Glaube und Lernen 1/2016 - Einzelkapitel - Sublime Lektüren. Die ästhetische Bibel in Herders Schriften über hebräische Poesie 3846999844, 9783846999844

»Einen ganz anderen, literarisch orientierten Zugang zum Alten Testament zeigt Yael Almog in ihrem Beitrag auf, und zwar

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Glaube und Lernen 1/2016 - Einzelkapitel - Sublime Lektüren. Die ästhetische Bibel in Herders Schriften über hebräische Poesie
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Hebräische Poesie: Zwischen Nationalismus und Universalismus
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Gespräch zwischen Disziplinen

Sublime Lektüren Die ästhetische Bibel in Herders Schriften über hebräische Poesie Yael Almog Unter den neuen Rollen, die die Bibel im späten 18. Jahrhundert in Deutschland spielte, war diejenige als ein ästhetisches Artefakt vorherrschend. Schleiermachers hermeneutisches Paradigma beruhte auf der ausführlichen Wertschätzung der „Bibel als Literatur“ in Zirkeln von Kritikern und Dichtern, primär verbunden mit dem „Sturm und Drang“. Ästhetische Annäherungen an Schriften beeinflussten in signifikanter Weise die Beschäftigung des 18. Jahrhunderts mit der Bibel, besonders dazu beitragend sie als ein Objekt zu sehen, auf das sich jeder Lesende beziehen kann. Nach Jonathan Sheehan, wurde die Bibel in jener Zeit gesehen „als die Quelle der literarischen, künstlerischen, geistigen, rechtlichen und moralischen Tugenden die das anreichert, was wir Westliche Zivilisation nennen. In der Tat, die nahezu universelle Akzeptanz der kulturellen Relevanz der Bibel – nicht nur unter Akademikern, sondern auch unter Juristen, nicht nur unter den Zweiflern, sondern auch unter den Treugläubigen – legt in der Tat nahe, dass die Bibel, mehr als jeder andere besondere Text, weiterhin den Grund1 vorrat des Westlichen Erbes bildet.“ Von jedem Bürger und jeder Bürgerin des neuen Lesepublikums der Aufklärung konnte erwartet werden, dass er und sie die Bedeutung der Bibel für Angehörige verschiedener Konfessionen anerkennt, das heißt, akzeptiert, dass andere das Recht haben, andere geistige Überzeugungen zu hegen als man selbst. Nichtsdestotrotz konzentrierten sich zwischen 1753 und 1783 viele Schriften über die Bibel, die sie als ein Gegenstand subjekti1

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Jonathan Sheehan, The Enlightenment Bible. Translation, Scholarship, Culture, Princeton, N.J., 2005, 259. Alle Übersetzungen im Folgenden von Daniel Kneipp.

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DOI 10.2364/3846999844

ven Engagements ins Auge fassten, nicht auf die Bibel per se, sondern auf das Alte Testament, und besonders auf die Hebräische Poesie. Um die Bibel als ein Modell textuellen Wetteifers zu gebrauchen, hatte man nicht nur den Abstand zwischen einem göttlich inspirierten Text und weltlicher säkularer Literatur zu überbrücken, sondern ihn auch als ein auftauchendes universales Objekt für die Menschheit zu gestalten. Ein neuer Sinn der göttlichen Natur der Bibel tauchte auf in Wechselwirkung mit ästhetischen Vorannahmen. So prominente Figuren wie Goethe, Herder und Klopstock ermutigten die Lektüre der Bibel von einem literarischen Standpunkt aus, lobten die ästhetischen Verdienste des Alten Testamentes und wetteiferten mit Biblischer Poesie in ihren eigenen Schriften. Aber bezeichnenderweise geschah die Umwandlung der Bibel in ein kulturelles Faktum in einer intellektuellen Sphäre, die weder statisch noch neutral darin war, wie sie literarische Interpretation definierte. Die Untersuchung von Herders Werken macht offenbar, dass der Aufklärungsdiskurs der Bibel nicht bloß bereits existierende literarische und ästhetische Muster auf die Heilige Schrift angewendet hat. Vielmehr provozierte die intensive Beschäftigung mit der Heiligen Schrift, und besonders mit dem Alten Testament, in jener Zeit eine Anzahl von neuen textuellen Annäherungen mit dem Anspruch, eine literarische Interpretation auf die Bibel anzuwenden. Mit dem Fokus auf die Debatten jener Zeit darüber, wie die Bibel zu lesen ist, zeigt der Artikel, dass der Wandel der Bibel hin zu einem bedeutenden kulturellen Text durch die Erfindung und Umgestaltung von LektürePraktiken erleichtert wurde. Der Artikel untersucht die Interpretation des Alten Testamentes während des späten 18. Jahrhunderts als den Hauptbereich, in dem sich dies ereignete. Er behauptet, dass die Idealisierung der Hebräischen Poesie die wechselseitige Abhängigkeit von literarischer Interpretation und Theologie vorantrieb, indem die Lektüren jener Zeit des Alten Testaments eine Vision eines geteilten Ursprungs der Menschheit konstituierten, dessen Wiedererrichtung die Aufgabe aller Leser werden würde – ungeachtet ihres religiösen Glaubens. Durch den Wandel des Lesens der Bibel zu einem Prozess, dessen Bedeutung in der Anregung des menschlichen Verstandes und Gefühls liegt, schufen die neuen ästhetischen Annäherungen an die Bibel eine universelle Vision hinter dem Lesen der Heiligen Schrift. Die Idealisierung des Hebräischen begleitet so die Umformung von theologischen Praktiken und Begriffen zu einem allgemeinen Artefakt, von dem jetzt angenommen wurde, dass „der gemeine Leser“ und „die gemeine Leserin“ es teilt.

