Glaube und Lernen 2/2014 - Einzelkapitel: Bibel und Musik 3846999660, 9783846999660

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Glaube und Lernen 2/2014 - Einzelkapitel: Bibel und Musik
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Theologische Klärung
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Zu diesem Heft Ernstpeter Maurer Das Thema „Bibel und Musik“ formuliert eine Problemanzeige. Es gibt ohne Zweifel einen Zusammenhang zwischen dem biblisch-christlichen Reden von Gott und dem Universum musikalischer Phänomene, das kaum überschaubar und sicherlich nicht auf einen Begriff zu bringen ist. Versucht man aber, diesen Zusammenhang präzise zu formulieren, so scheint er sich schnell zu verflüchtigen. Das liegt zunächst an der Vielfalt des Phänomens „Musik“. Wenn jedes gestaltete Geräusch bereits als Musik betrachtet werden kann (so Harald Schroeter-Wittke in diesem Heft), so wird die Theoriebildung ähnlich witzlos wie der Versuch, eine Eigenschaft zu benennen, die für jedes Spiel gilt.1 Es dürfte daher sinnvoll sein, die Überlegung jeweils auf bestimmte Formen der Musik zu konzentrieren, denn eine allgemeingültige „Theorie der Musik“ entlarvt sich sogleich als dilettantisch und oberflächlich. Auf der anderen Seite ist die Betrachtung biblischer Texte als Kunstwerke stets belastet mit dem Verdacht einer „Ästhetisierung“ – womit in der Regel auch eine gewisse spielerische „Unverbindlichkeit“ gemeint ist. Wenn es um Gott geht, dann geht es doch um Leben und Tod und jedenfalls um letzte Fragen! Ein Spiel mit Tönen hat hier auf den ersten Blick keinen Ort. Es könnte sogar zum Konflikt kommen: Wenn das Spiel mit Tönen zum menschlichen Wesen gehört, verfällt es der Kritik durch das Wort Gottes, die das sündige menschliche Geschöpf in seiner Verkehrtheit bloßstellt. Dieser Kontrast erweist sich als unangemessen, sofern gerade die biblische Sprache künstlerisch auf hohem Niveau gestaltet ist, in poetischen Formen und in narrativ-dramatischen Spannungsbögen. Wenn die geistliche Dimension des göttlichen Wortes hervortreten soll, kann die musikalische Gestaltung nicht einfach abgeblendet werden. Es kann sogar umgekehrt gefragt werden, ob die musikalischen Gestalten nicht auch zur tieferen Interpretation der biblischen Sprache beitragen. Das wird besonders deutlich bei der musikalischen Gestaltung der Zeit, die eben nicht nur als chronologi-

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Das hat Ludwig Wittgenstein in klassischer Weise ad absurdum geführt, vgl. Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt 1984, 225–580, § 69f.

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sches Nacheinander erfahren wird – was für die biblische Geschichte ebenfalls gilt. Welche Vielfalt musikalischer Gestalten gerade poetische Gebilde wie die Psalmen inspirieren können, zeigt auf differenzierte Weise Rüdiger Bartelmus. Die Vertonung der „Buß-Psalmen“ führt seit der Renaissance zu einer Fülle von kompositorischen „Strategien“, in denen sich die Emanzipation der Musik von liturgischen Restriktionen vollzieht, in denen sich auch die Musik als „Ausdruck“ von Affekten ausbildet. Dabei werden Grenzen zwischen „geistlicher“ und „weltlicher“ Musik überschritten, die sich auch später als eher künstlich erweisen werden. – Andreas Pangritz verfolgt die unübersichtliche und doch signifikante Wechselbeziehung am Beispiel des musikalisch hochsensiblen und –gebildeten Dietrich Bonhoeffer. Die Ambivalenz der durch Musik erregten „religiösen Gefühle“ hat Bonhoeffer sehr deutlich bezeichnet und sogar gegen Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, mehr noch gegen Beethoven zur Geltung gebracht. Wegweisend sind andererseits die Rede von einer „ästhetischen Existenz“ im „Spielraum der Freiheit“ – hier wird die eingangs angesprochene theologische „Ernsthaftigkeit“ zumindest relativiert – und die Sympathie für das Fragmentarische (vor allem in Bachs „Kunst der Fuge“). Besonders fruchtbar dürften Bonhoeffers Bemerkungen zur „Polyphonie des Lebens“ sein. Reden von Gott wird im biblisch-christlichen Kontext niemals eindimensional oder gar „eindeutig“ sein, aber das ist gerade ein unendlicher Vorzug gegenüber allen fundamentalistischen Tendenzen in der Gottesrede. Harald Schroeter-Wittke lotet die Möglichkeiten „Neuer Geistlicher Musik“ aus und zeigt die enorme Weite des Horizonts auf, der sich hier erschließt. Dabei treten auch die vielschichtigen musiksoziologischen und rezeptionsästhetischen Verwicklungen hervor, die letztlich den (angemessenen) Gebrauch von Musik theologisch signifikant werden lassen. Gerade die Popmusik weist religiöse Hintergründe auf, die sich im neuen geistlichen Lied bemerkbar machen (jedenfalls stellenweise). Besonders wichtig und dringlich ist angesichts der Allgegenwart von Musik die Aufgabe, für eine neue „Offenohrigkeit“ zu sorgen, für eine neue Sensibilität gegenüber den originellen Klangräumen, wie sie in der zeitgenössischen Musik geschaffen werden. Der Reichtum solcher Klangräume könnte für das ausgehende 20. und das beginnende 21. Jahrhundert eine einzigartige Chance darstellen. – Heike Lindner skizziert eine Fülle von Möglichkeiten, solche „Offenohrigkeit“ im Religionsunterricht zu fördern. Es gibt elementare Zugänge zur aktiven Ausübung von Musik, die vor allem deshalb zu intensivieren sind, weil das bewußte Zu-Hören wegen der Allgegenwart musikalischer Berieselung immer mehr verkümmert. Hier treten der Rhythmus der Sprache

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und die „bodypercussion“ in den Vordergrund. Auf einer höheren Ebene eröffnet die Gestaltung von Geschichten durch bzw. mit Musik eine produktive Auseinandersetzung sowohl mit theologischen Gedankengängen als auch mit musikalischen Figuren. Das kann vertieft werden zu einem Verständnis der musikalischen Symbole – am Beispiel der amerikanischen Spirituals gezeigt – und perspektivisch zum Nachvollzug synästhetischer Bezüge zwischen Klang, Wort und Sprache. – Heike Lindner hat in ihrem Beitrag eine knappe Zusammenfassung ihres Buches „Musik für den Religionsunterricht“ gegeben. Dieses Buch wird von Friederike Ullmann am Ende des Heftes rezensiert und durchaus empfohlen. Es ist interessant, daß sich dabei ein leichter Dissens bezüglich des „Neuen geistlichen Liedes“ abzeichnet. Der aufmerksamen Lektüre wird nicht entgehen, daß ich die positive Einschätzung durch Harald Schroeter-Wittke nicht teilen mag. Vielleicht liegen hier die Aufgaben für eine zukünftige „Theologie der Musik“, in der die Grenzen des Milieus überschritten werden, wie es sich für eine vom Geist begabte Gemeinde gehört. Ernstpeter Maurer

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Bibel und Musik Ernstpeter Maurer Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Biblische Texte sind nicht nur immer wieder vertont worden, sie waren teilweise für den Gesang im Gottesdienst bestimmt – auch wenn wir etwa im Falle der Psalmen kaum noch rekonstruieren können, wie das wohl geklungen hat. Nach der Vernichtung der ägyptischen Verfolger stimmt Mirjam ein Lied an, und zwar mit Begleitung der Pauken: „Laßt uns JHWH singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Roß und Mann hat er ins Meer gestürzt.“ (Ex 15,20f). Wir stoßen hier auf ein Phänomen, das nicht auf biblische Texte begrenzt bleibt: Texte teilen nicht nur Informationen mit, sie können anregen, bewegen, faszinieren, mitreißen und begeistern. Dazu müssen sie nicht gesungen werden, sie weisen oft eine eigene musikalische Dimension auf, die dann freilich verstärkt werden kann durch die musikalische Gestaltung. Ein Gedicht unterscheidet sich von einem Prosatext durch Metrum und Rhythmus, durch wiederkehrende Muster der Betonung und die gezielte Abweichung von einem solchen Muster. Besonders deutlich wird das bei gereimten Gedichten, denn hier wird der Gleichklang sogar noch wahrgenommen, wenn der Sinn unverständlich bleibt. In diesem Sinne gebundene Sprache will entsprechend aufgeführt, sie kann unterschiedlich rezitiert werden. Das gilt sogar für den kunstvollen Vortrag eines Prosatextes. Und an dieser Stelle haben wir es in einem weiteren Sinne bereits mit Geist zu tun: Im Hebräischen verweist das Wort ruach auf den Atem. Wer einen Text ausdrucksvoll sprechen will, muss richtig atmen. Dabei können die Nuancen hervortreten, indem der Text kurzatmig oder mit langem Atem gesprochen wird – und dann kann man ihn auch singen. Das gilt erst recht für die in-spirierten, also: geistreichen Texte der Bibel. Wenn wir der Musik überhaupt eine geist-volle Dimension unterstellen, dann haben wir es sogleich mit einem sehr vielschichtigen, geradezu unübersichtlichen Feld zu tun: Es ist ja nicht nur der Atem, der zum Singen erfordert wird, es sind noch andere geist-volle Dimensionen in der Musik – und zwar potentiell in jeder Musik – aufzuweisen. Darüber wird sogleich

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nachzudenken sein. Zunächst aber kann gefragt werden: Welche Musik ist denn dem inspirierten Wort der Schrift angemessen? Gibt es hier Kriterien? Das kann scheinbar ganz schnell beantwortet werden: Der Text soll verständlich, die Musik muss also dem Wort untergeordnet sein. Dann unterscheidet sich die Vertonung eines Psalms allerdings nur unerheblich von der gehobenen oder auch kunstvollen Rezitation des Textes, die durch die Musik lediglich verstärkt wird. Die Musik soll dabei nicht als solche geistreich sein. Die Vertonung von Texten entwickelt aber eine musikalische Eigendynamik, die den Text verstärken und natürlich auch verfälschen kann. Dieser musikalischen Eigendynamik will ich nun nachgehen, denn darin liegt gerade der geist-volle Charakter von Musik. Das zwingt letztlich zu einer Unterscheidung der Geister, weil Musik auch einen Ungeist und damit falsche Begeisterung verbreiten kann. Die theologische Kontrollfrage lautet: Ist der durch Musik vermittelte Geist durch den Heiligen Geist, den Geist Jesu Christi in Dienst zu nehmen oder kommt es zum Konflikt? Die Rede vom Geist kann den menschlichen Geist meinen, der sich vor allem in den kulturellen Leistungen des menschlichen Geschöpfs ausformt und auf dieser Ebene auch der Sünde des menschlichen Geschöpfs verfallen und pervers werden kann. Das darf uns nicht davon abzuhalten, die mögliche Transparenz des menschlichen Geistes für den Geist Gottes zu bedenken. Die geistige Dimension der Musik zeigt sich darin, dass sie die ganze menschliche Person ergreift. Natürlich kann Musik die Affekte durchdringen, aber nicht nur auf der unbewussten Ebene: Sie kann auch intellektuelles Vergnügen schaffen. Wenn Johann Sebastian Bach seine Partiten für Klavier (BWV 825–830) den Liebhabern „zur Gemüths Ergoetzung“ verfertigt, so ist damit eine „ganzheitliche“ Erfahrung im Blick: Wer die Stücke spielt, befriedigt seine Spielfreude mit den Fingern auf den Tasten, mit dem Herzen beim Vollzug des tänzerischen Schwungs, mit dem Hirn bei der kognitiven Erschließung der phantasievollen und unendlich differenzierten musikalischen Figuren. Musik kann die ganze Person ergreifen, aber das kann auch unter (evtl. absichtlicher) Abblendung des Denkens geschehen. Was Bach in seiner Instrumentalmusik in paradigmatischer Weise vollzieht, wird in der Regel verteilt auf Text und Musik. Dabei repräsentieren die vertonten Texte auf den ersten Blick die „intellektuelle“ Seite. Aber eben zuweilen nur auf den ersten Blick: Die Musik kann den Text ironisch in Frage stellen und Subtexte schaffen. Dann entsteht eine eigenartige Durchdringung von Herz und Hirn, die mit rein sprachlichen Mitteln nicht zu leisten ist. Oder jedenfalls: nur mittels einer musikalischen Sprache.

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Aus dem Sprachrhythmus kann Musik erwachsen, ebenso aus der Sprachmelodie. Es gibt aber mindestens noch ein anderes Element, das hier zu erwähnen ist und sich als pneumatologisch relevant erweist, das ist der Tanz. Bewegungen drängen zur Musik, wiederholte Bewegungsmuster führen zu tänzerischen Formen und gestalten sich in bestimmten metrischen und rhythmischen Mustern. Diese Muster verbinden sich mit charakteristischen Melodien, können daher wieder in die musikalische Gestaltung von Texten eingreifen. Die musikalische Gestaltung von Gedichten bei Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms und Hugo Wolf ist voll von solchen Querverbindungen. Ein amüsantes Beispiel findet sich in der Vertonung der Mörike-Gedichts „Abschied“ von Hugo Wolf (1860–1903): Der Dichter wird von einem Kritiker heimgesucht und führt ihn nach einem belanglosen Gespräch zur Treppe: „[…] da geb‘ ich ihm ganz frohgesinnt / einen leichten Tritt nur so von hinten aufs Gesäße mit“. Das Gerumpel beim Treppensturz wird drastisch durch das Klavier ausgestaltet, dann kommt die Schlusspointe: „Dergleichen hab ich nie gesehn, all mein Lebtage nicht gesehn: Einen Menschen so rasch die Trepp‘ hinabgehn.“ Die letzten Zeilen sind als Walzer komponiert, der im Klaviernachspiel noch zusätzlich „überdreht“ wird. Es dürfte einleuchtend sein, solche musikalischen Kunstwerke als geistreich zu bezeichnen. Es gehört zur theologischen Lehre vom Geist, die Einheit von Affekten und Vernunft als von Gott her geschenkte Balance zu verstehen. So können wir auch die Einheit von Leib und Seele anschaulich machen, die in unserer geschöpflichen Struktur zwar angelegt ist, aber immer wieder gestört wird. Allerdings kann sich nun ein grundsätzlicher Einwand erheben: Wenn ein Komponist wie Hugo Wolf eine solche Balance in einem ganz und gar nicht „geistlichen“ Lied realisiert – wie verhält sich das dann zur geistlichen Musik im weiteren und zur Vertonung biblischer Texte im engeren Sinne? Wir müssen uns vielleicht darauf gefasst machen, dass der Geist Gottes auch „von außen“ auf uns zukommt und unsere geistreiche Verkündigung des Wortes Gottes provoziert. Dazu wird später noch einiges zu bemerken sein. Konzentrieren wir uns auf Sprachrhythmus und -melodie und auf die Gestik, so wird bereits klar: Auf der leiblichen Ebene werden Bedeutungen differenziert, kommt es also zur Vertiefung der Sprache in einer Richtung über das Worthafte hinaus. Dabei werden vor allem die Affekte deutlich – in einem sehr weiten Sinne. Wir können sagen: Es geht hier um die Konnotationen, um alles, was nicht klar und eindeutig gesagt wird und doch zur Bedeutung beiträgt, wobei gerade darin das Wesentliche liegen kann. Es ist daher auch (unfreiwillig) komisch, wenn Texte gereimt oder gar gesungen

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werden, die als prosaische Gebilde bereits alles sagen. Das kann dann wieder in parodistischer Absicht geschehen: In meiner Kinderzeit krönte der Showmaster Vico Torriani – in seiner Freizeit ein exzeptioneller Küchenmeister! – seine Fernsehsendungen mit Kochrezepten, als flotte Schlager präsentiert. Sobald sich solche musikalischen Gestalten verselbständigen, kommt es zu einer lebendigen Geschichte musikalischer Figuren, die sich gleichsam mit Bedeutung „aufladen“ und dann in der Gegenrichtung die Vertonung von Texten vertiefen können. Diese lebendige Geschichte gehört auf jeden Fall zur Geistesgeschichte. Das zeigt sich an der Vieldeutigkeit der Phänomene. Was eindeutig ist, kann nicht geist-reich sein. Musik kann gerade in ihrer Vielschichtigkeit auf andere Musik bezogen sein und gleichsam über Musik nachdenken. Was Hugo Wolf mit dem Walzer-Abschied inszeniert, kann auch bedrohlich werden: Maurice Ravels (1875–1937) Tanzdichtung „La Valse“ ist ein rauschhafter Wiener Walzer, der sich aus einem düsteren Klanggewebe befreien muss und immer wieder teilweise darin verschwindet – bis er sich am Ende in einer Weise befreit und steigert, die nur als Implosion gehört werden kann. Das Werk wurde 1919–20 vollendet und reflektiert die Brüchigkeit der Vorkriegszeit, die als „Walzerseligkeit“ insbesondere in Wien kaum noch zu überspielen war. Die Musikgeschichte erweist sich demnach als lebendiger Prozess und insofern als charakteristisch für den menschlichen Geist. Das Beispiel „La Valse“ zeigt aber auch, dass Musik sensibel reagieren kann auf kulturelle und gesellschaftliche Phänomene. Diese Sensibilität ist wichtig. Sie hat nichts mit einer „Abbildung“ der Realität zu tun, vielmehr ist es gerade die Eigendynamik der geistigen Wirklichkeit, in der sie auf ihr „Außerhalb“ reagiert, aber auch darauf einwirken kann. Die schmissigen Chöre in den frühen Opern von Giuseppe Verdi (1813–1901) gaben den Italienern die Möglichkeit, ihren Widerstand gegen die österreichische Besatzung zu artikulieren. Der Chor der Gefangenen aus „Nabucco“ konnte auf der Straße gesungen werden – eben als Gassenhauer, aber mit dem Subtext der verheißenen Freiheit, was die österreichische Zensur nicht verhindern konnte, wenn sie es überhaupt wahrgenommen hat.1 Die sensible Reflexion der jeweiligen Gegenwart gehört natürlich zur Kunst als einem geistigen Phänomen überhaupt, für Musik aber noch besonders, weil hier die leibliche Dimension stärker umgriffen wird als etwa in der Bildenden Kunst. Das hängt wieder 1

Zu Verdi vgl. die informative rororo-Monographie von Hans Kühner, Reinbek bei Hamburg 1961.

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mit der zeitlichen Dimension zusammen, vor allem mit der rhythmischen Energie. Musik wirkt ja sehr unmittelbar: Ich kann meine Ohren nicht verschließen wie meine Augen, ich werde von der Musik mitgenommen. Das gilt alles auch für die lebendige Rezitation eines Gedichts oder eines Romans und für die Aufführung eines Dramas, aber dabei kommen sogleich wieder die musikalischen Aspekte der Sprache ins Spiel. Die Verbindung von unmittelbar-affektiver Wirkung und intellektuellreflexiver Durchdringung erreicht ihre Spitze in der abendländischen Instrumentalmusik. Das ist einerseits die denkbar weiteste Entfernung von der Vertonung biblischer Texte: Was hat ein Streichquartett von Beethoven mit dem Gesang eines Psalms zu tun? Die abendländische Instrumentalmusik ist aber andererseits der Fixpunkt für die einzige bislang ausformulierte Philosophie der Musik, nämlich die teilweise brillanten, teilweise sehr einseitigen und streckenweise grotesken (aber auch darin lehrreichen) Analysen Theodor W. Adornos. Hier wird Beethoven zum Paradigma für die Musik schlechthin, und zwar weil es sich um denkende Musik handelt. Adorno konnte sich zunächst nicht zwischen einer philosophischen und einer musikalischen Laufbahn entscheiden und hat immerhin bei dem Schoenberg-Schüler Alban Berg (1885–1935) Komposition studiert. Seine musikalischen Urteile sind daher durchaus professionell. Als Soziologe und Philosoph war er vor allem in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts enorm einflussreich. Adorno entwickelt kritische Maßstäbe für Musik überhaupt, die freilich mit höchster Vorsicht anzuwenden sind. Ich übernehme von ihm grundsätzlich die Einsicht, Musik als geistige Wirklichkeit in Beziehung zu setzen zur Geistesgeschichte überhaupt, und zwar in denkbar vielen Facetten: als Reflex von Umbrüchen, als Utopie und daher auch als Kritik an der bestehenden Gesellschaft, aus diesem Grunde als bleibend wertvoll – oder einfach als Bestätigung des Bestehenden und daher als ideologisch verarmte oder sogar gefährliche Reduktion des Geistes bzw. als Zusammenballung des Ungeistes. Damit wäre eine Scheidung der Geister denkbar, eine theologische Beurteilung von musikalischen Phänomenen. Das wird sich als ebenso anregend wie als problematisch erweisen. Bleiben wir zunächst bei Ludwig van Beethoven: In seinen nachgelassenen Fragmenten ringt Adorno um eine Analogie zwischen der Philosophie des Idealismus und der Musik.2 Beethoven realisiert in seinen Werken zunächst das revolutionäre Ideal einer Selbstverwirklichung der subjektiven Freiheit, in seinen späten Kompositio2

Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte (hg. von R. Tiedemann), 2. Aufl. Frankfurt 1994.

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nen – die er, völlig ertaubt, nur im Kopf und um so intensiver „aushören“ konnte – zeichnet sich die Gebrochenheit des Subjekts als bedeutsames Fragment ab. In alledem bleibt die Musik Beethovens in ihrer Fülle bis in die Gegenwart hinein bedeutsam und verliert ihren kritischen Stachel nicht, lässt jede Ideologie fragwürdig werden, die den Gegensatz des Individuums und der Gesellschaft verharmlost und „harmonisiert“. Adorno sucht diese Differenzen bis in die technischen Verfahren des Komponierens hinein zu verfolgen. Das ist einerseits ungemein aufschlussreich, weil damit die Ebene eines vagen „poetischen“ Geschwafels von der quasi-religiösen „Tiefe“ der Musik verlassen wird.3 Auf der anderen Seite hat es indessen zu grotesken und beinahe katastrophalen Fehl-Urteilen in Bezug auf alle Musik geführt, die nicht durch kompositorischen „Fortschritt“ zur Kritik am Bestehenden wird. Vor allem schlägt Adornos eigene Kriteriologie hier dialektisch um: Wenn es nur darum geht, die Techniken des Komponierens immer weiter zu entwickeln, wenn der Fortschritt des „Materials“ zum Selbstzweck wird, dann kann Musik ein Reservat bilden, dem jegliche gesellschaftliche Signifikanz fehlt. Die Doktrin von der kritischen Funktion des musikalischen Fortschritts hat seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entscheidend dazu beigetragen, dass die Entwicklung der avancierten Musik sich endgültig verabschiedet hat von einem breiten Publikum, das umgekehrt nicht mehr nach „Neuer Musik“ verlangt. Welche Konsequenzen das für die Geschichte der populären Musik hat, wäre noch zu erforschen. Ohne billige Vorurteile zu bedienen, wird man sagen können: Eine Entwicklung des musikalischen Materials im Sinne raffinierter neuer Techniken des Komponierens hat hier kaum stattgefunden – allerdings hat sich der Fortschritt in die elektronische Bearbeitung des Klangs verlagert. Die musikalische Verarmung, die sich in der Allgegenwart des Viervierteltaktes und einem charakteristischen Dauerfortissimo abzeichnet, mag für musikalisch geschulte Ohren qualvoll sein, ist aber kein Indiz für künstlerische Wertlosigkeit. In der Linie von Adorno könnte unterstellt werden, dass diese Musik die Geistlosigkeit der spätkapitalistischen Globalisierung reflektiert, in der Uniformität von Metrum und Lautstärke und der damit zusammenhängenden Reduktion auf bloße Reize. Vielleicht gehört 3

Das zeigt sich in der Beethoven-Rezeption auf unheilvolle Weise: So wird die 5. Symphonie in der Tradition als Gang „von der Nacht zum Licht“ vermittelt: Das „Schicksalsmotiv“ des Anfangs weicht am Ende dem strahlenden C-Dur. Dabei wird unterschlagen, dass der Triumph am Ende für das damalige Publikum unüberhörbare Anspielungen auf aktuelle französische Revolutionsgesänge enthält, vgl. Martin Geck, Ludwig van Beethoven, Reinbek bei Hamburg 1996, 85f.

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die Extremerfahrung gerade dazu – in einer Fabrikhalle müsste bei solchen Dezibel-Graden der Personalrat einschreiten, ich assoziiere eher ein Trommelfeuer im Schützengraben und empfinde das stupide bumpf-bumpf als totalitären Versuch, jedes Gespräch zu verhindern. Aber das kann bereits durch die Texte wieder relativiert werden, gar nicht zu reden von den differenzierten visuellen Möglichkeiten, die in der Regel untrennbar mit Text und Musik verbunden sind. Es gibt keinen Grund für die Behauptung, hier könne prinzipiell keine geistreiche Musik entstehen, die auch das Mitdenken provoziert. Dagegen sprechen Formen von Rap und Hip-Hop, die mit Kompositionen von Orff und Strawinski verglichen werden können, ganz abgesehen von der Frühzeit der Oper, wo die Musik sich aus dem Sprachrhythmus entwickelt hat. Keinesfalls kann daher bestritten werden, dass sich hier eine sensible Reaktion auf die gegenwärtige Geisteslage ausgebildet hat.4 Höchstens kann kritisch eingewendet werden, dass der Dauerbeschuss mit dieser Musik das differenzierte Hören schwerlich schulen wird. Ich stelle fest, dass meine Studentinnen und Studenten keinen Dreivierteltakt auf den Tisch klopfen können, ob sie noch saubere Töne singen können, wage ich auch zu bezweifeln, denn das aus dem Jazz übernommene und dort als Ausdrucksmittel eingesetzte „unsaubere“ Ansingen von Tönen ist in der Popmusik allgegenwärtig. Interessanterweise reagiert einer meiner Stiefsöhne auf sauber intonierte gesungene oder gespielte und nicht elektronisch verfremdete Klänge unmittelbar ablehnend – das genaue Spiegelbild meiner Aversion gegen elektronisch versülztes und überlautes Gröhlen. Zu meiner Verteidigung darf ich wohl hinzufügen, dass mich die sehr avancierte Musik von Luigo Nono (1924–1990) mit ihren durch Live-Elektronik extrem nuancierten Klängen (allerdings auch weithin im leisesten und zartesten Bereich) fasziniert und bewegt. So muss der Gegensatz wohl auch als Reflex der gegenwärtigen Geisteslage interpretiert werden: Seit etwas über hundert Jahren verbreitet sich der Abstand zwischen einer immer weiter ausdifferenzierten Musik für „Eingeweihte“ und der populären Musikindustrie. Wenn wir von „Neuer Musik“ sprechen, meinen wir in der Regel nicht die Pop-Musik, sondern die musikalische Entwicklung seit etwa 1910 (!). Den Anfang markieren die ersten Musikstücke, die aus dem seit ca. 1600 etablierten und von den meisten 4

Zu dieser Musikkultur vgl. den informativen und anregenden Beitrag von Michael Landgraf, Sprechgesang – Hip-Hop – Rap, in: Peter Bubmann/Michael Landgraf (Hg.): Musik in Schule und Gemeinde, Stuttgart 2006, 315–334.

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mitteleuropäischen Ohren als „natürlich“ empfundenen Dur-moll-Tonsystem ausbrechen. Das sind die ersten „atonalen“ Werke von Arnold Schoenberg (1874–1951) sowie der Vulkanausbruch, den Igor Strawinski (1882–1971) in Jahre 1913 mit dem Ballett „Le Sacre du printemps“ ausgelöst hat.5 In der Musik von Claude Debussy (1862–1918) hatten sich ähnliche Umbrüche bereits angebahnt. Dazu ist zu bemerken: (1) Die Komponisten um 1900 haben sich nicht zu einer Revolution entschlossen, sie haben vielmehr sensibel reagiert auf die Grenzen des seit 1600 etablierten Systems und nach neuen musikalischen Möglichkeiten gesucht. (2) Die Musik von Debussy, Schoenberg und Strawinski kann – in einer didaktisch plastischen Vergröberung – mit den Werken von Claude Monet, Wassily Kandinsky und Pablo Picasso parallelisiert werden. Es bleibt eine offene Frage, warum die Bildende Kunst des 20. Jahrhunderts mittlerweile problemlos rezipiert wird, während auch das „normale“ – bildungsbürgerliche – Konzertpublikum auf die „Neue Musik“ immer noch mit Befremden reagiert. Das 20. Jahrhundert ist in der Folge dieses Aufbruchs besonders reich an Nuancen und Stilen, von denen kaum jemand eine Ahnung hat. Die jeweils neueste Musik ereignet sich in Donaueschingen und Witten, wo sich einmal im Jahr die Komponisten ihre Musik gegenseitig erklären, vor der Uraufführung von Stücken, die zumeist auch zum letzten Mal erklingen. Und umgekehrt ist die zeitgenössische populäre Musik dieser Entwicklung fast diametral entgegengesetzt: Sie will als performance wahrgenommen, nicht im engeren Sinne als Musik gehört werden, sie ist auch in Hinblick auf die rein musikalische Gestalt weitgehend auf dem Entwicklungsstand von 1750, abgesehen von den Einsprengseln aus dem Jazz. Dieser auf den ersten Blick unüberbrückbare Gegensatz ist vielleicht die geistige Signatur unserer Zeit, und wahrhaft geistliche und geistreiche Musik müsste auf diesen Gegensatz kreativ reagieren. Adornos Ansatz wird auch von der anderen Seite her erschüttert: Die Musik des Schoenberg-Schülers Anton Webern (1883–1945) ist sicherlich zu ihrer Zeit die am weitesten „fortgeschrittene“: Es handelt sich um höchst verdichtete musikalische Kristalle, zerbrechliche Gebilde, die unzählige Nuancen auf kleinstem Raum hörbar machen. Diese Musik ist in ihrer wahrlich elitären Esoterik um Welten entfernt von der Ideologie des NSStaates, und doch war ihr Schöpfer politisch naiv genug, wegen seiner religi5

Die Uraufführung von „Le Sacre“ ging in einem beispiellosen Theaterskandal zu Ende, auch die Uraufführungen der Werke Schoenbergs endeten oft in Handgreiflichkeiten. Das sollte eine Warnung sein: Die jeweils zeitgenössische Musik ist schwer zu beurteilen!

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ös gefärbten Liebe zur Natur am Ende seines Lebens dieser Ideologie anzuhängen6. Das hindert uns aber nicht daran, die Musik Anton Weberns auch als Gegengift zur Uniformität und Lärmbelastung der Gegenwart zu hören und als Befreiung zu erfahren. Wir sehen also: Die genaue Betrachtung und Analyse der musikalischen Struktur lohnt sich, wenn die geist-volle Dimension der Musik hervortreten soll – aber Musik ist hinreichend vieldeutig, um in unterschiedlichen Kontexten ganz verschieden aufgefasst zu werden. Daher ist die Frage nach charakteristischen Zügen geistlicher Musik vermutlich nicht zu beantworten. Zu den interessanten Phänomenen in der musikalischen Geistesgeschichte gehören die Werke, die den besonderen Stil von kirchenfernen Komponisten markieren und dennoch zu den Höhepunkten geistlicher Musik gezählt werden müssen. Ich nenne in erster Linie die „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi, die Fülle von Vertonungen biblischer Texte durch Johannes Brahms (1833–1897) – seinem „Deutschen Requiem“ liegt eine ausgesprochen bibelkundig zusammengestellte Folge von alt- und neutestamentlichen Schlüsselstellen zugrunde – und die „Glagolithische Messe“ von Leos Janácek (1854–1928). Der Titel bezeichnet die altslawische Sprache, die den lateinischen Messetext ersetzt. Wie konnte es dazu kommen, dass die Gipfelwerke der geistlichen Musik im 19. Jahrhundert (bzw. zu Beginn es 20. Jahrhunderts) außerhalb des kirchlichen Raums komponiert wurden? Am Beispiel der Totenmesse von Verdi und ihrer Rezeption kann gezeigt werden, wie raffiniert der Geist Gottes innerhalb und außerhalb des kirchlichen Raumes wirkt: Das Requiem wurde 1873/74 komponiert unter dem Eindruck des Todes von Alessandro Manzoni, einem von Verdi hochverehrten italienischen Dichter, und gehört zweifellos zu den Höhepunkten der Musik des 19. Jahrhunderts. Es wurde aber immer wieder kritisiert, dass diese Musik eher ins Opernhaus als in den Gottesdienst gehört. Der deutsche Pianist und Dirigent Hans von Bülow hat das Werk in dieser Richtung boshaft verrissen, was ausgerechnet sein Freund Johannes Brahms kommentierte mit der Bemerkung: „Bülow hat sich unsterblich blamiert, so etwas kann nur ein Genie schreiben.“ Nach seiner „Bekehrung“ hat sich Bülow bei Verdi entschuldigt, der das trocken kommentierte: „[…] vielleicht habt Ihr damals recht gehabt“.7 Es ist tatsächlich eine offene Frage, ob eine Oper von Johann Sebastian Bach sich in der musikalischen Struktur von den Pas6 7

Vgl. Hanspeter Krellmann, Anton Webern in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1975, 95ff. Verdi-Boito Briefwechsel, hg. von H. Busch, Frankfurt 1986, 676f.

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sionen und dem Weihnachtsoratorium unterschieden hätte. Noch eine Nuance tritt bei Verdi hervor: Er hat in seinen späten Opern „Aida“ und „Otello“ Szenen komponiert, in denen das tragische Schicksal der Figuren als Gebet hörbar wird, zugespitzt: er hat die Steigerungen in den Aktschlüssen liturgisch gestaltet. Im zweiten Finale von „Aida“ konfrontiert er den allseits bekannten „Triumphmarsch“ mit der Verzweiflung der drei Protagonisten so wirksam, dass die Wiederholung des Marsches am Ende nur noch als schauerliche Grimasse gehört werden kann. Ist das „Requiem“ nun eine Oper oder werden Opernszenen zu geistlicher Musik? In dieser Frage konzentriert sich noch einmal der Grundgedanke: „Den Geist löscht nicht aus. Die Prophetie verachtet nicht. Prüfet alles, behaltet das Gute.“ (1 Thess 5,19–21) Wenn die lebendige Geschichte der Musik zu den Höchstformen des menschlichen Geistes gehört, dann gibt es musikalische Gestalten, die aus der Vertonung biblischer und liturgischer Texte erwachsen, aber es kann auch umgekehrt die musikalische Eigendynamik zum Resonanzboden für die Verkündigung des Wortes werden. In seltenen bzw. extremen Fällen wird sich das am musikalischen „Material“ zeigen. Wenn die geistige Dimension auch geistlich ist, wird sie die Reflexion nicht abblenden. Wenn Musik der Verblödung dienen kann, ist sie sicherlich verdächtig, aber auch differenzierte Musik kann das Denken ausschalten.8 Adornos Bestreben, solche Unterscheidungen bis in die musikalischen Details hinein zu verfolgen, ist dabei ehrenwert und theologisch fruchtbar. Es dürfte aber seine Grenzen darin finden, dass Musik gerade vermöge ihrer Mehrdeutigkeit geistreich ist. Die Scheidung der Geister ist eben auch eine Gabe des Geistes (1 Kor 12,10).

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Das macht gerade die avancierte, faszinierende und zukunftsweisende Musik Richard Wagners vor allem in „Tristan und Isolde“ durchaus fragwürdig: Sie bewirkt einen Rauschzustand.

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Theologische Klärung

Bibel und Musik Zum Gedenken an Siegfried Fiedler (1926–2011) Ernstpeter Maurer An dieser Stelle soll ein Zugang skizziert werden, der die besondere sprachliche Form biblischer Texte in den Blick nimmt. Die formale Gestaltung kann zwar vom Inhalt der Texte unterschieden, darf aber nicht als bloß rhetorisches Mittel davon „abgezogen“ werden. Die Form der Texte ist der Mitteilung vielmehr wesentlich: Reden von Gott schafft Beziehungen, die ihrerseits die beteiligten Personen verändern. Dieses mehr oder weniger dramatische Geschehen zeichnet sich in der sprachlichen Gestaltung ab und wirkt in den Texten weiter – auch vermöge der besonderen Formen. Die kraftvolle Wirkung des biblischen Wortes verweist natürlich auf die geistliche Dimension der Sprache. Wenn der Zusammenhang von Bibel und Musik beleuchtet werden soll, wäre diese geistliche Dimension als „Musikalität“ biblischer Texte hervorzuheben. Dabei ergeben sich Konvergenzen zwischen geistreicher Sprache und musikalischen Gebilden.

Bibel und Musik Es finden sich vielfältige Hinweise vor allem auf die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes – vgl. die differenzierten Angaben zu den Psalmen –, aber auch auf militärische Signale (Hos 5,8) und „profane“ Unterhaltungsmusik (Am 6,5). Musik hat auch im Gottesdienst der neutestamentlichen Zeit einen festen Ort (1 Kor 14,15b).1 Eine „biblische Theologie der Musik“ kann indessen aus diesen spärlichen Informationen noch nicht gewonnen werden. Weiter führt die Frage nach den Formen der Texte, die für das Lob Gottes und das Gebet im Gottesdienst geschaffen wurden. Dabei ist der 1

Vgl. den Überblick von Hans Seidel, Art. Musik und Religion I. Altes und Neues Testament, in: TRE XXIII, Berlin/New York 1994, 441–446.

