»Im Kennwort befasst sich Peter Müller mit den beiden Elementen des Begriffs Heilige Schrift. Heiligkeit wird als Bezieh
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German Pages 23 [107] Year 2017
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Zu diesem Heft
Kennwort
Zu diesem Heft Peter Müller Die heiligen Schriften der Religionen geben vielen Menschen Halt, Orientierung in Lebensfragen und im Alltag, Trost und Hoffnung. Selbst wenn der Inhalt der Schriften oft nur oberflächlich bekannt ist, stehen sie doch in besonderem Ansehen. Die Vorstellungen von Heiligkeit gehen allerdings weit auseinander, schwanken zwischen tiefer Achtung und vagem Respekt und setzen unterschiedliche Zugänge zu den Schriften voraus. Im Gespräch zwischen den Religionen, insbesondere den sogenannten Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam, sind die Fragen nach der Bedeutung der heiligen Schriften und dem Umgang mit ihnen unumgänglich, da nicht nur die jeweiligen Glaubensüberzeugungen, sondern auch ethische Maßstäbe und Verhaltensregeln aus ihnen gewonnen werden. Dass der Tanach (die Hebräische Bibel), die christliche Bibel aus Altem und Neuem Testament sowie der Koran miteinander „verwandt“ sind (das Neue Testament ist ohne die Hebräische Bibel nicht wirklich zu verstehen, und der Koran greift auf beide zurück), macht das Gespräch zwischen den Religionen keineswegs einfacher, denn die Art und Weise des Zugriffs auf die Schriften und die dahinterstehende Hermeneutik unterscheiden sich zum Teil erheblich. Dies gilt auch für die normativen Schriften, die sich daran angelagert haben: die mündliche Tora im Judentum, Lehrschriften und Katechismen im Christentum und die Sunna im Islam. Weil ihnen allen in den jeweiligen Religionen hohe Bedeutung zugeschrieben wird, ist ihre Kenntnis für das interreligiöse Gespräch grundlegend wichtig. Das vorliegende Heft geht dabei nicht auf Einzelfragen ein, sondern befasst sich mit der Frage, was die Besonderheit dieser Schriften ausmacht. Im Kennwort befasst sich Peter Müller mit den beiden Elementen des Begriffs Heilige Schrift. Heiligkeit wird als Beziehungskategorie vorgestellt; sie eignet nicht Dingen, Vorgängen oder Personen als solchen, sondern erweist sich im Verhältnis zu ihnen und wird ihnen zugeschrieben. Dies gilt auch für heilige Schriften. Ihre Heiligkeit bezieht sich zum einen auf den Inhalt der Schriften, zum anderen (und oft mehr) auf ihre materiale Existenz. Dies wird anhand der zentralen Texte der drei Religionen näher ausgeführt und auf ihre Vermittlung hin zugespitzt. Auch Konrad Schmid zeigt in seinem Beitrag, dass die Heiligkeit der jüdischen und der christlichen Bibel als Rezeptionsphänomen zu verstehen ist.
Peter Müller, Zur Einführung
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Normativität kommt den Schriften nicht ursprünglich zu, sondern wird ihnen in einem länger andauernden Prozess zuerkannt, bis hin zu einem umgrenzten Bestand kanonischer Schriften. Auch sind „Heilige Schrift“ und „Wort Gottes“ nicht identisch; die Schrift kann zum Gotteswort werden, wenn sie als solches wahr- und aufgenommen wird. Dass die Auslegung der Bibel niemals voraussetzungslos geschieht, hält Ulrich Körtner in seinem Beitrag fest. Aufgrund der Verschiedenheit der Voraussetzungen (zwischen Judentum und Christentum, aber auch zwischen den christlichen Konfessionen), ist die Bibel notwendigerweise als variable Größe zu verstehen. Wie die Septuaginta im Vergleich zum Tanach zwar Übersetzung ist, als Übersetzung aber zugleich ein Original darstellt, so sind auch die landessprachlichen Übersetzungen als Originale anzusehen. Der Kanon der christlichen Bibel aus zwei Testamenten lädt zu einer Lektüre ein, die die Schriften in ihrem Zusammenhang reflektiert. Der Inspirationsgedanke gewinnt seine Bedeutung nicht aus einem materialen Verständnis, sondern macht auf den Anredecharakter der Schrift im Hier und Heute aufmerksam. Diesem Anredecharakter wird ein wörtliches Verständnis der Schrift nicht gerecht; wohl aber will sie beim Wort genommen werden. Bernhard Uhde erinnert in seinem Beitrag zunächst an einen grundlegenden Sachverhalt: „Um den Umgang mit den ‚Heiligen Schriften‘ von Religionen zu verstehen, ist die Kenntnis der jeweiligen Religion Voraussetzung“, denn nur aus dieser Kenntnis heraus wird erkennbar, was sich jeweils unterschiedlich mit diesem Begriff verbindet. Nur unter dieser Voraussetzung kann er angemessen verwendet werden. Dies wird an den heiligen Schriften von Judentum und Islam dargelegt. Für die jüdischen Schriften, insbesondere die Tora, ist die Aufforderung zur Vergegenwärtigung zentral: Als Weisung Gottes wird sie als Ansprache an den Menschen verstanden, die nicht lediglich erinnernd gilt, sondern in die jeweils eigene Gegenwart der Lesenden und Hörenden hinein ergeht und aktualisiert werden soll. Für den Koran ist dagegen der Wiederholungsbefehl zentral. DAS Buch enthält nach islamischer Auffassung das vollkommene und zeitlose Wort Gottes, das deswegen keiner Vergegenwärtigung bedarf, sondern der wiederholenden Rezitation. Einen ganz anderen, literarisch orientierten Zugang zum Alten Testament zeigt Yael Almog in ihrem Beitrag auf, und zwar am Beispiel von Johann Gottfried Herders Kommentar zur Hebräischen Bibel. Dieser Kommentar ist charakteristisch für eine Idealisierung der hebräischen Sprache und Poesie, mit der ein Aufschwung der literarischen Interpretation des Alten Testaments einherging. Neben der theologischen Auslegung gewann damit die ästhetische Annäherung an die Schrift Bedeutung. Die „sublime
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Glaube und Lernen, 31/2016, Heft 1, Zu diesem Heft
Schönheit“ der hebräischen Sprache und die „Strahlkraft“ der hebräischen Poesie wurden maßgebend für eine säkulare Hermeneutik, die das Alte Testament als kulturelles Erbe versteht und schätzt. Wenn die Bibel eine entscheidende Bezugsgröße des (evangelischen) Religionsunterrichts ist, stellt sich die Frage, ob es im Unterricht gelingt, sie als lebensbedeutsam plausibel zu machen. Anhand von drei „Anforderungssituationen“ arbeiten Hartmut Rupp und Hennig Hupe in ihrem Beitrag heraus, dass die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler die Bibel als Buch für religiös interessierte Menschen ansieht, ihr jedoch keine besondere Relevanz für religiös nicht interessierte Menschen zuspricht; dass die Bibel dazu anregt über Grundfragen des Lebens nachzudenken, kommt überwiegend nicht in den Blick. Auch die allgemeine kulturelle, literarische oder moralische Bedeutung der Bibel wird kaum erkannt. Dies führt zu der Frage, welche Anforderungssituationen geeignet sind, um den Beitrag der Bibel zur Selbst- und Weltdeutung deutlich zu machen. Hierzu wird ein für alltags- und lebensgeschichtlich offener Umgang mit Bibeltexten angemahnt. Die Rezension zu dem von Ruben und Mirjam Zimmermann herausgegebenen „Handbuch Bibeldidaktik“ rundet als Vorschlag zum Weiterlesen das vorliegende Heft ab. Peter Müller
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Kennwort
Heilige Schriften Peter Müller „Ich scheue mich davor, zuzugeben, dass es für mich heilige Schriften gibt. Wenn ich so vor meinem Bücherregal stehe und auf die Buchrücken schaue, wenn ich dieses oder jenes Buch herausziehe und darin blättere, dann muss ich mir allerdings eingestehen, dass es Texte gibt, die einen gewissen heiligen Status für mich haben. […] Wenn zwei zusammenkommen, denen die gleichen Schriften heilig sind, dann bildet sich Gemeinschaft. Man liest sich gegenseitig den einen oder anderen Abschnitt vor, sieht die leuchtenden Augen des Anderen, merkt, dass man einander durch und in diesen Texten versteht. Und man ist verwundert und berührt von der Tatsache, dass ein paar Worte, vor langer Zeit geschrieben, den Autor mit uns hier und jetzt zu einer Gemeinschaft vereint. Das ist ja überhaupt das Heilige: Dass es auf intuitive Weise Gemeinschaft herstellt, mit anderen, die anwesend sind, aber auch mit denen, die schon zuvor dieses Heilige erfahren haben. […] Diese Art von Religiosität ist vielleicht wirklich eine zutiefst menschliche Angelegenheit, die die Identifikation und Gemeinschaft mit weit entfernten und längst verstorbenen Menschen eben über diese gemeinsamen Ideen, die uns Sterbliche überdauern, ermöglicht. Das ist ganz wunderbar, und wir täten gut daran, das Phänomen der Religiosität aus der Enge der Kirchen herauszuholen und es viel allgemeiner und selbstverständlicher zu beschreiben.“1
Ob Kirchen tatsächlich „enge“ Räume sind, soll einmal dahingestellt sein (wobei dies da und dort vermutlich schon zutrifft). Es soll hier auch nicht in erster Linie um „heilige Bücher“ im Bücherregal gehen, sondern um diejenigen Schriften, die den großen Religionsgemeinschaften als heilig gelten – und zwar der Kürze dieses einführenden Beitrags entsprechend „nur“ dem Judentum, Christentum und dem Islam. Der Hinweis auf das besondere Buch im Bücherregal ist gleichwohl wichtig, weil er deutlich macht, dass die 1
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Jörg Friedrich, Heilige Schriften, http://diekolumnisten.de/2016/08/19/heilige-schriften/ am 1.9.2016.
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DOI 10.2364/3846999806
„Heiligkeit“ von Schriften nicht nur ein religiöses Phänomen ist. Werke von Mao und Marx, von Rilke, Thomas Mann und anderen gelten manchen ihrer Verehrer in einem Maß als außerordentlich, das nahe an religiöse Verehrung heranreicht. Schon daran zeigt sich, dass beide Bestandteile der Wendung „heilige Schriften“ schwer zu fassen sind. Was heilig heißt, hat sich trotz einer langen Diskussion der definitorischen Exaktheit bisher entzogen2 und wird in den verschiedenen Religionen sehr unterschiedlich bewertet3; und auch der Begriff der „Schriften“ ist so eindeutig nicht, wie er auf den ersten Blick erscheint. Handelt es sich um Schriften, die in großen Religionsgemeinschaften in Geltung stehen oder die eher begrenzten Einfluss haben, ist der Inhalt bestimmter Schriften gemeint oder geht es um ihre materielle Existenz als Buch, Rolle, Gravur etc., und was unterscheidet heilige Schriften von anderen, denen dieses Prädikat nicht zuerkannt wird? Im Folgenden wird es deshalb zunächst darum gehen, wie das „Heilige“ der heiligen Schriften, wenn schon nicht definiert, so doch wenigstens mit 4 einigen wenigen Hinweisen umschrieben werden kann. Im Anschluss daran kommen dann heilige Schriften in den Blick, u.z. als Objekte, mit bestimmten Inhalten und Merkmalen, wobei für den Umgang mit ihnen bestimmte Vorschriften gelten können. Die Frage nach der Vermittlung dieser Schriften schließt diesen einleitenden Aufsatz ab. 1.
Heilige Schriften
Einflussreich war die Unterscheidung zwischen „heilig“ und „profan“, die Émile Durkheim seiner Vorstellung vom Heiligen zugrunde legte.
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William E. Paden, Heilig und profan. I. Religionsgeschichtlich, in: RGG 4, Band 3, 1528–1530, hier 1529: „Der Begriff des Heiligen ist von irritierender Vieldeutigkeit.“ Vgl. Colpe, Carsten, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt/M. 1990, 16: Hellenistische Juden übersetzten „das qadoš aus der hebräischen Bibel mit hágios, lateinische Christen dieses aus Septuaginta und Neuem Testament mit sanctus und deutsche Mönche und Humanisten dieses aus der Vulgata mit heilig […]. Diese Übersetzungen sind unwiderrufbar und ehrwürdig. Aber wir wissen, im Wechselspiel welcher historischen Umstände, ja Zufälligkeiten sie geschehen sind, und dass, wären sie bloß auf den Ebenen der Etymologie und der Synonymik vonstattengegangen, auch ganz andere Wörter hätten etabliert werden können.“ Udo Tworuschka, Heilige Schriften. Eine Einführung, Frankfurt/M./Leipzig 2008, 13. Vgl. Carsten Colpe, heilig (sprachlich), in: H. Cancik/B. Gladigow/K.-H. Kohl (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe III, Stuttgart 1993, 74–80, hier 76f.; Wolfgang Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Marburg 1998.
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„Alle bekannten religiösen Glaubensweisen […] haben den gleichen Zug: sie setzen eine Klassifizierung der realen oder idealen Dinge, die sich die Menschen vorstellen, in zwei Klassen, in zwei entgegengesetzte Gattungen voraus, die man im allgemeinen durch zwei unterschiedliche Ausdrücke bezeichnet hat, nämlich durch profan und heilig. Die Aufteilung der Welt in zwei Bereiche, von denen der eine alles umfasst, was heilig ist, und der andere alles, was profan ist; das ist Unterscheidungsmerkmal religiösen Denkens: die Überzeugungen, die Mythen, die (Erd)Geister, die Legenden sind entweder die Darstellungen die oder Systeme von Darstellungen, die die Natur der heiligen Dinge ausdrücken, die Tugenden und die Kräfte, die ihnen zugeschrieben werden, ihre Geschichte, ihre Beziehungen untereinander und mit den profanen 5 Dingen.“
Zwar ist es nach Durkheim nicht leicht, Gattungsmerkmale heiliger Dinge zu benennen, die sie von profanen unterscheiden. Das nahe liegende hierarchische Argument (Heiliges ist würdiger, mächtiger etc. als Profanes) bleibt ungenau. Letzten Endes bleibt nur die Andersartigkeit übrig, „um den um den Unterschied zwischen Heiligen und Profanen zu definieren. Diese Andersartigkeit genügt aber, um die Klassifizierung der Dinge erschöpfend zu charakterisieren: Denn sie ist absolut. In der Geschichte des menschlichen Denkens gibt es kein Beispiel zweier Kategorien von Dingen, die so tief verschieden und einander so radikal entgegengesetzt sind. […] Wenn auch die Kontrastformen variabel sind, bleibt die Tatsache des Gegensatzes doch allgemein.“6
Nun trifft dieser Gegensatz in der Realität von Religionen und Kulturen in der von Durkheim behaupteten Absolutheit aber keineswegs immer zu.7 Dass es verschiedene Grade des Heiligen gibt, widerspricht dabei der These Durkheims noch nicht, wenngleich es vermutlich doch Überschneidungs5
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Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übersetzt von Ludwig Schmidts, Frankfurt/Main 1981, 62. Anders als Durkheim und Marcel Mauss, die das Heilige als soziologische Kategorie verstanden Integration des Einzelnen in die Gesellschaft), vertraten Nathan Söderblom, Rudolf Otto u.a. einen phänomenologischen Ansatz, der das Heilige aus der religiösen Erfahrung des Individuums zu erklären suchte (vgl. hierzu ausführlich Gantke, Begriff, 212–271) Durkheim, ebd., 64f. Dies gilt trotz der der bekannten Aussage Nathan Söderbloms: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott. Die wahre Religion kann ohne bestimmte Auffassung von der Gottheit bestehen, aber es gibt keine echte Religion ohne Unterscheidung zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘“ (Das Heilige [Allgemeines und Ursprüngliches], jetzt in: Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, Darmstadt 1977, 76–116, hier 76.
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bereiche gibt, in denen Profanes und Heiliges changieren können.8 Geht man einmal von der biblischen Schöpfungserzählung in Gen1 aus, so gilt freilich, dass alles Geschaffene zur Welt und damit zum Profanen gehört.9 Nach Albert Lang kann deshalb nur von Gott als im eigentlichen Sinn heilig gesprochen werden; in der geschaffenen Welt begegnen allenfalls „Ausstrahlungen“ des Heiligen. Sie sind nicht als solche heilig, sondern weil sie in einer Beziehung zum Heiligen stehen. Dies bezeichnet Lang als „Relationsheiligkeit“: „Heilig bzw. geheiligt sind Gegenstände, Orte und Personen, die mit dem H[eiligen] in Berührung stehen, weil sich Gott durch sie kundgetan hat oder weil er sie zu seinem Kult besonders erwählt oder ermächtigt hat. Aber auch die Dinge u. Personen, die der Mensch für Gott u. den Dienst Gottes bestimmt und ausgeschieden hat, erhalten durch diese Ausrichtung […] eine besondere Unantastbarkeit u. treten dem Profanen nun als das Geweihte gegenüber. So werden die kultischen Orte, die zum Ritus bestimmten Dinge, besonders die Opfergaben geweiht, d. h. in den Bereich des Numinosen übergeführt […] Ihre kultische Heiligkeit ist begründet in der Heiligkeit Gottes, deren Kult sie zugeordnet sind, die sie somit repräsentieren u. vertreten.“10
Lang hat seine Vorstellung einer „Relationsheiligkeit“ aus einer christlichen Perspektive entwickelt. Trotz dieser Perspektivität ist die Vorstellung auch auf andere Religionen und Kulturen übertragbar, weil sie Heiligkeit nicht „als solche“ beschreibt, sondern in Beziehung zu Gott oder – in der Sprache der Religionswissenschaft – einem Numinosum. Gegenstände, Personen oder Schriften lassen sich demgemäß als heilig bezeichnen, wenn sie in einer (mehr oder weniger nahen) Beziehung zu einem Numinosum stehen.11
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Vgl. Gantke, Begriff, 166–212. Vgl. hierzu George Hunsinger, Heilig und profan V: Dogmatisch, in: RGG4, Band 3, 1534–1537, hier1534: „In dem Maße wie die radikale Unterscheidung zw. Gott und der Welt in der christl. Theol. anerkannt wird, lösen sich die Unterschiede zw. ‚hl.‘ und ‚profan‘ innerhalb der geschaffenen Ordnung zumeist auf. Nichts innerhalb der geschaffenen Ordnung ist seinem Wesen nach schädlich oder profan. Ebenso ist nichts Geschaffenes in sich selbst hl. Oder göttlich. Denn Gott allein ist h., und alles andere ist als Gottes Schöpfung weder hl. Noch profan, sondern lediglich wesentlich gut.“ 2 10 Albert Lang, Heilig/das Heilige II. Religionsphilosophie, in: LThK Band 5, 1960, 87–89. 11 Daniela C. Luft, Einleitung: Heilige Schriften und ihre Heiligkeit in Umgang und materieller Präsenz, in: J. F. Quack/D. C. Luft (Hg.), Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften, Materiale Textkulturen 5, Berlin/München/Boston 2014, 3–38, hier 32; vgl ebd., 25: Heiligkeit als „Beziehungskategorie der Nähe und Ferne zum göttlichen/numinosen Bezugspunkt einer Religion“, die zugleich flexibel genug ist, „um den
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Damit ist zugleich eine Einschränkung verbunden: Wenn Heiligkeit als Relationsgröße verstanden wird, dann ist sie nicht unabhängig von denjenigen, die auf diese Beziehung verweisen oder sich in ihr stehend verstehen. Dann gilt umgekehrt aber auch, dass das Heilige nicht unabhängig von denjenigen betrachtet werden kann, die darauf verweisen.12 Und noch weitergedacht: Wer eine solche Beziehung nicht zu sehen vermag oder sich ihr verweigert, wird dementsprechend auch das Numinosum selbst nicht anerkennen. Heiligkeit markiert deshalb, eben weil es sich um einen Beziehungsbegriff handelt, keinen objektiven Sachverhalt.13 Heiligkeit wird zugeschrieben – innerhalb eines religiösen Rahmens, in dem sie erkannt und angenommen ist – und lässt sich deswegen auch nicht objektiv bestimmen. „Das Heilige beschreibt den Wert, den ein Gegenstand/eine Person für Menschen besitzt, aber diese Wertschätzung ist eine religiöse und basiert auf dessen größerer Nähe zum Numinosen.“14 Sie ist auf Erfahrung angewiesen, „die man nur macht, wenn man für sie offen ist, wenn man sie erwartet und sucht. […] Die Erfahrung von Heiligkeit entsteht erst in der Interaktion von Objekten, Räumen oder anderem mit dem Menschen, der sie aufnimmt und erfährt, weil er sich des Heiligen bewusst ist.“15Gleichwohl bleibt die Frage, ob es Merkmale16 gibt, die für diese Art der Beziehung zu einem
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Gegebenheiten einzelner Religionen allgemein und deren Erscheinungsformen praktischer Nutzen Heilige-Schrift-Objekte angepasst werden zu können“ (ebd., 28). Dies muss z.B. gegenüber Mircea Eliade festgehalten werden, der in seinen Arbeiten das Heilige als Realität eigener Art (im Sinne einer kulturübergreifenden religiösen Sphäre) eher voraussetzt als begründet (vgl. Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt/M. 1984, 13–16) Selbstverständlich geht die christliche Theologie davon aus, dass es Gott „gibt“ (Jak 2,19) und dass er sich in Jesus Christus den Menschen gezeigt hat (Joh 1,18). Das ist aber nur innerhalb des christlichen Denkhorizonts plausibel und wahr. Man mache einfach nur die Gegenprobe und frage Christen, ob sie den Koran als endgültige Offenbarung Gottes und als heilige Schrift ansehen wollen. Luft, Schriften, 33. Luft, Schriften, 29. Luft, Schriften, 5f. geht von drei Merkmalen des Heiligen aus, nämlich von der „Annahme, dass das Heilige im Außeralltäglichen zu verorten ist und dass es sich zudem um etwas handelt, das in Beziehung zu einem wie auch immer gearteten Numinosen (als übergreifender Begriff gemeint) steht“; der Hinweis auf das Außeralltägliche ist aber z.B. für das Christentum problematisch … ferner können „neben ideellen Vorstellungen zum Heiligen … auch unterschiedlichste Objekte und Räume als heilig angesprochen und identifiziert“ werden; schließlich vereinen heilige Schriften in besonderem Maß „sowohl den Objektzugang als auch den über (im weitesten Sinn) religiöse Vorstellungen in sich.“ Vgl. ebd., 17: Inhaltlicher Stellenwert, konkrete Objekthaftigkeit und Bewertungskategorie im Verhältnis zum Numinosen.
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Numinosen charakteristisch sind. Dies wird im Folgenden an einem spezifischen Phänomen behandelt, dem der heiligen Schriften. 2.
Heilige Schriften
Dass Heiligkeit als Relationsbegriff zu bestimmen ist, gilt in gleicher Weise für heilige Schriften. Auch wenn bestimmte Schriften innerhalb einer Religionsgemeinschaft als heilig gelten, können sie von Menschen außerhalb dieser Gemeinschaft als bedeutungslos angesehen werden.17 Heiligkeit ist deshalb keine Eigenschaft, die einer bestimmten Schrift objektiv innewohnt. Religionsintern gelten sie aber als grundlegende Referenz. Die Art und Weise dieser Referenz kann allerdings unterschiedlich ausgestaltet sein. Am Beispiel der sogenannten Buchreligionen kann dies deutlich gemacht werden. Bekanntlich unterscheiden sich das Christentum und der Islam in der Bewertung von Bibel und Koran erheblich voneinander: Während das Christentum von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ausgeht und das Neue Testament als Urkunde und zugleich grundlegende erste Deutung dieser Offenbarung versteht, ist im Islam der Koran selbst das geoffenbarte Wort Gottes; grob gesprochen hat der Koran im Islam deshalb den Stellenwert, den im Christentum Christus innehat. Dass dies Konsequenzen für das Verständnis und die Interpretation der beiden Schriften hat, liegt auf der Hand. Der Begriff der Buchreligion bezieht sich deshalb recht verstanden eher auf das „Objekt Buch“ als auf dessen Inhalt oder Interpretation. Im Blick auf die Objekthaftigkeit der Schrift ist es aber durchaus angemessen, Islam und Christentum und ebenso das Judentum, auf dem beide aufruhen, 18 als „Buchreligionen“ zu verstehen. 17 Dies kann sogar so weit gehen, dass diese Schriften als ketzerisch angesehen werden; damit wird aber der Heiligkeitsdiskurs nicht verlassen, sondern in sein Gegenteil verkehrt. 18 Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, 148, unterscheidet Kult- und Buchreligionen. Während in der Kultreligion die religiösen Texte „in das Ritual eingebettet und ihm untergeordnet“ seien, werde in der Buchreligion „der Text in Form kanonisierter Schriften das Entscheidende, und das Ritual hat nur noch rahmende und begleitende Funktion“ – deshalb spricht Assmann in diesem Zusammenhang von „sekundärer Religion“. Den kanonischen Texten stellt er „kulturelle Texte“ entgegen, die ebenfalls eine Sinnwelt strukturierten und Identität stifteten, die aber veränderbar seien und im Blick auf die jeweiligen Bedürfnisse angepasst würden (ebd., 150). Die Unterscheidung Assmanns ist allerdings sehr schematisch und nimmt die multiple Bedeutung heiliger Schriften gerade in den Buchreligionen (mit ihren Ritualen und ihrem Lebensweltbezug) nicht wirklich ernst. Richtig bleibt allerdings, dass die Kanonisierung von Schriften immer auch mit einer Bedeutungsreduktion anderer religiöser Schriften einhergeht.
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2.1 Die heiligen Schriften gelten als zentrale Dokumente der jeweiligen Religion. Dies bedeutet allerdings nicht, das in ihnen alle „wesentlichen Glaubensinhalte in systematisierender Weise“ enthalten sind.19 Neben der Hebräischen Bibel stellen die religiösen Vorschriften und deren Kommentierungen, die in der talmudischen Literatur zusammengefasst sind, eine zweite Säule jüdischen Glaubens, Denkens und Handelns dar.20 Neben die christliche Bibel treten Glaubensbekenntnisse, dogmatische Festlegungen, Bekenntnisschriften und Katechismen, in denen die Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens zusammengefasst sind.21 Und im Islam steht die Sunna mit ihren gesammelten Aussprüchen und Gewohnheiten des Propheten Muhammad mit nahezu gleichem Recht neben dem Koran.22 Die zentrale Bedeutung und Wertschätzung, die die grundlegenden heiligen Schriften in diesen Religionen einnehmen, sind „bis zu einem gewissen Grad relativ unabhängig davon, in welchem Verhältnis der Inhalt einer solchen Schrift zu den wesentlichsten Glaubensgrundlagen steht.“23 Dies hat Auswirkungen auf den Stellenwert der heiligen Schriften in dem gesamten Vorstellungssystem der Religionen und auf ihre Interpretation. Wenn eine Heilige Schrift selbst für viele Angehörige einer Religion unverständlich ist (Koranarabisch, Kirchenlatein oder der hebräische Text, der in der Diaspora nur noch eingeschränkt verständlich war), dann müssen entweder bestimmte Auslegungsinstanzen oder weitere Schriften oder beide die Vermittlungsaufgabe übernehmen. Diese Funktion kommt im Judentum der talmudischen Literatur zu, die „für die religiösen Vollzüge bald 24 wichtiger wurde als die Bibel.“ Im Christentum und hier besonders im Katholizismus bestimmen Tradition und Lehramt die Auslegung der Bibel mit; im Protestantismus hat die Bibel durch das sola-scriptura-Prinzip zwar eine unangefochtene Vorrangstellung, durch sogenannte Kernstellen und Überschriften, in denen lutherische Theologie Ausdruck gewinnt, wird aber auch in der Lutherbibel die Bibellektüre gelenkt.25 Und wenn der Theorie 19 Luft, Schriften, 11. 20 Zu Mischna und Gemara als grundlegenden Teilen des Talmuds vgl. Günter Stemberger, Der Talmud. Einführung, Texte, Erläuterungen, München 1987. 21 Vgl. hierzu u.a. Irene Dingel (Hg.): Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche: Vollständige Neuedition, Göttingen 2014. 22 Vgl. hierzu Adel. Th. Khoury, Der Islam. Sein Glaube, seine Lebensordnung, sein Anspruch, Freiburg/Basel/Wien 41988, 42–44. 23 Luft, Schriften, 11.30. 24 So Konrad Schmid in seinem Artikel im vorliegenden Heft. 25 Auch in der aktuellen Revision der Lutherbibel sind die Kernstellen beibehalten: „Die Hervorhebung von Kernstellen durch eine besondere Schriftart ist ein Proprium der Lu-
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nach die Lesungen und Predigttexte im Gottesdienst im Lauf von sechs Jahren einen großen Teil der biblischen Tradition abdecken, so trifft dies allenfalls den Verstehenshorizont der theologischen Fachleute. Im Islam sunnitischer Prägung entfaltet die Sunna, die Überlieferung des Propheten und seiner Vertrauten, für den Alltag der Muslime oft prägendere Kraft als der Koran selbst. In jeder dieser drei Religionen haben wir es mit einer „abgestuften Heiligkeit“ ebenso zu tun wie mit hermeneutischen Rahmenbedingungen, in die das Lesen und Verstehen der heiligen Schriften eingeordnet wird. 2.2 Die Wertschätzung, die einer heiligen Schrift entgegengebracht wird, bezieht sich freilich nicht nur auf ihren Inhalt, und das Lesen der Texte macht dementsprechend nur einen Teil dessen aus, was im Umgang mit der 26 Schrift Bedeutung hat. Die aufgeschlagene Bibel auf dem Altar einer christlichen Kirche, der oberste Platz für den Koran in einem Buchregal oder der bekrönte Schrein (aron ha-kodesch) für die Torarolle in der Synagoge verweisen auf die Achtung, die dem heiligen Buch als solchem entgegengebracht wird. Als Objekte sind die Schriften „Teil der menschlichen Umgebung, können durch ihre bloße Existenz teilnehmen an Interaktionen mit Menschen, die ihnen begegnen. […] Sie nehmen für die Zeit ihrer Existenz eine Position im Raum ein, stehen in Beziehung zur Umgebung, zu anderen Objekten, finden sich an Orten, an denen sie gesehen oder nicht gesehen werden können. Mit ihnen und an ihnen kann menschliche Handlung stattfinden. Nicht zuletzt – und eventuell durch die Handlung und ihr Arrangement im Raum bestimmt – werden sie von Menschen mit Bedeutung versehen, regen sie in Menschen unterschiedliche Gefühle an, lösen Emotionen aus.“ Betrachtet man „die Textträger als solche, wird der Inhalt ein Faktor neben anderen, wie z.B. der Materialbeschaffenheit; und für die therbibel, das es so in keiner anderen Bibelübersetzung gibt und das auf den Reformator selbst zurückgeht. Er hat damit zunächst nur wenige ausgewählte, im Laufe der Zeit aber immer mehr Worte hervorgehoben, die beim Lesen der Bibel helfen sollten“ (Christoph Kähler, Die Revision der Lutherbibel zum Jubiläumsjahr – 500 Jahre Reformation, in: Hannelore Jahr [Hg.], „… und hätte der Liebe nicht“. Die Revision und Neugestaltung der Lutherbibel zum Jubiläumsjahr 2017: 500 Jahre Reformation, Stuttgart 2016, 7–20, hier 19. 26 Vgl. hierzu und zum Folgenden Luft, Schriften, 14: „Buchreligionen erschöpfen sich nicht in Theologie. Die Praxis der Religion stellt eine weiter Ebene dar, die für das strukturelle Verstehen einer Religion von Bedeutung ist.“ Außerdem verweise ich auf Eilert Herms, der zwischen der Existenz und dem Inhalt der Schrift unterscheidet (Was haben wir an der Bibel? Versuch einer Theologie des christlichen Kanons, in: JBTh 12, 1998, 99–152.
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meiste Zeit des menschlichen Umganges mit einem Textträger reicht allenfalls das Wissen um den Inhalt aus – keinesfalls nur, aber natürlich auch bei illiteraten Handelnden.“ Aus diesem Grund können auch äußere Faktoren wie der Beschreibstoff27, die Herstellungsart, die Aufbewahrung und der Umgang mit heiligen Schriften hohe Bedeutung erlangen. Am deutlichsten lässt sich dies an der Tora-Rolle zeigen, die „derart substanzhaft mit der göttlichen Heiligkeit verbunden vorgestellt (ist), dass sie nicht weniger als eine unmittelbare Präsenz und Erfahrbarkeit der göttlichen Gegenwart garantiert. Hier ist ein Objekt darüber, dass es die Heilige Schrift (Inhalt) trägt, derart mit Bedeutung aufgeladen, dass es selbst zu einem zentralen Kultgegenstand wird – und dementsprechend eine Fülle von Umgangsvorschriften (Regelungen bei der Materialauswahl, Reinigungsriten der Schreiber, Ehrbezeugungen 28 vor dem Objekt, Bestattung …) an dieses gebunden werden.“ Die respektvolle Bestattung einer unbrauchbar gewordenen Torarolle ist hier das eindrücklichste Beispiele; die Tora und liturgische Schriften, die das Tetragramm oder andere Gottesbezeichnungen enthalten, dürfen nicht einfach weggeworfen werden, sondern werden in einer Geniza, einem Raum zur Aufbewahrung unbrauchbar gewordener Schriften, „bestattet“. Für den Umgang mit dem Koran sind ebenfalls bestimmte Regeln einzuhalten, die sowohl den Umgang mit dem Koran selbst als auch seine Rezitation betreffen. Ausgehend von Sure 73,4 („Trage den Koran auf deutlich Weise vor“) hat sich die Kunst der Koranrezitation (ʿilm at-taǧwīd) als Teil der Wissenschaft von den Koranlesarten entwickelt, die durch Anweisungen 29 zum korrekten Benehmen vor und während der Rezitation ergänzt wird (vor allem die rituelle Reinheit und die Ausrichtung zur Quibla, der Gebetsrichtung nach Mekka, bei der Rezitation). Im Christentum gelten für den Umgang mit der Bibel dagegen keine besonderen Vorschriften.30 Zwar 27 Er spiegelt in der Regel den Wert wider, der dem darauf festgehaltenen Inhalt zugesprochen wird. 28 Luft, Schriften, 23. Zu den Vorschriften beim Anfertigen einer Tora-Rolle vgl. Hanna Liss., Vom sefer tora zum sefer: Die Bedeutung von Büchern im „Buch der Frommen“ des R. Yehuda ben Shemu’el he-Chasid, in: Quack/Luft, Erscheinungsformen (vgl. Anm. 11), 207–227, besonders 209–211. 29 Vgl. Kristina Nelson, The Art of Reciting the Qurʾan, Kairo, 2001. Unter „Anstandsregeln für das Lesen des heiligen Qurân“ die Regeln leicht verständlich unter http:// www.islamweb.net/grn/index.php?page=articles&id=154057 aufgelistet (Zugriff am 2.11. 2016). 30 Bruno Reudenbach, Der Codex als Verkörperung Christi. Mediengeschcihtliche, theologische und ikonographische Aspekte einer Leitidee früher Evnaglienbücher, in: Quack/
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wird dem Bibelbuch Achtung entgegengebracht, wie z.B. der Umgang mit der Bibel im Gottesdienst oder die Wertschätzung einer über Generationen weitergegebenen Familienbibel zeigen (die man sich im Umgang mit Schulbibel bisweilen auch wünscht). Darüber hinaus gelten aber keine weiteren Vorschriften, und auch eine unbrauchbar gewordene Bibel erfordert keinen besonderen Umgang mehr. Dass die Bibel und ihre Texte in künstlerischästhetischen Zusammenhängen breit aufgegriffen werden, zeigt freilich ihre Wirkung selbst in säkularisierten Kontexten. Vielfach jedenfalls ist ersichtlich, dass „das Zusammenspiel zwischen der Gestaltung des textlichen Objekts und/oder seiner kontextuellen Einbindung in Verwendungsrahmen zusammen mit dem Inhalt für die Schaffung von Sinn und Bedeutung rele31 vant ist.“ Der konkrete Umgang mit heiligen Schriften stellt ein nicht zu vernachlässigendes Element ihrer Bedeutung dar. Offensichtlich ist es nicht nur ihr Inhalt, der sie zu heiligen Schriften macht. 2.3 Die besondere Geltung heiliger Schriften steht häufig in Zusammenhang mit ihren Autoren, denen besondere Einsicht zugesprochen wird, von dem Religionsgründer, frühen Repräsentanten der jeweiligen Religion oder – in einem darüber hinausgehenden Gedankenschritt – von Gott selbst mittels einer Offenbarung. Dies hebt heilige Schriften von allen anderen Schriften ab. Oft ist damit der Gedanke der Inspiration verbunden; mit ihr kann die Vorstellung verknüpft sein, dass die Schriften schon vor ihrer Niederschrift in einer jenseitigen Welt existiert haben. Dies ist besonders im Judentum und im Islam der Fall: nach dem Talmudtraktat bSchab 88b empfing Mose am Sinai die Tora, die aber schon vor der Schöpfung bei Gott als Geheimnis vorhanden war, und für Muslime sind die Wendungen von der „wohl verwahrten Tafel“ (Sure 85,21f.), vom „verborgenen Buch“ (Sure 56,77f.) und von der „Mutter des Buches“ (Sure 3,7; 13,39; 43,4) Hinweise auf den bei Gott von allem Anfang an vorhandenen Koran. Dementsprechend ist der Koran Gottes offenbartes Wort, das sich wortwörtlich Gott verdankt (vgl. Sure 36,69f.; 43,2–4). Auch die orthodoxe jüdische Interpretation geht von der direkten Herkunft der Tora von Gott aus, während das konservative und 32 erst recht das liberale jüdische Verständnis davon ausgeht, dass die Tora ein Luft, Erscheinungsformen (vgl. Anm. 11), 229–244, verweist auf den Kodex als signum christlicher Schriftbedeutung. Dies gilt zwar für die Frühzeit der neutestamentlichen Schriften, kann aber, nachdem der Kodex sich aufgrund seiner praktischen Vorzüge gegenüber der Buchrolle durchgesetzt hat, nicht mehr als Unterscheidungskriterium gelten. 31 Luft, Schriften, 21. 32 Das sogenannte konservative Judentum unterscheidet sich als eigene jüdische Denomina-
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menschliches Dokument ist, das in Reaktion auf die Gottesoffenbarung am Sinai verfasst wurde. Im Christentum hat man sich zur Begründung der Inspiration der Schrift auf 2Tim 3,16 („alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zu Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“) und 2Petr 1,21 („Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet“) berufen. Dort ist von einer göttlichen Wirksamkeit und Inspiration von Schrift und Weissagung die Rede, ohne jedoch die Art dieser Wirksamkeit festzulegen. In der christlichen Dogmatik wurde die Vorstellung von der göttlichen Inspiration der Schrift auf unterschiedliche Weise ausformuliert: Die so genannte Realinspiration sieht Gott in Jesus Christus selbst, seinem Handeln und seiner Verkündigung am Werk. Die biblischen Schriftsteller lassen sich davon ansprechen und schreiben ihre Werke unter dem Eindruck dieses Wirkens und im Glauben daran. Die Personalinspiration geht davon aus, dass die biblischen Schriftsteller von Gottes Geist bewegt wurden und so angeregt ihre Schriften verfasst haben. Am weitesten geht die Verbalinspiration, die die biblischen Autoren als Werkzeuge Gottes auffasst, die wörtlich das aufgeschrie33 ben haben, was Gott ihnen eingab. Es liegt auf der Hand, dass die Vorstellung einer Verbalinspiration (ob in Tora, Bibel oder Koran34) zwar einerseits die „Heiligkeit“ der jeweiligen Schrift am stärksten hervorhebt und sie ganz an den göttlichen Ursprung bindet, sie aber zugleich auch am stärksten reglementiert und den Gedanken der Beziehung vernachlässigt: Jüdische und christliche Bibel oder Koran sind demnach in sich und als solche absolut wahr; wer dies nicht anerkennt, befindet sich entweder im Irrtum oder macht sich – radikaler gesprochen – gegenüber der heiligen Schrift und ihrem Urheber schuldig, mit unangenehmen Konsequenzen im Jenseits. tion vom orthodoxen wie vom liberalen Judentum. Konservativ ist es im Vergleich mit dem liberalen, reformorientiert jedoch im Vergleich mit dem orthodoxen Judentum. Vgl. David Golinkin/Michael Panitz, Conservative Judaism, in: Encyclopaedia Judaica, Band 5, 2007, 171–177.; Pnina Navè Levinson, Einführung in die rabbinische Theologie, Darmstadt 31993, 9–15. 33 Vgl. hierzu beispielsweise Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 22000, 119–123. 34 Das islamische Konzept der Inspiration (Ilham, eigentlich „Verschlingen Lassen“) bezieht sich allerdings nicht auf den Koran, sondern stellt eine göttliche Mitteilung an einzelne Menschen dar und hat deshalb die die gleiche Bedeutung wie die Offenbarung für alle Menschen, die im Koran vorliegt; vgl. www.eslam.de/begriffe/i/inspiration.htm, Zugriff am 25.11.2016.
