Jahr für das Diakoniewerk Bethel die Zahl von 1,5% unter den dort Beruflich Tätigen genannt. 13 Vgl. dazu schon die Untersuchungsergebnisse bei Hans-Ulrich Nübel, Die neue Diakonie. Teilhabe statt Preisgabe. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen zu Wort, Freiburg 1984.

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erfahren. Damit wäre die Wirklichkeit wieder der (alten) Theologie angepasst.14 Wer das vorschlägt, muss aber auch die Folgen bedenken.15 Diakonie wird damit zu einer Angelegenheit im kirchlichen inneren Zirkel. Die Kompetenz und das Gewicht für sozialstaatliche Debatten wird aufgegeben. Attraktiv ist diese Diakonie nur für solche, die ohnehin nach christlicher Gemeinschaft suchen oder die gar nicht anders können, weil ihre Not sie drängt, Hilfe von wem auch immer anzunehmen. Es findet also eine Schließung statt. Wer die Volkskirche für grundsätzlich falsch hält und stattdessen die kleine Kirche in der Nische für grundsätzlich die einzige Möglichkeit angemessenen christlichen Lebens, der wird auch für solch eine kleine enge Diakonie optieren. Wer Chancen auch in den Zusammenhängen sieht, in denen die gegenwärtige evangelische Großkirche steht (wie auch immer sich das entwickeln mag), der ist hier vorsichtiger. Für den Religionsunterricht, der selbst ein Phänomen nach den Mustern volkskirchlichen Staat-Kirche-Verhältnisses ist, dürfte jedenfalls die volkskirchliche Diakonie ein zu ihm selbst durchaus passendes Phänomen sein. Aber auch eine kleine gemeindenahe Diakonie kann sich bestimmten Dynamiken nicht entziehen. Macht zum Beispiel eine überzeugte missionarische Gemeinde nun eine Schule auf und wird die erfolgreich, dann beginnen auch hier die Dynamiken von Professionalisierung, Ausdifferenzierung von Diakonie und Kirche und potentieller Entfremdung zu wirken. Ist die Schule fachlich gut, wird sie auch für nicht-kirchliche Personen dennoch interessant, kann wohlmöglich stärker wachsen als die Gemeinde, sodass die Leitungsperson der Schule im kommunalen Umfeld wichtiger wird als die Pfarrerin/der Pfarrer der Muttergemeinde. Gilt es dann die Nachfolge in der Schulleitung zu bestimmen, wird typischerweise auch hier die Schule in organisatorischem Selbstinteresse, wenn dies als Alternative gegeben sein sollte, die Person mit der besten fachlichen Kompetenz in Schulorganisation einer alternativen Person vorziehen, die zwar frömmer sein mag, aber fachlich weniger kompetent. Wenn helfendes Handeln unter diesen Bedingungen der Gegenwart als Diakonie identifizierbar sein soll, dann verbleibt damit nur die dritte Möglichkeit. Es ist eine theologische Deutung des Phänomens Diakonie zu erarbei14 So in aller Konsequenz durchgeführt bei Steffen Fleßa, Arme habt ihr allezeit! Ein Plädoyer für eine armutsorientierte Diakonie, Göttingen 2005. 15 Vgl. Eberhard Hauschildt, Hilft die Diakonie den Falschen? Zu den Prämissen von Steffen Fleßas Plädoyer für eine armutsorientierte Diakonie“ und ihrer Position im sog. „Dritten Sektor“, in: Pastoraltheologie 95 (2006), 477–492.

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ten, einer Diakonie, der man ihre christliche Motivation nicht so einfach ansieht. Und dazu gehört dann eine Theorie der relativen Differenzen von diakonischer und kirchlich-gemeindlicher Organisation. Das schließt eine Vorstellung davon ein, wie angemessen auch mit Frömmigkeitsdifferenzen und weltanschaulichen Differenzen konstruktiv umgegangen werden kann. 4.1 Christliches Helfen als überwiegend wirksames statt darstellendes Handeln Immer wieder wird geklagt, dass das Handeln in Diakonieorganisationen nicht christlich-kirchlich genug sei. Diese Sicht beruht auf einem Missverständnis. Dass zum einen statt des Ideals der Einheit und Gleichheit von Diakonie und Kirche weiterführender ist, die Differenzen herauszuarbeiten, war bereits oben in Abschnitt 2.1 als pragmatischer Grund mit Verweis auf die gegenseitige Entlastung von kirchlichen und diakonischen Organisationen ausgeführt worden. Hier ist nun zu zeigen: Die Differenzierung ergibt sich schon aus einer sachgemäßen theologischen Unterscheidung innerhalb des kirchlichen Handelns selbst. Es liegt nämlich ein Missverständnis vor, wenn an christlich motiviertes helfendes Handelns die gleichen Kriterien angelegt werden wie an Predigt und Gottesdienst. Übersehen ist dabei eine grundsätzliche Differenz zweier christlicher Handlungstypen.16 Der ersten Handlungstyp: Zu ihm gehört dasjenige Handeln, das in Confessio Augustana Art. 7 die Minimaldefinition von Kirche bestimmt als ein Handrln durch Wort und Sakrament handeln.17 Friedrich Schleiermacher hat es ‚darstellendes Handeln‘ genannt. Es überwiegt in Gottesdienst und Predigt. Der Glaube spricht sich explizit aus. Dieses Handeln ist um seiner selbst willen da und trägt seinen Zweck in sich selbst: Zu Gotteslob (und auch Klage), zu Hören auf die Bibel und Selbstvergewisserung bzw. gegenseitiger Selbstvergewisserung ist man versammelt. Daneben gibt es aber auch eine andere Gruppe von christlichem Handeln. In der Reformationszeit tritt dieser Handlungstyp bei der Debatte über weitere 16 Auf die folgenden Zusammenhänge hat Hans-Richard Reuter aufmerksam gemacht, u.a. in: ders., Die Bedeutung der kirchlichen Dienste, Werke und Verbände im Leben der Kirche, in: PTh 85 (1996), 33–50. 17 „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“

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‚Kennzeichen der Kirche‘ (notae ecclesiae) zutage; Schleiermacher spricht von ‚wirksamem Handeln‘. Dieses Handeln zielt auf einen Veränderungsprozess. In Diakonie ebenso wie Seelsorge und Unterricht liegt überwiegend dieses Handeln vor. Die Kirche beteiligt sich daran, dass Menschen und Welt in einen Zustand kommen, wie Gott ihn will. Der Unterricht soll Subjekte zu Personen machen, die sich in Mündigkeit um expliziten Glauben verhalten können. Das Helfen entspricht einer Welt, die von Gerechtigkeit und Solidarität geprägt ist. Es liegt nun aber in der Grundstruktur dieses Handelns, dass in ihm überwiegend der Glauben (nur) indirekt und implizit nicht anwesend ist. Religionsunterricht zielt bei den Schülern nicht auf Bekehrung, sondern auf verstehende Reflektion über Bekenntnis und auf Probeerfahrungen. Diakonie erreicht ihr Ziel nicht erst mit der Artikulation der Rechtfertigung durch Gott in Jesus Christus, sondern schon in der bedingungslosen Annahme der hilfebedüftigen Person mit ihren Bedürfnissen und in der Beseitigung oder zumindest Linderung ihrer jeweiligen Not. Was wäre, wenn stattdessen der Glaube bei Diakonie forciert zum Ausdruck käme („Ich helfe dir nur, wenn du glaubst“. „Weil ich weiß, dass du meine Hilfe brauchst, nutze ich diese Gelegenheit, um dir das zu geben, worum es mir eigentlich geht, nämlich dass du auch so glaubst wie ich.“)? Dies würde dazu führen, dass gerade der Charakter christlichen Helfens, ja des Helfens überhaupt, beschädigt wird. Physisches und psychisches Helfen hat seinen Wert in sich selbst, auch dann, wenn ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass es noch anderes Helfen gibt. Wenn beim Helfen Glaube auch explizit zum Ausdruck kommt, dann kann und darf (daran ist festzuhalten) nicht forciert geschehen, sondern ist streng am gegenseitigen Einverständnis und am Respekt vor der gegenseitigen Differenz beider Handlungspartner orientiert. Anderes wäre gar keine valide Darstellung des Glaubens. 4.2 Helfen, Ethik und Religion, Schöpfungstheologie und Christologie Wenn wir eben die Erwartung abgewiesen haben, Helfen sei nur dann gut, wenn es unter allen Umstanden von Predigt/Mission durchsetzt wird, im Gegenteil – dann ist aber nun deutlich zu machen, wo denn sonst die Brücken beim Phänomen des Helfens zu Religion und Glaube bestehen – und ebenso, worin auch sonst nicht.

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Die ältere Diakonietheologie seit dem 19. Jahrhundert, ging davon aus: Erst mit dem Christentum kam die (Nächsten-)Liebe in die Welt.18 Das ist eine höchst problematische Selbstüberschätzung und Überheblichkeit von Christen. Sie wird erklärbar aus dem Zusammenhang des 19. Jahrhundert, in dem europäisches Christentum sich als höchste Stufe der Menschheit meinte verstehen zu müssen und damit de facto kolonialistische Einstellung und Politik legitimierte. Demgegenüber gehört zur Theologie die Einsicht, die in den letzten Jahren auch in der Diakonietheologie deutlich gemacht wurde:19 Helfen ist Teil der guten Schöpfung Gottes. Helfen ist ein Charakteristikum des Geschöpfs Mensch überhaupt. Insofern kann man auch den Diakoniebegriff erweitern und sagen: Auch das ist schon Diakonie – jede gegebene menschliche Möglichkeit zu helfen (von der der Glaube sagt: sie ist durch den Schöpfer gegeben). Am Beispiel des alltäglichen und spontanen Helfens, wie es in der gesamten Gesellschaft vorkommt, lässt sich das ja gut demonstrieren. Wenn die Nachbarin klingt und um etwas Zucker für den Kuchen bittet, den sie backen will, dann besteht ein alle bindende Erwartung, hier zu helfen. Immer wieder gibt es Notfälle, wo Menschen trotz damit verbundener großer Selbstgefährdung ganz spontan und ohne jede religiöse Legitimierung sich dafür entscheiden zu helfen. Doch Helfen ist auch ambivalent. Es entstehen Machtgefüge. Abhängigkeiten können vertieft statt beseitigt werden. Hilfe zu bekommen oder immer Helfen zu müssen kann auch schaden (vgl. dazu etwa die Einsichten zu den ‚hilflosen Helfern‘ oder zu Systemen der Koabhängigkeit bei innerfamiliärer ‚Hilfe‘ für Suchtkranke20). Eine idealistische Sicht vom Guten im Menschen, die meint, man könne diese Abbrüche im Zaume dadurch halten, dass alle zu hilfreichen edlen Menschen erzogen werden können und positives Denken eingeübt wird, geht an den Realitäten vorbei. Einer christlich-religiösen Deutung hingegen stehen die biblischen Szenarien und die Begrifflichkeit von ‚Sünde‘ zu Verfügung. Theologie rechnet damit, dass überall es auch zu einem Handeln kommen kann, also auch beim Helfen, das sich als schädlich erweist. Eine Gottvergessenheit setzt sich da im Han18 „Die Welt vor Christo ist eine Welt ohne Liebe“. Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, 2. Aufl. Stuttgart 1895, 8. 19 Ganz besonderes deutlich vorgetragen bei Heinz Ruegger/Christoph Sigrist, Diakonie – eine Einführung. Zur theologischen Begründung helfenden Handelns, Zürich 2011, mit entsprechenden Literaturverweisen. 20 Vgl. z.B. Wolfgang Schmidbauer, Die hilflosen Helfer, Reinbek 1977; Monika Rennert, Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet, Freiburg i.Br. 2012.

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deln so um, dass es sich als anderen Mächten unterworfen erweist, die das Helfen selbst unterminieren. Wie sind dann ‚Schöpfung‘ und ‚Sünde‘ aufeinander zu beziehen? Einer christliche Deutung steht dafür die Konzeptionalisierung von ‚Gesetz‘ im paulinischen Sinne zur Verfügung: ‚Gesetz‘ bedeutet da einerseits Gottes gute Schöpfung, die Zustände setzt, die jedoch andererseits de facto in der Hand des Menschen dazu tendieren, entgegen dem angestrengten guten Willen nur tiefer und verdeckter in die Sünde zu führen. Die Mitberücksichtigung solcher Deutungstraditionen stärkt eine Sicht, die in Kulturen des Helfens, den eigenen kirchlichen und diakonischen ebenso wie denen sozialstaatlicher Ordnungen und fachwissenschaftlichen Perspektiven und Praktiken, nicht nur lauter gutes Tun und Denken erwartet. Vielmehr rechnet sie damit, bei sich selbst und bei anderen auch auf Fehler, Ambivalenzen und übersehene Abgründe zu stoßen. Theologie in diakonischen Organisationen ist relevant dafür, in Sachen Helfen zu Realismus und kritischer Infragestellung anzuregen. Damit stärkt auch die christliche Religion eine verallgemeinerbare Einsicht: Ethik ist nötig beim Helfen, also eine Reflektion darüber, wo und wie gutes Handeln aussieht. Auch der Diskurs über Ethik ist ein fachlicher Diskurs. Im Kontext helfenden Handelns, besonders im medizinischen Bereich, findet sich dementsprechend in den letzten Jahren eine Hinwendung zur ‚Angewandten Ethik‘21. Das meinet eine Form von Ethik, die nicht mehr allein als allgemeine Prinzipienethik durch philosophischer Experten betrieben wird, sondern das Gewicht auf eine diskursive ethischen Kommunikation unter den beteiligten Betroffenen legt – und das heißt etwa von medizinischem Personal ebenso wie pflegerischem wie von Patienten. Es schließt auch Klinikseelsorger/innen mit ein, die als Anwälte von Patienten und/oder Angehörigen oder als Beteiligte mit theologischer Ethik tätig werden. Handelt es sich beim Helfen um ein durchaus riskantes Handeln, dann gehört auch dazu: Wer mit Helfen zu tun hat, kommt in Zusammenhänge von Macht und Ohnmacht, Sinn und Sinnlosigkeit. Es brechen diejenigen Fragen auf, auf die Religionen Antworten anbieten und für die sie Erklärungen versuchen, solche Erklärungen, die hinausgehen über gute logischen Gründe und ebenso über die in einer jeweiligen Gesellschaft etablierten mehr oder minder gemeinsam geteilten Werte. Hier bietet nun das Christentum seine Antworten und seine Arten zu suchen an. Die laufen auf die These hinaus (ich formuliere so knapp wie möglich), dass für ein angemes21 Andreas Vieth, Einführung in die Angewandte Ethik, Darmstadt 2006.