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Hebräische Poesie: Zwischen Nationalismus und Universalismus Herders Kommentar zur Hebräischen Bibel ist ein intensives und weitreichendes Projekt. Die Spannungen, die in seiner Exegese des Alten Testaments auftauchen werden oft mit philosophischen ad hoc Dogmen im Bereich der Ästhetik gelöst, was repräsentativ ist für seine generelle Stellung im Diskurs der Aufklärung: theoretische und ideologische Unstimmigkeiten, denen er öfters begegnete, generierten Neuerungen und führte zu originellen Infragestellungen von gemeinhin eingenommenen Ansichten seiner Zeitgenossen.2 Als praktizierender Theologe rief Herder große Spannungen am Kern des beginnenden Aufklärungs-Projektes hervor. Herders besonderer Einfluss auf das Denken der Aufklärung wurde seiner Theorie des Kulturrelativismus zugeschrieben, ein revolutionierender Zugang zu Kulturen und Nationalitäten, deren Einfluss auf Geschichtsschreibung, Anthropologie und Literaturstudien evident ist.3 Mit seinem neuen Ansatz versöhnt Herder den Status der Bibel als göttlichen Gegenstand mit seiner Stellung als Text, der entziffert werden kann als Produkt von bestimmten historischen und kulturellen Umständen. Herders restaurativer Ansatz der Bibellektüre überbrückt diese beiden Pole, indem er den Text in seinem historischen und kulturellen Kontext verortet. Dabei aber behauptet er, dass die Bibel die Manifestation höchster Poesie4 sei, und sieht in biblischer Lektüre einen Offenbarungsprozess, in dem menschliche Fähigkeiten zu äußerster Tätigkeit gebracht werden. Das Hebräische ist ein besonders geeigneter Gegenstand für Herders Lektüre-Zugang – ein Zugang, der textuelle Wiederherstellung als sein Hauptziel erachtet. Das Alte Testament wurde als fragmentarisch, dunkel und oft unauslotbar aufgefasst u.a. unter dem Einfluss von Spinozas Theologisch-Politischem Traktat (1670) und Richard Simons Histoire critique de Vieux Testament (1685). Herders Beharren darauf, dass jeder Leser und jede Leserin fähig sei, die Bibel zu lesen, beruht auf seiner Überzeugung, dass das Publikum sich in die antiken Autoren des Textes einfühlen können und in seinen 2

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Herders Idee von Sprache kombiniert Elemente sowohl von Georg „Hamanns Begriff von Sprache als göttlicher Gabe als auch Kants Auffassung von Sprache als ein Ausdruck des menschlichen Verstandes, der der menschlichen Natur inhärent ist. Michael Morton, Herder and the Poetics of Thought. Unity and Diversity in „On Diligence in Several Learned Languages“, University Park, Pa. 1989, 108f. Besonders in seinem Werk Vom Geist der ebräischen Poesie, das im Folgenden diskutiert wird. Zu Herders Konzeption von biblischer hebräischer Poesie als einer Verkörperung der göttlichen Natur der Poesie im Allgemeinen, siehe Jahn D. Baildam, Paradisal Love, Johann Gottfried Herder and the Song of Songs, Sheffield 1999, 54.

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bestimmten Entstehungsort und -zeit. Herder warnt seine Zeitgenossen vor der Gefahr der Projektion moderner Ideale und Begriffe auf Texte, die das Artefakt einer anderen Zeit und Kultur sind – und schlägt stattdessen einen relativistischen Zugang vor in solchen Werken wie Vom Geist der ebräischen Poesie (1782/3) und Über die neuere deutsche Literatur (1767/8). Aber dann ist eine der inhärenten Schwierigkeiten des Hebräischen während dieser Epoche die, dass es dieses relativistische Denken auf zwei Weisen umfasst, die quer zueinander stehen, trotz der Tatsache, dass sie dasselbe interpretative Prinzip bestätigen. Auf der einen Seite erfordern die Besonderheiten der Hebräischen Poesie genaueste Aufmerksamkeit, sofern die Sprache geprüft wird als Artefakt einer (fremden) Kultur unter anderen. Auf der anderen Seite, da es eine biblische Sprache ist, kommt dem Hebräischen ein besonderer Rang zu: es ist die Sprache der Ursprünge der Menschheit als Ganzer, wie sie in den Heiligen Schriften ausgeführt werden. Mit anderen Worten lädt die Sprache zur Anwendung einer anthropologischen Untersuchung ein, während sie gleichzeitig die Raison d’etre dieses Zuganges bedeutet, da die Sprache die Geschichte der gemeinsamen Ursprünge der Menschheit verkörpert. Die Lektüre hebräischer Texte macht so den Interpretationsvorgang zur höchsten Anwendung menschlicher Fähigkeiten und 5 einer kollektiven Anstrengung der Lesenden. Diese Sichtweise schrieb vor, dass die feine Empfindlichkeit in der hebräischen Charakterisierung von Welt-Gegenständen verloren gegangen ist, was ein eminentes Problem biblischer Übersetzung darstellt.6 Durch vielfältige Bezüge zur Schönheit der hebräischen Poesie begann man die Bibel als ein höchst ästhetisches Artefakt wahrzunehmen. Ein Haupteinfluss dieses Wandels stellt ein in Deutschland weit verbreiteter Text dar: Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews (1787) vom englischen Theologen Robert Lowth. Wie Jonathan Sheehan zeigt, war Lowths Apologie der hebräischen Poesie von grundlegender Bedeutung in der sich anbahnenden Bibel-Aneignung der Aufklärung für neue, vielseitige Zwecke, z.B. der Entwurf neuer ästhetischer Ideale und Lesepraktiken. Lowths Originalität in Bezug auf die Bibel 5