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Aus christlicher Sicht bleibt die in der Bibel bezeugte Offenbarung aber wirkungslos und insofern unvollständig, so lange sie nicht zu einer persönlichen Gewissheit führt. Martin Luther hat dies mit der Unterscheidung von Buchstabe und Geist erläutert: Die Bibel kann bloß Geschriebenes sein, ohne dass sie existenzielle Bedeutung erlangt, Buchstabe eben. Sie kann aber auch zum bewegenden und geistvollen Wort werden und zu innerer Gewissheit führen, die sich nach christlichem Verständnis dem Wirken Gottes verdankt.35 Nicht im Sinne einer formalen Autorität ist die Bibel deshalb Grund und Quelle des Glaubens, sondern auf Grund ihres Geistes und der in ihr verhandelten Sache: der Offenbarung Gottes. Diesem Kommunikationsgeschehen kann die Verbaltinspiration nicht gerecht werden. Sie versucht, die Offenbarung objektiv zu sichern, was aber nicht gelingen kann, weil selbst das so abgesicherte Bibelwort „bloßer Buchstabe“ und damit bedeutungslos bleiben kann. Umgekehrt aber kann ein Bibelwort, das anspricht und bewegt, als geistvoll und als „Wort Gottes“ erfahren werden.36 Hier sind Differenzen zwischen Muslimen und Christen, aber auch z.B. zwischen fundamentalistischen und nicht-fundamentalistischen Christen unübersehbar. Im Judentum findet sich eine Position, die die Herkunft der Heiligen Schrift von Gott mit einer großen Freiheit zur Interpretation verbindet: Zwar ist das Wort der Tora wörtlich von Gott inspiriert, bis hin zu den kleinen Zeichen der althebräischen Schrift37; da aber nicht einmal die größten Gelehrten den Reichtum der göttlichen Offenbarung umfassend erkennen können, und da auch sie sich bisweilen irren, führt die Heilige
35 Die Bibel ist geschriebener, lesbarer, deutbarer, deutungswürdiger Text und zugleich aktualisiertes, gesprochenes und anregendes Wort. Nicht bloß „Lesewort“ enthält sie, „sondern eitel Lebewort“ (Martin Luther, WA 31,1; 67 24–27). Sie ist kein Lehrbuch, sondern ein Buch des Lernens, des Glaubens und des Lebens. Zum Lebensbuch wurde und wird sie für diejenigen, die sich ihre Worte nehmen und zum eigenen Wort machen, um damit ihre Hoffnung auf Gott und ihre Sehnsucht nach einer gerechten Welt laut werden zu lassen. Vgl. hierzu auch Ernstpeter Maurer, Inspiration, in: WiBiLex, www.bibel-wissenschaft.de/wibilex, dort Artikel Inspiration (Zugriff am 20.11.2016). 36 Gerade deshalb fordert die Bibel zum Suchen auf und verknüpft es mit der Verheißung des Findens: „Bittet, so wird euch gegeben. Suchet, so werdet ihr finden. Klopfet an, so wird euch aufgetan“ (Lukas 11,9). 37 Annett Martini/Susanne Talabardon, Bibelauslegung. Jüdische, in: WiBiLex, http:// www.bibelwissenschaft.de/wibilex (Zugriff am 20.11.2016): Zu den Grundvoraussetzungen der rabbinischen Schriftinterpretation gehören Omnisignifikanz (jedes einzelne Wort und Schriftzeichen hat eine eigene Bedeutung) und Polysemanz (der Text hat stets mehrere Bedeutungsebenen, vgl. Ps 62,12).
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Schrift gerade nicht zur festgelegten Auslegung, sondern im Gegenteil zur Freiheit der Interpretation.38 2.4 In diesem Zusammenhang ist auch die Sprache von Bedeutung, in der die heiligen Schriften verfasst sind. Wenn die Aussagen dieser Schriften auf Beziehung aus sind und nur in ihr Bedeutung gewinnen, liegt auf der Hand, dass sie verstehbar sein müssen. Das großartige Projekt der Bibelübersetzung Luthers und ihres hermeneutischen Grundsatzes, bei der Übersetzung „den Leuten aufs Maul zu schauen“, zeigt dies exemplarisch an. Die Kenntnis der biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch ist aus christlicher Sicht zwar für die Erhellung des Ursprungssinns unaufgebbar, nicht aber für den Vollzug des Glaubens; das Bibelwort kann in jeder Sprache zum Zuspruch und Anspruch Gottes werden. Selbst fundamentalistische Christen lesen die Bibel in ihrer jeweiligen Sprache. In den beiden anderen Religionen geht man von einer größeren Nähe bestimmter Sprachen zum Numinosen aus. Nach islamischer Auffassung hat Gott nur im Koranarabischen seinen Willen kundgetan. So bringt bereits die Form des arabischen Alif (ein gerader Strich von oben nach unten), des ersten Buchstabens im arabischen Alphabet, die Einheit und Einzigkeit 39 Gottes zum Ausdruck. Deshalb kommt dem „Lesen“ eine andere Funktion zu. Der biblischen Frage „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30) steht koranisch die Aufforderung zum rezitierenden Lesen gegenüber. Rezitieren ist die eigentlich angemessene Form des Lesens.40 Eine Übersetzung – 38 Schon im Frühjudentum lassen sich unterschiedliche Akzentsetzungen im Blick auf die Inspiration der Schrift erkennen. Während nach der Darstellung des Aristeasbriefes (301– 307) die Übersetzer der Septuaginta durch Vergleiche in einem Wortlaut übereinkamen und die göttliche Leitung sich vor allem darin zeigt, dass die die 72 Übersetzer ihre Arbeit in 72 Tagen vollendeten, stellt Philo von Alexandrien die Übersetzung selbst als durch Gottes Eingebung geleitet dar: „[…] verdolmetschten sie wie unter göttlicher Eingebung nicht jeder in anderen, sondern alle in den gleichen Ausdrücken für Begriffe und Handlungen, als ob jedem von ihnen unsichtbar ein Lehrer diktierte“ (Vit Mos II 37). Zur Vorstellung vom göttlichen Ursprung der heiligen Schrift in der rabbinischen Theologie vgl. Paul Billerbeck (Strack-Billerbeck), Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch IV, München 51969, 435–451. 39 Nach der islamischen Mystik entspricht der erste Buchstabe des arabischen Alphabets dem Zahlenwert eins, und das Wort Allah beginnt mit einem Alif; so bezeichnet bereits dieser Buchstabe die Einheit und Einzigkeit Gottes und lädt zur Meditation ein. Wenn salafistische Prediger der Gegenwart ihre Predigten häufig mit dem erhobenen Zeigefinger unterstreichen, soll dies auf die Einzigkeit Gottes hinweisen. 40 Die zeigt sich schon am Begriff „Koran“ selbst, der „Lesung, Rezitation, Vortrag“ bedeutet. Nach Sure 72,1 haben wir „einen wunderbaren Koran gehört, der auf den rechten Weg führt“. Aus einem Hadith von Buchari geht die herausragende Bedeutung der Rezi-
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und mag sie auch noch so wortgetreu sein – ist immer nur eine Annäherung, die die Fülle des Gemeinten nicht sachgemäß zum Ausdruck bringen kann. Mit dem Rezitieren und dem Hören koranischer Verse werden dagegen heilige Worte laut, und zwar potenziell unabhängig vom Verstehen. Die Wahl der Schriftzeichen und der Sprache stellt damit bereits einen essentiell wichtigen Teil dar für die Wirksamkeit der gesamten Schriftobjekte oder der Ritualpraktiken, in denen Schriftzeichen zum Einsatz kommen.“41 Im Judentum gilt das Bibelhebräisch als die Sprache, mit der Gott „mit unseren Propheten, den späteren Rabbinern und mit uns und allen anderen, die diese Schriften studieren, in Interaktion tritt.“42 Bereits die Vokalisierung des hebräischen Konsonantentexts gilt als Interpretation43, und die griechische Übersetzung der Schriften, die sogenannten Septuaginta, wird durchaus als problematisch gesehen; jedenfalls gilt der 8. Tewet (der zehnte Monat des jüdischen Jahres), ein Tag, an dem zumindest die Frommen fasten, als unheilvoll, weil an diesem Tag die Tora ins Griechische übersetzt worden sein soll.44 Keine Übersetzung ist in gleicher Weise in der Lage die ganze Fülle des Gotteswortes zu erschließen wie der hebräische Text. Gleichwohl werden Übersetzungen auch positiv gewürdigt. Schon in der Antike waren Übersetzungen der Tora ins Aramäische notwendig (Targum), da nicht alle Juden das Hebräische verstanden, und die Septuaginta hatte natürlich den
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tation anschaulich hervor: „Das Gleichnis des Gläubigen, der den Koran rezitiert und danach handelt, ist das einer Zitruspflanze, die gut schmeckt und riecht. Und das Gleichnis für einen Gläubigen, der den Koran nicht rezitiert, aber nach ihm handelt, ist das einer Dattel, die gut schmeckt, aber nicht duftet. Und das Gleichnis des Heuchlers, der den Koran rezitiert, ist das von Basilikum, das gut riecht, aber bitter ist. Und das Gleichnis für den Heuchler, der den Koran nicht rezitiert, ist das einer Koloquinte, die bitter schmeckt und keinen Duft hat“; Sahīh al-Buchārī, Band 6, Buch 61, Hadith 579 vgl. Dieter Ferchl (Hg.), Sahīh al-Buchārī. Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad, Stuttgart 1991. Vgl. auch Frederick M. Denny, Qur’an Recitation: A Tradition of Oral Performance and Transmission, in: Oral Tradition 4/1–2, 1989, 5–26. Luft, Schriften, 24. Markus Sternecker, Umgang mit der Heiligen Schrift – Praxiserfahrungen aus dem jüdischen Religionsunterricht, in: B. Schröder u.a. (Hg.) Heilige Schriften, RPE 6, 228f. (im Druck). Vgl. hierzu ausführlicher Marianne Grohmann, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1999, 78f. Vgl. hierzu Stemberger, Text, 63, sowie http://www.juefo.com/judentum/die-juedischenmonate/385-der-monat-tewet. html, am 30.11.2016. Der 8. Tewet wird auch mit dem Tag gleichgesetzt, an dem das Goldene Kalb angefertigt worden sein soll.
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Zweck, die Tora den griechisch sprechenden Juden zugänglich zu machen.45 So ermöglichten diese und ermöglichen heutige Übersetzungen den Zugang zu den Schriften des Tanach, aber sie sind sozusagen Mittel zum Zweck: „Das Ziel der jüdischen Erziehung … muss sein, dass wir unsere heiligen Schriften, zu denen seit ihrer Aufzeichnung auch Mischna und Talmud gehören, im Urtext verstehen, um ihren Geist unversehrt in uns aufzunehmen und im Leben zu betätigen.“46 2.5 Die heiligen Schriften bilden weiterhin einen mehr oder weniger verbindlichen Kanon der als authentisch geltenden Überlieferung.47 Für eine Religion wie das Judentum, dessen Schriften über einen sehr langen Zeitraum hinweg entstanden sind, ergibt sich das Problem der Kanonisierung gleichsam „von selbst“. Keine der Schriften der Hebräischen Bibel ist als „heilige Schrift“ entstanden, erst im Nachhinein wurden sie als solche anerkannt und ihr Bestand festgelegt, wobei bereits der Kanon der hebräischen Schriften sich vom Kanon der Septuaginta unterscheidet. Das entstehende Christentum hat daran insofern Anteil, als es die Schriften des „Alten Tes48 49 taments“ als heilige Schrift übernimmt. Aber auch diejenigen Schriften, die im frühen Christentum neu hinzutreten, gelten nicht von vornherein als kanonisch, sondern werden dies erst in einem längeren Selektionsprozess. Dabei geht sowohl im Judentum als auch im frühen Christentum mit der Kanonisierung von Schriften eine Abwertung bestimmter Schriften einher, die zum Teil absichtsvoll nicht kanonisiert werden, weil sie mit den Grundsätzen der Kanonbildung nicht oder nur einschränkt kompatibel sind, oder die für die Kanonisierung nie in Frage kamen, gleichwohl aber in hohem 50 Ansehen standen oder stehen. 45 Vgl. hierzu Annette M. Boeckler, Mit anderen Worten, Veröffentlichungen des Zenralrats der Juden in Deutschland 12. Jahrgang Nr. 9/28. September 2012, http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3829.mit-anderen-worten.html am 30.11.2016. 46 Selig Bamberger (Hg.), Raschis Pentateuch-Kommentar, Basel 2202. 47 Das genaue Festhalten an einem bestimmten Überlieferungsbestand ist vor allem in Religion wichtig, die ihre Schriften auf eine göttliche Offenbarung zurückbeziehen. 48 Der Katholizismus bezieht sich dabei auf die Septuaginta, während die protestantischen Kirchen auf den Tanach zurückgreifen, gleichwohl aber die Reihenfolge der einzelnen Bücher nach der Septuaginta anordnen. 49 Die christlichen Verfasser des Neuen Testaments gehen davon aus, dass sich die jüdischen Schriften im vollen Sinn erst vom Wirken Jesu aus erschießen, gleichwohl aber unaufgebbar bleiben. 50 Für das frühe Christentum gilt dies beispielsweise für die Klemensbriefe oder die Theklaakten, auch wenn sie von einzelnen Kirchenvätern kritisiert wurden.
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Der Islam beruft sich demgegenüber auf eine Offenbarung Gottes, die dem (des Schreibens unkundigen Muhammad) durch den Engel Gabriel in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum zuteilwurde und mit der letzten geoffenbarten Sure abgeschlossen war. Zu Lebzeiten des Propheten wurden seine Worte sorgfältig aufbewahrt, allerdings als lose Sammlung; nach seinem Tod wichtiger Gefolgsleute bemühte man sich die offenbarten Worte vor Veränderung und Verfälschung zu bewahren. Abu Bakr, der Schwiegervater Muhammads sammelte als erster Kalif Koranteile und ergänzte sie durch mündliche Miteilungen. Der dritte Kalif, Uthman, ließ aufgrund dieser Sammlungen ein Koranwerk erstellen, das in der Folge als Standard51 werk angesehen wurde und bis heute Gültigkeit hat. Die im Vergleich mit der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament vergleichsweise kurze Entstehungszeit des Korans wird von Muslimen als Argument für seine Authentizität gewertet. 2.6 Die Schriften der drei Religionen gelten als normativ: Glaubensfragen, ethische Probleme und/oder rituelle Abläufe werden im Rückgriff auf sie entschieden. Diese Entscheidung hat einen hohen Grad an Verbindlichkeit, verdankt sich aber einer unterschiedlichen Hermeneutik. Die rabbinische Hermeneutik geht von der Schrift als Offenbarung aus, die alles enthält: „Wende und wende die Tora, denn alles ist in ihr“ (Pirque Aboth 5,22). Interpretation gehört deshalb von Anfang an als Prinzip zur 52 Tora hinzu ; sie umfasst auch die Anwendung der Tora auf die jeweils sich ändernden Lebensbedingungen ihrer Ausleger. Von hier aus erklärt sich die Hochschätzung der „mündlichen Tora“. Wenn nämlich die schriftliche Tora eine unendliche Fülle an Auslegungsmöglichkeiten eröffnet, besteht die Gefahr einer völligen Beliebigkeit der Auslegung. Die mündliche Tora, die in der Gemeinschaft der Gläubigen tradiert wird, weist in dieser potenziellen Beliebigkeit den religiös gangbaren Weg.53 Eine Anekdote in bSchab 31a verdeutlicht nicht nur den unterschiedlichen Charakter der beiden Lehrer Schammai und Hillel, sondern auch den unauflöslichen Zusammenhang von schriftlicher und mündlicher Tora: „Einst trat ein Nichtjude vor Schammai und sprach zu ihm: Wieviel Torot hab ihr? Dieser erwiderte. Zwei; eine schriftliche und eine 51 Vgl. Adel Th. Khoury, Der Islam. Sein Glaube, seine Lebensordnung, sein Anspruch, 4 Herder Spektrum 4167, Freiburg/Basel/Wien 1996, 36f. 52 Belege bei Günter Stemberger, Vollkommener Text in vollkommener Sprache. Zum rabbinische Schriftverständnis, in: JBTh12, 1998, 53–65, hier 59. 53 Vgl. hierzu Sternberger, Text, 64f.
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mündliche. Da sprach jener, mache mich zum Proselyten (d.h. erlaube mir den Übertritt zum Judentum), unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst. Dieser schrie ihn an und entfernte ihn mit einem Verweis. Darauf trat er vor Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten. Am ersten Tag lehre er ihn Aleph, Beta, Gimel, Dalet (d.h. die ersten vier Buchstaben des hebräischen Alphabets), am folgenden Tag aber lehrte er ihn umgekehrt. A sprach jener: Gestern hast du mich ja anders gelehrt! Dieser erwiderte: Wenn du dich auf mich verlässt, so verlas dich auch auf mich bezüglich der mündlichen Tora.“
Die Bindung an die jüdische Auslegungsgemeinschaft bewirkt auch, „dass nach rabbinischer Auffassung ein Nichtjude zwar den Text der Bibel haben mag, er ihn aber doch nicht richtig auszulegen versteht, sondern ständig Missverständnissen unterliegt.“54 In der christlichen Theologie wird die Bedeutung der Auslegungstraditiion unterschiedlich bewertet. Die protestantische, insbesondere die lutherische Theologie verleiht der Bibel den Rang der „norma normans“ (also der normierenden Größe), während die Bekenntnisschriften als „norma normata“ gelten.55 Schon innerhalb der lutherischen Theologie differiert aber das Verständnis der Bekenntnisschriften, je nachdem, ob die Beziehung der Bekenntnisschriften zur Bibel eng ist, weil sie sich oder insofern sie sich auf die Bibel beziehen. Bezieht man die katholische Position mit ein, so zeigt sich, dass hier die Lehrtradition höher bewertet wird. Zwar wird auch im Katholizismus der Vorrang der Schrift prinzipiell nicht in Frage gestellt. Es geht allerdings um die kritische Funktion der Schrift gegenüber der Tradition und umgekehrt um die Bedeutung der Tradition für die Auslegung der 56 Schrift. Sie „vor Verirrungen und Glaubensschwäche“ zu schützen und „den ursprünglichen Glauben irrtumsfrei zu bekennen“ ist Aufgabe des Lehramts.57 Genau dagegen wandte sich bereits Luther, der festhielt, „dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle
54 Stemberger, Text, 64. 55 Vgl. Artikel 1 der Konkordienformel aus dem Jahr 1577: „Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen, sind allein die prophetischen und apostolischen Schriften altes und neues Testament …“ 56 Von katholischer Seite wird darauf hingewiesen, dass die Schrift die Tradition nicht nur kennt und empfiehlt (1Kor 11,2.23; 2Thess 2,15; 3,6; 2Petr 2,21 Jud 3), sondern selbst in einem langen Tradierungsprozess entstanden ist, wie umgekehrt die Tradition ihre Inhalte weitgehend aus der Schrift nimmt. 57 Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, 262.
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Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen.“58 Das Verhältnis von (Lehr-) Amt, Tradition und Schrift gehört deswegen zu den schwierigen Fragen im innerchristlich-konfessionellen Dialog. Im Islam ist die Sunna, d.h. die Überlieferung von dem vorbildlichen Leben Muhammads, die zweite Hauptquelle neben dem Koran. Ihre Bedeutung ist im Koran grundgelegt: „Gehorcht Allah und Seinem Gesandten, wenn ihr gläubig seid!“ heißt es in Sure 8,1.46; 3,32 u.ö.). Den Worten des Propheten zuwiderzuhandeln wird ausdrücklich verboten (Sure 58,5.20 u.ö.), und Sure 33,36 hält fest: „Weder für einen gläubigen Mann noch für eine gläubige Frau gibt es, wenn Allah und Sein Gesandter eine Angelegenheit entschieden haben, die Möglichkeit, in ihrer Angelegenheit zu wählen. Und wer sich Allah und Seinem Gesandten widersetzt, der befindet sich ja in deutlichem Irrtum.“ Dementsprechend gilt umgekehrt: „Wer dem Gesandten gehorcht, der gehorcht Allah“ (Sure 4,80). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im Alltag die Vorschriften und das Beispiel Muhammads eine größere Bedeutung haben als der Koran selbst 3.
Vermittlung
Dass die heiligen Schriften an die junge Generation weitergegeben werden sollen, ist in ihrer grundlegenden Bedeutung für die jeweiligen Religionen begründet. Mit dem Kennenlernen der Schriften können junge Menschen zugleich eigene Erfahrungen im Umgang mit einem zentralen Element der jeweiligen Religion machen. Dies gilt auch im Blick auf das Kennenlernen anderer Religionen; neben Alltagserfahrungen spielen auch hier die heiligen Schriften im Unterricht eine zentrale Rolle. Mitchell hat in seinem Beitrag zu Heiligen Christen und interkultureller Begegnung auf drei grundlegende hermeneutische Herangehensweisen an Texte aufmerksam gemacht: Reading „behind the Text“, „in the text“ und 59 „in front of the text“. „Reading behind the text“ fragt nach Entstehungsbedingungen, Herkunft, Motiv- und Traditionsgeschichte sowie sozialen und historischen Rahmenbedingungen von Texten; „reading in the text“ bezieht sich auf die Textaussagen selbst, ihre Aussage- und Wirkabsicht sowie ihre literarisch-ästhetische Qualität; „reading in front of the text“ hat 58 WA 11, 408–416. 59 Gordon Mitchell, Heilige Schriften und interkulturelle Begegnung, in: P. Schreiner/U. Sieg/V. Elsenbast (Hg.), Handbuch interreligiösen Lernens, Gütersloh 2005, 657–577. Die hermeneutische Diskussion ist sehr viel differenzierter als diese Schlagworte, die jedoch die Problematik gut auf den Punkt bringen.
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die Rezeption der Texte im Blick, die kulturell vermittelt sind (z.B. Literatur, Theater, Film) oder persönliche verantwortet werden. Diese Zugangsweisen stehen in den drei Religionen in unterschiedlicher Weise in Geltung. Kinder die Tora zu lehren hat im Judentum einen außerordentlich hohen Stellenwert und ist nach Dtn 11,19 Pflicht. Nach den „Sprüchen der Väter (Aboth 5,24) soll man mit fünf Jahren die Heilige Schrift lesen, mit zehn die Mischna, mit dreizehn die Gebote erfüllen und mit fünfzehn den Talmud studieren. Schon der Dreijährige lernt das Sch’ma Israel (Dtn 6,4 „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein“), und die Kinder werden an den familiären Festlichkeiten entlang in die Tradition eingeführt: „Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Sohn sagen …“ (Dtn 6,20 im Blick auf das Passafest). Mit dreizehn Jahren ist der Sohn religionsmündig und zählt bei der notwendigen Zahl 60 der Besucher für den Synagogengottesdienst mit. Vor diesem Hintergrund sind die Talmud-Stellen zu verstehen, die die Wichtigkeit des Lernens hervorheben: „Die Welt besteht nur durch den Hauch der Schulkinder“ (bSchab 119b), und nach Jeb 1b wäre nicht einmal die Arbeit am Tempel ein hinreichender Grund Kinder vom Unterricht abzuhalten. Alle wichtigen Quellen des Judentums führen „den Lehr- und Lernbegriff im Titel […]: Tora, Talmud, Mischna, Gemara, Mischne Tora, Mischna Brura“, und das Lernen wiegt alle anderen religiösen Pflichten auf.61 Dabei geht es nicht lediglich um das Lesen und Lernen der Texte, sondern um ihre Aktualisierung („reading in front of the text“), wie schon Dtn 6,21–23 zeigt: Wer sich an den Auszug Israels aus Ägypten erinnert, stellt sich selbst in diese Tradition hinein und spricht sie nach als habe er sie selbst erlebt.62 In der Traditionsvermittlung kommt es deshalb darauf an, wie die „Geschehnisse von damals im religiösen Gedenken verarbeitet und was sie für das religiöse Bewusstsein der Juden bis heute bedeuten“, deshalb sind Kenntnisse in der jüdischen Bibelauslegung 60 Vgl. Sternecker, Umgang, 228: „Zentrales Ziel des jüdischen Religionsunterrichts ist es, jüdischen Schülerinnen und Schülern die Kompetenz zu vermitteln, am Synagogeng’ttesdiest aktiv teilhaben zu können.“ 61 So Daniel Krochmalnik, Jüdische Religionslehre, -pädagogik und -didaktik, auf der Homepage der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, http://www.hfjs.eu/hochschule/leh-re/religion.html 62 Dtn 6,21–23 „Wir waren Knechte des Pharaos in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand; und der HERR tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unseren Augen und führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unseren Vater geschworen hatte.“
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und der rabbinischen Literatur für Lehrkräfte unerlässlich, aber auch für Schüler/innen gefordert.63 „Für die jüdische Religionspädagogik ergibt sich aus dieser einzigartigen Hochschätzung des ‚Lernens‘ in der jüdischen Tradition die Möglichkeit und Aufgabe, ihre Grundbegriffe aus den jüdischen Quellen zu entwickeln und so einen eigenen Stand in der gegenwärtigen Religionspädagogik zu behaupten.“64 Das Kennenlernen der Bibel spielt in der Traditionsvermittlung des Christentums eine große Rolle, mit Abstufungen in den verschiedenen Konfessionen. Im Protestantismus ist dies durch den Grundsatz „allein die Schrift“ (sola scriptura) grundgelegt. Seit dem „hermeneutischen Religionsunterricht“ und der Schülerorientierung bzw. auf katholischer Seite der Korrelationsdidaktik wird in der christlichen Religionspädagogik dabei großer Wert auf das Verstehen der Texte gelegt. Verstehen ist nicht lediglich als intellektueller Nachvollzug gefasst, sondern schließt das Sich-in65 Beziehung-Setzen zu den Texten mit ein. Ob Kinder und Jugendliche die biblische Botschaft für sich selbst gelten lassen, liegt jedoch in ihrer freien Entscheidung. Zum Verstehen der Botschaft im Sinne einer „Auslegungskompetenz“ kann der Unterricht aber anleiten. Hierzu dienen Kenntnisse, die den Umgang mit der Bibel erleichtern, Grundkenntnisse zum Inhalt der Bibel66 sowie die Einübung in einen selbständig-verstehenden Umgang mit biblischen Texten mit dem Ziel, „die Bibel als ‚Lebensbuch‘ eigenständig und reflektiert gebrauchen und auf das eigene Leben beziehen zu können“67 – und zwar unter Berücksichtigung der Freiheit von Schülerinnen und Schülern zum eigenen Urteil.68 Der Katechismusunterricht spielt demge63 Vgl. Sternecker, Umgang, 229. 64 Krochmalnik, ebd. Die Tora „Tag und Nacht zu lernen“ Jos 1,8 ist deshalb zum Motto der Hochschule geworden. 65 Vgl. hierzu Mirjam Schambeck, Bibeldidaktik. Grundfragen, in: WiReLex, https://www. bibelwissenschaft.de, Zugriff am 24.11.2016. 66 Vgl. hierzu Peter Müller, Schlüssel zur Bibel. Eine Einführung in die Bibeldidaktik, Stuttgart 2009. 67 Cornelia Weber, „Verstehst du auch, was du da liest?“ Die Bibel im Evangelischen Religionsunterricht, in: B. Schröder u.a. (Hg.) Heilige Schriften, RPE 6, 228f. (im Druck), 248. 68 Vgl. Mirjam Schambeck, Bibeldidaktik. Grundfragen, in: WiReLex (Zugriff am 1.12.16): „Biblisches Lernen erreicht damit nicht erst dort sein Ziel, wo Menschen die Worte der Bibel als Wort Gottes lesen, das auch an sie selbst gerichtet ist und von ihnen für ihr Leben in ‚Gebrauch genommen‘ wird. Biblisches Lernen – zumindest im Religionsunterricht – ist auch dort schon gelungen, wo Schüler und Schülerinnen um biblische Erzählungen, Deutungen und vom Wort Gottes geprägte Lebensentscheidungen wissen, sie verstehen und beurteilen können, um so eine eigene, begründete Position in Bezug auf den Gehalt und die Gestalt biblischer Aussagen zu gewinnen.“
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genüber im schulischen Religionsunterricht kaum mehr eine Rolle, im kirchlichen eine geringe.69 Für Muslime ist der koranische Satz „Gutes gebieten und Schlechtes verbieten“ (Sure 3,110) grundlegend. Das Tun des Guten und die Abkehr vom Schlechten zeichnen zusammen mit dem Glauben an Allah die „beste menschliche Gemeinschaft“ der Muslime aus.70 Gerechtigkeit gilt als besondere Tugend (vgl. Sure 5,8 u.ö.), im öffentlichen wie im privaten Leben, ebenso die Liebe zur Wahrheit (Sure 33,70f.188 u.ö.), Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit ebenso (Sure 33,70f.; 70,32–35). Was das Gute ist, erkennt der Mensch nach islamischer Auffassung aber nicht aufgrund eigener Einsicht oder objektiver Normen, sondern in der Bindung an Gottes Willen: „Wir hätten unmöglich die Rechtleitung gefunden, wenn uns Allah nicht rechtgeleitet hätte“ (Sure 7,43). Die Gebote Gottes zu kennen und seiner 71 Rechtleitung zu folgen ist deshalb elementar wichtig. Da aber der Gehorsam gegenüber Gott alle Bereiche des Lebens umfasst, nicht nur solche, die ausdrücklich im Koran behandelt sind, tritt die Überlieferung des Propheten, die Sunna mit ihren Hadithen, als zweite Quelle der Rechtleitung neben den Koran.72 In den Hadith-Sammlungen sind Aussagen, Anweisungen und Empfehlungen von Muhammad und seinen Vertrauten wie auch Geschichten über sie enthalten. Neben dem Ideal, den Koran rezitieren zu können, spielt die Überlieferung des Propheten in der Vermittlung und Weitergabe islamischer Grundsätze eine wesentliche Rolle, denn das Leben des Propheten Muhammad hat für gläubige Muslime Vorbildcharakter: 69 Vgl. zum Katechismusunterricht Clauß Peter Sajak, Katechismus/Katechismusunterricht, in: www.wirelex.de (Zugriff am 25.11.2016). Er zeigt, dass durch die Aufwertung der Katechismen im Zeitalter der Konfessionalisierung diese grundsätzliche Problemstellung noch wesentlich verschärft worden ist: „Ob Luthers traditionsprägende Katechismen, der Heidelberger Katechismus oder der Catechismus Romanus der katholischen Kirche, die Verwendung dieses Mediums, das ursprünglich als didaktisches Instrument entwickelt worden war, trug als Bekenntnisschrift und Dokumentation einer kirchlichen Glaubenslehre entsprechend zu einer Steigerung von theologischem Umfang und sprachlicher Komplexität bei, die wiederum einem tatsächlich pädagogischen Einsatz entgegenstand.“ 70 „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allah. Und wenn die Leute der Schrift glauben würden, wäre es wahrlich besser für sie. Unter ihnen gibt es Gläubige, aber die meisten von ihnen sind Frevler.“ 71 Vgl. Anis Hamadeh, Islam für Kids, Heidelberg 2007, 156: „Beim Jüngsten Gericht müssen alle Menschen sich rechtfertigen und Gott entscheidet, ob sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Die Menschen werden zu guten Taten aufgerufen, damit sie ins Paradies eintreten können. Das ist der Bund Gottes mit den Menschen.“ 72 Vgl. Sure 59,7: „Und was euch der Gesandte gibt, das nehmt, und was er euch verwehrt, von dem lasst ab und fürchtet Allah. Siehe, Allah straft streng.“
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„Wahrlich in dem Gesandten Allahs hattet ihr ein schönes Beispiel für jeden, der auf Allah und den Jüngsten Tag hofft und oft Allahs gedenkt“ (Sure 33,21). Wenig später wird in derselben Sure Vorbildcharakter als Verpflichtung formuliert: „Und nicht geziemt es einem gläubigen Mann oder Weib, wenn Allah und Sein Gesandter eine Sache entschieden hat, die Wahl in ihren Angelegenheiten zu haben. Und wer gegen Allah und Seinen Gesandten aufsässig wird, der ist in offenkundigem Irrtum“ (33,36; vgl. 4,14). Da viele Verhaltensweisen für den Alltag nicht im Koran geregelt sind, sondern auf Hadithe zurückgehen, spielen diese in der religiösen Erziehung eine wesentliche Rolle. Islamische Ideale wie Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft werden mit Hilfe der Erzählungen von Muhammad, seiner Frau Chadidscha, seiner Tochter Fatima und anderen personalisiert und dadurch nachvollziehbar. Als Beispielerzählungen in der eigenen Sprache sind sie für die islamische Traditionsvermittlung unverzichtbar und haben oft größere Wirkung als der Koran selbst. Den Koran (und die Hadithe) zu lesen genügt nach den Vorstellungen der aktuellen islamischen 73 Religionspädagogik in Deutschland allerdings nicht. Deutlicher als in Koranschulen, in denen die Koranrezitation als Glaubenspraxis eingeübt wird, kommt es im schulischen Religionsunterricht darauf an, Koranverse in ihren jeweiligen Kontext und historischen Ort einzuordnen, um sie angemessen verstehen zu können.74 Insgesamt zeigt sich: Bei der Vermittlung kommt es zu Defiziten, wenn „reading behind“, „reading in“ und „reading in front of“ jeweils einseitig betont werden. Beim „reading behind“ kann es zu einer Verobjektivierung der Texte kommen, in deren Folge ihre Lebensdienlichkeit aus dem Blick gerät; das „reading in“ bemüht sich um die Aussageabsicht der Texte, kann aber bei einem ästhetischen Goutieren der Texte oder der Anerkenntnis ihrer Fremdheit verweilen; die existenzielle Lektüre kann zu einer vorschnellen Übertragung der Texte in die jeweilige Gegenwart und das eigene Verstehen führen, ohne ihre eigene Aussageabsicht zu berücksichtigen und ohne sich von ihnen hinterfragen zu lassen. Vor Vereinseitigungen, unangemessenen Interpretationen, Herrschaftsansprüchen und hermeneutischen Kurzschlüssen ist keine heilige Schrift gefeit. Der inhaltlichen Fülle dieser 73 Vgl. Harry Harun Behr/Mathis Rohe/Hansjörg Schmid (Hg.), „Den Koran zu lesen genügt nicht.“ Fachliches Profil und realer Kontext für ein neues Berufsfeld. Auf dem Weg zum islamischen Religionsunterricht (Islam und Schule 1), Berlin/Münster 2008. 74 Vgl. hierzu Imran Schröter, Über den Umgang mit dem Koran und andere Heilige Schriften im islamischen Religionsunterricht, in: B. Schröder u.a. (Hg.) Heilige Schriften, RPE 6, 228f. (im Druck), 259.