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senes Verhältnis zu solcher Art von Transzendenz der Gottesglaube, genauer Gottes Präsenz in Christus, einen Schlüssel eigener Art liefere. Damit kann eine Theologie der Diakonie nicht nur als reine Schöpfungstheologie konstruiert werden.22 Vielmehr liefern gerade auch die Christusszenen und deren Deutungen eine solche Anschauung für das Helfen, die ein verändertes Verständnis der Ambivalenzen des Helfens mit seinem Schwanken zwischen Selbstverurteilung und Selbstüberschätzung impliziert. Denn die Hilfestruktur wird als bei Christus wiederholt und durchbrochen gedeutet: Christi Zuwendung, seine Präsenz erbringt eine Atmosphäre unbedingter Liebe. Die ist deswegen radikal unbedingt, weil sie von Gott ausgeht und dabei zwischen ambivalentem Tun und geliebter Person einen Unterschied macht (Sünder werden von Gott trotz ihres Tuns aus Gnade gerechtfertigt). Und diese Einsicht bietet eine menschliche Haltung an, die – trotz gewisser Grenzen – sich auf die Möglichkeit eines geschenkten freien und besonnenen Lebens bezieht, eines aus Glauben gegenüber der Selbstbewertung gelassenes und zugleich gegenüber anderen aktives Leben. Eine der Pointen eines solchen Lebens ist, das in der Schöpfung angelegtes Potenzial in Freiheit aufzugreifen, indem man sich aufs Helfen einlässt, auf Diakonie mit all ihren Herausforderungen, dies letztlich schlicht um derer willen, denen die Diakonie zugutekommen soll. 4.3 Wie Diakonieorganisationen die theologische Deutung ‚Diakonie‘ für eine plurale Mitarbeiterschaft und Kundschaft fruchtbar machen können Theologische Reflektion ist ein Tun einzelner Glaubender, die sich darin gegenseitig auch bestärken könnten. Zu hoffen ist, dass diese Reflektion in Versammlungen der Glaubenden, wie in Gottesdienst und Predigt, auch erneuert und explizit gemacht wird. Doch was bedeutet das für das Handeln in diakonischen Großorganisationen mit Mitarbeitenden, die fachberuflich tätig sind und diese oder jene private weltanschauliche Überzeugungen haben mögen? Wenn es für sie relevant sein soll, müsste jedenfalls Theologie in der Weise in Kommunikationsprozesse eingehen, dass dies für alle in der Gesellschaft etwas ‚bringt‘ und darum für möglichst viele unter den Kunden und Mitarbeitenden attraktiv sein könnte, weit über den beschränkten Kreis der evangelisch kirchlich hoch Verbundenen hinaus. Es müsste etwas sein, das auch für das diakonische Unternehmen selbst in seiner Konkurrenzsituation auf dem Sozialmarkt Teil seines speziellen Profils sein kann. 22 So der Fall bei Rugger/Sigrist, Diakonie (Anm. 19).

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Damit würde hier, im Unternehmensprofil, das für die Kunden und die Mitarbeitenden etwas erbringt, Diakonie sichtbar. Und das ist mehr und anderes als nur, dass es im Hintergrund einen gewissen Organisationszusammenhang zur Kirche gibt. Es ist auch mehr als das Bereitstellen religiöser Spezialangebote, die gewählt werden können, – und das bedeutet dann auch bei Religions- und Weltanschauungspluralität Zugänge zu mehr als einer religiösen Tradition. Darüber hinaus wird Diakonie darin sichtbar: Es gibt vorzeigbare Anstrengungen darum, eine bestimmte Qualität der Organisation zu bieten, nämlich ethische und religiöse Sensibilität in allen denkbaren Prozessen. Dazu gehört zentral: Es werden für Mitarbeitende Zeiträume für Reflektion über Sinnfragen als Teil des Fortbildungsangebots vorgehalten. Dabei schließt die Reflektion über Sinnfragen, die sich angesichts der Ohnmacht im Helfen selbstverständlich einstellen, auch religiöse Zusammenhänge nicht aus. Traditionen und Bilder des Christentums und der evangelischen Geschichte und Vernetzung der Einrichtung werden dabei eingespielt – nicht exklusiv nur sie, aber sie erwartbar auch. Damit nicht gerade diese Einspielungen wieder intensiv die Problematik von ‚Gesetz‘ auslösen, ist ihr Anregungscharakter stark zu machen und sind sie konsequent zu übersetzen als Aufmerksamkeitsposten, nicht schon Entscheidungsposten für den ethischen Diskurs und die ethische Sensibilisierung. In all dem verhält sich Diakonie dann wieder doch strukturell ähnlich wie der Religionsunterricht: In beiden Fällen kommt es zum Handeln im Kontext von Verbindungen zur Kirche und zu christlichen (evangelischen) Traditionsbeständen, diese aber werden eingebracht in den freien Deutungsraum aller Beteiligten. Dass ein helfendes Handeln als evangelische Diakonie identifizierbar wird, das schließt dann andere Interpretationen nicht aus: fachliche und andersreligiöse. Vielmehr begibt es sich gerade in den Diskurs mit ihnen, in der Haltung, dass man gegenseitig etwas voneinander etwas lernen könnte. Gelernt wird auch hier in der dynamischen Spannung von Allgemeinem und Besonderem, Gemeinsamem und Differentem. Mit einem solchen hier theologisch konstruierten Proprium ist die Diakonie anschlussfähig. Ihre Anschlussfähigkeit erreicht ihr Ziel, wenn dabei nicht nur das Gemeinsame, sondern genauso auch ihr Proprium als genuin ihr zugehörig erscheint: eine aus bestimmter und bestimmbarer Tradition erwachsene gelebte Sensibilität für Ethik und Religion als integrale Bestandteile des Helfens zum Vorteil derer, die Hilfe brauchen.

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Abstract Connectivity and Distinctiveness of Christian Social Care: Professionalism in Social Care, Ethics and Theology. The word ‘diaconia’ signifies an interpretative perspective on an otherwise general phenomenon of social care: a) relation to the church, b) Christian motivation and c) a theological concept. a) A fruitful relationship between diaconia and church consists in a differentiation in the shared Christian task. b) The situation of professionalized social state care organizations and pluralized religion has led to major changes in the public forms of diaconia. c) However, still a theological concept makes a difference. It points to functions of a Christian background in such organisations: keeping a Christian tradition in mind is helpful in upholding the quality of sensitivity for ethics and religion as an integral part of professional work in social care organisations.

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Impulse für die Praxis

Sozial-diakonisches Lernen in der Schule Grundlagen, Erfahrungen, Perspektiven Heinz Schmidt Die Impulse beziehen sich auf das sozial-diakonische Lernen in der Schule. Diese Fokussierung erscheint sinnvoll, weil dort die Theorie dieses Lernens differenzierter entwickelt und gründlicher erprobt wurden als in den anderen pädagogischen Bereichen. Von den schulischen Erfahrungen können auch andere kirchliche Arbeitsfelder profitieren. Der erste Beitrag (von Heinz Schmidt) gibt einen kurzen Überblick über die theoretischen Grundlagen sowie über aktuelle praktische Fragen und erforderliche Weiterentwicklungen. Die beiden folgenden Beiträge berichten von der Einrichtung und Durchführung eines Diakonie- bzw. Sozialpraktikums durch die Fächer Religion und Ethik in den zehnten Klassen eines Mannheimer Gymnasiums sowie über einen interdisziplinären ‚Seminarkurs‘ der Fächer Religion und Gemeinschaftskunde in der Ober- bzw. Kursstufe dieses Gymnasiums. Die Verfasserin Christiane Oeming ist auch die Leiterin des gesamten Diakonieprojekts an dieser Schule. Die drei Beiträge hängen inhaltlich zusammen. 1.

Ansatz des diakonisch-sozialen Lernens

Hier setzt das Projekt des diakonisch-sozialen Lernens an: Indem die Jugendlichen Menschen und Orte aufsuchen, die nicht in ihrem alltäglichen Erfahrungsfeld liegen, fordern sie ihre eigene Umgebung heraus und werden selbst gefordert. Sie müssen physische wie psychische Belastungen aushalten, Stellung beziehen, neue Verhaltensweisen einüben, Verständnis und Toleranz lernen, Bestätigung suchen, können dabei erweiterte Einsichten und Selbstvertrauen gewinnen. Indem sie zunehmend den Lernort ‚Schule‘ mit dem Lernort ,Leben und Alltag‘ verbinden, kann echtes, authentisches Leben erfahren werden, was wiederum auf die Schulwirklichkeit und ihre persönliches Lebensgestaltung positive Auswirkungen hat. Die Schülerin-

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DOI 10.2364/3846999646

nen und Schüler erweitern aber nicht allein ihren Horizont hinsichtlich der Praxis diakonischer Arbeit, sondern sie gewinnen auch Einblicke in Kernbereiche von Diakoniewissenschaft, Theologie und Kirche: So erfahren die Praktikanten z.B., dass Diakonie als Handlungsfeld von christlicher Gemeinde und Kirche zu verstehen und ohne Einbindung in Gemeinde bzw. Kirche nicht denkbar ist, wobei sich diakonisches Handeln – unabhängig und selbstständig – zugleich im kritischen Dialog mit der Kirche vollzieht. Sie erkennen, wie Diakonie, die ihre theologische Bestimmung ernst nimmt, einen Beitrag zu leisten versucht, der christlichen Tradition vom Kommen des Reiches Gottes zu entsprechen, und darum ihre Aufgabe darin sieht, gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzuwirken, die den Wert eines Menschen und seiner Arbeit ausschließlich nach dem wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Ertrag berechnen. Darüber hinaus erkennen sie, dass Diakonie eine globale Verantwortung wahrnimmt, die alle Menschen – die gesamte Schöpfung – einschließt. Und nicht zuletzt lernen sie zu verstehen, dass Diakonie nicht alle Problemfelder der Gesellschaft besetzen kann und will, weshalb sie in Koordination und Kooperation mit anderen Trägern des sozialen Hilfehandelns agiert. In dieser Weise trägt diakonisch-soziales Lernen wesentlich zur Persönlichkeitsbildung bei. 2.

Welchem Grundmuster folgt das Projekt ‚Diakonisch-soziales Lernen‘?

Während der Vorbereitungsphase des diakonisch-sozialen Praktikums geht es um Klärung grundlegender Fragen. Wo und in welcher Weise wird Religion und Religiosität in unserer Alltagswirklichkeit erfahrbar? Was ist die Motivation für ‚diakonisches‘ bzw. ‚soziales‘ Handeln? Was leisten Menschen in hauptberuflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit? Schülerinnen und Schüler lernen diakonische und soziale Einrichtungen im näheren und weiteren Umkreis der Schule kennen, um sich zu orientieren und Antworten auf ihre Fragen zu finden. Darüber hinaus recherchieren sie selbst unter fachlicher Anleitung und suchen – im Kontext von Vorträgen, per Interview etc. – das Gespräch mit Experten aus verschiedensten Aufgabenbereichen der Sozialarbeit. Sind dann die Praktikumsplätze ausgesucht und alle notwendigen Vorbereitungen getroffen, beginnen die Schülerinnen und Schüler mit ihrem Dienst in den Einrichtungen. Während dieser wöchentlichen Einsatzzeiten werden die Jugendlichen von Fachkräften beraten und betreut, damit sie den neuen, oft belastenden Eindrücken standhalten können. Vergleichbare Aufgaben übernehmen die jeweiligen Kursleiterinnen oder -leiter, indem sie als Kontaktpersonen den Erfahrungsaustausch zwischen den Praktikanten gewährleisten, auf diese Weise Raum

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für das Aussprechen möglicher Ängste und Nöte geben und die Reflexion konkreter Problemfelder unterstützen. Die Lehrkräfte begleiten zudem die Anfertigung des Berichts bzw. einer auf das Praktikum bezogenen schriftlichen Arbeit, deren Gegenstand aus dem jeweiligen Arbeitsgebiet gewählt wird. Dies alles geschieht im gemeinsamen Unterricht am Schulmorgen bzw. bei Besuchen am Praktikumsort. Ebenso unverzichtbar ist die Unterstützung durch die Eltern: Sie meist die ersten Gesprächspartner der Jugendlichen bei der Verarbeitung der im Praktikum gemachten Erfahrungen. 3.