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Glaube und Lernen, 29/2014, Heft 2 Theologische Klärung

DOI 10.2364/3846999677

wohl wichtigste Ansatzpunkt die hymnische Gestaltung der Doxologie. Wenn Gott gelobt wird, dann gilt es zu singen. Sobald ein Text metrisch gestaltet ist, wird er anders gesprochen als ein Prosatext. Diese Eigenart „gebundener Sprache“ tritt übrigens schon bei Kinderreimen und Zaubersprüchen hervor. Hier stoßen wir auf ein elementares Beispiel für die zu Beginn erwähnte Kraft der formalen Gestaltung, die sich bis heute literarisch vor allem in Gedichten aufdrängt. Dabei dürften die lyrischen Formen innerhalb der Literatur der Musik am nächsten stehen, nicht zufällig werden Gedichte zuweilen als „Lieder“ bezeichnet. Alttestamentliche Texte sind über weite Strecken hin poetisch geformt. Das gilt nicht nur für die Psalmen, sondern auch für die Prophetie. Wir reden von „GottesknechtLiedern“. Jes 52,13–53,12 ist gestaltet wie ein Musikstück: Die Gottesstimme bildet den Rahmen, der Chor zeichnet die Geschichte des leidenden Gerechten nach. Auf der Ebene größerer Texteinheiten fällt bereits zu Beginn die streng rhythmisierte Schöpfungsgeschichte in Gen 1,1–2,4a auf. Weniger augenfällig, aber signifikant ist die narrative Binnenstruktur des biblischen Zeugnisses. Die eine Geschichte Gottes mit den menschlichen Geschöpfen findet ihr Ziel in der Christusgeschichte, und von diesem Punkt aus hängen die vielen anderen Geschichten untereinander zusammen, allen voran natürlich die Geschichte Gottes mit Israel, die ihrerseits mannigfaltige Kurven aufweist. Die Erzählung schafft eine besondere Zeit und hebt sie heraus aus dem chronologisch-gleichförmigen Fluss der Ereignisse. Das gilt für narrative Texte überhaupt, wobei die Nähe zur Musik weniger ins Ohr springt. Doch ist zumindest die abendländische Musik ab ca. 1600 charakteristisch geformt durch Spannungsbögen, die auf unterschiedliche Weise geschaffen werden. In erster Linie sind das die harmonischen Beziehungen, es gibt aber eine Fülle anderer Techniken. So kommt es auch in der Musik zu einer anderen Erfahrung von Zeit, und auch hier hebt sich die besondere Zeit ab von der bloßen Gleichförmigkeit der Uhrzeit.2 Es kommt noch ein wichtiger Aspekt hinzu, der die Verwicklung von Form und Inhalt besonders aufdringlich werden lässt: Auf unterschiedlichen Ebenen sind biblische Texte „polyphon“. Nun bezeichnet dieser musikalische Begriff im strengen Sinne eine Kompositionstechnik, die den Zusammenklang mehrerer eigenständiger Stimmen herstellt. Dabei sind die Stimmen in 2

Jeremy Begbie hat die vielschichtige Zeiterfahrung in der Musik sorgfältig untersucht und mit den unterschiedlichen Zeitebenen des biblischen Redens von Gott in Beziehung gesetzt: Theology, Time and Music, Cambridge 2000.

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sich selbständige sinnvolle melodische Linien, im Unterschied etwa zu einem vierstimmigen Choralsatz, wo die Melodie von den drei anderen Stimmen nur klanglich gestützt wird, erst recht zur Begleitung einer Melodie durch Akkorde. Zur Polyphonie wird noch einiges zu bemerken sein. Was aber kann die metaphorische Verwendung des Wortes in der Theologie meinen? Biblische Texte sind vielschichtig, aber gerade in ihrer Mehrdeutigkeit auf überraschende Weise kohärent und entfalten ihre Kraft gerade in der Gleichzeitigkeit verschiedener Lesarten. Das prägnanteste Beispiel ist Phil 2,6–11, sicherlich nicht zufällig als Hymnus bezeichnet. Dieser Text ist streng gestaltet und nur angemessen zu verstehen im Zusammenklang der beiden Bewegungen von Erniedrigung und Erhöhung, die nicht einfach ein „Hin und Zurück“ nachzeichnen, sondern die unaufhaltsame Ausbreitung des Gotteslobs, die alle Grenzen überschreitet. Die sechs Verse verlangen eine räumliche Auffassung, in der die Bewegungen ineinander verschlungen ablaufen. Solche Räumlichkeit ist charakteristisch für polyphone Musik.3 Bedenken wir noch, dass im Philipperhymnus die Grundstruktur – gleichsam die DNA – der neutestamentlichen Texte aufscheint, so wäre auf unterschiedlichen Ebenen eine Polyphonie nachzuzeichnen: Das gilt für das Nebeneinander der christologischen Modelle (Präexistenz nach Joh 1,1 ff. und Inthronisation im Sinne von Röm 1,3 f.) oder auch für die „Spannung“ von johanneischer und synoptischer Christologie. Es gilt jeweils das eine im anderen zu „hören“. Das wird durch die „Formel von Chalcedon“ kongenial auf den Punkt gebracht. Die „Zwei-Naturen-Lehre“ ist nicht zuletzt eine hermeneutische Anweisung, das neutestamentliche Zeugnis von Jesus Christus stets polyphon zu hören. So entsteht ein Zugleich von Perspektiven, das natürlich auch visuell nachzuzeichnen wäre. Die besondere Nähe der Musik zur Sprache und zur Erfahrung von Zeit führt aber dazu, dieses „Zugleich“ immer als verdichtete Zeit zu erleben, vielleicht gar als Ewigkeit in der Zeit. Es wäre demnach gar nicht zufällig, wenn die Doxologie als gesungenes Gotteslob strenge Formen aufweist, gerade weil sie sich einer ekstatischen Schau des göttlichen Lebens verdankt (vgl. Röm 11,33–36 und 1 Kor 2,10–16).

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Der Philipper-Hymnus als polyphones Gebilde wird im weiteren Verlauf noch weiter behandelt.

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Ästhetik und Theologie Nun geht es zu weit, die biblischen Texte insgesamt als poetisch-ästhetische Gebilde zu interpretieren. Sie sind mehr als Dichtung, und keineswegs weisen sie alle eine literarische Formung auf. Das zeigt sich etwa an der Briefliteratur, in der vorwiegend argumentiert wird. Allerdings verdichten sich auch hier die Gedanken in hymnischen Steigerungen oder in reichlich verschlungenen Bildern. Die biblischen Texte sind jedenfalls in einer signifikanten Anzahl streng gestaltet. Das ist der Ansatzpunkt für musikalische Erwägungen. Denn Musik hat ihrerseits eine (keineswegs einfache) Affinität zur „gebundenen“ Sprache. Wenn wir die biblische Sprache als „Literatur“ in den Blick nehmen, bricht sogleich eine grundsätzliche Frage auf, nämlich die „Wahrheitsfrage“. Inwiefern kann Kunst wahr sein? Die biblischen Texte sind doch nicht „nur“ schöne Literatur! Wahrheit wird im ersten Zugriff als Korrespondenz bestimmt – als Übereinstimmung zwischen Satz und Sachverhalt. Das ist schon im Rahmen der Sprachphilosophie nicht unumstritten und nur in trivialen Beispielen unproblematisch. Innerhalb der Theologie zeigt sich die Grenze der Wahrheit als Korrespondenz sehr schnell: Aus welcher Perspektive werden Sätze gesprochen wie Phil 2,6 oder Kol 1,15 – wer hätte die Gedanken erraten, die zur Selbsterniedrigung Gottes führen, und von wo aus kann Jesus Christus als Ebenbild des unsichtbaren Gottes erkannt werden? Die unbezweifelbare Wahrheit solch hymnischer Sätze kann nicht durch eine „Korrespondenztheorie“ eingefangen werden. Die vorausgesetzte Perspektive ist diejenige Gottes, und es sollte klar sein, dass wir diese Sicht nicht einnehmen können, sondern in einer ekstatischen Erfahrung damit beschenkt werden. Die erwähnten Texte sind zwar begriffs- und aussageförmig, sprengen aber die klassische Logik: Wie kann in der Erniedrigung sich zugleich die Erhöhung ausbreiten? Wie kann Jesus Christus „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ sein (Kol 1,15)? Andererseits: Ist die zugespitzte „Paradoxie“ dieser Wendung einfach absurd, oder drängt sich hier nicht eher das gesamte neutestamentliche Zeugnis in einer nicht mehr überbietbaren Weise zusammen? Dieses Spiel von begrifflicher Präzision und logischer „Unregelmäßigkeit“ entspricht einer Ekstase, die das Denken nicht einfach irrational hinter sich lässt, sondern erweitert. Das aber ist ein Grundzug der künstlerischen Gestaltung. Insofern kann auch Kunst nicht in einer trivialen Weise „wahr“ sein, wohl aber in strenger Weise die selbstverständlichen Perspektiven auf „die“ Wirklichkeit in Bewegung versetzen, auch in der Form einer produktiven Konfrontation. Das mag ein Spiel bleiben, aber es ist deshalb nicht weniger ernst.

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Die Korrespondenztheorie der Wahrheit hat indessen noch eine andere Schwäche: Sie setzt generell voraus, dass Sätze „über“ die Wirklichkeit formuliert werden und dann an ihrer Übereinstimmung zu messen sind. Nun können wir in diesem Sinne nicht „über“ Gott sprechen – aber genau genommen auch nicht „über“ uns als menschliche Personen.4 Je „persönlicher“ die Rede, desto weniger beschreibt sie „von außen“. In der Sprache teilen wir einander mit. Sprache erzeugt eine Dynamik, die uns ergreift und die wir unsererseits wieder nach außen wenden. In der personalen Sprache tritt das „Innere“ nach außen und kann in der Begegnung das „Innere“ meines Gegenübers treffen. Dabei fällt auf: Bereits die Rede von einem „Inneren“ ist metaphorisch. Vor allem die gebräuchliche Rede von einem „Ausdruck der Gefühle“ ist insofern misslich, als hier Gefühle wie eine gegenständliche Wirklichkeit betrachtet werden, die vor der sprachlichen Äußerung „gegeben sind“. Es wäre zu fragen, ob das nicht bereits den Blick verstellt auf die Wirklichkeit des „Inneren“. Die Bewegung der Äußerung als Realität der personalen Beziehung kann sich wohl verdichten in Mustern, für die auch Wörter bereitstehen, die als Substantive den Schein der Gegenständlichkeit aufweisen. Es kommt aber darauf an, diese Verdichtung einzubetten in den Fluss der Begegnung. Es „gibt“ dann gar kein „Inneres“ abgesehen von der „Äußerung“. Eher wird eine Dynamik geschaffen, in der Sprache mehr ist als nur ein „Medium“ der Mitteilung. Diese Dynamik kann gestaltet werden, wobei feine Nuancen eine Rolle spielen. Die Tendenz zur Nuancierung ist wieder als ästhetisches Phänomen nicht nur auf die Musik beschränkt, allerdings entfaltet sich die Sprache ja in der Zeit und ist insofern näher an der Musik als an der Zeichnung. Die biblische Sprache ist hochgradig metaphorisch. Damit ist nicht nur die hohe Dichte an metaphorischen Wendungen und gewagten Bildern gemeint, die vor allem in prophetischen Texten und Psalmen in die Augen springen und in paulinischen Argumentationen für Irritation sorgen (etwa Röm 7,1–6 oder auch 2 Kor 3). Vielmehr werden die Bedeutungen „flüssig“, je intensiver die Wörter aufeinander bezogen und füreinander durchsichtig werden. Es entsteht ein dichtes Netz sprachlicher Bezüge, wobei die Worte nicht zuvor definiert, sondern allesamt in eine Bewegung hineingezogen werden. Das gilt nicht nur für die Grundbegriffe „Gott“ und „Mensch“, die erst in der Begegnung mit Jesus Christus zugleich und in ihrem Gegensatz hervortreten, es gilt auch für die Beziehungen der Perso4

Vgl. den berühmten Aufsatz von Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, GV I, 8. Aufl., Tübingen 1980, 26–37.

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nen im „Leib Christi“ – eine ebenso unverzichtbare wie gewagte Metapher. In diesem Gewebe von metaphorischen Bezügen kann das Geheimnis der Beziehung Gottes zu den menschlichen Geschöpfen zur Sprache kommen, es überdies in der Sprache zur lebendigen Wirklichkeit. So wird nicht ein außersprachlicher „Sachverhalt“ mehr oder weniger angemessen („wahr“) beschrieben, vielmehr gelingen oder misslingen personale Beziehungen vornehmlich in der Sprache. Die Sprache ist nicht dasselbe wie die personale Wirklichkeit, aber sie ist nicht davon zu trennen und bildet insofern eine eigene Wirklichkeit. Das führt zu einem anderen Grundzug der biblischen Sprache, ihrer narrativen Struktur. Die unzähligen Geschichten, aus denen der biblische Text besteht, können nicht einfach als „objektive Tatsachenberichte“ gelesen werden. Es kommt darauf an, sich in die Geschichten hineinziehen zu lassen. Ein wesentliches Moment sind dabei die bereits erwähnten Spannungsbögen, in denen die Zeit gefüllt und von einer bloßen Chronologie unterschieden wird. Die Spannungsbögen verdichten sich immer wieder in Wendungen, in „Strophen“ oder auch in „Katastrophen“ – von denen die Kreuzigung des Gottessohnes die ultimative Wendung darstellt. Im Drama treten die Charakterzüge der Personen hervor und treiben das Drama weiter. Dabei sind die Wendungen besonders intensiv, denn hier werden die Personen in ihrer „Tiefe“ sichtbar, sie werden sich selber zum Geheimnis. Darin liegt aber eine intensive Wahrheit, die sich einer korrespondenztheoretischen Erfassung gänzlich entzieht und doch nicht einfach „unlogisch“ ist. In den dramatischen Wendungen hängt die Verdichtung auch damit zusammen, dass eine Perspektive in die andere umschlägt. Daher kommt hier das Geheimnis Gottes und der menschlichen Personen gleichermaßen zur Sprache, darum kann hier aber auch ein „Korrespondenzmodell“ nicht mehr greifen. Die doxologischen Formeln wie etwa Kol 1,15 erweisen sich als äußerste Konzentrationspunkte einer Geschichte, deren Innenspannung wiederum gestaltet ist, also nicht einfach ein narrativer „Teppich“ bleibt. Hier staut sich die Zeit gleichsam auf, sie wird zum Raum. Sprache ist in der Theologie eine fundamentale Wirklichkeit, und zwar gerade als vielschichtige Bewegung. Dabei entfernt sich Sprache signifikant von einem Medium der Information und wird zu einer eigenen Sphäre der personalen Begegnung und Beziehung.5 Daher kommt es gerade auf meta5

Dabei wird die außersprachliche Seite nicht abgeblendet. Das ergibt sich ja bereits aus der Tatsache, dass ich ohne meinen Leib nicht reden kann. Hinzu treten die Momente der Körpersprache und des Tonfalls etc. Schließlich handelt es sich auch um neuronale Prozes-

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phorische Prozesse und treffende Mehrdeutigkeit an – allerdings dann auch auf eigentümliche Formen der inneren „Logik“. Ich erinnere an die Kohärenz in den doxologischen Formeln. In der reformatorischen Theologie geht es um das wirksame Wort, das Evangelium, das mich trifft, erschüttert und befreit. Daher ist das Modell einer Mitteilung von Informationen nicht zureichend. Die Wendungen „treffen“ und „erschüttern“ sind ihrerseits wieder metaphorisch, und doch kann man nicht sagen, hier werde vage und nebulös geredet.

Musik und Sprache Es ist nun insgesamt nicht überraschend, wenn Musik ins Spiel kommt. Die literarische Gestaltung der Sprache drängt gleichsam zur musikalischen Formung. Wir können vielleicht vorsichtig formulieren: Biblische Sprache und Musik verhalten sich ähnlich zueinander wie Wort und Geist. Die biblischen Texte sind bereits musikalisch – darin zeigt sich die Spur der Inspiration. Die literarische Gestaltung biblischer Texte wird durch die Musik vertieft, in erster Linie durch den Gesang im Gottesdienst, aber auch in der Entwicklung der abendländischen Musik zur Instrumentalmusik. Die Frage ist keineswegs trivial, ob nicht gerade eine wort-lose Musik auf die Stelle hinweisen kann, wo die hymnisch-doxologische Dimension sich an der Grenze der Sprache bewegt. Ich habe bereits auf die polyphone Struktur der biblischen Texte hingewiesen, die sich in der scheinbaren „Paradoxie“ hymnischer Formulierungen verdichtet. Es ist insofern kein Zufall, dass bereits in der mehrstimmigen Musik der Renaissance die musikalische Komplexität die „Vertonung“ des Messetextes überlagert und sich später als instrumentale Polyphonie in den Fugen von Johann Sebastian Bach verselbständigt. Die Spur der Inspiration in den biblischen Texten tritt hervor als „Musikalität“ dieser Sprache. Das führt zu einer weiteren Frage: Kann Musik interpretiert werden als Geisteswirkung? Diese Frage wäre dann an alle Musik zu stellen. Dabei geht es um mehrere Aspekte: Zum einen ist die pneumatologische Sicht der Musik zu präzisieren. Die Analyse musikalischer Gestalten in der Sicht der Pneumatologie legt zum anderen einen Überschuss frei, denn es ist keineswegs nur im engeren Sinne geistliche Musik, die hier in den Blick kommt. In der Perspektive der Musik können umgese. Aber es geht um die Frage nach der Reihenfolge. Die Leiblichkeit wird noch eine wichtige Rolle spielen.

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kehrt ansonsten verschüttete Züge des Geistes in den biblischen Texten freigelegt werden. Die Musik erinnert die Theologie daran, dass das Wort immer vom Geist bewegt werden muss, und zeigt entsprechende Möglichkeiten auf. In der Musik sind Phänomene „ganz normal“, die der Systematischen Theologie immer wieder Schwierigkeiten bereiten. Daneben kann nach einer Scheidung der Geister gefragt werden. Denn es ist ja keine Frage, dass Musik ein begeisterndes Potential hat, vielleicht mehr als die anderen Künste. Es ist aber auch klar, dass dieses Potential nicht ungefährlich ist. Wenden wir uns der pneumatologischen Dimension der Musik zu. Gottes Geist wird biblisch charakterisiert als belebende Dynamik und als kraftvolle Beziehung. Gottes Geist versetzt menschliche Personen aus ihrem eigenen Zentrum in die göttliche Wirklichkeit. Solche Ekstase verhindert nicht das Denken, sondern erweitert die Vernunft und setzt neue Perspektiven frei, es kommt zu kreativen Prozessen. In dieser Inspiration kommt es zu einer leiblichen Erfahrung des Geistes, das Denken steht den Affekten nicht fremd gegenüber, auch nicht einfach als Kontrollinstanz. Ein nicht unerhebliches Problem für den „gesunden Menschenverstand“ ist die relationale Grundstruktur der Pneumatologie (bereits innerhalb der Trinitätslehre): Es geht nicht um eine Beziehung zwischen zwei bereits für sich wirklichen „Dingen“ oder auch Personen – vielmehr ist die Beziehung die wahre Wirklichkeit der beiden „Entitäten“. In der Sicht der Pneumatologie ist alle stabile Wirklichkeit nur die Oberfläche der beziehungsreichen Bewegung, die von Gottes Geist ausgeht (Ps 104,29 f). Das zeichnet sich bereits in der biblischen Sprache ab und wird noch aufdringlicher, wenn wir nach der Bedeutung in der Musik fragen. Es gibt eine Fülle musikalischer Figuren, die scheinbar etwas „bedeuten“. Solche „Bedeutung“ kommt aber nur zustande durch den Zusammenhang und vor allem durch die Differenz zu anderen Figuren. Ein Ton bedeutet nichts – aber zwischen zwei längeren Pausen kann er bedeutsam sein. Bereits zwei Töne bilden eine Figur mit einem bestimmten Tonabstand und einem bestimmten Rhythmus. Hier kann es zu außermusikalischen Assoziationen kommen. Eine große Terz abwärts erinnert an einen Kuckuck (der in der Realität zumeist in der Quarte ruft), ein Quartsprung aufwärts mag energische Aktionen ankündigen. Aber eine minimale Akzentverschiebung in der musikalischen Gestalt kann solche Assoziationen „kippen“ lassen. Das gilt übrigens bereits für die gelungene Rezitation eines Gedichts, aber hier geht es ja auch um die Musikalität von Sprache (vor allem um die Differenz zwischen Metrum und Rhythmus).

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Nun sind die Bezüge auf Außermusikalisches durchaus wichtig.6 Von Vogelrufen war bereits die Rede. Es gibt rhythmische Muster, die bestimmten Bewegungsabläufen entsprechen; das sind vor allem Tänze, dazu gehört auch der marschartige Vierertakt oder die wiegende Sechs-AchtelBewegung, die außerdem an Boote erinnern kann und daher zum Grundmuster der Barkarole wird. Der spezifische Tonfall der Sprache kann nachgezeichnet werden. Hier ist die „seufzende“ kleine Sekunde abwärts zu nennen. Daher sind Halbtonschritte abwärts eine charakteristische Bewegung, wenn es um Schmerz und die Passion geht (vgl. das Crucifixus in der h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach). Es ist nicht immer leicht zu entwirren, was von alledem Konvention und was „naturwüchsig“ ist. Es kommt aber auch nicht darauf an, denn selbst wenn es gelänge, einzelne Figuren klar auf die außermusikalische Wirklichkeit zu beziehen, so wäre doch zu betonen, dass schon eine kleine Differenz den Bezug gänzlich verändern kann und dass es gerade darauf ankommt. So wird das jeweils Außermusikalische nicht „bezeichnet“, sondern bestenfalls „repräsentiert“, dabei wird es zum Material für die musikalische Dynamik. Insofern schafft die musikalische Bewegung die Wirklichkeit auf ihre Weise neu. Welche Wirklichkeit aber schafft sie? Aus der eben skizzierten Sicht der biblischen Sprache wäre zu vermuten: Sie vollzieht die personale Wirklichkeit, in der es keine „Dinge“ gibt, die aufeinander bezogen werden können (oder auch nicht), sondern eben Personen, deren Wirklichkeit mit den Beziehungen identisch ist, in denen sie lebendig sind. Und ähnlich wie in der personalen Sprache metaphorische Wendungen den Bezug auf die außermenschliche Wirklichkeit als Anknüpfungspunkt benutzen, aber nicht „wörtlich“ nehmen, sondern als Material für die sprachliche Bewegung der Selbst-Äußerung, so ist auch hier der außermusikalische Bezug nicht in erster Linie abbildend. Insbesondere wort-lose Instrumentalmusik bildet gleichsam das Komplement zur geistreichen Sprache der Bibel, in der nicht „über“ eine bereits vorfindliche Wirklichkeit geredet wird, wo vielmehr die menschliche, vor allem die zwischenmenschliche und die Gott-menschliche Wirklichkeit in der Sprache gegenwärtig ist. Es bildet sich ein musikalischer Zusammenhang durch dieses Spiel von Differenzen. Das macht sich bereits auf einer gleichsam körperlichen Ebene bemerkbar. Ein Tanzrhythmus kann die Nerven aktivieren – es ist schwer, 6

Eine Fülle von anregenden Beispielen und Analysen findet sich bei Vladimir Karbusicky, Grundriß der musikalischen Semantik, Darmstadt 1986.

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einen Walzer von Johann Strauß zu hören und dabei still zu sitzen.7 Auch harmonische Verhältnisse schaffen eine Innenspannung. Wird in einer Tonleiter der letzte Ton ausgelassen, so stellt sich leichtes Unbehagen ein. Bestimmte Melodien sind gut zu singen, andere wieder nur mit Mühe, das spürt man dann im eigenen Kehlkopf. Die physikalischen Bedingungen der Tonerzeugung führen zu charakteristischen Zuordnungen zwischen Tonarten und Affekten oder anderen Assoziationen. Streichinstrumente klingen in bestimmten Tonarten glanzvoll, weil die leeren Saiten mitschwingen und einen „Hof“ bilden. In der Kombination mit Trompeten (in D) führt das dazu, dass D-Dur – in Verbindung mit bestimmten straffen Rhythmen – zur „festlich-repräsentativen“ Tonart wird, auch wenn es sich um ein Klavierstück handelt. So bildet sich aus den physikalischen Randbedingungen eine Konvention und verselbständigt sich. Es wäre kurzschlüssig, bestimmte Affekte mit musikalischen Figuren zu assoziieren, aber zuweilen drängt sich eine solche Zuordnung auf. Beispiele lassen sich der Filmmusik entnehmen, und auch Beispiele, wie damit wieder gespielt wird. Wenn es gruselig wird, müssen die Streicher ein Tremolo in Moll spielen, aber sobald die Geigen zusätzlich eine pizzicato-Figur zupfen, schlägt die Stimmung um, weil man an den Kater Tom denkt, der sich an Jerry die Maus anschleicht. Mit der Lehre vom Geist hat das unmittelbar zu tun, weil hier affektive und körperliche Vollzüge verbunden werden mit einem hohen Niveau kultureller Gestaltung. Die primär mit einer Figur verbundenen Affekte können gebrochen werden, der Komponist kann damit spielen. Das ist keineswegs die Ausnahme – es ist eher die Regel. Insofern ist Musik nicht nur eine Verbindung des leiblichen und des geistigen, sondern auch in hohem Maße vieldeutig, also geist-reich. Dabei bilden sich Muster aus – die in etwa mit den vom Geist bewegten Metaphern, vielleicht sogar mit den nicht mehr in sich abgeschlossenen Personen vergleichbar sind. In der musikalischen Terminologie spricht man von „Motiven“ und „Themen“. Diese Muster sind ihrerseits nicht unbedingt fixiert, aber jedenfalls durch charakteristische Wendungen wiedererkennbar, und gerade das macht sie wieder plastisch. Sie können im Zusammenhang variiert werden. Sie klingen vielleicht sogar anders, wenn sie tongetreu wiederholt werden, je nachdem was dazwischen geschehen ist. So kommt es zu übergreifenden Zusammenhängen und zu einer „Logik“ – musikalisch gesprochen: zu Formen wie etwa dem Rondo. Hier wird ein 7

Es sei denn, man hat den Phantasiepreis für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker erlegt.

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Thema präsentiert und abgelöst durch ein anderes Thema, bis das erste Thema in zuweilen sehr überraschender Weise wieder zurückkehrt. Die Kunst besteht also darin, den Übergang von Thema B zu Thema A möglichst raffiniert zu gestalten. Das Spiel wiederholt sich in der Regel mit einem dritten Thema. Es ergibt sich die klassische Form A – B – A – C – A – B – A. So entstehen nicht nur einzelne Spannungsbögen, die Bögen bilden auch ihrerseits wieder übergreifende Spannungen. Die Erwartungen des Hörers werden planmäßig gestaltet und in einer überraschenden Weise durchkreuzt. In diesem Spiel kommt es zu einer musikalischen Kohärenz, in der Differenzen für Spannung sorgen und daher sogar Kontraste einen einheitlichen Bogen bilden können. Gerade solche Kontraste können sich zu charakteristischen musikalischen Figuren verdichten, wenn etwa ein Marschrhythmus leicht und tänzerisch daherkommt wie in vielen Klavierkonzerten von Mozart. Bei Gustav Mahler werden die Märsche durch die raffinierten Klangfarben zur musikalischen Wehrkraftzersetzung, als marschierten da schon die zukünftigen Skelette (VII. Symphonie, zweiter Satz). Die Mehrdeutigkeit der musikalischen Gestalten wird zum Prinzip, so kann Musik sogar über sich selbst nachdenken. Gerade der Gedanke einer Kohärenz in der Spannung könnte hilfreich sein, die auf den ersten Blick schwierigen „dialektischen“ Zuspitzungen in der Theologie zu erhellen. Wenn ein Kontrast einem bestimmten Gebilde seine charakteristischen Züge verleiht, vielleicht auch seine besonders faszinierende Innenspannung, so ist der Gedanke nicht einfach unplausibel, die personale Identität werde durch ihre innere Spannung bis hin zum Gegensatz nicht in jedem Fall bedroht, sondern möglicherweise intensiviert. Die „logische“ Kohärenz in der Musik kann noch gesteigert und verdichtet werden durch geometrische Figuren. Das ist besonders ausgeprägt in den kanonischen Formen. Hier wird die Vieldeutigkeit der musikalischen Gestalten zum Prinzip der Gestaltung. Denn schon in einem einfachen Kanon ist die Melodie ihre eigene Gegenstimme, natürlich in einer zeitlichen Verschiebung. Jeder Ton der melodischen Linie ist zugleich ein Ton in der Abfolge der Harmonien. Das Nacheinander wird zur Gleichzeitigkeit. Die Spannungsbögen, von denen zuvor die Rede war, können sich in solchen Wendungen verdichten. Es ist aber auch vorstellbar, dass eine melodische Gestalt gerade durch die kanonische Durchführung Dimensionen entwickelt, die man ihr zuvor nicht „anhören“ konnte. So kann eine strenge melodische Gestalt tänzerisch werden (Contrapunctus 7 in Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“) oder sich in wohlklingenden und gesanglichen Terzenketten entfalten (in der dis-moll-Fuge des „Wohltemperierten Kla-

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viers I“). Hier konvergieren Denken und Tanzen – und das ist im Sinne der oben angesprochenen Einheit von Geist und Leib ein pneumatologisch relevantes Phänomen.8 Es handelt sich überdies um eine präzise Ekstase: In strengen kanonischen Strukturen ist der Komponist nicht mehr „frei“, er liefert sich der Eigendynamik der musikalischen Prozesse aus. In gelungenen Kompositionen ist das freilich nicht zu verwechseln mit einem Zwang, vielmehr können sich wieder Muster bilden, deren Innenspannung „ausdrucksvolle“ Gestalten freisetzt. Eigentümliche „Logik“ weist auch die Form der Passacaglia oder Chaconne auf. Es handelt sich um eine achttaktige Akkordfolge (bzw. eine Basslinie), die eine Vielzahl von Abwandlungen erzeugt. Dabei werden die Variationen ohne Unterbrechung aneinandergereiht. Interessant ist das Verhältnis der Basslinie zu den Variationen. Sie ist nicht das Ergebnis einer Abstraktion, sondern die Urgestalt der Variationen mit einem eigenen Charakter. Die Linie lebt bereits aus den Spannungsverhältnissen, die in jeder Variation dann auf andere Weise freigesetzt werden. Es wird nicht wie bei der begrifflichen Abstraktion alles Singuläre abgeblendet, sondern ähnlich auf das Wesentliche reduziert wie bei einer Skizze, die mit wenigen Strichen den Charakter einer Person in ihrem Gesichtsausdruck festhält. Das „Thema“ verhält sich zu den Variationen wie eine Person zu ihren charakteristischen Äußerungen, die sehr verschieden sein können und in denen sich doch immer dieselbe Person äußert, möglicherweise mit enormen Innenspannungen. Das wird besonders deutlich, wenn das Thema am Ende noch einmal erklingt. Auch wenn es unverändert wiederholt wird, hört es sich ganz anders an! Die Logik einer „Zusammenfassung ohne Abstraktion“ ist in verschiedener Hinsicht interessant: Zunächst handelt es sich um eine andere Form des Be-greifens, in der sich die Grundzüge in geistreicher Weise versammeln. Im Unterschied zur Abstraktion – der ja per definitionem die charakteristischen Einzelzüge fehlen – ist das Thema (also die Basslinie bzw. die Akkordfolge) bereits konkret. In ihm verdichtet sich der Prozess, der folgen wird. Die Metapher der „Verdichtung“ ist uns bereits begegnet. Sie ist sehr bedeutsam, wenn wir davon reden, dass die biblisch bezeugte Geschichte Gottes mit den menschlichen Geschöpfen sich in Jesus Christus „zusammenballt“. Schließlich können wir eine solche Zusammenfassung nicht schrittweise konstruieren. Die wesentlichen Züge eines Gesichts müssen wir 8

Vgl. die glänzenden Analysen bei Wilfrid Mellers, Bach and the Dance of God, Oxford 1981.

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treffen. Das ist eine Frage der Intuition oder eben auch: der Inspiration. Das passt natürlich wieder zu der metaphorischen Sprachbewegung, in der wir nicht auf eine eindeutige Semantik zurückgreifen können und daher in den personalen Beziehungen gleichsam in der Sprache „schweben“. Für die „Logik der Theologie“ deutet sich hier die Möglichkeit an, das Verhältnis zwischen doxologischen Formeln und der biblischen Geschichte genauer zu fassen. Die Formeln verdichten die biblische Geschichte in der ultimativen Wendung, dem Tod des Gottessohnes am Kreuz und seinem Sieg über den Tod. Insofern liefern die hymnischen Aussagen Phil 2,6–11 und Kol 1,15 die letzten Zusammenfassungen. Weiterhin können wir sowohl die Trinitätslehre als auch die Zwei-Naturen-Lehre als Entfaltung dieser Verdichtungen verstehen. Und umgekehrt ist die gesamte biblische Geschichte in ihren unzähligen narrativen Kurven und Spannungsbögen eine große Variationenfolge dieser charakteristischen Gestalt. Charakteristisch ist diese Gestalt nicht zuletzt durch den ultimativen Gegensatz, den sie umgreift und der sich in Kol 1,15 zugespitzt findet. Daher ist uns auch eine letzte „logisch konsistente“ Zusammenfassung der Geschichte verwehrt, was sich plastisch am Nebeneinander der christologischen Modelle im Neuen Testament zeigt.9

Musik als „Organon“ Damit ist der bereits mehrfach angesprochene Befund gemeint, dass Musik in ihrer geist-reichen Struktur auch umgekehrt für das biblische Wort und für das theologische Denken anregende Impulse liefern kann. Die Dogmatik kann von Denkzwängen befreit werden. Jeremy Begbie hat gezeigt, dass die vielschichtige Erfahrung von Zeit in der Musik immer schon selbstverständlich gegeben ist. Allerdings ist das auch der Grund, warum der (Nach-)Vollzug von Musik als Bereicherung erlebt werden kann. Besonders die Ewigkeit als spezifisch göttliche Zeit, nämlich als Gleichzeitigkeit des Nacheinander, aber auch der Unterschied zwischen bloßer Chronologie und dem timing ist für die biblische Geschichte wichtig, die auf einer abstrakten t-Achse nicht angemessen zu erfassen ist.10 Die erwähnten narrativen „Spannungsbögen“ machen deutlich, wie in einem Spannungsbogen ein neuer Bogen eröffnet werden kann, wie umfassende Bögen viele „kleinere“ Bögen übergreifen können. Die von Michael Welker für die Pneumatologie 9

Genauer: an der Polyphonie von Präexistenz- und Inthronisationsmodell. Zur „Polyphonie“ weiter unten. 10 S.o. Anm. 2.

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höchst fruchtbar gemachte Metapher „Kraftfeld“ wird durch solche Bögen dynamisch nachvollziehbar. Hier findet auch die Sensibilität für Differenzen ihren Ort. In der Musik werden minimale Abweichungen signifikant, etwa die Absenkung einer Terz um einen Halbton (Dur-moll) oder die kaum merkliche Verkürzung der ersten Taktzeit im Wiener Walzer. Diese Abweichung des Rhythmus vom Metrum setzt übrigens wieder Energie frei bis hin zu einem durchaus erfahrbaren Bewegungsdrang (s.o.). So baut sich das „Kraftfeld“ vor allem vermöge der Differenzen auf.11 In diesem Zusammenhang ist die Rede von der „Polyphonie“ genauer zu betrachten. In der Musik gibt es unterschiedliche, aber zumeist strenge Regeln für mehrstimmige Musik, d.h. für musikalische Gestalten, in denen nicht eine Melodie begleitet wird, sondern wo zu einer Melodie Gegenstimmen erklingen, die in sich auch als Melodien zu hören sind. Der Kanon ist dabei der Extremfall, weil die Stimmen identisch, aber gegeneinander verschoben sind. (Nur in einfachen Fällen ist die Verschiebung lediglich zeitlich, es gibt erheblich raffiniertere Formen.) Polyphonie führt hier zu einer weitreichenden Determination des Tonmaterials. Wird nur ein kleines Detail geändert, hat das Folgen für die Gesamtstruktur. Das ist die „Differenzsensibilität“ der Polyphonie. Die Rückkopplung zwischen Detail und Gesamtklang ist so streng, dass auch eine kleine rhythmische Verschiebung enorme Wirkungen erzielen kann. Das ist eine überraschende „Elementarisierung“ der Rede vom „Kraftfeld“.12 Die Rede von „Polyphonie“ sollte allerdings aus diesem Grund nicht dafür herhalten, einfach nur unterschiedliche Perspektiven nebeneinander bestehen zu lassen. Die Pluralität der Perspektiven ist theologisch unbedingt erforderlich, aber eben in einer streng gestalteten Form. Exemplarisch und grundlegend ist hier die Polyphonie der christologischen Modelle im Neuen Testament. Die Gegenwart Gottes in Jesus Christus kann eher im Sinne einer Präexistenz gedacht werden. Die klassische Formulierung dafür findet sich im Johannes-Prolog (Joh 1,1–18). Es gibt aber auch eine stärker auf die Vollendung der Geschichte Gottes mit Israel ausgerichtete Vorstellung, wonach Jesus Christus das endzeitliche Reich Gottes aufrichtet und als Menschensohn inthronisiert wird. Das ist auf den ersten Blick die Perspektive der synoptischen Evangelien. Nun kann Paulus 11 Michael Welker weist auch mit Recht immer wieder auf die Polyphonie des angemessenen theologischen Redens hin (vgl. Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1993, 214 ff.). Vielleicht können die musikalischen Überlegungen für die Präzisierung dieses Desiderats hilfreich werden. 12 Vgl. a.a.O., 12 passim.

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im Römerbrief beide Modelle auch nebeneinander stehen lassen (vgl. Röm 1,3 f. mit Röm 8,3). Der Philipper-Hymnus geht noch weiter und schiebt beide Modelle ineinander. Der Hymnus redet von der Selbst-Erniedrigung Christi und der Erhöhung des Gekreuzigten durch Gott. Das wäre aber sträflich vereinfacht, wollte man es nur als „Hin und Zurück“ paraphrasieren. Die Erhöhung des Gekreuzigten umgreift das universale Gotteslob aller Geschöpfe, so ist die Doxologie auch das Ziel der Selbst-Erniedrigung. Das geschöpfliche Leben wird in das göttliche Leben integriert (Phil 2,10 f.). Und erst in diesem Gotteslob kann zugleich die nicht überbietbare Gottheit Jesu Christi bekannt13 und dieser doch vom Vater unterschieden werden, den es letztlich zu verherrlichen gilt (v.11). Die Selbst-Erniedrigung als innerste göttliche Möglichkeit (v.7 f.) kann nur im Gotteslob, nur ekstatisch formuliert werden. Der Hymnus zeichnet in gedrängter Form eine raffinierte Rückkopplung, in der jedes Motiv die anderen in sich enthält. Wir können auch sagen: Die Geschichten der Selbst-Erniedrigung und der Erhöhung sind zwei Stimmen, die sich voneinander unterscheiden und doch bei genauer Betrachtung identisch sind. Das wäre besonders deutlich zu realisieren in einem „Spiegelkanon“. Hier ergibt sich die zweite Stimme aus der Drehung der ersten Stimme um 180°. Sie stimmt aber in den Tonbeziehungen exakt mit der ersten überein. Die melodischen Tonschritte und -sprünge werden zunächst in der Richtung umgekehrt, dann wird diese „Umkehrung“ rückwärts gespielt. Dieses Beispiel sollte zeigen, dass die Rede von der Polyphonie theologisch treffend und produktiv ist. Es ist kein Zufall, dass die christologischen Modelle im Neuen Testament nicht reduziert werden können, es ist aber auch schlüssig, wenn sie nicht einfach nur „nebeneinander“ stehen bleiben, sondern einander durchdringen. Und es passt gut zu den Überlegungen zur „Verdichtung“, wenn in hymnischen Texten die Durchdringung so streng gestaltet wird, dass sich Analogien aus der strengen polyphonen Musik aufdrängen. Das könnte dann auch einen weiteren Gedankengang erschließen: Der Hymnus Phil 2,6–11 ist in gewisser Weise eine Präfiguration der späte13 Es hilft nichts, hier noch einen leisen Subordinatianismus einzuschmuggeln. Der „Name über allen Namen“, der dem Gekreuzigten von Gott verliehen wird, ist der alttestamentliche Name, denn der Hymnus zitiert Jes 45,23 ff. Hier noch eine Differenzierung zwischen ς und Gott einzuführen, ist nicht genauere Exegese, sondern schlechte (neoliberale) Dogmatik. Wohl aber bleibt die Differenz zwischen Jesus Christus und dem Vater, die nicht aufzuheben und gerade darin zu verherrlichen ist. Vgl. die differenzierte Auslegung bei Hans-Joachim Eckstein, Die Angänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament, in: Der lebendige Gott als Trinität (hg. von M. Welker und M. Volf), Gütersloh 2006, 85– 113, hier: 87 f.

