Glaube und Lernen 2/2016 - Einzelkapitel - Religion und Mythopoetik 3846999899, 9783846999899

»Der Theologe und Kulturwissenschaftler Gernot Meier geht davon aus, dass die Festlegung auf ein bestimmtes religiöses S

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Glaube und Lernen 2/2016 - Einzelkapitel - Religion und Mythopoetik
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Religion und Mythopoetik
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Gespräch zwischen Disziplinen

Religion und Mythopoetik Ein Beitrag zur Analyse der Gegenwartsliteratur und eine Hilfe zur Produktion von Religion Gernot Meier Einleitung Harry Potter zaubert sich (ab 17+) durch die Welt und muss statt eines Flugzeuges einen „Portschlüssel“ nehmen. Goliath beschreibt sich als „Ich bin der fünftschlechteste Schwertkämpfer meiner Einheit. Ich mach Schreibkram. In Verwaltung bin ich ziemlich gut.“1 Und David kommt irgendwie schlecht weg. Die älteren Leserinnen und Leser kennen sicher noch die Ränke, Verwicklungen, Liebesschwüre und Intrigen im Nebel von Avalon2 oder Ahasver in der damaligen DDR. Darin ist zu sehen, wie ein Wissenschaftler vom Teufel geholt wird.3 Vor kurzem hat David Safier vielen Leserinnen und Lesern gezeigt, was „Mieses Karma“ ist und vor allem, wen Jesus liebt.4 Jesus (ab und zu mit Dornenkrone) und Buddha (meist mit Bindi) leben in Tokyo und gehen vereint im Manga von Hikaru Nakamura „Saint Young Men“5 durch die Welt. Sie sind auf Jobsuche und, überlegen sich, ob sie einen Ablassbrief oder andere Devotionalien im Second-Hand Laden verkaufen sollen. Auch Schlafprobleme werden gemeinsam gelöst: Als Jesus nicht einschlafen kann, empfiehlt ihm Buddha Schäfchen zu zählen, was dazu führt, dass Jesus eine sehr große Anzahl verirrte Schäfchen zählt

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Tom Gauld/Nicholas Mahler, Goliath, Montreal 2012, o. S. Marion Zimmer Bradley, Die Nebel von Avalon. Roman, Frankfurt/M. 2003. Stefan Heym, Ahasver. Roman, Frankfurt/M. 1990. David Safier, Jesus liebt mich, Roman, Reinbek bei Hamburg, 2009; ders., Mieses Karma. Roman, Reinbek bei Hamburg 2010. Hikaru Nakamura, Saint youg men (aus dem Japanischen von Burkhard Höfler), Köln 2015.

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DOI 10.2364/3846999899

und er deshalb nicht einschlafen kann.6 Graphic Novels, Mangas und Comics7, über die nur in Deutschland von sog. Literatinnen und Lehrern die Nase gerümpft wird, sind hier sehr innovativ und hinsichtlich Religion durchaus sehr produktiv.8 Im Kampf von Gut gegen Böse, als Staffage oder Anleihe an europäische Gegenwartskultur – alles, was Religionen bereitstellen, wird bunt aufgenommen. Kriminalromane, Tintenweltromane oder auch ayurvedische Kochbücher werden mit Lebenshilfe und religiösen Elementen verbunden und feiern große Erfolge. So schreibt Leonard Herrmann in seinem Artikel „Andere Welten – fragliche Welten“ nach einer kurzen Wiedergabe der Diskussion um die deutsche Literatur der letzten zwanzig Jahre: „Betrachtet man diese Debatte [über die deutsche Gegenwartsliteratur], so muss ein Blick in die Populärkultur der Gegenwart befremden. Vom Realismus im engeren Sinne – auch von dem des PopRomans – ist keine Spur. Stattdessen dominieren magische Welten, Zauberer, Vampire und Raumschiffe – J. K. Rowlings Harry-Potter-Romane [...] oder die Neuauflagen der US-Serie Star Wars sind internationale Markterfolge, deren Breitenwirkung sich in vielfältigen medialen Formen als äußerst langlebig erweist: Die aus den 1970er Jahren stammende Star Wars-Saga ist heute, nach den spektakulären neuen Episoden aus den Jahren 1999 – 2008, in Form von Spielzeugartikeln des Herstellers Lego sowie zahlreicher weiterer Merchandizing-Artikel ein elementarer Bestandteil der Lebenswelt von 7-Jährigen.“9 6