Wie reagieren die am diakonisch-sozialen Lernen direkt Beteiligten rückblickend auf das Erlebte?

Schülerinnen und Schüler äußern sich zumeist sehr offen, spontan und nicht selten in einer die Lehrkräfte überraschenden Weise. So begreifen Sechstklässler schnell, dass Integration durch einen Umgang miteinander ‚auf Augenhöhe‘ verwirklicht wird: „Erst hatte ich etwas Angst vor den behinderten Kindern, aber jetzt nicht mehr. Die sind ja wie wir: Sie freuen sich oder sind traurig oder mal beleidigt – genau wie ich –, und dann sind sie auch wieder gut!“. Ein anderer Schüler schildert ebenso authentisch: „Patrick hat einen Sprachfehler und wahrscheinlich eine Lernbehinderung. Er hat sich als ein Sportpaket herausgestellt: Er bestand nämlich darauf, gegen mich zu laufen. Gut, hatte ich mir gedacht, so schnell kann er ja nicht sein. Doch das war geirrt! Patrick ist losgeschossen, und irgendwann konnte ich ihn gar nicht mehr einholen“. Jugendliche aus der Oberstufe äußern sich vielfach über ihre in der Praktikumszeit gewachsene Einsicht in Lebensprobleme: „Die vielen Erfahrungen, die ich im Umgang mit Alten und Pflegebedürftigen gemacht habe, waren die Zeit, die ich mit ihnen verbracht habe, wert. Ich habe die Furcht vor dem eigenen Altsein verloren, indem ich einen tiefen Einblick in das Leben und Sterben von Alten bekommen habe […]“. Dabei fällt auf, dass sie nicht darauf abheben, etwas ,Heldenhaftes‘ oder gar Bewunderungswürdiges für andere geleistet zu haben, vielmehr liegt der Akzent ihrer Darstellungen stets auf der – eher erstaunten und dankbaren – Selbstwahrnehmung, dass sie ‚gebraucht‘ wurden und es ‚geschafft‘ haben: Obwohl die Anforderung hoch und die Sorge groß war, ob man die Aufgabe meistern würde, hat man durchgehalten, Schwierigkeiten angenommen, Lösungen gefunden. Ganz offensichtlich empfinden die Schülerinnen und Schüler dies als eine Stärkung ihrer Persönlichkeit, was ihnen zu einem positiven Selbstbild verhilft. Informationen und Wertungen dieser Art geben sie gern und selbstbe-

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wusst an den nachfolgenden Schülerjahrgang weiter und ermutigen damit zu einem ähnlichen Engagement. 4.

Haben die Schülerinnen und Schüler Vorteile hinsichtlich ihrer Berufswahl und ihres Berufswegs?

Was die Berufswahl betrifft, liegt dies auf der Hand. Schülerinnen und insbesondere Schüler erfahren von beruflichen Möglichkeiten, von deren Existenz sie vorher oft nichts wussten oder nur sehr unklare oder falsche Vorstellungen hatten. Dies ist der Grund, warum an manchen Schulen, besonders an Real- und Gesamtschulen, Projekte diakonisch-sozialen Lernens im Rahmen des berufsorientierenden Unterrichts angeboten werden. Manche kritisieren dies, weil dadurch in der Regel nur ein Teil der Schüler, nämlich diejenigen, die sich für soziales Profil entscheiden, die genannten persönlichkeitsbildenden Erfahrungen machen, während die anderen ‚ungestört‘ ihren Karrierewünschen folgen. Ich glaube aber, dass eine derartige polarisierende Gegenüberstellung nicht zutreffend ist, da ja auch der berufsorientierende Unterricht umfassend über die Eigenheiten aller angebotenen Berufsfelder informieren sollte. Richtig ist natürlich, dass diakonisch-soziales Lernen oder ein nicht diakonisches Service Learning allen Jugendlichen verpflichtend angeboten werden sollte, zumal in einer Zukunft ohne Zivildienst und erhöhtem Bedarf an freiwilligem Engagement. Was die beruflichen Chancen betrifft, zitiere ich aus Äußerungen eines Verantwortlichen für die Einstellung bzw. Personalvermittlung, nämlich von Thomas Sattelberger, Personalchef bei der Telekom. Die Äußerungen sind ursprünglich auf das Freiwillige Soziale Jahr bezogen: „Frage: Wie bewerten Sie es, wenn Bewerber bei der Telekom in ihrem Lebenslauf ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges Ökologisches Jahr zwischen Schule und Studium nachweisen können: eher als Pluspunkt oder als verlorenes Jahr? Sattelberger: Eindeutig als Plus. Zivilbürgerliches Engagement wird bei uns großgeschrieben, wir bewerten es als positiv differenzierenden Auswahlvorteil. Wichtig ist uns dabei natürlich die Motivation, die hinter solch einem Schritt steckt und was jemand aus seinem freiwilligen Jahr gemacht hat. Heute werden Talente gesucht, die mehr draufhaben, als nur die reine fachliche Qualifikation. Soziale Kompetenz und gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein sind ein nicht zu unterschätzender Faktor. Wenn also jemand nicht aus Orientierungslosigkeit, sondern aus dem Bedürfnis heraus, soziale Verantwortung zu überneh-

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men, ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges Ökologisches Jahr einlegt, so wird das einen Lebenslauf deutlich aufwerten.“1

Sehen wir von dem Bezug auf das FSJ ab, so legt es diese Äußerung, der übrigens unzählige andere an die Seite gestellt werden könnten, es nahe, die erfolgreiche Teilnahme an einem Projekt diakonisch-sozialen Lernens im Schulzeugnis auszuweisen und eine besonderes schriftliches Zeugnis mit einer detaillierten Tätigkeitsbeschreibung jeden/r einzelnen Teilnehmer auszuhändigen. Offensichtlich kann ein soziales Praktikum während der Schulzeit zur Entscheidung für ein Freiwilliges Soziales Jahr oder für den geplanten Bundesfreiwilligendienst motivieren, bei negativen Erfahrungen natürlich auch davon abhalten. Beide Effekte sind zu begrüßen, weil sie zu realitätsgerechten Zukunftsentscheidungen der Jugendlichen beitragen. Es ist niemand geholfen, wenn Jugendliche sich für soziale Berufe oder einen Freiwilligendienst entscheiden, für die sie nicht ein Minimum von sozialer Sensibilität und kommunikativer Kompetenz mitbringen. 5.

Zur Suche nach Praktikumsplätzen und zu ihrer Bereitstellung

Das Problem Praktikumsplätze zu finden ist angesichts der hohen Schülerzahlen immer aktuell. Zum einen sollten die Einrichtungen verstärkt Praktikanden aufnehmen und sie auch begleiten, zum anderen müssen die beschränkten Möglichkeiten der Einrichtungen berücksichtigt werden, deren Zahl in Städten und Landkreisen begrenzt ist und die oft nicht gleichzeitig Auszubildende und Praktikanden aus der Schule in der gleichen Station beschäftigen können. Zum Ersten gilt grundsätzlich, dass nicht nur die kirchlich diakonischen Einrichtungen sondern alle wertbasierten sozialen Dienstleister, also alle Einrichtungen der Freien Wohlfahrt, in der Pflicht sind. Schließlich geht es um ihre zukünftigen Möglichkeiten engagierte und wertmotivierte Fachkräfte und auch Freiwillige zu finden. Eine zunehmende Zahl von Einrichtungen hat dies auch verstanden und veranstaltet selbst z.B. Tage der offenen Tür oder Rallyes für potenzielle Mitarbeitende. Trotzdem ist es noch nicht genug. Zum Zweiten sollten sich in Städten und Landkreisen, in denen mehrere Schulen diakonische Praktika durchführen wollen, diese Schulen zu einem gemeinsamen Vorgehen bereit finden. Entweder müssen die Lehrenden 1

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verschiedener Schulen, die Praktikumsplätze suchen, untereinander die verstärkte Nachfrage koordinieren. Oder es findet sich eine (freiwillige) Person, die mit Unterstützung der Schulleitungen oder des Schulamts die Kontakte zu den Einrichtungen pflegt und die Anfragen koordiniert. Zum Beispiel hat sich bereits von einigen Jahren eine pensionierte Gymnasiallehrerin in Heidelberg für diese Aufgaben zur Verfügung gestellt. Mit Unterstützung der damaligen Oberbürgermeisterin hat sie es erreicht, dass das Städtische Schulamt ihr ein Büro mit Telefon und Computer zur Verfügung gestellt hat, von dem aus Sie die Koordination für inzwischen zehn Schulen Heidelberg und Umgebung seither erfolgreich leistet. Nicht nur die Zahl der teilnehmenden Schulen, sondern auch die der aufnahmewilligen Einrichtungen ist seitdem ständig gewachsen. 6.

Einige Überlegungen zu notwendigen Weiterentwicklungen

6.1 Erfordernis eines verstärkten freiwilligen Engagements Bei den Diskussionen über die Aussetzung des Wehrdienstes und die Abschaffung des Zivildienstes wurde von allen Seiten die Notwendigkeit eines verstärkten freiwilligen Engagements der gesamten Bevölkerung betont. Weitere Anlässe für ähnliche Appelle sind Versuche, die steigenden Kosten besonders im gesundheits- und Pflegebereich zu begrenzen, sowie die wachsenden Probleme des demografischen Wandels und der Pluralisierung der Familien- und Wohnformen. Immer und überall soll die so genannte Zivilgesellschaft die Lücken füllen, d.h. konkret müssen Freiwillige mobilisiert werden. Gewiss spielen dabei oft politische Interessen und auch Egoismen eine Rolle. Sozialabbau soll gerechtfertigt und seine Folgen sollen gemildert werden. Aber abgesehen davon, ist nicht zu bestreiten, dass in vielen Bereichen ein verstärktes zivilgesellschaftliches Engagement – und das beinhaltet immer auch freiwilliges Engagement – unabdingbar ist, um Lebensqualität zu erhalten und die Spielräume von Eigenverantwortung zu sichern bzw. zu erweitern. Ein umfassendes und effektives staatliches Fürsorgesystem wäre zum Einen kaum zu finanzieren zum Anderen drohte die Gefahr eines bürokratischen Überwachungssystems. Eine möglichst reiche Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements kann solches verhindern. Auf diese Situation sollte die allgemeinbildende Schule durch eine planmäßige, d.h. curricular verankerte Vorbereitung auf Freiwilligenarbeit reagieren. Freiwilligenprojekte nach dem Muster des diakonisch-sozialen Lernens müssten zumindest in den höheren Klassen der Sekundarstufe I sowie

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in der Sekundarstufe II verpflichtend sein, obwohl Freiwilligkeit und Verpflichtung sich gegenseitig auszuschließen scheinen. Dies kann aber für die Schulpädagogik nicht gelten, da sie bei allen Lernprozessen mit diesem scheinbaren Widerspruch leben muss. Denn: Selbstständiges Lernen und Bildung setzen prinzipiell Freiwilligkeit voraus, dennoch werden sie im Interesse der Jugendlichen zur Pflicht gemacht. Die Pädagogik versucht seit eh und je den Widerspruch zwischen freiwillig und verpflichtend methodisch und zeitlich zu vermitteln. Die auferlegte Pflicht soll zu freiwilligem Handeln führen. Mit dieser Maßgabe sind verpflichtende Freiwilligenprojekte als zentrale Elemente einer Erziehung zur Lebenstüchtigkeit und gesellschaftlichen Teilhabe für alle zu fordern. 6.2 Wichtigkeit von Wissen über soziale Sicherungs- und Dienstleistungssysteme Eine zweite curriculare Veränderung betrifft die Inhaltsbereiche der sozialen Sicherung und der sozialen Dienstleistung. Es ist verwunderlich, dass diese für den Lebensalltag grundlegenden sozialpolitischen Handlungsbereiche im Schulunterricht bestenfalls am Rande und wenn überhaupt nur in der gymnasialen Oberstufe oder in darauf bezogenen Fach- bzw. Berufsschulen zur Sprache kommen. Im Unterschied zu ökonomischem Wissen, das seit einiger Zeit dank der intensiven Lobbyarbeit von Wirtschaftsverbänden sogar über den Gemeinschaftskunde- oder Sozialkundeunterricht hinaus stark beachtet wird (auch in Geschichte, Religion/Ethik, Sprachen u.a.), sind Sozialpolitik, soziale Sicherung und soziale Dienstleistung kaum Unterrichtsinhalte. Daher haben es heute entsprechende Unterrichtsmodelle schwer, Käufer zu finden. Es ist aber lebenswichtig, dass junge Menschen die wichtigsten Inhalte der Sozialgesetzgebung, also der Sozialgesetzbücher, die damit verbundenen Finanzierungssysteme und ihre Geschichte und jüngsten Veränderungen kennen, ihre Folgen abschätzen können sowie über die damit verbundenen Dienstleistungssysteme Bescheid wissen, um auch ihre sozialpolitische Mitverantwortung wahrnehmen zu können. Immer noch dominieren staatspolitische Strukturen den Geschichts- und besonders den Sozialkundeunterricht. Hier müsste und könnte auch eine Gewichtsverlagerung stattfinden. Die diakonisch-sozialen Projekte würden auf diese Weise als die außerschulische soziale Praxiserfahrung in ausgewählten Handlungsfeldern des Sozialen besser mit dem ‚normalen‘ Unterricht verbunden. Gegen derartige Forderungen wird in jüngster Zeit gerne die Verkürzung der Schulzeit durch das Abitur nach zwölf Jahren ins Feld geführt.