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Eine Aussage zugunsten dieser zwei letzten Attribute des Hebräischen erscheint in Herders Einleitung zu „Vom Geiste der ebräischen Poesie“, wo er erklärt, dass ein besseres Verständnis von hebräischer Poesie zu einem tieferen Verständnis der Kindheit der Menschheit führen kann (J.G. Herder, Schriften zum Alten Testament, hg. v. Rudolf Smend, Frankfurt a.M. 1993, 669f.) Wie Herder in seinen Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur herausstellt, in: Johann Gottfried Herder, Frühe Schriften 1764–1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt a.M. 1985, 193f.

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leitet sich zu einem großen Teil von seinem Zugang zur Übersetzung her, den er anwendet durch seine Exegese des Alten Testaments. Lowth bewies, dass Übersetzungen nicht den Rhythmus und den Reim des Originals wiederholen müssen7. Unter dieser Voraussetzung will Lowths Lektüre des Alten Testaments die Beziehung zwischen dem zeitgenössischen Lesepublikum und dem Autor des hebräischen Textes stärken, die ernsthaft angeschlagen gewesen ist: „Wir müssen soviel wie möglich danach streben, Hebräisch so zu lesen, wie Hebräer es gelesen hätten […] der, der die besondere Eleganz der hebräischen Poesie wahrnehmen und fühlen will, muss sich vorstellen, selbst genau wie die Personen verortet zu sein , für die sie geschrieben 8 ist, oder wie die Schriftsteller selbst.“

Die Fähigkeit, Eindrücke und Gefühle von einer Seele zur anderen zu übertragen, die Gedanken einer anderen Person zu kritisieren oder zu analysieren – was als entscheidende Vorbedingung der modernen Hermeneutik auftauchte – brachte einen neuen Sinn für das Teilen der Gedanken des Autors mit sich.9 Durch seine gewissenhafte Lektüre trug er auf bewundernswerte Weise vom Alten Testament Rechnung – dabei mit Fokus auf die ästhetischen Vorzüge des Textes. Gemäß Lowth sollte Poesie nicht nur durch die empathische Adressierung der Gefühle des Autors analysiert werden; sie sollte auch geschrieben sein in Hinblick auf diese antizipierte Anstrengung. Hebräische Poesie, mit ihrer Wirkung auf die menschlichen Leidenschaften, ist wohl das historisch bedeutsame Emblem einer solchen Poesie. Daher dient sie ergänzend zum momentanen Projekt der Griechen, die zu hohen Verdiensten durch die Wendung auf die Sinne aufrufen, um eine von Mitbestimmung gekennzeichnete bürgerliche Ordnung zu regulieren und zu erhalten. Lowth nimmt es auf sich, zu zeigen, dass die hebräische Poesie eine besondere Tugend besitzt: während die Rolle der Poesie im Allgemeinen ist, „den Hang unserer Natur zu bessern“, sei es das Verdienst der hebräischen Poesie 10 „ihre natürliche Strahlkraft.“ Die Kraft der hebräischen Poesie, vornehme Gefühle zu erhalten, die ihrerseits das Zeugnis menschlicher Erfolge sind, 7 8

Sheehan, The Enlightenment Bible, 148–181. Robert Lowth, Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews, Boston, Mass./New York, 1829, 48. 9 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1975, 9–26. 10 Ebd., 16f.

