Gender Performances: Wissen und Geschlecht in Musik. Theater. Film.
 9783205791140, 9783205786511

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mdw Gender Wissen

Band 2 Eine Reihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl und Doris Ingrisch

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Gender Performances Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film

Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  : //dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78651-1 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http  : //www.boehlau-verlag.com Satz  : Michael Rauscher Lektorat  : Irmgard Dober Umschlaggestaltung  : Judith Mullan Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : Impress, Slowenien

Inhaltsverzeichnis Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl Gender Performances Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film. Zur Einführung 7

Annegret Huber Performing Music Analysis Genderstudien als Prüfstein für eine ›Königsdisziplin‹ 21

Florian Heesch Performing Aggression Männlichkeit und Krieg im Heavy Metal 49

Alenka Barber-Kersovan Let’s Sex the ›Revolution‹ Die Rolle des slowenischen Punk im Demokratisierungsprozess der 1980er-Jahre 75

Gerlinde Haid Geschlechterrollen und Geschlechterrollenspiele Beispiele aus dem Ausseerland 97

Katharina Pewny Männlichkeiten im Blick der feministischen Performance Studies 125

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Inhaltsverzeichnis

Saskia Hölbling Gender Shifts 139

Carola Dertnig Lora Sana, Aktionistin, 62 153

Monika Bernold Schwarze Engel  ? Performing Whiteness und Gender im Film Kritische Lektüren zu den Metropolenfilmen »Paris is Burning« und »Der Himmel über Berlin« 161

AutorInnen und Herausgeberinnen 179

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Gender Performances Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film. Zur Einführung

»In dem Maße, in dem Gender-Normen reproduziert werden, werden sie durch körperliche Praktiken aufgerufen und zitiert, die auch über das Potenzial verfügen, Normen im Verlauf ihrer Zitation zu verändern.« (Butler 2009a, 91)

Musik und die darstellenden Künste – Theater, Film – haben zumindest eines gemeinsam  : die Performance. Das war u. a. ein Argument, warum wir Gender Performances als Thema für die zweite Gender-Ringvorlesung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) gewählt haben. Musik · Theater · Film sind die drei Künste und wissenschaftlichen Disziplinen, die an dieser Universität gelehrt und erforscht werden  : Musik/wissenschaft, Theater/wissenschaft und Film/wissenschaft. Viele MitarbeiterInnen der mdw – künstlerisches und wissenschaftliches Personal wie auch Verwaltung/Management – sind vielfach damit beschäftigt, etwas ›zur Aufführung‹ zu bringen – sei es in Form von Klassenabenden, Konzerten, Theateraufführungen, Performances oder Filmpräsentationen. Mit ihren jährlich ca. 1 200 Veranstaltungen ist die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) der größte Kulturanbieter Österreichs. Sich an Aufführungen, die Bühne, ein Publikum zu gewöhnen und in Aufführungen, Darbietungen und Performances zu bestehen, gehört zu den Grundanforderungen an die meisten an der mdw Studierenden – angehende MusikerInnen, SängerInnen, Film- und Theater-SchauspielerInnen. Dabei kommt in der musik-, theater- und filmwissenschaftlichen Forschung wie auch der universitären Musik-, Theater- und Filmausbildung der historischen Aufführungspraxis ein besonderes Augenmerk zu. Wir waren neugierig, wie sich das Bild, die Bilder von Musik und darstellender Kunst resp. von den von Musik · Theater · Film handelnden Wissenschaften ändern, wenn die Kategorie Geschlecht/Gender für die Erkenntnis- und Wissensproduktion als wichtig erachtet wird. Den Fokus des Interesses legten wir auf die Gender-Dimension(en) von Auf- und Vorführungen, Anordnungen, SprechPerformances, Arrangements, allgemein von (Sprech-)Handlungen in Mu7

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sik · Theater · Film. »Gender Performances« war der Titel der zweiten interdisziplinären Gender-Studies-Ringvorlesung an der mdw und das ist zugleich der Titel des vorliegenden zweiten Bandes der Reihe »mdw Gender Wissen«. Die Struktur der Gender-Ringvorlesungen und der daraus entstehenden Publikationsreihe »mdw Gender Wissen« organisiert sich nach folgendem Prinzip  : Wie in der ersten Ringvorlesung – »Gender Studies  : Tradition und Innovation« – und dem daraus entstandenen Sammelband »Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film« (Ellmeier/Ingrisch/Walkensteiner-Preschl 2010) wurden auch für die zweite Ringvorlesung Lehrende der mdw und Gender-ForscherInnen von außerhalb der Universität eingeladen.