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Zudem wird geklagt, dass die Schulen bereits die Praktika einschränken oder gar aufgeben, um den als notwendig erachteten Lehrstoff unterbringen zu können. Ich halte ein solches Vorgehen für nicht gerechtfertigt. Die sozial-diakonischen Praktika vermindern nicht das zu erlernende Wissen, sondern vermehren es. Es sind Orte exemplarischen Lernens, d.h. sie erschließen mehr Wissen und Kompetenzen als herkömmlicher Unterricht, wenn sie entsprechend vorbreitet, begleitet, nachbereitet und ausgestaltet werden. Es geht bei den anstehenden curricularen Reformen nicht um eine Verminderung des Lehrstoffs, sondern um eine Umschichtung der inhaltlichen Schwerpunkte. Das Kriterium dafür sind Lebensbezug und gesellschaftliche Relevanz2. So wird deutlich, welchen Nutzen die Schule von Sozialpraktika bzw. sozial-diakonischen Projekten hat: Sie öffnet sich für ihre Umgebung. Sozialpraktika vermitteln die Erfahrungen, die notwendig sind, um die soziale Realität so, wie sie ist, zum Gegenstand schulischer Auseinandersetzung zu machen. In der Pluralität der Lebenswelten, zu denen die Jugendlichen einen unterschiedlichen, meist nur medial vermittelten Zugang haben, wird so Aufmerksamkeit für ein Leben erreicht, das alle betrifft und dem sich niemand entziehen kann. 6.3 Ästhetische Dimensionen diakonischen Handelns als didaktische Herausforderung In einer vor kurzem in der Universität Rostock angenommenen Dissertation mit dem Titel „Diakonie inszenieren. Performative Zugänge zum diakonischen Lernen“ hat Jens Kramer auf eine theoretisches und didaktisches Defizit der bisherigen Diskussion und Praxis des diakonisch-sozialen Lernens aufmerksam gemacht: Die ästhetische Komponente diakonischen Handels wurde didaktisch nicht reflektiert und auch in der Praxis kaum beachtet. Einsichten und Erfahrungen der so genannten Performativen Religionspädagogik blieben außer Betracht. Diesem Mangel setzt er die Forderung einer „didaktischen Inszenierung diakonischen Handelns als ästhetischer Ausdrucksform sowie deren

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Im Übrigen ließe sich auch die Unterrichtszeit effektiver nutzen, wenn man freiwillige Lehrassistenten in den Klassen tätig werden ließe, die sich um die kümmern, die zurückbleiben, sei es weil sie zusätzliche Lernhilfen benötigen oder Hilfen zur Selbstkontrolle oder motivationalen Unterstützung brauchen.

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kritische Reflexion“ entgegen. Was damit gemeint ist, zeigen ein Auszug aus den abschließenden Thesen der Arbeit von J. Kramer3: „These VIII: Gestische Inszenierungen ermöglichen den Lernenden, die leiblichen Aspekte diakonischen Handelns zu vergegenwärtigen, gestisch auszudrücken und Gesten zu erkennen, zu reflektieren und damit multimodal zu kommunizieren… These IX: Diakonisches Handeln drückt sich in „Gesten der Güte“ aus. In „Gesten der Güte“ zeigt sich die „Liebesatmosphäre Jesu“. Für das diakonische Lernen sind drei „Gesten der Güte“ von besonderer Bedeutung: die Geste der Zuwendung, der tätigen Hilfe und des Trostes“.

Zur Erläuterung: „Solche Gesten der Güte können sehr vielfältig sein. Diese Vielfalt ist auch für das diakonische Lernen wichtig, denn diese Gesten können didaktisch unterschiedlich inszeniert werden. Gesten drücken etwas aus (Gedanken, Gefühle) oder weisen auf etwas. Die Bedeutung der Gesten erschließt sich am besten in ihrem Vollzug. Aus diesem Grund ereignet sich diakonisches Lernen in der Performanz und Reflexion von Gesten, insbesondere in den Gesten der Zuwendung, der tätigen Hilfe und des Trostes. Zuwendung: Durch Gesten der Zuwendung wird ausgedrückt: Dieser Mensch ist mir wichtig, ich bin für ihn da. Insofern ist die Geste der Zuwendung Ausdruck einer diakonischen Grundhaltung: Der Annahme des Nächsten ohne Vorbedingungen. Tätige Hilfe: Durch die Geste der tätigen Hilfe zeigt sich diakonisches Handeln. Explizit viele biblische Texte (z.B. Lk 10,25–37; Mt 25,31–46) spiegeln diesen Hintergrund. Trost: Die Geste des Trostes ist von der der tätigen Hilfe insofern zu unterscheiden, als die actio hier weniger stark ausgeprägt ist und die Betonung auf dem Gestus allein liegt… „These XV: Diakonisches Lernen ist die didaktische Inszenierung diakonischer Gesten der Güte“.

Vorschläge oder Versuche einer didaktischen und praktischen Umsetzung für das diakonisch-soziale Lernen in der Schule enthält die Dissertation leider nicht. Jedenfalls weist sie auf eine notwendige Weiterentwicklung hin.

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Jens Kramer, Diakonie inszenieren. Performative Zugänge zum diakonischen Lernen Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor theologiae (Dr. theol.) der Theologischen Fakultät der Universität Rostock 2013 (noch nicht gedruckt).

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Ein Sozialpraktikum der 10. Klassen am Feudenheim-Gymnasium Mannheim Christiane Oeming 1. Idee Das Feudenheim-Gymnasium ist eine dreizügige Schule mitten im Mannheimer Vorort Feudenheim mit etwas über 600 SchülerInnen. Diese kommen zu einem großen Teil aus behüteten Familien der Mittelschicht und haben oder hatten oft keinen Kontakt zu hilfsbedürftigen Menschen. 2001 äußerten einige unserer SchülerInnen den Wunsch nach einem Diakoniepraktikum, wie sie es an kirchlichen Schulen kennengelernt hatten. Da solche Anregungen nicht oft aus der Schülerschaft kommen, waren Kollegen bereit, an der Realisierung des Projekts zu arbeiten. Am Anfang erschien es besonders wichtig, entsprechende Einrichtungen vor Ort, wie z.B. das Theodor-FliednerAltenpflegeheim in Feudenheim, den Hort in Feudenheim oder auch die Schlossschule für Sehbehinderte in Ilvesheim, mit einzubeziehen. 2. Chronologie und Entwicklung 2001 fasste Gesamtlehrerkonferenz einen Beschluss über ein einwöchiges Sozialpraktikum in den 10. Klassen mit anschließendem Abfassen eines Berichtes, der als Klassenarbeit im Fach Deutsch gewertet wurde. Nach vierjähriger Praxiserfahrung gab es dann eine erweiterte Beschlussfassung über ein zweiwöchiges Sozialpraktikum in den 10. Klassen. Diese Erweiterung ergab sich aus der Auswertung von Gesprächen mit den Einrichtungen und aus den Überlegungen der SchülerInnen in ihren Praktikumsberichten. Die Einrichtungen argumentierten, dass die recht arbeitsintensive Einarbeitungsphase sich für eine Woche nicht rentiere. Die SchülerInnen argumentierten, dass sie kurz nach ihren ersten Kontakte und einem Kennenlernen der Arbeitsabläufe die Zeit schon abgelaufen sei und sie sich unbedingt mehr Erfahrungen wünschten. In dieser Phase gab die Fachschaft Deutsch die Verantwortung für den Bericht ab. Der Arbeitsaufwand für die Korrektur war

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hoch. Die Verantwortlichen waren sich aber einig, dass auf den Bericht nicht verzichtet werden kann, weil dieser der Reflexion dient. Nach Einführung des achtjährigen Gymnasiums 2009 war plötzlich eine grundsätzliche Diskussion über das Sozialpraktikum als fest verankerte Veranstaltung im Schulleben entbrannt. Eltern stuften die Arbeitsbelastung der SchülerInnen in den 10. Klassen als sehr hoch ein, Auslandsaufenthalte und Schüleraustausche waren unterzubringen und letztlich gab es auch noch das verbindliche BoGy1. Es wurde die Möglichkeit diskutiert, das Sozialpraktikum nach Klasse 9 zu verlegen. Der Vorschlag wurde aber verworfen: die SchülerInnen seien für viele Einrichtungen zu jung, es sei in der Regel ein großer Entwicklungssprung bis Klasse 10 festzustellen. Es wurde die Möglichkeit diskutiert, eine Woche in den Ferien und eine Woche in der Schulzeit anzubieten. Auch dieser Vorschlag wurde schnell verworfen: Eine solche Regelung würde zu sehr in die Ferienplanung der Familien eingreifen. Es war wie ein Krimi: Würden wir das Praktikum in sinnvoller zweiwöchiger Dauer und im sinnvollem Alter in der 10. Klasse retten können? Und dann nach langem Ringen die erneute Beschlussfassung über ein zweiwöchiges Sozialpraktikum in den 10. Klassen zu einem im Schuljahr festgelegten Termin beim Halbjahrswechsel. Nach dieser Grundsatzentscheidung bot sich auch die Verankerung im Schulprofil und im Schulcurriculum an. Neben dem durch den Bildungsplan vorgegebenen Kerncurriculum wurde ein schulspezifisches Curriculum in den Bereichen IT-Methodenkompetenz und Sozialkompetenz entwickelt. Demzufolge erwerben SchülerInnen soziale Kompetenzen durch Schülerpatenschaften (ältere Schüler sind Ansprechpartner und Helfer für die jüngeren), Mediation (SchülerInnen werden in speziellen Kursen auf eine Vermittlerrolle vorbereitet), Gewalt- und Suchtprävention und nicht zuletzt im Sozialpraktikum.

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BoGy ist die Abkürzung für eine verbindlichen Berufs-und Studienorientierung an Gymnasien in Baden-Württemberg, innerhalb deren alle SchülerInnen ein außerschulisches Praktikum zu absolvieren haben.

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3. Zielsetzung und Tätigkeiten 3.1 Zielsetzung des Sozialpraktikums: Die Schule will ein ganzheitliches Bild der Wirklichkeit vermitteln. − Die SchülerInnen sollen daher durch das Praktikum die Möglichkeit erhalten, an die Lebensbereiche der Kranken/Alten/Behinderten/Dementen herangeführt zu werden − eigene Erfahrungen zu sammeln und soziales Engagement zu entwickeln. 3.2 Die Aufgaben der SchülerInnen sind − abhängig von den gesetzlichen Rahmenbestimmungen − abhängig von den jeweiligen persönlichen Möglichkeiten, die jeder Schüler für sich im Gespräch mit seinem Anleiter absteckt. 3.3 Mögliche Tätigkeiten der PraktikantInnen (z.B. im pflegerischen Bereich): − Gesellschaftsspiele im Heim anbieten oder vorlesen − Hol- und Bringdienste sowie die Übernahme von kleinen Besorgungen für die Bewohner − Bewohner im Rollstuhl spazieren fahren oder sie beim Gehen unterstützen, mit ihnen spazieren gehen nach Anleitung und Anweisung der Fachkraft − Mithilfe bei der Essensverteilung − allgemeine Hilfestellung beim selbstständigen Essen nach Anleitung der Fachkraft. 4. Ein Beispiel für die praktische Durchführung im Jahr 2011/2012 4.1 Fahrplan und Wissenswertes für das Sozialpraktikum der 10. Klassen im Schuljahr 2011/2012: Der Termin: Das diesjährige Sozialpraktikum umfasst die beiden Wochen vom 16.1. bis 20.1. und vom 23.1. bis zum 27.1.12 (jeweils Montag bis Freitag)

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Fahrplan: 1. Information der Eltern auf dem 1. Elternabend in einem vorgeschalteten separaten Teil 2. Information der Schüler in der bis 1.2.2012 wöchentlich stattfindenden Unterrichtsstunde ‚Sozialpraktikum‘ 3. Rückgabe des von den Eltern unterschriebenen Formblattes mit der Bestätigung einer geeigneten Haftpflichtversicherung 4. Selbstständige Suche eines Praktikumsplatzes durch die Schüler 5. Rückgabe des Formblattes zur Bestätigung eines Praktikumsplatzes durch die Einrichtung bis 5.12.2011 6. Vorbereitende Informationsveranstaltung für die Schüler von Vertretern einiger sozialer Einrichtungen (z.B. Altenpflegeheim) in der wöchentlichen Unterrichtsstunde 7. Durchführung des Praktikums (16.1.–27.1.2012): Alle Schüler befinden sich für zwei Wochen an ihren Praktikumsstellen 8. Abfassen eines Berichts zum Sozialpraktikum nach den Kriterien, die die Religions- bzw. Ethiklehrer zusammen erstellt haben 9. Nachbereitende Veranstaltung mit den Vertretern der sozialen Einrichtungen, die auch die einführende Veranstaltung begleitet haben. 4.2 Erfahrungen und Reflexionen zum ersten Durchgang Dieser Fahrplan spiegelt eine ständige Reflexion der Verantwortlichen. So hat sich der Zeitpunkt der Erstinformation der Schüler (siehe Punkt 2 des Fahrplans) im September bei Schuljahrbeginn als zu spät erwiesen. Manche Praktikumsplätze sind sehr begehrt und deshalb führe ich nun die Erstinformation vor den Sommerferien durch. Als wir festellten, dass sowohl die inhaltliche Vorbereitung auf das Sozialpraktikum als auch die Abwicklung der formalen Dinge im zeitlichen Rahmen des Religions-/Ethikunterrichts nur bedingt zu realisieren sind, hatten wir die Idee, aus den Poolstunden pro 10. Klasse 0,5 Std. pro Schuljahr zu beantragen, um im 1. Halbjahr bis zum Beginn des Praktikums Ende Januar in der 10. Jahrgangsstufe eine Unterrichtsstunde gestalten zu können. Dies wurde dann im Schuljahr 2011/2012 zu ersten Mal von mir mit folgendem Ablauf durchgeführt.