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Im Buch von Hikaru Nakamura existieren keine Seitenzahlen, sondern nur Kapitelzählungen. Die Geschichten finden sich in Band 2 Kapitel 19 (Schäfchen) und Kapitel 22 (Ablass).. Einer der wenigen Autoren, die sich schon 1999 intensiv mit Comics und Theologie befasst haben, ist Frank Thomas Brinkmann, Comics und Religion. Das Medium der „Neunten Kunst“ in der gegenwärtigen Deutungskultur, Stuttgart/Berlin/Köln 1999. Oliver Krüger, Die mediale Religion: Probleme und Perspektiven der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Medienforschung, Bielefeld 2012, 211f.: „Auch wurden religiöse Sujets vielfach in fiktionalen Comic-Erzähungen in historischen oder utopischen Hintergrund verarbeitet wie in der [...] Comic Trilogie La foire aus Immortels von Enki Bilal, in der die altägyptischen Gottheiten in das Geschehen einer zukünftigen Menschheit eingreifen. [...] Vertiefend greift der evangelische Theologe Frank Thomas Brinkmann diesen Ansatz in seiner Habilitationsschrift auf, in der er nach der Analyse von populären amerikanischen Comicserien (Batman, Spiderman, Span, Sandman, Preacher) zu der Einsicht gelangt [sic!], dass Welt- und Selbsterschließungsvorgänge bzw. Welt- und Selbstdeutungsvorgänge in der Religion wie im Comic zu beobachten seien und die praktische Theologie dieses ‚Credo der medialen Moderne‘ für ihre Zwecke nutzen müsse.“ Leonhard Herrmann, Andere Welten – fragliche Welten: Fantastisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur, in: Silke Horstkotte (Hg): Poetiken der Gegenwart. Der deutschsprachige Roman nach 2000, Berlin/New York 2013, 47–65, hier 49.

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Wenn man sich in diesem Feld bewegt, gilt es zu bedenken, dass für die meisten „Leserinnen und Leser“ eine Trennung von Büchern, Bildern, Videos, Computerspielen, Websites oder Applikationen für das Smartphone kaum noch stattfindet und die jeweiligen Medien durch die anderen angereichert bzw. augmentiert werden. In der Zukunft wird man davon ausgehen können, dass auch der Leser/User Teil der Geschichte bzw. der Produktion wird. Die Trennung von Autor/Autorin und Leserin/Konsumenten ist in der Gegenwartskultur am Schwinden und wird obsolet werden. Der Medienkonsum und das Erleben von Geschichten werden zunehmend fragmentarisierter und bunter. Die gleiche Narration kann beispielsweise in einem Spiel, in einem Film und in der Folge auch in einem Buch zu finden sein. Insgesamt sind es Netzwerke von unterschiedlichen Medien geworden, auf deren Verbindungskanälen sich die Narrationen bewegen. Das kann durchaus dazu führen, dass eine Geschichte in unterschiedlichen Versionen erzählt wird, ohne dass eine „Grund-“, „Anfangs-“ oder „Zentralgeschichte“ notwendig wäre. Zentralperspektiven des Erzählens werden in gleicher Weise obsolet und erlauben im Gegenzug durch das Schaffen von Events, in denen auch Bücher eine Rolle spielen können, viele Interpretations- und Adaptionsmöglichkeiten, beispielsweise in Fragen einer adaptiven möglichen Identitätskonstruktion eines Konsumenten oder einer Konsumentin. Der Produktionsprozess dieser Geschichten geht immer weiter und wird durchaus gemeinsam von den Autoren und der Community weitergetrieben, endet und findet sich in seiner Motivik dann wieder schöpferischkreativ in neuen medialen Verbindungen. Dieser Sachverhalt wird sich immer wieder durch diesen Text ziehen. Bei der Produktion von Büchern, Texten und Spielen etc. wird für die Konstruktion fiktionaler Welten aktuell vor kaum einem Ritual, Motiv oder einer Person halt gemacht. (Neu-) Kontextualisierungen und (Re-) Interpretationen von Material wird von allem vorgenommen, dem „Religion“ im weitesten Sinne zugeschrieben wird. Das gilt aber nicht nur für ScienceFiction Romane, sondern auch für historische oder historisierende Romane aus unterschiedlichen Epochen, in denen auch die damalige Religion, oder was sich der Autor oder die Autorin darunter vorstellt, dargestellt werden.10

10 Beispielhaft sei hier die Reisebeschreibung von René Grousset genannt: Die Reise nach Westen – oder wie Hsüan-tsan den Buddhismus nach China holte (Originalausgabe Paris 1929), Kreuzlingen/München 2003.

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Hermeneutische Zugänge „Buy it, use it, break it, fix it, trash it, change it, mail, upgrade it, charge it, point it, zoom it, press it, snap it, work it, quick, erase it, write it, cut it, paste it, save it, load it, check it, quick, rewrite it, play it, burn it, rip it, drag and drop it, zip, unzip it, lock it, fill it, find it, view it, code it, unlock it, surf it, scroll it, pose it, click it …“11