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ren Zwei-Naturen-Lehre. Ist es hier gelungen, das Urmotiv zu komponieren, das sich in allen neutestamentlichen Texten findet? Dann müsste es gelingen, jeden neutestamentlichen Text polyphon zu lesen, d.h. in jenen Texten, die Jesus besonders „menschlich“ darstellen, die Gegenwart Gottes aufleuchten zu lassen. Auch in der Gegenrichtung wären die Passagen, in denen die Gottheit Jesu Christi hervortritt, niemals abgesehen vom Leib Christi zu interpretieren, der die wahre Wirklichkeit des menschlichen Geschöpfs freisetzt. Die „Zwei-Naturen-Lehre“ ist dann weit entfernt von einer dogmatisch-abstrakten Formel und viel eher vergleichbar mit einer Akkordfolge, die sich als Chaconne entfaltet.

Geistliche Musik? Was ist nun eigentlich „geistliche“ Musik? Auf dem Hintergrund der vorigen Überlegungen sollte klar sein: Es gibt keine Musik, die „für sich“ oder „aus sich selbst“ geistlich wäre. Die wichtige Unterscheidung wäre an anderer Stelle zu vollziehen: Wenn Musik als Geisteswirkung zu charakterisieren ist, dann sollten die Geister geschieden werden. Es gibt natürlich auch geistlose Musik – und es gibt Musik, die von anderen Geistern als dem Gottesgeist bewegt wird und daher problematisch oder sogar gefährlich ist. Aber in vielen Fällen liegt das dann eher an den Texten. Ich habe mich ja stark auf die textlose Musik konzentriert und die Möglichkeit abgeblendet, Texte zu vertonen. Durch den Kontext kann vielleicht fast jede Musik „geistlich“ werden, auch härtester rock ist im Gottesdienst denkbar, solange für die Verkündigung des Wortes gesorgt ist (das mag schwierig werden, wenn die Gemeinde halb taub in den Bänken hängt). Die spannende Frage ist aber: Gibt es Musik, die bereits aufgrund ihrer musikalischen Struktur „affin“ zur Wortverkündigung ist? Aus den vorigen Überlegungen wird deutlich, dass diese Frage kaum zu beantworten ist wegen der „schwebenden“ Bedeutsamkeit von Musik. Aber vielleicht liegt hier der Ansatz für „schwache“ Kriterien. Möglicherweise ist Musik im Gottesdienst zu bevorzugen, wenn sie geistreich ist, wenn also das Denken nicht zugunsten einer wilden Ekstase abgeblendet und die Gemeinde dennoch von der Musik „bewegt“ wird. Die späten Messen von Joseph Haydn belegen, dass geistliche Musik fröhlich machen kann, sogar wenn das Glaubensbekenntnis vertont wird. Die unlösbare Verbindung von Wort und Geist tritt sicherlich besonders hervor, wenn instrumentale Musik auf ihre Weise sprachlich wird. Das geht gerade im Gottesdienst, weil Texte, Lieder und wortlose Musikstücke einander ergänzen können.

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Aus solchen Überlegungen wird immerhin einleuchtend, dass polyphone Musik im Gottesdienst immer eine hervorragende Rolle gespielt hat. Daneben trat die einstimmige, aber nicht etwa schlichte, sondern raffinierte Vertonung biblischer Texte im gregorianischen Gesang. Diese Differenz ist längt wieder zur musikalischen Metapher geworden: Wenn es in einer Oper seriös wird, erklingt ein fugato (die beiden „Geharnischten“ im Finale der „Zauberflöte“), ähnliche Wirkung haben aber auch die mächtigen, vom ganzen Orchester einstimmig gespielten Melodiebögen in den Symphonien von Anton Bruckner. Natürlich kann diese Differenz wieder parodistisch umschlagen: Verdis letzte Oper „Falstaff“ endet mit einer grandiosen Fuge: Tutto nel mondo è burla / L’uom è nato burlone. / Nel suo cervello ciurla / Sempre la sua ragione.14 Die Unterscheidung ist also keineswegs nicht so klar und letztlich nur pragmatisch. Orgelmusik klingt geistlich, weil in fast jeder Kirche eine Orgel verfügbar ist. Der Choralgesang gehört zum Gottesdienst, weil hier die Gemeinde der Verkündigung antwortet. Zwar ist der vierstimmige Satz solcher Choräle noch der technische Standard der Kirchenmusik – aber welche Gemeinde kann das singen? Dennoch erweckt ein strenger vierstimmiger Bläsersatz auch in einer Symphonie „religiöse Gefühle“.15 Völlig unübersichtlich wird die Fragestellung durch zwei weitere Unterscheidungen, die sich zudem noch überlagern: (a) Musik und Religion waren schon immer aufeinander bezogen.16 Dabei geht es um schöpfungstheologische Bezüge, entweder kosmologischer Art, die mit der mathematisch-physikalischen Beschaffenheit von Musik zusammenhängen, oder psychologischer Natur, wenn nach den Affekten gefragt wird, die durch Musik verstärkt oder erzeugt werden. Der erste Zugang ist inzwischen fast gänzlich verschüttet, obwohl er noch bei Johann Sebastian Bach eine wichtige Rolle spielt. Die Proportionen, wie sie den Tonbeziehungen zugrunde liegen, sind ein Hinweis auf die kosmische Ordnung seit Pythagoras. Aber das ist nur insidern bekannt – und auch nur wenigen Eingeweihten sinnfällig wahrnehmbar. Der zweite Zugang ist wenig trennscharf, denn er lässt sich auf alle Musik anwenden, kann aber keine signifikanten Zusammenhänge freilegen, 14 „Die ganze Welt ist Narretei, / der Mensch ist zum Narren geboren. / In seinem Hirne wackelt / immerzu seine Vernunft.“ 15 Auch hier wieder bei Anton Bruckner, der im Finale der III. Symphonie eine solche Passage mit einem tänzerischen Thema überlagert – eine jedenfalls bewegende musikalische „Szene“. 16 Vgl. den materialreichen Artikel von Gustav Adolf Krieg, Musik und Religion IV. Von der Renaissance bis zur Gegenwart in: TRE XXIII, Berlin/New York 1994, 457–495.

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weil die affektive Wirkung von Musik hochgradig von kulturellen Faktoren abhängt. Die „Ergriffenheit“, mit der ältere Menschen der Air aus der DDur-Suite von Bach lauschen, hat nicht nur wenig mit dem Stück zu tun, sondern dürfte kaum noch von Jugendlichen geteilt werden. Damit rückt der zweite Aspekt in den Blick: (b) Der Zugang zur Musik hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Musik ist allgegenwärtig als dauerhafte Berieselung, doch hat gerade die problemlose Verfügbarkeit von Musik die Fähigkeit zum konzentrierten Hören reduziert. Bis vor ca. hundert Jahren musste Musik live gespielt werden. Wer eine Symphonie kennenlernen wollte, war auf seine eigenen Klavierkünste angewiesen. Es bedarf keines Nachweises, dass Musik anders hört, wer sie auch spielen oder singen kann. Das alles führt ebenfalls zu sehr unübersichtlichen Prozessen – nicht zuletzt zu der seit ebenfalls hundert Jahren vollständigen Abkopplung der weiteren Entwicklung abendländischer Musik vom populären Bedarf.17 Es gibt im 20. Jahrhundert eine Fülle geistlicher Musik von überragenden Komponisten – aber sie erklingt nie im Gottesdienst, sondern eher im Konzertsaal. Und umgekehrt ist der Gemeindegesang zwar als Gotteslob der Gemeinde gemeint, aber in der Regel eher eine Beleidung der göttlichen Majestät. Man möchte fast sagen: „Geistliche“ Musik ist solche, die entweder gefühllos ist oder wenigstens keine „unerlaubten“ Gefühle evoziert. Hier hat eine konservative Frömmigkeit ihre Spuren hinterlassen, die um der Unterscheidbarkeit der gottesdienstlichen Musik willen die „weltliche“ Musik der jeweiligen Epoche ablehnt und sich an „archaischen“ Modellen orientiert, etwa am „Palestrina-Stil“.18 Diese Forderung wird natürlich durch die Verwendung von Gassenhauern für Kirchenlieder bereits zur Reformationszeit hintertrieben. Es wäre zu fragen, warum die meisten „neuen“ Kirchenlieder diesen Mut selten haben und in ihrer unbeholfenen

17 Auch das ist eine bei genauerer Betrachtung sehr komplexe Lage: Die elektronische Musik der frühen fünfziger Jahre ist eine reichlich „elitäre“ Angelegenheit, doch hat der massive Einsatz elektrisch-elektronischer Klangerzeugung in der Pop-Musik hier seinen zumindest technischen Ursprung. Deshalb erscheint Karlheinz Stockhausen auch auf dem Cover der Beatles- LP Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. – Natürlich müsste die Rolle des Jazz in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts noch genauer ausgeleuchtet werden, der inzwischen wohl eher auf die Seite der „E-Musik“ gerückt ist und zwar als Steinbruch für die populäre Musik dient, aber in seiner reinen Form bereits wieder eine „elitäre“ Angelegenheit ist. Das könnte auch für die Beatles gelten, die inzwischen zur „klassischen Musik“ zählen. Nach einem Konzert mit Streichquartetten von Beethoven darf als Zugabe durchaus eine Version von Yesterday erklingen. 18 Vgl. Krieg 458.

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Simplizität zwar irgendwie populär klingen, aber selten zum „Ohrwurm“ werden. Abstract Biblical language and the form of biblical texts can be described in aesthetic terms and especially in the perspective of musical figures and forms, since the biblical narrative has its own characteristic time distinct from everyday chronology. The coherence of the biblical story can be compared with and illuminated by the logic and semantics of musical figures and forms, which transcend classical logic and the correspondence theory of truth and yet remain consistent and meaningful.

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Die sieben Bußpsalmen: Davids Threnodiae Davidicae Überlegungen eines Alttestamentlers zum Umgang christlicher Theologen und Komponisten mit einer seit der Spätantike als Einheit verstandenen Gruppe von sieben Psalmen Rüdiger Bartelmus I. Lesen Schüler, Konfirmanden oder „normale“ evangelische Gemeindeglieder in der Lutherbibel den Psalter1 (was heute freilich nur noch selten vorkommt) und stoßen dann beim Lesen in der Überschrift von Ps 6 auf den in Klammern gesetzten Ausdruck „Der erste Bußpsalm“, werden die allerwenigsten von ihnen etwas mit dieser Bemerkung anfangen können – dies unbeschadet dessen, dass bei diesem Psalm wenigstens in der (gleichfalls von den Herausgebern eingefügten) Überschrift die Worte „Bußgebet in Anfechtung“ erscheinen und der danach folgende Text unschwer als Bußgebet verstanden werden kann. Schon bei Ps 32 („Der zweite Bußpsalm“) fehlt dann freilich eine ähnliche Denkhilfe. Dort wird der Inhalt mit der Formulierung: „Vom Segen der Sündenvergebung“ zusammengefasst. Um von dieser Inhaltsangabe zu dem Schluss kommen zu können, es liege ein Bußgebet vor, bedarf es einigen Nachdenkens. Zudem legt dort die Übersetzung des schon in der Antike vorangestellten Incipits „Eine Unterweisung Davids“ (V. 1) eine ganz andere inhaltliche Ausrichtung des Textes nahe. Noch weniger kann ein heutiger Leser die Anmerkung: „Der fünfte Bußpsalm“ 1

Die Zitate im Folgenden sind der 1999 bei der Deutschen Bibelgesellschaft erschienen revidierten Fassung von 1984 entnommen: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers; mit Apokryphen, Stuttgart 1999.

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DOI 10.2364/3846999684

im Falle von Ps 102 nachvollziehen, wo als Inhaltsangabe gar „Gebet um Wiederherstellung Zions“ erscheint. Dieser Satz steht wiederum in Widerspruch zu dem antiken Incipit in V. 1, das in der gebotenen Übersetzung lautet: „Gebet für den Elenden, wenn er verzagt ist und seine Klage vor dem HERRN ausschüttet“. Lediglich im Falle von Ps 38, wo als zusammenfassender Hinweis die Fügung „In schwerer Heimsuchung“ erscheint – die Übersetzung des sekundären antiken Incipits „Zum Gedenkopfer“ allerdings in eine andere Richtung weist –, ebenso im Falle von Ps 51 („Gott, sei mir Sünder gnädig!“), Ps 130 („Aus tiefer Not“) und Ps 143 („Bitte um Verschonung und Leitung“) erschließt sich dem Leser die in Klammern beigefügte Bezeichnung „Bußpsalm“ mehr oder weniger leicht. Weshalb all diese Funktionsbestimmungen nun aber jeweils mit einer Ordinalzahl versehen sind, ist nirgends erklärt und bleibt von daher dunkel. Nicht viel anders liegen die Dinge, wenn Leser die sog. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel aufschlagen. Dort findet sich ein entsprechender Hinweis indes nur in dem Kommentar zu Ps 6: „Der erste der ‚sieben Bußpsalmen‘ (32; 38; 51; 102; 130; 143)“2; bei den übrigen sechs Psalmen fehlt ein entsprechender Verweis. Unmittelbar nach dieser Bemerkung folgt hier im Kommentar dann noch ein den exegetischen Konsens zu dem Psalm zusammenfassender Satz: „Ein Kranker fleht klagend und bittend zu seinem Gott“. Zu erklären, was der Leser unter den „sieben Bußpsalmen“ zu verstehen hat bzw. warum so weit voneinander platzierte Psalmen numerisch und inhaltlich aufeinander bezogen werden, hielten auch die Herausgeber der Einheitsübersetzung offenbar für überflüssig. Ebenso wenig scheint den Herausgebern aufgefallen zu sein, dass die hier zitierten beiden Sätze des Kommentars auf den einfachen Bibelleser kaum vereinbar wirken. Und was die von den Herausgebern den übrigen sechs erwähnten Psalmen im Haupttext vorangestellten Zusammenfassungen betrifft, gilt für sie Ähnliches wie für die editorischen Einfügungen in der Lutherbibel. Um Formulierungen wie: „Flehruf in der Not“ (Ps 6), „Bekenntnis befreit von Sünde“ (Ps 32), „Gebet in der Not“ (Ps 38), „Miserere“ (Ps 51), „Gebet im Unglück“ (Ps 102), „De Profundis“ (Ps 130) oder „Demütige Bitte“ (Ps 143) nach mehr oder minder gründlichem Überlegen 2

Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, Freiburg im Breisgau 1985. Die Neue Zürcher Bibel, Zürich 2007 bietet überhaupt keinen derartigen Hinweis. Aus pragmatischen Gründen sind bei der Abfassung dieses Beitrags nur die drei verbreitetsten deutschen Bibelausgaben konsultiert worden, die zugleich als repräsentativ für die wichtigsten Konfessionsgruppen im deutschsprachigen Raum gelten können.

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als Überschriften von „Bußpsalmen“ (Bußgebeten) verstehen zu können, muss man nicht nur Latein können (so im Falle von Ps 51 und 130), sondern auch tief in der katholischen liturgischen Tradition verwurzelt sein. Am Leichtesten fällt dem Leser eine solche Folgerung wohl noch bei der sekundären Überschrift von Ps 32 sowie – sofern er die lateinische Formulierung versteht – bei der von Ps 51 bzw. 130. Manches von dem, was hier zum Stichwort „Bußpsalmen“ gesagt ist, gilt übrigens nicht nur für Laien: Selbst wenn man Studierende der (evangelischen) Theologie im Rahmen des ersten Examens oder im Rahmen einer Prüfung in der Bibelkunde danach fragt, wo im Alten Testament denn die Bußpsalmen zu finden sind bzw. warum ausgerechnet diese sieben so weit voneinander positionierten Psalmen traditionell als eine Einheit gesehen werden, bekommt man nur in ganz seltenen Fällen eine richtige Antwort3. Der Terminus „sieben Bußpsalmen“ ist nur noch wenigen geläufig. Das alles mag damit zusammenhängen, dass heutzutage die meisten Menschen beim Stichwort „Buße“ eher an juristische Probleme, also an etwas denken, das man nach Möglichkeit zu vermeiden sucht („Geldbuße“ bzw. „Bußgeld“4), nicht aber an einen zentralen Bestandteil christlicher Lehre und Praxis. Dass der Bußgedanke im Christentum von den ersten Anfängen an eine zentrale Rolle gespielt hat5, ja dass Luther in der ersten Ablassthese formuliert hat: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: ‚Tut Buße‘ usw., so will er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine stete Buße sein soll“6, scheint mehr und mehr in Vergessenheit geraten zu sein. Wohl nicht ganz zufällig ist vor 20 Jahren beim Übergang vom Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) zum Evangelischen Gesangbuch (EG) das Stichwort „Buße“ in den Überschriften der Kapitel verschwunden: Erschien es im EKG noch im Hauptteil „II. Der Gottesdienst“ 3

4

5 6

In den gut 30 Jahren, in denen der Verfasser dieses Beitrags als Prüfer tätig war, bekam er auf die entsprechende Frage nur ganz selten eine richtige Antwort (geschätzter Prozentsatz: maximal 15%). Dass die richtige Antwort in der Regel von Studierenden kam, die kirchenmusikalisch interessiert bzw. engagiert waren, sei hier vorab erwähnt; warum das so war, ergibt sich aus den im folgenden gebotenen Darlegungen. Eine „Geldbuße“ kann am Ende eines Strafverfahrens stehen, „Bußgeld“ kann auch ohne eine richterliche Entscheidung auf dem Verwaltungsweg eingefordert werden. – In der Schweiz wird das verbale Äquivalent „büßen“ sogar im Passiv, also als Transitivum gebraucht, etwa in dem Satz: Er wird gebüsst (so die Schweizer orthographische Variante!). – Auch „Sünde“ wird kaum noch im theologischen Sinne verstanden – man denke nur an den „Steuersünder“! Vgl. nur Mk 1,15 oder Lk 5,32. Zitiert nach H.H. Borchert, G. Merz (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Werke, Bd. I, 3. Aufl., München 1963, 31.

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im Kapitel „Die Beichte (Bußlieder)“, sucht man im EG vergebens nach einem Analogon7. Auch der Umstand, dass sich die meisten Kirchen der EKD seinerzeit nahezu widerstandslos in die Abschaffung des Buß- und Bettags als gesetzlichem Feiertag fügten, zeugt davon, dass „Buße“ von vielen nicht mehr als zentrales Element christlichen Lebens gesehen wird. Die sieben Bußpsalmen, ja Bußgebete generell spielen in der evangelischen kirchlichen Praxis in jüngerer Zeit kaum mehr als eine marginale Rolle. Jedenfalls hat der Verfasser seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts weder in der Nordelbischen Kirche, in deren Bereich er 15 Jahre lang tätig war, noch in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, deren Pfarrer er dem Titel nach ist und in der er lebt, Erfahrungen gemacht, die diese Behauptung relativieren könnten. Wie sieht es in dieser Hinsicht nun aber in der Theorie, in der Wissenschaft vom Alten Testament aus, deren Position der Verfasser in diesem Heft vertreten soll? In älteren Kommentaren zum Psalter, verfasst gegen Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jhs., spielt der Bußgedanke, spielen die Bußpsalmen eine wichtige Rolle. Das hängt damit zusammen, dass etwa ein Autor wie Franz Delitzsch – unbeschadet dessen, dass er ein hervorragender Philologe und Kenner des Judentums war – keine Scheu hatte, den Psalter (auch) durch die Brille der Kirche zu lesen: „Der Psalmenausleger kann sich entweder auf den Standpunkt des Dichters oder auf den Standpunkt der alttest. Gemeinde oder auf den Standpunkt der Kirche stellen – eine Grundbedingung des Auslegungsfortschritts ist die Auseinanderhaltung dieser drei Standpunkte (…)“8. Von daher kann er die sieben Bußpsalmen der Kirche ganz im Sinne der Tradition interpretieren, ja im Zusammenhang mit Ps 130 Luther zitieren, der innerhalb der Bußpsalmen noch einmal eine Gruppe von Psalmen hervorgehoben hatte, da er in ihnen die paulinische (und 7

8

Zudem ist – ich beziehe mich hier auf die bayerischen Ausgaben des Gesangbuchs – im Rahmen der Ablösung der Gottesdienstordnung von 1954 (EKG 13 ff.) durch die neuen „Grundformen“ G 1 - G 4 (EG 1145 ff.) das Confiteor ganz am Anfang des Gottesdienstes nur noch als Fakultativum ausgewiesen. Als „Vorbereitungsgebet“ vorgesehen ist nunmehr „Besinnung oder Sündenbekenntnis“; EG 1146 (Sperrung im Original). F. Delitzsch, Biblischer Kommentar über die Psalmen, BC IV/1, 5. Aufl., Leipzig 1894, 52 f. Weniger überzeugend geht da E. König, Die Psalmen, Gütersloh 1927 auf die kirchliche Sicht ein. Er geht so weit, dass er die Psalmen „nach ihrem religiös-sittlichen Inhalt geordnet“ verhandelt (IV). Unter dieser systematisch-theologischen Prämisse kann dann sogar gegen die Tradition und ohne Angabe von Gründen Ps 106 anstelle von Ps 102 den sieben Bußpsalmen zuordnen (619–663; bes. 647–653). Positioniert ist dieser Abschnitt – gewissermaßen als Krönung des Kommentars – ganz am Schluss vor dem „abschließende(n) Lobgesang“ Ps 150 (663)!

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damit seine) Rechtfertigungslehre vorweggenommen sah9. Noch Rudolf Kittel bewegt sich in seinem Kommentar ganz auf dieser Linie, ja er gibt etwa Ps 38 die Überschrift: „Bußlied eines Kranken“10. Ganz anders, gewissermaßen radikalprotestantisch liest in dieser Phase dagegen Bernhard Duhm die Bußpsalmen. Er kann selbst in Ps 130 kein Bußlied erkennen, ja zu Ps 32 abschließend die Feststellung treffen: „Seine (sc. des Psalms) Vorstellungen von den Leiden, von der Sünde, vom Glück sind unterchristlich (sic!), und die Kirche hat durch die Wahl dieses Gedichts zu einem der sieben Bußpsalmen nur den dogmatischen und gesetzlichen Charakter ihrer Welt- und Religionsauffassung bezeugt11“. Die Bedeutung der Buße für die christliche Existenz stellt er damit freilich nicht in Frage. Mit dem Auftreten der formgeschichtlichen Schule innerhalb der historisch-kritisch orientierten alttestamentliche Wissenschaft setzt dann in den zwanziger Jahren des 20. Jhs. ein (freilich kaum beabsichtigter) Prozess ein, der das Vergessen der Bußpsalmen förderte. Unter den von Hermann Gunkel identifizierten und von anderen nur wenig modifizierten (Haupt-) „Gattungen“: Hymnen, Lieder von Jahves Thronbesteigung, Klagelieder des Volkes, Königspsalmen, Klagelieder des Einzelnen, Danklieder des Einzelnen etc.12 sucht man vergeblich nach „Bußpsalmen“. Erst wenn man in Gunkel-Begrichs „Einleitung in die Psalmen“ in § 6 „Klagelieder des Einzelnen“ bis zu Nr. 26 vorgedrungen ist, stößt man auf den Begriff „Bußlieder“, zu denen freilich unmittelbar nur Ps 51 und 130 (sowie das Gebet des Manasse) gezählt werden, sowie auf das Zugeständnis, dass vielleicht auch Ps 6 und 38 (sowie Ps 69!)13 als Bußlieder gelten könnten, da sie ein Sündenbekenntnis enthalten. In Ps 32 sieht Gunkel dagegen den Dankpsalm eines Einzelnen14, und Ps 102 und 143 stuft er als Klagelieder des Einzelnen ein. Was Ps 6, 38, 51 und 130 betrifft, gibt es in der neueren Forschung in dieser Hinsicht (fast) keinen Dissens15, bei Ps 32, 102 und 143 scheiden sich die 9

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Ebd., 757: „Einmal gefragt, welche Ps. die allerbesten seien, antwortete Luther: Psalmi Paulini, und als seine Tischgenossen in ihn drangen, welche das seien, antwortete er: Ps 32. 51. 130. 143“. R. Kittel, Die Psalmen übersetzt und erklärt, KAT XIII, 4. Aufl., Leipzig 1922, 150. B. Duhm, Die Psalmen, KHC XIV, Freiburg-Leipzig-Tübingen 1899, 95. Vgl. dazu H. Gunkel, J. Begrich, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, Göttingen 1933 = 4. Aufl., 1985, 8 bzw. die Zusammenfassung der Sicht Gunkels bei K. Seybold, Die Psalmen, HAT2 I/15, Tübingen 1996, 17. Gunkel, Begrich, Einleitung 251. So H. Gunkel, Die Psalmen übersetzt und erklärt, HK II/2, 4. Aufl., Göttingen 1926, 135. Ich verweise nur auf H.-J. Kraus, Psalmen. 1. Teilband: Psalmen 1–59, BK XV/1, 6. Aufl., Neukirchen 1989, 188.450. 548 f. bzw. ders., Psalmen. 2. Teilband: Psalmen 60–150, BK

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Geister allerdings16. Was indes praktisch alle neueren Kommentare verbindet, ist die pauschale Rede von den altkirchlichen sieben Bußpsalmen. Dabei lehrt ein Blick in die Rezeptionsgeschichte, dass die sieben Bußpsalmen etwa in der Renaissancezeit eine zentrale Rolle in der aufblühenden Kirchenmusik spielten und dass dann in der Folgezeit Dutzende von Andachtsbüchern verfasst wurden, die nichts anderes als fromme Auslegungen der sieben Bußpsalmen darstellen. Aber schon in der Liturgie der mittelalterlichen Kirche spielten die sieben Bußpsalmen dauerhaft eine Rolle, nicht nur, weil sie u.a. in der Liturgie der Fastenzeit (evangelisch: Passionszeit) ganz besonders natürlich der Karwoche verankert waren17.

XV/2, 6. Aufl., Neukirchen 1989, 1048 oder Seybold, Psalmen 43.159.211.492. Etwas anders E. Zenger, Psalmen. Auslegungen 2, Freiburg im Breisgau 2003, 147–149. 173.177. 180 f., der Ps 6 deutlicher als Gunkel von den Bußliedern abhebt und von einem Klagepsalm des Einzelnen spricht. In LThK3, Bd. 2, 839 f. formuliert er gar: „Strenggenommen sind nur 51 und 130 B.“ (Bußpsalmen). 16 Seybold, Psalmen 134 sieht in ersterem – wie Gunkel – einen Dankpsalm, erklärt ihn aber dank weisheitlicher Züge als ein „Lehrstück für die Bußpraxis“. In Bezug auf Ps 102 hebt er hervor, dass dieser ein komplexer Text ist, der Teile eines Klage- und Dankpsalms aufweist, dazu theologisch-liturgische Elemente eines Gebets für Zion (ebd. 398; ungleich schärfer hatte da Budde 239 geurteilt: „Wer Ps 102 (…) für Ein Gedicht ansieht, muss gegen Stil, Sinn und Inhalt vollkommen gleichgültig sein oder den Verf. für geistesgestört halten“!). Bei Ps 143 spricht S. von dem Gebet eines Verfolgten und Bedrohten und vermutet, dass der Psalm wegen des Inhalts von V. 2 bzw. 11 als Bußpsalm eingestuft wurde. Kraus, Psalmen 1–59, 407 setzt sich in Bezug auf Ps 32 dagegen scharf von Gunkel ab, in Ps 102 sieht er das Gebetslied eines Einzelnen und hat kein Problem damit, Ps 102 mit der altkirchlichem Tradition als Bußpsalm einzustufen; Ähnliches gilt von seiner Sicht auf Ps 143. 17 Vgl. dazu V. Thalhofer, L. Eisenhofer, Handbuch der katholischen Liturgik, Bd. 2: Spezielle Liturgik, Freiburg im Breisgau 1933, 627–629 bzw. Mast, Art. Bußpsalmen, in: WWKL Bd. 2, Freiburg 1887, 1614–1615; seit Innozenz III., (der einen Kommentar zu dem Bußpsalmen verfasste) mussten bis auf Pius V. – also rund 350 Jahre lang – die Bußpsalmen jeweils am Freitag der Quadragesima gebetet werden, nicht jedoch am Karfreitag (Mast: „Charfreitag“). Pius V. erließ diese Pflicht, empfahl aber die Beibehaltung der Sitte. Nach Eisenhofer wurden sie bei den Zisterziensern schon seit 1194 sogar an jedem Freitag der Woche gebetet. J.A. Jungmann, Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Innsbruck 1932, zitiert als ältesten konkreten Beleg einer liturgischen Verwendung die bei Regino von Prüm († 915) erhaltene Bußordnung, erwähnt indes, dass eine Verwendung der Bußpsalmen im Bußerteilungsritus bereits bei Theodulf von Orleans (um 794) nachweisbar ist (ebd. 170 f.), in der Büßerversöhnung noch einmal „fast ein Jahrhundert früher“ (ebd. 170, Anm. 8)!

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II. Wer die bisherige Darstellung aufmerksam gelesen und den Titel des Aufsatzes ernst genommen hat, dürfte den Eindruck gewonnen haben, hier werde Etikettenschwindel betrieben: Das Wort David erschien bisher jedenfalls nur im Titel. Warum der Verfasser nicht anders verfahren konnte, erklärt sich indes leicht: Auch in der bisher referierten Literatur und den Bibelausgaben erscheint der Name David nirgends in Zusammenhang mit dem Stichwort Bußpsalmen – von den sieben Bußpsalmen Davids zu sprechen ist nun einmal im Gefolge des Aufkommens der historisch-kritischen Methode obsolet geworden. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war es dagegen eine Selbstverständlichkeit. Um über die sieben Bußpsalmen Davids handeln zu können, bedarf es somit eines kleinen Exkurses zum Zusammenhang zwischen David und den Psalmen18. Dass keiner der heute im AT vorfindlichen Psalmen auf David zurückgeht, ist heute wissenschaftlicher Konsens – dies unbeschadet der Tatsache, dass sich in der Biblia Hebraica 73 Psalmen finden, in deren Titel der Name David erscheint, sei es in dem Sinne, dass er – das ergibt sich aus dem Lamed inscriptionis19 – als Autor betrachtet werden soll, sei es so, dass zusätzlich in historisierender Weise eine konkrete Situation aus dem Leben Davids als Hintergrund genannt wird20. Die griechische Übersetzung des AT, die Septuaginta (LXX) bietet demgegenüber sogar bei 86 Psalmen im Incipit einen Verweis auf David. – Dass schon im Zusammenhang mit der Entstehung des Psalters ein reges (wenn auch nicht von allen Tradenten geteiltes) Interesse daran bestand, möglichst viele Psalmen auf den Harfenspieler (vgl. 1 Sam 16,23) bzw. Sänger David (vgl. 2 Sam 1,17) zurückzuführen, kann man aus 18 Die Ausführungen im folgenden Abschnitt bieten die stark verkürzte Fassung eines Aufsatzes, den der Vf. 2003 erstmals veröffentlicht hat; längere Zitate sind ausgewiesen („“), aber ohne Seitenangabe – Seitenzahlen könnten (da der Aufsatz andernorts ein zweites Mal publiziert wurde) Verwirrung stiften. Erstveröffentlichung: R. Bartelmus, Die DavidPsalmen in der Musikgeschichte, in: W. Dietrich, H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Bern und Stuttgart 2003, 631–660. Wiederabdruck in: R. Bartelmus, Theologische Klangrede – musikalische Resonanzen auf biblische Texte. Studien zu Werken von J.S. Bach, J. Brahms, G.F. Händel, F. Mendelssohn-Bartholdy und E. Pepping sowie zu Textdichtungen von Ch. Jennens, T. Morell und J. Schubring, Ästhetik – Theologie – Liturgik Bd. 56, Münster 2012, 269–296. 19 73mal in den Psalmen findet sich im Incipit die Fügung dwdl; vgl. dazu E. Jenni, Die hebräischen Präpositionen. Band 3: Die Präposition Lamed, Stuttgart-Berlin-Köln 2000, 73. 20 Vgl. das Incipit von Ps 51 (Vulgata 50), dazu das Incipit von Ps 142 in der Vulgata SixtoClementina.

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dem Umstand erschließen, dass Diskrepanzen zwischen den Überschriften der alten Teilsammlungen von Psalmen und den Überschriften einzelner Psalmen bestehen. So wird man „am Ende von Ps 72 – der Überschrift nach (…) gar kein Psalm Davids, sondern ein Psalm Salomos! – mit der Information konfrontiert“, „dass mit diesem Psalm das Ende der ‚Psalmen Davids‘ erreicht sei“. Der Redaktor dieser Schlussbemerkung ahnte nicht (oder wollte nichts davon wissen), dass der Name David danach im hebräischen Text noch 17mal, in der LXX gar noch 28mal in der Überschrift eines Psalms eingefügt werden könne (wurde). Für fromme Juden und Christen haben die eben genannten Fakten allerdings zu keiner Zeit ein größeres Problem dargestellt. „Für sie geht – unbeschadet der Tatsache, dass einige Psalmenincipits explizit Autoren wie Asaf, die ‚Söhne Korachs‘, Heman, Mose, Etan oder den bereits erwähnten Salomo nennen – der ganze Psalter auf David zurück“. Die Frage, warum der Psalmdichter „David von sich gelegentlich in der 3. Person redet, oder woher er manche Dinge wissen konnte, die sich doch eindeutig erst nach seiner Zeit ereignet haben“21, stellte sich den Frommen nicht, sie fanden vielmehr Mittel und Wege, David ohne Rücksicht auf historische Plausibilität gewissermaßen zu einer Übergestalt, zu einem „königlichen Propheten“, abstrakt gesprochen: zu einer „Ikone“ zu stilisieren. Da es im Folgenden allein um christliche Kompositionen gehen soll, übergehe ich hier die rabbinischen Versuche, die erwähnten Widersprüche aufzulösen und beschränke mich auf das christliche, „in Mk 12,36 par. bzw. Apg 4,25 angedachte und von den Kirchenvätern, insbesondere von der antiochenischen Schule, auf den Punkt gebrachte Lösungsmodell“. Es läuft „darauf hinaus, dass David (…) als Prophet angesehen wird, den der Heilige Geist Dinge schauen liess, die sich erst in fernerer Zukunft ereignen sollten“22. Folgenreicher wurde in der Folgezeit indes „eine andere christliche Interpretationsschiene, gemäss der der David des Psalters immer weniger als historische Gestalt wahrgenommen wurde, sondern (…) mehr oder minder mit dem Messias des Christentums identifiziert wurde“23. Dieser christologischen, ja christozentrischen Sicht des Psalters ist es zu verdanken, dass die 21 Als extremes Beispiel dieser Art sei hier Ps 137 genannt, der in der LXX David zugeschrieben wird. 22 Theodor von Mopsuestia z.B. spricht in diesem Zusammenhang von τήνυσις πραγμάτων τστερον δειχθησομένων; Zitat nach S. Raeder, Art. Psalmen/Psalmenbuch II. Auslegungsgeschichtlich, TRE 27 (1997) 624–634; 625. 23 David war ja selbst Messias und wurde von Matthäus wie von Lukas als Ahnherr des eigentlichen Messias (Christus) gesehen.

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Psalmen vom frühen Christentum an bis in die Gegenwart eine zentrale Rolle im christlichen Gottesdienst spielten bzw. spielen. So dominant die zuletzt erwähnte Sicht auch war und ist24 – der königliche Prophet David wurde nie gänzlich vergessen, noch weniger natürlich der büßende David, der nun einmal aus dem Incipit von Ps 51 nicht wegdiskutiert werden konnte. Auch Luther verstand den Psalmensänger David ohne Rücksicht auf die Fakten als einen „Propheten“. Für Cassiodor, der in seiner an die „Enarrationes in Psalmos“ Augustins anknüpfenden „Expositio Psalmorum“ neben Ps 51 die Ps 6, 32, 38, 102, 130 und 143 als Bußpsalmen Davids gedeutet hat und daher als der Urheber der Rede von den sieben Bußpsalmen Davids gilt25, scheint die Davidizität des ganzen Psalters jedenfalls außer Frage gestanden zu haben. Das ergibt sich u.a. daraus, dass er Ps 102 und 130 in der Reihe der sieben Bußpsalmen Davids aufzählen kann, obwohl dort sowohl im hebräischen Text als auch in der LXX bzw. Vulgata jeder Hinweis auf David fehlt26. Zudem hielt er sich in dieser Hinsicht wohl an die Meinung seines großen Vorbilds Augustinus, der – nach dem Zeugnis des Possidius – davidische Bußpsalmen auf eine 24 In der deutschen Ausgabe des sog. „Vatikanischen Psalters“ – einer von Pius XII. veranlassten und 1945 veröffentlichten Teil-Revision der Vulgata für den praktischen Gebrauch – sind z.B. bei den Psalmen 3–8 die biblischen Verweise auf David konsequent getilgt und durch christologische Ausführungen in der Einführung ersetzt. So erscheint anstelle des ersten Satzes von Ps 3: „Ein Psalm Davids, als er vor seinem Sohn Absalom floh“, folgende Ausführung: „In der Not seines Paschakampfes ruft der Messias – mit ihm die Kirche der Seinen – zum Vatergott (…) (Zitat aus S. Stricker, Der Vatikanische Psalter ins Deutsche übertragen und neutestamentlich eingeleitet, Regensburg-Münster 1948, 29). 25 Liest man die einschlägige Stelle aus seinem Psalmenkommentar, hat man freilich den Eindruck, er beziehe sich in seiner Aufzählung auf eine ihm schon vorgegebene Reihe; vgl. Magni Aurelii Cassiodori Expositio Psalmorum, CChr.SL 97,71,43–47: „Memento autem quod hic paenitentium primus est psalmus, sequitur tricesimus primus, tricesimus septimus, quinquagesimus, centesimus primus, centesimus vicesimus nonus, centesimus quadragesimus secundus“ (Kursivsatz und Angleichung der Schriftzeichens „u“ für „v“ [und umgekehrt] an die neuere Schreibkonvention R.B.). Hätte Cassiodor die Reihe neu zusammenstellt, hätte er schwerlich „gedenke“ formulieren können. 26 In Caput I der Praefatio I seines Psalmenkommentars („De prophetia“) findet sich eine – die Sicht der antiochenischen Schule aufnehmende – Erklärung der Davidizität des Psalters: „Unde constat sanctum David non per operationes hominum, non per nativitates geminorum, non per angelos, non per visiones, non per somnium, non per nubem et vocem de caelo nec per alios quoscumque modos, sed caelesti aspiratione fuisse completum, sicut de ipso legitur in primo Regum volumine: Et directus est Spiritus Domini in David a die illa. Et deinceps ipse quoque Dominus in evangelio dicit: Si David in Spiritu vocat eum Dominum, quomodo dicitis quod filius eius est? Quo dicto recognoscimus evidenter per spiritum sanctum psalmos fuisse prophetatos“ (ebd. CChr.SL 97,7,16–25 – Kursivsatz im Original).