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Inhalt

Thema

Bewerbung

Schriftliche Kurzbewerbung

Erstellung eines Berichts

Bericht über das Sozialpraktikum mit Schwerpunkt Reflexion der eigenen Tätigkeit

Verhaltensweisen im Praktikum allgemein und in bestimmten Einrichtungen im Besonderen

Besonderheiten im Umgang mit Alten etc.

Entwicklung von Strategien zur Bewältigung von schwierigen oder unbekannten Situationen im Praktikum

Reflexion der eigenen Person und ihrer Ängste, Hoffnungen und Erwartungen an das Sozialpraktikum

Soziale Unterschiede in unserer Gesellschaft und ihre Ursachen und Folgen

Kinderarmut in Deutschland am Beispiel Berlin und Hilfsprojekte (Projekt Arche)

Möglichkeiten und Grenzen im Leben von Menschen mit Behinderung

Unterschiedliche Formen von Behinderung und deren Ursachen. Geistige Behinderung am Beispiel des Down-Syndroms. Integration von Menschen mit Behinderung in das Schul- und Arbeitsleben (Modelle)

Alt werden – verschiedene Lebensmodelle

Leben zu Hause mit Pflege, – bei der nächsten Generation, – im betreuten Wohnen, – im Mehrgenerationenhaus, – im Altenpflegeheim. Demenz: Ursachen, Folgen und Probleme beim Umgang mit Betroffenen

Grundzüge des Verhaltens beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen

Konsequenz bei der Erziehung, angemessene Sprache, Abgrenzung etc.

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In dieser Unterrichtsstunde konnte ich die Inhalte (z.B. Demenz und mögliche Verhaltensweisen, Formen von Behinderungen, die Erzieherrolle) aus den verschiedensten sozialen Bereichen thematisieren. Dabei habe ich spüren können, wenn irgendwo Unsicherheiten und Ängste auftraten, die es in Einzelfällen notwendig machten, SchülerInnen vorzuschlagen, aus persönlichen Gründen u.U. auf ein Praktikum zu verzichten. So habe ich frühzeitig gemerkt, wo bei der Suche nach einem geeigneten Praktikumsplatz usw. Probleme entstanden waren, die meine unmittelbare Hilfe erforderlich machten. Außerdem ließen sich in diesen Plan problemlos Vertreter verschiedener Einrichtungen einbauen. Aus diesem Grund haben alle diese Neuerung als absolut bereichernd und positiv erlebt. Geklärt werden musste nach dem ersten Durchgang die Frage nach einem möglichen Eintrag in das Endzeugnis der 10. Klasse. Wir entschlossen uns dazu, dem Zeugnis ein Zertifikat beizulegen, um die Arbeit der SchülerInnen auch entsprechend zu würdigen. Die Beurteilungen können wie folgt vergeben werden: ‚Mit sehr gutem Erfolg‘ – ‚mit gutem Erfolg‘ – ‚mit Erfolg‘ und wenn nötig ‚ohne Erfolg‘ teilgenommen. In die Beurteilung fließen die Beteiligung am Unterricht, der Einsatz an der Praktikumsstelle und die Note des abschließenden Berichts ein. Ein weiterer Punkt, der sich bei unserer Reflexion herausgestellt hat, ist der, dass wir die SchülerInnen während der zweiwöchigen Abwesenheit aus der Schule nicht allein lassen wollten. Die entsprechenden Lehrer aus Religion/Ethik haben im Laufe der Jahre persönliche Beziehungen zu den Betreuern/Anleitern in den unterschiedlichsten sozialen Einrichtungen aufgebaut und kennen sich auch mittlerweile in den Einrichtungen selber aus. Deshalb ist es uns wichtig, immer dieselben Kollegen die Besuche der Schüler in den Einrichtungen durchführen zu lassen. Jede/r SchülerIn soll daher am Praktikumsort besucht werden. Gespräche mit den Schülern und ihren Anleitern lassen erkennen, ob der Aufenthalt für beide Seiten positiv verläuft. Im Notfall bin ich auch als Projektleiterin sofort vor Ort, um zu vermitteln oder schlimmstenfalls auch ein Praktikum abzubrechen. Der Verlauf solcher Gespräche hängt sehr stark ab von der Art der Einrichtung und der sich daraus ergebenden Beanspruchung der SchülerIn. Als Beispiel wähle ich eine Zusammenfassung meines Besuchs bei der Schülerin K.S., die ihr Praktikum in einem Kinderheim absolviert hat: „Ich besuchte K. dort am Ende eines Arbeitstages am Montag der 2. Woche. Wir beginnen aus Gründen der Eingewöhnung mit den Besuchen in der Regel frühestens am Donnerstag der ersten Woche. Ich merkte sofort am Anfang des Gesprächs, dass K. für ihre Begriffe relativ aufgeregt war. Auf meine Frage, wie ihr Tag gewesen sei, sprudelte es

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geradezu aus ihr heraus. Sie berichtete, dass in den Tagen vorher ein neues Kind zu der Wohngruppe dazugekommen sei, das erst sechs Jahre alt sei. Dieses Kind hätte oft geweint und sei nach K.s Einschätzung völlig verstört und liebesbedürftig gewesen, so dass man doch eigentlich von dem Kind nichts verlangen könne, sondern alle Liebe, die man irgendwie hätte, über diesem Kind ausschütten müsse. Aber zu ihrem Entsetzen hätten die zuständigen Erzieher genau dies nicht getan und sie aufgefordert, dies Kind zu behandeln wie alle anderen auch. Diese Erfahrung habe K. den ganzen Tag belastet, sie habe die Erzieher als lieblos und grausam wahrgenommen und verstehe deren Verhalten absolut nicht. Wir haben dann über ihre eigenen Ängste und Erfahrungen gesprochen, die sich in hinter ihrer aufkommenden Aggressivität erkenne ließen und die sie auf das Kind projizierte. Allerdings haben wir auch über die Notwendigkeit gesprochen, mit den Erziehern in ein Gespräch über die Situation des Kindes zu kommen. Wir haben dies dann als ersten Arbeitsschritt für den nächsten Tag formuliert. K. schien am Ende des 45-Minuten-Gesprächs nicht mehr ganz so aufgebracht zu sein. Sie hat mir dann später von einem konstruktiven Gespräch mit den Erziehern berichtet, das schon vieles zum Verständnis der Situation beigetragen habe.“

5. Der Bericht Letztlich ist uns der Bericht der SchülerInnen über das Sozialpraktikum extrem wichtig. Deshalb wurde er beibehalten, obwohl der BoGy-Bericht wegen zu hoher Arbeitsbelastung der Schüler abgeschafft wurde. Die Begründung liegt darin, dass im Gespräch in der Gruppe nicht jede/r SchülerIn so mit seinen Erfahrungen gewürdigt werden kann, wie dies in Einzelarbeiten der Fall ist. Weil die Erfahrungen aber u.U. so vielschichtig und SchülerInnen oft existentiell betroffen sind, was sich auch auf ihr Verhalten nachhaltig auswirken kann, ist es wichtig, dass jede/r diesen letzten Schritt leistet. Wir haben dabei jedoch erlebt, dass die meisten SchülerInnen überfordert sind, wenn sie die Kriterien der Reflexion alleine bestimmen sollen. Deshalb haben wir folgende Gliederung ausgearbeitet: 5.1 Anleitung zum Praktikumsbericht für das Sozialpraktikum Die Abfassung eines Praktikumsberichts ist verpflichtend. Die Ausfertigung ist nur mit Computer möglich!!!

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DECKBLATT 1. Das Deckblatt muss folgende Angaben enthalten: − Feudenheim-Gymnasium Mannheim − Bericht über das Sozialpraktikum der 10. Klassen − von __________________________________ (Name, Vorname) − bei _____________________________ (Name der Einrichtung) − Dauer des Praktikums (von – bis) und zwar mit Datum − Abgabedatum ( ) 2. Das Layout muss Folgendes berücksichtigen: − 1,5-zeilig in Schriftgröße 12 beim fortlaufenden Text − Seiten durchgehend nummerieren − Inhaltsverzeichnis mit Seitenangaben EINLEITUNGSTEIL 3. Kurze Vorstellung der Einrichtung − Genaue Bezeichnung der Einrichtung/Adresse/ Träger − Ansprechpartner in der Einrichtung − Finanzierung der Einrichtung − Typisches Berufsbild (auch Infos zum Ausbildungsgang) − Personalsituation: Anzahl und Tätigkeitsbereiche der Beschäftigten − Wer sind die ‚hilfesuchenden‘ bzw. zu ‚betreuenden‘ Personen? 4. Einrichtung im Bild Soweit möglich sollte der Bericht Fotos, Bildmaterial, Prospekte, Kopien aus Festschriften, o.ä. enthalten. Alle Materialien sollen mit jeweiliger Nummerierung und Beschriftung im Anhang zusammengefasst werden. HAUPTTEIL Dieser Teil ist der Schwerpunkt des Berichts, deshalb muss er sehr ausführlich bearbeitet und dargestellt werden! 5. Ablauf des Praktikums − eigene Arbeitsbereiche und Tätigkeiten darstellen und beschreiben, gegebenenfalls mit Zeit- bzw. Ortsangabe − einen typischen Tagesablauf oder auch typische Einzeldarstellungen schildern und evtl. durch besondere Ereignisse ergänzen 6. Eigene Erfahrungen im Praktikum − Am meisten beeindruckt hat mich … − Am schwersten fiel mir …

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− Gefallen hat mir … Nicht gefallen hat mir … (fortlaufender Text!) − Welche Einsichten habe ich in die Situation der betroffenen Menschen (Hilfsbedürftige wie Helfende) gewonnen, welche über den sozialen Bereich allgemein? − Was habe ich gemacht, was ich vorher noch nie gemacht habe, und wie ging es mir dabei? − Was habe ich über meine Stärken/Schwächen erfahren? 7. Betreuung während des Praktikums − Wer hat betreut? − Wie wurde betreut (Regelmäßige Besprechungen, ständiger Ansprechpartner etc.)? − Persönliche Wertung der Betreuung SCHLUSSTEIL 8. Kann ich ein Praktikum in dieser Einrichtung empfehlen? Bitte begründen! 9. Anregungen und Kritik zum Sozialpraktikum allgemein. 10. Abschließende Beurteilung: Insgesamt halte ich das Sozialpraktikum für eine − sehr sinnvolle − sinnvolle − überflüssige Erfahrung. Nenne auch hier Gründe für dein Urteil. 5.2 Aus einem Praktikumsbericht: Ich möchte an dieser Stelle ein Beispiel aus dem Praktikumsbericht eines Schülers geben, der sein Praktikum an der Schloß-Schule Ilvesheim, einer Schule für Blinde und Sehbehinderte, absolviert hat. Die SchülerInnen sind dort zumeist in Klassen eingesetzt, in denen die dortigen SchülerInnen neben den Sehbehinderungen auch geistige Behinderungen haben. Angelehnt an die oben dargestellte Gliederung schreibt der Berichterstatter (Auszüge): „Am meisten beeindruckt haben mich die Lebensfreude und die Fähigkeiten der Schüler trotz verschiedenster und schwerster Behinderungen. Die Orientierung der blinden Schüler ist ebenso ein Punkt, der mich sehr fasziniert hat, weil sie sich an Dingen orientieren, die für uns im Alltag nicht von großer Bedeutung sind. Am schwersten fiel mir am ersten Tag, auf die Schüler zuzugehen. Ich konnte anfangs kaum deuten,

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was sie von mir verlangten. Aber das wurde von Tag zu Tag besser und ich habe gelernt, ihre Körperzeichen und Laute zu deuten. Gefallen hat mir alles. Ich hätte an keiner Stelle sagen können, dass ich lieber etwas anderes machen würde. Die Schüler haben mich sehr gut behandelt und aufgenommen, so dass sie mir eine Chance gaben, auf sie einzugehen. Damit haben sie mir einiges leichter gemacht. Außerdem fand ich es toll, wie sich solche Menschen verständigen und wie sie leben. Sie erleben die ganze Welt anders und haben mir einen Einblick verschafft, den ich so schnell nicht vergessen werde. Dieser Unterschied war das Besondere an meinem Praktikum. Meine erste Einsicht war, dass der soziale Bereich einer der wichtigsten Bereiche unserer Gesellschaft ist und ohne ihn nichts funktionieren würde. Er ist sicherlich nicht leichter als in der Industrie. […] Nach diesem Praktikum könnte ich mir durchaus vorstellen, solch einen Beruf später einmal auszuüben. Der einzige Nachteil war, dass zwei Wochen zu kurz waren, weil man erst nach einer gewissen Zeit eine Beziehung zu Leuten aufbauen kann.“