Peter Müller, Heilige Schriften
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Schriften wird man nur gerecht, wenn man ihnen mit ihnen mit Respekt und verschiedenen Erschließungsmöglichkeiten begegnet. Dabei geht es nicht um einen unkritischen Umgang mit ihnen – Heilige Schriften verlieren ihre Besonderheit nicht, wenn man sie kritisch hinterfragt – wohl aber den respektvollen, der mindestens anerkennt, dass diese Schriften vielen Menschen Orientierung und Halt gegeben haben und geben. Abstract This article deals with the two elements of the notion holy/sacred scriptures. Holiness is introduced as a category of relation. It does not adhere to objects, processes or persons as such but is attributed in relation to them. This also applies to holy scriptures. Their holiness refers to their contents as well as their material appearance. This is explained in detail by means of basic texts of Judaism, Christianity, and Islam, and concentrated on the communication of holy texts.
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Glaube und Lernen, 31/2016, Heft 1, Kennwort
Theologische Klärung
Wie wurde die Bibel zur Heiligen Schrift? Konrad Schmid Die Bibel ist nicht als Heilige Schrift geschrieben worden, sondern erst nach und nach dazu geworden. Oder anders gesagt: Die Heiligkeit der Schrift ist in erster Linie ein Rezeptions- und kein Produktionsphänomen.1 Der „Kanon“-Begriff selbst ist in historischer Anwendung auf die Bibel ein Anachronismus. Für die Bezeichnung der Sammlung der biblischen Schriften wird er erst vom 4. Jh. n. Chr. an verwendet. Im Sinne einer offiziellen Entscheidung einer Religionsgemeinschaft gibt es den Kanon der Bibel sogar erst seit dem Konzil von Trient 1545. Auch die auffällige und religionsgeschichtlich singuläre Tatsache, dass der christliche Bibelkanon mit seinen beiden Testamenten zweiteilig ist und dass die christliche Tradition sich nie entschieden hat, das eine Testament dem anderen eindeutig über- oder unterzuordnen, zeigt an, dass der Charakter der Bibel als Heiliger Schrift differenziert zu verstehen ist. Altes und Neues Testament legen sich gegenseitig aus, in theologischer Hinsicht enthält sowohl das Alte Testament „Neues“ als auch das Neue Testament „Altes“. Zudem hat der Protestantismus gerade im Blick auf seine Fundierung durch die Schrift immer festgehalten, dass er in der Bibel keinen „papierenen Papst“ sehe, sondern dass die Bibel beständig der Auslegung bedürfe. Heilige Schrift und Wort Gottes sind zwei unterschiedliche Größen. Die Heilige Schrift ist nicht als solche schon Wort Gottes, sondern sie kann dazu werden, in dem sie angemessen ausgelegt oder gepredigt wird. Nicht ihr Buchstabe, sondern ihr Geist ist normativ, dieser ist aber aus ihrem Buchstaben je und je neu zu gewinnen. 1
Vgl. ausführlich Jan Gertz, Das Alte Testament – Heilige Schrift des Urchristentums und Teil der christlichen Bibel, in: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Wiegandt (Hg.), Die ersten vierhundert Jahre des Christentums, Frankfurt 2009, 231–260; Konrad Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 22014, 212–221; Erich Bosshard-Nepustil, Schriftwerdung der Hebräischen Bibel. Thematisierungen der Schriftlichkeit biblischer Texte im Rahmen ihrer Literaturgeschichte, AThANT 106, Zürich 2015.
Konrad Schmid, Wie wurde die Bibel zur Heiligen Schrift?
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DOI 10.2364/3846999813
Die Geschichte normativer Überlieferungen, die dann zum Alten Testament geformt worden sind2, beginnt mit den ersten Propheten- und Rechtstexten der alttestamentlichen Literatur, die von ihren Autoren mit göttlicher Autorität ausgestattet wurden. Das erste, sich selbst als quasikanonischer Text entwerfende Buch der Bibel ist das Deuteronomium, dessen Ursprünge in das 7. Jahrhundert v. Chr. gehören.3 Mit dem Deuteronomium kam erstmals im Vorderen Orient die Vorstellung göttlicher Gesetze auf. Gleichzeitig entwickelte sich – nachgerade zwangsläufig – die Notwendigkeit von deren beständiger Interpretation und Adaption.4 Während des Bestandes der beiden Staaten Israel und Juda in der Königszeit spielten Texte in deren Religionsgeschichte noch eine untergeordnete Rolle. Natürlich gab es Annalen, Psalmen, Gründungserzählungen und Weisheitssprüche, doch waren diese Texte dem Kult ein-, nicht übergeordnet. Erst mit dem Verlust von Königtum, Tempel und Staat im Jahr 587 v. Chr. (Zerstörung Jerusalems durch die Neubabylonier) entwickelte sich die Religion des antiken Israels und Judas mehr und mehr zu einer Buchreligion. Allerdings kam dieser Prozess erst nach der zweiten Tempelzerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. zu einem gewissen Abschluss. Am Zweiten Tempel in Jerusalem (515 v. Chr. bis 70 n. Chr.) wurde noch regelmäßig geopfert, der Opferkult stand nach wie vor im Zentrum 5 der Religion. Eine besondere Bedeutung bei der weiteren Ausbildung von textlicher Normativität kam dem Judentum in der Perserzeit (539–333 v.Chr.) durch die spezifischen rechtlichen Regelungen zu, die im Perserreich herrschten: Die Perser verfügten über kein zentrales Reichsgesetz, sondern ließen die unterworfenen Völker nach deren eigenen Gesetzen leben, die aber von der persischen Oberhoheit zu autorisieren waren. Offenbar ist die perserzeitliche 2 3
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Vgl. Heinz-Josef Fabry, Das „Alte Testament“, in: Karin Finsterbusch/Armin Lange (Hg.), What is Bible? CBET 67, Leuven 2012, 283–304. Vgl. Frank Crüsemann, Das „portative“ Vaterland, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, 63– 79. Im Alten Orient war das Recht Königsrecht. Zum Vorgang der „Exkarnation“ des Rechts aus der Figur des Königs in die schriftliche Überlieferung hinein vgl. Jan Assmann, Fünf Stufen auf dem Wege zum Kanon, MTV 1, Münster 1999 = ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, 81–100. Vgl. Konrad Schmid, Der Kanon und der Kult. Das Aufkommen der Schriftreligion im antiken Israel und die sukzessive Sublimierung des Tempelkultes, in: Angelika Berlejung/ Raik Heckl (Hg.), Ex oriente Lux. Studien zur Theologie des Alten Testaments. Festschrift für Rüdiger Lux zum 65. Geburtstag, ABG 39, Leipzig 2012, 523–546.
Glaube und Lernen, 31/2016, Heft 1, Theologische Klärung
Formierung der Tora im Judentum nicht unabhängig von diesen politischen Gegebenheiten zu interpretieren. War die Tora einmal als normative Größe abgeschlossen, stieg sie bald zur maßgeblichen Instanz auf, an der die weitere Überlieferung des antiken Judentums sich zu messen und auszurichten hatte. Das gilt besonders für die prophetische Literatur, die in der Perserzeit entsprechend überarbeitet wurde, aber auch für die Psalmen, die mit dem ersten Eingangspsalm der Tora untergeordnet wurden. Nach der Tora wurde zunächst die Sammlung der prophetischen Schriften abgeschlossen. Dies geschah vermutlich an der Wende vom 3. zum 2. vorchristlichen Jahrhundert, wie vor allem der Nichteinschluss des makkabäerzeitlichen Danielbuchs in den Prophetenkanon zeigt: Offenbar war dieser in der Zeit der Auseinandersetzung der Makkabäer mit den Seleukiden im 2. Jahrhundert v. Chr. bereits geschlossen. Wie die Bibeltexte aus Qumran zeigen, waren die hebräischen Bibeltexte allerdings noch um die 6 Zeitenwende nicht im Buchstaben fixiert. Die einzelnen alttestamentlichen Bücher sind zwar in inhaltlicher Hinsicht durchaus stabil, doch zeigen unterschiedliche Versionen desselben Buches in Qumran immer wieder kleine Abweichungen. Der dritte Kanonsteil der Schriften scheint noch bis in das 1. Jahrhundert n. Chr. eine grosse Fluidität besessen zu haben.7 Das Jubiläenbuch oder die Henochliteratur dürften jedenfalls in Qumran nicht weniger wichtig gewesen sein als der spätere Regelbestand der nachmals als kanonisch geltenden Bücher.8 Einigermaßen deutlich lässt sich die Vorstellung einer geschlossenen Sammlung alttestamentlicher Schriften in Zeugnissen des späten 1. Jh. n. Chr. erkennen, nämlich bei Josephus und im 4. Esrabuch. In einer apologetischen Streitschrift charakterisiert der jüdische Historiker Josephus die alttestamentliche Überlieferung wie folgt: Josephus, Contra Apionem I,8: „Nicht Zehntausende von Büchern gibt es bei uns, die untereinander nicht übereinstimmen und einander widerstreiten, sondern nur zweiundzwanzig Bücher, die die Aufzeichnung 6
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Vgl. Eugene Ulrich, The Biblical Qumran Scrolls: Transcriptions and Textual Variants, VT.S 134, Leiden 2010; ders., The Dead Sea Scrolls and the Developmental Composition of the Bible, VT.S 169, Leiden 2015. Vgl. Bernhard Lang, The „Writings“: A Hellenistic Literary Canon in the Hebrew Bible, in: Arie van der Kooij/Karel van der Toorn (Hg.), Canonization and Decanonization. Papers Presented to the International Conference of the Leiden Institute for the Study of Religion (LISOR), SHR 82, Leiden u. a. 1997, 41–65; Julius Steinberg, Die Ketuvim – ihr Aufbau und ihre Botschaft, BBB 152, Hamburg 2006. Vgl. Michael Becker/Jörg Frey (Hg.), Qumran und der biblische Kanon, BThSt 92, Neukirchen–Vluyn 2009.
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des ganzen Zeitraums [der Geschichte Israels] enthalten und mit Recht für glaubwürdig gehalten werden. Von diesen sind fünf Schriften Moses, die sowohl die Gesetze als auch die Überlieferung seit der Entstehung des Menschengeschlechts bis zu Moses Tod umfassen. Dieser Zeitraum beträgt etwas weniger als dreitausend Jahre. Vom Tode Moses an bis hin zur Regierung des Artaxerxes, der nach Xerxes König der Perser war, haben die nachmosaischen Propheten die Ereignisse ihrer Zeit in dreizehn Büchern aufgezeichnet. Die übrigen vier enthalten Loblieder auf Gott und Lebensregeln für die Menschen. Seit Artaxerxes bis auf unsere Zeit ist zwar Einzelnes aufgezeichnet worden, aber es wird nicht der gleichen Glaubwürdigkeit wertgeachtet wie das Frühere, weil es an der genauen Aufeinanderfolge der Propheten fehlte.“
Josephus rechnet mit einer fixen Anzahl von zweiundzwanzig biblischen Büchern, die der Anzahl Buchstaben im hebräischen Alphabet entspricht und so Abgeschlossenheit und Vollkommenheit anzeigt. Die Kategorisierung der Bücher ist dabei in seiner Aufzählung nicht ganz klar. Die dreizehn „prophetischen“ Bücher fassen vielleicht Jos, Ri (inklusive Ruth), Sam, Kön, Jes, Jer (inklusive Thr), Ez, das Zwölfprophetenbuch (die sog. „kleinen Propheten“), Dan, Chr, Esr-Neh, Est und Hi zusammen, während mit den „übrigen vier“ wohl Pss, Prov, Qoh, Cant gemeint sind, doch sind diese Identifizierungen nicht ganz sicher. Darüber hinaus lässt Josephus eine Theorie prophetischer Autorschaft erkennen, insofern er die Abfassung der biblischen Bücher mit einer ununterbrochenen Abfolge von Propheten von Mose bis in die Zeit Artaxerxes’, unter dem Esra und Nehemia nach dem biblischen Zeugnis auftraten, in Zusammenhang bringt. Auch das 4. Esrabuch, eine Apokalypse aus dem letzten Jahrzehnt des 1. Jh. n. Chr., entwirft in seinem Schlusskapitel so etwas wie eine Kanontheo9 rie. Beschrieben wird die erneute Abfassung der biblischen und weiterer Bücher, nachdem diese bei der Zerstörung Jerusalems verbrannt waren. Esra diktiert sie aufgrund göttlicher Eingebung einem Gelehrtenkreis: 4.Esra 14,42–47: „Der Höchste gab den fünf Männern Einsicht [den Schreibern, denen Esra diktiert]. So schrieben sie das Gesagte der Reihe nach in Zeichen auf, die sie nicht kannten, und saßen 40 Tage lang da. Sie schrieben am Tag und aßen in der Nacht ihr Brot. Ich redete am Tag und schwieg nicht in der Nacht. In den 40 Tagen wurden 94 Bücher geschrieben. Als die 40 Tage zu Ende waren, redete der Höchste 9
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Vgl. Michael Becker, Grenzziehungen des Kanons im frühen Judentum und die Neuschrift der Bibel nach dem 4. Buch Esra, in: ders./Jörg Frey (Hg.), Qumran und der biblische Kanon, BThSt 92, Neukirchen–Vluyn 2009, 195–253.
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mit mir und sagte: Die ersten Bücher, die du geschrieben hast, leg offen hin. Würdige und Unwürdige mögen sie lesen. Die letzten siebzig aber sollst du verwahren, um sie den Weisen aus deinem Volk zu übergeben.“
Die ersten 24 Bücher umfassen die Schriften, die später dann als das „Alte Testament“ bekannt werden – sie sind allen zugänglich – während die 70 weiteren Bücher verborgen werden sollen und offenbar die „Apokryphen“ des Alten Testaments meinen, unter die sich das 4. Esrabuch selber auch zählt. Deutlich ist hier auch die fixe Anzahl von alttestamentlichen Büchern (24), die zwar von derjenigen bei Josephus abweicht, aber aufgrund des Umstands, dass sie keine derart theologisch aufgeladene Symbolzahl ist wie die 22 bei Josephus, wohl eine ältere Tradition darstellen dürfte. Die Abweichung in der Zahl dürfte nicht auf einen unterschiedlichen Bücherbestand hindeuten, sondern eher mit dem möglichen Einschluss von Thr in Jer und Ruth in Ri bei Josephus zu tun haben, mittels dessen die „hebräische“ Gesamtanzahl von 22 Büchern erreicht werden kann. Ebenfalls erkennbar ist in 4. Esra 14 das Motiv der prophetischen Autorschaft die biblischen Bücher aufgrund von Esras Diktat. In der Forschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts brachte man diese bei Josephus und im 4. Esrabuch belegbare Vorstellung einer abgeschlossenen Bücherliste gerne mit der Annahme einer Synode in Jamnia zusammen, die diese beschlossen hätte. Heinrich Grätz hatte diese Synode 1871 aus Angaben aus der Mischna und dem Talmud konstruiert. Zwar etablierte sich Jamnia nach 70 n. Chr. in der Tat als ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit, doch fand dort weder eine Synode statt, noch wurde in Jamnia über die Kanonizität der alttestamentlichen Schriften insgesamt 10 diskutiert, sondern nur über den Stellenwert von Qohelet und Hohemlied. Den vergleichsweise festgefügten Vorstellungen eines alttestamentlichen „Kanons“ aus dem 1. Jh. n. Chr., der allerdings noch nicht als solcher bezeichnet wurde, stehen deutlich unterschiedliche Konzeptionen aus den zwei vorangehenden Jahrhunderten gegenüber. Für die Zeit vor 70 n.Chr. spricht man wohl besser von „Schrift“ als von „Kanon“. Die alttestamentlichen Bücher waren damals weder bezüglich Umfang noch Reihenfolge wirklich fixiert. Der Prolog zur griechischen Übersetzung des Sirachbuchs, der vom Enkel des Autors des Buches verfasst worden ist (ca. 132 v. Chr.), ist diesbezüglich von großer Bedeutung:
10 Vgl. Günter Stemberger, Jabne und der Kanon, JBTh 3 (1988), 163–174.
Konrad Schmid, Wie wurde die Bibel zur Heiligen Schrift?
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Prolog zu Sir: „Im Gesetz und in den Propheten sowie in den andern [Schriften], die auf sie folgten, ist uns viel Herrliches gegeben, wofür Israel das Lob der Gesittung und Weisheit verdient. […] Mein Großvater Jesus nun, der sehr viel Mühe auf das Lesen des Gesetzes, der Propheten und der übrigen Bücher der Väter verwendet und sich eine hinlängliche Vertrautheit mit diesen Schriften erworben hatte, fühlte sich daher getrieben, auch selbst etwas über Gesittung und Weisheit zu schreiben, damit die Lernbegierigen sich auch das aneignen und in einem gesetzestreuen Lebenswandel umso größere Fortschritte machen möchten. […] Nicht nur dieses [Werk], sondern sogar das Gesetz, die Propheten und die übrigen Schriften lauten in der Ursprache erheblich anders. Als ich im 38. Jahre [132 v. Chr.] des Königs Euergetes nach Ägypten kam und während seiner weiteren Regierungszeit hier verweilte, fand ich nicht wenig Gelegenheit zur Belehrung vor. Ich hielt es deshalb für durchaus notwendig, auch selbst einigen Eifer und Fleiß aufzubieten, um dieses Buch zu übersetzen. So wandte ich denn die ganze Zeit hindurch, oft bis in die Nacht hinein, [alle meine] Sachkenntnis daran, um das Buch fertigzustellen und es auch für die [Israeliten] in der Fremde herauszugeben, die lernbegierig sind und ihre Lebensführung nach dem Gesetz gestalten.“
An diesem Text sind zwei Elemente besonders hervorzuheben. Zum einen zeigt die Einleitung deutlich, dass die Sammlung der alttestamentlichen Schriften für den Enkel von Jesus Sirach im Wesentlichen aus zwei Teilen besteht, dem Gesetz und den Propheten, dass es aber neben diesen zwei Teilen auch „andere“ (oder „übrige“) Bücher gibt, die – wie das Beispiel des Großvaters zeigt – noch weiter vermehrt werden können: „Mein Großvater Jesus […] fühlte sich daher getrieben, auch selbst etwas über Gesittung und Weisheit zu schreiben.“ Im Buchbestand abgeschlossenes Textgut findet sich nach diesem Prolog im „Gesetz“ und den „Propheten“, während die „übrigen Bücher“ eine so offene und allgemeine Kategorie darstellen, dass sie weiter ausgebaut werden kann. Zum anderen ist aber auch erkennbar, dass dem „Gesetz“ eine hervorgehobene Autorität unter den biblischen Büchern zukommt, wie die mehrfache und hervorgehobene Redeweise von der Lebensführung nach dem „Gesetz“ zeigt. Was sich vom Sirachprolog her nahelegt – interpretiert man die Begriffsfolge „im Gesetz und in den Propheten sowie in den andern [Schriften]“ nicht vom späteren dreiteiligen Kanon her, sondern textimmanent –, lässt sich weiter durch Zeugnisse aus Qumran und dem Neuen Testament bestätigen. Um die Zeitenwende waren die alttestamentlichen Schriften im Wesentlichen offenbar zweigeteilt, wie der verbreitete Sprachgebrauch „Mose und die Propheten“ o.ä. anzeigt (vgl. z.B. 1QS 1,1f: „wie er [d.h. Gott] es
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befohlen hat durch Mose und all seine Knechte, die Propheten“; Lk 16,16: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes“; Lk 16,29.31: „Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören“; Lk 24,27: „Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften über ihn steht.“; Act 28,23: „ausgehend vom Gesetz des Mose und von den Propheten“). Einzelne Belege nennen neben Mose und den Propheten auch explizit die Psalmen, so 4QMMTd (4Q397): „damit du Einblick gewinnst ins Buch Moses [und] in die Büch[er der Pro]pheten und in Davi[ds Psalmen]“ oder Lk 24,44: „Alles muss erfüllt werden, was im Gesetz des Mose und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht.“ Doch aufgrund der Notiz in der Psalmenrolle 11QPsa 27,11, die die Psalmen als „Prophetie“ Davids interpretiert, kann man vermuten, dass in 4QMMT und Lk 24,22 die Psalmen nicht additiv zu den Propheten hinzugezählt werden, sondern daraus hervorgehoben werden: 11QPsa 27,11: „Und alle diese sprach er [sc. David] durch Prophetie, die ihm von dem Höchsten gegeben worden war.“
Die alttestamentlichen Schriften scheinen also noch in neutestamentlicher Zeit vor allem als zweigeteilte Schriftgröße wahrgenommen worden zu sein. Die später bekannte Dreiteilung ist noch nicht deutlich greifbar, wohl aber die Einheit der Bücher des Alten Testaments als „Gesetz und Propheten“, die als „Schrift“ galt. Das frühe Christentum hatte zunächst keine eigene Heilige Schrift, sondern nur das noch in der Formierung begriffene, nachmalige Alte Testament. Die ersten Paulusbriefe entstanden in den fünfziger Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr., die Evangelien wurden erst nach 70 n. Chr. niedergeschrieben. Eine als „Neues Testament“ geformte Schriftensammlung bildete sich erst im Lauf des 2. Jahrhunderts n. Chr. heraus. Die alttestamentlichen Schriften 11 waren für das frühe Christentum selbstredend normativ. Sie formulierten den Glauben an einen Gott, doch erkannte das Urchristentum von allem Anfang in Jesus Christus den Maßstab der Bibelinterpretation: Schon das Alte Testament zeugt von Jesus Christus. Die ersten Schriften des späteren Neuen Testaments, namentlich die Paulusbriefe, entstanden als Gelegenheitsschriften, wurden dann aber mehr und mehr im Gottesdienst verwendet und stiegen so zu kanonischem Ansehen auf. Bemerkenswerterweise bildeten sie keinen vierten Kanonsteil, der zu „Tora“, „Propheten“ und 11 Vgl. Roger T. Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church and its Background in Early Judaism, Grand Rapids 1985.
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„Schriften“ hinzugetreten wäre, sondern sie wurden der Kern einer eigenen Sammlung normativer Schriften, des „Neuen Testaments“, die neben – nicht über oder unter, sondern neben – das Alte Testament gestellt wurde.12 Diese Entscheidung lag wohl auch deshalb nahe, weil die neutestamentlichen Schriften auf Griechisch und nicht auf Hebräisch verfasst waren. Gleichwohl bleibt es höchst bemerkenswert, dass das Alte Testament nicht christlich redigiert oder glossiert wurde: Es gibt in den hebräischen Schriften des Alten Testaments keinen einzigen Vers, der von christlicher Hand nachgetragen worden wäre. Offenbar war man der Auffassung, das Alte Testament sei, so wie es überliefert worden war, christlich les- und verstehbar. Natürlich entstanden neben den Schriften des Neuen Testaments im antiken Judentum und Christentum noch weitere Bücher, doch konnten sie sich offenbar nicht im gottesdienstlichen Gebrauch durchsetzen und dementsprechend blieben sie „apokryph“. Es ist bezeichnend, dass sich die Konzilien der Alten Kirche zwar eingehend mit der Christologie und der Trinitätslehre beschäftigt haben, nicht aber mit der Kanonsfrage – dies hat erst das Tridentinum im Jahr 1545 getan. Zwar war die Frage, welche Schriften zur Bibel zählen, noch bis in das 4. Jahrhundert hinein ungeklärt, ja im Blick auf die konfessionellen Differenzen ist sie es im Grunde genommen bis heute, doch scheint der Umstand, dass der Kernbestand der biblischen Schriften unstrittig war, eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Ränder des Schriftenkanons ohne Weiteres erlaubt zu haben. Im Judentum hat die Bibel, bestehend aus Tora, Propheten und Schriften, einen anderen Stellenwert als die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments im Christentum. Zwar bieten antike Zeugnisse wie das 4. Esrabuch oder Flavius Josephus Anhalt für die Annahme eines festabgegrenzten Schriftenkorpus mit 24 bzw. 22 Büchern, das als normativ gelten konnte. Jedoch kam der dreigeteilten jüdischen Bibel nie derselbe normative und exklusive Status zu wie der Bibel Alten und Neuen Testaments im Christentum. Der Kanonsbegriff wurde im Judentum erst im Gefolge von David Ruhnken (1723–1798) gebräuchlich, die Bezeichnung „Tanakh“ als Kürzel für Tora „Gesetz“, Neviim „Propheten“ und Ketuvim „Schriften“ ist erst spätmittelalterlich belegt. Das rabbinische Judentum ab nach 70 n. Chr. bildete stattdessen mit der talmudischen Literatur ein eigenes Traditionswesen aus, das für die religiösen Vollzüge bald wichtiger wurde als die Bibel, 12 Vgl. Hermann von Lips, Der neutestamentliche Kanon. Seine Geschichte und Bedeutung, Zürich 2004; Tobias Nicklas, The Development of the Christian Bible, in: Finsterbusch/ Lange (s. Anm. 2), 393–426.
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die im Wesentlichen im Lichte dieser Traditionsliteratur gelesen und interpretiert wurde. Zudem rückte die Tora durch den jüdischen gottesdienstlichen Gebrauch stark in den Vordergrund, da sie in unterschiedlichen Leseanordnungen jeweils ganz verlesen wird. Die Propheten kommen in den sogenannten „Haftarot“ (den Lesungen aus den prophetischen Büchern) zu Wort, doch in eingeschränkter Weise, während die Schriften (mit Ausnahme der sogenannten „Megillot“, d.h. der Bücher Ruth, Hoheslied, Qohelet, Klagelieder und Ester, die den fünf Festen Schawuot, Pessach, Sukkot, Tischa BeAw und Purim zugeordnet sind) keinen festen Ort im Gottesdienst haben. Die Rede von einer „jüdischen Bibel“ ist deshalb in gewisser Weise eine christliche Projektion und bedarf der historischen Differenzie13 rung. Abstract The holiness of the Bible does not adhere to the scripture itself but it is a phenomenon of reception. It was only after the Babylonian exile that the single scriptures of the Old Testament were slowly awarded normativity, first of all the Torah, followed by the prophets and last the remaining scriptures. When referring to the time before 70 AD, it is therefore best to use the term „scripture“ instead of „canon“. The early Christians oriented themselves towards the Torah and the prophets which they regarded as normative but at the same time read and interpreted it from a Christian perspective. While the abundance of newly emerging Christian scriptures in combination with the Old Testament led to the forming of an exclusive canon during the second century, the „Jewish Bible“ consisting of the Torah, the prophets and the scriptures, has never reached the same exclusive status but is still rather read and interpreted in the light of the Talmudic literature.
13 Tal Ilan, The Term and Concept of TaNaKh, in: Finsterbusch/Lange, What is Bible? (s. Anm. 2), 219–234.
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Theologische Klärung
Bibel, Heilige Schrift, Wort Gottes Über Stellung und Gebrauch der Bibel im Christentum Ulrich H. J. Körtner 1.
Das Buch der Bücher
Wie andere Religionen auch kennt das Christentum heilige Texte. Sie sind in der Bibel zusammengefasst und haben kanonischen Rang. Man spricht nicht von heiligen Schriften im Plural, sondern von der Bibel als heiliger Schrift im Singular. „Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft/Deutsch/ Auffs new zugericht“, lautet der Titel, den Luthers Übersetzung in der Ausgabe letzter Hand (1545) trägt. Der Titel hat es in mehrfacher Weise in sich. Er versteht sich nämlich keineswegs von selbst, sondern bedarf einiger Erklärungen. Zunächst: Die Bezeichnung „Biblia“ ist eigentlich kein Singular, sondern ein Plural. Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Bücher“. Tatsächlich handelt es sich bei der Bibel ja nicht um ein Buch aus einem Guss, sondern um eine Sammlung von Schriften, die unterschiedliche Verfasser haben, über einen Zeitraum von etwa 1.000 Jahren entstanden sind und im Verlauf ihrer Überlieferungsgeschichte zum Teil mehrfach überarbeitet worden sind. Die christliche Bibel besteht außerdem aus zwei Teilen, Altes und Neues Testament genannt, wobei es sich beim Alten Testament um vorchristliche Schriften des Judentums handelt. Die komplizierte Entstehungsgeschichte der jüdischen und der christlichen Bibel kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Für unseren Zusammenhang genügt der Hinweis, dass bestimmte Schriften eine besondere Stellung erlangt haben, die man auch als kanonisch bezeichnet. 1 Der Begriff des Kanons ist allerdings mehrdeutig. Das griechische Wort 1
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Zum Ganzen vgl. Ulrich H.J. Körtner, Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015.
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DOI 10.2364/3846999820
kanon bedeutet wörtlich Rohr oder Maßstab. Als Kanon wird im Christentum einerseits eine Liste heiliger Schriften bezeichnet, die im Gottesdienst gebraucht, d.h. vorgelesen und ausgelegt werden dürfen, andererseits eine Zusammenfassung der zentralen christlichen Glaubensinhalte. Letztere bezeichnet man auch als regula fidei. Schriften, die man im Verlauf der Kirchengeschichte zu kanonischen Texten erklärt hat, waren zunächst als Einzelschriften im Umlauf. Manche wurden dann in Schriftsammlungen zusammengefasst. Die älteste Sammlung von Schriften, die dann zur Keimzelle des Neuen Testaments wurden, sind die Briefe des Apostels Paulus. Wie Paulus haben freilich auch die übrigen Autoren jener frühchristlichen Schriften, die später als Neues Testament kanonisiert wurden, sich ausgiebig auf jene Texte bezogen, die wir heute als Altes Testament kennen. Auch Jesus von Nazareth hat sich auf die Schriften des Judentums berufen. Wenngleich die Botschaft Jesu und die nachösterliche Verkündigung zunächst mündlich erfolgten, und auch wenn die christliche Heilsbotschaft – Evangelium genannt – weiterhin ihrem Wesen nach mündliche Rede ist, war das Christentum doch zu keinem Zeitpunkt eine schriftlose Religion. Seine heiligen Schriften waren diejenigen des Judentums, mit der Begründung, dass der in Jesus von Nazareth erschienene und menschgewordene Gott kein anderer als der Gott Israels ist und dass die an Israel ergangenen und in seinen heiligen Schriften überlieferten Verheißungen in Person und Geschick Jesu ihre Erfüllung gefunden haben. Wie zur Zeit Jesu haben die heiligen Schriften des Judentums bis heute in den Synagogen die Form von Schriftrollen. Erst mit der Erfindung des Codex entstand jene Buchform, in der wir heute die christliche Bibel kennen. Nun konnte die Bezeichnung biblia, als sie in die lateinische Sprache übernommen wurde, zu einem Singularbegriff werden, mit dem man fortan jenen Codex bezeichnet, in dem die Schriften des Alten und des Neuen Testaments tatsächlich zwischen zwei Buchdeckeln in einem Buch präsent sind. Die Bibel ist seither buchstäblich das Buch der Bücher. Als Buch der Bücher gilt die Bibel aber auch im übertragenen Sinne, nämlich als jener kanonische Makrotext, an dem alle sonstige Literatur der Weltgeschichte – also nicht etwa nur der christlichen Kirche oder der Religionsgeschichte – zu messen ist. Es handelt sich also nicht bloß um Klassiker, sondern um Texte von kanonischem Rang. Die Reformation hat diesen kanonischen Rang gegenüber aller sonstigen Überlieferung auf die Formel gebracht, dass allein die Schrift – sola scriptura – Quelle und Richtschnur aller Verkündigung und Lehre in der Kirche ist. Gemäß der lutherischen Konkordienformel von 1577 „bleibt allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem
Ulrich H. J. Körtner, Bibel, Heilige Schrift, Wort Gottes
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einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein.“2 Ähnlich formulieren die reformierten Bekenntnisschriften.3 Abgesehen davon, dass die Konkordienformel das reformatorische Schriftprinzip im Vergleich mit Luther auf seine kriteriologische Funktion reduziert, hat dieses sowohl im Luthertum als auch in den reformierten Kirchen eine antikatholische – oder sagen wir besser: eine antirömische – Stoßrichtung. Nicht die kirchliche Tradition und nicht das Lehramt, sondern allein die Schrift ist die maßgebliche Norm für Theologie und Verkündigung, wobei das Luthertum neben der Bibel als der Grundnorm (norma normans) die im Konkordienbuch von 1580 zusammengefassten Bekenntnisschriften als abgeleitete Norm (norma normata) kennen. Sie gelten als verbindliche Auslegung der Bibel und des in ihr bezeugten Evangeliums bzw. des Wortes Gottes. Inwiefern ihre Geltung auch heute noch besteht, dazu gibt es freilich zwei unterschiedliche Auffassungen. Nach der einen gelten die Bekenntnisschriften, weil sie mit der Bibel als Heiliger Schrift übereinstimmen, nach der anderen Auffassung, sofern sie mit der Heiligen Schrift im Einklang stehen. In beiden Fällen lautet die Formel: „Schrift und Bekenntnis“. Sie signalisiert, dass die Bibel stets ausgelegt und angeeignet werden muss, weshalb nicht schon eine rein formale Berufung auf die Bibel genügt, um die Verkündigung des Evangeliums im Sinne der reformatorischen Tradition sicherzustellen. 2.
Die Bibel – eine variable Größe
Wie schon gesagt: Der Buchtitel „Die Bibel, das ist die ganze Heilige Schrift“ hat es in mehrfacher Hinsicht in sich. Und zwar nicht nur wegen ihrer komplexen Entstehungsgeschichte, sondern weil es die eine Bibel bis 4 heute gar nicht gibt. Im Unterschied zum Koran, aber auch zum Tanach , der Hebräischen Bibel des Judentums, ist die christliche Bibel in ihrem Umfang und Aufbau nicht genau festgelegt. In Geschichte und Gegenwart existieren unterschiedliche Versionen eines christlichen Kanons, bestehend 2 3
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Irene Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition (BSLK), Göttingen 2014, 769, 22–27. Belege in Ef. Karl Müller (Hg.), Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register (BSRK), Leipzig 1908, 154f. (Züricher Bekenntnis 1545); 134,15–22 (Confessio Belgica 1561); 500,35–37 (Waldenser-Bekenntnis 1655); 506f. (Anglikanische Artikel 1552/62); 526f. (Irische Artikel 1615); 542–547 (Westminster-Confession 1647); 871f. (Bekenntnis der Calvinistischen Methodisten 1823); 905,12–14 (Bekenntnis der Genfer Freikirche 1848). Das Akronym Tanach steht für Tora, Nebiim (= Propheten) und Ketubim (= Schriften).