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Tafel schreiben und in seinem Krankenzimmer gegenüber seinem späteren Sterbebett an der Wand aufhängen ließ27. Warum Cassiodor nun aber sieben Psalmen, und ausgerechnet die sieben erwähnten Psalmen als Bußpsalmen Davids ausgewiesen hat und z.B. Ps 69, in dessen Incipit David erscheint, und bei dem sogar der in Sachen Bußlieder zurückhaltend urteilende Hermann Gunkel erwogen hat, ihn zu dieser Gruppe zu zählen28, ist schwer zu ergründen. Offenbar spielte die Siebenzahl eine entscheidende Rolle, wie man aus seiner liturgisch-symbolischen Erklärung entnehmen kann: „Quos non credas incassum ad septeniarum numerum fuisse perductos, quando et maiores nostri septem modis peccata nobis dimitti posse dixerunt: primo per baptismum; secundo per passionem martyrii; tertio per eleomosynam; quarto per hoc quod remittimus peccata fratribus nostris; quinto cum convertit quis peccatorem ab errore viae suae; sexto per abundantiam caritatis; septimum per paenitentiam.“ 29 Andere heben daneben zur Begründung hervor, dass die Sieben in manchen biblischen Texten wie Lev 14,7 oder 2 Kön 5,10 in Zusammenhang mit Reinigungsriten eine Rolle spielt30, was wiederum wohl damit zusammenhängt, dass die Sieben eine Symbolzahl ist, die ja auch hinter den sieben Tagen der Woche und dem siebenarmigen Leuchter im salomonischen Tempel (wie bis heute in Synagogen) steht31. 27 Vgl. W. Geerlings, Possidius. Vita Augustini. Zweisprachige Ausgabe, Paderborn 2005, 102,10–18: „Sane ille (…) nobis inter familiaria conloquia consueverat, post perceptum baptismum etiam laudatos Christianos et sacerdotes absque digna et competenti paenitentia exire de corpore non debere. Quod et ipse fecit ultima, qua defunctus est, aegritudine; nam sibi iusserat psalmos Daviticos, qui sunt paucissimi, de paenitentia scribi, ispsosque quaterniones iacens in lecto contra parietem positos diebus suae infirmitatis intuebatur et legebat, et ubertim ac iugiter flebat“. Die Siebenzahl scheint Augustinus offenbar noch nicht gekannt zu haben (Possidius erwähnt nur „paucissimi“): Hingen gegenüber Augustinus’ Sterbebett womöglich nur Ps 51 (50) und 130 (129), also die beiden Psalmen, die von nahezu allen neueren Theologen als Bußpsalmen eingestuft werden? 28 S.o. Anm. 13. 29 CChr.SL 97,7,52–56. Frei übersetzt: Glaube nur ja nicht, diese seien grundlos zu einer Siebenerreihe zusammengeführt worden, wo doch auch unsere Vorfahren gesagt haben, man könne auf sieben Weisen Sündenvergebung erreichen: Erstens durch die Taufe, zweitens durch Leiden als Märtyrer, drittens durch barmherziges Handeln, viertens: dadurch, dass wir unseren Brüdern ihre Verfehlungen vergeben, fünftens: dadurch, dass man andere von ihrem Irrweg bekehrt, sechstens durch überbordende Nächstenliebe, siebtens durch Bußfertigkeit. 30 So Mast, WWKL Bd. 2, Freiburg 1887, 1614. 31 Die Sieben steht für die Vollkommenheit, die Ganzheit, auch für Glück. Zur Siebenzahl vgl. a. W. Staerk, Sünde und Gnade nach der Vorstellung des älteren Judentums, Tübingen 1905, 61–67. – Eine möglicherweise weiterführende (noch nicht zu Ende gedachte) Assoziation zur Siebenzahl kam dem Vf. bei der Lektüre von W. Kammermeier, Siebenworte, Leutesdorf 1987. Das Büchlein selbst bietet nichts anderes als eine neuzeitliche Fas-

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So eindeutig der Bezug auf den historischen David bei Augustinus und Cassiodor ist, so rasch verschwand der Bezug auf David im Bewusstsein der mittelalterlichen Gläubigen und Kleriker. Ein Bild von ihm mit der Harfe bzw. Leier in der Hand kommt natürlich häufig in Psalm- bzw. Bibelhandschriften vor. Aber damit stimmt die liturgische Praxis in keiner Weise zusammen: Gregorianischer (nicht davidischer!) Gesang kennt in seiner reinen Form nun einmal keine Begleitung durch ein Instrument, schon gar nicht durch ein Saiteninstrument. Der David auf den einschlägigen Bildern bzw. Vignetten in den Handschriften ist eine Symbolgestalt ohne engeren Bezug zur vielschichtigen Davidgestalt der biblischen Erzählungen. „Die Psalmen sind im Mittelalter endgültig aus dem von der Tradition vorgegebenen Zusammenhang mit David gelöst und Sache der Kirche geworden“. „An diesem Befund hat sich vom 9. Jahrhundert bis in die RenaissanceZeit mit ihrer Wiederentdeckung der Dimension des Historischen kaum etwas geändert: Die einzige Neuerung ist die, dass in den Kirchen sukzessive die Mehrstimmigkeit Eingang gefunden hat. Die ersten mehrstimmigen Falsobordone- bzw. Fauxbourdon-Psalmen fügen dem überkommenen Cantus firmus indes lediglich bordunartige, d.h. mehr oder minder liegende Begleittöne bei, so dass Sätze einfachster akkordischer Struktur entstehen – die theologische Funktion des Psalmodierens ist davon nicht berührt: Es bleiben ‚Salmi‘/‚Psalmen‘, deren liturgischer Ort die Vesper ist; der angebliche biblische Autor David spielt keine Rolle“.

sung dessen, was auch älteren Andachtsbüchern zu den Bußpsalmen zu entnehmen ist, es erscheint also – wissenschaftlich gesehen – auf den ersten Blick kaum erwähnenswert. Zu weiterführenden Gedanken regt indes die – vom Autor nicht in ihrer theologischen Bedeutung erkannte, jedenfalls nicht weiter ausgeführte – Parallelisierung der sieben Worte Jesu am Kreuz mit den sieben Bußpsalmen an. K. konnte diese Parallele vermutlich deshalb nicht weiterdenken, weil er nicht berücksichtigt hat, dass man in bestimmten Phasen der Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte David als konkreten Sprecher der Bußpsalmen gesehen hat: Der büßende Psalmdichter David und Jesus, der Davidssohn, der für die Welt büßende Erlöser – d.h. der erste und der eigentliche, der letzte Messias – vermitteln in der Karwoche den Christen durch sieben „Worte“ gewissermaßen ihren letzten Willen, ihr Testament. (Auch die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz sind bekanntlich eine sekundäre Zusammenstellung von Texten, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten). D.h. hier könnte sich hinter der liturgischen Tradition eine subtile Form der typologischer Deutung verbergen, gesteigert durch die Zahlensymbolik.

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III. Um das Jahr 1500 kommt es dann zu einem Umbruch. Der wohl aus dem Grenzgebiet zwischen dem heutigen Belgien und Frankreich stammende, in seiner Bedeutung für die Musikgeschichte kaum zu überschätzende Josquin Desprez (1440/55?–1521?)32 und in seinem Gefolge weitere Komponisten folgten dem Zeitgeist der Re-Naissance, der Wiedergeburt der Antike, und verließen demgemäß die mittelalterliche kirchenmusikalische Tradition – zunächst in dezenter Berücksichtigung der (in den vertonten Texten) vorausgesetzten elementaren Affekte33, dann aber dem Wunsch nach „immer reicherer Darstellung alles Menschlichen“34 folgend, was natürlich einschloss, dass im Falle der Psalmen nicht nur die (vermuteten) Gefühle des Textautors David musikalisch umgesetzt werden, sondern der ganze biblische Kontext berücksichtigt wurde35. Nachweisen lässt sich das u.a. an dem Aufkommen der Gattung Psalmmotette, die nicht mehr sklavisch liturgisch festgelegten Regeln folgt, sondern die menschliche Dimension in den vertonten Psalmen musikalisch umsetzt36. In Form einer meist 4- oder 5stimmigen Psalmmotette entwickelten die Psalmen eine persönliche Sprache 32 Von seiner Bedeutung zeugen indirekt die zahlreichen Variationen, in denen sein Name in der (zeitgenössischen) Literatur erscheint: Alle Welt redete von ihm, wie er sich selbst schrieb, wusste man nicht. In Anlehnung an H. Osthoff, Art. Josquin Desprez, in: MGG Bd. 7, 191–214; 191 erwähne ich unter Einbeziehung weiterer geläufiger Schreibweisen nur: Jusquinus Pratensis, Josquinus Pratensis, Jodocus Pratensis, Jodocus a Prato, (Jusquinus) gallus, (Jusquinus) picardus (lat.); Josquin de Pres, Josquin des Prés, Josse Despres, Josquin des Prez, Josquin des Préz, Jossequin Lebloitte [dit Desprez] (franz.); Juschino, Jusquino, Josquin Dascanio; Josquin d'Ascanio, Josquin de frantia, Josquin francese (ital.). 33 L. Finscher, Psalm; III. Psalmmotette, MGG Bd. 10, 1698 formuliert in diesem Zusammenhang nicht ganz glücklich: „Der neu erwachte individuelle Ausdruckswille der Komp. um Josquin mußte zu den persönlichen Bekenntnistexten der Ps. drängen“. Die „persönlichen Bekenntnistexte“ waren aber schon seit Jahrhunderten Teil der liturgischen Tradition; Josquin und die übrigen Komponisten dieser Zeit begannen nur, die längst vertrauten Psalmen anders zu lesen bzw. anders hören zu lehren. 34 So W. Wiora, Art. Absolute Musik, in: MGG, Bd. 1, 46–56; 50. Vgl. W. Braun, MGG2, Bd. 1, Art. Affekt, 31–41; 37: „gewachsene(s) Interesse für die Schattenseiten des menschlichen „Gemüths“ überhaupt“. 35 Im Falle von Ps 51 bekam z.B. das Incipit mit dem Verweis auf die Bathseba-Affäre ein größeres Gewicht. 36 Schon allein die Mehrstimmigkeit signalisiert, dass man sich nicht mehr an die liturgischen Konventionen gebunden fühlte. Wie „revolutionär“ die mehrstimmige Darbietung von Psalmen war, lässt sich indirekt aus dem Umstand entnehmen, dass noch 1581 Vincenzo Galilei in seinem Dialogo della Musica antica e della moderna davon sprechen konnte, derartiges sei eine „impertinenza“. (Zitiert nach W. Serauky, Art. Affektenlehre, in: MGG, Bd. 1, 113–121; 115.

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abseits der liturgischen Konvention37, gemäß der die Psalmen bis dahin gewissermaßen nur zu dem Zweck gesungen worden waren, um in „höherem Ton“ ewig gültige Wahrheiten zu artikulieren. Demgemäß wurden die neuartigen Psalmmotetten nicht im Rahmen der Liturgie, sondern in neuen Kontexten (etwa zur Ausschmückung von Festgottesdiensten) aufgeführt38. Das allmählich erwachende historische Bewusstsein sorgte jedenfalls dafür, dass die Musiker versuchten, den Hörern die Psalmen als von Menschen geschaffene Texte mit einem individuellen „Sitz im Leben“ vorzustellen und so die Gläubigen (indirekt) dazu zu bringen, die Deutungshoheit der Kirche über alle Bereich des Lebens in Frage zu stellen39. Von daher bekommt der Ausdruck „musica reservata“, dem man in Zusammenhang mit der Darstellung von Kompositionen aus dieser Zeit immer wieder begegnet, einen fast verschwörerischen Klang; in jedem Fall handelte es sich dabei um „Musik des gesteigerten Ausdrucks, der lebensvollen Darstellung des Textes vor dem Hörer“40. Sie blieb Personen vorbehalten, die sich in ihrer Gefühls- und Denkwelt nicht mehr von der Kirche bevormunden lassen wollten, die den Mut hatten, sich des eigenen (musikalisch unterstützten) Verstandes zu bedienen41. „Nicht umsonst hat Josquin Desprez (…) nicht nur Standardpsalmen wie Ps 19, 91, 100 oder 149 als Psalmmotetten vertont, sondern 37 Die ursprünglichen Psalmtöne wurden deshalb nicht völlig verdrängt, schon gar nicht die ihnen zugrunde liegenden Kirchentonarten (Modi). In der Regel klingt der traditionelle Psalmton in der Tenorstimme an, oft auch im Cantus, dem Sopran. 38 Finscher, Psalm, 1699 formuliert dagegen: „Nachgewiesen ist im 16. Jh. die Verwendung von Ps.-Motetten im Introitus, als Introitus und in der Vesper“. Konkrete Nachweise benennt er indes nicht. Im katholischen Raum dürften derartige Verstöße gegen die liturgische Konvention auf alle Fälle Ausnahmen gewesen sein, zumal mehrstimmiger Gesang gelernte Sänger voraussetzt, und solche gab es außerhalb von Klöstern bzw. Fürstenhöfen kaum. Anderes gilt für die in dieser Zeit entstehenden Kirchen der Reformation (dazu s.u.). 39 Dass man daneben auch daran interessiert war, den eigenen Ruhm (und damit die eigene Kasse) zu füllen, versteht sich wohl von selbst, sollte dennoch nicht unerwähnt bleiben; auch dieser Emanzipationsprozess der Musiker hat mit dem Renaissance-Geist zu tun. 40 So B. Meier, Art. Musica reservata, in: MGG, Bd. 9, 947; dazu inhaltlich: A. Dunning, Art. Musica riservata, in: MGG2, Bd. 6: „Verwendung ungewöhnlicher Mittel (…) gehäufte Chromatik (…) Musica ficta“ (Federhofer). 41 An welchen Personenkreis in diesem Zusammenhang zu denken ist, erklärt B. Meier, ebd. 947 so: „Er (sc. Der Name M.r.) war wohl eine Bezeichnung für geistl. wie weltl. (lat. oder ital.) vok. ‚Kammermusik‘, die sich, ihrer Bestimmung für Kenner fürstl. oder patrizischen Standes entsprechend, durch besondere Feinheiten ihrer mus. Struktur, wie intensive Darstellung des bildlichen und Affektgehaltes einzelner Textworte, Gebrauch von Chromatik (deren Verwendung bei Coclico, hier tatsächlich nach dem Vorbild Josquins, durch van Crevel überzeugend nachgewiesen worden ist) oder auch lediglich durch komplizierte kp. Bildungen (…) auszeichnet“.

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auch praktisch alle ‚Bußpsalmen Davids‘, also die Texte, an deren Personbezug auf David auch Augustin bzw. Cassiodor festgehalten hatten“42. Dass sich hinter diesem freien Gebrauch von Psalmen, die die „Ikone“ David nicht in hellem Licht erscheinen lassen, vielleicht sogar so etwas wie Herrscherkritik verbarg – der Bezug auf David war ja ein wesentlicher Bestandteil der mittelalterlichen Begründung der Herrschaft der Fürsten bzw. Kaiser43! – kann man nicht zwingend beweisen; die Vermutung liegt aber mehr als nahe. So weit zu gehen, die Bußpsalmen Davids als Einheit zu komponieren und damit vollends den liturgischen Kontext in Richtung einer konzertartigen Darbietung zu verlassen und dabei zugleich die sehr menschliche Seite Davids in den Mittelpunkt zu rücken, wagte Josquin m.W. indes noch nicht. Das blieb der nächsten Musikergeneration vorbehalten. Natürlich komponierte man auch in der Hochzeit der Renaissance weiterhin Psalmmotetten44, aber eine ganze Reihe von Komponisten löste sich völlig von den traditionellen Vorgaben und gestaltete Bußpsalmen-Zyklen – nicht immer, aber häufig mit einem ausdrücklichen Verweis auf David im Titel. Auffälliger Weise waren an diesem Ausbruch aus der Tradition Komponisten aus fast allen (mittel-) europäischen Regionen beteiligt, und zwar sowohl katholische wie auch evangelische Komponisten in schöner Einigkeit. Das ist insofern bemerkenswert, als Kompositionen im Stil der Zeit zwar im Protestantismus gang und gäbe waren, die katholische Kirche dagegen in Musicis sehr konservativ war und noch lange blieb45. Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass der Erfolg der Reformation sich zu einem Gutteil dem Umstand verdankt, dass Luther ein guter Musiker und Liederdichter 42 Verifizieren konnte ich Vertonungen von Ps 6; 38; 51; 102; 130; 143. Das „De profundis” (Ps 130) hat Josquin übrigens wenigstens dreimal vertont! Redaktionelle Anmerkung: Hier endet das o. Anm. 18 angezeigte partielle Exzerpt des erwähnten Aufsatzes, in dem wörtliche (Selbst-) Zitate nur markiert, aber nicht mit Seitenangaben versehen sind. 43 Vgl. dazu H. Herkommer, Typus Christi – Typus Regis. David als politische Legitimationsfigur, in: W. Dietrich, H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Bern und Stuttgart 2003, 383–436. 44 Oft wird darin auf David rekurriert, so in der von dem Pariser Drucker und Verleger Pierre Attaignant 1535 herausgegebene Sammlung von Psalmmotetten verschiedener französischer Komponisten (u.a. Jacotin und Claudin de Sermisy). Diese wohl älteste Sammlung von Psalmmotetten erwähnt in ihrem Titel ausdrücklich David als Autor der Psalmen: „Liber nonus XVIII daviticos (…) psalmos habet“. 45 Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann man davon ausgehen, dass man beim Tridentiner Konzil (1545–1563) nicht nur die Gestaltung der Liturgie, sondern auch liturgisch nicht relevante Kompositionen wie Bußpsalmen-Zyklen im Auge hatte, als man von den Komponisten Einfachheit im Satz einforderte.

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war (man nannte ihn die „Wittenbergisch Nachtigall“), d.h. auch in dieser Hinsicht „dem Volk aufs Maul“ schaute, und in Johann Walter einen musikalischen Begleiter der Reformation gefunden hatte, der in Form des Liedes „Allein auf Gottes Wort will ich“ das Programmlied des Luthertums geschaffen hat! Sofern die bibliographischen Angaben im digitalisierten „Catalogo del servizio bibliotecario nazionale“ des ICCU (Istituto Centrale per il Catalogo Unico delle biblioteche italiane e per le informazioni bibliografiche) von 2010 belastbar sind, könnte der älteste überlieferte Zyklus aller sieben Bußpsalmen von einem in Italien wirkenden Franzosen stammen, dem wenig bekannten Loyset (Louys) Piéton (1500?–1560?). Der vollständige Titel des zwischen 1532 und 1535 veröffentlichten Werks lautet: „Davidici poenitentiales Psalmi septem in figurato cantu / de novo per Loyset Pieton compositi“46. Nimmt man diesen Titel ernst, muss man freilich folgern, dass Piéton gar nicht der erste war, der die Bußpsalmen Davids als Zyklus komponiert hat – er ist nur der erste, von dessen Werk der Verfasser dieses Aufsatzes (indirekt) Kenntnis erlangen konnte. Angesichts dieser Tatsache ist die folgende Liste von einschlägigen Kompositionen, die in den folgenden knapp 100 Jahren entstanden sind, sicher nicht vollständig47. In chronologischer Abfolge ist als nächstes die wohl größte, jedenfalls die bekannteste Komposition des Zyklus aus der Feder von Orlando di Lasso 46 Da das einzige Exemplar dieses vierstimmigen Werks im Archivio capitolare di S. Maria Assunta in Castell' Arquato (Piacenza) ruht und zudem unvollständig ist, hielt der Vf. weitere Recherchen dazu für zu aufwendig. Immerhin kann er aufgrund dieses Fündleins die Anm. 13 in Bartelmus, David-Psalmen, korrigieren, in der er – nicht anders als S. Schulze, Die Tonarten in Lassos „Bußpsalmen“ mit einem Vergleich von Alexander Utendals und Jacob Reiners „Bußpsalmen“, Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft 9, NeuhausenStuttgart 1984, 12 – noch behauptet hatte, diese Komposition sei verloren gegangen. 47 Die letzte Komposition zu dem Komplex, von der der Verfasser Kenntnis erlangen konnte (Johann Staden, Die sieben Bußpsalmen Davids 1631), fällt übrigens insofern aus dem Rahmen, als es sich nicht um eine Komposition für mehrere Stimmen handelt und ihre Grundlage auch nicht der biblische Text ist, sondern eine deutsche Nachdichtung – vermutlich von Paul Fleming. Stadens Werk erschien seinerzeit zusammen mit anderen Kompositionen unter dem Titel: Hertzens Andachten Geistlicher Gesänglein, (…) Darbey auch die sieben Busspsalmen Davids, 1631 (zitiert nach: T. Röder, Art. Staden, Johann, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010) 782–783 [Onlinefassung; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119007576.html]; K. Ruhland hat das Werk jüngst als Neuausgabe & Faksimile unter dem Titel: Staden, Johann (1581–1634): Die sieben Bußpsalmen Davids für hohe Singstimme [c’ – f’’] & B.c. (Laute, Theorbe) ediert und dort im Vorwort formuliert: „In der ‚Übergangszeit‘ zum 17. Jh. ist Stadens Zyklus außergewöhnlich: Es ist wohl der einzige für nur eine Singstimme und in deutscher Sprache“. Letzteres stimmt freilich nicht; Näheres dazu s.u.

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(1532–1594) zu nennen, die dieser 1558 begann48 und 1559 abschloss49. Publiziert wurde sie freilich erst 1584, nachdem sie als „musica reservata“ in des Wortes wahrster Bedeutung nach ihrer Aufführung bis zum Tode des Auftraggebers, des bayerischen Herzogs Albrecht V. in Form einer von Joh. Pollet geschriebenen und vom Maler Hans Mülich mit Miniaturen ausgeschmückten zweibändigen Prachthandschrift in der herzoglichen Bibliothek verborgen geblieben und nur gelegentlich privatissime aufgeführt worden war50. Der Ruhm der – in dieser Prachthandschrift noch ohne den Namen David publizierten – Komposition war dennoch weit über München hinausgedrungen, denn der zu dieser Zeit in Innsbruck residierende Erzherzog Ferdinand von Habsburg scheint Kenntnis von dieser „musica reservata“ gehabt zu haben. Jedenfalls beauftragte er seinen Hofmusiker Alexander Utendal damit, seinerseits die Bußpsalmen zu vertonen, wohl als eine Art von Gegenstück zu dem „geheimen Kodex“ mit Lassos Bußpsalmen51. Eu48 Vgl. B. Schmid, Die Bußpsalmen des Orlando di Lasso, in: C. Fabian, P.G. Dannhauer, C. Bubenik (Hg.), Das Alte Testament und sein Umfeld; vom Babylonischen Talmud zu Lassos Bußpsalmen. Schätze der Bayerischen Staatsbibliothek [Ausstellung 18. Juli bis 30. August 2013; Schatzkammerausstellung anlässlich des 21. Kongresses der International Organization for the Study of the Old Testament (IOSOT) in München vom 4. bis 9. August 2013], Luzern 2013, 114–117; 114. In der Einleitung zur Bärenreiter-Ausgabe „Orlando die Lasso. Sämtliche Werke Bd. 26, Kassel 1995, X datiert H. Leuchtmann noch neutraler: „(…) um 1560“. 49 Dieser Umstand wird gern übersehen. So kann etwa der Musikwissenschaftler M. Gemmani im Booklet einer Einspielung der Psalmi Davidici von Andrea Gabrieli (CPO 999863-2; 2002) behaupten, das Werk Gabrielis „geht dem Zwillingswerk Orlando di Lassos (…) voraus“. 50 Vgl. dazu H. Bäuerle, Die „sieben Busspsalmen“ (septem Psalmi poenitentiales) des Orlando di Lasso. Musikphilologische Studie, Leipzig 1906, 4 bzw. das längere Zitat aus einem Bericht des Niederländers Samuel Quickelberg (eines „Ohrenzeugen“) bei B. Meier, Musica reservata, 946: Q. schildert Lassos Bußpsalmen als eine Musik, in welcher der Komponist „adeo apposite lamentabili et querula voce, ubi opus fuit, ad res et verba accommodando, singulorum affectuum vim exprimendo rem quasi actam ante oculos ponendo, expressit, ut ignorari possit: suavitasne affectuum, lamentabiles voces, an lamentabiles voces, suavitatem affectuum plus decorarint“. Eine kurze, aber wichtige Aspekte sinnvoll zusammenfassende Darstellung der von Lasso angewandten Kompositionstechniken bietet B. Schmid, Bußpsalmen, 115 f. 51 Näheres s.u. Vgl. I. Bossuyt, Die „Psalmi Poenitentiales“ (1570) des Alexander Utendal. Ein künstlerisches Gegenstück der Bußpsalmen von O. Lassus und eine praktische Anwendung von Glareans Theorie der zwölf Modi, in: Archiv für Musikwissenschaft XXXVIII, Wiesbaden 1981, 279–295; 281f. Bossuyt geht sogar so weit anzunehmen, dass Ferdinand die Ehre gehabt haben könnte, bei einer Aufführung des „ad usum privatum“ geschaffenen Werks anwesend sein zu können, und verweist in diesem Zusammenhang auf Ferdinands Teilnahme an den Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit des bayerischen Thronfolgers Wilhelm V. mit Renata von Lothringen. „Alles auf die Entstehung der Buß-

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ropaweit bekannt wurde Lassos Werk dann unter dem Titel „Psalmi Davidis poenitentiales modis musicis redditi (…). his accessit Psalmus Laudate Dominum de coelis“ in Form einer bei Adam Berg gedruckten und dem Pfalzgrafen Philipp, Bischof von Regensburg gewidmeten Ausgabe52. Wie aus dem Schluss des Titels hervorgeht, beschränkte sich Lasso nicht darauf, in seinem Zyklus jeden der Psalmen mit einem „Gloria patri“ abzuschließen – das verlangte die kirchliche Tradition53 –, er hängte vielmehr an die sieben Bußpsalmen noch ein Laudate Dominum an54. Der (Haupt-) Grund für diese Abweichung von der überkommenen Siebenzahl ist ein musikalischer: Lasso wollte offenbar vermeiden, die Kirchenoberen gegenüber seiner affektgeladenen Komposition argwöhnisch zu machen, daher folgte er dem Konzept, im Zyklus jedem Psalm eine Kirchentonart zuzuordnen: In seiner Zeit kannte man acht Kirchentonarten, als Textmaterial standen indes nur sieben Psalmen zur Verfügung. Was lag näher, als neben dem siebenfachen „Gloria Patri“ auch noch einen Lobpsalm anzufügen, um in dem Zyklus auch noch ein Stück in dem ansonsten nicht realisierten hypomixolydischen Ton unterzubringen? Dass damit zugleich signalisiert werden sollte, dass es Lasso darum ging, seine Komposition der sieben Bußpsalmen aus dem Kontext der Liturgie der Fastenzeit bzw. der Karwoche zu lösen, ja sie selbst als Festmusik verwendbar zu machen, kann man vermuten55. Dass Lasso in

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psalmen Utendals Bezügliche scheint in Richtung eines künstlerischen Wettbewerbs zwischen dem Münchner und dem Innsbrucker Hof zu weisen“ (ebd. 282). So W. Boetticher, Art. Lasso (Familie), MGG, Bd. 8, 251–288; 285; vgl. Bäuerle 4 f. Selbst der Protestant H. Schütz, der in seinen Psalmen Davids („Der Psalter Davids Gesangweis / Auff die in Lutherischen Kirchen gewöhnlichen Melodeyen zugerichtet / Durch Cornelium Beckern“) explizit auf David Bezug nimmt, fügte etwa der Hälfte der Psalmen ein abschließendes „Gloria Patri“ an! Textgrundlage dieses „Laudate Dominum“ ist eine Kombination von Teilen der Pss 148 und 150. Näheres dazu bei Leuchtmann, Einleitung, XV f. Vgl. dazu die o. Anm. 52 erwähnte Vermutung Bossuyts, das Werk könne bei der Hochzeit des bayerischen Thronfolgers aufgeführt worden sein, und die gründlichen Überlegungen zu diesem Phänomen, die H. Leuchtmann in der Einleitung zu Bd. 26 der LassoEdition angestellt hat (Orlando die Lasso. Sämtliche Werke Bd. 26, Kassel 1995, XV). L. fährt nach einem Verweis auf den wichtigsten Grund – die Zahl der Kirchentonarten – folgendermaßen fort: „Denkbar wäre auch, daß die düsteren Bußpsalmen in einem vertrauensvoll-freudigen Gotteslob ausklingen sollten. Nicht ausgeschlossen bleibt allerdings, hier Lassos Konsequenz vorauszusetzen bei der Anfügung eines Textes, der auch den hypomixolydischen Modus abrundend zur Geltung bringt. Dann hätten wir es mit einer musikalischen Auffassung zu tun, welche den Zyklus in den Bereich der Andachtsmusik verweist“. Als Urheber der ersten Vermutung benennt L. in Anm. 28 den bereits erwähnten Niederländer Quickelberg, der erläutert hatte: „quibus [= den Bußpsalmen] & postremo subijciuntur duo psalmi Laudate, qui (ut sunt etiam in psalmoru[m] libro circa finem posi-

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seiner Interpretation der Bußpsalmen jedenfalls nicht dabei stehen geblieben ist, „die Gewissensangst des sich schuldig fühlenden Herzens bei der Zerknirschung zu belassen“, dass er vielmehr weiß, „das niedergebeugte Menschenkind wieder mit starker Hand aufzurichten und mit Vertrauen auf die Gnade des Barmherzigen zu erfüllen“, hat (neben vielen anderen) schon H. Bäuerle erkannt56, ja er kann danach fortfahren: „Es fehlt nicht an Stellen, die an Lieblichkeit, Freudigkeit und innerer Befriedigung des Herzens ihresgleichen in der Geschichte der Musikliteratur suchen. Kurz, „sie drücken nicht in verzagender Angst zur Erde nieder, sondern heben auf starkem Fittich zum Himmel empor“„57. Zehn Jahre nachdem Lasso seine Bußpsalmen vollendet hatte, veröffentlichte der wenig bekannte Bologneser Komponist Giovanni Tommaso Lambertini in Venedig eine für vier Stimmen gesetzte Fassung der Bußpsalmen58; auch in ihr wird jeder Psalm mit einem Gloria Patri abgeschlossen; demgemäß erscheint hier der Name David nicht einmal in der Druckfassung. Auf dieses entlegene Werk näher einzugehen fehlt hier der Raum. 1570 publizierte dann der bereits oben erwähnte Hofkomponist von Ferdinand von Habsburg Alexander Utendal seine „SEPTEM PSALMI POENITENTIALES, ADIVNCTIS EX PROPHETARVM SCRIPTIS ORATIONIBVS EIVSDEM ARGUMENTI QVINQUE, AD DODEti) ita hic quoq[ue] tanquam post impetratam peccatorum ueniam, quae erant ante luctuosa, iam reddita uideantur laetiora, et fere gratulatoria, ob spem uitae diuinioris recte conceptum et mentis consolationem acquisitam“. 56 Bäuerle, Busspsalmen, 8. 57 Ebd. Er zitiert dort Ambros III 385; leider fehlt zu diesem Autor eine genaue bibliographische Angabe. 58 Genauer Titel: „IOANNIS THOMAE LAMBERTINI BONONIENSIS SEPTEM PSALMI POENITENTIALES ab ipso concentu musico compositi & nunc primum in lucem editi. Cum Quattuor vocibus“; zitiert nach J.A. Bernstein, Music Printing in Renaissance Venice: The Scotto Press (1539–1572), Oxford 1998, 777. Die bei Schulze, Tonarten, 11 erwähnte Komposition der Bußpsalmen, „Les sept pseaumes penitentiaux de David, traduit en rithme francaise par Clément Marot, et mis en musique à quatre parties, en forme de motetz, par Pierre Colin, Paris“ (1564) übergehe ich ebenso wie dort erwähnte Kompositionen von Georg Siber (1580), William Hunnis (1581), Jacobus Syringus (1582) und William Byrd (1589), da sie mir nicht zugänglich waren und zudem auf Nachdichtungen basieren. Zu Marot’s Nachdichtungen der Psalmen vgl. Bartelmus, DavidPsalmen, dort Anm. 21. Aus dem zweiten Grund behandle ich auch nicht die „Septem Psalmi Poenitentiales sex vocum a Ioanne Croce, Venetiis ad S. Marci Archimusico, Italica lingva primum modulati: Nunc vero ad aliorum, qvi istam non callent, pium usum in Latinam linguam conversi Ab Amatore Qvodam Musicae“, erschienen in Nürnberg 1600. Die originale Komposition „Li sette sonette penitenziali, a sei voci“ basierte auf „Sonetti“ von Francesco Bembo, die im Druck als „Li sette Salmi Penitenziali“ erschienen.

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CAchordi modos duodecim, hac quidem ætate doctiorum quorundam Musicorum opera ab obscuritate vindicatos, nihilominus quamplurimis adhuc incognitos, aptissima tam viuæ voci, quam diuersis Musicorum instrumentorum generibus harmonia accommodati“59. Dass zwischen diesem Werk und Lassos Bußpsalmen eine Verbindung bestehen muss, ist offensichtlich, wenn auch nur indirekt zu belegen. Es ist eine „negativ“ besetzte Verbindung60, die darin besteht, dass Utendal als Anhänger der musiktheoretischen Anschauungen Heinrich Glareans Lassos Festhalten an der Theorie der acht Kirchentonarten (Modi) damit zu konterkarieren suchte, dass er seine sieben Bußpsalmen nach Glareans Theorie des Dodekachordon, der zwölf Modi, angelegt hat61: So wie Lasso aus der Absicht heraus, einen Zyklus zu schaffen, in dem alle acht überkommenen Modi realisiert sind, einen weiteren Psalm zu den sieben Bußpsalmen gefügt hat, musste auch Utendal verfahren, nur benötigte er fünf weitere Einheiten, um die zwölf Modi Glareans – in ähnlicher Weise wie Lasso die acht „klassischen“ – realisieren zu können. Auch im Blick auf den Umgang mit der liturgischen Tradition geht Utendal andere Wege als Lasso: Seine Psalmen werden nicht mit einem „Gloria Patri“ abgeschlossen. Ob dahinter theologische Erwägungen stehen, ist nicht festzustellen – liturgisch verwendbar war der große Zyklus ohnehin nicht62. „Um zur Zahl zwölf, einer nach Glareanus und Zarlino vollkommenen Zahl (‚numerus (…) sententia perfectissimus‘), zu gelangen“, griff Utendal nicht wie Lasso zu einem bzw. zwei weiteren Psalm(en), sondern zu „Gebetstexte(n) ‚mit ähnlichen Inhalt‘“63. Das weist ihn als einen guten 59 Orthographie des Titelblatts nach dem im Internet unter http://imslp.org abrufbaren Autograph (Discantus). 60 Positiv gewendet könnte man natürlich auch von einem „künstlerischen Wettbewerb(s) zwischen dem Münchner und dem Innsbrucker Hof“ sprechen; so Bossuyt, Psalmi, 282. 61 Vgl. dazu Bossuyt, Psalmi, 281 f. Zum Thema Tonarten bzw. Modi vgl. C. Dahlhaus, Art. Tonsysteme, in: MGG Bd. 13, 533–547 bzw. H. Hüschen, Art. Modus, in: MGG Bd. 9, 402–414 und generell B. Meier, Die Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie, Utrecht 1974. Zu Glarean vgl. H. Albrecht, Art. Glarean, Heinrich, MGG Bd. 5, 215–221; wichtig ist v.a. dessen Hinweis: G. „hat mit den beiden Modi auf c und a“ (jonisch und äolisch), „zu denen sich die traditionellen plagalen Modi (hypojonisch und hypoäolisch) zwangsläufig hinzugesellen mußten, die Ablösung der Lehre von den Modi durch die von den ‚harmonischen‘ Tongeschlechtern Dur und Moll vorbereitet, wenn er auch selbst von solchen Folgerungen noch himmelweit entfernt war“. 62 Auf alle Fälle kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Utendal zu den Komponisten dieser Zeit gehörte, die sich gegen die Gängelung der Musik durch die (katholische) Kirche wandten. 63 Bossuyt, Psalmi, 280. Auch die folgenden Ausführungen basieren auf Bossuyt’s Darstellung.

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Theologen aus. Denn die größtenteils biblischen Büchern entnommenen Orationes passen thematisch perfekt zu den Bußpsalmen. Nur die erste Oratio stammt nicht aus der Bibel, sondern „ist aus zwei Antiphonen zusammengesetzt: aus der Antiphon Ne reminiscaris, der traditionellen ,,antiphona ad psalmos poenitentiales“, und aus der Antiphon Parce Domine, der Antiphon ,,pro remissione peccatorum vel avertenda tribulatione“64. Die übrigen Orationes sind Num 14,18–19; Neh 1,5–11a; Jer 3, 22b–25 und Jer 10,23–25 entnommen. Mit beiden Abweichungen vom großen Vorbild bzw. Konkurrenten Lasso – der abweichenden Textgestaltung und der Anwendung einer neuen Musiktheorie – schuf Utendal ein völlig eigenständiges und in seiner Zeit aufsehenerregendes Werk, zugleich erfüllte er damit perfekt die Wünsche seines Brotherrn Ferdinand, der als echter Renaissance-Fürst „immer auf „etwas sonderliches“ erpicht“ war65. Stilistisch bewegt sich Utendal in den Psalmi Poenitentiales weitgehend auf den Spuren Lassos, komponierte also dramatisch-expressiv im Sinne dessen, was zu Beginn dieses Abschnitts über Josquin und die Musica reservata gesagt wurde. In manchem ähnlich, in vielerlei Hinsicht anders liegen die Dinge im Falle der 1583 von Andrea Gabrieli veröffentlichten Komposition: „ANDREE GABRIELIS ORGANISTAE SERENISS. REIPVB. VENETIARVM Psalmi Dauidici, qui Poenitentiales nuncupantur, tum omnis generis Instrumentorum, tum ad uocis modulationem accommodati. SEX VOCVM Venetiis 1583“. Ähnlichkeit besteht insofern, als auch Gabrieli mehrfach mit Lasso, der etwas jünger als der Italiener war, in Kontakt kam. Ganz anders ist dagegen der Umgang mit dem Sujet der Bußpsalmen. Zum einen steht bei Gabrieli der Name David programmatisch am Anfang des Titels66, zum anderen hat Gabrieli (wie Utendal) darauf verzichtet, an die sieben Psalmen jeweils ein „Gloria Patri“ anzufügen, und schließlich ist auf den erstaunlichen Umstand zu verweisen, dass hier von Instrumenten die Rede ist, und dies auch noch vor dem Verweis auf die Einrichtung der Bußpsalmen für Sänger. Gabrieli scheint stärker vom Renaissance-Geist beeinflusst gewesen zu sein als andere Komponisten, jedenfalls lässt sich das angesichts der ausdrücklichen Bezugnahme auf David und des Wortlauts der 64 Ebd. 65 Ebd., 295. 66 Es ist zu vermuten, dass die Beifügung des Namens David im Rahmen der Druckfassung von Lassos Werk erfolgte, um die geistige Verwandtschaft beider Kompositionen zum Ausdruck zu bringen. Utendals Werk lag 1583 bereits in gedruckter Form vor, eine Neuauflage erfolgte nicht.