5.3 Beurteilung des Berichts Jüngste Gespräche vom Juli 2012 haben zur Folge, dass der Praktikumsbericht in Zukunft aus rechtlichen Gründen geändert werden muss. Die Note darf nicht in die Religions- bzw. Ethiknote eingerechnet werden. Aus diesem Grund können die Kollegen aus diesen Fächern auch nicht mehr zur Korrektur der Berichte herangezogen werden. Weil aber eine Lehrkraft allein nicht ca. 80 Berichte dieses Umfangs beurteilen kann, muss der Rahmen eingeschränkt werden. Deshalb gibt es jetzt eine viel kürzere Version des Berichts. Dabei soll die Beschreibung der Tätigkeit auf einer Seite zusammengefasst werden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Reflexionsteil (siehe oben Punkt 5 im Hauptteil des Berichts), der jetzt auf drei Seiten begrenzt wird. Ich lese und beurteile dann alle Berichte des Jahrgangs im Laufe des 2. Halbjahrs selbst. 5.4 Praktikumsplatz Eine letzte Überlegung ergab sich im März 2012 nach der Durchsicht der Praktikumsberichte hinsichtlich des Punkts 4.4. Hier geht es um die Suche der SchülerInnen nach einem für jeden individuell geeigneten Praktikumsplatz. Dafür bekommen die SchülerInnen ein Anschreiben unserer Schule in die Hand, das den Einrichtungen kurz erklärt, was unser Anliegen ist und was die Rahmenbedingungen für die Praktikanten sein sollen, z.B. die

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Arbeitszeiten. Man sollte darauf achten, dass diese für alle SchülerInnen relativ gleich sind. Wir erwarten ca. sieben Stunden am Tag, die die Einrichtungen selbstverständlich nach ihren Bedürfnissen ver- und einteilen und die den Gesetzen des Jugendschutzes entsprechen. Es hat sich bewährt, die SchülerInnen erstmal selbstständig überlegen zu lassen, in welchem sozialen Bereich sie sich gerne engagieren würden. Erst wenn diese Phase ohne Ergebnis bleibt, kann man mit einer Liste von sozialen Einrichtungen aus der Region aushelfen. Bewährt hat sich auch, die SchülerInnen sich mit dem Thema ‚Bewerbung‘ auseinandersetzten zu lassen, sie die Erfahrung machen zu lassen, was zu beachten ist und wie es einem ergehen kann, wenn man irgendwo ‚ankommen‘ will. Wenn Einrichtungen schließlich bereit sind, einen Platz zur Verfügung zu stellen, bestätigen sie das den SchülerInnen auf einem vorgefertigten Formular, das sie dann abgeben, damit ich eine Übersicht habe. Ein Problem hatte sich allerdings schon in den letzten Jahren angedeutet. Manche jungen Leute neigen (verständlicherweise) dazu, hinsichtlich der Auswahl des Einsatzbereichs im Praktikum instinktiv einen (vermeintlichen) Weg des geringsten Widerstands zu suchen. Vermutlich werden deshalb oft Kindergärten ausgewählt, weil SchülerInnen dieses Umfeld aus eigenen Erfahrungen kennen und sich dort ‚sicher‘ fühlen. Wenn man dann allerdings den Reflexionsteil der Berichte liest, merkt man schnell, dass tiefere Einsichten oder auch wirkliche neue Erfahrungen selbst bei guten Schülern fehlen. Um allen SchülerInnen zu ermöglichen, die Ziele des Praktikums zu erreichen, werden wir die normalen Kindergärten nicht mehr zulassen, Es muss schon eine Behinderteneinrichtung für Kinder oder eine Einrichtung mit Inklusion sein, möglich wäre auch ein Hort. Es wird sich herausstellen, ob sich diese Entscheidung bewährt. 6. Seelsorgerliche Begleitung Die bisher berichteten Beobachtungen lassen schon erkennen, dass nicht nur eine inhaltliche, sondern vor allem auch eine seelsorgerliche Begleitung unseres Projekts wichtig ist. Hierbei hat mir das Handwerkszeug aus dem Jahreskurs ‚Schulseelsorge‘ und aus der Veranstaltung ‚Krise und Notfall in der Schule‘, veranstaltet von der badischen Landeskirche, sehr geholfen, und zwar hinsichtlich folgender Teile: 1. Vorbereitender Unterricht in Religion und Ethik (z.B. die thematische Einheit Krankheit, Tod und Auferstehung) 2. Begleitende Besuche und Gespräche an den Praktikumseinsatzorten (ich berichtete kurz von einem Gespräch am Schluss von 4.2)

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3. Nachbereitende Arbeitseinheiten im Unterricht (z.B. Vergleich der Ängste vor und nach dem Praktikum) An dieser Stelle hat sich bewährt, unmittelbar vor dem Beginn des Praktikums Plakate anzufertigen, auf denen die SchülerInnen mit ähnlichen Arbeitsbereichen ihre Ängste und Erwartungen hinsichtlich ihres Arbeitsbereichs auf der linken Seite des Plakats formulieren. Dann werden sie aufgefordert, mögliche Handlungsstrategien auf der rechten Seite dem gegenüber zu stellen. Nach dem Einsatz werden die Plakate wieder herausgeholt und mit den gemachten Erfahrungen neu bewertet. Was ist so oder anders eingetroffen? Hat die Handlungsstrategie gegriffen oder mussten neue Handlungsstrategien im Dialog mit den Einrichtungen entwickelt werden?

Seminarkurs „Soziale Probleme in Mannheim“ 1. Rahmenbedingungen des Seminarkurses Das Feudenheim-Gymnasium in Mannheim bietet seit vielen Jahren sogenannte ‚Seminarkurse‘ an. Seminarkurse sind interdisziplinär angelegt und werden im ersten Jahr der Kursstufe dreistündig unterrichtet, meist von zwei LehrerInnen aus verschiedenen Fächern, die jeweils 1,5 Stunden Deputat angerechnet bekommen. Die Schwerpunkte der Arbeit lagen bis 2010 am Feudenheim-Gymnasium Mannheim auf einer Kombination von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Der Kurs endet nach einem Schuljahr mit einer Seminararbeit und einer mündlichen Prüfung, die in Anlehnung an die Präsentationsprüfung im Abitur einen 10-minütigen Vortrag über das Seminararbeitsthema und eine anschließende Befragung über den gesamten Kurs vorsieht. Dieser Kurs ersetzt dann die Präsentationsprüfung im Abitur ein Jahr später. Als 2010 die Planung für das SJ 2010/2011, genauer die Konzeption des Doppeljahrgangs aus G8 und G9 begann, stand der Vorschlag im Raum, das Angebot zu erweitern und auch Seminarkursthemen aus dem gesellschaftlichen Aufgabenfeld anzubieten. Weil sich das Feudenheim-Gymnasium in seinem Schulprofil u.a. einen sozialen Schwerpunkt gegeben hat, bot es sich an, über ein Seminarkursthema aus diesem Bereich nachzudenken. So wurde ein Kurs, der Religion und Gemeinschaftskunde kombiniert, entwickelt und bisher im Schuljahr 2010/2011 und 2011/2012 zweimal durchgeführt. Es wurde immer deutlicher, dass soziale Probleme und mögliche Lösungsmöglichkeiten nicht zur sogenann-

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ten ‚leichten Kost‘ gehören. Nach unseren Erfahrungen sollten nur solche SchülerInnen teilnehmen, die zu gewisser Reflexion auf diesem Gebiet schon in der Lage sind und nicht meinen, viele Punkte möglichst einfach ‚mitnehmen‘ zu können. Mir ist dieses mögliche Missverständnis aufgefallen, als ich die beiden zurückliegenden Kurse verglich. Im zweiten Durchgang waren wegen der Umstellung auf G8 nur noch SchülerInnen des G8 vertreten. Die Bearbeitung der Themen hatte jetzt weniger Tiefgang und auch die Identifikation mit den Fragestellungen war weniger hoch. Für das Thema ‚Soziale Probleme in einer Stadt‘ bietet sich Mannheim geradezu an. Schon in der Geschichte seit dem 19. Jh. als Schmelztiegel für die verschiedensten Nationen bekannt und für ihre besondere Toleranz berühmt (z.B. gab es kein jüdisches Ghetto, sondern die jüdischen Mitbürger lebten über das Stadtgebiet verteilt), war diese Stadt im 20. Jh. durch die Dominanz des sekundären Sektors (= Industriebetriebe wie Daimler, MAN, ABB, BASF) gekennzeichnet. Zu Zeiten des Wirtschaftswunders ab 1960 war sie Zuzugsort für zahlreiche ‚Gastarbeiter‘ aus verschiedenen südlichen Ländern. Ferner werden viele jener Menschen (hauptsächlich Türken) heute in Mannheim zu Senioren, was wiederum zu besonderen Problemen führt. Dies ist aber nur ein Beispiel für Themen, mit denen man sich im sozialen Bereich in Mannheim beschäftigt. (sieh unten). Aus diesen Überlegungen heraus und als Konsequenz aus meinen positiven Erfahrungen mit dem Sozialpraktikum (s. u. ‚Ein Sozialpraktikum der 10. Klassen‘) und seinen unterschiedlichsten Themenstellungen habe ich im Schuljahr 2010/2011 mit meinem Kollegen W. Vogler (Geschichte/Gemeinschaftskunde) erstmals den Seminarkurs ‚Soziale Probleme in Mannheim‘ angeboten. 23 Schüler haben sich dafür interessiert, die wir nach einer Prüfung alle annehmen können. Allerdings würde ich heute sagen, dass eine Zahl von höchstens 15-18 Schülern sinnvoller wäre, weil sonst die Präsentationen im Laufe des Kurses zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Im Schuljahr 2011/2012 haben wir einen zweiten Durchlauf angeboten, an dem kleine Veränderungen vorgenommen haben. Gerade hat nach einem Jahr Pause im September 2013 der neueste Kurs begonnen. Er hat die ideale Schüleranzahl mit 16 Personen, interessanterweise sind davon 15 Schülerinnen.

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2. Planung und Durchführung des Seminarkurses 2.1 Planung Ein Seminarkurs sollte per se verschiedene Fertigkeiten vermitteln wie z.B. systematisch recherchieren, formal richtig zitieren oder ein Literaturverzeichnis korrekt erstellen. Als Beispiel für Exkursionen, die einen wichtigen Bestandteil dieses Kursprogramms darstellten, möchte ich einen Besuch der Stadtbibliothek mit einer Einführung durch eine Angestellte oder auch einen Besuch im Mannheimer Stadtarchiv nennen. Der Kurs sollte auch in einem gewissen Rahmen Übung dazu sein, Dinge, die man inhaltlich präsentieren will, angemessen zu visualisieren. Außerdem sollte er auch eine gewisse Kreativität fördern. So haben beispielsweise von jedem Teilnehmer ein Logo erstellen lassen, das seiner Meinung nach das Thema des Seminarkurses angemessen umsetzt. Zudem waren Übungen zur Kommunikation vorgesehen, wie z.B. das Ausprobieren des sogenannten 4-Ohren-Modells.2 Darauf möchte ich in diesem Kontext nicht näher eingehen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin zu entscheiden, welche sozialen Probleme behandelt, welche Einrichtungen besucht oder welche Vertreter dieser Einrichtungen in den Unterricht eingeladen werden sollen. Zu Beginn des ersten Durchgangs lagen uns noch keinerlei Erfahrungswerte hinsichtlich der Themen vor, die wir gerne im Laufe eines Schuljahres behandelt sehen möchten. Wir haben uns daher entschieden, das Angebot weit zu halten und auf möglichst unterschiedliche soziale Probleme einzugehen. In einem zweiten Schritt wurde uns klar, dass die SchülerInnen an der Entscheidung hinsichtlich der zu bearbeitenden Schwerpunkte beteiligt werden sollten. Die Kursleiter geben demnach die vorgesehenen Theorieblöcke vor; bei manchen Themen werden diese durch den Besuch einer passenden Einrichtung ergänzt, wenn die Schüler dies wünschen, bei anderen bleibt es bei der Bearbeitung des Theorieblocks. Ziel wird es dann sein, aus dem Angebot Anregungen für die Erstellung der Seminararbeit zu liefern. Vorliegende Materialien aus der Reihe „Soziale Kompetenz“3 zu den Themen Alter, 2

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Das Vier-Ohren-Modell wird zur Verbesserung der Wahrnehmung in Kommunikationen eingesetzt. Es geht auch Schulz von Thun zurück, der vier Kommunikantionsebenen ausmachte: Die Sachebene, die Beziehungsebene, die Ebene der Selbstoffenbarung und die Apellebene. Vgl. Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden: Störungen und Klärungen. Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation, Reinbek 1981. Heinz Schmidt/Jörg Thierfelder (Hgg.), Reihe Soziale Kompetenz, RPE Stuttgart 2005– 2010, (vier Themenhefte zu: Gesundheit, Altern, Behinderung, Fremde und Flüchtlinge)