Die Bedeutung der gegenwärtigen medialen Erzeugnisse ist für die Vermittlung von Wissen und für die Aneignung religiöser Symbol- und Zeichensysteme nicht hoch genug einzuschätzen. Welchen Stellenwert der Religionsunterricht hier (noch) hat und ob Veranstaltungen der Erwachsenenbildung oder auch der Akademien hier (noch) Brücken schlagen können, ist durchaus umstritten. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass dies zunehmend nicht bzw. nicht mehr der Fall. Ob die in der Gegenwartskultur verarbeiteten religiösen Sujets für die Leser und Userinnen erst durch den Religionsunterricht oder die oben genannten Akteure zu erkennen sind oder nicht, ist in gleicher Weise völlig offen. Genauso, ob es für Schülerinnen und Schüler und vor allem auch für Erwachsene überhaupt nachhaltig von Interesse ist, woher diese Sujets kommen und wie ihre historische Bedeutung eingeschätzt wird. Wenn man Religion als eine bestimmte Form von Zeichen- und Symbolsystemen liest, kann man in den rezenten Ausprägungen auch die vielen Anspielungen, Symbole, Zitate und Verweise als Informationen verstehen, die sich „frei“ in den Netzwerken unterschiedlicher Kommunikationsformen der Gegenwartskultur bewegen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Symbole, Elemente, Anspielungen immer vieldeutig sind und einen sehr disparaten Verweischarakter haben. Textuelle, aber durchaus auch materielle Repräsentanzen von Religionen ermöglichen viele – aber nicht beliebige oder weit aus dem Feld der Herkunft bezogene Verweise.12 Dies 11 Aus: „Technologic“ von Daft Punk, 2005 Album: Human After All Track 9 (Textauszug). 12 „Gemeinhin gelten Symbole als vieldeutig. Dabei wird die Mehrdeutigkeit von Symbolen in der Regel als Mehrdeutigkeit der Referenz verstanden“ (Ansgar Jödicke, Wem gehören religiöse Symbolsysteme? Neue Formen des Religionsunterrichts und die Vermittlung religiöser Symbole, In: Silvia Henke/Nika Spalinger/Isabel Zürcher [Hg.], Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkulären. Ein kritischer Reader, Bielefeld 2012, 137–146, hier 137f.). In seinem Artikel ruft er auch in Erinnerung, dass es in der Religionsgeschichte der Normalfall ist, dass es auch religionsintern eine große Variationsbreite von Deutungen gibt. „Deshalb ist es religionsgeschichtlich der Normalfall, dass in ein und derselben Gesellschaft dieselben symbolischen Bestände in verschiedenen Auslegungs- und Praxisordnungen existieren. Von der Organisation religiöser Gruppen, ihrer Macht und dem Ver-

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kann unterschiedliche Gründe haben. Irgendwann kann von einem Leser oder einer Leserin nicht mehr verstanden werden, was die Verbindung ist (was aber im Einzelfall durchaus völlig egal ist). Dies können milieuspezifische Gründe sein, d.h., es werden vom Produzenten aus seinem Kontext bekannte, aber in anderen Milieus andere unbekannte Verbindungen geschaffen. Oder ein Symbol, ein Element etc. hat für einen Konsumenten schlicht keine religiöse Konnotation (mehr). „Die Praktische Theologie ist durch den Wandel des kommunikativen Verhaltens in der Medienkultur aktuell herausgefordert, von einer Hermeneutik des ‚Wortes Gottes‘ auf die Hermeneutik der Religion bzw. des religiösen Bewusstseins der Individuen umzustellen. In der modernen Kultur können die Individuen sich wählend zu der Vielfalt religiöser Kommunikationsangebote, die die Massenmedien machen, verhalten. Die Religionskulturhermeneutik denkt deshalb von der Religiosität der Individuen her und versucht die religiösen Deutungstraditionen und Deutungskulturen in der Sicht der sich zu ihnen verhaltenden und sie aneignenden Individuen zu verstehen. Insofern muss sie entscheidend dem Sachverhalt Rechnung tragen, dass sich das religiöse Bewusstsein der Individuen seit dem Aufkommen der Massenmedien multimedial entwickelt. Sie sind in ihrer religiösen Entwicklung nicht mehr allein an die Deutungstraditionen der verfassten Religionen und ihrer Theologien angeschlossen, sondern zeigen inzwischen die Symptome ‚zerstreuter Televisionäre‘, indem sie von vielfältigen Symbolwelten einen frei schwebenden Gebrauch zum Zwecke der Bearbeitung existentieller, religiöser Sinnfragen machen. Deshalb muss sich die Praktische Theologie auf das weite und unübersichtliche Feld der sich längst nicht mehr auf den Nachdruck von Lutherbibeln beschränkenden Massenmedien begeben.“13

Die Einschätzung von Wilhelm Gräb ist klar zutreffend. Er folgert in der Konsequenz, dass religiöse Lebensdeutungen angeboten werden müssen14, und er fährt fort: „In der Dynamik kulturellen Wandels, wie ihn die Massenmedien forcieren, sind die alten, biblischen Symbole des Glaubens – Gottesbilder, Rechtfertigungsgeschichten, Geschichten von Auszug und Heimkehr, halten anderer gesellschaftlicher Akteure hängt es ab, wer mit welchem Selbstverständnis diese Verwendung festlegt“ (ebd.,138). 13 Wilhelm Gräb, Medien, in: ders./Birgit Weyel (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 149–161, unter Verweis auf Jochen Hörisch, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Die Andere Bibliothek, Frankfurt/M. 2001, 338. 14 Ebd., 157.