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rührt von ihrer sublimen Schönheit her: „Der menschliche Geist kann nichts Erhebenderes, Schöneres oder Eleganteres erfassen; in dem die fast unaussprechbare Erhabenheit des Themas völlig der Energie der Sprache gleichkommt und der Würde des Stils.“11 Die Sprache taucht hier als ein ideales ästhetisches Medium auf, das die vornehmsten Gefühle der Menschheit einfängt. Während Lowths Arbeit Herder stark beeinflusste, möchte dieser nicht bloß die Großartigkeit der hebräischen Poesie herausstellen, sondern auch die Notwendigkeit, hebräische Texte als dichterische Artefakte einer bestimmten Kultur zu fassen. Ironischerweise benutzt Herder dieselben Beweise um sowohl die Besonderheit der hebräischen Nation zu betonen, woher die Notwendigkeit rührt, sie in ihrem kulturellen Kontext zu verstehen, als auch die universelle Bedeutsamkeit der gemeinsamen hebräischen Vergangenheit, zweifellos eine Folge seiner Stellung als praktizierender Theologe. Ein wichtiges Beispiel für diese Zweischneidigkeit ist seine Diskussion des hebräischen Klangs. Antike Sprachen sind repräsentativ für eine besondere Ära der Geschichte: die ursprüngliche Stufe der Menschheit, in der sich menschliche Sprachen zuerst entwickelten, ein Stadium, charakteri12 siert durch eine Gruppe orientalischer Sprachen, den Morgenländer. Wie Herder behauptet, verlangt die Originalität und Ursprungsnatur der Morgenländer nicht nur einen sorgsamen Gebrauch einer relativistischen kulturellen Analyse. Diese Sprachen erhellen vielmehr den Prozess des Auftauchens, der Gestaltung und der Diversifizierung von Sprachen voneinander im Allgemeinen. Darüber hinaus ist der Gebrauch dieser so genannten nationalen Kategorie eine stete Erinnerung an die Identifizierung des Ursprungs der Sprache mit einer religiösen Vorstellung von Menschheit in ihrer soge13 nannten Kindheit. 11 Ebd., 20 12 Eine Ansicht, die Herder in seinem Aufsatz über den Ursprung der Sprachen verfolgt, wo er feststellt: „Die ältesten morgenländischen Sprachen sind voll von Ausrüfen, für die wir spätergebildeten Völker oft nichts als Lücken oder stumpfen, tauben missverstand haben“ (Herder, Frühe Schriften 1764–1772, hier 701f.). 13 Eine umfassende Genealogie der Vorstellung des Morgenländers liegt vor in Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005. Polaschegg weist auf, wie dieser Terminus auf Biblischer Gelehrsamkeit und Reisen in den Mittleren Osten beruht, deren Befunde im Heimatland er Reisenden zirkulierten. Sie zeigt wie, für Herder und andere, indem sie das Morgenland als den Ort bestimmen, an dem die hebräische Bibel geschrieben wurde, die Idealisierung des Textes, als einer ursprünglichen, antiken Vergangenheit zugehörig, ermöglicht wurde. Sie verfolgt diese Transformation bis ins späte 18. Jahrhundert: „Ohne dabei den Charakter einer Offenbarung zu verlieren, gewinnt der biblische Text im Laufe

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Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774) führt dieses Projekt weiter durch eine Analyse der Geschichten des Buches Genesis. Das Hebräische gewann seinen obersten Rang dadurch, dass es Gott bei der Erschaffung der Welt durch das Wort diente. In dieser Hinsicht betrachtet Herder die hebräische Bibel nicht nur als einen Forschungsgegenstand, auf den seine Interpretationstheorie anzuwenden wäre; er nimmt es auch auch wahr als eine Geschichte des Auftauchens der verschiedenen Bestandteile, auf denen seine Theorie fußt. Das Alte Testament (und besonders das Buch Genesis) erhält seinen Status als ein kollektives Ethos der Ursprünge der Menschheit durch die Wichtigkeit, die es Sprache und Ästhetik zuspricht, und dabei stellt Herder die hebräische Bibel als eine selbstreflexive Abbildung der historischen Bedeutsamkeit der Poesie dar. Dieser Ansatz stellt das Hebräische nicht als eine besondere Sprache und Nation dar, sondern als ganz und gar ungekennzeichnet. Die Idealisierung des Hebräischen taucht also auf mit seiner Schilderung als Sprache der Schöpfung, einer Sprache, deren außerordentliche Kraft sich von ihrer einzigen, meta-poetischen und sinnlichen Natur herleitet. In seiner Lektüre des Buches Genesis als einer Historiographie der Menschheit argumentiert Herder für die Wichtigkeit ihrer Dokumentation des Auftauchens von Nationalsprachen. Eine Reflexion über die Ursprünge der Nationalsprachen ist ausgeführt im Abschnitt Die Poetische Geschichte von der Verteilung der Völker und Sprachen in der Ältesten Urkunde. Dort zitiert Herder die Geschichte vom Turmbau zu Babel als einer Erklärung der Verschiedenartigkeit der voneinander abweichenden Nationalsprachen. Nach dem Narrativ von Babel kann auf Erden nicht eine Sprache allein lange fortbestehen, sondern ihre Fragmentierung in verschiedene Sprachen ist unvermeidbar. In der Tat, fährt Herder fort, sind verschiedene Sprachen ein notwendiges und natürliches Phänomen, weil sie die Mannigfaltigkeit von (physischen, kulturellen, u.a.) Unähnlichkeiten unter den sie Sprechenden reflektieren. Wenn Hebräisch nur eine von vielen Nationalsprachen ist, wie kann man für ihren höheren Rang Rechnung tragen – dabei in Betracht ziehend seinen Stand als heiliger Sprache? Herders Lektüre der Genesis-Geschichten stellt eine Antwort auf diese Frage vor: Hebräisch ist eine Nationalsprache, die trotzdem einzigartig ist; das nationale Epos, das es entfaltet erhellt die Geschichte des Auftauchens von menschlichen Sprachen, dabei den Einfluss von kulturellen Besonderheiten auf linguistische Unterschiede anerkennend. dieser Jahrzehnte die Signatur einer Poesie, aus der die orientalische (Vor-)Vergangenheit spricht“ (166).