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aus Altem und Neuem Testament. Die in der Geschichte des Christentums maßgebliche Version des Alten Testaments, die griechische Septuaginta, unterscheidet sich in Aufbau und Umfang von der Hebräischen Bibel. Auch der heutige Kanon des Neuen Testaments ist das Resultat einer längeren geschichtlichen Entwicklung, die bis in das 4. Jahrhundert reicht. Anders als die römisch-katholische Kirche und die reformierten Kirchen hat das Luthertum seinen biblischen Kanon niemals genau fixiert. „,Die Schrift‘ sind für die lutherische Tradition irgendwie die Lutherbibel bzw. die Ausgaben des hebräischen Alten und des griechischen Neuen Testaments, ohne dass dieses ,irgendwie‘ näher definiert ist (was später lutherische Dog5 matiker durchaus versuchen).“ Luther und die reformierte Tradition haben zwar den Aufbau der Septuaginta übernommen, jedoch jene Schriften, die sich nur in dieser griechischen Variante einer jüdischen Bibel finden, zu apokryphen Texten erklärt, also zu Texten von minderem kanonischen Rang als jene, die eine Entsprechung in der Hebräischen Bibel haben, die im rabbinischen Judentum als allein gültige Heilige Schrift des Judentums gilt. Luther bezeichnet die fraglichen Bücher als „nicht der Heiligen Schrift gleichzuhalten und doch nützlich und gut zu lesen.“6 Doch im Aufbau folgt sein Altes Testament der für die gesamte Kirchengeschichte seit ihren Anfängen maßgeblichen Tradition der Septuaginta. Die zwischen Septuaginta und Tanach bestehenden Unterschiede sind nicht nur literaturgeschichtlich, sondern auch theologisch belangvoll. Anders als die Hebräische Bibel rückt die Septuaginta die Prophetenbücher an das Ende. Dadurch wird der alttestamentlichen Messiaserwartung Nachdruck verliehen, so dass das Neue Testament als Erfüllung dieser Erwartung und der durch Gott an Israel ergangenen Verheißungen gelesen werden kann. Diese Lesart wird durch den Aufbau der Hebräischen Bibel, die mit den Chronikbüchern endet, vielleicht nicht gänzlich abgeschnitten, aber doch erschwert. Ob der heutige Aufbau der Septuaginta erst christlichen Ursprungs oder schon auf eine vorchristliche jüdische Tradition zurückgeht, 7 muss an dieser Stelle offenbleiben. Die Schrift, auf die sich Luther und die Kirchen der Reformation mit ihrem sola scriptura berufen, ist streng genommen ein Hybrid, nämlich ein Kanon, der in Umfang und Aufbau überhaupt nur in nationalsprachlichen 5 6 7
Dieter Lührmann, Auslegung des Neuen Testaments, Zürich 1984, 12. Biblia Germanica 1545, Luther-Übersetzung - Ausgabe letzter Hand, Faksimilie-Ausgabe, Stuttgart 1967, Überschrift zu den Apokryphen (CLVI). Zum Stand der Forschung vgl. Adrian Schenker, Septuaginta und christliche Bibel, ThRv 91, 1995, 459–464.
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Übersetzungen existiert. Einen christlichen Kanon, bestehend aus dem hebräischen Alten Testament und dem griechischen Neuen Testament, gibt es nicht und hat es nie gegeben. Luther hat seinen Kanon nicht etwa vorgefunden, sondern allererst geschaffen8, wobei er auch im Neuen Testament aus theologischen Gründen Umstellungen und damit theologische Abstufungen vorgenommen hat. Pointiert gesagt: Die Übersetzung ist das Original. Das Trienter Konzil hat auf diese Entwicklung mit der Festlegung einer für die katholische Kirche gültigen Kanonsliste für das Alte wie für das Neue Testament reagiert. Abweichende Bibelausgaben werden kirchenrechtlich verworfen: „Wer aber diese Bücher nicht vollständig mit allen ihren Teilen, wie sie in der katholischen Kirche gelesen zu werden pflegen und in der alten lateinischen Vulgata-Ausgabe enthalten sind, als heilig und kanonisch anerkennt und die vorher erwähnten Überlieferungen [sc. der kirchlichen Tradition] wissentlich und absichtlich verachtet: der sei mit dem 9 Anathema belegt.“ Die Vulgata wird zur einzigen authentischen Bibelübersetzung erklärt, die niemand, der rechtgläubig zu sein beansprucht, verwerfen darf und die allein „bei öffentlichen Lesungen, Disputationen, Predigt und Auslegungen“ zu verwenden ist.10 Der Druck anderer Bibelausgaben wird verboten.11 Die Kanonisierung des Bibelkanons und der Vulgata durch das Trienter Konzil hat eindeutig eine antireformatorische Stoßrichtung. Das gilt auch für die der Kanonsliste vorangeschickte Erklärung, Gott sei nicht nur der eigentliche Autor der im Folgenden aufgelisteten Bücher des Alten und Neuen Testaments – einschließlich der nur in der Septuaginta enthaltenen alttestamentlichen Bücher –, sondern auch die kirchlichen Überlieferungen zur Glaubens- und Sittenlehre seien „entweder wörtlich von Christus oder vom Heiligen Geiste diktiert und in beständiger Folge in 12 der katholischen Kirche bewahrt“ worden. Nicht nur für die Heilige Schrift, sondern auch für die kirchliche Tradition wird also ihre Verbalinspiration behauptet. Dagegen begründet die Westminster-Confession von 1647 mit theologischen Argumenten die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit nationalsprachlicher Übersetzungen. Zwar seien das Hebräische und das Griechische die 8
James A. Loader, Die Problematik des Begriffes hebraica veritas, HTS 64, 2008, 227–251, hier 247. 9 Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (DH), hg. von Peter Hünermann, Freiburg 442014, 1504. 10 DH 1506. 11 DH 1508. 12 DH 1501.
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authentischen Sprachen der unmittelbar von Gott inspirierten biblischen Texte. „But because these Original Tongues are not known to all the People of God, who have Right unto, and Interest in the Scriptures, and are commanded in the fear of God, to read and search them, therefore they are to be translated into the vulgar Language of every Nation unto which they come, that the Word of God dwelling plentifully in all, they may worship him in an acceptable Manner; and, through Patience and Comfort of the Scriptures, may have Hope.“13 Als biblische Begründung wird in einer Fußnote auf 1Kor 14,6ff. verwiesen. Für Menschen, die des Hebräischen oder Griechischen unkundig sind, hat der „Urtext“ keine andere Bedeutung als die Glossolalie, die nach Paulus nur dann der Erbauung der Gemeinde dient, wenn sie in verständlichen Worten ausgelegt wird. In Wahrheit handelt es sich bei der reformierten und der lutherischen Bibel jedoch gar nicht um die Übersetzung eines feststehenden Urtextes, sondern um die protestantische Version eines christlichen Kanons, die überhaupt nur in Form von Übersetzungen existiert. Ähnlich wie im Fall der Septuaginta ist also auch hier, wie schon gesagt, die Übersetzung das Original; ein Umstand, der eine Reihe gewichtiger hermeneutischer und theologischer Fragen aufwirft. 3.
Kanon und religiöse Identität
Beginnen wir mit der Beobachtung, dass die unterschiedlichen Varianten eines jüdischen und christlichen Kanons Identitätsmarker unterschiedlicher Glaubens- und das heißt eben auch Interpretationsgemeinschaften sind. Für die Geschichte des Judentums ist neben dem Tanach nicht nur an die Septuaginta zu erinnern, sondern auch an den samaritanischen Kanon. Der samaritanische Pentateuch entstand spätestens nach der Zerstörung des Heiligtums der Samaritaner, das sich auf dem Garizim im Norden Palästinas befand. Das nachexilische Judentum aber betrachtete die Samaritaner bekanntlich als Abtrünnige. Jedoch ist auch der rabbinische Tanach nicht nur ein Identitätsmarker gegenüber anderen Traditionssträngen des Judentums, sondern auch ein Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem Christentum. Der Judaist Peter Schäfer erklärt, der über mehrere Jahrhunderte verlaufene „Prozess der Selbstfindung“ des Judentums könne nicht losgelöst von der Entstehung des Christentums betrachtet werden.
13 BSRK 546,17–30.
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„Die Grenzen zwischen ‚Rechtgläubigkeit‘ und ‚Häresie‘ erweisen sich innerhalb des spätantiken Judentums wie auch innerhalb des entstehenden Christentums als fließend, und damit werden auch die Grenzen zwischen ‚Judentum‘ und ‚Christentum‘ in der Spätantike durchlässig. Mehr noch: Nicht nur definiert sich dieses Christentum im Rückgriff auf das zeitgenössische Judentum und in der aktiven Auseinandersetzung mit ihm, auch das rabbinische Judentum findet zu sich selbst erst im Austausch mit dem Christentum – und dies in dem doppelten Sinne der Abstoßung und Anziehung: der Ausscheidung von (ursprünglich im Judentum angelegten) Elementen, die das Christentum usurpieren und verabsolutieren sollte, sowie der stolzen und selbstbewussten Wiederaneignung eben solcher religiöser Traditionen, trotz oder auch gerade wegen ihrer christlichen Usurpation. In diesem Sinne können wir es wagen, nicht nur von der ‚Geburt des Christentums aus dem Geist des Judentums‘ […] zu sprechen, sondern umgekehrt auch von der ‚Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums‘.“14
Dass sich Christentum und rabbinisches Judentum in wechselseitiger kritischer Auseinandersetzung entwickelt habe, zeigt nicht nur die Aufnahme der Bitte um die als Abtrünnige bezeichneten Christen in das AchtzehnGebet, sondern auch die Geschichte des biblischen Kanons. Indem das rabbinische Judentum die Septuaginta verwarf, suchte es dem Christentum die Grundlage zu entziehen, sich berechtigterweise auf die Überlieferungen Israels berufen zu können. Die frühchristlichen Schriften, die später als Neues Testament kanonisiert worden sind, zitieren oftmals nicht die Hebräische Bibel, sondern die Septuaginta. Um die Wahrheit des Christuszeugnisses zu untermauern, werden außerdem häufig Stellen aus Büchern der Septuaginta angeführt, die nicht zum heutigen rabbinischen Kanon gehören. Die Abgrenzung des rabbinischen Judentums beschränkt sich nicht darauf zu bestreiten, dass man die Texte der Hebräischen Bibel legitimerweise als Christuszeugnis lesen kann. Mit der Kanonisierung des Tanach verbindet sich die weiterreichende Kritik, dass es sich beim Alten Testament der Christen um eine vermeintlich jüdische Bibel handelt, die in Wahrheit gar nicht jüdisch ist. Die verbreitete These von der Hebräischen Bibel und 15 ihrer zweifachen Nachgeschichte in Judentum und Christentum ist also
14 Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums, Tübingen 2010, X-XI. 15 Vgl. Erhard Blum/Christian Macholz / Ekkehard W. Stegemann (Hg.): Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS Rolf Rendtorff), Neukirchen-Vluyn 1990.
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historisch gesehen irreführend und unterkomplex.16 Fragwürdig ist darum nun aber auch die Behauptung, das Alte Testament sei das Dokument einer vom Christentum streng zu unterscheidenden Religion und dürfe eigentlich gar nicht mehr in der Weise als Christuszeugnis gelesen und vom Christusglauben her angeeignet werden, wie es die ersten Christen und die spätere Kirche getan haben.17 Die komplexe Geschichte des Tanach, der Septuaginta und des christlichen Doppelkanons zeugt davon, dass und inwiefern nicht nur das Christentum aus dem Geist des Judentums, sondern auch dieses aus dem Geist des Christentums entstanden ist. Das Alte Testament verbindet und trennt zugleich beide Religionen. Aber auch innerchristlich fungieren die verschiedenen Varianten eines biblischen Kanons als konfessioneller Identitätsmarker, wie wir bereits gesehen haben. Das gilt bis in die Gegenwart, wie man beispielsweise an dem Vorgang ablesen kann, dass die EKD 2005 sich von der Mitwirkung an der Revision der römisch-katholischen Einheitsübersetzung zurückgezogen und im Gegenzug eine neue Revision der Lutherbibel vorangetrieben hat, die im September 2015 abgeschlossen und in einem Festakt auf der Wartburg der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Ihren Rückzug aus dem Projekt einer gemeinsamen Bibelübersetzung begründete die EKD damit, dass sie sich durch ihre Mitarbeit letztlich den Normen römisch-katholischen Liturgierechts unterwerfen würde. Die Liturgie-Instruktion enthalte Kriterien, die von der evangelischen 18 Kirche nicht mitgetragen werden könnten. Aus Sicht der EKD bedeutet die Bindung der Einheitsübersetzung an die Vorgaben der LiturgieInstruktion, dass die Idee einer ökumenischen Bibelübersetzung in weite Ferne rückt. Die Einheitsübersetzung ist nun aus evangelischer Sicht eindeutig katholisch-konfessionell punziert. Hingegen deutet die katholische Seite gerade den Rückzug der EKD als Zeichen einer Rekonfessionalisierung auf dem Gebiet der Bibelübersetzungen. Für den katholischen Exegeten und Bischof Wilhelm Egger zeigt sich folgendes Bild: „Die Evangelische Kirche hat in den letzten Jahren immer stärker die 16 Vgl. dazu Hans Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. I: Prolegomena, Göttingen 1990. 17 Diese These ist in jüngster Zeit besonders pointiert von Notger Sklenczka im Anschluss an Adolf v. Harnack vertreten worden. Vgl. Notger Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Reiner Preul (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie (MJTh 25), Leipzig 2013, 83–119. 18 Vgl. EKD-Pressemeldung vom 8.9.2005: Evangelische Beteiligung an der „Einheitsübersetzung“ der Bibel nicht mehr möglich (online abrufbar unter http://www.ekd.de/presse/ pm163_2005_einheitsuebersetzung.html am 10.6.2016).
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Bedeutung der Lutherbibel betont, welche für die Evangelische Kirche ein Identität stiftendes Element ist. Die Katholische Kirche hat eine Reihe von anderen Identität stiftenden Elementen, etwa die Eucharistie und das Amt.“19 Evangelischem Selbstverständnis dürfte diese Sichtweise kaum entsprechen. Die reformatorische Tradition versteht die Kirche wohl als creatura verbi Dei bzw. als creatura euangelii, unterscheidet aber zwischen dem Wort Gottes und der Bibel als seiner Bezeugung. Der Hybridcharakter der Lutherbibel und anderer protestantischer Bibelausgaben und die mit ihm verbundenen schrifttheologischen Probleme, auf die wir weiter oben ausführlich eingegangen sind, werden von einer evangelischen Normaldogmatik jedoch in der Regel ausgeblendet. Die ökumenische Diskussion über die Revision der katholischen Einheitsübersetzung trägt hoffentlich in beiden Kirchen dazu bei, das theologische Problembewusstsein zu vertiefen.
Der evangelische Neutestamentler Ernst Käsemann hat die These vertreten, der neutestamentliche Kanon begründe nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen.20 Zwar kann man einwenden, dass diese These eine schiefe Alternative aufstellt. Wilfried Härle modifiziert sie dahingehend, dass der Kanon „als solcher in der Vielzahl der Konfessionen bzw. kirchlichen Richtungen die Einheit der Kirche (sing.!) bewahrt.“21 Gleichwohl hat Käsemann richtig gesehen, dass Pluralität im Christentum nicht erst eine Folge von Spaltungen, sondern bereits für die Frühzeit charakteristisch war. Der neutestamentliche Kanon aber repräsentiert diese Pluralität, die zur geglaubten Einheit der Kirche theologisch in ein angemessenes Verhältnis zu setzen ist. Sie zeigt sich schon darin, dass nicht nur ein, sondern vier in ihrer Darstellung und theologischen Eigenart durchaus verschiedene Evangelien Eingang in den neutestamentlichen Kanon gefunden haben, also auch nicht eine Evangelienharmonie wie Tatians Diatessaron 22 aufgenommen wurde. Mehr noch: es ist die Idee des Kanons, die sich, wie gesehen, nicht nur was das Alte Testament betrifft, im Judentum und in den christlichen Kir19 Wilhelm Egger, Revision der Einheitsübersetzung. Auftrag, Leitlinien, Arbeitsweise, Lebendige Seelsorge 57 (2006), 403–406, hier 405. 20 Vgl. Ernst Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Band I, Göttingen 61970, 214–223. 21 Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 134. 22 Vgl. Jens Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons (WUNT 204), Tübingen 2007, 295.
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chen unterschiedlich verwirklicht, sondern selbst innerhalb der Christenheit auf unterschiedliche Weise realisiert wird. Insofern lässt sich das Diktum Käsemanns dahingehend abwandeln, dass die verschiedenen Gestalten eines gesamtbiblischen Kanons nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen repräsentieren. Die verschiedenen Gestalten der jüdischen Bibel bzw. des Alten Testaments sowie der christlichen Bibel mit ihrem Doppelkanon lassen sich im Sinne moderner Intertextualitätskonzepte verstehen.23 Wie Gerhard Ebeling erklärt hat, ist der biblische Kanon ebenso wie das reformatorische Schriftprinzip „in entscheidender Hinsicht nicht ein Textabgrenzungsprinzip, sondern ein hermeneutisches Prinzip.“24 Nimmt man diesen Gedanken ernst, so folgt daraus nicht nur im Gespräch zwischen Christentum und Judentum, sondern auch unter den christlichen Kirchen „der Respekt für die gegenseitige Begrenzung und daher bereichernde Ergänzung, die verschiedene Textüberlieferungen und -organisationen mit sich bringen.“25 Wenn jeder Kanon als eine partikulare Realisierung der Idee der Heiligen Schrift verstanden wird, die auf den Austausch mit anderen Gestalten ihrer Realisierung angewiesen ist, ist auch ein Hybrid wie der protestantische Kanon theologisch legitim. 4.
Zur Hermeneutik des Kanons
Versteht man den biblischen Kanon im Anschluss an Ebeling in erster Linie nicht als Textabgrenzungsprinzip, sondern als hermeneutisches Prinzip26 und würdigt jede konkrete Ausgestaltung eines christlichen Bibelkanons als eine partikulare Realisierung der Grundidee eines Bibelkanons, muss man allerdings auch das Diktum Käsemanns über den Kanon als Begründung der Vielfalt der Konfessionen folgendermaßen abwandeln: Das Konzept eines christlichen Kanons begründet sowohl die Vielfalt der Konfessionen und 23 Vgl. Stefan Alkier/Richard B. Hays, Kanon und Intertextualität (Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/Main, Bd. 1), Frankfurt a.M. 2010. 24 Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Band I, Tübingen 21982, 34. 25 Loader, Problematik (Anm. 8), 249. 26 Gerhard Ebeling, Dogmatik (Anm. 24), 34. Zur gegenwärtigen Debatte zur Hermeneutik des biblischen Kanons im Spannungsfeld zwischen seiner Konstruktion und Dekonstruktion siehe auch die Beiträge von Christoph Markschies, Wolfgang Stegemann, Oda Wischmeyer und Stefan Scholz, in: Eve-Marie Becker/Stefan Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin/New York 2012, 578–700.
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ihre innere Pluralität als auch die Einheit der Kirche, die freilich kein empirisches Faktum, sondern ein Gegenstand des Glaubens ist. Als Regel oder Richtschnur, wie das griechische Wort zu übersetzen ist, ist der Kanon nicht nur ein Leitfaden des Glaubens, sondern eine Anweisung zum permanenten Lesen, die Einladung zu einer literarischen Entdeckungsreise. „Die Schrift“ ist aber nicht etwa nur das Resultat individueller Leseakte, sondern die Frucht einer gemeinschaftlichen Lesetradition, frühchristlicher und altkirchlicher Gemeinden. Zugleich ist sie eine Anleitung zu fortgesetzter gemeinschaftlicher, synchroner Lektüre der in ihr zusammengestellten Texte. Die Einheit der Schrift lässt sich also weder formal im Sinn einer Kanonsliste – von denen es bis heute mehrere gibt – noch durch die lehramtliche Dogmatisierung eines Sinnbestandes bestimmen. Sie entsteht vielmehr immer wieder neu durch fortgesetzte Lektüre. Damit kommen wir nun aber auch zu der Frage, inwiefern die Bibel zu Recht als heilige Schrift bzw. als Sammlung heiliger Schriften bezeichnet werden darf. Die Tradition antwortet hierauf mit der Lehre von der göttlichen Inspiration der biblischen Texte, die schon in der Bibel selbst behauptet wird (vgl. 2Tim 3,16; 2Petr 1,21) und sich auch auf den Vollmachtsanspruch der alttestamentlichen Propheten oder der Apostel berufen kann. Daraus leitet sich die Annahme ab, dass Gott der eigentliche Autor der biblischen Schriften ist, deren tieferer Sinn sich erst im Gesamtkanon erschließt, dessen Geschichte und Abschluss ebenfalls auf das Wirken Gottes zurückzuführen ist. Werden die Ergebnisse der neueren Literaturwissenschaften berücksichtigt, gewinnt eine sogenannte kanonische Bibellektüre ihr Recht zurück, ohne dass sie gegen die historisch-kritische Werk- und Einzelanalyse ausgespielt werden darf. Es geht nicht darum, eine vormoderne Bibelhermeneutik wiederzubeleben, welche die Autorschaft Gottes zu Lasten der Subjektivität und Vielfalt der menschlichen Autoren behauptet. Doch gerade wenn deren Selbstverständnis ernstgenommen werden soll, hat sich die Interpretation biblischer Texte dem von ihren Autoren oftmals ausdrücklich erhobenen Vollmachtsanspruch, im Auftrag Gottes bzw. Christi zu schreiben, zu stel27 len. Aus der Sicht literarischer Hermeneutik zeichnet dieser Vollmachtsanspruch den biblischen Texten eine Lesestrategie ein, die über den Einzeltext hinaus auf andere Texte mit vergleichbarem Geltungsanspruch verweist. Eine sogenannte kanonische Bibellektüre ist also nicht eine vom Leser willkürlich gewählte Lesart, sondern von den Texten selbst provoziert. Es kann 27 Neben der prophetischen Literatur des AT siehe z.B. 2Kor 5,20.
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daher „noch dem ungläubigsten Leser […] nichts Besseres geraten werden als dem, der seinen Homer lesen möchte und nicht von störender Vielverfasserschaft Notiz nehmen sollte: Das Ganze so zu lesen, als ob es nur den einen Autor hätte und der sich an jeder Stelle durch alle anderen Stellen erläutern und sinnbereichern ließe.“28 Genau dies ist die Lesehaltung der systematischen Theologie, welche im Unterschied zur historisch-kritischen Einzelexegese das Zeugnis der biblischen Schriften in ihrer Gesamtheit reflektiert. Ihr normatives Kriterium ist nicht die wörtliche Übereinstimmung mit biblischen Einzeltexten, sondern die sog. Schriftgemäßheit, welche bedeutet, dass systematisch-theologische Aussagen gegenüber dem biblischen Text eigenständig zu formulieren sind, sich aber innerhalb des hermeneutischen Zirkels zwischen Schrift und gegenwärtiger Situation zu bewegen haben. Die alte Inspirationslehre, die Gott zum eigentlichen Autor der biblischen Schriften erklärt, nimmt den von ihren menschlichen Autoren – z.B. von den alttestamentlichen Propheten oder Paulus – erhobenen Vollmachtsanspruch ernst, im Namen Gottes bzw. Christi zu sprechen bzw. zu schreiben. Sie kann rezeptionsästhetisch rekonstruiert werden als Erfahrung des Anredecharakters der biblischen Schriften im Hier und Heute. Diese Erfahrung wird bereits in den biblischen Texten selbst und in der in ihnen statt29 findenden Schriftauslegung bezeugt. Die entscheidende Frage lautet nun aber, ob der Kanon lediglich formal oder auch inhaltlich kohärent ist, und wenn ja, ob seine inhaltliche Kohärenz lediglich durch seine Leser im Akt der Lektüre erzeugt wird, oder ob diese einer inhaltlichen Anweisung der kanonisierten Schriften folgt. Wenn es einen einheitsstiftenden Bezugspunkt aller biblischen Schriften gibt, so ist es Gott, der Gott Israels und Vater Jesu Christi, von dem in diesen Büchern auf vielfältige Weise geredet und dessen Reden in ihnen bezeugt wird. Gott ist, wie Paul Ricœur zu bedenken gibt, zugleich das Maß und der Grund für die Unvollkommenheit aller verschiedenartigen Gottesrede in der Bibel. „Das Wort Gott zu verstehen heißt, dem Richtungspfeil seines Sinnes zu folgen. Unter dem Richtungspfeil seines Sinnes verstehe ich seine zweifache Fähigkeit, alle aus den Einzelreden hervorgegangenen Bedeutungen zu vereinen und einen Horizont zu eröffnen, der sich dem Abschluss der Rede 30 entzieht.“ 28 Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a.M. 1988, 21f. 29 Röm 15,4; 2Tim 3,16; 2Petr 1,19ff. 30 Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 24–45, hier 42.
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Das Wort „Gott“ erfährt aber in der christlichen Bibel seine letztgültige Bestimmung erst dadurch, dass es zum Namen Jesu Christi in Beziehung gesetzt wird. Im Neuen Testament interpretieren sich das Wort „Gott“ und der Name Christi wechselseitig. Gott ist der Vater Jesu Christi. Der Vater Jesu Christi aber ist der Gott Israels, den die Schriften des Alten Testaments bezeugen. Der christliche Kanon versetzt die Schriften des Alten und des Neuen Testaments in einen hermeneutischen Zirkel, in welchem sich diese wechselseitig interpretieren. Erst in diesem von Altem und Neuem Testament gebildeten hermeneutischen Zirkel erschließt sich also nach christlicher Auffassung der Sinn des Wortes „Gott“ bzw. des christlichen Bekenntnisses, dass der Gott Israels der Vater Jesu Christi und als solcher als Geist gegenwärtig ist. Implizit hat der christliche Kanon demnach eine trinitarische Struktur. Das Wort „Christus“ bzw. die Wortverbindung von „Gott“ und „Christus“ verstehen, heißt dem Richtungspfeil ihres Sinnes zu folgen. Dieser Pfeil aber schießt, um bei der Metapher zu bleiben, über den Wortlaut jedes biblischen Einzeltextes hinaus. „Hermeneutik“ – so Odo Marquard – „ist die 31 Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht.“ Wie bei allen Texten, so ist auch an einem biblischen Text nicht allein das Gesagte oder Geschriebene wichtig, sondern auch das Ungesagte und Ungeschriebene, die Leerstellen zwischen den Wörtern und Zeilen.32 Auch die neutestamentlichen Aussagen über Christus weisen über sich hinaus, nicht nur zurück zu den Texten des Alten Testaments, sondern auch über die Grenzen des Kanons hinaus, zumal dieser in mehreren Versionen vorliegt und an den Rändern offen ist. Die Wirklichkeit, die mit dem Wort „Christus“ im Neuen Testament in ganz unterschiedlichen Wortverbindungen bezeichnet wird, nämlich das Vonwoher gläubiger Existenz in der Gemeinschaft der Glaubenden, findet sich nicht in den Texten selbst, sondern ist zwischen den Zeilen je und je neu, im Ereignis des Lesens und Verstehens, zu entdecken. Weil es nicht nur um die Vergangenheit des irdischen Jesus geht, sondern auch um seine Gegenwart und seine Zukunft als Christus und Sohn Gottes, die trinitätstheologisch durchzubuchstabieren sind, wird die Eigenart des neutestamentlichen Kanons m.E. unzureichend bestimmt, wenn er als theologiegeschichtliches Dokument unterschiedlicher Bezugnahmen des ältesten 31 Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 117–146, hier 117. 32 Vgl. Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1987, besonders 61ff.
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Christentums auf den irdischen Jesus verstanden wird.33 Das gilt auch dann, wenn man wie Jens Schröter den irdischen Jesus in den neutestamentlichen Schriften von einer modernen historischen Rekonstruktion des von Leben, Wirken und Geschick Jesu von Nazareth unterscheiden möchte. Anders als Martin Kähler, der mit überzeugenden Argumenten dargelegt hat, weshalb die Suche nach dem historischen Jesus zum Scheitern verurteilt ist und weshalb der geschichtliche Christus nur in den neutestamentlichen Texten selbst zu finden ist34, glaubt Schröter offenbar doch – auf dem Wege von „phantasiegeleitete[n] Konstruktionen“35 – zur historischen Faktizität der geschichtlichen Gestalt Jesu von Nazareth und seiner Lehre vorzustoßen. Wenn Schröter schließlich eine Entsprechung zwischen heutigen Jesusdarstellungen und den neutestamentlichen Evangelien behauptet, wird deren kanonische Stellung, die doch in ihrem gegenwärtigen kirchlichen Gebrauch und nicht nur in ihrer theologiegeschichtlichen Bedeutung besteht, theologisch und hermeneutisch relativiert.36 5.
Bibel und Gottes Wort
Die reformatorische Tradition versteht das Christentum in ausgezeichneter Weise als Religion des Wortes, nämlich des Wortes Gottes, das freilich in, mit und unter menschlichen Worten, also in zwischenmenschlicher Kommunikation vermittelt wird. In biblischen Zusammenhängen kann der mehrdeutige Ausdruck „Wort Gottes“ für menschliche Worte stehen, die auf göttliche Eingebung oder Offenbarung zurückgeführt werden. Das sind im Alten Testament die unmittelbar auf Jahwe zurückgeführten Gebote und Satzung der Tora oder auch die Botschaften der Propheten. Worte Gottes sind im Neuen Testament die Aussprüche Jesu. Doch entscheidend ist im Neuen Testament, dass Jesus von Nazareth als Wort Gottes in Person verstanden wird. Seine Person, sein Leben und Wirken, sein Tod und seine Auferstehung werden zur Anrede an den Menschen und zum schöpferischen Wort, durch das die Welt im Ganzen neu wird. 33 Vgl. Jens Schröter, Jesus (Anm. 22), 377. 34 Vgl. Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892), München 41969. 35 Jens Schröter, Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: Andreas Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, Leuven 2001, 207–254, hier 222f. 36 Zur Kritik an Schröter vgl. auch Klaus Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013, 226–229.
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Medientheologisch betrachtet bedeutet der christliche Inkarnationsgedanke eine Revolutionierung des Monotheismus. Durch die Menschwerdung Gottes findet das Problem von Transzendenz und Immanenz, von Anwesenheit und Abwesenheit Gottes eine ganz neue Lösung. Bei gleichzeitig strenger Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf ist Gott in einem Menschen ganz gegenwärtig. Und wer von diesem Menschen, von seiner Botschaft und seinem Geschick affiziert wird, in dem nimmt Gott ebenfalls Wohnung. Paulus spricht vom Christus in den Glaubenden37 bzw. vom Sein der Glaubenden in Christus.38 Die Gemeinde kann Paulus geradezu als Leib Christi bezeichnen.39 Im Christentum ist das Gottesverhältnis freilich kein unmittelbares, sondern auf doppelte Weise vermittelt. Vermittelt wird es durch Jesus Christus, der seinerseits geschichtlich vermittelt werden muss – und zwar in einem dialektischen Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit. Gott ist als Abwesender anwesend, und gleiches gilt von Christus, dem Wort Gottes in Person. Nur dadurch, dass der abwesende Christus immer wieder neu präsent gemacht wird, tritt der in ihm präsente Gott immer wieder neu in Erscheinung. Indem der abwesende Christus anwesend wird, wird auch der abwesende Gott anwesend. Dazu aber bedarf es eben adäquater Medien, welche die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit angemessen repräsentieren. Und hier kommt nun im Christentum neben der Verkündigung und den Sakramenten – in der Ostkirche auch den Bildern – das Medium der Schrift ins Spiel. Schrift ist keineswegs ein gegenüber der mündlichen Kommunikation defizitäres Medium, sondern sie hat gegenüber der mündlichen Rede einen Überschuss, wie sich im Neuen Testament besonders an den Briefen des Paulus studieren lässt. Die Schrift ist das Medium der Differenz. Jedes Schriftzeichen ist, wie Jacques Derrida erklärt, seinem Wesen nach testamentarisch. Abwesend ist in ihnen nicht allein das Subjekt des Autors, sondern zugleich 40 die Sache oder der Referent. Auf einzigartige Weise machen Schriftzeichen Abwesendes anwesend, indem sie gleichzeitig seine Abwesenheit demonst-
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Röm 8,10; 2Kor 13,5. Röm 6,11; 16,7; 1Kor 1,30; 2Kor 5,17. 1Kor 12,27. Jacques Derrida, Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1974, 120f.
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rieren. Gerade die Schrift scheint daher als Medium „wie geschaffen für einen Gott, der sich offenbart, indem er sich verhüllt.“41 Judentum, Christentum und Islam unterschiedslos als Buchreligionen zu bezeichnen, führt zu Missverständnissen. Strenggenommen ist nämlich allein der Islam die Buchreligion schlechthin. Der Koran nimmt im Islam jene Stelle ein, die im Christentum Jesus Christus als Gottes Wort in Person zukommt. Dass, wie der Johannesprolog sagt, im Anfang das Wort und das Wort bei Gott war, könnte wohl auch der Islam bekennen. Dann aber trennen sich die Wege. Wo der Islam vom ungeschaffenen Koran spricht, der dem Propheten Mohammed Wort für Wort auf Arabisch offenbart wurde, hat sich nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums die Fleischwerdung des 42 Logos ereignet. Das schriftliche Zeugnis der Offenbarung tritt im Christentum nicht an die Stelle Christi als des eigentlichen Offenbarungsmediums, sondern sie ist ein relatives Medium im Prozess der doppelten Vermittlung des christlichen Gottesverhältnisses. Darum ist sie auch nicht das einzige Medium der Christus- und Evangeliumsvermittlung, sondern eines – in seiner Besonderheit freilich unaufgebbares – neben anderen in einem Medienverbund. Als Medium der Differenz ist die Schrift ihrerseits auf Vermittlung, d.h. auf Auslegung und Aneignung angewiesen. Nur so werden die Texte der Bibel, also Dokumente der antiken Religionsgeschichte, allererst zur Heiligen Schrift, durch die hier und jetzt Gottes Präsenz in der Welt und in der menschlichen Existenz vermittelt wird. Das christliche Wort für das doppelt vermittelte Gottesverhältnis heißt Glauben. Glauben aber heißt Verstehen, wobei hier nicht im engeren Sinne des Wortes das Verstehen biblischer Texte, sondern in einem umfassenden Sinne das Verstehen der eigenen Existenz in ihrer Gottesrelation gemeint ist. Nicht nur, aber auch die Schrift kann zum Medium solchen Verstehens werden. Das Verstehen der eigenen Existenz im Medium des Verstehens der Schrift wahrt gerade dadurch die Differenz zwischen Gott und Mensch und die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit, dass jedes Verstehen immer ein Andersverstehen ist. Der Text als materielles Artefakt liegt dem 41 Eckhard Nordhofen, Das Wort ist Fleisch geworden. Klaus Berger, sein „Jesus“-Buch und das Wunder von Weihnachten, DIE ZEIT Nr. 53, 22.12.2004, 43. Derrida hat sich allerdings gegen jede Vereinnahmung seiner Theorie der „différance“ durch jede negative Theologie verweigert. Vgl. Jacques Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 22006, 19. Siehe dazu auch Klaas Huizing, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen (TBT 75), Berlin/New York 1996, 15ff. 42 Joh 1,14.
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Lesenden und Interpretierenden voraus und bleibt ihm gegenüber eine externe Instanz. Darin manifestiert sich die Transzendenz Gottes, die durch die Immanenz seiner heilvollen und heilstiftenden Beziehung zum Menschen im Glauben nicht aufgehoben wird. Die Annahme des christlichen Fundamentalismus, aber auch mancher Christen, die sich selbst als bibeltreu bezeichnen, wir hätten in der Bibel die eine von Gott gegebene, vom Heiligen Geist diktierte und irrtumslose Quelle und Norm christlichen Glaubens und christlicher Lehre, beruht auf historischer Unkenntnis und wird den biblischen Texten auch hermeneutisch nicht gerecht. Dass es im Sinne von 2Tim 3,16 von Gott eingegebene Schriften gibt, heißt nicht, dass diese in allen Partien buchstäblich genommen werden müssen. Wer so die Bibel liest, verkennt den literarischen Charakter ihrer Texte, die oftmals poetischer, mythischer und metaphorischer Natur sind. Die Texte der Bibel sind nicht alle wörtlich, wohl aber beim Wort zu nehmen, nämlich dazu geschrieben, „damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben“ (Röm 15,4). Die fundamentalistische ChicagoErklärung zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift von 1978, die behauptet, alles, was die Bibel „über Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Geschehnisse der Weltgeschichte und über ihre eigene, von Gott gewirkte 43 literarische Herkunft aussagt“ , sei buchstäblich wahr, ist haltlos und auch aus theologischen Gründen zurückzuweisen. Kriterium aller Theologie und kirchlicher Verkündigung ist, wie schon oben erwähnt wurde, nach evangelischem Verständnis ihre Schriftgemäßheit. Diese freilich liegt nicht schon dann vor, wenn für eine einzelne theologische Aussage eine oder mehrere Bibelstellen als Beleg zitiert werden. Das liefe auf einen unreflektierten Biblizismus oder Fundamentalismus hinaus. Das Kriterium der Schriftgemäßheit fordert vielmehr, das Gesamtzeugnis der biblischen Schriften zu hören und zu bedenken. Und zwar ist das biblische Gesamtzeugnis daraufhin je und je neu zu befragen, inwieweit es das Evangelium in seiner Unterschiedenheit und Zuordnung zum Gesetz zur Sprache bringt. Das Kriterium der Schriftgemäßheit setzt darum immer einen hermeneutisch reflektierten Umgang mit der Bibel voraus. Ein solcher Umgang schließt nicht nur eine historisch-kritische Interpretation biblischer Texte ein, sondern auch die Möglichkeit der theologischen Sachkritik, die aber aus dem Gesamtzeugnis der Bibel selbst zu begründen ist. So ist auch 43 Die Irrtumslosigkeit der Bibel. Erste Chicago-Erklärung von 1978, 7, (https://bibelbund. de/wp-content/uploads/2014/03/chicago.pdf (abgerufen am 3.10.2015).