Geschlechtsidentitäten – performative Effekte einer diskursiven Praxis Die Philosophin und Theoretikerin Judith Butler hat den Begriff des performativ konstituierten Geschlechts bereits Anfang der 1990er-Jahre geprägt, womit sie ausdrücken wollte, dass man(n)/frau nicht einfach ein Geschlecht ist bzw. hat, sondern dass das Geschlecht, die Geschlechterzugehörigkeit und Geschlechtsidentität (Gender) durch performatives Handeln reiterativ innerhalb eines regulativen Systems immer neu hergestellt wird. Die wiederholende Praxis sei es, die das Geschlecht diskursiv konstituiere. Die Identität, die die Geschlechtsidentität bezeichne, würde ebenso reproduziert, wie diese wiederholende Praxis das Risiko ihrer Fehlbenennung und Desintegration mit sich bringe.1 Durch Zeichen und Sprechakte werde diese Identität als weiblich oder männlich markiert. Der Ausruf der Hebamme »Ein Mädchen  !« sei demnach nicht nur eine konstative Feststellung (wahr/falsch), sondern auch ein direktiver Sprechakt  : »Werde ein Mädchen  !« Die Performativität der Geschlechter resultiert nach Butler aus dem Zusammenspiel von politischen, performativen und theatralen Performances. Und Judith Butler meinte damit nicht weniger, als dass nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) nichts Feststehendes, Statisches, klar Abgegrenztes sei bzw. darstelle, sondern dass die jeweils subjektiv unterschiedliche Geschlechtsidentität sich in einem Prozess herausbilde, sich im Handeln forme – so und/oder anders entwickle und sich aus einem Wechselspiel von Einflüssen und Potenzialen entfalte. Diese Abkehr von einer allgemein verbindlichen, normativ geltenden bipolaren geschlechtsidentitären Vorstellung – da männlich, dort weiblich – verunsicherte, weil es gesellschaftspolitisch stabilisierend wirkende Grundannahmen von einerseits/andererseits (da 8

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weiblich, dort männlich) hinterfragte bzw. kritisch befragte. Insbesondere in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung kam es zu Kontroversen. Nach wie vor würde ja meistens von lediglich zwei, von »nur zwei« Geschlechts­ identitäten (Gender) ausgegangen, was Butler als »zwangsheteronormativ« bezeichnet, da alle außerhalb dieser Norm stehenden Geschlechtsidentitäten wie queer, homo-, trans- und intersexuell nicht benannt, das heißt auch nicht registriert und in ihren Bedürfnissen und Befindlichkeiten mitgedacht würden (Butler 1997 [engl. 1993/dt. 1995], 2003 [engl. 1990/dt. 1991], 2006 [engl. 1997/dt. 1998], 2009). Nach Butler müssen solche »stillschweigenden Zwänge, die das kulturell intelligible ›Geschlecht‹ produziert«, eher »als generative politische Strukturen denn als naturalisierte Grundlagen« (Butler 2003 [engl. 1990/dt. 1991]) 215) interpretiert und verstanden werden. Die Schriften von Judith Butler hatten einen maßgeblichen Einfluss auf die feministische Theorie-Entwicklung – selbst wenn Butlers grundlegende Kritik an der erst in den 1980er-Jahren in der feministischen Theorie durchgesetzten Trennung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender) vielerorts zunächst abgelehnt worden war. Die daraus entstandene Diskussion trug u. a. dazu bei, dass der/die Körper ab den 1990er-Jahren wieder zu einem wichtigen Referenzmaterial der Gender-/Geschlechterdebatte wurde/n, was sich u. a. in der Entwicklung von Queer Theory und Cyborg-Diskussionen (Schnittstelle von Mensch und Maschine (Technik)) niederschlug. Butlers Denken ist nun für unsere Fragestellung nach Gender Performances im Jahr 2010 noch immer grundlegend, weil sie in ihrer reichhaltigen Wissensproduktion seit Ende der 1980er-Jahre die kontinuierliche Schärfung der Wahrnehmung von Unterschieden, Diversität(en), von Heterogenem ins Zentrum ihrer philosophischen Überlegungen gestellt hat und so Geschlecht/Gender im Kontext mit anderen sozialen Unterschieden besprechbar machte.2 Ihr geht es philosophisch und politisch um einen Neuentwurf des »Menschlichen«, das historisch gesehen lange nur ›ausgewählte‹, sogenannte ›Normal‹-Bürger eingeschlossen hatte, wie das beispielsweise die Geschichte der Menschenrechte anschaulich vor Augen führt (Wolgast 2009). Wer hat welche Rechte (und Pflichten), wer bekommt von wem wann welche zugestanden  ? So musste sich das weibliche Geschlecht die politische und intellektuelle Teilhabe am Gesellschaftlichen denkbar mühsam erkämpfen, so auch der »vierte Stand«, die ArbeiterInnenschaft, und global gesehen Nicht-Weiße. Diese gesellschaftlich nachgereihten Gruppen resp. Individuen wurden in der europäischen und nordamerikanischen Moderne historisch gesehen lange nicht als ›Bürger‹, als voll rechtsfähige Subjekte im Sinne der herrschenden politischen Rechtsordnung, angesehen, konnten auf9