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In einigen seiner Schriften über Ästhetik, findet Herder eine andere Antwort auf sein Fragen, und führt dabei sein Prinzip des Relativismus ad absurdum, wenn er die ästhetischen Vorzüge der Sprache beschreibt. Für Herder ist Hebräisch eine höchste Manifestation von Kunst, weil es eine hervorragende Wiedergabe des Volksgeistes ist. Die hebräische Bibel taucht in einer kurzen Liste von Werken auf, deren einziger Vorzug in ihrer Fähigkeit liegt, den Volksgeist ihrer Kultur einzufangen zur Zeit ihres Schreibens: die hebräische Bibel, Homers Poesie, Ossian (ein Zyklus gälischer Gedichte), Shakespeares Stücke und die Lyrik von Klopstock, Herders liebster zeitgenössischer Dichter. In Herders Ältester Urkunde praktiziert er konsequent die Lesemethode, die er verficht, eine, die aufmerksam ist zu den imaginären und literarischen Eigenheiten des Textes. Während er seine Lesenden stets an die außerordentliche Natur des untersuchten Textes erinnert, beschreibt Herder das Alte Testament als ein kulturelles Artefakt, dass besonders gut in sein Lektüre-Paradigma passt. Die hebräische Bibel, genau wie jeder andere Text, sollte gedeutet werden als ein Artefakt der Kultur, die es produziert hat. Doch ihre mächtige Bildlichkeit, die sich aus der Einzigkeit der Kultur ableitet, für die sie komponiert wurde, macht sie gleichzeitig „auf bezeichnende Weise verschieden“ von anderen Texten. Die Liebe der Antiken Hebräern zu Allegorien und Bildern, so argumentiert Herder, offenbart ihre äußerste Sinnlichkeit: der hebräische Poet schaffte es, dieses Volk anzusprechen durch seinen geschickten Gebrauch von literarischen Mitteln, denn im Falle der Israeliten leiteten Sinne ihre Auffassung. Der Versuch des antiken hebräischen Poeten, alles in einem Bild zu versammeln, ist nicht ein Anzeichen eines Mangels an feiner Kultiviertheit, sondern ein Beweis ihrer be14 sonderen, erweiterten Empfindlichkeiten. Die Kultur, die im Werk des biblischen Dichters angesprochen wird, ist einzig, oder höchststehend, in Hinblick auf die Bedingungen, die sie bietet für die Herstellung von Dichtung – die antiken Hebräer tauchen als ein natürliches Publikum für mündliche Dichtung auf.15 Diese Lesepraktiken, besonders durch die Identifikation mit den antiken Autoren, verstärken weiter den Konflikt, der im Hebräischen verkörpert ist. Die Sprache ist ein 14 Ebd. 98. 15 Herder entwickelt ein Modell von mündlicher Poesie als schlechthinniges Ideal für Literatur in jeder Epoche; alle Poesie sollte eine „mündliche Form“ gegeben werden in Herders Konzeption von Mündlichkeit als abstraktem Prinzip. Siehe David Wellbery, The Specular Moment. Goethe’s Early Lyric and the Beginnings of Romanticism, Stanford, Ca., 1996, 190f.

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Rest einer verlorenen Sinnlichkeit und Empfindlichkeit, die die Menschheit einmal ursprünglich besessen hat; es ist eine wilde, uranfängliche Dichtung, die der Inbegriff des Geistes jeder Art von Dichtung ist. Während nach Herder jede Art von Dichtung als eine göttliche Gabe Gottes an die Menschheit angesehen werden sollte, ist die hebräische Bibel außergewöhnlich in ihrer Fähigkeit, den Beginn von Sprache wiederzuerzählen, und damit die Geschichte seines eigenen Übertragungsmediums zu entfalten. Das Problem der Einzigkeit der hebräischen Kultur taucht wieder auf in Herders späterem Text über die hervorstechende Schönheit des Hebräischen in seinem Vom Geist der ebräischen Poesie, wo er weiter seine Theorie des kulturellen Relativismus Seite an Seite neben einer Apologie für hebräische Poesie als eines ästhetischen Artefaktes entwickelt. Der Dialog zwischen Alciphron, einem jungen Gelehrten, der dem Hebräischen und seinem mühsamen Studium grollt, und seinem Lehrer Eutyphron, der eine Apologie für die Sprache aufbietet, sucht die angemessene kulturelle Wertschätzung für Hebräische Poesie eingehend zu prüfen. Die beiden ziehen die in der Epoche auftauchenden Kriterien für die Reflexion über Poesie in Betracht: ihre Musikalität, die innovative Natur ihres Inhaltes oder die Harmonie ihrer Form, und ihr Eindruck auf die Lesenden. Für jede einzelne dieser Kategorien ästhetischer Vorzüge erweist das Hebräische, dass es die höchsten Standards, die Poesie erreichen kann, erfüllt. Das heißt, die Apologie des Hebräischen – die ausgeht von Eutyphrons Folgerung, dass jede Nation ihren Homer, Ossian oder Shakespeare besitze, um den außergewöhnlichen ästhetischen Vorzug zu veranschaulichen, den die hebräische Poesie in ihrer zeitgenössischen kulturellen Umwelt erwarb – hinterlässt den Eindruck, die hebräische Bibel liefere einen unschätzbaren Beitrag zur 16 Menschheit als ganzer. Vom Geist der ebräischen Poesie betont den Beitrag der hebräischen Poesie zur Menschheit indem als einzig unter den nationalen Literaturen gekennzeichnet wird. Es ist nicht die objektive Schönheit der hebräischen Sprache, die ihren göttlichen Ursprung beweist; vielmehr ist es die menschliche Natur ihres Publikums, die die einzigartigen Vorzüge der Sprache offenbart. Herder beschreibt die die morphologischen Besonderheiten der Sprache als ein Mittel ästhetischen Ausdrucks im Kontext der Debatten des 18. Jahrhunderts:

16 Herder, Schriften zum Alten Testament, 674 f.

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E.: „Also die Sprache, die viel ausdrückende, malende Verba hat, ist eine Poetische Sprache: je mehr sie auch die Nomina zu Verbis machen kann, desto poetischer ist sie. Ein Nomen stellt immer nur die Sache tot dar: das Verbum setzt sie in Handlung, diese erregt Empfindung, denn sie ist selbst gleichsam mit Geist beseelet. Erinnern Sie sich, was Lessing über Homer gezeigt hat, dass bei ihm alles Gang, Bewegung, Handlung sei, und daß darin eben sein Leben, seine Wirkung, ja das Wesen aller Poesie bestehe. Nun ist bei den Ebräern beinahe alles Verbis: d. i. alles lebt und handelt.“17

Die Eleganz und natürliche Regsamkeit, die Herder dem Hebräischen in seiner Funktion als Kommunikationsmedium zuschreibt, macht die Sprache zu einer wichtigen Wendung in den Diskussionen des 18. Jahrhunderts über Sprache und Kunst. Herders Dialog rekapituliert die Diskussion über statische und dynamische Aspekte, die in Kunst und Poesie enthalten sind, berühmt in dem Briefwechsel zwischen Winckelmann und Lessing. Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) entgegnet Winckelmanns Behauptung, dass Schmerz nicht dargestellt sei durch Skulptur, weil es angeblich nicht den vornehmen, unzerstörbaren Geist der Griechen ziemen würde. Lessing entwickelt eine Theorie, nach der der Ausdruck menschlicher Gefühle von den jeweiligen Eigenschaften des Kunstmediums abhängt. Poesie und bildende Kunst sind daher unvergleichbar; während Poesie eine Erzählung in der Zeit entfaltet, tut die Skulptur das im Raum. Für Herder vermag Poesie seine räumlichen Grenzen zu überwinden – das ist in der Tat das, wonach sie strebe. Um dies zu zeigen, zieht er kritisch Bilanz von Lessings Laokoon in seinen Kritischen Wäldern (1769). Sein Gedankengang, der zu seinem eigenen Beitrag zur ästhetischen Theorie führt, entfaltet sich durch eine Verbesserung von Lessings Essay, den er nichtsdestotrotz in hohen Ehren hält. Dadurch die Position Lessings herausfordernd, besteht Herder darauf, dass Kunst fähig ist, vorübergehende Wirkweisen nachzuahmen, was bedeuten soll, dass der Kritiker und die Kritikerin sich auf die Reaktion konzentrieren muss, die die jeweilige Kunst in ihrem Pub18 likum anregt, mehr als auf ihre sogenannten inhärenten Beschränkungen. Lessing hat gezeigt, dass das Wesen der Dichtung ihre „Bewegung“ ist, die das Gefühl von Belebtheit erzeugt. Da Verben den wesentlichen Teil der hebräischen Sprache bilden, wie Alciphron leicht zugibt, ist die Sprache 17 Ebd., 675. 18 Siehe Gregory Moore, Introduction, in: Johann Gottfried Herder, Selected Writings on Aesthetics, Princeton, N.J./Oxford 2006, 1–30, hier 9.