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Widmung an Papst Gregor XIII. vermuten: „Wie willkommen der Gebrauch der Psalmen – insonderheit derer, die Bußpsalmen genannt werden – schon immer der heiligen Kirche war, ist gewiss niemandem verborgen geblieben. [Aber] bis heute hat sich – wie offen zutage liegt – niemand gefunden, der jene heilige und fromme Aufführungspraxis, die eigentümlich für den Propheten (sc. David) war, in Form einer harmonischen [Einheit] von Stimmen und Instrumenten nachvollzogen hätte, obwohl doch die Psalmen von sehr vielen [Komponisten] vertont wurden. Aus diesem Grund bin ich – nachdem ich mich bereits jahrelang mit dem Plan getragen hatte, etwas zu publizieren, das die Gefühle der büßenden Seelen durch den Gebrauch von Stimmen und Instrumenten (sei es, dass diese gemeinsam, sei es dass sie getrennt erklingen) so ausdrücken könne, dass ich (so weit wie das einem Menschen möglich ist) die Frömmigkeit und Ausdruckskraft des Propheten adäquat nachahme, und [nachdem ich] bereits die Höhe meiner Einfallskraft erreicht habe – zu dem Schluss gekommen, dass es am besten wäre, wenn jenes [Projekt] unter dem Patrozinium, der Schirmherrschaft und der gepriesenen Gnade deiner Heiligkeit publiziert würde, weil letzteres ihm besonders viel Glanz und Zierde vermitteln kann. Ich flehe also deine Heiligkeit untertänig an, dass sie diese meine zur Ehre der göttlichen Majestät und der Gnade deiner Heiligkeit erdachten Werke freundlich aufnehme – zum Trost der büßenden Seelen – da doch alle Völker in Bezug auf die Zukunft hoffen, dass unter diesem Pontifikat, unter dem so viele schöne Künste und Tugenden entstehen bzw. gepflegt werden, auch jede alte Tugend und Vortrefflichkeit wieder auflebe und gleichsam aus dem Totenreich wieder [ins Leben] zurückgerufen werde“67. V.a. die letzten Sätze könnten 67 Im Erstdruck, der oben in einer (freien) Übersetzung des Vf.s zitiert ist, lautet die Passage folgendermaßen: „Qvam gratus semper fuerit Sanctȩ Ecclesiȩ Psalmorum usus, & in primis Pȩnitentialium uocatorum, nemini sanè res est obscura. Illum tamen sanctum, & pium usum, qui erat proprius Prophetȩ per uocum, instrumentorumq′; musicorum harmoniam, nemo repertus est hactenus, ut apparet, qui imitaretur, quamuis psalmi à plerisq′; sint compositi. Idcirco, cum multos iam annos animum eò conuerterim, ut res quȩ pȩnitentium animorum expressionem per uocum, & instrumentorum melodiam tam coniunctè, quam diuisim in medium afferrem ad imitandum, quantumuis humana potest assequi pietatem expressionemq′; prophetæ, & iam ad summum meorum inuentorum peruenerim, iudicaui illa optimè posse exire sub patrocinio, auspicio, & benedicta gratia sanctitatis tuȩ, quod illis splendoris & ornamenti plurimum potest afferre. Idcirco, cum multos iam annos animum eò conuerterim, ut res quȩ pȩnitentium animorum expressionem per uocum, & instrumentorum melodiam tam coniunctè, quam diuisim in medium afferrem ad imitandum, quantumuis humana potest assequi pietatem expressionemq′; prophetæ, & iam ad summum meorum inuentorum peruenerim, iudicaui illa optimè posse exire sub patrocinio, auspicio, & benedicta gratia sanctitatis tuȩ, quod illis splendoris & ornamenti plurimum potest

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aus einer Programmschrift zur Darstellung des Anliegens der Renaissance entnommen sein; bemerkenswert ist aber v.a., dass Gabrieli meint, unmittelbar an Davids Umgang mit den Psalmen anknüpfen zu können – historisch gesehen natürlich ein Anachronismus, aber konsequent im Sinne des Zeitgeistes gedacht. Unbeschadet dessen, dass auch Werke Lassos und anderer Zeitgenossen oft instrumental begleitet aufgeführt wurden, ist die Direktheit, mit der sich Gabrieli hier auf David bezieht, doch erstaunlich: In der Fastenzeit, in deren Liturgie die Bußpsalmen verankert waren, war der Einsatz von Instrumenten in der Kirche verboten. Gabrieli wollte den Papst mit dieser Widmung wohl kaum zur Aufhebung des Verbots bewegen. Er signalisiert damit, dass er an eine Aufführung in anderen Kontexten denkt, ja dass er ähnlich wie Luther davon ausgeht, dass die Musik der Kirche auch in Formen dienen kann, die bis dahin als „weltlich“ galten. Darin zeigt sich dann freilich doch wieder eine gewisse Nähe zu den bisher vorgestellten Vertonungen der Bußpsalmen. Auf die 1586 erschienenen beiden Vertonungen der Bußpsalmen aus der Feder des aus Schlesien stammenden Simon Bar Jona Madelka68 und des Lasso-Schülers Jacob Reiner69 kann hier aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden. Beide Kompositionen gehören stilistisch der Tradition der alten Niederländer an. Letzterer beruft sich schon im Titel ausdrücklich auf seinen Lehrer Orlando di Lasso, auch wenn er – bedingt wohl dadurch, dass er als Hauskomponist des Klosters Weingarten auf die Verwendbarkeit der Komposition im Rahmen der liturgischen Abläufe achten musste – eine

afferre. Sanctitatem tuam igitur suppliciter oro, ut hos meos labores ad gloriam diuinæ Maiestatis, & Sanctitatis tuæ gratiam excogitatos per humanè complectatur, ad consolationem animarum pȩnitentium, cum uniuersȩ gentes fore sperent, ut sub isto Pontificatu, quo nobiliores artes ac uirtutes tanti fiunt, tamq′; fouentur, ut omnis uirtus præstantiaq′; antiqua reuiuiscat, & quasi ab inferis reuocetur.“ Eine nicht ganz dem Faksimile entsprechende Textfassung sowie eine andere – ebenfalls relativ freie – Übersetzung findet sich übrigens bei B. Wiermann, Die Entwicklung vokal-instrumentalen Komponierens im protestantischen Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Abhandlungen zur Musikgeschichte Bd. 14, Göttingen 2005, 19 bzw. ebd. Anm. 1. 68 Septem Psalmi Poenitentiales, qvinqve vocibus exornati à Simone Bariona Madelka Oppoliensi Silesio; zitiert nach http://www.sheetmusic.cz/en/news/simon-bar-jona-madelkaseptem-psalmi-poenitentiales.html wo die von M. Klement besorgte Ausgabe, Prag 2008 beworben wird und das Titelblatt in Faksimile geboten ist. 69 Cantionum Piarum, Septem Psalmi Poenitentiales tribus vocibus, ad singulos musicos tonos debito ordine, artificiosa compositione concinnati, eo modo hactenus nunquam visi. Accesserunt adhuc sex mutetae (…) Autore Iacobo Reinero. Excellentißimi Musici Orlandi di Lasso Discipulo; zitiert nach Schulze, Tonarten, 11.

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weitaus schlichtere, 3- bis 2-stimmige Fassung erarbeitet hat70. Auch Madelka, der – obwohl wahrscheinlich gebürtiger Jude (wie sein Name vermuten lässt) – Katholik und Anhänger der Gegenreformation war71 und nach seiner Übersiedelung nach Pilsen einer katholischen literarischen Bruderschaft angehörte, komponierte schlichter als Lasso, dem er indes darin gefolgt ist, dass er den Zyklus mit einer zusätzlichen Motette (Quomodo confitebor tibi, Domine) abgeschlossen hat. Die „SEPTEM PSALMI POENITENTIALES, SEX VOCIBVS COMPOSITI, PER LEONHARDVM LECHNERVM ATHESINUM: Illustrißimi Generosißimiq´ Principis ac Domini, Domini LVDOVICI Ducis in VVirtenberg et Teckh. Comitis in Mompelgart etc. Symphonetam. ADDITIS ALIIS QVIBUSDAM PIIS CANTIONIBUS SEX ET PLVRIMIVM vocum, eodem autore“, Nürnberg 158772 bedürfen dagegen einer eingehenderen Behandlung – dies nicht nur, weil Lechner der einzige dem Vf. bekannte Protestant ist, der die Bußpsalmen nicht in deutscher Übersetzung73 bzw. Nachdichtung74, sondern auf den Text der Vulgata vertont hat. Unbeschadet dessen, dass er Schüler Lassos war, hat Lechner in diesem Werk nämlich eine Komposition geschaffen, die in der Radikalität der Anwendung expressiver, affektausdeutender Mittel weit über das Vorbild des Lehrers hinausgeht75 und auf die „seconda practica“ Monteverdis vorausweist. Das zeigt sich bereits in der Anwendung der Modi76. Wie Lasso folgt Lechner zwar der traditionellen Lehre von den acht Kirchentönen, aber er wendet sie entsprechend dem ihnen konventionell zugeordneten Affektcharakter an, nicht wie Lasso in der „schulmäßigen“ Abfolge: Für Ps 6 hat Lechner den Modus Dorisch [flehendes Gebet / serius] gewählt, für Ps 32 70 Vgl. H. Federhofer, Art. Reiner (Familie), in: MGG Bd. 11, 192 f. 71 Vgl. L. Handzel, Art. Madelka, Simon Bar Jona, in: MGG Bd. 8, 1414 (übersetzt von R. Schwartz). 72 So der volle Titel des Erstdrucks, wie er in A. Horstmann, Katalog der Musikdrucke aus der Zeit der Kasseler Hofkapelle (1550–1650), Wiesbaden 2005, 292 nachgewiesen ist. 73 So Melchior Franck; dazu s.u. 74 So etwa Johann Staden; s.o. Anm. 47. 75 Vgl. dazu H. Weber, Die Beziehungen zwischen Musik und Text in den lateinischen Motetten Leonhard Lechners, Hamburg 1961, 120 f.; 194 u.ö. V.a. auf diese Arbeit stützen sich die folgenden Ausführungen. Erscheinen mit „W“ eingeleitete Zahlen in Klammern, beziehen sie sich auf das Werk von Weber. 76 Um den Anmerkungsteil nicht über Gebühr zu belasten, verweise ich hier pauschal darauf, dass außer der eben genannten Arbeit Webers, folgende Werke benutzt wurden: I. Bossuyt, Begleitwort, in: I. Bossuyt (Hg.), Leonhard Lechner. Werke, Bd. 10: Septem Psalmi Poenitentiales sex vocibus compositi, Kassel 1988, VI-X deutsche Übersetzung von K. Ameln); K. Ameln, Art. Lechner, Leonhard, in: MGG Bd. 8, 428–436.

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(31) Lydisch [iucundus; delectabilis], für Ps 38 (37) Hypomixolydisch [Sündhaftigkeit; Elend/placabilis], für Ps 51 (50) Phrygisch [Buße; Bitte um Erbarmen / lamentabilis], für Ps 102 (101) Mixolydisch [Bitte um Erbarmen; Zuversicht/laetus] und für Ps 130 (129) und 143 (142) Hypodorisch [Elend; Bitte um Erbarmen; Hoffnung/tristis]77. „Lechner scheut sich“ somit „nicht, die ausgesprochen düsteren Texte der Bußpsalmen mit diesen (sc. dem 7. und 8. Modus) heiteren Modi zu ‚umrahmen‘, eine Diskrepanz, die er durch reichlichen Gebrauch von ‚affekthaltigen‘ Klauseln und anderen Ausdrucksmitteln wieder ausgleicht“ (W147). Auch insofern unterscheidet sich Lechners Werk von dem des Lehrers, als er den einzelnen Psalmen kein „Gloria Patri“ anfügt, die Bußpsalmen somit nicht im Sinne der kirchlichen Tradition als genuin christliche Texte liest. Bei der Wortausdeutung setzt Lechner u.a. folgende Mittel ein: Für Affekte wie Freude, Schmerz (auch für Herr und Knecht): Hyper- bzw. Hypobole oder Chorspaltung in Oberund Unterstimmen; für Angaben zu einer Lage wie hoch, tief: Überschreiten des Ambitus nach oben bzw. unten, für weit, nah: große bzw. kleine Intervalle; für Bewegungen wie rasche Bewegung, Ruhe/Bleiben: Koloraturen oder kurze Notenwerte bzw. lange Notenwerte oder Tonwiederholungen; für an- bzw. absteigen (zugleich für Leben und Tod): Anabasis bzw. Katabasis; für umgeben: Circulatio; für den Teufel: Tritonus; für Sünde, falsch, verkehrt: Dissonanzen, Satzfehler wie Quintparallelen, Sextakkordparallelen u.s.w. (W128–133). Angesichts der nachweisbaren Vorwegnahme von vielen Figuren, die dann in der musikalischen „Rhetorik“ der Barockzeit als Grundelemente praktisch jeder Komposition Verwendung fanden, könnte man Lechner von daher nicht nur als einen Vorläufer Monteverdis, sondern auch Bachs sehen – der einzige wichtige Aspekt, der gegen eine solche vereinfachende Parallelisierung spricht, liegt darin, dass Lechner noch nicht den von Glarean vorgebahnten (und von Zarlino vollendeten) Weg weg von den Kirchentonarten hin zum Dur-/Moll-System beschritten hat. Was ihn dennoch mit Komponisten wie Bach oder Händel verbindet, ist der Umstand, dass er in Form der musikalischen Gestaltung Textauslegung getrieben hat, ja dass er gewissermaßen eine musikalische (Buß-) Predigt ausformuliert hat. Dass er sich (theologisch gesehen) in seinem freien Umgang mit der Tradition als ein echter Protestant erwiesen hat, liegt offen zutage: Jedenfalls hat er nicht (wie Gabrieli beim Papst) bei irgendjemandem 77 Weber, Beziehungen 145–146; Ps 32 und 143 fehlen in der „Übersicht“. Die lateinischen Adjektive nach dem „/“ beziehen sich auf die ebd. gebotenen üblichen Qualifikationen in den einschlägigen Traktate zum Thema.

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Höhergestellten um Unterstützung für sein die kirchliche Tradition in manchem kritisch hinterfragendes Werk gebeten. Im Vertrauen darauf, dass er den Texten mit seiner Vertonung gerecht geworden ist, hat er sein Werk vielmehr ohne vorherige Rückfrage seinem Schutz- bzw. Dienstherrn Herzog Ludwig von Württemberg gewidmet. Die 1588 publizierte Komposition: „Regii Prophetae Davidis Septem Psalmi Poenitentiales Sacratissimi Quinque Vocibus, summo cum studio ita elaborati ac compositi, ut & voci vivae & omnis generis Musicis Instrumentis applicari commodè queant, hactenus tali modo nunquam editi. Autore Georgio Schvvaigero, Aquiburgensi“, München 1588 war mir nicht zugänglich. Schon allein der hochtrabende Titel, in dem generös verschwiegen ist, dass Ähnliches bereits A. Gabrieli fünf Jahre früher geschaffen hat, lässt vermuten, dass F. Krautwursts Hinweis auf einen gelegentlichen „Verlust an Tiefgründigkeit“78 das Werk angemessen qualifiziert. Nicht zugänglich war mir auch das nur in Bibliotheken von Ferrara und Modena vorgehaltene sechsstimmige Werk Innocento Albertis: „Salmi penitenziali armonizzati da Innocentio Alberti, musico del serenissimo signor duca di Ferrara“, Ferrara 1594, ebenso das Werk: „ORPHEI VECCHII MEDIOLANENSIS IN ECCLESIA D. MARIÆ SCAL. Reg. Duc. Muſicæ, & Chori Magiŝtri, In ſeptem Regij prophetæ Pſalmos vulgò pænitentiales Sacrarum modulationum, quæ Moteĉta nuncupantur, & ſenis vocibus concinuntur, Liber Quartus“, Mailand 160179. Wenn ich diesen Überblick mit einem Blick auf die von Melchior Franck 1615 veröffentlichter Komposition „Threnodiae Davidicae. Bußthränen deß Königlichen Propheten Davids, wie dieselben in den sieben Bußpsalmen verfasset, zuvor dergleichen nie, jetzo aber, Gott zu Ehren und männiglichen zum Trost in Christlichen Versamblungen zu Musiciren alle Teutsch, mit 6 Stimmen componiret“ beende, mag das inkonsequent wirken80: Franck hat dem Werk ja nicht den Text der Vulgata zugrunde gelegt, sondern den Text der Übersetzung Luthers. Dennoch handelt es sich um eine musikalische Umsetzung des Bibeltextes und nicht um die einer Nachdichtung. Insofern 78 F. Krautwurst, Art. Schwaiger, Georg, in: MGG Bd. 12, 341–342; 341. 79 Dieser Titel findet sich in RISM – Printed Sacred Music in Europe 1500–1800, http://www.printed-sacred-music.org. Vgl. dazu auch O. Mischiati, Art. Vecchi, Orfeo, in: MGG Bd. 13, 1356 (Übersetzung: D. Schmidt-Preuß) und S. Schulze, Tonarten, 12. 80 Vgl. dazu o. Anm. 58. Das Wort „Bußthränen“ findet sich gemäß Schulze, Tonarten, 12 nur im Titel des Stimmbuchs des „sexta vox“; von der Textlogik her ist das allerdings wohl der richtige Titel; andernfalls läge ja eine wenig stimmige Wiederholung des Terminus „Bußpsalmen“ vor. Ein Autograph war mir nicht zugänglich.

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ist kurze Erwähnung des Werks sinnvoll, dies umso mehr, als es die letzte mir bekannte bedeutende Komposition ist, in der alle sieben Bußpsalmen entsprechend dem biblischen Wortlaut als Einheit vertont sind81. Der Titel lässt erkennen, dass Francke den Zyklus in Analogie zum biblischen Buch „Threni“ verstanden hat. (Kompositionen mit dem Titel „Lamentationes Jeremiae“ waren im 16. Jh. ebenso en vogue wie die Bußpsalmen). Ein weiterer Grund, auf Francks Komposition einzugehen, besteht darin, dass es von dieser Komposition eine gute Einspielung auf CD gibt82, so dass man sinnenfällig nachvollziehen kann, wie Franck den Text musikalisch unter Berücksichtigung der Regeln der Affektenlehre umgesetzt hat. Was letztlich dazu geführt hat, dass sich nach Franck kein bedeutender Komponist mehr daran gemacht hat, das heterogene Konglomerat von Texten verschiedener Gattungszugehörigkeit und mit unterschiedlichen Problemstellungen als Einheit zu vertonen, bleibt dunkel. War es der Dreißigjährige Krieg, der andere Sujets wichtiger werden ließ83, war es die Einsicht, dass hier von der Tradition etwas als Einheit zusammengedacht worden war, das eigentlich nicht zusammengehört? Träfe letztere Vermutung zu, hätte es allerdings auch nahegelegen, dass keine neuen Editionen bzw. Auslegungen der Bußpsalmen mehr auf den Markt der Andachtsbücher gekommen wären, das war aber nicht der Fall, wie u.a. der große Erfolg eines Andachtsbzw. Gebetbuchs von Benjamin Schmolck belegt, das auch die Bußpsalmen enthielt84. Vermutlich waren es v.a. pragmatische Gründe: Für den liturgi81 Was die „Sette Salmi Penitenziali, messi in musica da Clotilde Capece Minutolo per sua sorella Adelaide C. Mo. a Posillipo l’estate di 1848“ betrifft, eine Komposition für zwei Soprane und Orgel, handelt es sich offenbar um ein Werk für den privaten Gebrauch. Über die aus einem neapolitanischen Geschlecht stammende Komponistin ist wenig bekannt. 82 Die CD mit dem Titel: „Melchior Franck, Bußpsalmen 1615“, ist 2006 vom Ensemble Weser-Renaissance Bremen unter der Leitung von Manfred Cordes eingespielt und bei CPO veröffentlicht worden (2448189). 83 Dagegen spricht freilich die Tatsache, dass anlässlich des Kriegsendes in Regensburg ein Werk mit dem Titel erscheinen konnte: „Offentliche Gebet / Neben den siben Buß Psalmen: Welche auff den / Gottlob / gemachten Fridenschluß ... in allen evangelischen Kirchen, der (…) Statt Regenspurg gesprochen worden“; Verfasser war ein gewisser Balthasar Balduin. 84 Titel einer 1771 in Leipzig, 1773 u.ö. in Chemnitz (wie auch an anderen Orten) erschienenen Neuauflage, des offenbar gefragten Buchs: „Der mit rechtschaffenem Herzen Zu seinem JESU sich nahende Sünder: In auserlesenen Buß- Beicht- und Communion-Andachten, Deren sich dessen Bußfertige und nach JEsu Liebesmahl sich sehnende Seele ... bedienen kan; Benebst denen In gebundener Schreib-Art abgefaßten GOTT-geheiligten alltäglichen Morgen- und Abend-Andachten Benjamin Schmolkens. Neue, und mit de-

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schen Gebrauch in Gottesdiensten waren Kompositionen, die alle sieben Psalmen berücksichtigten, schlicht zu umfangreich, gefragt war die Komposition einzelner Psalmen. Von da an hat man daher nur noch einzelne Psalmen aus dem Set der Bußpsalmen komponiert, vor allem natürlich das Miserere und (ungleich weniger häufig) das De Profundis – beide allerdings quasi ohne Unterbrechung bis hinein in die Gegenwart. Diesen Umstand könnte man dahingehend interpretieren, dass die formgeschichtliche Schule um H. Gunkel letztlich nur das auf den Punkt gebracht hat, was die Kirchenmusik längst erkannt hatte – nämlich dass eigentlich nur Ps 51 und 130 Texte sind, in denen das Phänomen Buße angemessen und so in Worte gefasst ist, dass auch Alltagschristen bzw. kirchenferne Menschen nachvollziehen können, worum es dabei eigentlich geht. Dass der (längere) Psalm 51 in Form des Miserere bevorzugt von Katholiken komponiert wurde, erklärt sich daraus, dass er im Offizium der Karwoche einen festen Platz hatte. Dazu kam: Katholische Komponisten waren schon allein deshalb besonders an einer Auseinandersetzung mit dem Text des Miserere interessiert, weil sie der Mythos, der sich um das einst streng geheime 9-stimmige Miserere Gregorio Allegris gebildet hatte, faszinierte und zu einer immer neuen Auseinandersetzung mit dem Sujet trieb. (Das in der Sixtina alternativ verwendete Miserere von Tommaso Baj hat nie die gleiche Bedeutung erlangt, ebenso wenig das rund 100 Jahre später ebenfalls für die Sixtina komponierte Miserere von Giuseppe Baini). Selbst zwei komponierende Kaiser aus dem Hause Habsburg (Ferdinand III. und Leopold I.) finden sich in der langen Liste der Komponisten, die sich des Miserere angenommen haben. Als ein Exoticum sei schließlich das kaum für den kirchlichen Gebrauch geeignete Miserere in b aus der Feder von E.Th.A. Hoffmann erwähnt. Umgekehrt hatten in Bezug auf das De Profundis Protestanten musikalisch-theologisch Maßstäbe gesetzt, die ihre Nachfahren zu immer neuen Versuchen trieben, den Text mit den Mitteln ihrer Sprache nahezubringen: Zu nennen ist da zunächst Martin Luther mit seiner Nachdichtung des Psalms in Form des Lieds: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (EG 299), zu dem er auch die Melodie komponierte, sodann J.S. Bach mit seiner Kantate Nr. 131: „Aus der Tiefe(n) rufe ich Herr zu dir“. Die wohl breiteste (wenn auch heute auch längst vergessene) Wirkung in dieser Hinsicht dürfte freilich von einer Person ausgegangen sein, deren Bedeutung für die Musikgenen Sieben Buß-Psalmen Davids, wie auch einigen geistreichen Gebeten und Liedern vermehrtere Auflage“.

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schichte zumeist gering geschätzt wird. Es ist der Pietist August Herrmann Francke, in dessen pädagogischem Gesamtkonzept die Musikpädagogik eine große Rolle spielte. Nicht nur musste gemäß seinen für verschiedene Zwecke geschaffenen Schulordnungen jeder Unterrichtstag mit dem Singen eines Kirchenlieds beginnen, er forderte auch eine musikalische Grundausbildung für alle Schüler85. Darin spielte auch die barocke Figurenlehre (eine Fortschreibung der Affektenlehre) eine große Rolle. Als eines der Beispiele diente dabei der Anfang von Ps 130 in Luthers Übersetzung:

Wie lange diese Form der Musikpädagogik beibehalten wurde, ist schwer zu eruieren. Klar ist indes, dass sie in ihrer Schlichtheit letztlich auch wenig musikalischen Menschen etwas davon vermittelt, wie insbesondere die Komponisten der Renaissance und der Barockzeit Texte in eine musikalische Gestalt bzw. Sprache umsetzten. Dass sich im weiteren Verlauf der Musikgeschichte Komponisten beider Konfessionen mit dem 130. Psalm bzw. dem De Profundis auseinandersetzten, erklärt sich unschwer aus dem Inhalt dieses Psalms; er wurde ganz besonders nach einschneidenden, die Menschen verstörenden Ereignissen aufgenommen. Auch ein bedeutender jüdischer Komponist – Jacques François Fromental Elias Halévy – hat anlässlich der Ermordung eines Duc de Berry diesen Psalm vertont, und zwar in der Originalsprache86. Dass der Psalm dann im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen (und danach) immer wieder als Gegenstand von tiefsinnigen und beeindruckenden Kompositionen Verwendung fand, liegt auf der Hand. Aus Raumgründen können hier nur einige wenige Namen (zusammen mit dem Publikationsdatum ihres Werks) Erwähnung finden, so Marcel Dupré (1917)87, Isidor Georg Heschel (1922), Heinrich Kaminsky (1922)88, Viteclav Novák (1941)89, 85 Näheres dazu bei W. Blankenburg, Art. Francke, August Herrmann, in: MGG Bd. 4, 684–687. Diesem Artikel ist auch die Darstellung entnommen. 86 Marche Funèbre et De Profundis en Hebreu, à 3 voix et à grand orchestre (avec une traduction italienne et accompagnement de piano). Composés pour le consistoire israélite de la Seine, à l'occasion de la mort de S. A. R. Monseigneur le Duc de Berry, et exécutés dans le temple de la rue Ste. Avoye le 24. Mars 1820. Dédiés à Monsieur Le Chevalier Cherubini (…) par son élève F. Halévy. Vgl. Wilhelm Pfannkuch, Art. Halévy (Familie), in: MGG Bd. 5, 1341–1348; 1346. 87 De Profundis à la mémoire des soldats morts pour la Patrie! 88 Heschel und Kaminsky sprechen im Titel nicht vom De Profundis, sondern vom 130. Psalm

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Arthur Honegger (1946)90, Hans Gal (1948) und Johannes Driessler (1952). Die jüngsten mir bekannten Kompositionen des De Profundis stammen von Krzysztof Penderecki (1998) und Carlo Pedini (1999), dessen De Profundis für Chor und vier Posaunen von 1999 schon allein angesichts der Besetzung Assoziationen an das Dies Irae weckt. Abstract For centuries, the seven penitential psalms of David have played an important role that was not restricted to the Catholic Church. Popes such as Gregory the Great and Innocent III wrote commentaries about the penitential psalms – but also did Luther. Nevertheless, this compilation of texts that had once emerged from the spirit of late antiquity (a fact that is by no means obvious from a content-exegetical point of view) has largely fallen into oblivion. In the music of the Renaissance the seven penitential psalms of David played a role beyond liturgical conventions. It is the aim of my article to explore this phenomenon. What evoked the short-term interest in these rather marginal texts? It might be the fact that this unity of texts accredited by the church and outlining David both as an ideal figure as well as a sinner provided a chance for the recent “musica reservata” – i.e. for a vivid and true-to-life presentation of the texts. This made it possible to challenge the Church's grasp on all spheres of life through music and go unpunished. This holds true whether the composers or their patrons wanted to remain within the Church or to support the agenda of the Reformation by means of music.

89 De Profundis, Symphonische Dichtung für großes Orchester und Orgel, op. 67 – ohne Chor! 90 Bei Honegger ist das De Profundis der zweite Satz der Symphonie liturgique. Die beiden anderen, das De Profundis rahmenden Sätze tragen konsequenterweise die Titel: Dies Irae und Dona nobis pacem!

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Musik und Theologie bei Dietrich Bonhoeffer Andreas Pangritz Musikalische Assoziationen haben in allen Phasen von Bonhoeffers theologischer Entwicklung eine bedeutsame Rolle gespielt. Ihre genauere Analyse kann zum besseren Verständnis seiner Theologie beitragen.

Biographisches Zu den wesentlichen Prägungen Bonhoeffers durch Elternhaus und Familie zählt die musikalische Bildung. Dazu gehörte „das über Jahre hinweg geübte abendliche Singen und Beten der Kinder vor dem Schlafengehen“.1 Der junge Dietrich fiel durch seine Musikalität auf (vgl. DBW 9, 9 f. u. 24).2 „Mit zehn Jahren spielte er Mozartsonaten vor.“ Daneben zeichnete er sich als Liedbegleiter seiner Mutter und seiner Schwester Ursula aus.3 Ein Musik1

2

3

Christa Reich, Der Cantus firmus. Musikalische Praxis und musiktheologisches Denken bei Dietrich Bonhoeffer, in: Musik und Kirche 76 (2006), 11; vgl. Sabine Leibholz, Kindheit und Elternhaus, in: Wolf-Dieter Zimmermann (Hg.), Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer, 4. erw. Aufl., München 1969, 17 f. Dietrich Bonhoeffers Werke werden in Klammern im Text belegt. Dabei gilt die folgende Aufschlüsselung: DBW 1 = Sanctorum Commmunio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche (1930), hg. v. J. v. Soosten, München 1986; DBW 3 = Schöpfung und Fall (1932), hg. v. M. Rüter u. I. Tödt, München 1989; DBW 5 = Gemeinsames Leben / Das Gebetbuch der Bibel (1939/40), hg. v. G. L. Müller u. A. Schönherr, München 1987; DBW 6 = Ethik, hg. v. E. Feil u. a., München 1992; DBW 8 = Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. C. Gremmels u. a., Gütersloh 1998; DBW 9 = Jugend und Studium 1918–1927, hg. v. H. Pfeifer u. a., München 1986; DBW 10 = Barcelona, Berlin, Amerika 1928–1931, hg. v. H. C. von Hase u. a., München 1991; DBW 13 = London 1933–1935, hg. v. H. Goedeking u. a., München 1994; DBW 14 = Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937, hg. v. O. Dudzus u. a., München 1996; DBW 16 = Konspiration und Haft 1940–1945, hg. v. Jørgen Glenthøj u. a., München 1996. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse (1967), 5. Aufl., München, 1983, 1989, S. 47 f.; vgl. auch S. Leibholz, Kindheit und Elternhaus, in: W.-D. Zimmermann (Hg.), Begegnungen, 20.

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DOI 10.2364/3846999691

studium wurde erwogen (vgl. DBW 9, 40), doch entschied er sich bereits als Jugendlicher für die Theologie. Gleichwohl pflegte Bonhoeffer weiterhin seine pianistischen Fähigkeiten, nicht zuletzt bei häuslicher Kammermusik (DBW 9, 50 f., 53, 94, 103, 137, 141 f., 144). Bonhoeffers Rom-Erlebnis des Jahres 1924 war nach Ausweis des Tagebuchs auch ein musikalisches, insofern die römische Liturgie einen bleibenden Eindruck bei dem Theologiestudenten hinterließ. Am Palmsonntag hatte ihn im Petersdom der Knabenchor beeindruckt, doch mehr noch in Trinità dei Monti der Nonnenchor: „Es war fast unbeschreiblich (…) Die Orgel setzt ein und mit unglaublicher Einfachheit und Anmut singen sie mit großem Ernst ihren Vespergesang (…)“ (DBW 9, 88 f.). An Ostern schien ihm der Gesang der Sixtinischen Kapelle „noch viel schöner als der Chor bisher“ (DBW 9, 94). Im Zuge des Kirchenkampfes seit 1933 entwickelte Bonhoeffer eine vom Wort Gottes her begründete theologische Musikkritik, die nach Kriterien für den rechten Gebrauch von Musik im Gottesdienst fragte, wobei Bach zum Maßstab avancierte. In den Zusammenhang theologischer Musikkritik dürfte auch der berühmte, nur mündlich überlieferte Ausspruch Bonhoeffers gehören: „(Nur) wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Eberhard Bethge hat ihn schließlich auf Ende 1935 datiert, in „die Zeit, in welcher die immer bitterer werdenden Risse innerhalb der Bekennenden Kirche (…) unsere Abgrenzungsbedürfnisse von liturgischen Bewegungen akuter gemacht hatten, wie etwa von den Berneuchenern, die nicht viel mit unserer Barmer und Dahlemer Konsequenz im Sinn hatten“.4 Dies schloss jedoch die Pflege der klassisch-romantischen Tradition außerhalb des gottesdienstlichen Kontextes nicht aus. Zum dreißigsten Geburtstag 1936 wurde Bonhoeffer von den Finkenwalder Seminaristen eine Schallplatte mit Beethovens Violinkonzert geschenkt (DBW 8, 315). Und im Finkenwalder Jahres-Bericht über das Jahr 1936 heißt es: „Musiziert wird bei uns nach wie vor viel und mit großer Freude. (…) Manche bösen Geister sind gewiß dadurch schon vertrieben worden“ (DBW 14, 261). Musik zählte neben der Theologie auch zu den zentralen Aspekten der Freundschaft mit Bethge, der ihm im Übrigen „eine ganze reiche Welt“ in der vor-bachischen Musik insbesondere von Heinrich Schütz nahebrachte (DBW 16, 129). 4

Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer und die Juden, in: Ernst Feil, Ilse Tödt (Hg.), Konsequenzen. Dietrich Bonhoeffers Kirchenverständnis heute (IBF 3), München 1980, 195 f. Vgl. auch: Andreas Pangritz, Wer singt gregorianisch? Ein Kommentar, in: Bonhoeffer-Jahrbuch Nr. 2, 2005/2006, Gütersloh 2005, 206–209.

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In den Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft, die unter dem Titel Widerstand und Ergebung posthum veröffentlicht worden sind, finden sich – eingestreut in die persönlichen und theologischen Reflexionen – auch zahlreiche Äußerungen über Musik, die aufschlussreich auch im Hinblick auf die „neuen theologischen Formeln“ (E. Bethge) sind. Zugleich verband sich die Erinnerung an glücklichere Zeiten mit Musik. So hatte Bonhoeffer „nach einem Trio-, Quartett- oder Singabend (…) manchmal richtigen Hunger“, denn „das Ohr möchte einmal wieder etwas anderes hören als die Stimmen in diesem Bau“ (DBW 8, 183).5 Und „wenn mitten in die Musik hinein ‚Kampfverbände im Anflug auf (…)‘ gemeldet wird“, dann bemerkt er ironisch, dass ihm „der Zusammenhang von beidem (…) nicht ohne weiteres ersichtlich“ sei (DBW 8, 418).

Theologische Musikkritik Schon in dem für die Veröffentlichung gestrichenen Abschnitt über „Kirche und Proletariat“ der Dissertation Sanctorum Communio verfiel der gottesdienstliche Gebrauch der Musik Mendelssohns der Kritik Bonhoeffers als ein Ausdruck von Verbürgerlichung der Kirche (DBW 1, 292, Anm. 411). Während des Vikariats in Barcelona geriet die Musik Beethovens als „Ausdruck menschlichen Leidens und menschlicher Leidenschaft“ unter den Verdacht, die „Unruhe der Seele“ an die Stelle der göttlichen Offenbarung setzen zu wollen (DBW 10, 465 f.). In Anlehnung an Karl Barths theologische Religionskritik heißt es: „Nicht Religion, sondern Offenbarung, Gnade, Liebe, nicht Weg zu Gott, sondern Weg Gottes zum Menschen, das ist die Summe des Christentums“ (DBW 10, 458). Bald wurde die Musik Bachs und Beethovens als Teil der „Welt“, die „mit ihrer Lust, mit ihrer Schönheit, ihrer Pracht, ihrer Menschheit und ihrer Kultur“ vergeht, von Gottes Ewigkeit her kritisiert (DBW 10, 500). Exemplarisch für Bonhoeffers theologische Musikkritik mag die Predigt über Ps 98,1 („Singet dem Herrn ein neues Lied!“) zum Sonntag Cantate vom 29. April 1934 in London stehen. Bonhoeffer will hier „davon reden, wie unser Gott durch das Lied und durch die Musik gelobt und gepriesen werden kann“. Zwar könne die Musik, etwa der „Klang einer brausenden Orgel“, als Hinweis auf den Gesang der Engel und der Heiligen „da oben vor Gottes Thron“ gelten; andererseits könne sie auch als „unerlaubter 5

Vgl. das Gedicht „Nächtliche Stimmen“ (DBW 8, 516 ff.).