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grund von Klassenherrschaft und Kolonialismus ausgegrenzt werden.3 Nach Butler liegt die derzeitige gesellschaftspolitische Aufgabe darin, »diejenigen gesellschaftlichen Gruppen in die Begriffe der Moderne mit einzubeziehen, die diese traditionell ausgeschlossen haben, und dabei zu wissen, dass solches Einbeziehen nicht einfach ist – sein Prozess müsste die Politik erschüttern und beschädigen, die ihn leistet« (Butler 2006 [engl. 1997/dt. 1998], 251).

»Macht der Geschlechternormen« »Die Macht der Geschlechternormen« sei bis heute jene Ebene, die – in verschiedenen Gesellschaften, Kulturen und Zeiten, nach wie vor – unterschiedlich stark das weibliche Geschlecht und marginalisierte Geschlechtsidentitäten (Queer, Trans-, Intersexuelle) benachteilige, behindere bzw. unsichtbar mache (Butler 2009). Gleichwohl besteht Butler darauf, zu betonen, dass es trotzdem – seien Normen, Vorschreibungen noch so prägend und bestimmend – neben den einen (Normen entsprechenden) auch noch andere (diese Normen unterlaufende) Handlungsmöglichkeiten (agency) geben könne und tatsächlich auch gebe. Butlers Motto ist  : Potenziale für vielfache Lesarten aufmachen, gegen einengende Interpretationen argumentieren und große Skepsis gegenüber allumfassenden Erklärungen. Paradoxerweise eröffnet das neue Verständnis der Identität als Effekt, also als produziertes oder generiertes Phänomen, Möglichkeiten der ›Handlung‹, die durch jene Positionen, die die Identitätskategorien als grundlegend und feststehend auffassen, insgeheim verhindert werden. Ein Effekt zu sein bedeutet für eine Identität weder, dass sie schicksalhaft determiniert ist, noch, dass sie völlig künstlich und arbiträr ist. (Butler 2003 [engl. 1990/dt. 1991], 215)

Der Dekonstruktivistin Judith Butler liegt an der (Erhaltung der) Manövrierfähigkeit des Subjekts, wenn sie auch nicht an ›das (moderne) Subjekt‹ als solches glaubt, gleichwohl möchte sie mit ihrer Arbeit aktiv zu einem gewaltlosen Leben – zwischen Männern und Frauen, zwischen Menschen verschiedener Ethnien und Nationalitäten wie z.B. im Konflikt Israel/Palästina – beitragen. Im letzten Jahrzehnt rückten ethische Fragen ins Zentrum ihres Interesses, ein im Jahr 2005 erschienener Band nennt sich »Gefährdetes Leben« (Butler 2005). In welcher Weise feministische Theorie selbst und viele ihrer VertreterInnen in Denk-Bewegung sind und bleiben, weil sie aktuelle Entwicklungen antizi10