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besonders geeignet für die Erfindung von Poesie – wie sein Gesprächspartner ihn überzeugen kann. Gleichzeitig ist das Hebräische nicht geeignet, wie Eutyphron schließt, für den abstrakten Denker, für den Philosophen. Der erste Schritt, die kulturelle Bedeutsamkeit der hebräischen Sprache zu loben, beruht also nicht auf der Verneinung, dass die Sprache in der Tat arm ist – wenigstens in Bezug auf ihr Vokabular – im Vergleich mit anderen Sprachen, sondern vielmehr durch die Anerkennung ihrer inhärenten Charakteristik. Eine korrekte Untersuchung der Sprache zieht einen Vergleich nach sich: von ihren inneren Eigenschaften, z. B. die relativ große Anzahl von Verben und die Ableitung von Substantiven aus Verben. Eutyphron geht so zu einer Makro-Perspektive über und lobt den „Reichtum“ an Verben. Diese Verschiebung für zur Charakterisierung des symbolischen Wertes des Hebräischen, und zwar seine dynamisches oder „besonders poetisches“ Wesen. In Herders Ansatz hallt Lessings Laokoon nach, in Herders Kritik dieses Aufsatzes in seinen Kritischen Wäldern und in seinem Porträt des Hebräischen als die Verkörperung der poetischen Sprache in Vom Geist der ebräischen Poesie: die genuine Definition von Ästhetik als In-Bewegung-Setzen menschlicher Kognition. In Alexander Gottfried Baumgartens Theorie des Ästhetischen neigt die Seele natürlicherweise dazu, Wahrnehmungen zu 19 verbinden, sie zu verschmelzen. Mit dieser Sicht der kognitiven Natur ästhetischer Darstellung klingt in Eutyphrons erstem Zug, die hebräische Sprache zu verteidigen, Herders eminent anthropologische Sichtweise auf Ästhetik an. Dieser Grundsatz, wie Herder ausführlich in Kritische Wälder beschreibt, bestimmt, dass die Schönheit eines kulturellen Artefaktes nicht mit dem einer anderen Kultur verglichen werden kann. Kulturelle Artefakte sollten nur im Kontext der bestimmten Zeit und Kultur untersucht werden, die sie herstellte. Kritische Wälder erkundet diesen Grundsatz und bettet ihn in eine wissenschaftlich grundierte Beschreibung der physiologischen Entwicklung der Menschheit ein. Hier stellt Herder heraus, dass kulturelle Artefakte – Poesie als emblematischer Ausdruck dieses Grundsatzes – darauf abzielen die sinnlichen Bedürfnisse und Empfindlichkeiten des Volkes, für das sie hergestellt worden sind, anzusprechen. Im Laufe der Geschichte hat die Menschheit ihre 19 ‚Felix aestheticus‘ wird so zur Bezeichnung einer Person, die in diesem Prozess SelbstKontrolle und Weltoffenheit erlangt. Ein höchstes ästhetisches Objekt besitzt vollendete Ordnung, die „menschlichen Wesen mit dieser Zentrierung der Subjektivität auszustatten vermag, die früher eine Aufgabe des transzendenten Wesens gewesen war.“ Siehe Jochen Schulte-Sasse, Aesthetic Orientation in a Decentered World, in: David Welbery u.a. (Hg.), A New History of German Literature, Cambridge, Mass., 350–355, hier 353.

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emotionale Fassungskraft weitgehend eingebüßt, aber die feine und nuancierte Verbindung des Morgenländers zur Natur ist in ihren ursprünglichen Sprachen bewahrt – obgleich sie nicht völlig vom modernen Leser und der modernen Leserin verstanden werden kann. Herder beharrt so auf der Kraft einer synchronen kulturellen Forschung, eher als auf einer diachronen. Vom Geist der ebräischen Poesie wiederholt Herders frühere Konzeption, die er in seiner Ältesten Urkunde entwickelte, wo er Sprache definierte als die Quelle von menschlichen kulturellen Anstrengungen und in besonderer Weise von Poesie. Aber gleichzeitig wählt er einen entgegengesetzten Ansatz, wenn der behauptet, dass die ästhetische Schönheit nicht zwischen Kulturen verglichen werden kann, weil jede Kultur seine eigenen kulturellen Ideale hat. Der Text versöhnt diese beiden widerstreitenden Argumente dadurch, dass er das Hebräische als die eine von vielen Kulturen beschreibt, die weiterhin eine einzigartige Rolle in der Menschheitsgeschichte erfüllt: dies widerspiegelt sich in seinen wohlunterschiedenen Klängen, die eine Reminiszenz der ursprünglichen Rolle der Poesie sind, und in der Natur seiner Poesie, die emblematisch für Poesie im Allgemeinen ist durch seine außergewöhnliche Belebtheit. In Hinblick auf Lektüre-Praktiken und Erziehung, die einem kollektiven Publikum verfügbar ist, ist hebräische Poesie zugänglich für alle Lesenden im gleichen Maße – gerade durch seine ursprünglich ferne und erhabene Natur. Diese Wendung, die bezeichnend für Herder wie für andere Autoren, 20 inklusive Klopstock und Hamann , ist, erzeugt ein inhärentes Problem für die Leser des Hebräischen: die Auffassung der Sprache durch Juden, in deren Kreisen die Sprache gelernt und für rituelle und juridische Zwecke gebraucht wurde, bedeutete eine kontinuierliche Gegenwart, die die Sicht der Sprache als einer toten, die eine Wiederherstellung bedarf, gefährdete. Herder handelt von der Schwellenhaftigkeit des Hebräischen als einer Sprache, die nicht ganz tot oder lebend ist in seinem Vom Geist der ebräischen Poesie, wo auf Alciphrons Kommentar, dass die Rabbinen diese Sprache gesprochen haben, sein älterer Gefährte die Ansicht widerlegt, dass Judaismus die Schönheit des Hebräischen fortführe, und beharrt darauf, dass die Rabbinen nur dazu beigetragen haben, die Sprache zu verschandeln: E.: „Nicht eben Perlen, auch leider nicht nach dem Genius ihrer uralten Bildung. Das arme Volk war in die Welt zerstreut: Die meisten bildeten also ihren Ausdruck nach dem Genius der Sprachen, unter denen sie lebten, und es ward ein trauriges Gemisch, an das wir hier nicht denken 20 Vgl. Daniel Weidner, Bibel und Literatur um 1800, München 2011.