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menschlicher Versuch“ verstanden werden, die Herrlichkeit Gottes anders als durch sein Wort zu verkündigen“. Das „stille Bangen und Grausen“ der reformierten Tradition „vor der Musik in der Kirche“ müsse ernstgenommen werden (DBW 13, 351 f.). Als Beispiel dieser Gefahr erinnert sich Bonhoeffer an sein Rom-Erlebnis zehn Jahre zuvor: „Wie unerhört gefährlich für jeden, der einmal in der Peterskirche in Rom gestanden hat, die himmlischen Stimmen des Sixtinischen Chores zu hören und zu lieben – und die wahrhaftige Stimme Gottes, wie sie in der Schlichtheit der biblischen Sprache ergeht – nicht zu hören und nicht zu lieben“ (DBW 13, 352). Demgegenüber warnt er vor der Gefahr, „das Geschöpf mehr zu lieben als den Schöpfer“. Über den „reichen, glanzvollen“ Werken „menschlicher Kunst“ könne „die Armut und die Niedrigkeit Jesu Christi (…) vergessen“ werden. „Das Wort Gottes (…) ist sein eigener Schmuck, seine eigene Herrlichkeit, seine eigene Schönheit.“ Andererseits könne sich „besondere menschliche Schönheit“ dem Schmuck ihrer Liebhaber „nicht entziehen“. Aber „wie jeder Schmuck wahrer Schönheit“ so dürfe „auch der Schmuck des Wortes Gottes nur darin bestehen, dass seine ihm eigene Schönheit um so herrlicher strahle“ (DBW 13, 352 f.). Bonhoeffer fragt nach einem „Schlüssel“, durch den „das Echte und Gute von dem Unechten und Misslungenen zu unterscheiden“ wäre. Das Kriterium sieht er in der Frage, „ob (…) unser Singen und Musizieren allein die Ehre Gottes und Jesu Christi verkündigen will oder ob der Mensch ihr Maß und Mittelpunkt ist. Bach hat über alle seine Werke geschrieben: soli deo gloria – oder Jesu juva, und es ist, als ob seine Musik nichts anderes wäre als ein unermüdlicher Lobpreis dieses Gottes – und es ist andererseits, als ob die Musik Beethovens nichts anderes wäre als der unvergängliche Ausdruck menschlichen Leidens und menschlicher Leidenschaft. Darum können wir Bach im Gottesdienst hören und Beethoven nicht“ (DBW 13, 354). So kann sich Bonhoeffer auch Luthers Lobpreis der Musik als größte Gabe Gottes „nächst dem Wort Gottes“ zu eigen machen. Mithilfe des Wortes als theologischem Maßstab beurteilt er schließlich auch die Lieder des Gesangbuchs, wobei die Reformationszeit und die lutherische Orthodoxie den Vorzug gegenüber dem Pietismus erhalten. Nicht jede Musik sei Gott genehm, sondern nur „das neue Lied (…), das Gott selbst neu in uns erweckt – und ob es ein uraltes Lied wäre (…)“ Neu in diesem Sinn sei ein Lied, das „in der Nacht unseres Lebens, unseres Leidens und unserer Furcht, in der Nacht unseres Todes (…) von Christus, dem Herrn und Erlöser“ singt. Als solches sei es „ein Abglanz von dem Lied der Lieder, das die Ewigkeit singt, vor dem Thron Jesu Christi“ (DBW 13, 355 f.).

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Eine extreme Zuspitzung erfuhr die theologische Musikkritik in Bonhoeffers Brief an Ruth Roberta Stahlberg vom 23. März 1940, in dem er in Reflexion auf die Bach’sche „Matthäus-Passion“ zu dem Ergebnis kommt, dass in der Kirche allein „verleugnete ‚Schönheit‘“ echt und daher möglich sei. Indem Bach über seine Werke „Jesu juva“ oder „Soli Deo Gloria“ schrieb, habe er „auf alle eigene Schönheit der Musik an sich Verzicht geleistet“. Schön an der „Matthäus-Passion“ sei gerade diese Verleugnung der Schönheit „um Christi willen“; hier komme „die Musik durch Jesus Christus erst zu sich selbst“ und wolle „doch nichts für sich selbst, sondern alles für Jesus Christus sein“. Im übrigen meint Bonhoeffer, dass „in einigen Arien“ der „Matthäus-Passion“ selbst Bachs Musik „etwas für sich selbst sein“ wolle, wodurch sie „an wirklicher Schönheit“ verliere. Heinrich Schütz sei der einzige, bei dem solch falsche Schönheit nirgends gefunden werden könne. Und es sei der „weite Vorsprung“ der „neuesten evangelischen Kirchenmusik“ – Bonhoeffer nennt Distler und Pepping – „vor der sonstigen zeitgenössischen Musik“, dass auch hier „gerade die ‚Verleugnung‘ der Schönheit in der strengen Bindung der Musik an das Wort Gottes (…) diese Leistung echt und groß“ mache (DBW 16, 21 f.). Auch Bonhoeffers Zurückhaltung gegenüber Beethovens Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“, die er im Januar 1941 in der Münchner Oper hörte (DBW 16, 117), dürfte nicht zuletzt theologisch begründet sein.6 Der prometheische Mensch hatte ihm schon in Schöpfung und Fall als Modell für die Selbstüberhebung des sündigen Menschen gegolten (DBW 3, 128); der Lichtbringer, der um 1800 als Vorbild für Napoleon gegolten hatte, entpuppte sich jetzt als Vorläufer des „Führers“. Rudimente theologischer Musikkritik finden sich noch in den Gefängnisbriefen, wenn Bonhoeffer vor einer „spielerisch-sentimentalen Erinnerung an Weihnachten“ warnt, wie sie ein Weihnachtslieder blasender „rührender alter Mann“ auslöst: „Es würde schon ein gutes, persönliches Wort, eine Predigt, dazugehören. Ohne ein solches kann die Musik allein direkt zur Gefahr werden“ (DBW 8, 248). Aus Anlass eines Händel’schen „concerto grosso“, das er am Radio hört, ist er „ganz überrascht“, wie „breit und direkt“ Händel „zu trösten vermag, wie wir es nie mehr wagen würden. Händel ist (…) viel mehr auf den Hörer und auf die Wirkung seiner Musik auf ihn eingestellt als Bach. Darum wirkt er wohl auch manchmal etwas 6

Vgl. Andreas Pangritz, Sulla rilevanza dell’ esperienza musicale per la teologia di Dietrich Bonhoeffer. L’ esempio di Ludwig van Beethoven, in: Ugo Perone, Marco Saveriano (Hg.), Dietrich Bonhoeffer. Eredità cristiana e modernità, Torino 2006, 27–36.

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fassadenhaft. Händel will etwas mit seiner Musik, Bach nicht. Stimmt das?“ (DBW 8, 527) Bonhoeffer meint, „der wirkliche Trost müsse ebenso unvermutet hereinbrechen wie die Not“ (DBW 8, 310).

Theologie des geistlichen Singens Während seines Studienaufenthaltes in New York 1930/31 entdeckte Bonhoeffer – zusammen mit der Predigt des schwarzen Christus – die „Spirituals“. Er machte die Erfahrung, dass „im Gegensatz zur oft vortragsmäßigen Art der ‚weißen‘ Predigt (…) der ‚black Christ‘ mit hinreißender Leidenschaftlichkeit und Anschauungskraft gepredigt“ werde; und „wer die negro spirituals gehört und verstanden hat, weiß von der seltsamen Mischung von gehaltener Schwermut und ausbrechendem Jubel in der Seele des Negers. Die Negerkirchen sind Proletarierkirchen, vielleicht die einzigen in Amerika“ (DBW 10, 275). Noch mitten im Kirchenkampf konfrontierte er seine Kandidaten in Finkenwalde mit den „Spirituals“ aus seiner Schallplattensammlung. Die Auseinandersetzung mit der Tradition des Kirchenliedes, die sich in der Londoner Cantate-Predigt von 1934 angedeutet hatte, fand ihren Niederschlag in dem Vortrag „Das innere Leben der deutschen evangelischen Kirche“ aus Anlass der Olympiade im August 1936. Vor dem Hintergrund des Kirchenkampfes betont Bonhoeffer hier den Protestcharakter christlichen Singens: „Die alten Christen sangen noch, als sie den Löwen vorgeworfen wurden.“ Luthers Lieder werden „als Lieder des Wortes“ gerühmt (DBW 14, 714 f.). Demgegenüber scheinen ihm Paul Gerhardts Lieder – als Ausdruck der Individualisierung des Glaubens – „nicht mehr von den großen Glaubenskämpfen der ersten Christenheit“ und der Reformation zu zeugen. Hier liege „der Akzent darauf, dass ich Christum habe (…) Also nicht mehr zwischen Himmel und Hölle tobt der Kampf, ich selbst bin der Kampfplatz“ (DBW 14, 716 f.). Zinzendorfs Texte „genieren“ ihn geradezu, „es ist widerlich!“ (DBW 14, 210). Hingegen sei es wohl kein Zufall, wenn der Kirchenkampf die „Anfänge neuer Lieder“ im Geist der Reformation ermöglicht habe (DBW 14, 720). In der Zeit der Haft empfand Bonhoeffer dann gerade die Choräle von Paul Gerhardt als hilfreich (DBW 8, 44, 69, 99, 187, 235, 246, 261, 541 und 549). Sogar der mönchischen Mystik des Weihnachtsliedes „Ich steh an Deiner Krippe hier (…)“ konnte er jetzt etwas abgewinnen: „Man muß wohl lange allein sein und es meditierend lesen, um es aufnehmen zu können. Es ist in jedem Wort ganz außerordentlich gefüllt und schön (…) Es

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gibt eben neben dem Wir doch auch ein Ich und Christus (…)“ (DBW 8, 246). In dem Erfahrungsbericht vom Gemeinsamen Leben im Finkenwalder Bruderhaus entwickelt Bonhoeffer „eine kleine Theologie des geistlichen Singens“.7 Das „gemeinsame Lied“ solle Psalmengebet und Schriftlesung unterstreichen. Bonhoeffer zählt hier eine Reihe biblischer Lieder auf, zunächst und vor allem „das Siegeslied der Kinder Israel nach dem Durchzug durch das Rote Meer“, aber auch „das Magnifikat der Maria nach der Verkündigung“ und schließlich das „Lied Moses und des Lammes“ am gläsernen Meer aus der Johannes-Apokalypse. Er stellt eine Beziehung zwischen dem irdischen Lied der Glaubenden, dem Lied der „Pilger und Wallfahrer“, und dem himmlischen „Lied der Schauenden“ her. Das „irdische Lied“ sei „gebunden an Gottes Offenbarungswort in Jesus Christus“, es sei daher „nicht ekstatisch, nicht entrückt, sondern nüchtern, dankbar, andächtig auf Gottes offenbares Wort gerichtet“ (DBW 5, 49 f.). Christen sängen gemeinsam, weil es ihnen so „möglich ist, dasselbe Wort zu gleicher Zeit zu sagen und zu beten“. Das Wort werde gesungen, weil „der Gegenstand unseres Singens weit über alle menschlichen Worte hinausgeht“. So stehe „das Musikalische ganz im Dienst des Wortes. Es verdeutlicht es in seiner Unbegreiflichkeit.“ Daraus ergibt sich aber, dass „das gottesdienstliche Lied der Gemeinde (…) wesentlich einstimmiges Lied“ ist, wie Bonhoeffer unter Hinweis auf Röm 15,6 betont. Es sei geradezu „eine Frage der geistlichen Urteilskraft (…), ob eine Gemeinschaft zum rechten einstimmigen Singen kommt“ (DBW 5, 50 f.). Das „einstimmige Singen“ sei „viel weniger eine musikalische als eine geistliche Sache“. Vom „gemeinsamen Singen“ werde ein reicher Segen „auf das gesamte Leben der Gemeinschaft“ ausgehen. „Nicht ich singe, sondern die Kirche singt, aber ich darf als Glied der Kirche an ihrem Liede teilhaben“ (DBW 5, 52). Das klassische biblische Beispiel für wortgebundene Musik stellt der Psalter dar, dem Bonhoeffer 1940 als Gebetbuch der Bibel eine eigene Auslegung widmete. Wie einst das „Harfenspiel“ Davids „den bösen Geist vertrieb“, so sei „die heilige, gottesdienstliche Musik eine wirksame Kraft“, für die gelegentlich „dasselbe Wort gebraucht“ werde „wie für die prophetische Verkündigung“ (DBW 5, 113 f.). Eine Erinnerung an das Ideal des einstimmigen Gesangs hat sich noch in dem Brief aus dem Gefängnis vom 1. Advent 1943 niedergeschlagen, wo Bonhoeffer von Luthers Bearbeitung des altkirchlichen Hymnus „Veni Red7

C. Reich, Der Cantus firmus, 13.

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emptor gentium“ nicht nur den Text zitiert, sondern auch das aus acht Noten bestehende Anfangs- und Schlussmotiv der „adventlichen Melodie“, und zwar zur vierten Strophe: „Dein Krippen glänzt hell und klar (…)“ Dabei legt er Wert darauf, dass diese Melodie „nicht im 4/4 Takt, sondern in dem schwebenden erwartenden Rhythmus“ zu singen sei, „der sich dem Text anpaßt!“ (DBW 8, 213)

Die musikalische Figur der „Wiederbringung“ aller Dinge In den Jahren der Haft bezog sich Bonhoeffer besonders häufig auf die „Kleinen Geistlichen Konzerte“ und „Symphoniae Sacrae“ von Heinrich Schütz. Er konnte die Psalmen 3, 27, 47 und 70 (vgl. DBW 8) gar „nicht mehr lesen, ohne sie in der Musik von Heinrich Schütz zu hören“ (DBW 8, 72; vgl. auch 195, 248 u. 446). Am 4. Advent 1943 erinnerte er sich im Brief an Bethge an die Vertonung des augustinischen Hymnus „O bone Jesu“ von Schütz, das Kleine Geistliche Konzert „O süßer, o freundlicher, o gütiger Herr Jesu Christe“, von dem er wünscht, dass es bei seinem Begräbnis gesungen werde (DBW 8, 248). Er zitiert als Notenbeispiel die aufsteigende musikalische Figur, die an der Textstelle „o, wie verlanget meiner Seelen nach Dir“ den Sehnsuchtsruf „o“ viermal im sequenzierenden Aufstieg durch den Quintenzirkel wiederholt. Und er kommentiert: „Ist dieser Passus nicht in gewisser Weise, nämlich in seiner ekstatischen, sehnsüchtigen und doch so reinen Andacht, auch so etwas wie die ‚Wiederbringung‘ alles irdischen Verlangens? ,Wiederbringung‘ ist übrigens ja nicht zu verwechseln mit ‚Sublimierung‘!“ Sublimierung als Versuch, die Sehnsucht nach dem Entbehrten durch einen vergeistigten Ersatz zu stillen, wird in Bonhoeffers Interpretation als „Fleisch“ bezeichnet, während Wiederbringung nur als „Neuschöpfung“ durch den „Heiligen Geist“ gedacht werden könne (DBW 8, 247). Anlass für Bonhoeffers Gedankenkette ist die Zeile „Ich bring alles wieder“ aus Paul Gerhardts Weihnachtslied „Fröhlich soll mein Herze springen (…)“ Dazu bemerkt er: „Es geht nichts verloren, in Christus ist alles aufgehoben, aufbewahrt, allerdings in verwandelter Gestalt, durchsichtig, klar, befreit von der Qual des selbstsüchtigen Begehrens.“ Damit wird auf die irenäische Lehre von der „Wiederbringung aller Dinge“ angespielt, die ein „überaus tröstlicher Gedanke“ sei (DBW 8, 246). Sie erscheint Bonhoeffer als die angemessene theologische Antwort auf die „Sehnsucht nach einem Vergangenen“ (DBW 8, 245). Durch die „volle Konzentration auf den Gegenstand der Sehnsucht“ werde „die Gemeinschaft mit den Menschen,

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die wir lieben“, über die „Trennung“ hinweg aufrechterhalten, „wenn auch auf eine sehr schmerzhafte Weise“ (DBW 8, 242 f.). Bonhoeffer ist überzeugt, dass Christus alles wiederbringen werde, „und zwar so, wie es von Gott ursprünglich gemeint war, ohne die Entstellung durch unsere Sünde“ (DBW 8, 246). Wenn es Koh 3,15 heißt: „Gott sucht wieder auf, was vergangen ist,“ dann kommentiert er: „Dies letzte heißt doch wohl, dass nichts Vergangenes verloren ist, dass Gott mit uns unsere Vergangenheit, die zu uns gehört, wieder aufsucht“ (DBW 8, 245). Sublimierung erscheint demnach als ein Ausdruck von Religion, während die Wiederbringung durch Christus, nach der sich der ekstatische Sehnsuchtsruf des Schütz’schen „O bone Jesu“ ausstreckt, dem „religionslosen Christentum“ (DBW 8, 480) zuzuordnen wäre. Zwar scheint Bonhoeffer Wagners Musik als Ausdruck einer „heidnisch verwilderten Psychologie“ empfunden zu haben, die bei den „Nazis (…) einen fanatischen tragischen Willen“ einschloss, „jedermann in die Katastrophe zu verwickeln“.8 Dies schloss aber in der Zeit der Haft eine Rehabilitierung der musikalischen Romantik und der Darstellung menschlicher Leidenschaften und Leiden in der Musik nicht mehr aus. So konnte neben dem Schütz’schen „O bone Jesu“ auch „Solveigs Lied“ aus „Peer Gynt“ von Edvard Grieg, von dem Bonhoeffer beim Hören am Radio „richtig ergriffen“ wurde, theologische Reflexionen über das Verhältnis zur verlorenen Vergangenheit auslösen: „Treues Warten durch ein ganzes Leben hindurch, das ist der Triumph über die Feindseligkeit des Raumes, d. h. über die Trennung, und der Zeit, d. h. über die Vergänglichkeit. Glaubst Du nicht, daß solche Treue allein glücklich macht und Untreue unglücklich?“ (DBW 8, 456 f.). Wenn es in „Solveigs Lied“ heißt: „Der Winter mag scheiden, der Frühling vergehn,/ der Sommer mag verwelken, das Jahr verwehn;/ du kehrest mir zurück (…) / Ich will deiner harren bis du mir nah,/ und harrest du dort oben, so treffen wir uns da!“, dann wird deutlich, dass es hier um das Thema „Vergangenheit“ geht, das Bonhoeffer während der Zeit der Haft beschäftigte: „Für mich ist diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Versuch, sie festzuhalten und wiederzugewinnen, vor allem die Furcht, sie zu verlieren, fast die tägliche Begleitmusik meines hiesigen Lebens, die zeitweise (…) zum Thema mit Variationen wird“ (DBW 8, 466 f.).9 8 9

E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer, 955. Vgl. das Maria von Wedemeyer gewidmete Gedicht „Vergangenheit“, in dem das Verhältnis zur Vergangenheit unter den Stichworten „Dank und Reue“ variiert wird (DBW 8, 468–470).

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Musikalische Theologiekritik An die Seite theologischer Musikkritik trat in den Gefängnisbriefen eine musikalische Theologiekritik, die auf eine Korrektur der Mandatelehre aus der Ethik hinausläuft. So fragt Bonhoeffer: „Wer kann z. B. in unseren Zeiten noch unbeschwert Musik oder Freundschaft pflegen, spielen und sich freuen? Sicher nicht der ‚ethische‘ Mensch, sondern nur der Christ“ (DBW 8, 291). In der Ethik hatte er die „Beziehung der Welt auf Christus“ in den vier Mandaten der Arbeit, der Ehe, der Obrigkeit und der Kirche konkretisieren wollen (DBW 6, 54), wobei die Musik der „Geigen und Flöten“, dieser „Vorgeschmack der himmlischen Musik“ auf Erden, als Schöpfung Kains unter das Mandat der Arbeit fiel (DBW 6, 57). In einem späteren Entwurf war das Mandat der Arbeit durch das der Kultur ersetzt worden (vgl. DBW 6, 392). Im zitierten Brief aus dem Gefängnis wird aber der durch die Mandate bestimmte „Bereich des Gehorsams“ überhaupt durch „Kultur und Bildung“ gesprengt, die nunmehr in den „Spielraum der Freiheit“ hineingehören, der den Bereich der Mandate umgibt. Bonhoeffer will nunmehr „Kultur und Bildung“ – und dazu gehört für ihn als „Unterbegriff“ neben der Freundschaft auch die Musik – nicht mehr „einfach dem Arbeitsbegriff unterordnen (…), so verlockend das in vieler Hinsicht wäre“ (DBW 8, 290 f.). Zum vollen Menschsein gehöre neben der „ethischen Existenz“ in den vier Mandaten, wodurch die „protestantisch-preußische Welt“ fast ausschließlich bestimmt sei, auch die „ästhetische Existenz“ im „Spielraum der Freiheit“. Diesen meint er gerade vom „Begriff der Kirche“ her wiedergewinnen zu können – als „ästhetische Existenz“ (DBW 8, 290). Es gebe eine „‚necessitas‘ der Freiheit“, die zum vollen Menschsein dazugehöre „wie die Kornblume zum Ährenfeld“ (DBW 8, 291 f.).10

Spätwerke: Bachs „Kunst der Fuge“ als Fragment und Beethovens „mit dem inneren Ohr gehörte Musik“ Bezeichnenderweise konnte Bonhoeffer in der Zeit der Haft gerade den Spätwerken Bachs und Beethovens eine theologische Bedeutung abgewinnen. Zunächst erinnerte er sich daran, wie die Bach’sche „h-moll-Messe“ ebenso wie die „Matthäus-Passion“ seine musikalische Sozialisation geprägt 10 Vgl. auch das Gedicht „Der Freund“ (DBW 8, 585 ff.). Zur „ästhetischen Existenz“ bei Bonhoeffer vgl. John W. de Gruchy, Christianity, Art and Transformation. Theological Aesthetics in the Struggle for Justice, Cambridge 2001, 137 u. 151 f.

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habe. Überhaupt sei die „h-moll-Messe“ die „für mich schönste Bach’sche Musik“; der Einsatz des großen „Kyrie Eleison“ habe beim ersten Hören seinerzeit „im selben Augenblick (…) alles andere“ um ihn herum versinken lassen, insbesondere auch die Frage nach seiner theologischen Karriere (DBW 8, 184). Theologisch bedeutsam wurde für ihn unter den Bedingungen der Haft jedoch insbesondere Bachs „Kunst der Fuge“ – wegen ihres fragmentarischen Charakters: „Es gibt schließlich Fragmente (…), die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke z. B. an die Kunst der Fuge“ (DBW 8, 336). Bonhoeffer sah hier eine Entsprechung zur gesellschaftlichen Situation seiner Generation, deren Leben – im Unterschied zu dem früherer Generationen – durch „die Gewalt der äußeren Ereignisse (…) in Bruchstücke“ geschlagen wird (DBW 8, 331): „Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unsres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht“ (DBW 8, 335 f.). Gerade aufgrund ihres fragmentarischen Charakters empfand Bonhoeffer die „Kunst der Fuge“ als aktuell: „Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so daß schließlich nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral: ‚Vor Deinen Thron tret ich allhier [!]‘ – intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden“ (DBW 8, 336). Die musikhistorische Frage, wie der Choral an das Ende der „Kunst der Fuge“ geraten ist, scheint Bonhoeffer nicht interessiert zu haben. Jedenfalls sollte der Hinweis auf den an der Stelle des Abbruchs hinzugefügten Choral vor dem Hintergrund der zeitnahen Überlegungen zum Zusammenhang von „Widerstand“ und „Ergebung“ (DBW 8, 333 f.) nicht als falsche Versöhnung missverstanden werden. Vielmehr soll die Intonierung des Chorals nach dem Abbruch als Zeichen dafür dienen, dass das „Fragment unseres Lebens“ auf eine „menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen“ könnte (DBW 8, 331). In den Kontext von Bonhoeffers Versuch einer „Rehabilitierung des Bürgertums (…), und zwar gerade vom Christentum her“ (DBW 8, 189), gehören Überlegungen zur Tradition des 19. Jahrhunderts, in die er auch die Musik einbezog: „Es gibt heute so wenige Menschen, die an das 19. und 18. Jahrhundert noch innerlich und geistig Anschluß suchen; die Musik ver-

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sucht sich aus dem 16. und 17. Jahrhundert zu erneuern, die Theologie aus der Reformationszeit (…) – aber wer ahnt überhaupt noch, was im vorigen Jahrhundert, also von unseren Großvätern, gearbeitet und geleistet worden ist, und wieviel von dem, was sie gewußt haben, ist uns bereits verloren gegangen!“ (DBW 8, 349) In diesen Zusammenhang dürfte der Hinweis auf die „hilaritas“ von Mozart und Hugo Wolf gehören (DBW 8, 352). Insbesondere aber wurde „die Musik des tauben Beethoven“ für Bonhoeffer „existentiell verständlicher“; so führte er aus der Erinnerung die ersten vier Takte der Melodie des „Arietta“-Themas des „großen Variationssatzes aus Opus 111“ an, den er einst mit Bethge in einer Interpretation von Gieseking gehört hatte (DBW 8, 367). Es ist verblüffend zu sehen, dass in denselben Monaten der Jahre 1943/44, in denen Bonhoeffer sich an Beethovens letzten Sonatensatz erinnerte, Thomas Mann und Theodor W. Adorno im kalifornischen Exil Gespräche über den Spätstil Beethovens geführt haben, die ihren Niederschlag in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ gefunden haben, wo im achten Kapitel derselbe Sonatensatz aus Beethovens op. 111 zur Sprache kommt.11 Anlass für Bonhoeffers Neuentdeckung des späten Beethoven bot das Blättern im Gesangbuch auf der Suche nach Osterliedern: „Es ist merkwürdig, wie die nur mit dem inneren Ohr gehörte Musik, wenn man sich ihr gesammelt hingibt, fast schöner sein kann, als die physisch gehörte; sie hat eine größere Reinheit, alle Schlacken fallen ab; sie gewinnt gewissermaßen einen ‚neuen Leib‘!“ Bonhoeffer sieht eine Entsprechung zwischen der an Ostern gefeierten leiblichen Auferstehung und der innerlich gehörten Musik. Er kenne „nur einige wenige Stücke“ so, dass er sie „von innen her hören kann; aber gerade bei den Osterliedern gelingt es besonders gut“. Umgekehrt wurde durch den österlichen Anlass auch die „Musik des tauben Beethoven“ in den theologischen Kontext der Auferstehung der Fleisches gerückt: „Ostern? Unser Blick fällt mehr auf das Sterben als auf den Tod. Wie wir mit dem Sterben fertig werden, ist uns wichtiger, als wie wir den Tod besiegen.“ Doch: „Nicht von der ars moriendi, sondern von der Auferstehung Christi her kann ein neuer reinigender Wind in die gegenwärtige Welt wehen“ (DBW 8, 367 f.).

11 Zu dieser Koinzidenz vgl. Andreas Pangritz, Polyphonie des Lebens. Zu Dietrich Bonhoeffers „Theologie der Musik“, 2., überarbeitete Aufl., Berlin 2000, 55–70.

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Cantus firmus und Kontrapunkt in der „Polyphonie des Lebens“ Bonhoeffers Anspielungen auf die Dialektik von cantus firmus und Kontrapunkt in der „Polyphonie des Lebens“ können als Analogie verstanden werden zum Verhältnis von Arkandisziplin und religionslosem Christentum im Kontext der „Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist“ (DBW 8, 402). Gegen die Durchhalte-Parolen von Bethges Major (DBW 8, 411) insistierte Bonhoeffer: „Wenn man liebt, will man leben, vor allem leben und haßt alles, was eine Bedrohung des Lebens darstellt.“ Zwar sei es „die Gefahr in aller starken erotischen Liebe, daß man über ihr – ich möchte sagen: die Polyphonie des Lebens verliert“. Doch das musikalische Bild von der Polyphonie veranlasste Bonhoeffer zu dem Umkehrschluss: „Gott und seine Ewigkeit will von ganzem Herzen geliebt sein, nicht so, daß darunter die irdische Liebe beeinträchtigt oder geschwächt würde, aber gewissermaßen als cantus firmus, zu dem die anderen Stimmen des Lebens als Kontrapunkt erklingen; eines dieser kontrapunktischen Themen, die ihre volle Selbständigkeit haben, aber doch auf den cantus firmus bezogen sind, ist die irdische Liebe (…)“ (DBW 8, 440 f.). Die biblische Begründung für die Entdeckung der „Polyphonie des Lebens“ sah Bonhoeffer im Hohen Lied: „(…) auch in der Bibel steht ja das Hohe Lied und es ist wirklich keine heißere, sinnlichere, glühendere Liebe denkbar als die, von der dort gesprochen wird (cf. 7,6); es ist wirklich gut, daß es in der Bibel steht, all denen gegenüber, die das Christliche in der Temperierung der Leidenschaften sehen (wo gibt es solche Temperierung überhaupt im Alten Testament?)“ (DBW 8, 441). Bonhoeffer wehrte sich also einerseits gegen die traditionelle allegorische Auslegung des Hoheliedes, andererseits aber doch auch gegen die „platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten“ (DBW 8, 541) in der Auslegung. Er vertritt eine Lektüre als „irdisches Liebeslied“, die zugleich „wahrscheinlich die beste ‚christologische‘ Auslegung“ sei (DBW 8, 460). Dabei wird die „volle Selbständigkeit“ menschlicher Leidenschaften in religionsloser „Weltlichkeit“ ermöglicht, indem alle kontrapunktischen Themen auf den einen cantus firmus bezogen werden: „Wo der cantus firmus klar und deutlich ist, kann sich der Kontrapunkt so gewaltig entfalten wie nur möglich. Beide sind ‚ungetrennt und doch geschieden‘, um mit dem Chalcedonense zu reden, wie in Christus seine göttliche und seine menschliche Natur.“ Die von Harnack als „kahl“ empfundenen negativen Bestimmungen der Formel von Chalcedon erhalten bei Bonhoeffer durch den musikalischen Vergleich eine unerhörte Lebendigkeit: „Ist nicht vielleicht die Polyphonie in der Musik uns darum so nah und wichtig, weil sie das musika-

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lische Abbild dieser christologischen Tatsache und daher auch unserer vita christiana ist?“ (DBW 8, 441) Demnach wäre kontrapunktische Musik wie die „Polyphonie des Lebens“ überhaupt Abbild der „christologischen Tatsache“, dass in Christus Gottheit und Menschheit „ungetrennt und doch geschieden“ miteinander kommunizieren.12 In den folgenden Tagen übertrug Bonhoeffer das „Fündlein“ von der theologischen Bedeutung der Polyphonie auf weitere Dimensionen des Lebens wie die Gleichzeitigkeit von Trennungsschmerz und Freude (DBW 8, 444). Es ermöglichte ihm ein „Pfingsten trotz Alarmen“ (DBW 8, 454), denn: „Wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns. Wir weinen mit den Weinenden und freuen uns zugleich mit den Fröhlichen; wir bangen (…) um unser Leben, aber wir müssen doch zugleich Gedanken denken, die uns viel wichtiger sind als unser Leben (…) Das Leben wird nicht in eine einzige Dimension zurückgedrängt, sondern es bleibt mehrdimensional, polyphon“ (DBW 8, 453). In den Gedanken zur Polyphonie des Lebens zielen Bonhoeffers musikalische Assoziationen mitten ins christologische Zentrum seiner Theologie und öffnen es in „religionslos-weltlicher“ Interpretation für eine „tiefe Diesseitigkeit“ (DBW 8, 541). So ist es vielleicht kein Zufall, dass manche Texte Bonhoeffers, insbesondere die Gedichte aus dem Gefängnis, ihrerseits eine musikalische Wirkungsgeschichte entfaltet haben, indem sie die Phantasie von Komponisten anregten. Das Spektrum der Werke über BonhoefferTexte umfasst unterschiedlichste Gattungen von Gesangbuchliedern13 bis zu Oratorien.14 Abstract The essay examines musical references in Bonhoeffer’s writings with respect to their theological significance. In the period of the Church Struggle a theological criticism of music is emphasized, according to which beauty should be renounced in order to serve God’s „word“. A „theology of spir12 A. Pangritz, Polyphonie des Lebens, 76–80. – Vgl. Marco Saveriano, Polifonia come restituzione del tempo perduto. Un aspetto della „teologia della musica“ dell’ ultimo Bonhoeffer, in: U. Perone/M. Saveriano (Hg.), Dietrich Bonhoeffer. Eredità cristiana e modernità, Torino 2006, 220 f. 13 Vgl. z. B. das Gedicht „Von guten Mächten“ (DBW 8, 607 f.). Vgl. EG 65. 14 Vgl. z. B. das „Altar-Triptychon für Dietrich Bonhoeffer“ von Herman Berlinski, Robert M. Helmschrott und Heinz Werner Zimmermann, 1991. Vgl. Ruth Forsbach, Nicht nur „Von guten Mächten“. Vertonungen von Bonhoeffer-Texten, in: Musik und Kirche 76 (2006), 18–24.

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itual singing“ is developed and applied to the Psalms as the „Prayerbook of the Bible“. Heinrich Schütz’s „spiritual concerts“ and Paul Gerhard’s hymns are representative for this perspective. In „Letters and Papers from Prison“, however, the theological criticism of music is balanced by a musical criticism of theology. The ethics of obedience and order is qualified by a cultural „space of freedom“, permitting to appreciate Bach’s and Beethoven’s last works without words as theologically meaningful. Finally the relation between point and counterpoint is applied to the chalcedonian concept of the two natures of Christ and to an understanding of „polyphony of life“.

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Gespräch zwischen Disziplinen

Neue Geistliche Musik Kulturwissenschaftliche Beobachtungen in religionspädagogischer Absicht Harald Schroeter-Wittke 1.

Neue Geistliche Musik: Grundlegende Zugänge

Musik ist gestaltetes Geräusch. Wer Musik hört, nimmt akustische Signale als gestaltete, als komponierte wahr. Ob die Vögel singen oder nur zwitschern ist vor allem eine Frage der Wahrnehmung. Musik vollzieht sich auf drei Ebenen: auf der Ebene der Produktion, der Ebene der Distribution und der Ebene der Rezeption. Musik wird komponiert und gespielt (Produktion), sie wird aufgeführt und verbreitet (Distribution) und sie wird gehört und genossen (Rezeption). 1.1.

Unterhaltungsmusik

Mit der Frage, was Neue Geistliche Musik ist, betreten wir einen komplexen Wahrnehmungs- und Rezeptionsraum, der eng mit der Frage nach den Spezifika der Kirchenmusik verknüpft ist.1 Kirchenmusik ist zunächst noch relativ einfach zu verorten als die Musik, die in der Kirche aufgeführt wird. Doch liegt schon in dieser Formulierung eine ekklesiologische Pointe (insbesondere im Protestantismus), insofern Kirche auch die Szene bezeichnet, in der zwei oder drei Menschen im Namen Jesu versammelt sind (Mt 18,20).2 Nichtsdestotrotz lässt sich die Kirche als ein Hauptort kirchenmusikalischer Praxis lokalisieren. 1 2

Vgl. dazu Gustav A. Krieg, Die gottesdienstliche Musik als theologisches Problem, Göttingen 1990. Im Großen Katechismus verwendet Luther einige Seiten darauf zu betonen, dass Kirche theologisch gebäudeunabhängig verstanden werden muss, als von Gott gestiftete Gemeinschaft.

Harald Schroeter-Wittke, Neue Geistliche Musik

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DOI 10.2364/3846999707

Demgegenüber führt Neue Geistliche Musik (nicht nur) architektonisch extra muros ecclesiae, aus den Mauern der Kirche hinaus. Ich verstehe geistliche Musik daher als solche Musik, die Menschen auf(er)baut im Sinne der paulinischen oikodome (1. Kor 14, Röm 14,19 u.ö.). In diesem Sinne hat Martin Luther der Musik einen hohen Stellenwert eingeräumt (EG 319), denn sie kommt für ihn gleich nach der Theologie, weil sie wie diese den Teufel vertreibt.3 Das wichtigste Anliegen im musikalischen Wirken des Lutheraners Johann Sebastian Bach4 war die Erforschung der Welt als von Gott geschaffener Ordnung. Diese Ordnung, die uns mitunter verborgen ist, macht Bach mit seiner Musik, die er immer auch als Wissenschaft verstand, hörbar. Gott als Schöpfer der Welt wird so auch als deren Erhalter sinnenfällig. Bach, der alle seine Musik mit dem Kürzel SDG (Soli Deo Gloria) versehen hat, versteht sie daher als Mitwirkung am göttlichen Unterhalt, als erfahrbaren Anteil an der creatio continua. Das gilt bei Bach auch für die Werke, die keinen explizit kirchenmusikalischen Hintergrund oder Anlass haben, z.B. die Brandenburgische Konzerte, das Wohltemperierte Klavier, die Goldberg-Variationen, das Musicalische Opfer oder die Kunst der Fuge. Vor diesem Hintergrund verstehe ich geistliche Musik als Unterhaltungsmusik.5 Sie macht uns die creatio continua erfahrbar, indem sie uns unterhält. Dazu treten zwei weitere Bedeutungen der Unterhaltung: Sie geschieht als Unterhaltung, als Gespräch unter Gleichberechtigten auf Augenhöhe mit ihren Rezipierenden, insofern sie Unterhaltungs- und nicht Unterdrückungsmusik ist (die es als pervertierte Musik in bestimmten sozialen oder politischen Kontexten auch gibt, z.B. als erzwungene Musik im KZ). Und sie macht schließlich Spaß, Lust, Freude. Sie gibt uns Power, sie berührt uns und rührt uns zu Tränen. Durch die neuen Medien wird dieses Anliegen Bachs popkultureller Alltag. Wir hören immer und überall Musik und lassen uns durch sie unterhalten. Neue Geistliche Musik muss also von zwei Seiten her in Betracht genommen werden. Sie ist zum einen von der Kirchenmusik als religiöser

3

4 5

„Die Musik ist eine Gabe und Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk. Sie vertreibt auch den Teufel und macht die Leute fröhlich: man vergißt dabei allen Zorns, Unkeuschheit, Hoffart und anderer Laster. Ich gebe nach der Theologie der Musik die nächste Stelle und die höchste Ehre.“ (Luther Deutsch Bd. 9, Stuttgart 1960, 265 f.) Vgl. dazu Christoph Wolff, Johann Sebastian Bach, Frankfurt/M. 2000. Vgl. dazu Harald Schroeter-Wittke, Art. Unterhaltung, in TRE 34, 2002, 397–403.