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der biblische Kanon nicht ohne Kanonkritik als theologische Norm zu akzeptieren. Das Evangelium von Jesus Christus begegnet uns vom Beginn des Christentums an in einer Vielzahl historischer Gestalten und Interpretationen. Auch die Texte der Bibel sind solche Interpretationen, die ihrerseits immer wieder neu interpretiert werden müssen und sich gegenseitig auslegen, bisweilen auch ins Wort fallen oder widersprechen. Schon die Rekonstruktion der mutmaßlich ältesten Gestalt der biblischen Texte ist eine Interpretation und ebenso jede Lektüre, ja schon jede bloße Rezitation. Erst recht gilt dies für jede Übersetzung in eine andere Sprache. So hat sich letztlich der von der Bibel bezeugte Gott selbst dem Konflikt der Interpretationen ausgesetzt. Am Kreuz Christi und in der Schriftwerdung des Wortes erleidet Gott den „Tod des Autors“ (Roland Barthes). In jeder Bibellektüre wird die tote Sinnspur des Textes zu neuem Leben erweckt – wann und wo es Gott gefällt. So können wir vom Wirken des Heiligen Geistes im Akt des Lesens sprechen, durch den ebenso wie der Text auch seine Leserinnen und Leser zu neuem Leben erweckt und befreit werden. Jenes Verstehen des Textes, das zum Glauben führt, den Glauben stärkt, tröstet und aufrichtet, Hoffnung und Freude weckt, aber auch zur Umkehr befreit, ist nicht die Leistung des Lesers, sondern ein sich zwischen Text und Leser abspielendes Geschehen. Schriftauslegung geschieht nicht nur unvermeidlich plural, sondern sie ist auch niemals voraussetzungslos, hat sie doch ihren Ort in der Kirche bzw. den einzelnen Konfessionen als Auslegungsgemeinschaften. Nach reformatorischer Tradition ist die Kirche, konkret die gottesdienstliche Gemeinde, freilich nicht das Subjekt, sondern das Objekt der Auslegung. Sie ist eine 44 Wort-Schöpfung, „creatura Euangelii“ (Luther) , d.h. ein Geschöpf des Evangeliums bzw. eine Schöpfung des Wortes Gottes. Ähnlich, wie der Christenmensch nach Luther täglich aus der Taufe neu herauskriecht (Kleiner Katechismus)45, so wird auch die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden stets aufs Neue aus dem Wort geboren. Eben in diesem Sinne ist sie ein Geschöpf des Evangeliums und nicht sein Schöpfer.
44 WA 2,430,6–8. 45 BLSK 516,30–38.
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Abstract This article states that the interpretation of the Bible never happens without preconditions. Due to the diversity of the conditions (between Judaism and Christianity but also between the Christian denominations) the Bible must necessarily be understood as a variable unit. As the Septuagint represents an interpretation as well as an original in comparison to the Tanakh, the vernacular translations also need to be viewed as originals. The canon of the Christian Bible, consisting of the two testaments, invites to a reading which reflects the scriptures in their correlation. The idea of inspiration does not owe its significance to a material understanding but refers to the scripture’s character of addressing readers here and today. A literal understanding of the Bible would not do justice to this character of the scripture.
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Gespräch zwischen Disziplinen
„Zachor!“ und „Iqra!“ Bemerkungen zum Verständnis von Tora und Koran Bernhard Uhde Tora und Koran werden nicht selten als „Heilige Schriften“ von Judentum und Islam bezeichnet.1 Diese Bezeichnung ist jedoch keine Selbstbezeichnung dieser Schriften, sondern eine Prädikation. Während im Judentum der Schrein in der Synagoge, der die Tora-Rollen verwahrt, „heiliger Schrein“ („Aron ha-Qodesch“) genannt wird, woraus erkennbar wird, dass die Tora den Rang von Heiligkeit beanspruchen kann, wird im Islam der Koran „edel“ („karīm“) genannt, denn Heiligkeit ist Gott vorbehalten. Die Rede von „Heiligen Schriften“ entspricht einer Analogie, entstanden aus dem christlichen Begriff „Sacra Scriptura“, „Heilige Schrift“, den die Kirchenväter und die Scholastik für die Bibel verwendeten. Diese Rede wurde als religionswissenschaftlicher Terminus für prinzipielle, religionsstiftende Schriftdokumente von Religionen in die Religionswissenschaft aufgenommen, wie dies mit anderen Begriffen abendländischer Herkunft auch ge2 schah. Um den Umgang mit den „Heiligen Schriften“ von Religionen zu verstehen, ist die Kenntnis der jeweiligen Religion Voraussetzung. Religionen aber sind in sich different, weshalb auch das Verständnis der Schriften unterschiedlich ist. Diese Unterschiedlichkeit in Schriftverständnis und Schriftauslegung kann zu Disputen und schließlich zu Konflikten innerhalb derselben Religion führen, denn „nach einer alten Überlieferung ist der Sinn der Schrift ein doppelter: der wörtliche Sinn und der geistliche Sinn. Dieser letztere kann ein
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Zur historischen Entstehung dieser „Heiligen Schriften“, ihrem Aufbau und Inhalt siehe Günter Lanczkowski, Heilige Schriften. Inhalt, Textgestalt und Überlieferung, Stuttgart 1956. Allen voran mit dem Wort „religio“!
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DOI 10.2364/3846999837
allegorischer, ein moralischer und ein anagogischer Sinn sein.“3 So ist etwa umstritten, ob die Schrift wörtlich oder einem Sinn nach zu verstehen sei, „fundamentalistische“ und „liberale“ Positionen trennen sich. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, das jeweilige Zentrum der Schrifthermeneutik zu erfassen, wie es sich aus dem Verständnis der jeweiligen Religion ergibt. 1.
Zum Verständnis der Tora
Das Judentum hat in seiner Entstehungsgeschichte eine eigentümliche Einsicht gewonnen: die frühen Gelehrten des Volkes haben zu einem unbekannten Zeitpunkt nicht mehr jene Wirkungen, deren Ursachen (noch) unzugänglich erscheinen, divinisiert, wie es zuvor wohl getan wurde4, sondern sie beschränkten diese Divinisierung auf jene Wirkungen, die kontradiktorisch-phänomenologisch hervortraten, also selbstwidersprüchlicherscheinend. Wenn Mose vor dem brennenden Dornbusch in der Wüste bemerkt, dass dieser brennt, jedoch nicht verbrennt, so kann er auf eine übernatürliche Wirkweise schließen5; wenn das Volk durch das Rote Meer trockenen Fußes zieht und die „Wasser waren ihnen eine Mauer zur Rechten wie zur Linken“6, so ist dies das Wirken Gottes. Diese erscheinende Selbstwidersprüchlichkeit macht nicht nur die Unbegreiflichkeit Gottes
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Katechismus der Katholischen Kirche, § 115; diese Passage spielt auf die Lehre vom „vierfachen Sinn der Schrift“ an, wie sie in einem Distichon des Augustinus von Dakien (13. Jhd.), das sich auf die Lehre des Augustinus von Hippo bezieht, zusammengefasst ist: „Littera gesta docet, quid credas allegoria, Moralis quid agas, quo tendas anagogia“ („Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie; die Moral, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie“). Von alters her neigen die Menschen dazu, jene Ursachen, deren Wirkungen sie mächtig und beherrschend betreffen, zu divinisieren, wenn sie diese Ursachen nicht erkennen können. So sind jene „alten Götter“ zumeist Wettergötter oder divinisierte Naturgewalten, die verfügend in des Menschen Leben eingreifen und dieses bestimmen. Noch in neuerer Zeit neigen selbst Physiker dazu, solche unbekannten Ursachen, etwa in der Kosmogonie, mit „Gott“ in Verbindung zu bringen; vgl. z.B. Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Sterne sind glühende Gaskugeln, und Gott ist gegenwärtig. Über Religion und Naturwissenschaft, hrsg. und eingeleitet von Thomas Görnitz, Freiburg u.a. 1992, 142ff. So könnte auch der heilige Gottesname JHWH von der Wurzel hwh („fallen“, „wehen“) abgeleitet sein, so dass sich Deutungen wie „der Wehende“, oder „der Blitzeschleuderer“ ergäben. Vgl. Ex 3,2. Vgl. Ex 14,22.
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deutlich, der „im tiefen Dunkel wohnt“7, sondern auch die unbegreifliche Einzigkeit seiner Wirkungen, die unvergleichlich anderem Bewirkten sind: „und nichts gleich deinen Werken.“8 Und diese Selbstwidersprüchlichkeit ist in Demut hinzunehmen, wie das selbstwidersprüchliche Wirken Gottes an Hiob lehrt: dem Gerechten widerfährt größtes Unrecht, und anstatt dies gerade als Wirken Gottes zu erkennen klagt Hiob gegen Gott, bis seine Demut erwirkt ist. Die Geschichte dieses Hervortretens der Wirkungen Gottes ist in der „Weisung“, der Tora überliefert, beginnend mit der Schöpfung. Die Tora ist Israel geschenkt zum Studium in der Weise, dass ihr Inhalt in Festen, Kulten und Gebeten vergegenwärtigt wird. Dabei ist zu beachten, dass Mose eine schriftliche und eine mündliche Tora erhielt; die schriftliche Tora ist niedergelegt in den Büchern Mose, die mündliche Tora wird ihre Verschriftlichung im Talmud finden. Beide aber sind zu vergegenwärtigen. So ist Ju9 dentum die „Religion der geglaubten Geschichte“ , einer unterscheidenden und zu vergegenwärtigenden Geschichte. Diese Vergegenwärtigung vollzieht sich realpräsentisch: sie wird so vorgenommen, dass sich der durch das Studium der Tora vergegenwärtigte Inhalt als Gegenwart und damit als zeitlos zeigt. Dies zu dem Zweck, die Handlungsweise Gottes durch Einsicht in die Unbegreiflichkeit kontradiktorisch-phänomenologischer Wirkungen identifizieren zu können, aber auch durch Identifikation mit den in der Tora Handelnden sich selbst als Menschen zu verstehen: sind wir doch alle Adam und Eva, Kain und Abel und all die Anderen, die Segmente des menschlichen Bewusstseins personal begreifen lassen, unabhängig von deren und von unserem Geschlecht. Deutlichstes Beispiel wohl für diese realpräsentische Vergegenwärtigung ist das Pessach-Fest. Das Fest gedenkt des Auszugs aus Ägypten, doch so, dass dieser Vorgang nicht in die Vergangenheit gelegt und an ihn gedacht wird, sondern dass er durch Nachspiel lebendige Gegenwart ist. Sodann aber ist auch der Inhalt des zu Gedenkenden zeitlos, weil er im Wiederholungsspiel vergegenwärtigt wird. Man sitzt zu Tische und speist und trinkt, wie die Väter und Mütter es seinerzeit taten, und in dieser Wiederholungshandlung wird die zeitlose Handlungsweise Gottes selbst Gegenwart: „In jedem Geschlechte und Zeitalter ist jeder verpflichtet, sich vorzustellen, als ob er 7 8 9
Vgl. 1Kön 8,12; Ps 18,11: „Finsternis macht er zu seinem Bergungsort, zu seinem Zelte rings um sich her, Finsternis der Wasser, dichtes Gewölk“ u.a. Psalm 86,8 u.a. Vgl. Johann Maier, Judentum, Göttingen 2007, 21ff. („Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion“).
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gleichsam selbst aus Ägypten gegangen wäre, denn so sagt die Schrift: ‚Du sollst deinem Sohne an jenem Tage erzählen und sagen: Um dessentwillen, was der Ewige mir getan, als ich aus Ägypten ging.’ Nicht unsere Väter nur hat der Heilige – gelobt sei er – erlöst, sondern auch uns mit ihnen; denn so sagt die Schrift: ‚Und uns hat er von da weggeführt, um uns hierher zu bringen und uns das Land zu geben, das er unseren Eltern zugeschworen hat.’“10 Eben diese Art der Vergegenwärtigung unterscheidet Israel von den Völkern. Es ist die Vergegenwärtigung der selbstwidersprüchlich erscheinenden Wirkweise Gottes, und daher ist der Selbstwiderspruch Gott vorbehalten. Dies soll eingedenk sein in den Geboten des Nicht-Mischens von Fleisch und Milch11, von Wolle und Leinen: Widersprüchliches soll sich nicht vereinigen, und daher vor allem nicht der Glaube an den Gott Israels mit dem Glauben der Völker. Und eben dies lehrt die Tora, eben dies ist zu vergegenwärtigen durch Israel. 2.
Gedenke!
Lesen oder Hören der „Weisung“, der „Tora“, soll den Lesenden oder Hörenden ergreifen. Wie das? Zunächst handelt es sich auch bei der Tora um einen Text, um Worte, im engeren Sinne um die Fünf Bücher Mose. Beim Lesen oder Hören der Texte dieser Bücher stellen sich Bilder ein, der Lesende macht sich eine Vorstellung vom Inhalt der Worte, ein Bild. Dieses Bild aber ist ihm gegenwärtig, es ist unmittelbar da, und es wirkt unmittelbar, und es kann sogar Selbstwidersprüchliches zeigen: ein brennender Dornbusch, der nicht verbrennt, ist als Vorstellungsbild sehr wohl darstellbar, ebenso können Wände von Wasser vorgestellt werden, wie sie ja auch in der Kunst der Malerei dargestellt werden. Nun sind solche Vorgänge beim Lesen oder Hören eines Textes nicht auf „Tora“ beschränkt, sie können auch bei anderen Texten verwirklicht werden. Die Tora aber ist Weisung Gottes, also Gottes Ansprache an den Menschen, und sie will und soll den lesenden oder hörenden Menschen ergreifen, und die Erfahrung dieser Ergriffenheit soll weitergegeben und fortwährend vergegenwärtigt werden: „Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du 10 Marcus Lehmann, Hagadah schel Peßach, Basel 1962, 124f. 11 Vgl. Dtn 14,21.
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sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten dei12 nes Hauses und in deine Stadttore schreiben.“
So sind es nicht „alte Geschichten“ aus der Vergangenheit, die in der Tora erzählt werden, sondern stets neu ergreifende Erzählungen, deren Wirkungen nicht schwächer werden. Denn die Erzählung bewirkt dasselbe wie die vorgestellte oder historische Wirklichkeit, wie im Chassidismus gelehrt wird; die großen chassidischen Rabbinen können durch Vergegenwärtigung gar Wirkungen hervorbringen, die sich dem menschlichen natürlichen Verstand entziehen: „Wenn der Baal-schem13 etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditationen versunken, Gebete – und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Walde und sagte: ‚Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen‘ – und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: ‚Wir können kein Feuer mehr anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Walde, wo all das hingehört, und es muß genügen.‘s – Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, da setzte er sich in seinem Schloß auf seinen goldenen Stuhl und sagte: ‚Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.‘ Und seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei anderen.“14
Und wieder hebt die Vergegenwärtigung die Zeit auf: dem natürlichen Verstand Vergangenes wird Gegenwart. Vergegenwärtigen heißt also, etwas so ins Bewusstsein nehmen, dass es von der sogenannten „objektiv gegenwärtigen Realität“ nicht zu unterscheiden ist, ja, dass es deren Wahrheit zeigt, nicht die bereits vergangene Wirk12 Dtn 6,6 f. Zu Vers 7: beim Morgen- und beim Abendgebet. Zu Vers 8: Daher sind Schrifstellen eingebunden in die beiden Kapseln der Gebetsriemen („Tefillin“). Zu Vers 9: daher die an Türpfosten befestigten Kapseln mit Schriftworten als Inhalt („Mesusa“). 13 Israel Baal Schemtow, der „Stifter des Chassidismus“ (1700–1760). 14 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt 1957, 384.
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lichkeit. Denn jede Wirklichkeit ist im Augenblick der Bewusstseinswahrnehmung schon vergangen. Dieser Akt der Vergegenwärtigung geschieht im Menschen als Bewusstseinsakt und für Israel als Auftrag. Er ist nicht nur die Vergegenwärtigung der Geschichte der Wirkweisen Gottes, die durch diese Vergegenwärtigung Gegenwart ist, sondern auch der Gegenwart und der Zukunft, die damit Gegenwart wird. Es ist ein verpflichtender Akt, der im Imperativ befohlen wird: „Zachor!“15, „Gedenke!“.16 Das Volk ist verpflichtet auf die Tora, die „Weisung“ ist verpflichtend. Wie ein König herrscht Gott über Israel, ein „König für immer und ewig.“17 Und daher heißt es: „‚Ich bin der Herr, euer Gott‘ (Lev 18,1; vgl. 18,6). Wisst ihr, wer euch die Anordnung gibt?“18 In einem Kommentar wird dies ganz deutlich. In der Kommentierung der Schriftstelle wird Bezug genommen auf jene Erzählung, in der der Prophet Hesekiel im babylonischen Exil befragt wird:19 „Ich bin der Herr, euer Gott“ (Num 15,41). „Warum ist dies nochmals gesagt? Es wurde doch bereits gesagt: ‚Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus dem Lande Ägypten geführt hat‘ […] (Das ist gesagt) damit die Israeliten nicht sprechen sollen: ‚Warum hat uns Gott Gebote gegeben? Doch deswegen, dass wir sie erfüllen und dafür Lohn empfangen!‘ So sprachen die Israeliten auch zu Hesekiel, denn es heißt (Hes 20, 1): ‚[…] kamen zu mir Männer von den Ältesten Israels […] und ließen sich vor mir nieder.‘ Sie sprachen: ‚Hesekiel! Ein Sklave, den sein Herr verkauft hat, ist der nicht seiner Gewalt entzogen?‘ Er antwortete ihnen: ‚Ja.‘ Da sagten sie zu ihm: ‚Da Gott uns an die Völker der Welt verkauft hat, sind wir [also auch] seiner Gewalt entzogen!‘ Er antwortete ihnen: ‚Sehet, ein Sklave, den sein Herr unter der Bedingung verkauft, dass er (später wieder an ihn) zurückfällt, ist der etwa seiner Gewalt entzogen?‘ (Hes 20, 32–33): ‚Das, was ihr im Sinn habt, darf keinesfalls geschehen, insofern ihr sagt: Wir wollen den Völkern gleichen, die rings um uns wohnen, und den Geschlechtern der Erde, indem wir Holz und Stein dienen. So wahr ich lebe, Spruch des
15 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Heuss, Berlin 1997. 16 Vgl. dazu Bernhard Uhde, Warum sie glauben, was sie glauben. Weltreligionen für Andersgläubige und Nachdenkende, Freiburg u.a. 2013, 54f. 17 Vgl. Ps 10,16 u.v.a. 18 Vgl. Sifre Levitikus 18,6 (ed. Weiss). 19 Vgl. Hes 20,1 ff.
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Herrn, fürwahr mit starker Hand und ausgestrecktem Arme und mit geschüttetem Grimm werde ich über euch König sein!‘“20
Die Schriftstelle Numeri 15, 41 lautet: „Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus Ägypten herausgeführt hat, um für euch Gott zu sein, ich, der Herr, euer Gott.“ So steht Gott der Herr am Anfang und am Ende, und er ist es, der das Volk aus der Unfreiheit Ägyptens in die Freiheit des Landbesitzes von Kanaan geführt hat, wo er wieder als König herrscht, „für immer und ewig“.21 So ist die Verpflichtung Israels auf die Tora nicht kündbar; Israel kann sie nicht kündigen, Gott als der Gott der Treue kündigt sie niemals.22 Daher sind die „Weisungen“ Gottes auch „Piqqud“, „Befehle“: „Du hast deine Befehle gegeben, damit man sie genau beachtet.“23 Der wichtigste Befehl aber ist der zum Studium und zur Vergegenwärtigung der Tora, denn dies ist Imitatio Dei, die „Nachahmung Gottes“, in der die wichtigsten Gebote vollzogen werden. In der Tora sind dies vor allen anderen Geboten das Gebot der Gottesliebe24 und das Gebot der Menschenliebe,25 die immer zu beachten sind als reine Gegenwart. Diese Gebote vereinigen sich, wenn die Tora als Weisung des Verhaltens den Menschen und Gott gegenüber verstanden wird: denn wer auch nur einen Menschen verachtet, „der wisse, wen du verachtest: ‚nach dem Bilde Gottes schuf er ihn‘.“26 Untrennbar sind Gottesliebe und Menschenliebe27; die Menschenliebe bezieht sich auf den „Nächsten“, wie geschrieben steht, aber darüber hinaus auf jeden Menschen, sind doch alle Menschen Nachkommen Adams: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18). „Rabbi Aqiba sagte: Das ist ein großer allgemeiner Grundsatz in der Tora. Ben Azzai sagte: Dies ist das Buch der Familiengeschichte Adams.28 Das ist ein größerer allgemeiner Grundsatz als jener.“29
20 Sifre Bamidbar Shelach § 115 (ed. Horovitz, 128, Zeile 3ff.); Übersetzung nach Kurt Hruby, Gesetz und Gnade in der rabbinischen Überlieferung, in: Judaica 25, 1969, 45f. 21 Vgl. Gen 15,18 u.ö. 22 Vgl. Ps 36,6 u.v.a. 23 Ps 119, 4; vgl. Dtn 7,11; 24,32; 1Kön 8,58 u.a. 24 Vgl. Dtn 6,4 f. u.a. 25 Lev 19,18. 26 So Rabbi Tanchuma in Bereschit Rabba 24 § 7. 27 Dazu Andreas Nissen, Gott und der Nächste im antiken Judentum. Untersuchungen zum Doppelgebot der Liebe, Tübingen 1974, 230ff. 28 Vgl. Gen 5,1: „Dies ist das Buch der Nachkommen Adams. Am Tage, da Gott Adam schuf, machte er ihn Gott ähnlich.“ 29 Siphra Kedoshim perek 4, 12 (ed. Weiss 89b).
Bernhard Uhde, „Zachor!“ und „Iqra!“
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Die Vergegenwärtigung der Liebe Gottes zu allen Menschen umfasst die Liebe Israels zu allen Menschen, da Gott alle Menschen liebt.30 So lehrt die Tora Gottesliebe und Menschenliebe als Geschenk Gottes an Israel, das als Eigentum Gottes erwählt ist: „Und nun, wenn ihr fleißig meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet, so sollt ihr mein Eigentum sein aus allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein; und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation sein.“31 Ein „heiliges Volk“32 soll es sein, denn Gott spricht: „Seid heilig, denn ich bin heilig.“33 Diese Imitatio Dei führt in ihrer Vollendung zum Königreich Gottes, dessen Verwirklichung das Antlitz der Erde auf ewig verwandelt. Der Weg dorthin führt über Verheißenes Land und Exile zu jenem auf ewig verheißenen Land, das aus der Vergegenwärtigung dieses Zieles reine Gegenwart werden lässt. Das handelnde Subjekt in dieser Geschichte ist Gott selbst, der Auftrag zur Vergegenwärtigung ergeht an das Volk. Judentum ist die Möglichkeit zu denken, dass das Undenkbare und doch Begegnende eine undenkbare Ursache habe, von der der Mensch nicht wissen könnte, wäre sie nicht hervorgetreten in der „Weisung“, der „Tora“, die eben diesen Vorgang selbst lehrt und damit die gesamte Schöpfung erklärt. Und diese lehrt, dass die Einsicht in diesen Vorgang nur durch Vergegenwärtigung möglich ist, und erklärt dadurch, wer der Mensch ist. Diese Art der Vergegenwärtigung ist der Vorgang der Reflexion: wie Gott selbst sich in der Tora als seiner eigenen Weisung reflektiert, so der Mensch in „Imitatio Dei“, „Nachahmung Gottes“. Denn auch Gott vergegenwärtigt seine eigene Weisung: „Rab Jehuda hat gesagt, Rab habe gesagt: ‚Zwölf Stunden hat der Tag; die ersten drei sitzt Gott und beschäftigt sich mit der 34 Tora“ , so also auch der Mensch in Nachahmung Gottes. 3.
Zum Verständnis des Korans
Der Islam ist die Vergegenwärtigung der Rede des Einen Gottes, der alles geschaffen hat, alles erhält und alles vollendet, und die Aufforderung an den
30 Dazu Bernhard Uhde, Religionen als Denkmöglichkeiten. Skizzen zur Logik der Weltreligionen, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 1/2009, Hannover 2009, 9. 31 Ex 19,5. 32 Vgl. Dtn 7,6 u.a. 33 Lev 11,44. 34 Vgl. ‛Aboda Zara 3b.
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Menschen, sich durch „Hingabe“ („Islam“) diesem Gott anzuvertrauen.35 Dieser Eine Gott tritt in eine besondere Beziehung zu allen Menschen, indem er durch Propheten von sich hören lässt. Die durch den Propheten Muhammad (ca. 570–632 n.) an alle Menschen ergangene Offenbarung ist die erweiterte Wiederherstellung vorangegangener Offenbarungen, insbesondere von Tora und Evangelium, die von den Anhängern der jeweiligen prophetischen Offenbarungsträger Moses und Jesus durch Hinzufügungen verfälscht wurden. Ist im Judentum die Behauptung der partikulären Erwählung des Volkes Israel ein verfälschender Verstoß gegen die in Wahrheit universale und gleiche Heilszuwendung Gottes zu allen Menschen, so im Christentum die Entstehung der Christologie als Verstoß gegen die Absolutheit Gottes. Beide Verfälschungen als Verstöße gegen Universalität und Absolutheit Gottes werden durch den Islam getilgt: die Sammlung der durch Muhammad abschließend, unverfälscht und unverfälschbar ergangenen Offenbarung, also das wörtliche Wort Gottes, ist der Koran „das zu Wiederholende“. Kerninhalte des Korans sind die Lehre von der absoluten 36 37 Erhabenheit Gottes und der absoluten Einheit Gottes , beides insbesondere gegen Christologie und Trinitätslehre der christlichen Theologie vorgetragen38 und der Liebe Gottes zu allen Menschen39 dies insbesondere gegen den Erwählungsgedanken des Judentums. Diese Liebe Gottes soll der Mensch durch „Islam“, „Unterwerfung“, „Hingabe“, d.h. völlige Hingabe des eigenen Willens an den Willen Gottes, erwidern, indem er möglichst ununterbrochen der Worte Gottes gedenkt und ihnen Folge leistet, soweit er sie verstehen kann. Ausdruck dieser Erwiderung ist das Einhalten einer Vielzahl hoher ethischer Gebote und Verbote, die in der Liebe zu Gott und in der Liebe zu den Menschen kulminieren. Nur der Islam also trägt widerspruchsfreie Wahrheit vor, eine Wahrheit, 40 die jedem mit Verstand Beschenktem einsehbar ist. So versteht sich der Islam auch als eine Religion, die für den natürlichen Verstand aller Menschen geoffenbart wurde.41 Gott spricht über sich im Koran, und er gibt im 35 Vgl. dazu Ahmad Milad Karimi, Hingabe. Grundfragen der systematisch-islamischen Theologie, Freiburg/Br. u.a. 2015. 36 Vgl. Koran 42,11 u.ö. 37 Vgl. Koran 4,36 u.ö. 38 Vgl. Koran 5,72 f. u.ö. 39 Vgl. Koran 5,54 u.a. 40 Dazu Bernhard Uhde, „Denn Gott ist die Wahrheit“ (Koran 22, 62). Notizen zum Verständnis von „Wahrheit“ in der religiösen Welt des Islam, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 4/2005, 83 ff. 41 S.o. Anm. 34.
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Propheten Muhammad42 und den Propheten Vorbilder. Der Prophet ist ein Mensch, nur ein Mensch wie alle Propheten, also auch Jesus, und so übersteigt es nicht den natürlichen Verstand, die Propheten nachzuahmen in einer „Imitatio Prophetarum“, und so ist auch die Ethik des Islam als Praxis nachvollziehbar, weil verstandesbegründet. Wenn aber Gott im Koran über sich selbst spricht, wie verstehen die Menschen ihn? 4.
Wiederhole!
Der Koran ist die immer gegenwärtige Rede Gottes, der ja selbst immer gegenwärtig ist.43 So ist er vollkommen zeitlos wie sein wahrer Autor, Gott: „Und nicht wäre dieser Koran erdichtet worden ohne Gott.“44 So wird der Koran nach langen Auseinandersetzungen vor allem mit der „rationalistischen“ Schule der Mu tazila45 in der zur Tradition gewordenen Theologie, maßgeblich der Schule der Asch’ariten,46 nicht allein als Wort Gottes geglaubt, sondern auch als umgeschaffenes, präexistentes Wort Gottes, wobei sich diese Tradition auf den Koran selbst beruft, denn es heißt dort in Selbstprädikation: es ist „ein Koran, ein edler, in einer Schrift, einer wohlverwahrten, die berühren die Gereinigten nur, Herabsendung vom Herrn der Welten!“47 Er ist zeitlose reflektive Willenserklärung Gottes selbst und keine zweite ewige Wesenheit neben Gott. Dafür wird Gott selbst als Zeuge genommen: „Aber Gott bezeugt durch das, was Er dir herabgesandt, Er hat es mit Seinem Wissen herabgesandt […] Gott genügt als Zeuge.“48 So ist die genannte Selbstprädikation des Koran als Selbstzeugnis Gottes erklärt.49 Mithin ist der Versuch eines Aufweises von Historizität dieses Textes im Sinne eines Geschaffenseins durch Gott, wie durch den gegenwärtig leben-
42 Vgl. Koran 33,21. 43 Die folgende Darstellung ist eine überarbeitete Fassung von Abschnitten der „Einführung“ in den Koran, in: Bernhard Uhde (Hg.), Der Koran. Vollständig und neu übersetzt von Ahmad Milad Karimi. Mit einer Einführung herausgegeben von Bernhard Uhde, Freiburg u.a. 2009, 526 ff. 44 Koran 10,37. 45 Zur frühen islamischen Theologie unverzichtbar das monumentale Werk: Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Bd. I–VI. Berlin 1991– 1997. 46 Aš ‛arīyūn, nach Abū l-Ḥasan ‛Alī al-Aš‛arī, 874–935/936. 47 Koran 56,77–-80. 48 Koran 4,166. 49 Vgl. Bernhard Uhde, „Denn Gott ist die Wahrheit“ (Koran 22,62) (Siehe Anm. 38), 83 ff.
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den Muslim Nasr Hamid Abu Zaid50, von dieser Tradition ebenso unterschieden wie quellenkritische Untersuchungen islamkundlicher Gelehrsamkeit, die den Text in seinem weltlichen historischen Entstehen und zeitgenössischen Verstehen erschließen und einordnen wollen. Die immer gegenwärtige Rede des Koran trennt radikal den in arabischer Sprache vorliegenden Text des Koran von allen Übersetzungen. Der Koran ist „in der altarabischen Dichtersprache ( arab ya) gehalten, einer überregionalen, ausschließlich literarischem und formellem Gebrauch vor51 behaltenen Hochsprache.“ Mit dieser Sprache wächst ein gläubiger Muslim auf, auch wenn er diese Sprache nicht im Alltag verwendet oder ohnehin in anderer sprachlicher Umgebung lebt. So erwirbt sich der Muslim nicht nur von Kindesbeinen an eine durch keine Übersetzung zu erlangende sprachliche Feinfühligkeit für den Koran, sondern er verbindet mit der arabischen Wiedergabe dieses Korantextes eine Art von spirituellem Heimatgefühl, von begleitender Nähe über das gesamte Leben, und er verspürt auch die Gemeinsamkeit und Gemeinschaft aller Muslime, die durch dieses sprachliche Gemeinsame als einheitliche Gemeinschaft einander zugewandt sind. All diese Erfahrungen gehen mit Übersetzungen in einzelne andere Sprachen verloren. Verloren geht aber auch der unnachahmliche Eindruck, den der 52 Vortragsstil des Koran – „und vorgetragen haben Wir ihn im Vortragsstil“ 53 als sprachliches und musikalisches Erlebnis, als Partitur gleichsam , erweckt. Dieser Eindruck wird durch rezitative, feststehende Wendungen, die sich wiederholen und Motive wiedervergegenwärtigen, verstärkt. Die Sprache des Koran ist kein Informationstransfer, keine formlose Mitteilung technischer Art, sondern ein Gesamtkunstwerk von Ästhetik und sprachlicher Wahrnehmung. So muss der Koran in Wahrheit als unübersetzbar gelten, und alle Übersetzungen leisten nur ein Schattenwerk dessen, dessen Sonnenglanz im arabischen Original blendend hervortritt. Unabhängig davon, ob der Koran als ungeschaffenes, ewiges Gotteswort geglaubt wird oder als Dokument aus dem Munde des Propheten, so bleibt doch, dass dieser Text kein „Lesetext“ ist. Es ist ein Vortragstext, ein zu wiederholender, wie der Befehl an den Propheten Muhammad erging: 50 Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran. Ausgewählt, übersetzt und mit einer Einleitung von Thomas Hildebrandt, Freiburg u.a. 2008, 85ff. 51 Angelika Neuwirth, Koran, in: Hellmut Gätje (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie II, Wiesbaden 1987, 113. 52 Koran 25,32. 53 Vgl. dazu Navid Kermani, Gott ist schön, München 1999, 197ff.
Bernhard Uhde, „Zachor!“ und „Iqra!“
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„Iqra̕!“, „Wiederhole!“54, worin die Wortbedeutung von „Koran“ anklingt („Das wiederholend Vorzutragende“). Es war der Tradition nach schon dem Propheten selbst keineswegs freigestellt, in welcher Weise er den Text wiederholend vorträgt und intoniert. Er wiederholte also genau Wortlaut und Art des Vortrags, wie er ihm durch den Erzengel Gabriel geoffenbart wurde, gleich einem Instrument, durch das hindurch die Verkündigung erfolgen sollte. Die Verschriftlichung des Textes erfolgte nicht sogleich; und auch nach dessen Niederschrift und Redaktion wird etwa ab dem 9. Jahrhundert die Kunst des Koranvortrags in Wortlaut und Intonation zu einem Studienund Wissensgebiet, einem eigenen Fach („‛ilm al-tağwīd“, wörtlich: „das Wissen vom Schönmachen“), um die Genauigkeit von Aussprache und Intonation zu regeln und weiterzugeben. Dies nicht nur, um der Zeitlosigkeit des Gotteswortes über die Zeiten hinweg Ausdruck zu verleihen, sondern auch, um jenen Eindruck auf die Hörer zu wiederholen, den das so vorgetragene Wort des Koran von jeher auf seine Hörer machte. Das Hören dieses musikalischen Vortrags, wohl unterschieden von anderen musikalischen Darbietungen, erzielte der Überlieferung nach seit jeher eine enorme Wirkung auf die Hörer, was durch den Wundercharakter dieses unvergleichlichen Textes bewirkt wurde und wird: „Herabgesandt hat Gott die schönste Verkündung: Eine Schrift, eine sich gleichartig wiederholende, die erschau55 ern lässt die Häute derer, die fürchten ihren Herrn.“ Dieser Wundercharakter („i‛ğāz“) lässt sprachlos werden, starr werden vor Staunen, ja sogar zum Tode des derart ergriffenen Hörers kann es kommen.56 Und es kann zur Bekehrung kommen. Vom späteren Kalifen Umar (geb. um 592, Kalif ab 634, ermordet 644) wird berichtet, er sei zunächst ein erbitterter Gegner des Propheten gewesen, und als ihm erzählt wird, seine Schwester habe den Islam angenommen und empfange einen Gläubigen, eilt er mit gezücktem Schwert zum Haus seiner Schwester. Von draußen hört er, wie Koran-Verse rezitiert werden: „‚Welch schöne und edle Worte!‘ rief er, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Und wie Saulus aus Tarsus, der, vom Licht des Herrn geblendet, zu Boden stürzte und aufhörte, die Christen zu verfolgen, wurde auch Umar durch Gottes Eingreifen bekehrt: Nicht 57 weil er Gott sah, sondern weil er ihn hörte.“
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Vgl. in der der Chronologie nach ältesten Sure 96,1. Koran 39,23. Vgl. Kermani, Gott ist schön, 15 ff. Reza Aslan, Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart. Aus dem Englischen von Rita Seuß. München 2006, 176f.