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mögen. Wir reden vom Ebräischen, da es die lebendige Sprache Kanaans war, und auch hier nur von ihren schönsten reinesten Zeiten.“21

Herders Modell eines wiederherstellenden Lesens war also formuliert durch seine theologischen Eingriffe, die am Alten Testament ansetzten. Diese hingen von der Sicht des Hebräischen als einer idealisierten, toten Sprache ab, deren Schönheit und einmalige ästhetischen Vorzüge zu einem großen Teil wiederaufgefunden werden können. Lesen als eine wiederherstellende Wendung zur Vergangenheit, ein Zugang, der auf einem empathischen Verständnis von Autoren verschiedener Kulturen und Epochen basierte, wurde vorherrschend in der Tradition säkularer Hermeneutik (säkular insofern, als sie für alle Texte gebraucht wurde und weitverbreitet war in der Deutung von literarischen 22 Texten). Im Gegensatz zum Neuen Testament und anderen religiösen Texten, die als inhärent christlich identifiziert wurden, war das Alte Testament ein geeigneteres Objekt, auf das Lesen als ein kognitiver Prozess angewendet werden konnte, der die menschlichen Fassungskräfte schärft im Angesicht der Begegnung mit einem ästhetischen Artefakt. Das Alte Testament konnte zu einem Artefakt erklärt werden, das vergessen war, um dann gerettet zu werden: als ein kulturelles Erbe einer Gemeinschaft von Lesenden, die die Geschichte des Ursprungs der Menschheit durch neue Zugänge zur Ästhetik unterscheiden und wertschätzen kann. Die deutsche republique des lettres des 18. Jahrhunderts initiierte die Darstellung von biblischer Poesie als ein höchstbedeutendes Artefakt aus anderen Gründen als solchen, aus denen solche Bewertungen in früheren Epochen vorgenommen wurden. Autoren reklamierten die hebräische Bibel als ein Gegenstand, dessen Vorzüge durch textuelle Analyse offenbart werden, die jeder Lesende vollziehen kann, während de facto sie durch ihre Lektüre der hebräischen Bibel erst entwickelten, was dieser textuelle Zugang zur Folge haben sollte. Unter diesem Einfluss wurden die Vorzüge des Alten Testaments als eingebettet gesehen innerhalb einer weiteren Konzeption von Poesie und Lektüre – als sich in einem kognitiven Prozess gründend, dessen Vollendung geistliche Anklänge birgt. Die neuen Beschreibungen der ästhetischen Vorzüge der hebräischen Poesie beruhten auf der theologischen Ansicht der hebräischen Bibel als eines historischen Berichtes der Ursprünge der Menschheit: der Beginn von ästhetischer Erfindung und Sprachge21 Herder, Schriften zum Alten Testament, 678. Herder, Geist der ebräischen Poesie, 32. 22 Über den Einfluss von Herders Sprachphilosophie auf die Tradition der Hermeneutik (anerkannt am allgemeinsten mit Schleiermacher) siehe Michael Forster, After Herder. Philosophy of Language in the German Tradition, Oxford/New York 2012, 3f.

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Glaube und Lernen, 31/2016, Heft 1, Gespräch zwischen Disziplinen

brauch. Eine besondere Weise, auf der diese Auffassung des Hebräischen den universellen und spezifischen Rang der Sprache zu versöhnen vermag, ist die Sichtweise hebräischer Poesie als einer reflektierten, meta-poetischen oder einer „besonders erfolgreichen“ Wiedergabe des nationalen Volksgeistes. Die Umschaffung der hebräischen Bibel zu einem ästhetischen Objekt bringt ihre Wiedereinführung als eines ausschließlich menschlichen Textes mit sich (der die besonderen Normen einer gegebenen Gesellschaft von Individuen an einem gewissen Platz und einer gewissen Zeit wiedergeben), während seine Lektüre als ein Verfahren einer universalen geistlichen Entdeckung verbucht werden soll. Der so genannte vergessene hebräische Text wurde so zu einer Einladung, an einem Prozess der Wiederherstellung teilzunehmen, dessen ideologische Grundlage sich von einem Protestantischen Modell einer persönlichen Begegnung mit dem Text herschreibt. Das Hebräische bezeichnet sowohl das Ziel der textuellen Analyse als auch seine Rechtfertigung, indem es ein neues Publikum von Lesenden anspricht – und dadurch zusammensetzt – durch das gemeinsame theologische Ziel, das sie alle teilen. Das hebräische Sublime erzählt die Geschichte, wie theologische Zeichen einen geteilten Schatz der Menschheit wurden, und wie – im Appell zu einem ästhetischen Unterfangen – neue interpretative Fertigkeiten und ästhetische Ideale die Gefolgschaft zu einer Version protestantischreligiöser Ideale und Praktiken erzwangen. Abstract The article deals with the interpretation of the Old Testament during the th late 18 century. This time is particularly interesting as the commentary to the Hebrew Bible by Johann Gottfried Herder caused an idealization of the Hebrew language and poetry which went hand in hand with an upswing of the literary interpretation of the Old Testament. Besides the theological interpretation, the aesthetic approach towards the scripture therefore also gained in importance. The „sublime beauty“ of the Hebrew language and the „radiance“ of the Hebrew poetry became decisive for the secular hermeneutics which understand and value the Old Testament as cultural heritage.

Yael Almog, Sublime Lektüren

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