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pieren und in ihre Forschungszusammenhänge aufzunehmen versuchen, zeigt Folgendes  : Die Historikerin Joan Scott, die mit ihrem bahnbrechenden Artikel »Gender  : A Useful Category of Historical Analysis« (Scott 1986 [auch 1988/dt. 1994]) grundlegend zur Anerkennung und Etablierung des Begriffs »Gender« wie auch der akademischen Disziplin »Frauen- und Geschlechterforschung« beigetragen hatte, ist ein gutes Beispiel für diesen Anspruch eines kontinuierlichen Weiterfragens und -forschens. Sie stellte Ende der 1990er-Jahre die Kritik von Judith Butler aufgreifend fest, dass Gender als soziale Kategorie viel von ihrer ursprünglichen Kritikfähigkeit eingebüßt hätte, weil Gender leider vielfach nur mehr affirmativ für die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, nicht mehr als kritische Kategorie verwendet würde. Kaum jedoch wird danach gefragt, wie die Bedeutungen von »Frauen« und »Männern« diskursiv gebildet und verfestigt werden, welche Widersprüche diese Bedeutungen durcheinanderbringen, was die Begriffe ausschließen, welche Variationen subjektiv erfahrener »Weiblichkeit« in verschiedenen normativen Geschlechterregimes sinnfällig gewesen sind, welches der Zusammenhang ist – und ob es einen solchen gibt – zwischen gegenwärtigen wissenschaftlichen Auffassungen über Kognition oder Evolution einerseits und Geschlechterdifferenz andererseits. (Scott 2001, 59)

Scott bedauerte, dass viele feministische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mit dem Begriff »Gender« arbeiten, dies »gar unter ausdrücklicher Ablehnung der Prämisse, dass ›Frauen‹ und ›Männer‹ historisch variable Kategorien sind«, tun. So habe dies zu einer »Verdinglichung der Mann/Frau-Oppostion als grundlegender und grundsätzlicher Differenz« oder anders ausgedrückt »zu einer Akzeptanz evolutionspsychologischer Begriffe und Ideen« geführt, und entsprechend sei der Kategorie Gender »ihre einstmals radikale akademische und politische Aktions- und Wirkungsmacht abhanden gekommen« (Scott 2001, 59). Für Scott besteht feministische Forschung und Kritik nach wie vor in der Weigerung, den Status quo zu bedienen, genau darin läge aber ihre Anziehungskraft. Das sei nun in Gefahr, abhanden zu kommen, weil Gender zu einem Wort geworden sei, das einerseits mit »feministischer Orthodoxie«, andererseits mit »üblichem Gebrauch« assoziiert werde. Deshalb sei es nach Scott an der Zeit, »über seine Grenzen nachzudenken und nach Rekonzeptualisierungen der Problematik von Geschlecht und Geschlechterdifferenz zu suchen« (Scott 2001, 60). Joan Scott bezieht sich hier vor allem auf den Boom der um die Jahrtausendwende (bis heute) wissenschaftspolitisch hoch gehandelten Neuro- und Biowissenschaften wie auch 11

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der Evolutionspsychologie, wenn sie meint, dass in diesem Zusammenhang ein affirmativer Gebrauch von Gender wohl mehr Schaden anrichte als Nutzen bringe. Wichtiges Ziel der historischen und gegenwärtigen Geschlechterforschung sei es immer gewesen, zu einer Sensibilisierung und Präzisierung von sogenannten geschlechtertypischen Zuschreibungen und in der Folge zu einer Entnaturalisierung (De-Essenzialisierung) von Geschlechterdifferenzen beizutragen und dadurch Reflexionsräume für Möglichkeiten der Veränderung zu erzeugen. Nach dem Grundsatz  : Es gibt keine per se ›natürlichen‹ Unterschiede zwischen Frau und Mann, die die soziale Benachteiligung einer Genus-Gruppe rechtfertigten. Männer wie auch Frauen sind Menschen mit Rechten und Pflichten. Es gibt nach Scott Tendenzen, beispielsweise in der Medizin, die ausgehend von einer simplifizierten Version von ›männlich‹ und ›weiblich‹ sogar dazu führen, Geschlechterdifferenzen auf hohem Niveau zu re-naturalisieren, d. h., dass von klar abgegrenzten männlichen und weiblichen Körpern – in der Folge wohl auch oppositionell gedacht unterschiedlichen Menschen – ausgegangen werde, ganz so, als ob es die massiven De-Naturalisierungs-Anstrengungen in den Kulturwissenschaften nie gegeben hätte.4 Eingedenk solcher kategorialer Fehlgriffe und geschlechterpolitischer Missverständisse, wie sie sich ab und an in einer zu simpel ausgeführten Genderdebatte teils in neuen Feldern der (oft naturwissenschaftlichen) Anwendung zeigen mögen, sind es aber gleichwohl nach wie vor die stark differierenden konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern (einer sozialen Schicht), die auf politischer Ebene im Fokus einer angewandten wie auch theoretischen Genderforschung zentral bleiben, ist doch vorläufig keine institutionelle und/oder private Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit in Sicht. Es bleibt noch viel zu tun, es hat noch viel zu geschehen.5