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Schon allein aus diesen ästhetischen Gründen ist der Koran mit Büchern anderer Religionen, zumal mit der Tora des Judentums und den Evangelien des Christentums, nicht unmittelbar zu vergleichen. Der Koran ist ein in vieler Hinsicht ganz anderer Text, sowohl von der Form wie vom Inhalt her. Während die Tora insofern scheidend unter die Menschen eingreift, als sie nach jüdischem Selbstverständnis nur dem Judentum geschenkt und verpflichtend ist, gilt die koranische Offenbarung allen Menschen; während die Evangelien die frohe Botschaft Jesu vom nahen Gottesreich und dem damit verbundenen barmherzigen Ausgleich der Gerechtigkeit künden und schließlich Christus selbst verkünden, regelt die koranische Offenbarung das Zusammenleben der Menschen in dieser Welt im Hinblick auf Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Der Koran ist das Grunddokument aller menschlicher Lebensführung, gleichsam ist er Prinzip aller Prinzipien menschlichen Handelns und Denkens: „Und herabgesandt haben Wir dir die Schrift als Erklärung aller Dinge, als Rechtleitung, Barmherzigkeit und 58 frohe Kunde für die Ergebenen.“ Und diese Rechtleitung ist er als wörtliche Sprache Gottes selbst, während die Evangelien etwa nicht in der Ursprache Jesu, sondern in Griechisch verfasst wurden, in menschlicher, wenn auch von Gott inspirierter Sprache. Die wörtliche Sprache Gottes selbst, den Text des Koran, kann der Gläubige mit tiefer Bewegung erfahren, nicht aber alle Stellen des Textes unmittelbar verstehen. So sind die Worte Gottes, eben weil sie Worte Gottes sind, nur Gott selbst vollkommen verständlich, nur er kann in Vollkom59 menheit bekennen „Keine Gottheit außer Gott“, denn nur er weiß, was er damit sagt, denn nur er versteht, was „Gott“ ist. So ist es Gott, „der herabgesandt auf dich die Schrift, in ihr sind eindeutig klare Zeichen – sie sind die Mutter der Schrift – und andere, mehrdeutige. Diejenigen, die abweichen in ihrem Herzen, folgen dem, was in ihr mehrdeutig, im Streben nach Zwietracht und nach Deutung. Doch ihre Deutung weiß keiner als Gott und diejenigen, die im Wissen tief gegründet, sagen: Wir glauben daran. Alles hat seinen Ursprung bei unserem Herrn.“60 Daher bleiben viele Verse des Koran – wenn nicht der gesamte Koran – menschlichem eindeutigem Verstehen verschlossen, denn viele Verse des Koran sind nur einem vorläufigen Verständnis und in sprachbildlichen Analogien zu verstehen, also anagogisch-analog. 58 Koran 16,89. 59 Vgl. Koran 3,18. 60 Koran 3,7.
Bernhard Uhde, „Zachor!“ und „Iqra!“
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Um aber ein solches Verstehen möglich zu machen, schenkt Gott in seiner unübertrefflichen Barmherzigkeit, der Grenzüberschreitung zu menschlichem Vorstellen liebend entgegenkommend, Sprachbilder und Gleichnisse und Vergleiche: „Er [Gott] sendet herab vom Himmel Wasser, damit die Täler fließen nach ihrem Maß, und die Flut trägt Schaum auf der Oberfläche. Und worüber man Feuer entfacht, um Schmuck und Gerät zu gewinnen, aus dem tritt ein ähnlicher Schaum hervor. So trennt Gott das Wahre und das Nichtige voneinander. Doch der Schaum, er vergeht nutzlos. Was aber den Menschen nützt, bleibt auf der Erde. Und so prägt Gott die 61 62 Gleichnisse.“ Und dies „sind gewiss Zeichen für Leute, die nachdenken“ und als Mahnung: „Und wahrlich, geprägt haben Wir den Menschen in diesem Koran Gleichnisse, damit sie sich vielleicht ermahnen lassen!“63 Selbst für den reinen Glauben an die Einheit Gottes64, den reinen Monotheismus, gibt Gott selbst eine Verständnishilfe: „Es prägt Gott ein Gleichnis von einem Mann, der mehreren Partnern gehört, die miteinander im Widerstreit, und einem Mann, der einem einzigen Mann gehört. Gleichen sie etwa einander?“65 Die Gleichnisse geben die Möglichkeit, die Deutung des Inhalts an die jeweilige Zeit anzupassen, den Koran als gegenwärtige Rede Gottes zu erkennen. Dies setzt aber auch Vorkenntnisse voraus. Keinesfalls ist der Koran als eine Einführung in den Islam zu nehmen, keinesfalls Übersetzungen als Äquivalent für den Urtext, schwer nur ist die koranische Kritik an Judentum und Christentum ohne Kenntnis der Prinzipien der drei Religionen einzuschätzen, gar nicht einzuschätzen66 sind die sehr großen religiösen und sozialen Umbrüche, die der Koran und mithin die Botschaft, die, muslimisch gedacht, durch den Propheten erging, ohne Vorkenntnis der vorislamischen, „altarabischen“ Welt.67 Der Koran bewahrt dabei seine Einzigar61 Koran 13,17. Vgl. dazu bereits Frants Buhl, Über Vergleichungen und Gleichnisse im Qur’ān, in: Rudi Paret (Hg.), Der Koran. Darmstadt 1975, 75ff. (erstmals in: Acta Orientalia 2, 1924, 1ff.). 62 Koran 39,42. 63 Koran 39,27. Vgl. Koran 24,35 u.a. sowie Jesu Rede über den Sinn der Gleichnisse Mt 13,10 f. 64 Vgl. Koran 112. 65 Koran 39,29; 30,28. 66 Beispiel für eine solche Fehleinschätzung sind die Worte des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos, die Papst Benedikt XVI. in seiner „Regensburger Rede“ vom 12. September 2009 zitiert hat. 67 Eine übersichtliche, zuverlässige Kenntnis vermittelt Hartmut Bobzin, Mohammed, München 2000. Als „Klassiker“ keineswegs überholt: Frants Buhl, Das Leben Muhammeds. Deutsch von Hans Heinrich Schrader, Heidelberg 31961.
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tigkeit, indem er sich nicht unmittelbar zugänglich erschließt, jedoch dem Verstand sich öffnet und vor allem der spirituellen Erfahrung, die Rede Gottes selbst in der Gegenwart hören zu können. Der Koran ist daher, seinem Selbstverständnis nach, nicht mit anderen „Heiligen Schriften“ zu vergleichen. 5.
Fazit
Mit den Worten „Zachor!“ – „Vergegenwärtige!“ und „Iqra̕!“ – „Wiederhole!“ kann ein Verständnis der „Heiligen Schriften“ von Judentum und Islam erschlossen werden. Damit wird deutlich: Tora und Koran sind nicht auf dieselbe Weise zu lesen, zu hören, zu verstehen. So wahren sie ihre Eigenart. Die Tora befiehlt die Vergegenwärtigung ihres Inhalts; dies ist beim Koran nicht möglich. Der Koran fordert die Wiederholung seines Inhalts, was bei der Tora unmöglich wäre. Beide „Heilige Schriften“ rufen aber auf unterschiedlichen Wegen zur Verwirklichung ihres Inhalts durch ein ethisches Handeln auf, das in allen Grundsätzen übereinstimmt und daher geeignet ist, Frieden unter Religionen und unter Menschen zu stiften. Abstract The words „Zachor!“ – „Bring to mind!“ and „Iqra“ – „Repeat!“ help to give an understanding of the „Holy Scriptures“ of Judaism and Islam. They illustrate that the Torah and the Quran are not to be read, heard and understood in the same way. This is how they preserve their individual character. The Torah commands the „presentation“ of its contents which is impossible for the Quran. The Quran commands the repetition of its contents which is impossible for the Torah. Both „Holy Scriptures“, however, use different ways to call for a realization of their contents through ethical action which coincides in all basic principles and is therefore suitable to cause peace and religion among the people.
Bernhard Uhde, „Zachor!“ und „Iqra!“
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Gespräch zwischen Disziplinen
Sublime Lektüren Die ästhetische Bibel in Herders Schriften über hebräische Poesie Yael Almog Unter den neuen Rollen, die die Bibel im späten 18. Jahrhundert in Deutschland spielte, war diejenige als ein ästhetisches Artefakt vorherrschend. Schleiermachers hermeneutisches Paradigma beruhte auf der ausführlichen Wertschätzung der „Bibel als Literatur“ in Zirkeln von Kritikern und Dichtern, primär verbunden mit dem „Sturm und Drang“. Ästhetische Annäherungen an Schriften beeinflussten in signifikanter Weise die Beschäftigung des 18. Jahrhunderts mit der Bibel, besonders dazu beitragend sie als ein Objekt zu sehen, auf das sich jeder Lesende beziehen kann. Nach Jonathan Sheehan, wurde die Bibel in jener Zeit gesehen „als die Quelle der literarischen, künstlerischen, geistigen, rechtlichen und moralischen Tugenden die das anreichert, was wir Westliche Zivilisation nennen. In der Tat, die nahezu universelle Akzeptanz der kulturellen Relevanz der Bibel – nicht nur unter Akademikern, sondern auch unter Juristen, nicht nur unter den Zweiflern, sondern auch unter den Treugläubigen – legt in der Tat nahe, dass die Bibel, mehr als jeder andere besondere Text, weiterhin den Grund1 vorrat des Westlichen Erbes bildet.“ Von jedem Bürger und jeder Bürgerin des neuen Lesepublikums der Aufklärung konnte erwartet werden, dass er und sie die Bedeutung der Bibel für Angehörige verschiedener Konfessionen anerkennt, das heißt, akzeptiert, dass andere das Recht haben, andere geistige Überzeugungen zu hegen als man selbst. Nichtsdestotrotz konzentrierten sich zwischen 1753 und 1783 viele Schriften über die Bibel, die sie als ein Gegenstand subjekti1
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Jonathan Sheehan, The Enlightenment Bible. Translation, Scholarship, Culture, Princeton, N.J., 2005, 259. Alle Übersetzungen im Folgenden von Daniel Kneipp.
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DOI 10.2364/3846999844
ven Engagements ins Auge fassten, nicht auf die Bibel per se, sondern auf das Alte Testament, und besonders auf die Hebräische Poesie. Um die Bibel als ein Modell textuellen Wetteifers zu gebrauchen, hatte man nicht nur den Abstand zwischen einem göttlich inspirierten Text und weltlicher säkularer Literatur zu überbrücken, sondern ihn auch als ein auftauchendes universales Objekt für die Menschheit zu gestalten. Ein neuer Sinn der göttlichen Natur der Bibel tauchte auf in Wechselwirkung mit ästhetischen Vorannahmen. So prominente Figuren wie Goethe, Herder und Klopstock ermutigten die Lektüre der Bibel von einem literarischen Standpunkt aus, lobten die ästhetischen Verdienste des Alten Testamentes und wetteiferten mit Biblischer Poesie in ihren eigenen Schriften. Aber bezeichnenderweise geschah die Umwandlung der Bibel in ein kulturelles Faktum in einer intellektuellen Sphäre, die weder statisch noch neutral darin war, wie sie literarische Interpretation definierte. Die Untersuchung von Herders Werken macht offenbar, dass der Aufklärungsdiskurs der Bibel nicht bloß bereits existierende literarische und ästhetische Muster auf die Heilige Schrift angewendet hat. Vielmehr provozierte die intensive Beschäftigung mit der Heiligen Schrift, und besonders mit dem Alten Testament, in jener Zeit eine Anzahl von neuen textuellen Annäherungen mit dem Anspruch, eine literarische Interpretation auf die Bibel anzuwenden. Mit dem Fokus auf die Debatten jener Zeit darüber, wie die Bibel zu lesen ist, zeigt der Artikel, dass der Wandel der Bibel hin zu einem bedeutenden kulturellen Text durch die Erfindung und Umgestaltung von LektürePraktiken erleichtert wurde. Der Artikel untersucht die Interpretation des Alten Testamentes während des späten 18. Jahrhunderts als den Hauptbereich, in dem sich dies ereignete. Er behauptet, dass die Idealisierung der Hebräischen Poesie die wechselseitige Abhängigkeit von literarischer Interpretation und Theologie vorantrieb, indem die Lektüren jener Zeit des Alten Testaments eine Vision eines geteilten Ursprungs der Menschheit konstituierten, dessen Wiedererrichtung die Aufgabe aller Leser werden würde – ungeachtet ihres religiösen Glaubens. Durch den Wandel des Lesens der Bibel zu einem Prozess, dessen Bedeutung in der Anregung des menschlichen Verstandes und Gefühls liegt, schufen die neuen ästhetischen Annäherungen an die Bibel eine universelle Vision hinter dem Lesen der Heiligen Schrift. Die Idealisierung des Hebräischen begleitet so die Umformung von theologischen Praktiken und Begriffen zu einem allgemeinen Artefakt, von dem jetzt angenommen wurde, dass „der gemeine Leser“ und „die gemeine Leserin“ es teilt.
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Hebräische Poesie: Zwischen Nationalismus und Universalismus Herders Kommentar zur Hebräischen Bibel ist ein intensives und weitreichendes Projekt. Die Spannungen, die in seiner Exegese des Alten Testaments auftauchen werden oft mit philosophischen ad hoc Dogmen im Bereich der Ästhetik gelöst, was repräsentativ ist für seine generelle Stellung im Diskurs der Aufklärung: theoretische und ideologische Unstimmigkeiten, denen er öfters begegnete, generierten Neuerungen und führte zu originellen Infragestellungen von gemeinhin eingenommenen Ansichten seiner Zeitgenossen.2 Als praktizierender Theologe rief Herder große Spannungen am Kern des beginnenden Aufklärungs-Projektes hervor. Herders besonderer Einfluss auf das Denken der Aufklärung wurde seiner Theorie des Kulturrelativismus zugeschrieben, ein revolutionierender Zugang zu Kulturen und Nationalitäten, deren Einfluss auf Geschichtsschreibung, Anthropologie und Literaturstudien evident ist.3 Mit seinem neuen Ansatz versöhnt Herder den Status der Bibel als göttlichen Gegenstand mit seiner Stellung als Text, der entziffert werden kann als Produkt von bestimmten historischen und kulturellen Umständen. Herders restaurativer Ansatz der Bibellektüre überbrückt diese beiden Pole, indem er den Text in seinem historischen und kulturellen Kontext verortet. Dabei aber behauptet er, dass die Bibel die Manifestation höchster Poesie4 sei, und sieht in biblischer Lektüre einen Offenbarungsprozess, in dem menschliche Fähigkeiten zu äußerster Tätigkeit gebracht werden. Das Hebräische ist ein besonders geeigneter Gegenstand für Herders Lektüre-Zugang – ein Zugang, der textuelle Wiederherstellung als sein Hauptziel erachtet. Das Alte Testament wurde als fragmentarisch, dunkel und oft unauslotbar aufgefasst u.a. unter dem Einfluss von Spinozas Theologisch-Politischem Traktat (1670) und Richard Simons Histoire critique de Vieux Testament (1685). Herders Beharren darauf, dass jeder Leser und jede Leserin fähig sei, die Bibel zu lesen, beruht auf seiner Überzeugung, dass das Publikum sich in die antiken Autoren des Textes einfühlen können und in seinen 2
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Herders Idee von Sprache kombiniert Elemente sowohl von Georg „Hamanns Begriff von Sprache als göttlicher Gabe als auch Kants Auffassung von Sprache als ein Ausdruck des menschlichen Verstandes, der der menschlichen Natur inhärent ist. Michael Morton, Herder and the Poetics of Thought. Unity and Diversity in „On Diligence in Several Learned Languages“, University Park, Pa. 1989, 108f. Besonders in seinem Werk Vom Geist der ebräischen Poesie, das im Folgenden diskutiert wird. Zu Herders Konzeption von biblischer hebräischer Poesie als einer Verkörperung der göttlichen Natur der Poesie im Allgemeinen, siehe Jahn D. Baildam, Paradisal Love, Johann Gottfried Herder and the Song of Songs, Sheffield 1999, 54.
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bestimmten Entstehungsort und -zeit. Herder warnt seine Zeitgenossen vor der Gefahr der Projektion moderner Ideale und Begriffe auf Texte, die das Artefakt einer anderen Zeit und Kultur sind – und schlägt stattdessen einen relativistischen Zugang vor in solchen Werken wie Vom Geist der ebräischen Poesie (1782/3) und Über die neuere deutsche Literatur (1767/8). Aber dann ist eine der inhärenten Schwierigkeiten des Hebräischen während dieser Epoche die, dass es dieses relativistische Denken auf zwei Weisen umfasst, die quer zueinander stehen, trotz der Tatsache, dass sie dasselbe interpretative Prinzip bestätigen. Auf der einen Seite erfordern die Besonderheiten der Hebräischen Poesie genaueste Aufmerksamkeit, sofern die Sprache geprüft wird als Artefakt einer (fremden) Kultur unter anderen. Auf der anderen Seite, da es eine biblische Sprache ist, kommt dem Hebräischen ein besonderer Rang zu: es ist die Sprache der Ursprünge der Menschheit als Ganzer, wie sie in den Heiligen Schriften ausgeführt werden. Mit anderen Worten lädt die Sprache zur Anwendung einer anthropologischen Untersuchung ein, während sie gleichzeitig die Raison d’etre dieses Zuganges bedeutet, da die Sprache die Geschichte der gemeinsamen Ursprünge der Menschheit verkörpert. Die Lektüre hebräischer Texte macht so den Interpretationsvorgang zur höchsten Anwendung menschlicher Fähigkeiten und 5 einer kollektiven Anstrengung der Lesenden. Diese Sichtweise schrieb vor, dass die feine Empfindlichkeit in der hebräischen Charakterisierung von Welt-Gegenständen verloren gegangen ist, was ein eminentes Problem biblischer Übersetzung darstellt.6 Durch vielfältige Bezüge zur Schönheit der hebräischen Poesie begann man die Bibel als ein höchst ästhetisches Artefakt wahrzunehmen. Ein Haupteinfluss dieses Wandels stellt ein in Deutschland weit verbreiteter Text dar: Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews (1787) vom englischen Theologen Robert Lowth. Wie Jonathan Sheehan zeigt, war Lowths Apologie der hebräischen Poesie von grundlegender Bedeutung in der sich anbahnenden Bibel-Aneignung der Aufklärung für neue, vielseitige Zwecke, z.B. der Entwurf neuer ästhetischer Ideale und Lesepraktiken. Lowths Originalität in Bezug auf die Bibel 5
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Eine Aussage zugunsten dieser zwei letzten Attribute des Hebräischen erscheint in Herders Einleitung zu „Vom Geiste der ebräischen Poesie“, wo er erklärt, dass ein besseres Verständnis von hebräischer Poesie zu einem tieferen Verständnis der Kindheit der Menschheit führen kann (J.G. Herder, Schriften zum Alten Testament, hg. v. Rudolf Smend, Frankfurt a.M. 1993, 669f.) Wie Herder in seinen Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur herausstellt, in: Johann Gottfried Herder, Frühe Schriften 1764–1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt a.M. 1985, 193f.
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leitet sich zu einem großen Teil von seinem Zugang zur Übersetzung her, den er anwendet durch seine Exegese des Alten Testaments. Lowth bewies, dass Übersetzungen nicht den Rhythmus und den Reim des Originals wiederholen müssen7. Unter dieser Voraussetzung will Lowths Lektüre des Alten Testaments die Beziehung zwischen dem zeitgenössischen Lesepublikum und dem Autor des hebräischen Textes stärken, die ernsthaft angeschlagen gewesen ist: „Wir müssen soviel wie möglich danach streben, Hebräisch so zu lesen, wie Hebräer es gelesen hätten […] der, der die besondere Eleganz der hebräischen Poesie wahrnehmen und fühlen will, muss sich vorstellen, selbst genau wie die Personen verortet zu sein , für die sie geschrieben 8 ist, oder wie die Schriftsteller selbst.“
Die Fähigkeit, Eindrücke und Gefühle von einer Seele zur anderen zu übertragen, die Gedanken einer anderen Person zu kritisieren oder zu analysieren – was als entscheidende Vorbedingung der modernen Hermeneutik auftauchte – brachte einen neuen Sinn für das Teilen der Gedanken des Autors mit sich.9 Durch seine gewissenhafte Lektüre trug er auf bewundernswerte Weise vom Alten Testament Rechnung – dabei mit Fokus auf die ästhetischen Vorzüge des Textes. Gemäß Lowth sollte Poesie nicht nur durch die empathische Adressierung der Gefühle des Autors analysiert werden; sie sollte auch geschrieben sein in Hinblick auf diese antizipierte Anstrengung. Hebräische Poesie, mit ihrer Wirkung auf die menschlichen Leidenschaften, ist wohl das historisch bedeutsame Emblem einer solchen Poesie. Daher dient sie ergänzend zum momentanen Projekt der Griechen, die zu hohen Verdiensten durch die Wendung auf die Sinne aufrufen, um eine von Mitbestimmung gekennzeichnete bürgerliche Ordnung zu regulieren und zu erhalten. Lowth nimmt es auf sich, zu zeigen, dass die hebräische Poesie eine besondere Tugend besitzt: während die Rolle der Poesie im Allgemeinen ist, „den Hang unserer Natur zu bessern“, sei es das Verdienst der hebräischen Poesie 10 „ihre natürliche Strahlkraft.“ Die Kraft der hebräischen Poesie, vornehme Gefühle zu erhalten, die ihrerseits das Zeugnis menschlicher Erfolge sind, 7 8
Sheehan, The Enlightenment Bible, 148–181. Robert Lowth, Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews, Boston, Mass./New York, 1829, 48. 9 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1975, 9–26. 10 Ebd., 16f.
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rührt von ihrer sublimen Schönheit her: „Der menschliche Geist kann nichts Erhebenderes, Schöneres oder Eleganteres erfassen; in dem die fast unaussprechbare Erhabenheit des Themas völlig der Energie der Sprache gleichkommt und der Würde des Stils.“11 Die Sprache taucht hier als ein ideales ästhetisches Medium auf, das die vornehmsten Gefühle der Menschheit einfängt. Während Lowths Arbeit Herder stark beeinflusste, möchte dieser nicht bloß die Großartigkeit der hebräischen Poesie herausstellen, sondern auch die Notwendigkeit, hebräische Texte als dichterische Artefakte einer bestimmten Kultur zu fassen. Ironischerweise benutzt Herder dieselben Beweise um sowohl die Besonderheit der hebräischen Nation zu betonen, woher die Notwendigkeit rührt, sie in ihrem kulturellen Kontext zu verstehen, als auch die universelle Bedeutsamkeit der gemeinsamen hebräischen Vergangenheit, zweifellos eine Folge seiner Stellung als praktizierender Theologe. Ein wichtiges Beispiel für diese Zweischneidigkeit ist seine Diskussion des hebräischen Klangs. Antike Sprachen sind repräsentativ für eine besondere Ära der Geschichte: die ursprüngliche Stufe der Menschheit, in der sich menschliche Sprachen zuerst entwickelten, ein Stadium, charakteri12 siert durch eine Gruppe orientalischer Sprachen, den Morgenländer. Wie Herder behauptet, verlangt die Originalität und Ursprungsnatur der Morgenländer nicht nur einen sorgsamen Gebrauch einer relativistischen kulturellen Analyse. Diese Sprachen erhellen vielmehr den Prozess des Auftauchens, der Gestaltung und der Diversifizierung von Sprachen voneinander im Allgemeinen. Darüber hinaus ist der Gebrauch dieser so genannten nationalen Kategorie eine stete Erinnerung an die Identifizierung des Ursprungs der Sprache mit einer religiösen Vorstellung von Menschheit in ihrer soge13 nannten Kindheit. 11 Ebd., 20 12 Eine Ansicht, die Herder in seinem Aufsatz über den Ursprung der Sprachen verfolgt, wo er feststellt: „Die ältesten morgenländischen Sprachen sind voll von Ausrüfen, für die wir spätergebildeten Völker oft nichts als Lücken oder stumpfen, tauben missverstand haben“ (Herder, Frühe Schriften 1764–1772, hier 701f.). 13 Eine umfassende Genealogie der Vorstellung des Morgenländers liegt vor in Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005. Polaschegg weist auf, wie dieser Terminus auf Biblischer Gelehrsamkeit und Reisen in den Mittleren Osten beruht, deren Befunde im Heimatland er Reisenden zirkulierten. Sie zeigt wie, für Herder und andere, indem sie das Morgenland als den Ort bestimmen, an dem die hebräische Bibel geschrieben wurde, die Idealisierung des Textes, als einer ursprünglichen, antiken Vergangenheit zugehörig, ermöglicht wurde. Sie verfolgt diese Transformation bis ins späte 18. Jahrhundert: „Ohne dabei den Charakter einer Offenbarung zu verlieren, gewinnt der biblische Text im Laufe
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Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774) führt dieses Projekt weiter durch eine Analyse der Geschichten des Buches Genesis. Das Hebräische gewann seinen obersten Rang dadurch, dass es Gott bei der Erschaffung der Welt durch das Wort diente. In dieser Hinsicht betrachtet Herder die hebräische Bibel nicht nur als einen Forschungsgegenstand, auf den seine Interpretationstheorie anzuwenden wäre; er nimmt es auch auch wahr als eine Geschichte des Auftauchens der verschiedenen Bestandteile, auf denen seine Theorie fußt. Das Alte Testament (und besonders das Buch Genesis) erhält seinen Status als ein kollektives Ethos der Ursprünge der Menschheit durch die Wichtigkeit, die es Sprache und Ästhetik zuspricht, und dabei stellt Herder die hebräische Bibel als eine selbstreflexive Abbildung der historischen Bedeutsamkeit der Poesie dar. Dieser Ansatz stellt das Hebräische nicht als eine besondere Sprache und Nation dar, sondern als ganz und gar ungekennzeichnet. Die Idealisierung des Hebräischen taucht also auf mit seiner Schilderung als Sprache der Schöpfung, einer Sprache, deren außerordentliche Kraft sich von ihrer einzigen, meta-poetischen und sinnlichen Natur herleitet. In seiner Lektüre des Buches Genesis als einer Historiographie der Menschheit argumentiert Herder für die Wichtigkeit ihrer Dokumentation des Auftauchens von Nationalsprachen. Eine Reflexion über die Ursprünge der Nationalsprachen ist ausgeführt im Abschnitt Die Poetische Geschichte von der Verteilung der Völker und Sprachen in der Ältesten Urkunde. Dort zitiert Herder die Geschichte vom Turmbau zu Babel als einer Erklärung der Verschiedenartigkeit der voneinander abweichenden Nationalsprachen. Nach dem Narrativ von Babel kann auf Erden nicht eine Sprache allein lange fortbestehen, sondern ihre Fragmentierung in verschiedene Sprachen ist unvermeidbar. In der Tat, fährt Herder fort, sind verschiedene Sprachen ein notwendiges und natürliches Phänomen, weil sie die Mannigfaltigkeit von (physischen, kulturellen, u.a.) Unähnlichkeiten unter den sie Sprechenden reflektieren. Wenn Hebräisch nur eine von vielen Nationalsprachen ist, wie kann man für ihren höheren Rang Rechnung tragen – dabei in Betracht ziehend seinen Stand als heiliger Sprache? Herders Lektüre der Genesis-Geschichten stellt eine Antwort auf diese Frage vor: Hebräisch ist eine Nationalsprache, die trotzdem einzigartig ist; das nationale Epos, das es entfaltet erhellt die Geschichte des Auftauchens von menschlichen Sprachen, dabei den Einfluss von kulturellen Besonderheiten auf linguistische Unterschiede anerkennend. dieser Jahrzehnte die Signatur einer Poesie, aus der die orientalische (Vor-)Vergangenheit spricht“ (166).
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In einigen seiner Schriften über Ästhetik, findet Herder eine andere Antwort auf sein Fragen, und führt dabei sein Prinzip des Relativismus ad absurdum, wenn er die ästhetischen Vorzüge der Sprache beschreibt. Für Herder ist Hebräisch eine höchste Manifestation von Kunst, weil es eine hervorragende Wiedergabe des Volksgeistes ist. Die hebräische Bibel taucht in einer kurzen Liste von Werken auf, deren einziger Vorzug in ihrer Fähigkeit liegt, den Volksgeist ihrer Kultur einzufangen zur Zeit ihres Schreibens: die hebräische Bibel, Homers Poesie, Ossian (ein Zyklus gälischer Gedichte), Shakespeares Stücke und die Lyrik von Klopstock, Herders liebster zeitgenössischer Dichter. In Herders Ältester Urkunde praktiziert er konsequent die Lesemethode, die er verficht, eine, die aufmerksam ist zu den imaginären und literarischen Eigenheiten des Textes. Während er seine Lesenden stets an die außerordentliche Natur des untersuchten Textes erinnert, beschreibt Herder das Alte Testament als ein kulturelles Artefakt, dass besonders gut in sein Lektüre-Paradigma passt. Die hebräische Bibel, genau wie jeder andere Text, sollte gedeutet werden als ein Artefakt der Kultur, die es produziert hat. Doch ihre mächtige Bildlichkeit, die sich aus der Einzigkeit der Kultur ableitet, für die sie komponiert wurde, macht sie gleichzeitig „auf bezeichnende Weise verschieden“ von anderen Texten. Die Liebe der Antiken Hebräern zu Allegorien und Bildern, so argumentiert Herder, offenbart ihre äußerste Sinnlichkeit: der hebräische Poet schaffte es, dieses Volk anzusprechen durch seinen geschickten Gebrauch von literarischen Mitteln, denn im Falle der Israeliten leiteten Sinne ihre Auffassung. Der Versuch des antiken hebräischen Poeten, alles in einem Bild zu versammeln, ist nicht ein Anzeichen eines Mangels an feiner Kultiviertheit, sondern ein Beweis ihrer be14 sonderen, erweiterten Empfindlichkeiten. Die Kultur, die im Werk des biblischen Dichters angesprochen wird, ist einzig, oder höchststehend, in Hinblick auf die Bedingungen, die sie bietet für die Herstellung von Dichtung – die antiken Hebräer tauchen als ein natürliches Publikum für mündliche Dichtung auf.15 Diese Lesepraktiken, besonders durch die Identifikation mit den antiken Autoren, verstärken weiter den Konflikt, der im Hebräischen verkörpert ist. Die Sprache ist ein 14 Ebd. 98. 15 Herder entwickelt ein Modell von mündlicher Poesie als schlechthinniges Ideal für Literatur in jeder Epoche; alle Poesie sollte eine „mündliche Form“ gegeben werden in Herders Konzeption von Mündlichkeit als abstraktem Prinzip. Siehe David Wellbery, The Specular Moment. Goethe’s Early Lyric and the Beginnings of Romanticism, Stanford, Ca., 1996, 190f.
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Rest einer verlorenen Sinnlichkeit und Empfindlichkeit, die die Menschheit einmal ursprünglich besessen hat; es ist eine wilde, uranfängliche Dichtung, die der Inbegriff des Geistes jeder Art von Dichtung ist. Während nach Herder jede Art von Dichtung als eine göttliche Gabe Gottes an die Menschheit angesehen werden sollte, ist die hebräische Bibel außergewöhnlich in ihrer Fähigkeit, den Beginn von Sprache wiederzuerzählen, und damit die Geschichte seines eigenen Übertragungsmediums zu entfalten. Das Problem der Einzigkeit der hebräischen Kultur taucht wieder auf in Herders späterem Text über die hervorstechende Schönheit des Hebräischen in seinem Vom Geist der ebräischen Poesie, wo er weiter seine Theorie des kulturellen Relativismus Seite an Seite neben einer Apologie für hebräische Poesie als eines ästhetischen Artefaktes entwickelt. Der Dialog zwischen Alciphron, einem jungen Gelehrten, der dem Hebräischen und seinem mühsamen Studium grollt, und seinem Lehrer Eutyphron, der eine Apologie für die Sprache aufbietet, sucht die angemessene kulturelle Wertschätzung für Hebräische Poesie eingehend zu prüfen. Die beiden ziehen die in der Epoche auftauchenden Kriterien für die Reflexion über Poesie in Betracht: ihre Musikalität, die innovative Natur ihres Inhaltes oder die Harmonie ihrer Form, und ihr Eindruck auf die Lesenden. Für jede einzelne dieser Kategorien ästhetischer Vorzüge erweist das Hebräische, dass es die höchsten Standards, die Poesie erreichen kann, erfüllt. Das heißt, die Apologie des Hebräischen – die ausgeht von Eutyphrons Folgerung, dass jede Nation ihren Homer, Ossian oder Shakespeare besitze, um den außergewöhnlichen ästhetischen Vorzug zu veranschaulichen, den die hebräische Poesie in ihrer zeitgenössischen kulturellen Umwelt erwarb – hinterlässt den Eindruck, die hebräische Bibel liefere einen unschätzbaren Beitrag zur 16 Menschheit als ganzer. Vom Geist der ebräischen Poesie betont den Beitrag der hebräischen Poesie zur Menschheit indem als einzig unter den nationalen Literaturen gekennzeichnet wird. Es ist nicht die objektive Schönheit der hebräischen Sprache, die ihren göttlichen Ursprung beweist; vielmehr ist es die menschliche Natur ihres Publikums, die die einzigartigen Vorzüge der Sprache offenbart. Herder beschreibt die die morphologischen Besonderheiten der Sprache als ein Mittel ästhetischen Ausdrucks im Kontext der Debatten des 18. Jahrhunderts:
16 Herder, Schriften zum Alten Testament, 674 f.
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E.: „Also die Sprache, die viel ausdrückende, malende Verba hat, ist eine Poetische Sprache: je mehr sie auch die Nomina zu Verbis machen kann, desto poetischer ist sie. Ein Nomen stellt immer nur die Sache tot dar: das Verbum setzt sie in Handlung, diese erregt Empfindung, denn sie ist selbst gleichsam mit Geist beseelet. Erinnern Sie sich, was Lessing über Homer gezeigt hat, dass bei ihm alles Gang, Bewegung, Handlung sei, und daß darin eben sein Leben, seine Wirkung, ja das Wesen aller Poesie bestehe. Nun ist bei den Ebräern beinahe alles Verbis: d. i. alles lebt und handelt.“17
Die Eleganz und natürliche Regsamkeit, die Herder dem Hebräischen in seiner Funktion als Kommunikationsmedium zuschreibt, macht die Sprache zu einer wichtigen Wendung in den Diskussionen des 18. Jahrhunderts über Sprache und Kunst. Herders Dialog rekapituliert die Diskussion über statische und dynamische Aspekte, die in Kunst und Poesie enthalten sind, berühmt in dem Briefwechsel zwischen Winckelmann und Lessing. Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) entgegnet Winckelmanns Behauptung, dass Schmerz nicht dargestellt sei durch Skulptur, weil es angeblich nicht den vornehmen, unzerstörbaren Geist der Griechen ziemen würde. Lessing entwickelt eine Theorie, nach der der Ausdruck menschlicher Gefühle von den jeweiligen Eigenschaften des Kunstmediums abhängt. Poesie und bildende Kunst sind daher unvergleichbar; während Poesie eine Erzählung in der Zeit entfaltet, tut die Skulptur das im Raum. Für Herder vermag Poesie seine räumlichen Grenzen zu überwinden – das ist in der Tat das, wonach sie strebe. Um dies zu zeigen, zieht er kritisch Bilanz von Lessings Laokoon in seinen Kritischen Wäldern (1769). Sein Gedankengang, der zu seinem eigenen Beitrag zur ästhetischen Theorie führt, entfaltet sich durch eine Verbesserung von Lessings Essay, den er nichtsdestotrotz in hohen Ehren hält. Dadurch die Position Lessings herausfordernd, besteht Herder darauf, dass Kunst fähig ist, vorübergehende Wirkweisen nachzuahmen, was bedeuten soll, dass der Kritiker und die Kritikerin sich auf die Reaktion konzentrieren muss, die die jeweilige Kunst in ihrem Pub18 likum anregt, mehr als auf ihre sogenannten inhärenten Beschränkungen. Lessing hat gezeigt, dass das Wesen der Dichtung ihre „Bewegung“ ist, die das Gefühl von Belebtheit erzeugt. Da Verben den wesentlichen Teil der hebräischen Sprache bilden, wie Alciphron leicht zugibt, ist die Sprache 17 Ebd., 675. 18 Siehe Gregory Moore, Introduction, in: Johann Gottfried Herder, Selected Writings on Aesthetics, Princeton, N.J./Oxford 2006, 1–30, hier 9.