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Praxis6 her wahrzunehmen. Mit der im Erscheinen begriffenen Enzyklopädie der Kirchenmusik geschieht hier eine erste umfassende Bestandsaufnahme.7 Weil und insofern Neue Geistliche Musik aber auch als ein Rezeptionsphänomen von Musik ohne explizit geistlichen Inhalt verstanden werden kann, muss sie auch von dieser Warte her betrachtet werden, wozu es aber noch keine gesammelten Forschungsergebnisse gibt. Die Differenzierung von Kirche, Religion und Gesellschaft in der Moderne führt hier zu einer unüberschaubaren Fülle an Musiken, die geistlich erbauen, ernähren, unterhalten können. Dabei lässt sich nicht dingfest machen, was genau an dieser Musik christlich, kirchlich oder geistlich ist bzw. sein soll. Ebenso wenig wie es musikalische Parameter gibt, die dem Christlichen, Kirchlichen oder Geistlichen exklusiv vorbehalten wären, so gibt es auch keine musikalischen Parameter, die nicht christlich, kirchlich oder geistlich gestaltet werden könnten. Neue Geistliche Musik ist daher in erster Linie ein Rezeptions-, besser noch: ein Gebrauchsphänomen. Im Gebrauch von Musik kann sich diese in speziellen oder auch typischen Situationen als Geistliche Musik erweisen. Für diese Entwicklung zeichnet auch die Distributionsebene von Musik verantwortlich, die durch die technischen und medialen Entwicklungen der letzten 200 Jahre umgreifende Veränderungen erfahren hat. Schon das Hammerklavier und in seinem Gefolge der Flügel, später das Keyboard sowie der Synthesizer bedeuteten jeweils durch technischen Fortschritt bedingte musikalische Revolutionen. So lösten diese Tasteninstrumente die Orgel als Königin der Instrumente ab, welche für die Kirchenmusik seit dem Mittelalter von entscheidender Bedeutung war. Damit wurden auch diese Tasteninstrumente zu Trägerinnen von religiöser bzw. geistlicher Musik jenseits der Kirchenmusik. Das beginnt etwa bei den Biblischen Sonaten von Johann Kuhnau (1700), spielt im 19. Jh. in der Klaviermusik eine Rolle und wird in der vielfältigen Rolle des Keyboards als Bandinstrument ebenso wie als Begleitinstrument hör- und sichtbar.8 Daneben treten die technischen Veränderungen der Distribution durch Radio, Schallplatte, Tonband, Kassette, CD, DVD, MP3-Player etc. Sie haben dazu geführt, dass Musik unabhängig von ihrer Aufführung überall 6 7 8

Vgl. dazu Gotthard Fermor, Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Kirchenmusik als religiöse Praxis. Praktisch-theologisches Handbuch zur Kirchenmusik, Leipzig 2005. Matthias Schneider, Wolfgang Bretschneider, Günther Massenkeil (Hg.), Enzyklopädie der Kirchenmusik in 6 Bänden, Laaber 2011 ff. Vgl. dazu Harald Schroeter-Wittke, Musik als Theologie. Studien zur musikalischen Laientheologie in Geschichte und Gegenwart, Leipzig 2010.

Harald Schroeter-Wittke, Neue Geistliche Musik

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gehört werden kann: in der Disco, im Büro, im Auto, beim Joggen. So ist das Auto z.B. für viele Menschen zum wichtigsten Konzertsaal geworden.9 Parallel zu diesen technisch bedingten Entwicklungen haben sich auf der Rezeptionsebene entscheidende Veränderungen ergeben. Das Geschäft der Musik durchlief eine Entwicklung vom Handwerk (Mittelalter) zur autonomen Kunst (19. Jh.). Ihre Aufführung etabliert mit dem Konzertsaal einen eigenen bürgerlich-religiösen Rezeptionsraum, der durch „Musikandacht“10 gekennzeichnet ist. Die Wiederaufführung der in Vergessenheit geratenen Bachschen Matthäuspassion durch Felix Mendessohn Bartholdy 1829 in der Berliner Singakademie lese ich als symbolträchtigen Beginn der Neuen Geistlichen Musik. Denn dieses Geschehen im Konzertsaal wird von Fanny Mendelssohn erlebt „wie eine Kirche“11. Die autonome Musik heiligt nun das Leben und gibt Kunde vom Heiligen (Beethoven) auch jenseits der Kirche. Im 20. Jh. geschieht diese Heiligung durch Musik nicht nur in der festlichen Unterbrechung des Alltags, sondern aufgrund ihrer ständigen Verfügbarkeit und Omnipräsenz auch im Alltag selbst. So gestalten wir den Soundtrack unseres Lebens selbst unabhängig von Zeiten und Räumen, in denen vor den technischen Revolutionen der letzten 200 Jahre Musik aufgeführt und gehört wurde. 1.2.

Popmusik

Schließlich geschieht mit der sog. Popmusik spätestens seit der Mitte des 20. Jh. eine weitere fundamentale Wandlung musikalischer Praxis, die für die Frage nach Kirchenmusik und Neuer Geistlicher Musik umwerfende Folgen hat. Die Popmusik (dazu zähle ich Jazz, Rock, Pop sowie alle deren Derivate vom Schlager12 bis zum Metal13) entwickelt und etabliert sich be9 10

11 12 13

Vgl. Martin Seel, Das Auto als Konzertsaal. Vom Hören auf vier Rädern, in: Peter Kemper (Hg.), Der Trend zu Event, Frankfurt/M. 2001, 147–155. Vgl. Markus Buntfuss, „In den Schwingungen holdseliger Harfensaiten“. Säkularisierung und Sakralisierung in der Musikästhetik bei Wackenroder und Schleiermacher, in: Silvio Vietta, Herbert Uerlings (Hg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung I. Von der Renaissance zur Romantik, München 2008, 145–160. – Martin Fritz, Musikandacht – Über Herkunft und Bedeutung eines Elements bürgerlicher Religionskultur, in: ZThK 111, 2014, 28–55. So schreibt es Fanny Mendelssohn in einem Brief 1829 anlässlich der Wiederaufführung der Matthäuspassion. Vgl. Harald Schroeter-Wittke, „… denn der Himmel war besetzt“. Materialien zu einer Praktischen Theologie des Schlagers, in: www.theomag.de Heft 87 vom 01.02.2014. Vgl. Sebastian Brandt: Gott haßt die Jünger der Lüge. Ein Versuch über Metal und Christentum, Hamburg 2012.

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sonders in Deutschland in Abgrenzung zum etablierten bürgerlichen Musikbetrieb, zur sog. E-Musik und erobert seit den 1960er Jahren auch den kirchlichen Raum. Das Musical „Halleluja, Billy!“ von Ernst Lange und Helmut Barbe auf dem Frankfurter Kirchentag 1956 markiert hier einen Startschuss, der mit dem 1961 entstandenen Danke-Lied des Kirchenmusiker Martin Gotthard Schneider einen ersten massenwirksamen Höhepunkt erreicht, als es dieses Lied 1963 in die Top Ten der deutschen Charts schafft.14 Auf dem Kirchentag 1963 gibt es in der Dortmunder Westfalenhalle erstmals eine Show mit „dem ersten Star des deutschen Fernsehens“15 Peter Frankenfeld, die dieser musikalischen Entwicklung Rechnung trägt: Choräle, Songs und neue Lieder. Hier singt Ralf Bendix das Danke-Lied vor 16.000 Menschen. Danke war sehr umstritten, die ZEIT z.B. bezeichnet es als Sünde wider die Musik und die Kirche. Die hohe mediale Aufmerksamkeit trug wesentlich zu seiner Bekanntheit bei. Im Gefolge des Danke-Erfolgs etabliert sich im deutschsprachigen Protestantismus ein neues Liedgenre, das sog. Neue Geistliche Lied, an dessen Verbreitung die Kirchentage und Katholikentage in einer gesellschaftlichen Umbruchszeit wesentlichen Anteil haben.16 Als die Schlussversammlung des Düsseldorfer Kirchentags 1973 kirchenmusikalisch nur mit der Band von Piet Janssens sowie Posaunenchören gestaltet wird, kommt es in der kirchenmusikalischen Zunft zu heftigen Auseinandersetzungen, weil die Popmusikalisierung dieses medial wirksamen Großformats nicht zum vorherrschenden Bild evangelischer Kirchenmusik passt. In den 1980er und 1990er Jahren finden darauf hin mehrere vom Kirchentag initiierte Tagungen statt, auf denen die gegenwärtigen Herausforderungen der Kirchenmusik diskutiert werden.17 Beim Neuen Geistlichen Lied werden Stagnation und Inflati14 Vgl. Jörg Döring, „Danke für diesen guten Morgen“. Zur Rhetorik von Katalog und „enumeratio“ im neuen geistlichen Lied, in: Natalie Binczek u.a. (Hg.), Dank sagen. Politik, Semantik und Poetik der Verbindlichkeit, München 2013, 141–155. 15 Ricarda Strobel, Werner Faulstich: Die deutschen Fernsehstars. Band 1: Stars der ersten Stunde, Göttingen 1998, 27–80. 16 Vgl. Peter Hahnen, Gesungene (Kirchen-)Reform? Das Neue Geistliche Lied und sein Programm, in: Arnold Jacobshagen, Markus Leniger (Hg.), Rebellische Musik. Gesellschaftlicher Protest und kultureller Wandel um 1968, Köln 2007, 265–274. 17 Diese Tagungen sind nur als sog. graue Literatur vervielfältigt worden: Reiner Degenhardt, Hermann Rauhe (Hg.), Funktionen der Kirchenmusik zwischen künstlerischem Anspruch und gemeindlicher Wirklichkeit. Ein Symposium des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Musikhochschule Hamburg, 23.-25.01.1987 – Martin von Essen (Hrsg.), Dokumentation zur Tagung „Das Singen auf Kirchentagen“ in Fulda, 24.-25.11.1995 – Martin von Essen (Hg.), Musik auf Kirchentagen. Dokumentation zur Tagung in Berlin, 22.-23.03.1996.

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on zugleich festgestellt: Stagflation. Gleichwohl hat der Kirchentag mit seinen kirchenmusikalischen Innovationen von Anfang an die allgemeine Chor- und Gesangbuchentwicklung in Deutschland weit voran getrieben, so dass fast alle Kirchentagsliederhefte zum offiziellen Beiheft der jeweils gastgebenden Kirchen werden. Das Neue Geistliche Lied stellt nur eine Variante des kirchlichen Singens dar, die durch die Popkultur angestoßen wurde. Seit etwa 20 Jahren etabliert sich bei vielen christlich sozialisierten Jugendlichen mit der WorshipBewegung eine neue Liedkultur. Viele Studierende der Religionspädagogik kennen kaum noch Choräle oder Neues Geistliches Liedgut, sondern favorisieren diese vornehmlich englischsprachige Liedkultur, deren Texte sich häufig weitab von den theologischen Einsichten bewegen, die sich in den letzten 30 Jahren in der deutschen Gemeindetheologie etabliert haben. Das beginnt bei der Frage nach bestimmten Theologien (z.B. die Alleinherrschaft einer Sühnopfertheologie oder die Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs) und endet bei der Unberührtheit dieser Lieder von Fragestellungen der inclusive language.18 Eine sinnvolle und fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Liedgut künftiger Religionslehrerinnen und -lehrer steht noch aus und hätte zudem die durch die Inklusionsdebatte ausgelösten Fragen nach Leichter Sprache mit aufzugreifen. Popmusik als Herausforderung für die Kirchen umschreibt aber noch einen viel größeren Horizont als die Frage nach dem zeitgenössischen geistlichen Liedgut. Diese Herausforderung wird in Deutschland erst seit den 1990er Jahren wissenschaftlich wahrgenommen.19 Gotthard Fermor20 sieht diese Herausforderung auf drei Ebenen der Popmusik, die durch ihr afroamerikanisches Erbe geprägt sind: 18 Vgl. Hanne Köhler, Gerechte Sprache als Kriterium von Bibelübersetzungen. Von der Entstehung des Begriffs bis zur gegenwärtigen Praxis, Gütersloh 2012. 19 Von evangelischer Seite gab es hier die Pionierarbeiten von Peter Bubmann, Rolf Tischer (Hg.), Pop und Religion. Auf dem Weg zu einer neuen Volksfrömmigkeit? Stuttgart 1992 – Bernd Schwarze, Die Religion der Rock- und Popmusik, Stuttgart u.a. 1997 – Gotthard Fermor, Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche, Stuttgart u.a. 1999. Von katholischer Seite sind hier zu nennen: Ilse Kögler, Die Sehnsucht nach mehr. Rockmusik, Jugend und Religion, Graz u.a. 1994 – Hubert Treml, Spiritualität und Rockmusik. Spurensuche nach einer Spiritualität der Subjekt, Ostfildern 1997. Winfried Dalferth arbeitet diese Fragen für die sog. christliche Popularmusik auf: Christliche Popularmusik als publizistisches Phänomen. Entstehung – Verbreitung – Rezeption, Erlangen 2000. 20 Gotthard Fermor, Das religiöse Erbe in der Popmusik – musik- und religionswissenschaftliche Perspektiven; in: Wolfgang Kabus (Hg.): Popularmusik, Jugendkultur und Kirche, Frankfurt/M. 2000, 33–52.

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1. Popmusik ist zunächst als gesamtkörperlicher Vollzug wahrzunehmen, wobei dem Parameter Rhythmus und mit ihm den Phänomenen Körper, Tanz und Ekstase ein besonderes Gewicht zukommt. Musik vor allem vom Rhythmus her zu denken ist in der westeuropäischen klassischen Musiktradition weniger stark ausgeprägt. 2. Sodann eignet der Popmusik ein starker imaginativer Charakter an, da sie als synästhetisches Ereignis viel mit Bildern arbeitet, etwa mit ihrer Coverart oder in Videos. Dazu gesellen sich bei den Musikhörenden innere Bilder, insofern die Popmusik ständige Lebensbegleiterin ist und unsere Lebensgeschichte musikalisch unterhält. 3. Schließlich geht es immer auch um den geistigen Gehalt der Popmusik, der vor allem in ihren Texten zur Geltung kommt, die mit ihrer lyrischen Qualität und Reduktion der funktionalen Sprachwelt unserer durchrationalisierten und technisierten Welt zuwider läuft und so im Alltag Gegenwelten zu schaffen vermag. Auf allen drei Ebenen ereignet sich implizite Religion, die von den Hörenden also solche auch wahrgenommen werden kann, aber nicht muss. So kann Popmusik in allen Facetten zur Neuen Geistlichen Musik werden.21

2.

Exemplarische Klangräume der Gegenwart

Da Neue Geistliche Musik vor allem ein Gebrauchsphänomen ist, lässt sie sich am besten erkunden, wenn exemplarische Rezeptionen beschrieben werden. Die folgenden Klangräume entstanden alle in jüngster Zeit und lassen als Zusammenhang meine Neue Geistliche Musik erklingen. Mein Sampler folgt der Struktur eines Gottesdienstes. 2.1.

John Cage (1912–1992): Organ2/ASLSP

„As SLow aS Possible“ – mit dieser Tempobezeichnung entstand ASLSP 1985 für Klavier und wurde 1987 für Orgel bearbeitet. 1997 entsteht die Idee, dieses Stück in jener Stadt erklingen zulassen, in der 1361 die erste Großorgel der Welt erbaut wurde: in Halberstadt. 639 Jahre nach diesem Ereignis wurde im Jahr 2000 mit der Aufführung dieses Stücks von John Cage begonnen, das für die nächsten 639 Jahre erklingen soll (vgl. 21 Mittlerweile haben die Kirchen diese Herausforderung ansatzweise angenommen, indem z.B. sog. Popkantoren installiert worden sind und Popmusik in die kirchenmusikalischen Ausbildungsgänge mit aufgenommen wurde.

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www.aslsp.org). Dazu wurde in der renovierten Halberstädter Burchardikirche eine kleine Orgel gebaut, die in den nächsten 600 Jahren weiter ausbaufähig ist und auf der nun seit 2001 der erste Dreiklang kontinuierlich erklingt. Der nächste Klangwechsel wird am 5. September 2020 zu hören sein. Damit dieses Stück gelingen kann, müssen viele Generationen in Frieden zusammen arbeiten. So weist diese Neue Geistliche Musik über unsere eigene Rezeption und Wahrnehmung unserer Welt hinaus und verbindet ästhetische und ethische Fragen auf beeindruckende Weise. 2.2.

Fahir Atakoğlu (*1965): Kyrie Eleyson/… is one

Der in der Türkei berühmte Istanbuler Komponist und Pianist Fahir Atakoğlu beeindruckt mit seiner CD „la luna / as one“ (Taxim Edition 2005). In seinem Vorwort schreibt er: „We all come to this world from a mother’s womb; when we opened our eyes the very first time we were all naked, naive and without a sin. Whatever our color, language or religion may be; we all started this life the same way (…) as one. Let’s give up on our earthly desires to let live love und to live love as one. Whenever we look at each other, let our eyes first see that moment in life when we first opened them (…) so that every moment we live, we should remember our very first breath when we were all as one, to find tolerance and love.“ Theologisch habe ich bei dieser Aussage Bedenken, etwa beim Sündenverständnis. Nach christlichem Verständnis werden wir nicht sündlos geboren, da Sünde keine moralische, also keine erworbene Kategorie ist. Sünde stellt vielmehr den GrundRiss unseres Lebens dar, unsere Entfremdung und unser Nichtidentischsein, weshalb wir uns – phylogenetisch wahrscheinlich aus guten Gründen – auch nicht an unseren ersten Blick erinnern können, der uns diese Fremdheit vermutlich mit traumatisierender Brutalität vor Augen geführt hat. Nichtsdestotrotz erfüllt mich dieses Bekenntnis des Musikers Fahir Atakoğlu mit großem Respekt, denn ich erkenne eine große Wärme und viel Zutrauen darin, was interreligiösen Dialog allererst ermöglicht. Die Sehnsucht nach Einheit kommt bei Atakoğlu als musikalische Theologie der Religionen zur Geltung, wenn er sein Album enden lässt mit dem Song „Kyrie Eleyson/... is one“. Diesem Stück liegt ein von der Libanesin Fadia El Hage (*1962) vorgetragener Gesang der griechisch-orthodoxen Liturgie zu Grunde, den Atakoğlu als „Traditional“ bezeichnet, an dessen Ende der Ruf des Muezzin mit einstimmt. So macht Atakoğlu musikotheologisch auf eine bis heute schwelende Wunde des traditionell multireligiösen Istanbul aufmerksam.

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2.3.

Hans-Jürgen Netz (*1954)/Christoph Lehmann (*1947): Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt

Der Sozialpädagoge Hans-Jürgen Netz schreibt seit über 40 Jahren beeindruckende lyrische Texte, die zumeist als sog. Neue Geistliche Lieder vertont werden. Das Lied stammt aus seiner Zusammenarbeit mit dem Kirchenmusiker Christoph Lehmann, dessen frische Melodien sich auch nach mehrfachem Singen nicht müde singen. Der 1947 in Peking geborene Lehmann arbeitet seit 1985 als Organist und Cembalist fast ausschließlich im Bereich Alte Musik. In ihrem 1979 entstanden Lied, das in fast allen regionalen Anhängen zum EG zu finden ist, wird Gott mit trinitarischem Anklang als Rettender, als Wegweisender sowie als Tröstender gelobt. Dabei wird der himmlische Lobgesang der Engel in der Weihnachtsgeschichte zum menschlichen Lobpreis und zur Friedensbitte transformiert – eine beeindruckende zeitgenössische theologische Lesart des liturgischen Gloria. 2.4.

Sarah Kaiser (*1974): Geistesgegenwart

Die Jazz- und Bluessängerin Sarah Kaiser bringt 2007 die CD Geistesgegenwart heraus als Nachfolgeprojekt zur Paul-Gerhardt-CD „Gast auf Erden“ (2003), mit der Sarah Kaiser 2004 den jährlichen Künstlerpreis der Promikon-Musikmesse gewann. Sarah Kaiser gehört zu den wichtigsten Künstlerinnen der missionarischen Musikszene, die mit der Promikon Musikmesse einen wichtigen Distributionsort für christliche Popmusik betreibt. Der Name Promikon steht für „Projekt für missionarische Konzertarbeit“. Ziel ist es, Veranstalter und Künstler der christlichen Popmusikszene zusammenzubringen. In Sarah Kaisers Choralversionen geht es nicht um eine andere, z.B. verjazzte Begleitung dieser Choräle, sondern um äußerst gelungene Transformationen von Chorälen in Jazzstücke. So lassen Kaisers Arrangements die Choralklassiker von Paul Gerhardt, Johann Crüger, Joachim Neander, Friedrich Spee, Matthias Claudius u.a. neu für unsere Zeit erklingen. Sie sind Auslegungen im besten Sinne. 2.5.

Peter Steinlechner (*1953): Sollt’ halt net so bleib’n

Die Zillertaler Schürzenjäger, ab 1996 nur noch Schürzenjäger, gehörten zu den erfolgreichsten Musikgruppen Österreichs. Gegründet wurden sie 1973, u.a. von Peter Steinlechner und bestanden bis 2007. Als 1992 die Frau des Bandleaders Peter Steinlechner mit knapp 40 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes stirbt, bringt er 1993 das Lied auf den Markt: „Jeden Herz-

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schlag wert“, 1995 gefolgt von „Sollt’ halt net so bleib’n“, in dem der Schmerz des Sängers musikalisch auf beeindruckende Weise als kleiner Jodler hörbar wird. 10 Jahre nach dem Tod seiner Frau singt Steinlechner zusammen mit seiner Tochter „Manches geht niemals vorüber“. Was Carmen Berger-Zell in ihrer Paderborn Dissertation über Trauerleibsorge22 deutlich gemacht hat, vollziehen die Schürzenjäger für ihre Fangemeinde musikalisch: Trauern ist kein Prozess, der irgendwann abgeschlossen sein muss, damit wir wieder ins Leben zurück kehren können. Trauern ist vielmehr ein lebenslanger Prozess mit unterschiedlichen Facetten. 2.6.

Naji Hakim (*1955): Aalaikki’ssalaam

Der in Beirut geborene Naji Hakim lebt seit den 1970er Jahren in Paris. 1985 tritt er die Organistenstelle an Sacre Coeur an, 1993 als Nachfolger von Olivier Messiaen (1908–1992) an La Trinité. Hakim spielt Messiaens komplette Orgelkompositionen auf CD ein. Daneben komponiert er mehrere Messen sowie Orgel- und Kammermusik-Variationen, u.a. zu „Ein feste Burg“ (2006), „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (2008) und „Amazing Grace“ (2009). Seit 2009 lebt er als freischaffender Komponist. Als Reaktion auf den Libanonkrieg im Sommer 2006 komponiert er das Orgelstück „Aalaiki’ssalaam – Variationen über ein libanesisches Thema“, das er 2010 für Klavier transkribiert (Edition Schott), so dass es auch außerhalb von Kirchen gespielt werden kann. Hakims Kompositionsstil vereint nahezu alle französischen Musikstile des 20. Jh. und verleiht seiner Musik daher oft einen leichten Charakter. So versteht Hakim es, mit seiner Unterhaltungsmusik für viele Menschen einen Zugang auch zum Schweren zu eröffnen. 2.7.

Bernhard König (*1967): Trimum

Die Musik des Komponisten, Autors und Interaktionskünstlers Bernhard König, der u.a. bei Mauricio Kagel studiert hat, ist geprägt von der „Neuen Musik“ des 20. Jahrhunderts. Im Fortgang autonomer Musiktheorien versteht König Musik konsequent als experimentelle Gebrauchsmusik, die auch außerhalb des Konzertsaals gespielt und gebraucht wird. Musik kennt kein an und für sich, sondern geschieht von Menschen in sozialen Zusammen22 Carmen Berger-Zell, Abwesend und doch präsent. Wandlungen der Trauerkultur in Deutschland, Neukirchen-Vluyn 2013.

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hängen. So entwickelte König mehrere Projekte, z.B. das Projekt Accompagnato mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, der Sonderpädagogischen Fakultät der PH Ludwigsburg/Reutlingen sowie geistig behinderten Menschen, die König 2008 zu einem gemeinsamen Kompositionsprozess anregte, der in einem beeindruckenden Konzert endete (www.schraege-musik.de). Zusammen mit der Internationalen Bachakademie Stuttgart konzipiert und verantwortet König seit 2012 das Musikprojekt Trimum (dreijährig), das drei Jahre dauern soll. Trimum lotet die Möglichkeiten und Grenzen der Musik als interreligiöser Begegnung zwischen Muslimen, Christen und Juden aus. Innerhalb von drei Jahren werden Fragen erkundet: Welche Rolle kann die Musik bei diesem Zusammenleben dabei spielen? Kann sie dazu beitragen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen? Kann sie helfen, den gegenseitigen Respekt und das gegenseitige Wissen zu vergrößern? Kann sie vielleicht sogar neue Begegnungen und Freundschaften anstiften? Das Jahr 2012 stand unter der Frage: Wie klingt, was du glaubst? Menschen aller drei Religionen haben sich gegenseitig ihre Musiken vorgestellt und sich und anderen gezeigt, wie vielfältig und tief ihr Glauben klingt. Dabei kamen auch der Reichtum und die Unterschiede innerhalb der einzelnen Religionen zum Klingen. Das Projekt wurde von einem wissenschaftlichen Symposium begleitet, bei dem Musiker und Theologen aller drei Religionen die sakrale Musik ihrer Traditionen komparativ wahrgenommen haben. Das Jahr 2013 war geprägt von der Frage: Miteinander singen? Neunmal fand ein interreligiöses Chorlabor statt, in dem anhand unterschiedlicher Konstellationen ausprobiert wurde, ob und wie gemeinsames Singen möglich ist oder werden kann. In den Universitäten Tübingen und Paderborn fand jeweils eine Librettowerkstatt statt für eine Komposition. 2014 ist das Projekt Trimum in eine neue, entscheidende Phase eingetreten: Jüdische, christliche und muslimische Musiker, Theologen und Wissenschaftler haben sich auf die Suche nach einer eigenständigen „Musik des Trialogs“ begeben. Können wir über die Grenzen der Religionen hinweg miteinander singen? Können wir gemeinsam die Vielfalt und den Reichtum unserer sakralen musikalischen Traditionen feiern? Wie muss eine Musik beschaffen sein, die den Sinn für das Unverwechselbare jeder einzelnen Religion schärft und dennoch offen und einladend für Andersgläubige ist? Mit all diesen Fragen betritt Trimum unerforschtes Neuland – eine vergleichbar intensive religionsübergreifende Zusammenarbeit von Musikerinnen und Musikern, Religionspädagoginnen und Komponisten, Theologen und Kantorinnen hat es hierzulande bisher noch nicht gegeben. Es ist zu hoffen, dass dieses Projekt mit einer Aufführung auf dem Stuttgarter Kir-

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chentag 2015 zu einem für die Öffentlichkeit deutlich vernehmbaren Klangereignis wird.

3.

Offenohrigkeit

Während die Milieutheorie mit guten Gründen auf unüberbrückbare Differenzen zwischen den unterschiedlichen Musikkulturen aufmerksam macht,23 ist mein Cross-Over auf einen Zusammenklang aus mit dem Ziel, Offenohrigkeit (religions-)pädagogisch zu fordern und zu fördern. Dieses pädagogische Ziel kann nur gelingen, wenn die Erkenntnisse der Milieutheorie nicht übersprungen werden, sondern den Menschen, welche die Milieutheorie versucht differenziert wahrzunehmen, ein offenes Ohr geschenkt wird – auch und gerade in ihren Abgrenzungen, Vorlieben und Geschmäckern. Musikpsychologisch lässt sich zeigen, dass Menschen offenohrig geboren werden und diese Offenohrigkeit bis zum 8.–10. Lebensjahr beibehalten.24 Kinder lieben nahezu alle Musik, wenn sie ihnen mit Begeisterung nahegebracht wird. Erst in der 3. Klasse etwa beginnen die meisten Kinder, nur noch Popmusik gut zu finden. Dieser Zustand kann sich mit dem Erreichen der Adoleszenz wieder ändern, aber nur dann, wenn die Person in ihrer Kindheit eine Vielzahl von unterschiedlichen Musiken kennen und schätzen gelernt hat. Wer als Kind nur in einer bestimmten Musikkultur groß geworden ist, hat es schwer, als Erwachsener seine (musikalische) Offenohrigkeit zu entdecken und zu genießen. Religionspädagogisch ist es daher von großer Wichtigkeit, dass Neue Geistliche Musik in ihrer Vielfalt zum Klingen gebracht wird, wobei das eigene Singen25 und Musik-Spielen ebenso wichtig sind wie das gemeinsame Musik-Hören und -Reflektieren.26

23 Zurecht macht die kirchliche Milieuforschung darauf aufmerksam, dass Musik als wichtigstes Abgrenzungsmittel zwischen den Milieus fungiert, was sich selbstverständlich auch auf die jeweilige geistliche Musik der Milieus auswirkt; vgl. Claudia Schulz, Eberhard Hauschildt, Eike Kohler, Milieus praktisch, Göttingen 2008. 24 Vgl. Gabriele Schellberg, Heiner Gembris, Was Grundschulkinder (nicht) hören wollen. Eine neue Studie über Musikpräferenzen in der 1. bis 4. Klasse, in: Musik in der Grundschule 2003, Heft 4, 48–52. 25 Vgl. Klaus Danzeglocke u.a. (Hg. i.A. der Liturgischen Konferenz), Singen im Gottesdienst. Ergebnisse und Deutungen einer empirischen Untersuchung in evangelischen Gemeinden, Gütersloh 2011. 26 Vgl. Peter Bubmann, Michael Landgraf (Hg.), Musik in Schule und Gemeinde, Stuttgart 2006.

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Abstract Coming from a broad understanding of music as formed sound, this article sketches the differentiation of musics since the Renaissance through the keywords popular music and pop music. It places particular emphasis on the technological revolutions of the last 200 years. (New) sacred music is understood primarily as a phenomenon of reception and usage. Using examples from the avant-garde, jazz, new sacred song, pop songs as well as interreligious music the broad spectrum of new sacred music is presented. Finally, the article advocates “open-earedness” as a religious educational approach.

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Impulse für die Praxis

Musik und Bibel in religionspädagogischen Praxisfeldern Heike Lindner Der folgende Beitrag geht von Praxisfeldern in schulischen und gemeindepädagogischen Kontexten aus. Musik in Verbindung mit Bibel und Theologie stellt ein großes Potenzial in Bezug auf die Traditionsvermittlung im Sinne einer Traditionsaneignung bereit. Dabei gehe ich von den Lehrenden und Lernenden als interessierte Musiklaien ohne Vorkenntnisse aus. Die Musikbeispiele sind alle unter der Voraussetzung biblischer Bezüge ausgewählt. Der Mehrwert, den Musik für die Arbeit mit der Bibel haben kann, lässt sich auf vier Ebenen darstellen, die ich mit Musik hören – Musik machen – mit Musik gestalten und Musik verstehen bezeichne.1 Musikkenntnisse entwickeln sich am besten dadurch, indem man Musik praktisch erfährt, daher nimmt der zweite Teil den größten Raum ein. Fides ex auditu, diesen Grundsatz vertritt Martin Luther in seiner Musiktheologie, die im WortTon-Verhältnis den Ton dem Wort unterordnet. Die Funktion der Musik in der Vermittlungsarbeit des Evangeliums hat Luther vor allem in fünf Funktionen zusammengefasst2: 1. Der Glaube kommt aus dem Gehörten: „Die Wunder, die sich unseren Augen darbieten, sind viel geringer als die Wunder, die wir mit den Ohren wahrnehmen“.3 2. Die Musik ist Geschöpf Gottes. Sie ist von Anfang an mitgeschaffen und allen Kreaturen eingepflanzt.4 3. „Kreatur ist immer auch ‚äußere‘, ‚leibliche‘ Kreatur, daher bejaht Luther auch die Klangsinnlichkeit der Musik“.5 1

2 3 4

Diese vier Ebenen habe ich umfangreich in meinem Buch entfaltet: Heike Lindner, Musik für den Religionsunterricht. Praxis- und kompetenzorientierte Entfaltungen, Göttingen 2014. Oskar Söhngen, Theologie der Musik, Kassel 1967, 82 ff. O. Söhngen, 82. Ebd.

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DOI 10.2364/3846999714

4. Musik hat von Gott eine Schöpfungsbestimmung, die Luther so beschreibt: „Ich liebe die Musik (…), weil sie − ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen ist, − weil sie die Seelen fröhlich macht, − weil sie den Teufel verjagt, − weil sie unschuldige Freude weckt (…), − weil sie in der Zeit des Friedens herrscht.“6 5. Die Musik tritt in den Dienst des Evangeliums.7 Vieles von dem, was Luther hier beschreibt, ist uns auch heute bekannt, so vor allem die emotionale und die psychohygienische Wirkung von Musik für den Menschen. Auch wenn wir heute theologisch – spätestens seit den Erkenntnissen rund um die semiotische Funktion von Symbolen und Metaphern in der Sprache – den Gedanken des sola scriptura nicht mehr so absolut setzen, verweist uns das reformatorische Erbe immer wieder zurecht auf das Woraufhin der musikalischen Sprache, wenn es um biblische Vertonungen geht. Wird der Vermittlungskontext im kompetenzorientierten Bildungsbegriff zu einer Ermöglichungsdidaktik ausgestaltet, dann können sich Lernende Musik selbsttätig aneignen; denn „jeder Mensch ist religiösmusikalisch, es kommt nur auf den Kontext an, in dem sich Musik religiös ereignet“.8

1.

Musik hören

Musik hört der Mensch ganz unterschiedlich und situationsabhängig, das kann auf meditative, assoziative, analytische Weise geschehen, aber auch ganz nebenbei, wenn Musik im Hintergrund läuft. Die Allverfügbarkeit digital aufgenommener Musik hat das Hören verändert, oft erscheint uns die eigene Singstimme fremd und unbekannt zu sein, vor allem, wenn man sie 5 6 7

8

A.a.O., 86. A.a.O., 87. A.a.O., 91. Mehr zur Musikauffassung Martin Luthers bei Heike Lindner, Musik im Religionsunterricht. Mit didaktischen Entfaltungen und Beispielen für die Schulpraxis (Symbol – Mythos – Medien 9), 2. Aufl., Berlin 2009, 125 ff. Heike Lindner, Musik für den Religionsunterricht, 7. Hier spiele ich auf die Äußerung von Jürgen Habermas an, die er zum Gedanken der Ebenbildlichkeit des Menschen so formulierte: „Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann, in: Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a.M. 2001, 30.

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aufgezeichnet abhört. Das tiefe Hineinhören in ein Stück muss wieder geübt werden, um sich Hörwirkungen und eigene Höreinstellungen bewusst zu machen. Letztlich dient das auch der Schulung der Wahrnehmungskompetenz als erster Stufe für ein selbstständiges Aneignen von Musik. Mit dem Lied Vater unser, Vater im Himmel (EG 188)9 unter Anwendung einer bestimmten Methode kann aktives Hören eingeübt werden. Zunächst ist es lieddidaktisch sinnvoll, die Melodiezeilen im Call-Response-Verfahren einzuüben: Eine Gruppe singt die durchlaufenden Textzeilen, die andere antwortet mit der wiederholten Zeile „Geheiligt werde dein Name“. Diese Singform hat auch den Vorteil, dass die Gruppe, die den Response-Teil hat (hier lediglich eine leichte Drei-Ton-Folge aufwärts und wieder abwärts), sich auf die Melodie des Vorsängers konzentrieren kann. Um sich bewusst zu machen, wie das Lied klingt, wird mit der Methode des Polaritätsprofils10 eine Hörkurve für jeden einzelnen Teilnehmer im ersten Hördurchgang angelegt, dazu kreuzt man auf einer siebenstufigen Skala den Grad des Höreindrucks zwischen zwei gegensätzlichen Eigenschaften an11:

Abb. 1: Beispiel einer siebenstufigen Skalierung im Polaritätsprofil

Legt man mehrere Gegensatzpaare untereinander, so ergibt sich eine individuelle Hörkurve für die verschiedenen Ausdrucksbereiche dieses Liedes (durchgezogene Linie), die so aussehen könnte:

9

Alle Liedbeispiele sind dem Evangelischen Gesangbuch entnommen: Evangelisches Gesangbuch für die Evangelische Landeskirche in Baden, 3. Aufl., Karlsruhe 1999. 10 Zum Polaritätsprofil in der Musik vgl. Helmuth Hopf, Walter Heise, Siegmund Helms, Lexikon der Musikpädagogik, Regensburg 1984. 11 H. Lindner, Musik für den Religionsunterricht, 34.

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Abb. 2: Beispiel für eine Hörkurve der Ausdrucksbereiche zum Lied Vater Unser, Vater im Himmel (EG 188) im Polaritätsprofil (durchgezogene Linie) und für eine zweite Hörkurve der Fassung von E Nomine (gepunktete Linie).

Dasselbe Verfahren angewandt auf die Vater-Unser-Vertonung der Gruppe von E Nomine12 zeigt einen ganz anderen Kurvenverlauf, der hier mit der gepunkteten Linie dargestellt ist: Im unmittelbaren Vergleich beider Fassungen verschiebt sich der eher positive Gesamteindruck des Kirchenliedes bei der Techno-Version im Polaritätsprofil mehr nach links. Ein anderes Verfahren zur Hörschulung bietet die Hörskizze. Gehörtes kann zeichnerisch festgehalten werden, um die Struktur der Musik zu erfassen und Auffälligkeiten im Stück zu memorieren. Dazu wähle ich ein Instrumentalstück des zeitgenössischen Komponisten Arvo Pärt Cantus in memoriam Benjamin Britten, das anlässlich des Todes seines Freundes geschrieben wurde. Das Stück ist sehr meditativ angelegt. Über einem zehnstimmigen Streichersatz, der in lang angehaltenen proportional zueinander liegenden Notenwerten abwärts schreitet, erklingt in langen Abständen ein 12 E Nomine, Vater Unser, Album: Das Testament 1999.

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Glockenton. Hört man dieses Stück zum ersten Mal, werden Themen assoziiert, die mit Trauer, Tod, Ewigkeit in Verbindung gebracht werden können.13 Eine Hörskizze hält spontan den gesamten Höreindruck in einer Zeichnung fest, die hilft, die Musik anschließend zu beschreiben:

Abb. 3: Hörskizze zu Cantus in memoriam von Arvo Pärt mit den Glockenschlägen und den abwärts steigenden Streicherstimmen

Eine solche Schreibmethode kann helfen, das Stück meditativ und verinnerlicht zu erleben. Eine andere Möglichkeit besteht darin, ein passendes Bild zu dieser Musik auszuwählen, das beim Hören angeschaut werden kann. Paul Klee hat 1936 Das Tor zur Tiefe gemalt, das der Betrachter in seiner interessanten Farbgebung und räumlichen Aufteilung mit Hilfe der Musik von Pärt erwandern kann. Dieses Verfahren ist angesichts heutiger visueller Reizüberflutung in vielen pädagogischen Kontexten angesagt; denn gutes Zuhören muss wieder geübt werden und da helfen bildnerische Ebenen, um die auditive Wahrnehmung durchzuhalten.14 Ein modernes Vergleichsbeispiel aus der Popmusik ist das Lied Tears in Heaven von Eric Clapton, das sich hier ebenfalls anbieten würde. Der Liedvergleich stellt eine Methode dar, unter einem gleich bleibenden Thema unterschiedliche musikalische Umsetzungen miteinander in Beziehung zu setzen, was sich auch auf das differenzierte Hören auswirkt. Bei den beiden Beispielen von Britten und von Clapton ist der Entstehensanlass ihrer Musik der Tod eines nahestehenden Menschen.