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Behinderung und Ausländer waren sehr hilfreich, vor allem für die Theorieblöcke, deckten aber nur partiell den Bedarf. Für die besonderen Gegebenheiten vor Ort und für die spezifischen Interessen der SchülerInnen mussten weitere Materialien beschafft und Kontakte zu Einrichtungen vor Ort hergestellt werden. Hierbei erwies sich die gute Vernetzung des Gemeinschaftskundelehrers als sehr hilfreich. 2.2 Durchführung Aus diesen Vorüberlegungen ergaben sich sieben Themenblöcke: 2.2.1. Arbeitslosigkeit und Hartz IV Arbeitslosigkeit und die daraus resultierenden Folgen (auch und vor allem über einen längeren Zeitraum) sind ein wesentliches soziales Problem. Es sind etliche Grundkenntnisse erforderlich über das Procedere bei Arbeitslosigkeit, über die Berechnung der Sätze bei Bedürftigkeit und vor allem über die psychischen und gesundheitlichen Folgen von Erwerbslosigkeit. Aus diesen Gründen haben wir eine Angestellte der ARGE eingeladen, die uns diese eindrücklich vermittelt hat. Es wurde deutlich, dass man Jugendarbeitslosigkeit als gesondertes Problem klar abgrenzen muss. Mannheim verfügt mit dem ‚Job-Center Junges Mannheim‘ über ein separates Angebot in diesem Bereich. Ein Besuch dort ließ über einen Weg, den speziell Mannheim auf diesem Gebiet beschreitet und der dazu führt, dass die Jugendarbeitslosigkeit im Bundesvergleich geradezu gering ist, Erstaunliches erfahren. Weil die Schüler daran interessiert waren, haben wir eine Einrichtung besucht, wo Angebote im Rahmen der Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit gemacht werden. 2.2.2. Kinderarmut und Fördermöglichkeiten für Kinder und Jugendliche aus bedürftigen Familien In einem ersten Zugang zu diesem Thema habe ich Rollenspiele angeboten, die es unseren SchülerInnen ermöglichten, eine leise Ahnung davon zu bekommen, wie es ist, wenn man bei den anderen nicht ‚mithalten‘ kann. Danach schauten wir einen Film zum Thema an, der anhand verschiedener Kinder in Berlin die Probleme recht gut verdeutlichte. In dem Film wurde dann die Arbeit der Arche beschrieben, die in verschiedenen Einrichtungen viele Defizite auffängt. Das Thema interessierte die Schüler sehr, und so organisierten wir einen Besuch bei Aufwind, einer Einrichtung in Mann-

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heim, die sich u.a. um Mittagstisch, Hausaufgabenbetreuung, Freizeitangebote und Elternberatung kümmert. Es hatte sich in diesem Jahr gefügt, dass es im Dezember ein Schulfest am Feudenheim-Gymnasium gab, dessen Einnahmen teilweise einer sozialen Einrichtung zugutekommen sollten. Aus diesem Grund hatte jeder Teilnehmer des Seminarkurses eine seiner Ansicht nach förderungswürdige Einrichtung vorgestellt. Die Schülermitverwaltung entschied sich dann für Aufwind, dem wir bei unserem Besuch einen Scheck überreichten. 2.2.3. Jugendkriminalität Ein weiteres Thema, das auch die Erfahrungswelt der Jugendlichen betrifft und das mit ziemlich vielen Vorurteilen besetzt ist, ist der Bereich der Jugendkriminalität. Es interessierte die Schüler sofort und sie wollten u.a. wissen, welche Form von Gewalt in welchen Stadtteilen von welchen Bevölkerungs- und Altersgruppen bevorzugt ausgeübt wird. Außerdem interessierten sie sich für die Folgen für die jugendlichen Täter. Deswegen luden wir einen Vertreter der Jugendgerichtshilfe ein, der uns aus seiner alltäglichen Arbeit Manches dazu berichten konnte und auch statistische Angaben aus Mannheim parat hatte. Im Anschluss stellte sich sofort die Frage, wie nachhaltige Gewaltprävention realisiert werden könnte. Da unsere SchülerInnen im Alltag nur partiell mit Gewalt in Berührung kommen und an den Gymnasien die Präventionsprogramme oft nur durch Mediation abgedeckt werden, baten wir Herrn Kopp von der Polizei in Mannheim-Käfertal, dessen Arbeitsgebiet die Prävention ist, von seiner Arbeit an Grund- und Hauptschulen zu berichten. 2.2.4. Erziehungshilfe An dem Themenkreis Gewalt unter Kindern und Jugendlichen schließt sich nahtlos die Frage an, welche Möglichkeiten Kinder, Jugendliche und ihre Eltern haben, wenn eine ‚normale‘ Erziehung nicht mehr gewährleistet werden kann, sei es, weil die Eltern mit ihren Kindern überfordert sind, sei es weil Kinder ein zerrüttetes Verhältnis zu ihren Eltern haben, sei es, dass Eltern ihren Aufgaben aus gesundheitlichen Gründen oder sogar wegen Tod nicht mehr nachkommen können. Wir besuchten deshalb das Schifferkinderheim in Seckenheim und erfuhren dort viel über unterschiedlichste Betreuungs- und Begleitungsangebote bis hin zur stationären Aufnahme.

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2.2.5. Vorurteile gegen Fremde Ein weiterer Themenkreis, der sich an das 3. Thema anschließt, betrifft die Sichtweisen bzw. die Vorurteile, denen Ausländer oder Fremde hierzulande begegnen. Stimmt es z. B. wirklich, dass sie sich nicht integrieren wollen oder können? An diesem Thema haben wir theoretisch gearbeitet. Wir suchten nach Gründen für Flucht und Migration, vergegenwärtigten uns die gesetzlichen Gegebenheiten, lernten den Ablauf eines Asylverfahrens kennen und stellten Überlegungen an, wie hoch die psychischen Belastungen sind, gerade auch bei drohender Abschiebung. Außerdem stellte sich die Frage, inwieweit die Integrationsprozesse erfolgreich waren, inwieweit sie steuerbar sind und welche praktischen Konsequenzen eine misslungene Integration mit sich bringt (Parallelgesellschaft). Weil die Schüler an dieser Stelle keine praktische Vertiefung wünschten, habe ich diverse Teilaspekte wie z.B. den Ablauf des Asylverfahrens in Kleingruppen erarbeiten und präsentieren lassen. Dabei konnten auch praktische Fähigkeiten auf dem Gebiet des Vortragens, Visualisierens und der Teamarbeit geübt werden. 2.2.6. Umgang mit Behinderten Behinderte Menschen, ob nun körperlich oder geistig behindert, befinden sich in unserer Gesellschaft trotz großer Anstrengungen immer noch in einer unbefriedigenden Lage. Während die meisten einen Weg zum selbstbestimmten Leben finden wollen, sind die Menschen in ihrer Umwelt oft nicht in der Lage, ihnen angemessen zu begegnen und versuchen ihnen ihren – oft gut gemeinten – Willen aufzunötigen. Auch sehen nichtbehinderte Menschen oft nicht die Barrieren, mit denen Behinderte in allen Lebensbereichen zu kämpfen haben. 1. Die Albrecht-Dürer-Förderschule für Sehbehinderte Nach diesen theoretischen Überlegungen wurde der Wunsch laut, eine Einrichtung für Behinderte zu besuchen. Wir haben lange gezögert, weil wir den sogenannten ‚Zooeffekt‘ unbedingt vermeiden wollten. Als Kompromiss wählten wir die Albrecht-Dürer-Förderschule für sehbehinderte Kinder aus. Diese besuchten wir aber nach Rücksprache mit einer dortigen Lehrerin nach Unterrichtsschluss und ließen uns die Räumlichkeiten und die im Besonderen notwendigen Ausstattungen zeigen und erklären und auch den Alltag schildern. Weil sich Schüler oft nichts unter Sehbehinderungen vorstellen können, hatten sie dort die Möglichkeit, Brillen zu probieren, die unterschiedliche Sehbehinderungen simulieren. In diesem Zusammenhang wurde dann auch das Programm der ‚Inklusion‘, das

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momentan in aller Munde ist, vorgestellt. Ich habe den Besuch in der Dürer-Schule mit einem Film kombiniert, der den Alltag einer Grundschulklasse mit einem mongoloiden Schüler in ihrer Mitte dokumentiert. Die SchülerInnen waren danach in der Lage, selber etliche Möglichkeiten und Grenzen dieses Modells aufzuzeigen. Auch stellten sie fest, dass das Herunterfahren der Förderschulen den dortigen Schülern nicht nur nützt, sondern ihnen wertvolle Fördermöglichkeiten nimmt, die nicht einfach so ambulant an einer Regelschule, trotz zeitweiser Präsenz der FörderschullehrerInnen erreicht werden können. 2. Fairkauf Der Besuch einer adäquaten Schule ist eine Sache. Eine andere Sache ist Problem der Eingliederung behinderter Heranwachsender in das Berufsleben. Jetzt soll ein Arbeitsplatz gefunden werden. Dies entpuppt sich immer noch als sehr schwierig. Ein Konzept wird im Fairkauf in MannheimWaldhof realisiert. Hier gibt es ein Kaufhaus, das ein vielfältiges Sortiment zu bieten hat. Bestückt wird es allerdings nicht mit Neuware, sondern mit gespendeten und dann oftmals aufgearbeiteten Gegenständen wie z.B. Möbeln. Diesen ganzen Prozess vom Abholen der Möbel beim Spender über das Überarbeiten bis hin zum Verkaufen erledigen behinderte oder auch schwer vermittelbare, weil ungelernte oder kranke, arbeitslose Menschen. Sie sind dort sozusagen angestellt und tragen so zu ihrem Lebensunterhalt bei. Solch ein Unternehmen kann nur im Rahmen einer Organisation geführt werden – der Träger ist in diesem Fall die Caritas. Die SchülerInnen wurden von der Vorstandsvorsitzenden der Caritas auch gleich in den Aufbau, die Ziele und die Struktur eines der wichtigsten Arbeitgeber der Region eingeführt. 2.2.7. Besondere soziale Probleme im Alter Dieses Thema, das in den nächsten Jahren zum größten gesellschaftlichen Problem zu werden droht, stieß bei den SchülerInnen auf nahezu kein Interesse. Vermutlich ist für sie das Alter weit weg und sie nehmen an, dass es mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts zu tun habe. Trotzdem denke ich, dass gewisse Grundprobleme und Möglichkeiten alter Menschen bekannt sein sollten. Wir haben uns in diesem Zusammenhang mit Demenz beschäftigt und Strategien im Umgang mit Betroffenen entwickelt. Auch schienen uns verschiedene Möglichkeiten interessant, wie und wo man als alter Mensch wohnen und gepflegt werden kann. Auch dazu gibt es Filmmaterial, das zum Teil in eindrücklichen Szenen und Dialogen die Probleme auf den Punkt bringt.

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3. Eine exemplarische Hausarbeit und die Präsentationsprüfung Bei allen genannten Fragestellungen handelt es sich um existentiell betreffende Themen. Beim Umgang mit ihnen stellen sich Prozesse im Denken und Fühlen ein, die eigentlich für sich schon Ziel des Kurses sein könnten. Allerdings geht es auch darum, eine der Abiturnote im Präsentationsfach angemessene Leistung festzustellen. 3.1 Die Seminarkursarbeit Am Ende der Arbeit zu allen genannten Themen steht die Seminarkursarbeit, die nach den Pfingstferien abgegeben wird. Deren Themenfindung muss schon ziemlich bald nach Beginn des Schuljahres erfolgen. Bei der Auswahl der Themen der brauchen die SchülerInnen eine gewisse Begleitung. Die Arbeit soll ein selbst gewähltes Problem behandeln und sich auch auf eine praktische Tätigkeit beziehen. Diese kann in einer Mitarbeit in einer Einrichtung bestehen, es kann auch ein Interview mit Betroffenen oder Betreuern sein oder es kann sich um die Verarbeitung statistischen Materials handeln. Meist geschieht dies in Zusammenarbeit mit einer konkreten Einrichtung in Mannheim, die sich die SchülerInnen selbst aussuchen und dann nach Möglichkeit einmal oder öfter besuchen. Die Erstellung der Seminarkursarbeit begleiten wir, indem wir uns immer wieder über den Stand der Dinge berichten lassen und auch hin und wieder Arbeitsrichtungen korrigieren. Beispiele für gewählte Themen waren: − Gewalt gegen Frauen am Beispiel des Mannheimer Frauenhauses e.V. − Evangelische Kinder- und Jugendhilfe am Beispiel des Johann-PeterHebel-Heims: Integration durch Bildung am Beispiel Mannheim − Gewaltprävention durch Sport am Beispiel des Projektes „Boxen mit Charly Graf“ Im Vorfeld erstellten die Schüler Handouts zu ihren Themen, die allen Teilnehmern zur Verfügung gestellt wurden. 3.2 Die Präsentationsprüfung Am Ende des Schuljahrs ist neben der Seminarkursarbeit auch ein mündlicher Prüfungsteil zu absolvieren, meist Anfang Juli. Die SchülerInnen präsentieren in den ersten zehn Minuten Teile ihrer Arbeit durch angemessene Präsentations- und Vortragsmethoden. In den zweiten zehn Minuten erfolgt eine Befragung, deren Grundlage der Vortrag, die Handouts zu allen The-