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Passions- und Auferstehungsgeschichten – auf anschauliche Weise, d.h., ohne dass die bildhafte Rede und die lebendigen Erzählungen verloren gehen, in ihrem existentiell-religiösen Sinngehalt zu vergegenwärtigen. Dann können die biblischen Texte zum symbolischen Material der Deutung dessen werden, was es heißt, in dieser Zeit – von Gott begleitet – zu leben. Die Kunst religiöser Kommunikation in der medialen Kultur ist jedenfalls religiöse Deutekunst, die religiöse Interpretation von Lebenserfahrung, die Aufhellung der religiösen Grundierung des Alltags, die religiöse, an unbedingte Sinnbedingungen erinnernde Integration fragmentarischer Lebensgeschichten.“15

Wilhelm Gräb entwickelt in seinem Ansatz eine sehr weite Form der Reinterpretation. Er bleibt aber letztlich innerhalb einer Interpretation, und er gibt keine Hinweise, wie das Symbol- und Zeichensystem „Christentum“ weiterentwickelt werden kann. Viel wichtiger erscheint mir aber die Forcierung theologischer Ansätze hinsichtlich religionsgenerierender Aspekte, vor allem bezogen auf fortschreitende Exploration und Interpretationen des eigenen Lebens. Religiöse Explorationen machen in der Postmoderne nicht an Bekenntnisgrenzen halt. Auch die Vorstellung, dass es diese Grenzen gibt, kommt im Regelwerk der Exploration nicht vor. In der Adaption und Weiterentwicklung des Ende der 90er Jahre in Heidelberg entwickelten Ansatzes zur Individualreligiosität16 in der Verbindung mit Ergebnissen aus der qualitativen und quantitativen Sozialforschung hinsichtlich der individuellen Konstruktion personaler religiöser Symbolwelten, Zeichensysteme und vor allem Bewährungsmythen17 müssen heute neue Ansätze entwickelt werden. Ansätze, die es vermögen, Menschen bei ihren je eigenen religiösen Kompositionsprozessen zu begleiten. Das ist nicht nur theoretisch möglich. Der Nukleus nicht nur einer neuen Religionsgemeinschaft könnte sich in jeder neuen Verbindung befinden. Dies hat 15 Gräb, ebd., 157. 16 Hartmut Rupp/Gernot Meier, Alina, Tim und Co. Individuelle Religiosität im Religionsunterricht, in: Christoph Gramzow/Heide Liebold/Martin Sander-Gaiser (Hg.), Lernen wäre eine schöne Alternative. Religionsunterricht in theologischer und erziehungswissenschaftlicher Verantwortung (FS Helmut Hanisch), Leipzig 2008, 209–222. 17 Ulrich Oevermann/Manuel Franzmann, Strukturelle Religiosität auf dem Wege zur religiösen Indifferenz, in: Manuel Franzmann/Christel Gärtner/Nicole Köck (Hg.): Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie, Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Band 11, Wiesbaden 2006, S. 49–82; ders., Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt/M1995, 27–102.

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auch Auswirkungen auf die zu entwickelnden Kompetenzen beispielsweise von Schülerinnen und Schülern, denn innerhalb der Kompetenzbegriffe für den Religionsunterricht (hermeneutische, personale, soziale etc.18) werden meist nur interpretative oder an wenigen Stellen der Frage Aktualisierungen benannt und damit auch forciert. Religionsproduktion ist heute nicht nur als Reinterpretation, sondern als Form von produktiven Rezeptions- und Auswahlprozessen von Themen, Motiven, Musik, Bildern, Konzepten und Texten nicht nur bei Schülerinnen und Schülern sondern in großen Teilen der Gegenwartskultur die Normalform. Der o.g. Textauszug von Daft Punkt beschreibt anschaulich, wie Religionsproduktion, die über eine Reaktualisierung hinausgeht, heute stattfindet. 2.

Zugänge

Praktisch-theologische Verfahren, die z.B. zeit- und kulturübergreifend korrelative Zugänge zu Religion/Religionen zu etablieren versuchen, sind in wissenschaftlicher Hinsicht aufgrund von klaren methodologischen Problemen kaum möglich. Die Annahme, dass ein Mensch, der einen Psalm geschrieben hat und hier z.B. Trauer oder Freude thematisiert, so empfindet, wie eine Person, die heute in der Postmoderne lebt, ist doch eher unwahrscheinlich. Die Frage ist, wie beispielsweise Schülerinnen und Schüler aktuell z.B. mit körperlichen und psychischen Veränderungen etwa im Alter von 13 bis 17 Jahren umgehen. Bei einem Blick auf Literatur wie „Harry Potter“ von Joanne K. Rowling, René Groussets Buch „Die Reise nach Westen oder wie Hsüan-tsang den Buddhismus nach China holte“ oder auch John Ronald Reuel Tolkiens „Herr der Ringe“ kann man feststellen, dass durchaus Mythologien neu geschaffen werden. Die Auswahl von „Religion“ in fiktionaler Literatur oder auch Filmen findet aber nicht ohne Synchronisationsprozesse mit der Gegenwartskultur statt. Denn es ist durchaus zu sehen, dass oftmals ähnliche Sujets thematisiert werden. Diese Sujets liegen dann durchaus als Grundfragen im Hintergrund der Geschichte vor – auch wenn es im Vordergrund meist um Liebe, Leidenschaft, das „Erwachsenwerden“ oder um die Frage geht, wie mein Outfit aussieht und wie ich eine nette Freundin oder netten Freund bekomme.

18 www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsstandards/Gym/Gym_ev R_bs.pdf (am 15.10.2016).