13 Der Musikproduzent Manfred Eicher hat dies so beschrieben: „Was mich an dieser Musik berührte, war die Klarheit, der ganz direkte Weg aufs Ohr und auf den Kopf zu. Eine Dramatik des Leisen, die für mich wieder einen Zusammenhang ergeben hat mit dem Satz (…): ‚The most beautiful sound next to silence.‘“ (Cover-Booklet zur CD ECM New Series ECM 1405, 17.) 14 Ein solches Verfahren macht sich auch die Methode der Fantasiereise zunutze, welche Bild, gesprochenes Wort und leise Hintergrundmusik miteinander verbindet. Vgl. zu diesem Thema: Elke Hirsch, Meditieren und Stille erfahren, in: Ulrike Baumann (Hg.), Religionsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2007, 102–117.

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2.

Musik machen

Das Hören wird am besten gefördert, indem man selbst Musik macht. Das erste körpereigene Instrument ist die menschliche Stimme. Der beste Einstieg für ungeübte Sänger ist der Sprechrhythmus, der sich gerade auch für pubertierende Klassen als Rap anbietet. Wird dazu noch ein aussagekräftiger Bibeltext in der Lutherübersetzung gewählt, ergibt sich der Sprechrhythmus – in einer individuellen Rap-Übertragung – von ganz allein (die betonten Silben tragen einen Akzent):

Abb. 4: Rap nach Gen 41, 1–4 Josef deutet die Träume des Pharao

Dieser gerappte Text kann mit folgendem Rhythmus für jeweils zwei Sprechstimmen, die ein Schlagzeug imitieren, unterlegt werden:

Abb. 5: Rap mit zwei Sprechrhythmen zu Gen 41, 1–4

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Körpereigene Instrumente werden auch über das Verfahren der Bodypercussion15 zum Klingen gebracht. Dazu wird zunächst rhythmisch auf die Unterschenkel, die Knie, die Oberschenkel, den Bauch, die Brustoberseite, die Oberarme und die Wangen und das Ganze wieder umgekehrt geschlagen. Mit diesem Warming Up wird nicht nur der Kreislauf angeregt, sondern es entstehen vor allem in der Gruppe interessante Klänge im Raum. Das Schöpfungslied Laudato Si (EG 515) kann mit Hilfe der Bodypercussion wunderbar begleitet werden, indem die lateinamerikanischen Rhythmen imitiert werden.16 Die Schritte zum Einüben erfolgen über 1. laut vorzählen 1 – 2 – 3 – 4 (Metrum) 2. der Text von laudato si wird zunächst rhythmisch in diesem Metrum gesprochen, das Metrum kann dabei unterstützend durchgeklopft werden 3. nun kommen die Melodietöne dazu 4. für den Maracas-Rhythmus beginnt man mit der rechten Hand auf dem rechten Oberschenkel (mit Akzent auf die Zählzeit 1) im Wechsel mit der linken Hand auf den linken Oberschenkel (gleichmäßig schlagen!) 5. Die Conga wird imitiert, indem mit der rechten Hand beginnend (mit Akzent auf der Zählzeit 1) abwechselnd mit der linken auf den rechten Oberschenkel die Zählzeiten 1-3 durchgeschlagen werden, der Wechsel auf den linken Oberschenkel erfolgt mit der rechten Hand (mit Akzent auf Zählzeit 4) 6. Für die Guiro reibt man mit der rechten Hand den linken Arm entlang und fügt zwei Klatscher hinzu (jeweils auf der Zählzeit 1 und 2 und 3 und 4) 7. Die Claves übt man am besten zunächst sprachlich ein, indem man die Silben der folgenden Worte gleichmäßig, aber betont spricht: > > > > > > Pa-na-ma Pa-na-ma Cu-ba Pa-na-ma Pa-na-ma Cu-ba Dieser Sprechrhythmus kann beibehalten und/oder ergänzt werden durch das Schnipsen auf den jeweiligen gedachten Akzent-Silben. Zusammengesetzt sieht das Ganze in einer grafischen Partitur so aus: 15 Die Bodypercussion kann auch durch Schnipsen, Klopfen, Reiben mit ausgestreckter oder gefausteter Hand durchgeführt werden, sie ahmt Schlaginstrumente mit dem unterschiedlichen Klang der Gliedmaßen nach. Dabei lassen sich die Resonanzräume des Körpers erproben. 16 Einen sehr guten Überblick über die hier erwähnten Instrumente und ihre Spielweise findet man im Schulbuch von Walther Engel (Hg.), Soundcheck, Bd. 1, Braunschweig 2012, 30 ff.

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Abb. 6: Vierstimmige Bodypercussion für die Takte 1 und 2 zum Lied Laudato Si (EG 515)

Für das Einüben von Liedern a capella (d.h. ohne jegliche Begleitinstrumente) und ohne Notentext empfiehlt sich auf jeden Fall das learning by heart (das Auswendiglernen); denn für Laien lenken Noten vom Eigentlichen der Musik eher ab, als dass sie für das Erlernen zuträglich sind. Dazu kann man mit Mimik und Gestik Wörter des Textes darstellen, sodass der Text körperlich erfahrbar wird:

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Danke für diesen guten Morgen,

„Danke“ Händeschütteln – „Morgen“ aufgehende Sonne darstellen, beide Hände mit Handteller nach oben nebeneinander halten, langsam nach oben und auseinander bewegen

danke für jeden neuen Tag.

„Danke“ Händeschütteln – „Tag“ Kreisbewegung für die Mittagssonne

Danke, dass ich all meine Sorgen

„Danke“ Händeschütteln – „Sorgen“ Stirnrunzeln

auf dich werfen mag.

„Danke“ Händeschütteln

Abb. 7: Erste Strophe mit Gesten zu Schlüsselwörtern des Melodietextes zu Danke für diesen guten Morgen (EG 334)

Das Lied wird auf diese Weise in jeweils zwei Zeilen wiederholend einstudiert. Als weiteres Liedbeispiel für diese Methode empfiehlt sich das Lied He’s got the whole world in his hands. Auch hier gibt es zahlreiche Schlüsselwörter, die mit Gesten ausgestaltet werden können. Den schöpfungstheologischen Kontext erschließt es inhaltlich genauso gut wie das vorhin vorgestellt Laudato Si. Soll der Übergang in die Mehrstimmigkeit erfolgen, bieten sich natürlich hervorragend Kanons an, wie beispielsweise in der leichten dreistimmigen Version von Vater unser im Himmel (EG 630). Dieser polyphonen Satzweise zu folgen, fällt Laien leichter als in den homophonen Sätzen die eigene Stimme herauszuhören. Für die letzte Gruppe kann man gut Taizé-Lieder auswählen, wie das bekannte Kyrie (EG 178.12) oder das Laudate omnes gentes (EG 181.6). Die Schritte für das Einüben sind: 1. ansummen des ersten Melodietons, 2. einzählen im Metrum, 3. vorsingen der ersten drei (für EG 178.12) bzw. vier Takte (für EG 181.6) auf Text und gleichzeitiges Anzeigen des Tonhöhenverlaufs in Gesten, 4. die Gruppe singt vier Takte nach, 5. evtl. Korrektur und nochmaliges Singen der ersten vier Takte, 6. für die nächsten drei bzw. vier Takte folgen Schritte 3. und 4. 7. je nach Memorierfähigkeit der Gruppe können diese beiden mehrtaktigen Übephrasen nun an einem Stück auf Text gesungen werden. Anschließend folgen diese Schritte jeweils einstimmig nur mit der zweiten Stimme, dann mit der dritten und schließlich mit der Unterstimme. Im Evangelischen Gesangbuch gibt es auch zahlreiche Erzähllieder, die biblische Themen narrativ aufbereitet haben. Hier fällt es nicht schwer den

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Plot pantomimisch im Rollenspiel während des Singens der Strophen darzustellen17: Gesungener Liedtext mit Bezugsstellen

Pantomime in mehreren Kleingruppen (KG mit Kindern) nach der Rollenverteilung

1. Zwischen Jericho und Jerusalem liegt der Weg der Barmherzigkeit.

KG (1) Vor dem Körper beginnend mit flacher Hand einen geschlungenen Weg darstellen. Die Hände anschließend wie beim Segen auf den Kopf des Nachbarn legen. Mit der Hand den steilen Weg nach oben anzeigen – geballte Fäuste vor dem Kör-per und runden Rücken, Hände auflegen. KG (2) Mehrere Kinder umringen ein Kind, deuten Bedrohungsgesten an und ziehen sich wieder zurück. Das Kind fällt hin und bewegt sich nicht mehr. Es nimmt die Hände trichterartig vor den Mund und deutet rufen und schreien an.

Er ist steil und mühsam und unbequem, dieser Weg der Barmherzigkeit.

Da hat eine Räuberbande einen Mann umstellt und bedroht, bald lag er am Straßenrande, geschlagen, beraubt und halbtot. Hört, wie er schreit auf dem Weg der Barmherzigkeit! 2. Da kam ein Priester geschritten auf dem Weg der Barmherzigkeit.

Und dann einer von den Leviten auf dem Weg der Barmherzigkeit.

Sie konnten nicht länger verweilen, der Mann tat ihnen zwar Leid, doch sie mussten zum Tempeldienst eilen, und der Tem-

KG (1) bewegt sich wie in der 1. Strophe, der Priester tritt auf mit gleichmäßigen Schritten, bleibt kurz vor dem Verletzten stehen, dann schaut er auf seine Hände, schüttelt den Kopf. Der Levit tritt auf mit gleichmäßigen Schritten, Bewegung, als ob er beim Gehen liest, bleibt kurz vor dem Verletzten stehen, dann schaut er auf seine Hände, schüttelt den Kopf. Beide schauen nochmals bedauernd auf den Verletzten und eilen davon, jeder in dieselbe Richtung.

17 H. Lindner, a.a.O., 87 f. Ein weiteres schönes Beispiel, das auch mit Instrumenten verklanglicht werden kann, ist das Erzähllied Abraham, Abraham, verlass dein Land und deinen Stamm (EG 311). Hier kann man wie in der Hörspieltechnik Textelemente mit selbst produzierten Geräuschen und Klängen hinterlegen.

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pel, der Tempel war weit. Hat keiner Zeit auf dem Weg der Barmherzigkeit?

KG (1) Die Kinder wenden sich auf die virtuelle Armbanduhr tippend einander fragend (Hände zeigen nach oben) und schulterzuckend zu.

3. Doch die Hilfe war gar nicht ferne auf dem Weg der Barmherzigkeit.

KG (1) Vor dem Körper beginnend mit fla-cher Hand einen geschlungenen Weg dar-stellen und legen die Hände anschliessend wie beim Segen auf den Kopf des Nachbarn. Barmherziger Samariter tritt auf, beugt sich zum Verletzten hinunter, versorgt ihm seine Wunden, zieht den Verletzten vorsichtig hoch, legt den Arm des Verletzten um sich und geht langsam mit ihm fort. Währenddessen: KG (1) deutet das Auslachen pantomimisch an und zeigt auf den Samariter. Der Samariter kümmert sich nicht darum und geht mit dem Verletzten langsam des Weges

Denn einer kam, der half gerne auf dem Weg der Barmherzigkeit.

Ob die anderen ihn auch verlachten, weil er ein Samariter war, ihn kümmerte nicht, was sie dachten, er machte Barmherzigkeit wahr. Er war schon weit auf dem Weg der Barmherzigkeit. 4. Zwischen Lebensanfang und -ende liegt der Weg der Barmherzigkeit.

Und man braucht bereite Hände auf dem Weg der Barmherzigkeit. Sag, willst du vorübergehen? Sag, lässt du den andern allein? Sag, willst du die Not nicht sehen? Wem kannst du der Nächste sein? Komm, sei bereit, geh den Weg der Barmherzigkeit.

Mit beiden Armen parallel einen großen Halbkreis vor dem Körper ausführen – den geschlungenen Weg darstellen – die segnenden Hände auflegen. Den Nachbarn an den Händen fassen, die Hände abrupt loslassen und sich abwenden vom Nachbarn, die Hand vor die Augen nehmen, in einen Halbkreis aufstellen und einem virtuellen Gegenüber die Hand geben und Segensgeste zum Abschluss.

Abb. 8: Regiebuch für Pantomimen und Rollenspiel zum Erzähllied Zwischen Jericho und Jerusalem (EG 658)

3.

Mit Musik gestalten

Die visuelle und die auditive Ebene werden nirgendwo so eng verzahnt wie im Tonfilm. Jesusfilme haben bereits ein unabhängiges Genre geschaffen

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und stellen eine Fundgrube für Musikgestaltung dar.18 Um selbst mit Musik und Film aktiv arbeiten zu können, bietet sich sehr gut der Film Das 1. Evangelium – Matthäus von Pier Paolo Pasolini (schwarzweiß, Italien 1964) an. Pasolini arbeitet ganz zurückhaltend, fast puristisch mit filmischen Mitteln dicht am biblischen Originaltext und lässt vor allem das gesprochene Wort wirken. Die Salbungsszene (Mt 26, 6–13) eignet sich aufgrund der ruhigen Kameraführung und der kaum vorhandenen Hintergrundgeräusche – sowohl im Bildton, als auch im Fremdton19 – für eine selbst durchgeführte Vertonung. Dieselbe Szene kann durch die Wahl der Filmmusik eine ganz unterschiedliche Aussage erhalten; denn Filmmusik kann folgende Funktionen übernehmen: Sie kann … − illustrieren, − zitieren, − imitieren, − kommentieren, − akzentuieren, − verfremden und parodieren, − syntaktisieren, − interpretieren, − emotionalisieren, − dramatisieren, − paraphrasieren − etc. Gut eingeübte Gruppen setzen ihre Vertonung durch selbst gewählte Instrumente um, Anfänger können fertige Musik kompilierend der jeweiligen Szene zuordnen. Dazu fertigt man sich zunächst ein Regiebuch an, das die Inhalte und die Dauer (in Filmminuten und -sekunden) der Szenenfolgen mit den Regieanweisungen, das gesprochene Wort der Darsteller, die Schnitte und die Kameraeinstellungen festhält. Dann überlegt man sich am besten, wie der Ausdruck der Filmmusik analog zur gewählten Funktion

18 Die Internetadresse http://www.ekd.de/medien/film/passionchristi/filme.html (gelesen 01.03.2014) stellt Kurzkommentare bereit zu Ben Hur, Regie Fred Niblo (USA 1924– 1926), König der Könige, Regie Nicholas Ray (USA 1960), Das 1. Evangelium Matthäus, Regie Pier Paolo Pasolini (Italien 1964), Monty Python’s Das Leben des Brian, Regie Terry Jones (Großbritannien 1979), Die letzte Versuchung Christi, Regie Martin Scorsese (USA 1988). 19 Bildton ist der Ton, der in und durch die Szene im Bild erzeugt wird, mit Fremdton wird der von außen kommende Ton, wie z.B. die Filmmusik, bezeichnet.

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(s.o.) sein soll und sucht dazu die passende Musik aus, die entsprechend der Szene zugeschnitten wird.20 Zum Thema Zeit – Umgang mit der Zeit stellt Pred 3, 1–11 den Klassiker unter den Bibeltexten dar. Als Einstieg in ein Projekt zur Verklanglichung dieses Textes in einer Eigenproduktion dient das Lied Weg da von Herman von Veen, das den funktionalen Umgang mit der Zeit vorstellt: Schnell weg da, weg da, weg macht Platz sonst gibt’s nur Streit wir sind spät dran und haben keine Zeit schnell weg da, weg da, weg es tut uns furchtbar Leid wir schaffen’s kaum der Weg ist da noch weit Wir müssen rennen, springen, fliegen, tauchen, hinfallen und gleich wieder aufstehn wir dürfen keine Zeit verlieren können hier nicht stehn, wir müssen gehen … Herman van Veen: Weg da (1977), 1. Teil Als zweites Musikbeispiel dient das Stück Organ2 / ASLSP von John Cage (1987), das in Haberstadt seit dem Jahr 2000 aufgeführt und noch 639 Jahre andauern wird. Diese Komposition stellt die ewige Zeit klanglich dar: „Der Klangwechsel im Geburtstagsjahr von John Cage war ein klanglicher Höhepunkt des Halberstädter Cage-Konzertes: Nur zwei Töne – die beiden bisher tiefsten Töne C und Des – sind seit dem 5. Juli 2012 in der Burchardi-Kirche zu hören. Sie begleiten den ersten Teil der Aufführung über weite Strecken. Das C erklingt insgesamt 36 Jahre lang (bis zum 5.10.2047) und das Des sogar fast 60 Jahre (bis zum 5.3.2071). Die hohen Töne a‘, c‘‘ und fis‘‘ verabschiedeten sich nach sechseinhalb Jahren Tondauer für unterschiedliche Zeitdauern: a‘ wird 20 Es gibt kostenlose Musikbearbeitungsprogramme im Internet zum Download, die wie ein Mischpult funktionieren. Damit lassen sich aufgenommene Stücke entsprechend bearbeiten. Man kann sie wiederholt hintereinander und übereinander schalten, sodass ein interessanter Rhythmus, aber auch theoretisch ein unendliches Klangband entsteht, die Tonhöhe, Klangfarbe, Lautstärke oder die Geschwindigkeit können verändert oder verfremdet werden. Der große Vorteil einer solchen Bearbeitung: Die Audio-Folgen werden einer oszillografierten Aufzeichnung gemäß visualisiert und sind beliebig kombinierbar, Näheres vgl. H. Lindner, a.a.O., 110.

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im ersten Teil ab August 2026 noch einmal für fast vier Jahre erklingen. Auch c‘‘ wird noch einmal zu hören sein, allerdings erst im Jahr 2061 für nur zwei Monate. fis‘‘ verabschiedet sich für unbestimmte Zeit, da es erst in einem der späteren Teile vorkommt, deren Reihenfolge von nachfolgenden Generationen bestimmt wird.“21 John Cage hat wegen der notwendigen Zeitdimensionen und aller mit der Aufführung verbundenen Umstände selbst nie an eine Verwirklichung seiner Komposition gedacht. Im Vergleich dieser beiden Musikstücke mit ihren unterschiedlichen Entwürfen zum Thema Zeit kann nun eine eigene Verklanglichung zum Prediger-Text durchgeführt werden. Analog zur Version von Herman van Veen wird die funktionale vertaktete Zeit einer ewigen Zeit gegenübergestellt. Dazu kann das bereits erwähnte Musikprogramm helfen, sowohl die aufgenommenen selbst gespielten Rhythmen für die erste Form als auch die Klangbänder für die zweite Form der Zeit passend zum vorgetragenen Text bereit zu stellen. Es ist auch möglich, im Soundscaping-Verfahren eigene Umweltgeräusche, die man z. B. im morgendlichen Berufsverkehr aufgenommen hat, als Klangkulisse dem Text zuzuordnen.22

4.

Musik verstehen

Musik kann eine eigene Symbolsprache ausprägen und Botschaften senden, die in geschichtlichen Kontexten jeweils unterschiedliche Bedeutungszuweisungen hervorrufen. Musikalische Codierungen funktionieren dabei wie Chiffre, die im kollektiven Gedächtnis aktiv bleiben und die eigentliche Aussage transportieren. In Verbindung mit Theologie treten sie auf unterschiedliche Art und Weise in Erscheinung.23 Ein solches Beispiel sind die

21 Das Projekt wird dokumentiert unter http://www.aslsp.org/de/das-projekt.html (gelesen am 01.03.2014). 22 Das können beispielsweise Geräusche auf dem Schulweg sein, das Fahrgeräusch des Busses oder der Bahn, das Trappeln der aussteigenden Fahrgäste etc. Mit Hilfe des Computerprogramms Audacity lassen sich diese Geräusch-Einheiten weiter bearbeiten. 23 Auf einem abstrakten Level in Form einer theologischen Musikästhetik bietet das folgende Buch sehr wichtige Anregungen: Dietrich Korsch, Klaus Röhring, Joachim Herten (Hg.), Das Universum im Ohr. Variationen zu einer theologischen Musikästhetik, Leipzig 2011. Ein weiteres empfehlenswertes Buch ist das folgende: Peter Bubmann, Birgit Weyer (Hg.), Praktische Theologie und Musik. Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie Band 34, Gütersloh 2012.

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Spirituals, die vor dem amerikanischen Bürgerkrieg entstanden sind und bis heute rezipiert werden: Go down, Moses

Spiritual USA

1. When Israel was in Egypts’ Land. Opressed so hard they could not stand.

Let my people go. Let my people go.

Go down, Moses, way down in Egypts’ Land. Tell old Pharaoh. Let my people go. 2. Thus saith the Lord bold Moses said, if not, I’ll smite your firstborn dead.

Let my people go. Let my people go.

Go down, Moses, way down in Egypts’ Land. Tell old Pharaoh. Let my people go. 3. No more shall they in bondage toil. Let them come out with Egypt’s spoil.

Let my people go. Let my people go.

Go down, Moses, way down in Egypts’ Land. Tell old Pharaoh. Let my people go. Dieses Spiritual, dessen Text hier zugunsten des Call-Response-Verfahrens entsprechend in Raum gesetzt wurde, beinhaltet die Exodusgeschichte Ex 5– 12, in der es um die Befreiung der Israeliten aus der Knechtschaft in Ägypten zur Zeit der Pharaonen geht. Der Text handelt von der Aufforderung Gottes an Moses, den Pharao aufzufordern, das Volk ziehen zu lassen. Die Androhungen der Plagen werden ebenfalls hier in einer sehr plastischen Sprache herausgestellt. Rezipiert wurde dieser Exodusstoff von den Sklaven in den Südstaaten der USA, die daraus ein Lied machten, das ihnen Hoffnung auf Befreiung und ein besseres Leben geben sollte. Zeitlich befinden wir uns vor den Sezessionskriegen 1861. In einer nächsten Rezeptionsstufe wurden solche Spirituals vor allem von der Bürgerrechtsbewegung in den USA seit Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre aufgegriffen. Das Lied Get on Board, little Children handelt von dem sogenannten Gospeltrain und wurde in der Sklavenzeit der Südstaaten als eine Chiffre verstanden, die für die Underground Railway steht, die die Sklaven in die Nordstaaten und damit in die Freiheit brachte. Dieses Freiheitssymbol hatte auch Bestand im kollektiven Gedächtnis der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Weitere Spirituals mit Codierungen sind Somebody’s knocking at your Door (mit Bezug

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zur Bergpredigt, „Klopfet an, so wird euch aufgetan“ Mt 7,7), Swing low, sweet chariot (Chariot: erinnert an den feurigen Wagen des Elia in 2. Kön 2, 11–12), Wade in the Water (in diesem Lied heißt es: „See that band“ – gemeint sind die Israeliten, die Moses aus Ägypten geführt hat), Good News (der Chariot, der Streitwagen für die Freiheit wird kommen, s.o.), Rock my Soul (Anspielung auf Abrahams Schoß, vgl. Lk 16, 23), He’s got the whole World (der Text drückt die Sehnsucht nach Geborgenheit in Gottes Schöpfung aus).24 Am Beispiel dieser Rezeptionsebenen, die von den Codierungen der Spirituals mit biblischen Bezügen ausgehen, kann gelernt werden, welche Hoffnung Menschen in unterschiedlichen Zeiten der Unterdrückung und Unfreiheit aus diesen Liedern gezogen haben. Der Glaube an die von Gott bewirkte Freiheit als Auszug aus der Gefangenschaft hat diese Menschen in und durch diese Musik beflügelt – so eben auch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, in der Spirituals eine große Rolle gespielt haben. Martin Luther King hat in seiner berühmten Rede I have a dream auf ein Spiritual Bezug genommen, das Free at last. In seinem Traum von der Überwindung jeglicher Trennung von Menschen aufgrund ihrer Rasse, ihres Glaubens, ihrer Weltanschauung ist geprägt von einem schöpfungstheologischen Bezug zu Gen 1,27: „Den entwürdigenden Lebensbedingungen der Schwarzen und der rassistischen Ideologie der Segregationalisten setzte King eine Theologie entgegen, die das Personsein Gottes und ein entsprechendes Personsein des Menschen postulierte.“25 Am Ende des Protestmarsches nach Washington D.C., wo diese Rede gehalten wurde, sangen die Menschen das Spiritual We shall overcome. Musik verstehen heißt also, sich vor allem mit der musikalischen Symbolsprache auseinanderzusetzen, die ein ganz eigenes ästhetisches Ausdruckspotenzial erhält. In den Beispielen erhält diese Sprache vor allem politische Bedeutung. Literarische und damit synästhetische Funktion erhält Musik, wenn sie beispielsweise in Romanen der Gegenwartsliteratur auftaucht. Hanns-Josef Ortheil hat in seinem autobiografischen Buch Die Erfindung des Lebens der Musik eine wichtige Rolle in Hinblick auf die Entwicklung des Protagonisten gegeben, der im eigenen Klavierspiel eine ganz wesentliche Ausdrucks24 Ein gutes Hintergrundwissen zu den Spirituals findet man in den folgenden Schulbüchern: Walther Engel (Hg.), Soundcheck 1, Braunschweig 2012, 250 ff. und in Markus Sauter, Klaus Weber (Hg.), Musik um uns 2/3, Zwickau 2013,101 ff. u. 246 ff. 25 Michael Haspel, Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde. Implikationen für Bildung und öffentlichen Diskurs in Martin Luther King Jr.’s Konzeption „Öffentlicher Theologie“, ZPT 64, 2012, 254.

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form für seine Gedanken und Gefühle findet, das ihm hilft, seine Sprachlosigkeit zu überwinden. Dieser wunderbare Roman nimmt Bezug auf die folgenden Musikstücke26: − Johann Sebastian Bach: Italienisches Konzert, 1. Satz (89, 264 ff., 301, 308 ff.) − Johann Sebastian Bach: Choral Jesu bleibet meine Freude (181, 465) – Frédéric Chopin: Walzer für Klavier (230 ff., 249) − Claude Debussy: Arabeske (314) − Joseph Haydn: Klaviersonaten (315) − Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonaten (316) − Johann Sebastian Bach: D-Dur Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier (317) − Johann Sebastian Bach: C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier (321) − Robert Schumann: C-Dur Fantasie für Klavier (329 ff., 478, 523, 589) − Gregorianischer Gesang: Deus in adjutorium meum intende / Domine, ad adjuvandum me festina (O Gott, komm mir zu Hilfe / Herr, eile mir zu helfen, 344, 457) − Modest Mussorgskij: Bilder einer Ausstellung (479) − Franz Liszt: Années de pelèrinage (480) − Sergeij Prokofieff: Sonate Nr. 3 für Klavier, 3. Satz (524) Die Seitenangaben zeigen, dass vor allem die Klavierfantasie von Robert Schumann eine wichtige Rolle spielt. Der Protagonist wird auch in seiner Glaubensentwicklung beschrieben, die in Verbindung mit der Spiritualität von Kirchenräumen, liturgischen Gesängen und Gebeten und seinem Orgelspiel ebenfalls ein wichtiges Romanthema wird, jedoch im Unterschied zur Musik nicht die Kraft entfaltet, seine Sprachlosigkeit zu überwinden. Als er schließlich erfährt, dass seiner Pianistenlaufbahn gesundheitliche Grenzen gesetzt sind, wendet er sich der Schriftstellerei zu. In der Symbiose von Wort, Musik, Glaube und der tiefen Erschließung seiner räumlichen Umgebung erfährt er seine Bestimmung. Synästhetische Entfaltungen bergen zahlreiche Möglichkeiten für eine interdisziplinäre Erschließung von Themen, wie an diesem Beispiel deutlich wird. Hier bietet es sich an, Romanauszüge unter der Einspielung der entsprechenden Musikstücke gemeinsam

26 Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens, 12. Aufl., München 2011.

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zu lesen, um die Wechselwirkung von Musik, Sprache und Glauben ganzheitlich zu erfahren.27

Schlussgedanken Dieser Beitrag konnte nur einen kleinen Ausschnitt der zahlreichen Möglichkeiten bieten, die sich in der Praxis für das Zusammenspiel von Musik und Bibel ergeben. Natürlich bietet das Musikhören allein schon Entfaltungsräume für eine Förderung der Wahrnehmungskompetenz, welche letztlich Voraussetzung jeglichen Umgangs mit Musik ist. Wichtig bei diesem Thema ist, dass man auf die eigenen Möglichkeiten des SelberMusizierens vertraut und sich nicht von den perfekten digitalisierten Aufnahmen beeindrucken lässt. Von Joseph Beuys stammt der Gedanke, dass jeder Mensch ein Künstler ist.28 Er zeigt uns mit diesen Worten einen Umgang mit Tradition, der auch für biblische Kontexte gilt: Tradition wird mit ihrer Sprache in den unterschiedlichen Gebrauchskontexten von unterschiedlichen Menschen ganz unterschiedlich rezipiert. Daher wird ein Exodus aus einem Musik- und Bibelverständnis benötigt, das Tradition als etwas Unantastbares absolut setzt. Didaktisch ausgedrückt geht es um einen Perspektivenwechsel von einer Vermittlungsdidaktik zu einer Aneignungsdidaktik, die respektiert, dass Musik und Bibel in der Lebensgeschichte des Menschen eine Bedeutung bekommen, wenn sie verfügbar werden. Das hat nichts mit Respektlosigkeit zu tun, sondern im Gegenteil: Verfügbar werden meint Musik und Bibel erlebbar zu machen und ihre Ausdruckskraft zu ermöglichen. Musik trägt dazu bei, biblische Traditionen vor allem in emotional-ästhetischer Weise aufzuschließen. Dies kann ein wichtiges Bildungsziel sein.

27 In meinem Buch Musik für den Religionsunterricht, a.a.O., habe ich alle Textstellen mit diesen Bezügen tabellarisch zusammengestellt, um synästhetische Zugänge zu diesem Roman zu ermöglichen. Dort findet sich auch eine entsprechende Ausarbeitung zum Roman von Maarten `t Hart, Das Wüten der ganzen Welt, 7. Aufl., Zürich / Hamburg 1998, das ebenfalls zahlreiche Glaubens- und Musikbezüge enthält. 28 Das vollständige Zitat lautet: „Jeder Mensch ist ein Träger von Fähigkeiten, ein sich selbst bestimmendes Wesen, der Souverän schlechthin in unserer Zeit. Er ist ein Künstler, ob er nun bei der Müllabfuhr ist, Krankenpfleger, Arzt, Ingenieur oder Landwirt. Da, wo er seine Fähigkeiten entfaltet, ist er Künstler. Ich sage nicht, daß dies bei der Malerei eher zur Kunst führt als beim Maschinenbau (…)“, aus: Der Spiegel, Interview mit Peter Brügge „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“ vom 04.06.1984.

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Internetadressen http://www.ekd.de/medien/film/passionchristi/filme.html [Zugriff 01.03.2014] http://www.aslsp.org/de/das-projekt.html [Zugriff: 01.03.2014]

Bibelstellen Gen 1,27 Gen 41,1-4 Ex 5 – 12 2. Kön 2,11-12 Pred 3, 1-11 Mt 7,7 Mt 26, 6-13 Lk 16, 23

Lieder Abraham, Abraham, verlass dein Land und deinen Stamm (EG 311) Danke für diesen guten Morgen (EG 334) Get on Board, little Children (Spiritual, USA) Go down, Moses (Spiritual, USA) Good News (Spiritual, USA) He’s got the whole World (Spiritual, USA) Kyrie (EG 178.12) Laudate omnes gentes (EG 181.6) Laudato Si (EG 515) Rock my Soul in the bosom of Abraham (Spiritual, USA) Somebody’s knocking at your Door (Spiritual, USA) Swing low, sweet chariot (Spiritual, USA) Vater unser im Himmel (EG 630) Vater unser, Vater im Himmel (EG 188) Wade in the Water (Spiritual, USA) Zwischen Jericho und Jerusalem (EG 658)

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Musikstücke Cage, John Organ2/ASLSP (1987) Clapton, John, Tears in Heaven E Nomine, Vater Unser, Album: Das Testament (1999) Pärt, Arvo, Cantus in memoriam Benjamin Britten (1977) Abstract Music can be very helpful in religious education to support targets in teaching and learning contexts. This contribution will present four possibilities for, how music can be used in RE. The first is to hear music included by way of listening to different styles of music, and from this it follows that perception can be promoted in religious education. The second is to make music in the form of singing and playing music with different instruments in order to promote interactivity between the participants in RE, the students, the teacher and the subjects. The third is to create certain ideas and projects in RE in combination with music, for example in the film. This is a great possibility for realizing interdisciplinary contexts in RE. The fourth is to understand the connection between music and religion in a deeper way than in everyday life. Here music can be used as a key competence to support distinguishing ability. In this contribution religious education and music education will come together in a theoretical, methodical and practical way.

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Rezension

Lindner, Heike: Musik für den Religionsunterricht Praxis- und kompetenzorientierte Entfaltung Frederike Ullmann Heike Lindner zeigt anhand von vier Kapiteln die wichtigsten Einsatzmöglichkeiten von Musik im Religionsunterricht auf. Hierbei geht es um: das Musik hören, das gemeinsame Musizieren, den Einsatz von Musik im fächerübergreifenden Kontext und um die Wirkung von Musik in gesellschaftlicher und theologischer Tradition. Das Buch bietet einen sehr guten Überblick über diese Themenfelder und präsentiert zahlreiche Unterrichtsideen. Diese werden stets in die aktuellen Erkenntnisse der Kompetenzorientierung eingebettet. Gerade für Lehrende, die sich bisher noch nicht intensiv mit diesem Thema befasst haben, bietet dieses Buch einen hilfreichen Einstieg und praktikable Methoden, da die Unterrichtsideen verständlich und anschaulich präsentiert werden (Grafiken, formulierte Aufgaben für Schülerinnen und Schüler etc.). Im ersten Kapitel zeigt Frau Lindner, mit welchen Methoden die Aufmerksamkeit beim Hören von Musik geschult werden können. Für jedes Musikstück zeigt sie Unterrichtsideen auf und ordnet sie Themen und Kompetenzbereichen zu. Es werden aussagekräftige Werke zum „Hineinhören“, für „Hörassoziationen“ und für „Hörgefühle“ dargestellt. Die „VaterUnser“-Vertonungen erwecken verschiedene „Höreindrücke“ und werden durch die Methode „Polaritätsprofil“ sehr anschaulich präsentiert. Wie Musik wirkt, wird am Beispiel von Filmmusik erklärt. Im zweiten Kapitel werden einfache Standard-Warm-ups, um Körper und Stimme für das gemeinsame Singen vorzubereiten, erklärt. Bei der Liedauswahl zum gemeinsamen Singen habe ich aktuelle Lieder vermisst. Frau Lindner stellt richtig heraus, wie bedeutsam das Liedgut im Evangelischen Gesangbuch ist, jedoch sollte m.E. eine breite Palette angeboten werden, um verschiedene Zugänge zu ermöglichen. Hier wäre ein weiterer Blick auf Lieder aus dem Bereich „Neues geistliches Lied“ wünschenswert gewesen.

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Glaube und Lernen, 29/2014, Heft 2 Rezension

Das dritte Kapitel zeigt, welche Bereicherung Musik im fächerübergreifenden Kontext ist. An dieser Stelle werden vielseitige Ideen vorgestellt. Die Exkurse in andere Fachdisziplinen (besonders erwähnenswert sind die Impulse für die Fächer Deutsch und Kunst) sind außerordentlich anregend. Für diese Unterrichtsideen wurden sehr passende und eindrucksvolle Musikstücke aus verschiedenen Genres zusammengestellt. Zum Abschluss verdeutlicht Frau Lindner, wie Musik neue Erkenntnisse schaffen kann und bezieht sich hierbei zum einen auf Musik, die politische Botschaften transportiert (u.a. verschiedene Gospels, „Russians“ von Sting). Hierbei wird eine Verbindung zur Symboldidaktik geschaffen, indem sie mit der Semiotischen Triade nach Charles Sanders Peirce einen interessanten Zugang zur Musikinterpretation zeigt. Zum anderen wird dargestellt, wie mit Musik theologische Themen und theologische Traditionsbestände erschlossen werden können. Als Beispiel hierbei wird das Adventslied „Es kommt ein Schiff geladen“ mit dem Lied „Die Seeräuber-Jenny“ aus dem Theaterstück „die Dreigroschenoper“ (Kurt Weill) gegenüber gestellt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Buch zum Einsatz von Musik im Religionsunterricht ermutigt und motiviert. Es ist zu erkennen, welche Bereicherung Musik im Religionsunterricht ist. Für Lehrpersonen, die allerdings auf der Suche nach aktueller Musik und Liedern für den Religionsunterricht sind, bietet dieses Werk nur wenige Anstöße. Die kurzen Analysen der verschiedenen Musikstücke sind jedoch verständlich geschrieben, genauso wie die vielseitigen Methoden, die je nach Klassenstufe modifiziert werden können.

Frederike Ullmann, Lindner, Heike: Musik für den Religionsunterricht

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Glaube und Lernen Theologie interdisziplinär und praktisch 29. Jahrgang

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 2014 Heft 1 Martin Rothgangel, Zu diesem Heft ....................................................... 1

KENNWORT Wolfgang Maaser, Diakonie .................................................................... 3

THEOLOGISCHE KLÄRUNG Anni Hentschel, Diakonie – Sprachverwirrung um einen griechischen Begriff .............................................................................. 17 Johannes Eurich, Profillose Diakonie? ................................................... 33

GESPRÄCH ZWISCHEN DISZIPLINEN Eberhard Hauschildt, Anschlussfähigkeit und Proprium von ‚Diakonie‘ ..................................................................................... 44

IMPULSE FÜR DIE PRAXIS Heinz Schmidt, Sozial-diakonisches Lernen in der Schule ...................... 63 Christiane Oeming, Ein Sozialpraktikum der 10. Klassen am Feudenheim-Gymnasium Mannheim ................................................... 72

REZENSION Heinz Schmidt/Klaus d. Hildemann (Hg.), Nächstenliebe und Organisation ........................................................................................ 93

Heft 2 Ernstpeter Maurer, Zu diesem Heft........................................................ 97

KENNWORT Ernstpeter Maurer, Bibel und Musik .................................................... 100

THEOLOGISCHE KLÄRUNG Ernstpeter Maurer, Bibel und Musik – Zum Gedenken an Siegfied Fiedler (1926–2011) ............................................................... 110 Rüdiger Bartelmus, Die sieben Bußpsalmen: Davids Threnodiae Davidicae .............................................................. 129

GESPRÄCH ZWISCHEN DISZIPLINEN Andreas Pangritz, Musik und Theologie bei Dietrich Bonhoeffer .......... 158 Harald Schroeter-Wittke, Neue Geistliche Musik................................. 173

IMPULSE FÜR DIE PRAXIS Heike Lindner, Musik und Bibel in religionspädagogischen Praxisfeldern ....................................................................................... 186

REZENSION Heike Lindner, Musik für den Religionsunterricht, Praxis und kompetenzorientierte Entfaltung.......................................................... 206