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besonders geeignet für die Erfindung von Poesie – wie sein Gesprächspartner ihn überzeugen kann. Gleichzeitig ist das Hebräische nicht geeignet, wie Eutyphron schließt, für den abstrakten Denker, für den Philosophen. Der erste Schritt, die kulturelle Bedeutsamkeit der hebräischen Sprache zu loben, beruht also nicht auf der Verneinung, dass die Sprache in der Tat arm ist – wenigstens in Bezug auf ihr Vokabular – im Vergleich mit anderen Sprachen, sondern vielmehr durch die Anerkennung ihrer inhärenten Charakteristik. Eine korrekte Untersuchung der Sprache zieht einen Vergleich nach sich: von ihren inneren Eigenschaften, z. B. die relativ große Anzahl von Verben und die Ableitung von Substantiven aus Verben. Eutyphron geht so zu einer Makro-Perspektive über und lobt den „Reichtum“ an Verben. Diese Verschiebung für zur Charakterisierung des symbolischen Wertes des Hebräischen, und zwar seine dynamisches oder „besonders poetisches“ Wesen. In Herders Ansatz hallt Lessings Laokoon nach, in Herders Kritik dieses Aufsatzes in seinen Kritischen Wäldern und in seinem Porträt des Hebräischen als die Verkörperung der poetischen Sprache in Vom Geist der ebräischen Poesie: die genuine Definition von Ästhetik als In-Bewegung-Setzen menschlicher Kognition. In Alexander Gottfried Baumgartens Theorie des Ästhetischen neigt die Seele natürlicherweise dazu, Wahrnehmungen zu 19 verbinden, sie zu verschmelzen. Mit dieser Sicht der kognitiven Natur ästhetischer Darstellung klingt in Eutyphrons erstem Zug, die hebräische Sprache zu verteidigen, Herders eminent anthropologische Sichtweise auf Ästhetik an. Dieser Grundsatz, wie Herder ausführlich in Kritische Wälder beschreibt, bestimmt, dass die Schönheit eines kulturellen Artefaktes nicht mit dem einer anderen Kultur verglichen werden kann. Kulturelle Artefakte sollten nur im Kontext der bestimmten Zeit und Kultur untersucht werden, die sie herstellte. Kritische Wälder erkundet diesen Grundsatz und bettet ihn in eine wissenschaftlich grundierte Beschreibung der physiologischen Entwicklung der Menschheit ein. Hier stellt Herder heraus, dass kulturelle Artefakte – Poesie als emblematischer Ausdruck dieses Grundsatzes – darauf abzielen die sinnlichen Bedürfnisse und Empfindlichkeiten des Volkes, für das sie hergestellt worden sind, anzusprechen. Im Laufe der Geschichte hat die Menschheit ihre 19 ‚Felix aestheticus‘ wird so zur Bezeichnung einer Person, die in diesem Prozess SelbstKontrolle und Weltoffenheit erlangt. Ein höchstes ästhetisches Objekt besitzt vollendete Ordnung, die „menschlichen Wesen mit dieser Zentrierung der Subjektivität auszustatten vermag, die früher eine Aufgabe des transzendenten Wesens gewesen war.“ Siehe Jochen Schulte-Sasse, Aesthetic Orientation in a Decentered World, in: David Welbery u.a. (Hg.), A New History of German Literature, Cambridge, Mass., 350–355, hier 353.
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emotionale Fassungskraft weitgehend eingebüßt, aber die feine und nuancierte Verbindung des Morgenländers zur Natur ist in ihren ursprünglichen Sprachen bewahrt – obgleich sie nicht völlig vom modernen Leser und der modernen Leserin verstanden werden kann. Herder beharrt so auf der Kraft einer synchronen kulturellen Forschung, eher als auf einer diachronen. Vom Geist der ebräischen Poesie wiederholt Herders frühere Konzeption, die er in seiner Ältesten Urkunde entwickelte, wo er Sprache definierte als die Quelle von menschlichen kulturellen Anstrengungen und in besonderer Weise von Poesie. Aber gleichzeitig wählt er einen entgegengesetzten Ansatz, wenn der behauptet, dass die ästhetische Schönheit nicht zwischen Kulturen verglichen werden kann, weil jede Kultur seine eigenen kulturellen Ideale hat. Der Text versöhnt diese beiden widerstreitenden Argumente dadurch, dass er das Hebräische als die eine von vielen Kulturen beschreibt, die weiterhin eine einzigartige Rolle in der Menschheitsgeschichte erfüllt: dies widerspiegelt sich in seinen wohlunterschiedenen Klängen, die eine Reminiszenz der ursprünglichen Rolle der Poesie sind, und in der Natur seiner Poesie, die emblematisch für Poesie im Allgemeinen ist durch seine außergewöhnliche Belebtheit. In Hinblick auf Lektüre-Praktiken und Erziehung, die einem kollektiven Publikum verfügbar ist, ist hebräische Poesie zugänglich für alle Lesenden im gleichen Maße – gerade durch seine ursprünglich ferne und erhabene Natur. Diese Wendung, die bezeichnend für Herder wie für andere Autoren, 20 inklusive Klopstock und Hamann , ist, erzeugt ein inhärentes Problem für die Leser des Hebräischen: die Auffassung der Sprache durch Juden, in deren Kreisen die Sprache gelernt und für rituelle und juridische Zwecke gebraucht wurde, bedeutete eine kontinuierliche Gegenwart, die die Sicht der Sprache als einer toten, die eine Wiederherstellung bedarf, gefährdete. Herder handelt von der Schwellenhaftigkeit des Hebräischen als einer Sprache, die nicht ganz tot oder lebend ist in seinem Vom Geist der ebräischen Poesie, wo auf Alciphrons Kommentar, dass die Rabbinen diese Sprache gesprochen haben, sein älterer Gefährte die Ansicht widerlegt, dass Judaismus die Schönheit des Hebräischen fortführe, und beharrt darauf, dass die Rabbinen nur dazu beigetragen haben, die Sprache zu verschandeln: E.: „Nicht eben Perlen, auch leider nicht nach dem Genius ihrer uralten Bildung. Das arme Volk war in die Welt zerstreut: Die meisten bildeten also ihren Ausdruck nach dem Genius der Sprachen, unter denen sie lebten, und es ward ein trauriges Gemisch, an das wir hier nicht denken 20 Vgl. Daniel Weidner, Bibel und Literatur um 1800, München 2011.
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mögen. Wir reden vom Ebräischen, da es die lebendige Sprache Kanaans war, und auch hier nur von ihren schönsten reinesten Zeiten.“21
Herders Modell eines wiederherstellenden Lesens war also formuliert durch seine theologischen Eingriffe, die am Alten Testament ansetzten. Diese hingen von der Sicht des Hebräischen als einer idealisierten, toten Sprache ab, deren Schönheit und einmalige ästhetischen Vorzüge zu einem großen Teil wiederaufgefunden werden können. Lesen als eine wiederherstellende Wendung zur Vergangenheit, ein Zugang, der auf einem empathischen Verständnis von Autoren verschiedener Kulturen und Epochen basierte, wurde vorherrschend in der Tradition säkularer Hermeneutik (säkular insofern, als sie für alle Texte gebraucht wurde und weitverbreitet war in der Deutung von literarischen 22 Texten). Im Gegensatz zum Neuen Testament und anderen religiösen Texten, die als inhärent christlich identifiziert wurden, war das Alte Testament ein geeigneteres Objekt, auf das Lesen als ein kognitiver Prozess angewendet werden konnte, der die menschlichen Fassungskräfte schärft im Angesicht der Begegnung mit einem ästhetischen Artefakt. Das Alte Testament konnte zu einem Artefakt erklärt werden, das vergessen war, um dann gerettet zu werden: als ein kulturelles Erbe einer Gemeinschaft von Lesenden, die die Geschichte des Ursprungs der Menschheit durch neue Zugänge zur Ästhetik unterscheiden und wertschätzen kann. Die deutsche republique des lettres des 18. Jahrhunderts initiierte die Darstellung von biblischer Poesie als ein höchstbedeutendes Artefakt aus anderen Gründen als solchen, aus denen solche Bewertungen in früheren Epochen vorgenommen wurden. Autoren reklamierten die hebräische Bibel als ein Gegenstand, dessen Vorzüge durch textuelle Analyse offenbart werden, die jeder Lesende vollziehen kann, während de facto sie durch ihre Lektüre der hebräischen Bibel erst entwickelten, was dieser textuelle Zugang zur Folge haben sollte. Unter diesem Einfluss wurden die Vorzüge des Alten Testaments als eingebettet gesehen innerhalb einer weiteren Konzeption von Poesie und Lektüre – als sich in einem kognitiven Prozess gründend, dessen Vollendung geistliche Anklänge birgt. Die neuen Beschreibungen der ästhetischen Vorzüge der hebräischen Poesie beruhten auf der theologischen Ansicht der hebräischen Bibel als eines historischen Berichtes der Ursprünge der Menschheit: der Beginn von ästhetischer Erfindung und Sprachge21 Herder, Schriften zum Alten Testament, 678. Herder, Geist der ebräischen Poesie, 32. 22 Über den Einfluss von Herders Sprachphilosophie auf die Tradition der Hermeneutik (anerkannt am allgemeinsten mit Schleiermacher) siehe Michael Forster, After Herder. Philosophy of Language in the German Tradition, Oxford/New York 2012, 3f.
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brauch. Eine besondere Weise, auf der diese Auffassung des Hebräischen den universellen und spezifischen Rang der Sprache zu versöhnen vermag, ist die Sichtweise hebräischer Poesie als einer reflektierten, meta-poetischen oder einer „besonders erfolgreichen“ Wiedergabe des nationalen Volksgeistes. Die Umschaffung der hebräischen Bibel zu einem ästhetischen Objekt bringt ihre Wiedereinführung als eines ausschließlich menschlichen Textes mit sich (der die besonderen Normen einer gegebenen Gesellschaft von Individuen an einem gewissen Platz und einer gewissen Zeit wiedergeben), während seine Lektüre als ein Verfahren einer universalen geistlichen Entdeckung verbucht werden soll. Der so genannte vergessene hebräische Text wurde so zu einer Einladung, an einem Prozess der Wiederherstellung teilzunehmen, dessen ideologische Grundlage sich von einem Protestantischen Modell einer persönlichen Begegnung mit dem Text herschreibt. Das Hebräische bezeichnet sowohl das Ziel der textuellen Analyse als auch seine Rechtfertigung, indem es ein neues Publikum von Lesenden anspricht – und dadurch zusammensetzt – durch das gemeinsame theologische Ziel, das sie alle teilen. Das hebräische Sublime erzählt die Geschichte, wie theologische Zeichen einen geteilten Schatz der Menschheit wurden, und wie – im Appell zu einem ästhetischen Unterfangen – neue interpretative Fertigkeiten und ästhetische Ideale die Gefolgschaft zu einer Version protestantischreligiöser Ideale und Praktiken erzwangen. Abstract The article deals with the interpretation of the Old Testament during the th late 18 century. This time is particularly interesting as the commentary to the Hebrew Bible by Johann Gottfried Herder caused an idealization of the Hebrew language and poetry which went hand in hand with an upswing of the literary interpretation of the Old Testament. Besides the theological interpretation, the aesthetic approach towards the scripture therefore also gained in importance. The „sublime beauty“ of the Hebrew language and the „radiance“ of the Hebrew poetry became decisive for the secular hermeneutics which understand and value the Old Testament as cultural heritage.
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Impulse für die Praxis
Anforderungssituationen zur Bibel Hartmut Rupp und Henning Hupe 1.
Die Bibel im kompetenzorientierten Religionsunterricht
Auch wenn der Themenbereich „Bibel“ in den Bildungsplänen bundesweit nicht mehr eigens ausgewiesen wird (noch in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz), so bleibt doch die Bibel die entscheidende Bezugsgröße für den evangelischen Religionsunterricht. Es gibt so gut wie keine Unterrichtseinheit ohne Einbezug biblischer Texte. Um dies zu sichern, werden in den Bildungsplänen der einzelnen Bundesländer den „Inhaltsfeldern“, den „Themen“- bzw. „Kompetenzbereichen“ zusätzlich biblische „Basistexte“ (Niedersachsen), „Referenztexte“ (Hessen) oder eine ganze Reihe „mögliche(r) Bibeltexte“ (Baden-Würt1 temberg) zugewiesen. In Bayern wird eine Liste obligater und fakultativer Bibeltexte benannt. An der Fähigkeit, ganz unterschiedliche biblische Texte bedacht zu erschließen und auf das eigene Leben zu beziehen, wird kontinuierlich, altersbezogen und aufbauend gearbeitet. In dieser Auseinandersetzung soll z.B. in Baden-Württemberg die Fähigkeit erworben werden, die besondere Bedeutung der Bibel erläutern bzw. den Anspruch und die Bedeutung biblischer Texte beschreiben zu können. 2 Die Frage ist, ob dies gelingt und ob es sich als lebensbedeutsam plausibel machen lässt. 1 2
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Nordrhein Westfalen verzichtet auf solche zusätzlichen Angaben So das Kompetenzziel in dem Bildungsplan 2016 Ev. Religionslehrer für die Sekundarstufe I in Baden-Württemberg 3.1.3 (Kl. 5/6) „Schülerinnen und Schüler erläutern Entstehung, Aufbau und Bedeutung der Bibel.“ http://xn--bildungsplne-bw-9kb.de/,Lde/Startseite/ BP 2016BW_ALLG/BP2016BW_ALLG_SEK1_REV (29.7.2016). Dazu gehört auch 3.2.3(1) „Schülerinnen und Schüler können die Bedeutung der Bibel für den evangelischen Kirchen erläutern.“ Im Gymnasium geht es darum, Bedeutung und Anspruch biblischer Texte in unterschiedlichen Zusammenhängen beschreiben zu können (Bildungsplan 2016 Evangelische Religionslehrer-Allgemeinbildende Gymnasien 3.1; 3.2; 3.3 (Kl. 5/6 und 7/8) http:// xn--bildungsplne-bw-9kb.de/,Lde/Startseite/BP2016BW_ALLG/BP2016BW_ ALLG_GYM_REV (29.7.2016). In Nordrhein-Westfalen findet man unter „Deutungskompetenz“ die „Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler die Bedeutung religiöser Vorstellungen und religiöser Zeugnisse in ihren vielfältigen Formen zu verstehen und den beson-
Glaube und Lernen, 31/2016, Heft 1, Impulse für die Praxis
DOI 10.2364/3846999851
2.
Die Suche nach Anforderungssituationen
Die in allen Bundesländern und in allen Fächern in Folge des „PISASchocks“ als hilfreiches Instrument zur Steuerung von nachhaltigen Lernprozessen eingeführte Kompetenzorientierung verdankt sich einem pragmatischen Bildungsverständnis. Jeder Unterricht zielt danach auf den Erwerb von schulisch erlernbaren Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen, die dazu verhelfen, „bestimmte Probleme“ in „variablen Situationen“ „erfolgreich und verantwortungsvoll“ „lösen“ zu können.3 Die Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ aus dem Jahre 2003 formuliert deshalb: „Kompetenz ist nach diesem Verständnis eine Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen, also konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typus zu bewältigen.“4 „Anforderungssituationen“ sind demnach Situationen, die den Erwerb bereichsspezifischer Kompetenzen „anfordern“, die Lebensrelevanz anzeigen und so den Unterricht ausrichten und legitimieren. Zu erlernende Kompetenzen sind deshalb immer wieder darauf zu befragen, ob sie dazu befähigen, Situationen des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens zu bewältigen. Dies gilt danach auch für den Religionsunterricht, weshalb in neuen Schulbüchern und aktuellen Unterrichtsvorschlägen Anforderungssituationen be5 nannt werden. Sie wollen Situationen aufzeigen, die Kompetenzen „anfor6 dern“.
3
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deren Wahrheits- und Geltungsanspruch religiöser Sprach- und Gestaltungsformen zu erfassen“. Kernlehrplan für das Gymnasium Sek I 2013, 14. In Eckhard Klieme u.a. Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, Berlin 2003, 59 heißt es deshalb: „In Übereinstimmung mit Weinert […] verstehen wir Kompetenzen […] die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Ebd. Vgl. Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal 1–3 Stuttgart/Leipzig 2013– 2014; Heidrun Dierk u.a. (Hrsg.), Das Kursbuch Religion 1–3, Braunschweig/Stuttgart 2015–2017: Hartmut Rupp/Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Braunschweig/Stuttgart 2013. Die Zeitschrift Religion 5–10 weist für jede Unterrichtseinheit eine Anforderungssituation aus. Siehe auch Susanne Bürig-Heinze u.a., Anforderungssituationen im kompetenzorientierten Religionsunterricht, Göttingen 2014. Gabriele Obst Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 2008, 148. formuliert: „Kompetenzen zielen auf den Umgang mit alltäglichen oder herausgehobenen Situationen, in denen der Einzelne sich zu konkreten Herausforderungen verhalten oder in denen er selbst handeln muss.“
Hartmut Rupp und Henning Hupe, Anforderungssituationen zur Bibel
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Didaktisch sind zwei Grundmodelle auszumachen, nämlich ein Ansatz, der zu erlernende Kompetenzen aus vorweg bestimmten Anforderungssituationen zu generieren sucht 7 sowie ein Ansatz, der zu vorgegebenen und verpflichtenden Kompetenzen exemplarische Anforderungssituationen bestimmen will. In dem in der Regel praktizierten zweiten Ansatz haben Anforderungssituationen unterschiedliche didaktische Funktionen: (1) Sie dienen der Verdeutlichung der Kompetenzerwartungen, indem sie diese an die Lebenssituation der Schülerinnen und Schüler rückbinden. Sie werden in der sog. „Kompetenzexegese“ bedacht und bestimmen die Unterrichtsplanung. (2) Sie zeigen die Lebensrelevanz vorgelegter Kompetenzen auf und erlauben die Begründung und Plausibilisierung aber auch die Motivierung ihres Erwerbs im Unterricht. Sie öffnen den Blick für die religiöse Dimension von Alltags- und Lebenserfahrungen und ermöglichen, religiöse Sichtweisen alltags- und lebensbezogen zu formulieren. (3) Sie erlauben am Beginn einer Lernsequenz den Lernstand der Schülerinnen und Schüler zu erheben und dienen so der Kompetenz-„darstellung“. (4) Sie ermöglichen auf dem Weg und am Ende eines Lernprozesses Lernergebnisse einzuschätzen. (5) Sie lassen sich als Lernaufgaben einsetzen, brauchen aber dazu ein zusätzliches didaktisches Arrangement und bedürfen einer herausfordernden, motivierenden Aufgabenstellung. Sie dienen dann nicht mehr der Kom8 petenzdarstellung, sondern dem Kompetenzerwerb. Schaut man auf die Darstellung von Anforderungssituationen in Unterrichtsmaterialien so dominieren Alltagssituationen, deren Anforderungscharakter durch eine Frage oder eine Aufgabenstellung herausgestellt wird. Als Anforderungssituationen werden auch Funde bezeichnet wie ein ungewöhnlicher Grabstein, ein irritierendes Bild oder Kunstwerk, provozierende Liedtexte oder Meinungen, Filmausschnitte und Romanszenen, Zeitungsmeldungen u.a.m.9 Jedes Mal sollen dabei religiös bedeutsame Grundthe7 8 9
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Vgl. Obst, Lehren, 146–153. Vgl. dazu auch Susanne Bürig-Heinze (s. Anm. 5), 9. Die in diesen Unterrichtsmaterialien zusammengetragenen Impulse werden immer wieder mit Unterrichtsideen versehen. Gabriele Obst, Lehren, 147f., sieht solche Anforderungssituationen in grundlegenden Fragen menschlichen Lebens, elementaren Erfahrungen und Widerfahrnissen, zentralen ethischen Problemlagen der Gegenwart, in denen sich Christen heute bewähren müssen, in Fragen nach dem, was in einer pluralen Welt wahr und tragfähig ist für das eigene Leben, bedeutsame religiöse Spuren im gesellschaftlich kulturellen Umfeld.
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men und Grundfragen angesprochen werden können, die für ein eigenständiges und verantwortungsbewusstes Leben förderlich sind. Grundsätzlich gilt, dass solche Situationen exemplarischen Charakter tragen und damit stellvertretend für einen größeren Zusammenhang stehen, der religiös bedeutsam ist und zentrale Kompetenzen anfordert, die im Unterricht erwerbbar sind. Sie sollten eigenständig, ohne weitere Hilfen auf unterschiedlichen Niveaustufen bearbeitbar sowie herausfordernd und motivierend sein. Die Suche nach solchen Anforderungssituationen gestaltet sich jedoch schwierig, vor allem wenn es darum geht, „echte“ Situationen zu benennen. Meist werden „konstruierte“ und deshalb künstliche Situationen vorgelegt, die so lange akzeptabel sind wie sie „authentisch“ wirken. Problematisch sind Anforderungssituationen, die aus bloß didaktischen Gründen entworfen werden, in der Regel aber von der Erfahrungswelt der Schülerinnen und 10 Schüler abstrahieren und deshalb auch wenig Herausforderung enthalten. Kritisch zu befragen sind Anforderungssituationen, die sich allein aus dem Unterrichtsgang ergeben. Die Lebensrelevanz bestünde dann allein darin, dass man damit bezeichnete Kompetenzen nur im Rahmen schulischen Lernens brauchte. Dies ist zwar in einem kumulativen Lernen durchaus sinnvoll, kann aber den Blick auf das persönliche, soziale, kulturelle, gesellschaftliche und globale Leben nicht ersetzen, für das der Unterricht Relevanz beansprucht. Nachdenken verdienen Anforderungssituationen, wenn sie allein aus dem binnenkirchlichen Bereich stammen. Wird damit schon Lebensrelevanz ausreichend aufgewiesen? Besonders schwierig wird die Suche nach Anforderungssituationen, wenn ihr Lebensbezug zwar behauptet wird, aber gar nicht ohne weiteres auf der Hand liegt. Dies könnte bei der Bibel der Fall sein. In welchen Lebenssituationen brauchen Schülerinnen und Schüler die Kompetenz, die besondere Bedeutung der Bibel erläutern und die Bedeutung biblischer Texte beschreiben zu können – und inwiefern trägt dies zu einem eigenständigen und verantwortungsvollen Leben bei? Hier stößt man nicht einfach auf das Problem begrenzter didaktischer Fantasie, sondern vor allem auch auf den Bedeutungsverlust christlicher Religion in der Gesellschaft. Angesichts solcher Schwierigkeiten wird der ganze Ansatz immer wieder in Frage gestellt. Geht es im Religionsunterricht überhaupt darum, Proble10 Darauf dürfte sich die Kritik von Bernd Schröder beziehen, wonach Anforderungssituationen den Schülerinnen und Schülern als ihre vermeintlich eigenen übergestülpt werden; vgl. Bernd Schröder, Kompetenzorientierung – Zweck oder Mittel der Verbesserung des Religionsunterrichts?, in: Rainer Möller u.a. (Hg.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht: Von der Didaktik zur Praxis, Münster 2014, 181–194, hier 190.
Hartmut Rupp und Henning Hupe, Anforderungssituationen zur Bibel
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me in nicht vorhersehbaren Lebenssituationen lösen zu können? Geht es bei religiösem Lernen überhaupt darum Aufgaben bewältigen zu können?11 Wird dabei Religion nicht funktionalisiert?12 Kommt dabei die christliche Religion in ihrer Lebensrelevanz überhaupt in den Blick? Bevor diese Fragen noch einmal aufgegriffen werden, sollen zunächst einmal unterrichtspraktische Versuche mit einigen Anforderungssituationen zur Bibel dargestellt und ausgewertet werden. 3.
Anforderungssituationen zur Bibel
Um die Möglichkeit von Anforderungssituationen zur Bibel weiter bedenken und prüfen zu können, wählten wir ein recht pragmatisches Vorgehen. Wir haben zwei veröffentlichte Anforderungssituation ausgewählt (Situation 2 und 3) und eine neue formuliert (Situation 1). Leitend war die Frage, welche Situationen in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler dazu herausfordern könnten, die besondere Bedeutung der Bibel beschreiben und erläutern zu können. Anforderungssituation 1 „Teilnahme am Religionsunterricht“ verdankt sich der Beobachtung, dass immer mehr Eltern an Gymnasien der fünften Klasse ihre Kinder vom Religionsunterricht abmelden, damit sie weniger Unterricht haben und weniger belastet sind. Die Sommerferien sind vorbei und Laura kommt nun in die 5. Klasse des Gymnasiums. Sie ist schon ganz gespannt und voller Vorfreude auf alles Neue: Die neuen Klassenkameradinnen und die neuen Fächer. Allerdings haben Lauras Eltern bestimmt, dass Laura nicht am Religionsunterricht teilnimmt – deren Idee war, Laura damit den Einstieg in die neue Schule zu erleichtern; sie sollte einfach weniger Stunden haben. Heute Nachmittag trifft Laura ihre Freundin Meike, die schon in die 6. Klasse geht und den Reli-Unterricht sehr mag: Meike versucht nun Laura und deren Eltern zu sagen, warum der Reli-Unterricht so toll ist, was sie dort lernt und warum sich Laura doch anmelden sollte. Am meisten mag sie biblische Geschichten. Schreibe auf, was Meike sagen könnte.
Die dargestellte Situation ist konstruiert, hat aber „authentische“ Züge, da sie konkrete Erfahrungen in einer Schule aufnimmt. 11 Diese Frage wirft Michael Fricke, Die Bedeutung der Kompetenzorientierung für Verständnis und Praxis des Religionsunterrichts, in ZTHK 112, 2015, 378–401, hier, 385f., auf. 12 So Schröder, Kompetenzorientierung (siehe Anm. 10), 189.
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Anforderungssituation 2 „Bookreport“ stammt aus einer Handreichung für den kompetenzorientierten Religionsunterricht an Gymnasien in Baden-Württemberg.13 Im Deutschunterricht sollen alle Schülerinnen und Schüler ein Buch vorstellen. Frau Richter, die Deutschlehrerin, hat mit ihrer Klasse fünf Regeln erarbeitet, die bei einer Buchvorstellung zu beachten sind. Jetzt sollen alle Kinder sagen, welches Buch sie nehmen möchten. Frau Richter geht alphabetisch vor, deshalb kommt Thomas erst spät dran. Da sind die Bücher, die er auch gerne genommen hätte – „Reckless – Steinernes Fleisch“ von Cornelia Funke oder „Krabat“ – leider schon vergeben. Plötzlich hat er eine verrückte Idee: Der Religionslehrer hat neulich gesagt, die Bibel sei „das Buch der Bücher“! Als Frau Richter ihn fragt, welches Buch er vorstellen möchte, antwortet er: „Ich würde gerne die Bibel vorstellen – geht das?“ Frau Richter sagt: „Na klar, warum soll das nicht gehen? Und jetzt könnt ihr euch schon mal ein paar Notizen für eure Buchvorstellung machen!“ Erleichtert schaut Thomas noch mal in sein Heft und liest: 1. Schildere kurz, worum es in deinem Buch geht. 2. Stelle die Autorin bzw. den Autor vor. 3. Nenne den Verlag und das Jahr, in dem das Buch erschienen ist. 4. Gib uns eine Leseprobe: Wähle einen Abschnitt, der dir gut gefällt. 5. Sage zum Schluss, wem du das Buch empfehlen würdest. Aufgabe: Formuliere, was Thomas sich zu den fünf Punkten notiert.
Die Situation nimmt die schulische Lernaufgabe auf, nach der alle Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht der 6. Klasse einen Bookreport schreiben müssen. Die Anforderungssituation hat also einen gewissen authentischen Charakter, bleibt jedoch im Rahmen schulischen Lernens. Anforderungssituation 3 „Bibel auf dem Altar“ stammt aus einem Oberstufenbuch14 und wird dort neben anderen Anforderungssituationen für das Kursthema „Bibel“ vorgeschlagen. Sie nimmt den Sachverhalt auf, dass im Unterschied zu katholischen Kirchen in allen evangelischen Kirchen auf dem Altar eine geöffnete Bibel liegt.
13 https://lehrerfortbildung-bw.de/faecher/religion/gym/…/anforderungssituationen.pdf (29. 7.2016) 14 Hartmut Rupp/Veit Jakobus Dieterich (Hg.), Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Stuttgart/Braunschweig 2013, 148.
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Bild: Bibel auf einem Altar mit Kreuz, Blumen und Kerzen Gemeinsam betrachtet ihr das Bild. Jemand fragt: Was bedeutet dieses Buch auf dem Tisch? Was antworten Sie?
Diese Situation nimmt den binnenkirchlichen Gebrauch der Bibel in den Blick. Auch wenn die hier vorgelegte Situation konstruiert ist, kann sie doch als authentisch gelten. Diese drei Anforderungssituationen wurden Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen 6, 9 sowie 10 und 11 an vier Schulen in Baden-Württemberg vorgelegt (eine Realschule, drei Gymnasien). Die verschiedenen Klassen haben jeweils eine Situation erarbeitet. Diese wurden als Arbeitsblätter vorgelegt und sollten schriftlich bearbeitet werden. Auf eine Namensangabe wurde bewusst verzichtet. Gebeten wurde jedoch Klasse, Alter, Geschlecht und Konfession anzugeben. Für die Beschäftigung mit diesen Situationen wurde der laufende Unterricht unterbrochen. Zeitvorgaben gab es keine. Wie im Einzelnen die Arbeitsblätter präsentiert wurden, wurde nicht erhoben. Das Vorgehen erlaubt selbstverständlich keine repräsentativen Aussagen. Entscheidend sollte sein, herauszufinden, wie die Schülerinnen und Schüler auf solche Anforderungssituationen reagieren, wie sie diese bearbeiten und welche Kompetenzen sich darin zeigen. Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob solche Anforderungssituationen überhaupt für den Religionsunterricht sinnvoll sind und was dies für die Bewertung des kompetenzorientierten Religionsunterrichts heißt. 4.
Anforderungssituation „Teilnahme am Religionsunterricht“
Anforderungssituation 1 enthält einige Festlegungen, denn Meike mag den Religionsunterricht, findet ihn toll und mag auch Bibelgeschichten. Schülerinnen und Schüler, die den Religionsunterricht nicht so positiv bewerten und sich biblischen Geschichten schwertun, müssen einige Energie aufwenden, um ihre Sicht darzustellen. Die Aufgabe bezieht sich auf den Religionsunterricht als Ganzes, fordert aber auch dazu heraus, auf biblische Geschichten einzugehen. Die Aufgabe wurde in zwei 6. Klassen einer Realschule (39 Antworten) sowie einer 6. Klasse des Gymnasiums (21 Antworten) mit jeweils konfessionellkooperativem Religionsunterricht bearbeitet. Die Aufgabe veranlasste die allermeisten, Gründe zu benennen, warum Meike den Religionsunterricht und biblische Geschichten mag. Nur ein kleiner Teil der Realschulgruppe gab keine Antwort, einer beurteilte den Religionsunterricht weniger euphorisch (R1.6.21.12.m.e. „bis jetzt geht mit
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dem Religionsunterricht“)15 oder verwies auf die Selbstbestimmung von Laura (R1.6.25.11.w.k. „eigentlich müsste Laura das selbst entscheiden“). Die orthographisch eigenwillig verfassten Gründe der Realschulklassen lassen sich dreifach gliedern: (1) emotional-beziehungsorientierte, (2) methodische und (3) inhaltliche Gründe. Die Situation ist so offen, dass alle drei Begründungen gewählt werden können. Häufig sind die Gründe miteinander kombiniert. Die einen begründen die Attraktivität des Religionsunterrichts mit dem Spaß, den man hier erleben kann, weil der Unterricht spannend ist und man viel lernt. R6.1.11.w.e. „Man hört viele geschichten über Gott, die Welt und viele andere Sachen. Es macht sehr viel spaß und sehr einvach ist es auch mann muss kaum Hausaufgaben machen.“ R6.7.11.m.oK „die Lehrer sind immer sehr net“
Die anderen begründen die Attraktivität mit Lernformen wie Malen, Basteln und vor allem dem Erzählen von Geschichten. R6.24.11.m.k. „Der Untterricht macht sehr spaß man kann viel malen und geschichten hören.“ R6.5.12.w.oK. „mir hat es gefallen das wir die Feiertage um Ostern besprochen haben wie z. B. Palmsonntag und das wir herausgefunden haben was an diesen Tag passiert ist. Ich fand auch super das wir immer, wenn wir einen Text geschrieben haben, was dazu malen durften. Natürlich war es auch schön, wenn der Lehrer eine Geschichte vorgelesen hat.“
Etwas weniger als die Hälfte argumentiert auch inhaltlich (17 von 39). Im Religionsunterricht lernt man viel über Gott, über die Erschaffung der Welt, über Gott und Jesus, über die Vergangenheit, über die eigene Religion und andere Religionen sowie über das Kirchenjahr mit seinen Festen. R1.6.10.11.w.e. „Die Welt erschaffung ist sehr spannend. Man kann viel über Gott, Jesus, Ostern lernen“. R1.6.2.11.w.e. „Es wäre gut wen sie dann den Religionsstunden mit macht, weil sie vieles über Gott, Jesus und der Vergangenheit lernt. Und sie lernt warum es Weihnachten gibt oder den Nikolaus. Sie wird eine menge erfahrung machen und dabei viel Spaß haben.“ R1.6.12.w.k. „Meine Antwort: es ist schön in Reli weil mann lehrnt viele über goot und was war vor den Jesus. Und haben so viel spaß in 15 Man lese: Realschule 1, 6. Klasse, Antwort 21, 12 Jahre, männlich, evangelisch. W= weiblich, k= katholisch.
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Reli. Und sie lehrnt wie so ghibt Weihnacszeit und Ostern uns so viele dinghe.“
Die besondere Bedeutung der Bibel wird in ihrem Charakter als religiöses Buch voller Geschichten gesehen. Sie enthält Geschichten von Gott, der Welt, von Jesus und den Festen des Kirchenjahres, die als „spannend“ angesehen werden. Diese Sicht ist formelhaft geprägt und fasst den Inhalt der Bibel (und damit auch des Religionsunterrichts) in wenigen Sätzen zusammen. Die Inhalte werden nicht in Frage gestellt, sondern als interessant und lehrreich beurteilt. Die Schülerinnen und Schüler verfügen erkennbar über ein zutreffendes, aber allgemeines Wissen über die Inhalte der Bibel und bewerten dieses fast ausnahmslos als positiv. Der Vergleich mit einer 6. Klasse eines Gymnasiums (G3) zeigt die gleichen drei Begründungsansätze. Erkennbar aber überwiegt hier das emotionale Erleben, auch die methodische Attraktivität wird betont. Inhaltliche Begründungen werden deutlich weniger formuliert (8 von 21), doch es zeigen sich ähnliche formelhafte Aussagen wie in der Realschulklasse. Die Besonderheit der Bibel wird auch hier in spannenden Geschichten über Gott und Jesus gesehen sowie in der Möglichkeit, zu erfahren, wie Menschen früher gelebt haben. G3.6. 6.11.w.k „der Religionsunterricht ist sehr lehrreich. Dort lernt man über andere Religionen und über Gott und Jesus der Religionsunterricht ist auch interessant und spannend.“ G3.6.9.11.w.k. „Religionsunterricht ist toll, weil man erfährt wie die Menschen früher gelebt haben und was sie gearbeitet haben. Früher war nämlich alles anders.“
5.
Anforderungssituation „Bookreport“
Schülerinnen und Schüler von drei 9. Klassen (zweimal Gymnasium G3 mit insgesamt 39 Antworten, einmal Gymnasium G1 mit 18 Antworten) wurde die Anforderungssituation „Bookreport“ vorgelegt. In der Aufgabe geht es um die Kompetenz, die Eigenart der Bibel als Buch darzustellen und dabei den Inhalt zu benennen, die Entstehung zu erklären und die Bibel als Buch persönlich zu bewerten. Vorausgesetzt ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler acht Schuljahre lang kontinuierlich mit biblischen Texten und dem Bibelbuch auseinandergesetzt haben. Auffallend ist, dass alle Schülerinnen und Schüler alle Fragen beantwortet haben, doch dabei sind Gruppenergebnisse zu erkennen. Offenkundig haben etliche voneinander abgeschrieben. Hier wurde nicht deutlich genug Wert auf die eigenständige Antwort gelegt.