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Oft lässt sich erkennen, dass in den Narrationen in fiktionaler Literatur in der Regel Themen aus der Gegenwartskultur ausgehandelt werden. Das Interessante daran ist, dass die Umgebung, in der diese Aushandlungsprozesse eingebettet sind, hinsichtlich der dortigen Regeln sehr frei gewählt werden kann. So besteht die Möglichkeit, gleichsam außerhalb der Welt immanente Themen zu behandeln. Ein anschauliches Beispiel sind z.B. die Vampirromane „House of Night“, Stephenie Meyers Twilight-Folgen. So schreibt Laura Gemsemer: „Die Welt der House oft Night- Jugendvampirromanreihe von P.C. und Kristin Cast präsentiert sich als ein Patchwork-Geflecht von religiösen Elementen, das sich aus verschiedenen Kulturkreisen, von CherokeeMythologie und griechischer Antike bis zum Christentum, zusammensetzt. Dabei verkörpert die Göttin Nyx – „the ancient personification of Night“ – den Grundstein für das fiktive [sic!] Transzendenzsystem und trägt deutlich Züge einer Großen Muttergöttin. Zum einen gilt es, dieses Geflecht nachzuzeichnen. Zum anderen prägt die fiktive [sic!] Religion um die Vampirgöttin Nyx die literarische Realität der mittlerweile 16-bändigen Reihe bis in deren Grundmauern. [...] Vergleicht man die erfolgreiche, aber lange nicht so bekannte House of Night-Reihe mit Stephenie Meyers Twilight-Saga um das hybride Pärchen Bella (Mensch) und Edward (Vampir), geben sich insbesondere die jeweiligen Sexualitätsdiskurse als religiös determiniert zu erkennen und lassen sich einerseits als matriarchale Freizügigkeit und andererseits als mormonische Abstinenz charakterisieren.“19

Laura Gemsemer umreist hier den Sachverhalt sehr klar. Sie zeigt die Wechselwirkungen zwischen Gegenwartskultur und religiösen Aushandlungsprozessen hier am Beispiel des Umgangs mit Sexualität20 oder auch bei der

19 Laura Gemsemer, Matriarchale Freizügigkeit und mormonische Abstinenz. Religiöse Elemente in P.C. und Kristin Cats House of Night Novels und in Stephenie Meyers Twilight-Saga, in: Tim Lörke/Robert Walter, Religion und Literatur im 20. Und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien, Göttingen 2015, 181–202. Es ist die Frage, ob und wie der von Gemsemer an Johann Figl angelehnte Religionsbegriff an dieser Stelle sinnvoll ist und ob nicht ein stärker kulturwissenschaftlich orientierter Ansatz, der klar mit Aushandlungsprozessen arbeitet, hier noch bessere Analysen bei diesem sehr guten Aufsatz erbracht hätte. 20 „Gerade diese Themen von Liebe und Sexualität – egal ob polyandrisch oder monogamer „Blümchensex“ – stoßen im Jugend(vampir)roman jedoch auf eine gierige Horde wilder LeserInnen, welche auch den weniger anspruchsvollen und innovativen Liebesromanen zu ihrer Zählebigkeit verhelfen“ (Gemsemer, Freizügigkeit, 200f.).

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Frage von Tod und Wiedergeburt.21 Sie zeichnet, wie viele andere Literaturund Kulturwissenschaftler, die Konstruktion unterschiedlicher Ausprägungen und Transformationsprozesse von Religion in fiktionaler Literatur nach. In praktisch-theologischen Kontexten beginnen diese Analyseprozesse der Gegenwartskultur, u.a. angestoßen durch Hartmut Rupp oder Wilhelm Gräb, gerade. Es erscheint für einen praktisch-theologischen Zusammenhang nur ansatzweise sinnvoll, nun verschiedenste Literatur zu bearbeiten, denn in der Gegenwartskultur wechseln die Trends, Genres und die Sujets doch sehr häufig. Deshalb sollen im nächsten Schritt zwei Möglichkeiten beschrieben werden, wie man mit Narrationen umgehen kann, um diese für den theologischen Kontext fruchtbar zu machen: Analyse von Erzählvorgängen und Hinweise auf Motive. Beide Punkte haben das Ziel, ein Toolkit für den Erstzugang zu sein und auch für künftige Erzeugnisse aus der Gegenwartskultur homiletische, praktisch-theologische oder auch poimenische Zugänge fruchtbar zu machen.22 3.

Narrationen und Motive

Die Bücher, Spiele etc. sind aus dem Blickwinkel der Narrationsanalyse kommunikative Ereignisse, mit Sprachhandlungen in bestimmten Kontexten und durchaus sehr unterschiedlichen Adressaten. Autorinnen und Autoren erzählen für sich, für andere und (neben monetärem Interesse) durchaus auch für „das große Miteinander.“ In Anlehnung an Sönke Finnern23 kann man folgende Fragen an aktuelle und zukünftige (fiktionale) Texte stellen: − Wie ist die Umwelt aufgebaut? Welche Bezüge hat sie zur Gegenwartskultur, welche Thematisierungsregeln werden wie eingehalten oder neu entwickelt?