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men, die Informationen bei den Exkursionen, die Inhalte bei den Expertenbesuchen und die theoretischen Blöcke sind. 4. Schlussreflektion Nach zweijähriger praktischer Erfahrung kommen wir grundsätzlich zu dem Schluss, dass eine Kooperation von Theologie und Sozialwissenschaften sinnvoll ist; die SchülerInnen können zumindest ansatzweise die soziale Dimension des Glaubens erfahren und durchdenken. Nach dem 14-tägigen Sozialpraktikum in Klasse 10 finden sie jetzt die Möglichkeit weiterer teilweise direkter Konfrontation mit schwierigen Lebenslagen und erweitern ihren persönlichen Horizont dadurch erheblich. Das ist meines Erachtens für das schulische Handlungsfeld ein sehr gutes Ergebnis. Dabei wird auch herausgearbeitet, dass unsere Gesellschaft bei der Lösung vieler Probleme noch von christlichen Grundwerten geleitet wird: Der Umgang mit Menschen, die behindert sind, wird vom Gedanken der Imago Dei (Gottebenbildlichkeit jedes Menschen) bestimmt; die Achtung vor dem Alter basiert auf dem vierten Gebot, der Umgang mit Straftätern wird vom Gedanken der Vergebung nach dem Vorbild Jesu mitbestimmt etc. Weil aber ebenso das Wissen über rechtliche Grundlagen unabdingbar ist, stellt sich interdisziplinäre Kooperation von der Sache her als sinnvoll dar. Die SchülerInnen sehen den Umgang mit dem biblischen Hintergrund zum Teil recht kritisch, weil ‚das zu viel Religion‘ sei. Ich denke aber, dass auch EthikschülerInnen über die Wurzeln unserer gesellschaftlichen Handlungsweisen Bescheid wissen sollten. Nach dem ersten Durchgang des Seminarkurses halten wir es für sinnvoll, die theoretischen Themenblöcke nicht an den Beginn des Schuljahres zu legen, sondern mit Exkursionen und Einladungen von Experten zu beginnen, um die Schüler einzustimmen und ihnen Anregungen für ihre schriftliche Arbeit zu liefern. Ein grundsätzliches Problem, das in dem gesamten Themenbereich virulent ist, ergibt sich aus der Beobachtung, dass SchülerInnen die dunklen Seiten der Gesellschaft als bedrückend empfinden. Es gibt nur einen sehr geringen ‚Spaßfaktor‘ bei nahezu allen Problemfeldern und unsere Jugendlichen sind immer weniger daran gewöhnt, dies auszuhalten. Deshalb freue ich mich besonders über diejenigen, die am Ende des Jahres in ihrer Präsentation voller Begeisterung von ihrer Arbeit erzählen. Ich habe z. B. erlebt, dass ein Schüler über eine Einrichtung bei den Benz-Baracken in Mannheim-Waldhof voller Engagement geschrieben und er dort sogar noch eine Zeit lang mitgearbeitet hat, obwohl ihn die erste Begegnung in Angst und Schrecken versetzt hatte.

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Abstract Diaconal-Social Learning as educational concept and practise is relatively widespread in German in public and private schools and in some church bound activities. It aims at an increasing social responsibility of students, especially between 14 and 18 years, by means of a accompanied and reflected practical time of work in social service activities, together with lessons and discussions in school. In many respects, it resembles the American concepts of Service Learning or Situated Learning, but it focuses more on the values implied in the social engagement. The three contributions of this section show the foundations, experiences and actual developments of this enterprise as well as examples of its realisation with two age groups, one of 15/16 years (10th class) in a project of two weeks in social service institutions and one of 17/18 years in an interdisciplinary course of Religious and Civil (Political) education in the course system of the grammar school (= brit. ALevel).

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Rezension

Heinz Schmidt/Klaus D. Hildemann (Hg.), Nächstenliebe und Organisation Zur Zukunft einer polyhybriden Diakonie in zivilgesellschaftlicher Perspektive (2012) Traugott Jähnichen Die Beiträge dieses Bandes untersuchen die tiefgreifenden Veränderungen, die sich für die Diakonie seit den letzten beiden Jahrzehnten in Deutschland insbesondere durch die Etablierung von Sozialmärkten ergeben haben. Die Notwendigkeit, sich spätestens seit der Verabschiedung des Pflegegesetzes im Jahr 1995 mit der Zulassung privatwirtschaftlicher Konkurrenz auf Wettbewerbssituationen einzustellen, hat für die Diakonie eine Vielzahl neuer Herausforderungen nach sich gezogen, insbesondere die Integration ökonomischer, vor allem betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente. Vor diesem Hintergrund werden kritische Anfragen an die bisher beanspruchte Gemeinwohlorientierung der Diakonie gestellt, hinzu kommen u.a. deutlich veränderte Anforderungen an das Leitungsprofil in diakonischen Einrichtungen und nicht zuletzt auf Grund rechtlicher Regelungen auf der EU-Ebene, etwa im Blick auf die Antidiskriminierungsvorschriften, Anfragen hinsichtlich der Tragfähigkeit und zukünftigen Geltung der Kirchenmitgliedschaftsregeln für Beschäftigungsverhältnisse. Diese veränderten Konstellationen diakonischen Handelns sollen, wie es der Untertitel des Bandes signalisiert, im Rahmen von zwei theoretischen Neuorientierungen thematisiert werden: Im Blick auf die organisationsinternen Aufgaben greifen die Herausgeber und einzelne Autoren die Forschungen zu hybriden Organisationsstrukturen auf und sprechen angesichts der vielfältigen Anforderungsprofile an diakonisches Handeln von der Notwendigkeit der Entwicklung einer polyhybriden Diakonie. Im Blick auf die Selbstverortung der Diakonie in ihrer Umwelt soll der Begriff der Zivilgesellschaft profiliert werden, um auf diese Weise dem eigenen Selbstverständnis entsprechende Bezüge zu anderen gesellschaftlichen Akteuren zu konzeptualisieren.

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Dass die Herausforderungen der Organisation bereits die neutestamentliche Perspektive geprägt haben, zeigt Heinz Schmidt in seinem einleitenden Beitrag über „Nächstenliebe in polyhybriden Organisationen“ auf, wo er die seit dem Beginn kirchlich-diakonischer Organisationsentwicklung in ntl. Zeiten bestehende Frage rekonstruiert, ob und wie Nächstenliebe überhaupt organisiert werden kann. Schmidt greift das Hybridmodell von Organisationen auf um zu zeigen, dass dieses Denkmodell Chancen eröffnet, die ethisch-diakonischen, sozialrechtlichen, professionellen und ökonomischen Bedingungen von Diakonie angemessen zu thematisieren. Dass ein Bündel vielfältiger Herausforderungen die Diakonie seit Wicherns Zeiten bestimmt hat, zeigt der Beitrag von Gerhard K. Schäfer ‚Kirche und Diakonie‘, der die Organisationsinnovationen von Wichern und die damit aufgeworfene Verhältnisbestimmung von Innerer Mission und Kirche ebenso herausstellt wie wesentliche Grundlinien der weiteren historischen Entwicklung. Anhand eines Überblicks über zentrale diakonietheoretische Diskurse äußert er sich insgesamt kritisch zu den von Luhmann angeregten Konzepten, Kirche und Diakonie stärker zu differenzieren bzw. zu entkoppeln und versucht demgegenüber im Anschluss an Alfred Jäger die Aufgabe einer Weiterentwicklung der Diakonie als einer besonderen Form der Kirche aufzuzeigen. Diese Herausforderung konkretisiert er schließlich im Blick auf die aktuellen Konflikte um das kirchliche Arbeitsrecht, wo er mit guten Argumenten gerade im Blick auf problematische Entwicklungen der jüngsten Zeit, etwa die Zunahme von Zeit- und Leiharbeit, die Einordnung diakonischen Leitungshandelns unter die kirchlichen Arbeitsrechtssetzungen favorisiert. Auch der Beitrag von Wolfgang Maaser „Die zivilgesellschaftliche Rolle der Diakonie und einige Herausforderungen“ greift das Thema einer notwendigen Weiterentwicklung des kirchlichen Arbeitsrechts auf, indem er die Widersprüchlichkeiten kirchlich-diakonischen Handelns herausstellt, etwa wenn Trägereinrichtungen Leiharbeiter aus Personalserviceagenturen, deren Bezahlung durch Tarifverträge mit Gewerkschaften geregelt ist, einstellen und andererseits die Idee der Dienstgemeinschaft für alle Mitarbeitenden proklamieren. Als Lösungsperspektive deutet er an, in Analogie zu den unterschiedlichen Loyalitätsanforderungen an kirchliche Mitarbeiter auch ein differenziertes Arbeitsrecht zu entwickeln. Vor allem aber diskutiert er die Fragen, wie die evangelische Diakonie im Horizont einer Entwicklung zur Sozialwirtschaft ihre Gemeinwohlorientierung überzeugend plausibilisieren kann und er stellt die Herausforderungen der europarechtlich geregelten Antidiskriminierungspolitik heraus. Maaser zeigt in seinem Beitrag, dass die entwickelten Loyalitätsrichtlinien der europäischen Antidiskriminierungsgesetzgebung weitgehend Rechnung tragen. Darüber hinaus skizziert

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er in theologischer Perspektive ein Modell, wie die Kirchen ihr Gemeinwohlverständnis im Rahmen einer differenzbewussten Selbstreflexion wie insbesondere durch die Entwicklung und Pflege einer spezifischen Organisationskultur in den gesellschaftlichen Verständigungsprozess einbringen können. Auf diese Weise sollen die eigenen, theologisch begründeten Auffassungen durch überzeugende Argumente, die allgemein nachvollziehbar sein müssen, plausibilisiert werden, um so eigenständige Impulse zum öffentlichen Diskurs beizutragen. Johannes Eurich konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Verortung diakonischen Handelns im sogenannten dritten Sektor, der eine Abgrenzung sowohl zum Bereich des Marktes wie zum staatlichen Handeln und auch zum Feld gemeinschaftlichen Handelns impliziert. Da allerdings sowohl sozialstaatliche Regelungsmechanismen wie auch die Entwicklung der Sozialmärkte das diakonische Handeln mitbestimmen, bestehen nach Eurich wechselseitige Beziehungen und Einflussnahmen zwischen Dritte-SektorOrganisationen und insbesondere den Einflüssen von Staat und Markt. Insofern kann nicht von einer trennscharfen Abgrenzung des dritten Sektors gesprochen werden, was die Organisationsanforderungen der Diakonie erheblich erhöht. Eurich greift angesichts dieser Situation ebenfalls den Begriff der hybriden Organisation auf und skizziert in diesem Horizont die Aufgaben der Steuerung von Organisationen in einem komplexen Umfeld. Letztlich geht es um die Ausbildung multipler Identitäten als komplexer Steuerungsaufgabe, was Eurich im Blick auf die Gestaltung des Führungshandels konkretisiert. Weitere Beiträge von Thomas Zippert und Hanns-Stephan Haas thematisieren die Komplexität der Sozialräume, in denen einerseits die gemeinwesenorientierte Diakonie wie auch diakonische Unternehmen sich zu verorten haben. In Aufnahme der soziologischen Diskurse der sog. ‚space studies‘ und von Milieustudien geht es darum, die konkreten Bedingungen diakonischen Handeln angemessen zu thematisieren. Beide Beiträge zeigen hier überzeugend neue Perspektiven auf, wenngleich im Blick auf den gesamten Band die Vielzahl der Angebote der Selbstverortung der Diakonie eher verwirrend erscheint. So stellt sich die Frage, wie die Diskurse über die Sozialräume mit den Überlegungen zum dritten Sektor oder zur Zivilgesellschaft – auch die Beziehung dieser beiden Deutungskategorien bleibt vielfach unterbestimmt – angemessen zu vermitteln sind. Wenn die Zivilgesellschaft, wie es bei Zippert anklingt, vor allem von informellen Formen des Engagements, d.h. von Vereinen, Initiativen und Bewegungen geprägt ist, die nicht kommunal- und wohl auch nicht sozialpolitisch steuerbar sind, bleibt zu fragen, wie sich die Diakonie, welche informelle, ehrenamtliche

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Strukturen ebenso umfasst wie unternehmerische oder gemeindenahe Organisationsformen, zur Zivilgesellschaft in Beziehung setzen lässt. Darüber hinaus finden sich in dem Band, vor allem in den Beiträgen von Arne Manzeschke und Ralf Hoburg, wichtige Impulse zur ethische Selbstverständigung innerhalb der Diakonie, die in besonderer Weise in Aufnahme der Studien von Levinas die Wahrnehmung des Anderen thematisiert, den es nicht vornehmlich als Hilfsbedürftigen, sondern im Blick auf seine Subjektivität zu würdigen gilt. Nicht zuletzt ist die Diakonie herausgefordert, ihre genuin religiösen Semantiken als eigenständigen Beitrag zum Gelingen von Inklusion zu profilieren. Weitere Beiträge widmen sich rechtlichen Problemstellungen, verschiedenen Aspekten des Leitungshandelns und Managements in diakonischen Einrichtungen sowie Fragen des Selbstverständnisses, der Professionalisierung und der Bildung von Mitarbeitenden in helfenden Berufen. Schließlich fragt ein Beitrag nach der besonderen Rolle der Gemeindediakonie, wobei mit überzeugenden Praxisbeispielen die Chancen von Kirchengemeinden herausgestellt werden, speziell im Blick auf tabuisierte Krankheiten, vor allem psychischen Krankheiten, unter Einbeziehung von Selbsthilfegruppen und von Professionellen der Gesundheitsberufe als Forum für einen Austausch über Gesundheit und Krankheit zu fungieren. Insgesamt bietet der Band eine gute Übersicht und Problemanzeige der gegenwärtig zentralen Diskussionen in der Diakonie. Die Aufnahme der Begriffe der polyhybriden Organisation sowie die Verortung der Diakonie in der Zivilgesellschaft markieren einen Problemfortschritt in der diakonietheoretischen Diskussion, der jedoch noch weiterer Profilierung bedarf. Insofern handelt es sich in dem Band eher um Anregungen für neue, innovative Perspektiven der Diakoniewissenschaft denn um gesicherte Forschungsergebnisse.

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