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Etliche Antworten auf die erste Frage nach dem Inhalt sind ähnlich formelhaft gehalten wie bei den Schülerinnen und Schülern aus den 6. Klassen. Sie bleiben im Wesentlichen benennend. G3.9.7.14.w.e. „Es geht um Geschichten und um Gott und Jesus. Auch kann man Psalmen finden.“ G 3.9. 24. 14.m.e. „In dem Buch geht es um Gott, Jesus, die Welt und das Vertrauen zu Gott.“
Einige verweisen auf die beiden Teile der Bibel und bleiben dabei distanziert-beschreibend. G3. 9.12.14.m.e. „Grundlegend ist die Bibel in zwei Teile geteilt, das alte und das neue Testament. Im Alten Testament werden viele kleine und lehren der Geschichten erzählt, während im Neuen Testament hauptsächlich Geschichten von Jesus erzählt werden.“
Daneben finden sich (19 von 39) differenzierende Antworten (einige sind identisch), die eine persönliche Auseinandersetzung und Identifikation sowie ein erweitertes Wissen anzeigen. Vereinzelt werden kritische Akzente gesetzt. G3. 9.1.14.w.e. „In meinem Buch geht es um einen Mann, der im Mittelpunkt steht und wie eine Art ‚Wunder‘ hervorruft. Und um seinen Vater der die Welt erhalten hat. Jesus, sein Sohn, reist durch Länder und ‚biegt das Rad‘ zu Gerechtigkeit um. Er ist wie der Schutzengel der Menschen und würde alles für sie tun.“ G3.9.2.14.w.v. „Es geht darum, dass die Welt erschaffen wird und um den Fortgang der Menschheit. Höhen und Tiefen, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und um die Lehren des Lebens.“ G3. 9.14.14.w.e. „Im Grunde geht es um Gott, Jesus und die Menschen früher. Und es besteht aus Weisheiten und nicht bestätigten Begebenheiten. Es geht um den Glauben zu Gott.“
Bei der zweiten Frage nach dem Autor wird durchgängig und ganz selbstverständlich die Menschlichkeit der Bibel betont. Die Frage nach dem Verlag und dem Erscheinungsjahr zeigt Verlegenheiten und Unsicherheiten, doch lassen sich gewisse Wissensbestände erkennen. G3. 9.3. 14.m.e. „Es wurde von vielen Menschen geschrieben und überliefert.“ G 3.9.4.14.w.e. „3. Jahrhundert nach Christus (Verlag: Deutsche Bibelgesellschaft).“
Nahezu alle benennen eine Lieblingsgeschichte (keine Antwort zwei von 39) bzw. einen Lieblingsvers wie z.B. Joh 8,9 oder 1.Kor 13,13, Ps 23,4 oder
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Ps 71,1–3. Vereinzelt werden einzelne Verse zitiert: „So wie du willst, dass dir andere tun, so tue ihnen zuerst.“ In der Angabe von einzelnen Bibelworten wird man den Einfluss des Konfirmandenunterrichtes annehmen müssen, in dem die Konfirmandinnen und Konfirmanden ihren eigenen Konfirmationsspruch auswählen und zugesprochen bekommen. Als Einzeltexte werden Noah, Schöpfung, Doppelgebot, Samariter, die Weihnachtsgeschichte und Exodus genannt. Bei der Frage, wem man die Bibel empfehlen würde, zeigen sich vier Antworttypen: einmal an religiös gebundene Menschen (11 von 39); dann an existenziell Suchende (7 von 39), sodann an Interessierte (6 von 39), dann aber auch an alle (9 von 39). Ohne Antwort blieben zwei. G 3. 9.26.14.w.e. „Ich empfehle das Buch denen, die sich für das Christentum interessieren und in die Kirche gehen.“ G3.9.23.14.w.e. „Ich empfehle das Buch denjenigen, die mehr über Gott und die Geschichten Jesu lernen wollen.“ G3.9.20.14.w.e. „Dass man Buch ist geeignet für Menschen, die Halt suchen, keine Perspektiven und Lebensweise haben, Trost suchen, die Sicherheit brauchen, dass es feste Regeln gibt, eine höhere Macht existiert und sie etwas haben wollen, dass sie beschuldigen können und bitten und loben können. Ein Mensch sucht immer eine Erklärung für viele Dinge. Glaube ist einer dieser-egal welcher Religion!“
Die besondere Bedeutung der Bibel zeigt sich in ihrem Bezug zu Gott und Jesus. Für die Mehrheit (24 von 39) ist die Bibel im Kern ein Buch für religiöse Menschen, seien es suchende, interessierte oder gebundene. Bibel ist demnach vornehmlich für solche Menschen relevant, die einen persönlichen Bezug haben. Implizit dürfte sich daraus ergeben, dass in der Sicht einer Mehrheit die Bibel für Menschen ohne einen solchen religiösen Bezug keine besondere Bedeutung hat, wiewohl es darin bedenkenswerte Geschichten und Aussagen gibt. Der Blick in die Antworten aus einer anderen Schule zeigt ähnliche Ergebnisse. Bei der Schilderung, worum es in der Bibel geht, dominiert die formelhafte Wendung „um Gott, Jesus und die Welt“ (9 von 18). Nur bei wenigen finden sich differenzierende Darstellungen (4 von 18), einmal auch mit kritischen Akzenten. Lieblingstesttexte werden von den meisten eher pauschal benannt (Mose), drei geben an, sich nicht auszukennen oder keinen Text zu mögen. Die Bibel ist mehrheitlich für religiös gebundene (7 von 18) und interessierte (4 von 18) Menschen zu empfehlen. Typisch ist die Ant-
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wort: „alle die religiös sind (an Gott glauben) würde ich es empfehlen“.16 Einmal wird betont „Niemandem, da ich es langweilig finde.“ Eine darüberhinausgehende, allgemeinere Bedeutung wird der Bibel nicht zugeschrieben. 6.
Anforderungssituation „Bibel auf dem Altar“.
Diese Anforderungssituation wurden Schülerinnen und Schülern aus fünf Klassen an drei Gymnasien der Jahrgangsstufen 10, 11 und 12 vorgelegt. Erkennbar werden Unterschiede, die mit der Zusammensetzen der Lerngruppe zu tun haben dürften. So besteht eine 10. Klasse (G2) aus fast 50 % katholischen Schülerinnen und Schülern, die anderen Klassen sind mehrheitlich evangelisch. Eine 11. Klasse (G3) ist überwiegend männlich, die Gruppen der Kursstufe sind überwiegend weiblich (G2; G3). Eine Gruppe hatte eine ganze Doppelstunde, um die Anforderungssituationen auf einem Rechner zu beantworten (G2 mit 8 Antworten von 9 Schülerinnen und Schüler). Hier sind die Antworten essayartig und länger. Mehr Zeit führt offenkundig zu differenzierteren Antworten. Zu diesem Befund gehört jedoch auch, dass drei Schülerinnen und Schüler keinen Text abgegeben haben. Die vielfältigen Antworten lassen eine Kombination unterschiedlicher Aussageformen erkennen: Sie sind (1) beschreibend (2) erklärend, (3) deutend und (4) beurteilend aber auch (5) selbst reflektierend. G2.11.1.17.w.e. „Dieses Buch, das du auf dem Tisch siehst ist die Bibel. Sie liegt auf einem Alter in der Kirche. Hinter der Bibel steht ein Kreuz. An solch einem Kreuz wurde Jesus gekreuzigt. Rechts und Links daneben leuchten jeweils zwei Kerzen. Der Altar steht sehr Zentral in der Kirche und ist für jeden zugänglich. Die Bibel ist der Mittelpunkt des Altars und ebenfalls für jeden zugänglich….“ G2.11.6.17+18.w.e. (zwei Sch.) „Das Buch was du da siehst, ist eine Bibel, die die Heilige Schrift für Christen beinhaltet. Sie ist so etwas wie der Koran für Muslime und die Tora für Juden. Die Bibel liegt auf einem Altar, wahrscheinlich in einer Kirche. Der Altar ist eine Art Tisch, auf dem wichtige Dinge für den Gottesdienst stehen. Die Bibel liegt da, weil Geschichten passend zur Jahreszeit oder besonderen Anlässen im Gottesdienst erzählt werden. Sie beinhaltet 2 Testamente das Neue und das Alte Testament. Das alte Testament berichtet von der Entstehung der Erde und von der Zeit vor Christi, das neue Testament behandelt 16 G1.9.9.15.1.oK.( = ohne Konfession)
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Geschichten von Jesus und seinen Jüngern und der Zeit danach. Die Bibel wurde 1517 von Martin Luther übersetzt. Das war sehr wichtig für die Bevölkerung und die Kirche, da jeder sie lesen und verstehen konnte.“ G2.11.2.oA.w.e. „Hinter der Bibel steht ein Kreuz. Das Kreuz auf dem Jesu gekreuzigt worden ist. Ich denke, dass die Bibel diesen besonderen Platz in der Kirche erhalten hat, da sie die Grundlage des christlichen Lebens ist. Sie liegt an einem zentralen Punkt, wie auch in unserem Leben.“ G2.11.2. o.w. „Viele Dinge die in der Bibel stehen, werden oftmals falsch interpretiert. Es gibt viele Dinge, die in der Bibel stehen, die sehr umstritten sind. Wie beispielsweise die Entstehungsgeschichte. Christen sagen, dass Gott die Welt in sieben Tagen erschuf. Wissenschaftler hingegen, sagen dass die Welt in mehreren Millionen von Jahren entstanden ist.“ G2.11.3.16.w.e. „Heutzutage gibt es auch viele neu interpretierte Fassungen der Bibel in denen die antiquierte Sprache der Bibel in die heutige übersetzt haben. Ich denke diese Form kommt bei den Jugendlichen heute besser an da ich glaube dass die antiquierte Sprache viele davon abhält die Bibel vollständig zu lesen und ist für viele auch schwierig sie zu verstehen.“ G2.11.1.17.w.e. „In der Bibel stehen viele Sachen die uns in verschiedene Richtungen leiten sollen, dennoch muss jeder Mensch selbst wissen an was er sich halten will und an was eher nicht.“
Die Antworten enthalten einmal Bibelwissen und andererseits Wissen um kirchliche bzw. religiöse Praxis. G2.11.6.17+18.m.e. „das Buch das du dort siehst, ist die Bibel. Die Bibel ist die Heilige Schrift für uns Christen, so wie der Koran für die Muslime. Dort steht geschrieben wie die Welt von Gott erschaffen wurde und viele wichtigen und alten Geschichten für uns Christen. Diese Geschichten wurden von Propheten mit der Zeit niedergeschrieben.“ G2.11.4.16.w.e. „Aus dem Grund, dass die gesamte evangelische Religion darauf basiert, wird die Bibel im Gottesdienst verwendet, auch zur Beantwortung theologischer Fragen.“
Die Antworten zeigen (1) die Identifikation mit Bibel und Kirche, was durch ein inkludierendes „wir“ bzw. „uns“ und „unser“ erkennbar wird, (2) die eigene Positionierung, aber auch (3) die eigene Distanzierung. G1.10.5.15.w.e. „Dieses Buch ist die Bibel. Sie liegt dort, weil sie ein wichtiger Bestandteil unseres Glaubens ist. Es passt gut auf das Bild, da auch ein Kreuz zu sehen ist, dieses Kreuz ist auch ein Symbol unseres
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Glaubens. Das Buch liegt an einem harmonischen Platz umgeben von Kerzen. Dies verdeutlicht, dass das Buch etwas besonderes ist.“ G2.11.7.17.m.e. „Selber habe ich die Bibel noch nie ganz gelesen, aber habe etwas gelernt, wenn es auch nicht so viel ist. Natürlich kennt man viel Geschichten aus dem Religionsunterricht. Dazu muss ich noch sagen, dass ich nie konfirmiert wurde, da der Unterricht samstags war und ich da sehr oft keine Zeit hatte. Ich behaupte zwar selber von mir, dass ich nicht sehr gläubig bin, aber trotzdem hat mich das zum Nachdenken angeregt.“ G1.10.4.15.w.e. „Das Buch auf dem Tisch ist die Bibel, darin stehen viele Erzählungen und Gebete. Die Bibel ist in das alte und das neue Testament aufgeteilt. Wahrscheinlich liegt dieses Buch auf einem Tisch in einer Kirche. Oft wir die Bibel in im Gottesdienst von Pfarrern benutzt. Sie lesen dann Geschichten, Psalme und Gebete vor und gelegentlich zitieren sie auch aus der Bibel.“
Die Bibel wird durchgängig als Grundlage des christlichen Glaubens, Zeichen des Glaubens, religiöses Symbol, das wichtigste Symbol des Christentums aber auch als Heilige Schrift oder Wort Gottes bezeichnet. Aufgrund einer entwickelten Symbolisierungsfähigkeit wird der symbolische Charakter der Situation ganz selbstverständlich wahrgenommen. Hinweise auf die spezifische Bedeutung der Bibel im Protestantismus (sola scriptura; die Erwartung der Gegenwart Gottes im verkündigten Wort) finden sich nicht, auch keine Überlegungen, warum auf dem Altar einer katholischen Kirche keine Bibel liegt. Einige reizt diese Aufgabe jedoch zu einer eigenständigen Interpretation, die den symbolischen Gehalt der Situation erfassen kann. G 3. 11.13.18.w.e. „Ich würde antworten, dass die Bibel als Gottes Wort ein Geschenk von ihm an uns ist und zur Wertschätzung liegt die Bibel auf dem Altar. Außerdem sollte sie jederzeit zugänglich sein, dass sie auch im Gottesdienst gebraucht wird. Vielleicht liegt sie auch symbolisch auf dem Tisch, um zu zeigen, dass Gottes Wort für jeden zugänglich ist und jederzeit wert. Eventuell steht sie auch als Einladung für alle, dass man auch selbstständig jederzeit daraus lesen darf. Mit den Kerzen außen herum, wird sie auch geehrt. Sie liegt oft vorn, um den Eindruck zu erwecken, dass sie unmittelbar da ist.“
Es zeigen sich Differenzen, die die Wahrnehmung, Deutung, Beurteilung, die Selbstidentifikation und das Wissen um Bibel und religiöse Praxis betreffen. Individuellen, elaborierten Ausführungen stehen konventionelle, formelhafte Antworten gegenüber. Jedes Mal wird die Heterogenität der Lerngruppe erkennbar.
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Insgesamt lässt die Bearbeitung jedoch erkennen, dass hier Kompetenzen im Sinne eines Bündels von Kenntnissen (zu Bibel, Kirche, andere Religionen), Fähigkeiten (beschreiben, erklären, deuten, beurteilen können) sowie Einstellungen und eigene Positionierungen eingebracht werden können. Angesichts einer Vielzahl von knappen Antworten, die mit einem Satz oder zwei Sätzen auskommen (z.B. 17 von 28 in G 3.12), drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass die Anforderungssituation eine zu geringe Herausforderung darstellt. 7.
Ertrag
Die Anwendung der drei Anforderungssituationen in verschiedenen Klassenstufen erlaubt nur begrenzt verallgemeinernde Aussagen. Mit einiger Vorsicht lässt sich aber dennoch sagen: (1) Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 6 schätzen die Bibel als Buch mit spannenden Geschichten, was mit den Inhalten, vor allem aber auch mit der methodischen Erschließung sowie der Atmosphäre und der Beziehungsqualität des Unterrichtes zu tun hat. (2) Schülerinnen und Schüler am Ende der Sekundarstufe I bewerten überwiegend die Bibel als Buch für Kirchenchristen und religiös Interessierte. Für diejenigen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, ist die Bibel im Grunde irrelevant. Eine allgemeine kulturelle, literarische oder moralische Bedeutung kommt nicht in den Blick. (3) Schülerinnen und Schüler der Kursstufe können alle die besondere Bedeutung der Bibel im evangelischen Christentum benennen und zumindest ansatzweise den praktischen Gebrauch der Kirche beschreiben. Nur ein kleinerer Teil lässt eine existenzielle Bedeutung erkennen, was jedoch auch mit einer zu geringen Herausforderung zu tun haben könnte. Wirkungen auf Kultur und Gesellschaft kommen nicht in den Blick. (4) Die Bibel wird als Buch voller „Geschichten“, aber auch Gebote verstanden, die in der Wahrnehmung älterer Schülerinnen und Schüler zunehmend auf Verständnisschwierigkeiten stoßen. Viele „Sachen“ erweisen sich dann als strittig. Nicht in den Blick kommt die Bibel als anregendes Buch, um über Grundfragen des Lebens nachzudenken. (5) Situationen mit einem geringen Herausforderungscharakter verleiten zu einer wenig differenzierten schnellen Erledigung. Die Antworten geben jedoch vor allem Hinweise auf Lernstände konkreter Lerngruppen. So erfährt z.B. eine Lehrperson „In dem Unterricht predigt uns der Lehrer den Inhalt des Buches vor…“ (G 2.11.5.17.m.e.) Die Antworten haben deshalb diagnostische Qualität. Sie dienen einer Lern-
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standserhebung und erlauben eine Evaluation des Lernergebnisses. Erkennbar werden Kenntnisse und Fähigkeiten, es werden aber auch Einstellungen erhoben. Die Lehrpersonen können damit ihre Einschätzung der gesamten Lerngruppe überprüfen und Lernwege entsprechend planen. Sie öffnen damit auch den Blick auf mögliche Lernchancen, können doch unterschiedliche Antworten aufeinander bezogen werden. Zusammengenommen und durch weitere Anforderungssituationen erweitert eignen sie sich zudem auch als komplexe Lernaufgaben für Kleingruppen, die aufgrund eigenaktiven Lernens deutliche Lernzuwächse erwarten lassen. 8.
Anforderungssituationen Bibel und die Lebensrelevanz
Belegen die drei Anforderungssituationen die Lebensrelevanz der Bibel? Belegen sie, dass es für das eigene Leben der Schülerinnen und Schüler in Gegenwart und Zukunft wichtig ist „die besondere Bedeutung der Bibel beschreiben und erläutern zu können“ und „den Anspruch und die Bedeutung biblischer Texte zu beschreiben“? Solche Lebensrelevanzen sind durchaus zu erkennen und in den drei Situationen zu sehen: Die Anforderungssituation „Teilnahme am Religionsunterricht“ verweist auf die lebensgeschichtliche Relevanz biblischer Erzählungen, die von der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler als „spannend und interessant“ beurteilt werden. Dass sie dies nicht weiter explizieren, dürfte angesichts eines „mythisch-wörtlichen Glaubens“ (Fowler) nicht überraschend sein. Die Anforderungssituation „Bookreport“ verweist zumindest in der Aufgabenstellung auf die kulturelle Relevanz der Bibel, denn sie gehört zu jenen Büchern, die es wert sind, besprochen und vorgestellt zu werden. Die Anforderungssituation „Bibel auf dem Altar“ bringt die kirchliche Relevanz der Bibel zum Ausdruck. Sie symbolisiert die grundlegende Orientierung der evangelischen Kirche an dem offenbarten, geschriebenen und verkündigten Wort Gottes. Dies ist nicht bloß für evangelische Christinnen und Christen von Bedeutung, zu denen die Schülerinnen und Schüler in der Mehrheit zu zählen sind, sondern besitzt auch kulturelle Bedeutung. Den Raum einer Kirche „lesen“ zu können, gehört hierzulande zu den kulturellen Grundkompetenzen und ermöglicht „Partizipationskompetenz“ im Sinne der Fähigkeit, begründet über Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiöser Praxis entscheiden zu können. Die Frage aber ist, ob damit schon jene Relevanz aufgezeigt und begründet ist, die der Bibel nach den Bildungsplänen zukommt. Sie ist die Grundlage des ganzen Unterrichtes wie der Bildungsplan 2016 von Baden-
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Württemberg für den evangelischen Religionsunterricht exemplarisch zeigt. „Grundlage des Unterrichtes bildet die biblisch bezeugte Geschichte Gottes mit den Menschen und ihre Bedeutung in den reformatorischen Bekenntnissen der evangelischen Landeskirchen.“ Die Auseinandersetzung mit der Bibel „unterstützt Kinder und Jugendliche den christlichen Glauben als Möglichkeit zu entdecken, die Wirklichkeit zu deuten und ihr Leben zu gestalten; sie bietet Ihnen Unterstützung und Begleitung bei ihrer Suche nach Identität und Lebenssinn.“ Dies wird dann noch näher entfaltet, denn „der evangelische Religionsunterricht ermöglicht Kindern und Jugendlichen, sich selbst und andere als Geschöpfe Gottes mit individuellen Stärken und Schwächen wahrzunehmen, bestärkt sie im Sinne der Inklusion sich und andere anzunehmen und im Blick auf gemeinsame Aufgaben Verant17 wortung für sich und die Gemeinschaft zu übernehmen.“ Die Relevanz der Auseinandersetzung mit der Bibel liegt also in ihrem Beitrag zur Selbst- und Weltdeutung sowie zu einer verantwortlichen Lebensführung. In dem Gespräch mit der Bibel geht es um Grundfragen des Lebens „Wer bin ich?“, „Was kann ich hoffen?“, „Was ist von dieser Welt zu halten?“, „Was ist gut und was ist böse?“, „Worauf verlasse ich mich?“ Das gemeinsame Nachdenken über solche existenziellen Fragen, dient nicht der Bewältigung einzelner Lebenssituationen, die als Anforderungssituationen dargestellt werden können. Es geht vielmehr um grundlegende Lebensdeutungen, ja noch mehr um Lebenshaltungen, die in Handlungssituationen als Hintergrund häufig intuitiv wirken, aber in der Art einer Bewältigung nicht einfach abgelesen werden können. In diesem Sinne ist einer Kritik der Anforderungssituationen Recht zu geben, dass sie das „Eigentliche“ des Religionsunterrichts und eine evangelische Bildungsarbeit nicht wiedergeben können. Dieses „Eigentliche“ ist vielmehr in einem „echten Ringen mit der Bibel“ zu sehen. Es zeigt sich in einem gemeinsamen Suchen und Fragen, welches es gerade mit Brüchen, dem Nicht-Wissen und dem Unverfügbaren zu tun bekommt und zu ständig neuem Festlegen und Umbrechen führt. Dass solche Topoi für Schülerinnen und Schüler von Bedeutung sind, wird sofort deutlich, wenn eigenes Erleben zum Argumentationshintergrund wird; Mobbing, erster Liebeskummer, biographische und familiäre Verluste und Umbrüche gehören immer mehr zum Alltagserleben, welches biblische Texte im Besonderen relevant machen kann. Sicherlich könnten hier auch Texte aus dem Deutschunterricht Hilfestellungen anbieten (man 17 Siehe Anm. 2.
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denke an Liebes- oder Herbstlyrik), doch biblische Texte stellen sich dem Unverfügbaren und sprechen es auf immer neue Weise in einer Selbstverständlichkeit an, dass diese Öffnung ins Transzendente zu einer spezifisch biblischen Antwort wird (man könnte auch Gestus sagen). Durchaus haben Schülerinnen und Schüler ein Sensorium für das Besondere dieser theologischen Konstellation und zeigen sich diskussionsbereit, wenn diese im Unterricht besprochen werden kann. Nicht in der abschließenden Bewältigung, sondern in einem offenen „Umgang“ mit den aufbrechenden Fragen und möglichen Antworten wäre das Wesentliche des Religionsunterrichts zu sehen. Seine Lebensrelevanz zeigt sich gerade in der Fähigkeit und Bereitschaft sich auf Unverfügbarkeit und Offenheit einzulassen. Der „offene Umgang“ mit Bibeltexten wäre dann der Kern des Religionsunterrichts. Bibeltexte können geradezu selbst als „offene Anforderungssituationen“ angesehen werden und die Schülerinnen und Schüler zur Standortbestimmung einladen; dies ganz im Sinne des didaktischen Ausgangspunktes „bei den Schülern“. Kompetenzen wie sie in der Bewältigung der dargestellten Anforderungssituationen gebraucht werden, bezögen sich dann bestenfalls auf hilfreiche Voraussetzungen eines solchen offenen Umgangs mit Bibeltexten, zu denen die Kenntnis der Bibel als Buch, ihrer wichtigsten Inhalte, aber auch ihrer Bedeutung im Christentum gehörten, die Fähigkeiten biblische Sprachformen angemessen zu verstehen, Zeichen auch als Symbole und Metaphern zu deuten bis hin zum Aufzeigen von Paradoxien (was erst mit dem Erreichen postformalen Denkens möglich zu sein scheint). Dazu bedarf es aber auch gewisser Einstellungen und Haltungen wie Neugierde sowie der Bereitschaft, Offenheit auszuhalten und Antworten als immer wieder neu in Frage zu stellen. Lebensrelevanz käme solchen Kompetenzen nur im abgeleiteten Sinne zu. Sie dienten dem lebensgeschichtlich bedeutsamen Umgang mit Unabgeschlossenheit, Kontingenz, Nichtwissen und Unverfügbarkeit wie er in den biblischen Texten zutage tritt. Die Frage stellt sich jedoch, ob für einen solchen „offenen Umgang mit der Bibel“ nicht doch Herausforderungen gefunden werden können. Denkbar erscheinen „Anforderungssituationen“ wie diese: Herr Fritz versteht sich als guter Christ. Er geht ab und zu in die Kirche und führt sein Leben ehrlich und mit Engagement für seine Familie aber auch für andere. Zuletzt nahm er zwei Flüchtlinge aus Syrien auf, die ihm wie eigene Söhne ans Herz gewachsen sind und in seiner Familie mit aller Unterstützung integriert wurden. Eines Tages bekommt er die Nachricht, dass sein leiblicher Sohn, 20 Jahre alt, bei einem Autounfall sein Leben verloren hat. Herr Fritz ist am Boden zerstört, versteht die
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Welt nicht mehr und verflucht seinen Gott. Freunde machen sich Sorgen um ihren Freund. Sie überlegen sich, ob sich in der Bibel Antworten finden lassen, die Herrn Fritz helfen, seine Situation noch einmal anders zu sehen. Formuliere, was sie in der Bibel finden können.
Auch diese Aufgabe ist konstruiert, trägt aber doch authentische und vor allem existenzielle Züge. Sie dürfte sich am ehesten für Oberstufenschülerinnen und -schüler eignen (ab 10. Klasse), setzt sie doch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Textkomplexen (wie Hiob, Tod Jesu, Abraham u.a.) voraus. Sie konzentriert die Bedeutung der Bibel auf den Umgang mit Kontingenz und nimmt tendenziell Schülerinnen und Schüler als seelsorgliche Menschen in Anspruch wie dies in einem erwachsenen Leben erwartbar ist. Dies wissend laden wir ein, weiter nach „Anforderungssituationen für einen offenen Umgang mit der Bibel“ zu suchen. Abstract If the Bible is a crucial reference of the (Protestant) religious education in schools, the question arises of whether its importance for our everyday life is successfully made plausible during the lessons. On the basis of three „demand situations“, it is worked out that the majority of students view the Bible as a book for religiously interested people yet do not award it any particular relevance for non-religiously interested people; that the Bible inspires to think about and reflect on fundamental questions of life is rather not considered. The general cultural, literary or moral significance of the Bible is also hardly recognized. This leads to the question of which demand situations are suitable to emphasize the contribution of the Bible to the interpretation of oneself and the world. For this purpose, an everyday life and biographically open handling of the Bible texts are required.
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Rezension
Handbuch Bibeldidaktik hg. von Ruben und Mirjam Zimmermann Ulrich Löffler Christliche Theologie reklamiert hoffentlich auch jenseits anstehender Reformationsfeierlichkeiten die lebendige und spanungsreiche Vielfalt der Bibel immer wieder als unverzichtbare Grundlage für Glauben und Leben. Der lernende und lehrende Umgang mit dem „vielstimmigen Buch“ (Kurt Marti) gewinnt in Unterricht und Gemeindearbeit daher immer dann an Kontur, wenn diese Pluralität nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung und Anstoß zu weiterem Nachdenken und wechselseitigem Gespräch betrachtet wird. Es ist daher konsequent ein Handbuch zur Bibeldidaktik mit einem breit gefächerten Bündel von Sichtweisen auf eben jenen Umgang mit der Bibel auszustatten. Genau dies leistet das voluminöse Werk aus dem Verlag Mohr Siebeck in Tübingen (2013). Mirjam und Ruben Zimmermann versetzen den didaktischen Blick auf die Bibel bereits durch Anlage und Gliederung des Handbuchs in das notwendige Spannungsfeld von exegetischer, systematisch-theologischer und religionspädagogischer Perspektivik. Eine große und illustre Schar von Autorinnen und Autoren hat dieses Projekt denn auch mit insgesamt 119 Einzelbeiträgen ausgestattet. Nach einer hinführenden „Leseanleitung“, auf deren bibeldidaktische Programmatik sogleich einzugehen ist, werden die vielen thematischen Aspekte in sieben Fokussierungen als beziehungsreiches Gefüge angeordnet. Die entsprechenden Kapitel des Buches lauten: (1) Die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte („Im Fokus: Geschichte“) (2) Texte und Themen der Bibel („Im Fokus: Inhalte“) (3) Biblische Personen und Figuren („Im Fokus: Gestalten“) (4) Religionsdidaktische Entwürfe („Im Fokus: Konzepte“) (5) Methoden („Im Fokus: Methoden“) (6) Die Vielfalt der Rezipienten („Im Fokus: Lernende und Lesende“) (7) Zugangs- und Verstehensschwierigkeiten („Im Fokus: Probleme“).
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Es gehört zu den Stärken dieses interdisziplinär angelegten Handbuches, dass die sieben Fokussierungen nicht einfach nebeneinander stehen, sondern einem integrierenden bibeldidaktischen Horizont vorgelagert sind. Die einleitende Hinführung erläutert das zunächst schlicht anmutende dreigliedrige Modell „Bibel“ – „Rezipient“ – „Brücke (zwischen Bibel und Rezipient)“ als hochkomplexes Wirkungsgefüge. Die bibeldidaktische Grundentscheidung lautet genauer: Alle drei Seiten des beschriebenen heuristischen Dreiecks sind aspektereicher als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Zum einen ist die Bibel als Buch bekanntlich ein verschlungenes und beziehungsreiches Ganzes aus vielen Traditionszusammenhängen, Einzelschriften und theologischen Sichtweisen. Zum zweiten wird die Seite der Rezipienten durch eine bunte Vielfalt von Bibelleserinnen und Bibellesern mit ganz unterschiedlichen biographischen Kontexten, entwicklungspychologischen Verstehensbedingungen und sozialen Umfeldern gebildet. Drittens sind auch die Brücken der sinnerschließenden Vermittlungswege zu bunt und vielfältig, als dass sie Annahme einer einfachen „Verbindung“ zwischen Bibel und Leserschaft diese Rezeptionsverhältnisse angemessen wiedergeben könnte. Selbst außerhalb dieses wirkmächtigen Dreiecks ergibt sich für die beiden Herausgeber eine sehr differenzierte „efficacia“ der Bibel. Danach ist die Bibel einerseits Bildungsgegenstand (zum Beispiel in ihrer Eigenschaft als Inspirationsquelle für künstlerisches Schaffen), aber auch Lehrmedium (zum Beispiel durch die Gattung der Gleichnisse) und „Katalysator umfassenden Lernens“ (zum Beispiel bei einer lebensweltorientierten Bibellektüre mit Kindern und Jugendlichen). Die Bibel wird damit konsequent als Buch der Vielfalt eingeführt. Die sieben Kapitel stecken nun den Raum ab, in dem ein religionspädagogisch sach- und fachgerechter Umgang mit dem Bibelbuch stattfinden kann. Einige wenige Beobachtungen sollen an dieser Stelle Zielrichtungen und Grundsatzentscheidungen in den einzelnen Abschnitten verdeutlichen. (1) („Im Fokus: Geschichte“) Die Artikel über Entstehungs- und Wirkungsgeschichte bieten zum Beispiel Einführungen zur Zeitgeschichte des Alten und Neuen Testaments oder Einblicke in „Opfer und Kulttraditionen“, aber auch einen Artikel über die Entwicklung der „Bibel als Lehrbuch“ oder die Geschichte der Bibelübersetzungen. (2) („Im Fokus: Themen und Texte“) In m.E. nicht immer ganz stimmiger Abgrenzung – warum steht der Artikel zur Kanonfrage an dieser Stelle? – zum Vorgängerkapitel finden sich hier fundamental wichtige Artikel wie „Gott“, „Schöpfung“, „Ethik“, „Taufe und Abendmahl“ etc. Von Belang sind aber auch einleitungswissenschaftlich geprägte Beiträge über
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jedes der vier Evangelien, die Johannesapokalypse oder prophetische Traditionen. Gerade in diesem eher exegetisch angelegten Abschnitt kommen mit Absicht auch Vertreterinnen und Vertreter der religionspädagogischen Lehre und Praxis zu Worte. Dieses Verfahren lässt zwar hin und wieder exegetische Neuansätze oder wünschenswerte Präzisierungen zurücktreten. Geboten wird aber durchweg ein gut nachvollziehbarer, solide belegter und durch die Literaturangaben auch erweiterungsfähiger Darstellungshorizont. (3) („Im Fokus: Gestalten“) bringt nicht nur textlich gut rückgebundenen Einblicke in die theologischen Akzentuierungen sowie die (überlieferungs)geschichtlichen Aspekte von biblischen Personen. Gerade bei den Beiträgen dieses Kapitels werden, jeweils im Abschnitt „Zugänge“, eine ganze Fülle von zum Teil sehr anregenden und methodisch variantenreich angelegten didaktischen Möglichkeiten aufgewiesen. Exemplarisch erscheint mir hier etwa der Artikel „Paulus“, der die biblisch auf gewiesene Entwicklung des Völkerapostels über eine theologisch qualifiziert „Topographie“ seiner Aufenthaltsorte elementarisiert. (4) Wenn beim „Fokus: Konzepte“ schon vom Titel her „religionsdidaktische“ Entwürfe thematisiert werden, geht der Blick über die unmittelbare bibeldidaktische Perspektive hinaus. Dieses Kapitel kann denn auch nicht nur wegen des einführenden Artikels über die Entwicklung der Bibeldidaktik von 1900 bis zum problemorientierten Religionsunterricht als Minikompendium älterer und neuerer religionspädagogischer Entwürfe gelesen werden. Spannend ist dabei die Perspektivierung neuerer Konzeptionen (Konstruktivismus, performative Religionsdidaktik) auf das Teilthema Bibeldidaktik. (5) Wie schon beim vorhergehenden Abschnitt des Handbuchs kommen im Kapitel über die Methoden des biblischen Unterrichts ältere (z.B. Sprechzeichnen) und neuere Konzeptionen (z.B. Bibliolog, Kirchenraumpädagogik, „Bibel und digitale Welten“) in den Blick. Die Vorstellung der Methoden reflektiert und konkretisiert etwa auch methodische Perspektiven im Schnittfeld zwischen Religions- und Deutschunterricht („Bibel und moderne Literatur“) oder die Gestaltung von Kinderbibelwochen. Gerade an dieser Stelle zeigt sich, dass das Handbuch den Anspruch einer umfassenden bibeldidaktischen Perspektive auf alle wichtigen Bereiche des religionspädagogischen Handelns in Schule und Gemeinde einlöst. (6) Dies wird auch deutlich, wenn das Handbuch in seinem 6. Kapitel die „Vielfalt der Rezipienten“ in den Blick nimmt. Verschiedene Einzelbeiträge thematisieren nicht allein die Rezeption der Bibel in allen relevan-
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ten alters- und schulartenspezifischen Variationen. Die Bandbreite reicht dabei von der Elementarpädagogik bis zur Seniorenarbeit. In kleineren Aufsätzen wird etwa auch das Verhältnis von „Bibelverständnis und sozialem Milieu“ oder der Beitrag biblischer Lektüre zur Identitätsbildung reflektiert. (7) Wenn im abschließenden Kapitel Probleme, genauer „Zugangs- und Verstehensschwierigkeiten“ des Bibelgebrauchs in den Fokus des Interesses gerückt werden, tritt noch einmal die ganze Bandbreite dieses Handbuches zutage. Neben Grundsatzfragen („Ist die Bibel wahr?“) werden auch eher unterrichtspraktische Fragestellungen („Was sind [zu] schwierige Bibeltexte“) in den Blick genommen. Die große thematische Weite des über 700 Seiten starken Handbuchs bringt fast notwendigerweise einige Nachteile mit sich. Bisweilen erscheinen manche Artikel zu knapp, bisweilen hätte man sich breitere oder wenigstens aktuellere Literaturangaben gewünscht. Gelegentliche inhaltliche Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen sind nahezu unausweichlich und oft gerade nicht vom Nachteil. Diese letzten Anmerkungen können allemal den positiven Gesamteindruck des Handbuchs letztlich nicht schmälern. Jeder, der praktisch mit der Bibel arbeitet, wird immer wieder mit Gewinn nach diesem Buch greifen. Es kann gar zum Begleiter der täglichen Arbeit mit der Bibel werden. Exegetische Information, didaktischmethodische Anregung und Reflexion sowie religionspädagogische Grundsatzorientierung sind hier in anregender Weise miteinander ins Gespräch gebracht. Die Vielfalt der in diesem Gespräch liegenden Bezüge erschließt sich nicht zuletzt durch das ausführliche Bibelstellen- und Sachregister.
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