21 „Die Prüfungen, denen Zoey und Bella sich ausgesetzt sehen, kann man außerdem als Teil eines Initiationsgeschehens lesen, wobei die Symbolik von Tod und Wiedergeburt eine sehr wörtliche Dimension annimmt, führt man sich vor Augen, dass Bella und Zoey im Laufe der Romanreihen nicht nur erwachse(er) werden, sondern sich auch in Vampire verwandeln, wofür sie in gewisser Weise erst sterben müssen“ (Gemsemer, Freizügigkeit, 201). 22 Viele dieser Ansätze sind aus exegetischen Fächern den meisten Leserinnen und Lesern bekannt, sie werden aber nur unzureichend an Narrationen der Gegenwartskultur angewendet. 23 Sönke Finnern, Kognitive Erzählforschung und religiöse Texte – Narratologische Methoden im Überblick, in: Dirk Johannsen/Gabriela Brahier (Hg.), Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung, Würzburg 2013, 19–35.

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− Wie wird die Handlung vorangetrieben? Welche Ereignisfolge erscheint den Autorinnen und Autoren sinnvoll? Wenn ein „happy end“ vorliegt, ist das für das Genre typisch und welche alternativen „happy endings“ würde es noch geben? 24 − Welche Eigenschaften haben die Figuren und wie werden sie gezeichnet? Hier ist es sehr wichtig zu verfolgen, wie sich die Figuren ändern und entwickeln. − Welche Erzählstrategie wird in der Narration verfolgt? Gibt es z.B. den allwissenden Erzähler, der das Ende schon kennt? Wird aus dem Standpunkt einer Person erzählt, für den das alles genauso neu ist wie für den Leser und die Leserin? Von welchem Blickpunkt aus wird die Geschichte erzählt? Welche Positionierungsstrategien gibt es, und wie werden in der Narration die Positionierungen ausgehandelt. − Wie sieht die Rezeption aus? Ruft eine einzelne Narration oder auch das ganze Buch den Leser und die Leserin zu einer Handlung auf? In diesem Zusammenhang kann es durchaus vorkommen, dass Autorinnen und Autoren ihre Geschichten und Spiele in der Rezeption der Fankultur weiterentwickeln. − Ein Punkt, der in der Gegenwart immer wichtiger wird und der auf generative Prozesse hinweist, ist die Weiterentwicklung der Personen im jeweiligen Umfeld der Fankultur, des sogenannten Fandom. In dieser speziellen Kultur werden um die Hauptwerke herum weitere ergänzende Geschichten in großem Ausmaß entwickelt. − Ein weiterer möglicher Zugang führt über verarbeitete Motive. Dieser Weg erscheint zunächst etwas einfacher, da die Aufnahme religiöser Sujets aus der europäischen Religionsgeschichte seit langer Zeit in der Literatur an sehr vielen Stellen zu finden ist25 und viele Autorinnen und Au24 An dieser Stelle ein Beispiel aus dem Harry Potter Universum: Als Harry Potter im letzten Band von Voldemort mit einem Todesfluch belegt wurde, kommt er in einen Raum, den er in einem Gespräch mit Dumbledore, der auch anwesend ist, als Bahnhof in Kings Cross identifiziert. Voldemort ist auch zu erkennen als kleines nacktes Kind. Dumbledore sagt von sich selber, dass er tot ist – die Frage ist bei Harry Potter noch offen. In der Folge der Unterhaltung hat Harry, der sich dazu entschlossen hat, zu sterben, die Möglichkeit z.B. in einen Zug in King‘s Cross zu steigen oder zurück auf das Schlachtfeld rund um Hogwarts zu gehen. Vgl. Joanne K. Rowling, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, Hamburg 2007, 713 ff. In pädagogischen Zusammenhängen kann auch auf den entsprechenden Teil des Filmes zurückgegriffen werden, um die unterschiedlichen Ebenen sichtbar zu machen. 25 Beispielhaft sei hier, zusätzlich zu den in der Einleitung genannten Büchern, verwiesen auf: Odön von Horvath, Glaube Liebe Hoffnung. Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern;