Die zweite mdw-Gender-Ringvorlesung »Gender Performances in Musik · Theater · Film« Die Ringvorlesung »Gender Performances« sollte Türen öffnen, hineinschauen in sämtliche Künste und wissenschaftlichen Disziplinen von Musik · Theater · Film und bislang unsichtbare bzw. wenig besprochene Gender-Konzepte hervorholen. Die interdisziplinären mdw-Vorlesungen »Gender Performances« machten es sich zur Aufgabe, die in Praxis und Theorie vielgestaltigen Performances zu spezifizieren. Sie nahmen Performances und Performativität in Musik · Theater · Film in den Blick, um über die Diskussion des einflussreichen Performance-Konzepts zu einer Sensibilisierung der Veränderbarkeit von Geschlechter-Zuschreibungen beizutra12

Gender Performances

gen. Performance ist heute einerseits ein geradezu inflationär gebrauchter Begriff, andererseits ein nach wie vor beziehungsweise trotzdem aktueller  : Weil die Performance ein offener, aktiver und vielversprechender, spielerischer Begriff geblieben ist, der vieles meinen kann und in Ansätzen mitspricht  : Aufführungen, Darstellungen, Repräsentationen – darunter fast immer Geschlechterverhältnisse, die entweder offen oder versteckt die Struktur der Performances zentral mitbestimmen. Dementsprechend unterschiedliche Thematisierungen von Gender-Darstellungen in Musik · Theater · Film finden sich in differierender Gestalt in den Texten dieses Bandes. Die Themenfelder des vorliegenden zweiten Bandes der Reihe »mdw Gender Wissen« sind so vielfältig wie das Denk- und Kunstangebot der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) selbst  : Die AutorInnen des Bandes fokussieren aus variierenden Perspektiven, fragen aus diesen diversen Anordnungen heraus, wie Geschlecht/Gender performt wird und was das zu bedeuten habe. Die Texte von Annegret Huber, Florian Heesch, Alenka Barber-Kersovan und Gerlinde Haid besprechen Gender Performances in der Musik, Katharina Pewny, Saskia Hölbling und Carola Dertnig diskutieren Gender Performancs in Theater, Performance und Tanz, Monika Bernold schließlich fragt nach Gender Performances im Film. Die Musikanalystin Annegret Huber kritisiert in ihrem wissenschaftshistorisch und methodologisch aufschlussreichen Text die in Teilen der Musikanalyse nach wie vor ungebrochene Vorstellung der Möglichkeit einer tatsächlich ›objektiven‹, ›neutralen‹ Musikanalyse, die unabhängig von den jeweils handelnden AnalystInnen hergestellt werden könne. Huber entwickelt ihr Argument auf mehreren Ebenen. Ausgehend von der Diskussion der (wenigen) konstativen und (häufigen) performativen Sprechakte in der Musikanalyse erklärt sie die ideologische Auseinanderentwicklung der unterschiedlichen Schulen – Musiktheorie versus musicology – in der Musikwissenschaft, um anschließend die in den letzten Jahrzehnten aufgekommene Frauenmusikforschung zu positionieren. Wie Annahmen wie »männliches« oder »weibliches Thema«, der Begriff »Geschlechtston« etc. in einer Musikanalyse mit ›objektivem‹ Wissenschaftsanspruch Platz finden konnte, versucht die Autorin zu dekonstruieren. Nicht zuletzt geht es Annegret Huber darum, aufzuzeigen und zu kritisieren, dass auch Genderforscherinnen wie beispielsweise Susan McClary die von der Musikanalyse gemachten geschlechterspezifischen Zuschreibungen verstärke, wenn sie sich auf so etwas wie eine ›weibliche‹ Musik beziehe, was dann den Effekt habe, dass sie die analytisch gar nicht nachweisbaren geschlechterspezifischen Zuschreibungen wiederholend verfestige. Huber wendet sich entschieden gegen Vorstellungen, die die Musik selbst vergeschlechtliche resp. gendere, in ›männliche‹ und ›weib13