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toren sich auf hohem Niveau eben aus dieser Kultur- und Religionsgeschichte bedienen. Gregor Ahn hat sich in diesem Zusammenhang eingehend mit John Ronald Reuel Tolkien26 und seinem gesamten Werk befasst: „Motivisch ist die von Tolkien neugeschaffene Mythologie hauptsächlich von Vorstellungen inspiriert, die teils aus der jüdischchristlichen Tradition, teils aus der nordischen Mythologie abgeleitet sind. Seine literarische Produktion versetzt den Leser in eine fiktive, noch weitgehend vorindustrielle, mittelalterlich geprägte Welt, die nicht nur Pflanzen, Tieren und Menschen Lebensräume bietet, sondern außerdem mit Elfen, Zwergen. Trollen, Zauberern, Monstern, Mischwesen und Geistern bevölkert ist.“27 − Aber nicht nur bei John Ronald Reuel Tolkien und seinem „Herr der Ringe“ werden Motive aufgenommen und in neue Kontexte gesetzt. So werden beispielsweise die Geschehnisse um die Aum Shinrikyo und den Giftgasanschlag in der U-Bahn in Tokyo vom 20. März 1995 von Haruki Murakami in seinem Werk „1Q84“ verarbeitet. Wenn man Motiven in der medialen Gegenwartskultur nachgeht, hat man, zum Beispiel ausgehend von aktuellen ethischen Entwürfen oder auch von Motiven aus dem Alten und Neuen Testament, einen reichen Fundus.28 Das methodologische Problem mit der Frage der Motive und möglichen Korrelationen wurde im Eingangsteil schon benannt und darf hier nicht unter den Tisch fallen. Motive, auch wenn sie uns aufgrund unserer Tradition als „typisch menschlich“ oder als „Conditio Humana“ oder ähnlich beschrieben die Roman-Tetralogie von Thomas Mann, Joseph und seine Brüder; Salman Rushdie, Die satanischen Verse u. a. 26 Nach der eingehenden Analyse des Gesamtwerkes von Tolkien kommt Ahn in der Charakterisierung des Autos zu dem Schluss: „Obwohl in der ‚Mythologie‘ von The Lord of the Rings weder religiöse Praktiken der Protagonisten noch die Erwähnung von Gott oder Göttern eine sonderliche Rolle spielen, handelt es sich bei Tolkiens Œuvre also um ambitioniert christliche Literatur. Neben großer Phantasie und artifizieller Penibilität bedurfte es zu ihrer Entstehung eines ‚heimlichen Lasters‘, eines zeitkritisch anti-pluralistischen Impetus und des christlich-neo-platonischen Selbstverständnisses vom Autor als Subcreator“ (Gregor Ahn, „Ein heimliches Laster?“ Linguistische Mythopoetik und fiktionale Historiographie in J.T.T. Tolkiens The Lord of the Rings, Mitteilungen für Anthropologie und Religionsgeschichte 12/1997, 5–32). 27 Ahn, Ein heimliches Laster?, 11. 28 Hier sind z.B. die Publikationen von Gerd Theissen zu nennen, der eine Vielzahl von Motiven (Hoffnung, Glauben, Wunder, Schöpfung, Umkehr, Stellvertretung etc.) benannt und auf der Folie des Neuen Testaments expliziert hat (Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000; ders., Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003).

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werden, sind immer zeit- und raumgebunden, müssen so wahrgenommen und können so in ihren Kontexten interpretiert werden.29 Vorschnelle Korrelationen, auch wenn grundlegende Probleme menschlicher Existenz z.B. in einem Manga thematisiert werden, sind möglichst zu vermeiden. 4.

Factory of Faith

Die Produktion von Kultur in vielen Spielarten wird weiter anhalten und die für viele Menschen schon obsolet gewordene Trennung von einzelnen Medien schreitet weiter voran. Parallel erleben Menschen sich mit vielen Identitäten und Möglichkeiten, ein anderer/eine andere zu werden. Unabhängig, ob dies immer gelingt oder einfach eine Episode im Leben eines Menschen ist, können fiktionale Kontexte neben den o.g. Möglichkeiten der Motive und Narrationen einen besonderen Beitrag zur Identitätsbildung in der Postmoderne liefern. Wenn sich Identitäten in Auseinandersetzungen mit z.B. Akteuren, Handlungen und deren jeweiligen Regeln, d.h. als Interaktion mit dem „Außen“ des Subjektes bilden, ist dazu notwendigerweise „Fremdheit“, das fundamental „Andere“, eine wichtige Eigenschaft dieses Außens. Fiktionale Literatur kann hier einen wertvollen Beitrag leisten. Als ein Beispiel sei hier genannt, dass es in einigen fiktionalen Welten (Star Treck The Next Generation im 24. Jahrhundert) keine herkömmlichen Zahlungsmittel mehr auf der Erde gibt und auch materielle Nöte nicht mehr existieren. Dies mag nur eine „kleine“ Fremdheit sein, aber diese Gegebenheit stellt z.B. in Star Treck – The Next Generation Fragen nach Belohnungsystemen, die nicht mit Geld verbunden sind. Oder auch schlichtweg die Frage: wenn keine Distinktionen über ökonomisches Kapital erfolgen – wie erfolgen sie dann? Verantwortung für das, was man zaubert oder zu welchem Zweck man zaubert, auch bei einer eher einfachen bipolaren Welt wie bei Harry Potter, muss erlernt werden. In Philip K. Dicks Buch „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“30, der später unter dem Namen „Blade Runner“ 1982 verfilmt wurde, werden Fragen zur digitalen Zukunft gestellt, die heute 2016 im Rahmen der digitalen Revolution sehr brisant geworden sind. Hier hat die Wirklichkeit die Fiktion schon fast eingeholt. 29 Wie unterschiedlich das sein kann, zeigt sich beispielsweise an dem Genre der sogenannten Bollywood Filme. Was zu Tränen rührt, was Individualität ausmacht oder welche Funktion Religion hat, wird oftmals von Menschen aus Westeuropa nicht nur nicht verstanden, sondern auch die Zeichen- und Symbolsprache, die beispielsweise zentrale Stellen vorbereitet, wird schlichtweg nicht wahrgenommen. 30 Philip K. Dick, Do androids dream of electric sheep?, London 1997.

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Die Frage, wie Vergangenheit und Zukunft zusammenhängen und welche Rolle Reinkarnationskonzepte spielen, in denen Identitäten „wiedererkannt“ werden, lässt sich sehr gut in der Literaturverfilmung „Cloud Atlas“ aus dem Jahr 2012 nach David Mitchells gleichnamigem Roman erkennen.31 Wenn Identitätsentwicklung mit der Frage der Zukunft und ihren multiplen Möglichkeiten, Entwürfen und die dafür zu erlernenden Rollen verbunden ist, dann können gerade fiktionale Welten einen besonderen Anteil an deren Entstehung beitragen. Dieser Punkt betrifft natürlich auch die Frage der Religion im Zusammenhang mit der eigenen Selbstkomposition. Hier ist m.E. auch die Grenze zur Moderne und ihren Vorstellungen hinsichtlich einer Identität im Sinne von Stufenmodellen erreicht.32 Bipolare Modelle, die von (göttlichen) Ordnungskriterien ausgehen, wie sie beispielsweise in einigen fundamentalistisch-freikirchlichen Strömungen en Vogue sind, brauchen in der Postmoderne ein extrem hohes Maß an argumentativen Anstrengungen und Selbstkontrolle. Fiktionale Literatur, in der ambige Akteure in experimentellen Erzähltechniken dargestellt werden, können hier zu neuen Erkenntnissen führen. So schreibt Silke Horstkotte in ihrem Artikel „Heilige Wirklichkeit“: „Drittens [...] thematisieren und inszenieren der Vertreter der neuen Fantastik in signifikantem Ausmaß religiöse Gehalte und Erfahrungen unter den spezifisch postsäkularen Bedingungen einer alternativen und privatisierten Spiritualität, der ‚minimal religion‘, des ‚believing without belonging‘ und der ‚unsichtbaren Religion‘.“33 Sie analysiert S. Lewitscharoffs „Blumenberg“, Thoma Glavinics „Die Arbeit der Nacht“ und Benjamin Steins „Die Leinwand“ und schreibt: „… diese Texte [erfassen] diffuse Formen der Transzendenzerfahrung unter den Bedingungen des gegenwärtigen religiösen Feldes und inkorporieren diese Diffusität formal durch die Mittel des unzuverlässigen Erzählens und der literarischen Fantastik. Das Fantastische gehört mithin in eine Reihe literarischer Mittel, die eine Situation der Ambivalenz und der Ambiguität im Umgang mit dem Religiösen spiegeln. (Fiktionale) Literatur ist ein wichtiger Ort der Rückkehr und Transformation des Religiösen, weil Literatur die Fähigkeit hat, Grenzen aufzulösen. Indem fiktiona31 David Mitchell, Cloud Atlas, New York 2004. 32 Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt/M., 1973; Fritz Oser/Wolfgang Althof, Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2001. 33 Silke Horstkotte, Heilige Wirklichkeit! In: dies., /Leonhard Herrmann (Hg.), Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000, Berlin 2013, 67–82, hier 70f.

Gernot Meier, Religion und Mythopoetik

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le Literatur der vorfindlichen Wirklichkeit mögliche Alternativen entgegenstellt, durch die Person des Lesers aber an dessen Lebenswelt zurückgebunden ist, bleibt sie nicht ohne Rückwirkungen auf das Wirkliche: Das Lesen selbst wird zu einer transformativen Erfahrung.“34

Die Festlegung auf ein Symbol- und Zeichensystem ohne die Möglichkeit einer personalen Variation, durchaus innerhalb der weltweiten Religionsgeschichte, hat in der Postmoderne und dem komplexen Leben ihr Ende gefunden. Eine zentrale Aufgabe im theologischen Kontext wird es zukünftig sein, die Explorationsprozesse und ihre Regelwerke der personalen Religion zu verstehen und die Kompositionsprozesse zu begleiten. Es ist möglich, dass sich Fangemeinden rund um das Christentum bilden, die jede neue Publikation, die das Christentum weiterentwickelt und nicht festlegt, begeistert aufnehmen werden. Offenheit und Fiktion sind hier kein Mangel, sondern Eigenschaft der Religion. Fiktionales Nachwort: Eigentlich ist dieses Thema Theologinnen und Theologen in ihrer Tätigkeit etwas sehr Bekanntes, denn: „Wolf und Schaf sollen beieinander weiden …,“ Jes 62,25 Abstract The article is based on the observance of an increasing individual religiosity as expressed in the keywords „invisible religion“, „minimal religion“ or „believing without belonging“. The commitment to one religious symbolic system without personal opportunities for variation seems to have come to an end in postmodern times. The theological task must therefore not stagnate at a mere reinterpretation of conventional religious systems but needs to recognize religiously oriented phenomena and accompany the corresponding compositon processes. Therefore, taking notice of books, movies, games etc. which appeal to the public is increasingly important as their fiction can be a crucial contribution to the task of identity development. Especially in bestsellers, new myths are created which generate the opportunity to observe fundamental questions of humanity „from outside“. Within the context of inevitable self-composition, they keep the question of relevance of religion and transcendence open. They are thereby in conformity with essential aspects of religion as openness and fiction which are not a defect, but a property of religion. 34 Ebd., 71.

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