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liche‹ Musik aufspalte  ; Musik sei – so Huber – keine Kunst, die sich je nach Geschlecht der KomponistInnen unterschiedlich darstelle, nein, es gehe darum, dass die Musik von Komponisten und von Komponistinnen vielfach anders wahrgenommen werde, was aber, so Huber, viel stärker auf die Form der Rezeption und darauf verweise, dass es keine objektive Wirkung von Musikstücken ohne soziale Situiertheit von KomponistIn resp. RezipientIn gebe. Deshalb ist für Annegret Huber Genderwissen ein zentraler »Prüfstein« für die allgemeine Musikanalyse. »Performing Aggression« nennt der Musikwissenschaftler Florian Heesch seinen Artikel über »Männlichkeit und Krieg im Heavy Metal«, in dem er danach fragt, wie sich die einem geschlechterstereotypen männlichen Verhalten zugeordneten Aggressionen in den Songs des Heavy Metal musikwissenschaftlich erfassen und beschreiben lassen. Heesch thematisiert Darstellungen von Krieg im Heavy Metal und merkt kritisch an, dass im öffentlichen »Besorgnis-Diskurs« bei Heavy-Metal-Fans ebenso wie bei den Fans von Horrorfilmen vielfach linear vom Gewalt thematisierenden Genre auf die Gefährdung seiner KonsumentInnen geschlossen werde. Der Autor plädiert für mehr Differenzierung und genauere Materialanalyse. Wenn auch kriegerische visuelle Darstellungsformen mit dem Genre Heavy Metal verbunden sind, könnten diese aber nicht automatisch auf ihre InterpretInnen und KonsumentInnen übertragen werden. Heesch stellt die Frage, was eine solche Thematisierung von Gewalt und Krieg, von Aggressionen über die geschlechterpolitischen Konstruktionen des Heavy Metal aussage. Er arbeitet musikwissenschaftlich differenziert heraus, wie unterschiedlich sich der Aggressionslevel in der Musik der diversen Heavy-Metal-Gruppen gestaltet und anhört. Hingewiesen wird darauf, dass die rechtsextremen Heavy-MetalGruppen mit deutlich weniger aggressiven und eher am Rock orientierten Instru­ mentationen, musikalisch traditioneller und nicht grenzüberschreitend arbeiten. Die verbreitete Meinung, dass das Genre nur etwas für Männer sei, weist Heesch zurück, es gebe genauso Heavy-Metal-Frauenbands und weibliche Fans – aber es gebe im Heavy Metal tatsächlich deutlich weniger Musikerinnen als Musiker. Die Popmusikforscherin Alenka Barber-Kersovan reflektiert den Einfluss von Popmusik auf den slowenischen Demokratisierungsprozess in den 1980er-Jahren am Beispiel von Gender Performances der Alternativszene im Allgemeinen, des slowenischen Punk im Besonderen. Die Ausgangslage war in den 1980er-Jahren in der slowenischen Teilrepublik der ehemaligen sozialistischen Republik Jugoslawien eine andere als in westlich-integrierten Staaten. Formal war – wie jede realsozialistische Republik – auch die Republik Jugoslawien ein Garant für die Gleichstellung von Männern und Frauen. Barber-Kersovan nennt es ›Staats-Feminismus‹, was allerdings nicht bedeutete, dass Frauen in Ex-Jugoslawien gleich14

Gender Performances

berechtigten Zugang zum und Teilhabe am Politischen und Gesellschaftlichen gehabt hätten. Dieser totalitäre Staat war die gemeinsame Angriffsfläche für die sich ab Anfang der 1980er-Jahre herausbildende slowenische Alternativszene. »Alternativszene« wählt Barber-Kersovan als Sammelbegriff für sämtliche musikalischen, kulturellen, künstlerischen und ästhetischen Produktionen. Die AkteurInnen, die sich nicht als Teil einer spezifischen Kunstszene, sondern als Teil einer Alternativbewegung verstanden hatten, setzten mit ihren künstlerischen Projekten Zeichen des Widerstands gegen politische Direktiven. Der entstehenden (autonomen) Frauenbewegung ging es in einem solchen Kontext weniger um ökonomische Unabhängigkeit als um das »Zerschlagen herkömmlicher Geschlechterstereotype auf symbolischer Ebene«. Wie stark ausgeprägt traditionelle Geschlechterrollen auch und gerade in der Volksmusik gelebt und ausgedrückt wurden, zeigt die Abhandlung von Gerlinde Haid, in der sie Traditionen des steirischen Ausseerlandes geschlechterpolitisch analysiert. In den Familien habe es beispielsweise eine sehr klare Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern gegeben, wobei die Männer ihrer »Arbeit« nachgingen und die Frauen »die Wirtschaft« führten. Darauf aufbauend hatten sich ›rein‹ männliche und ›rein‹ weibliche Arbeitsgemeinschaften herausgebildet, die ganze Wochen oder auch Monate miteinander verbrachten  : Männer im Holzschlag, Frauen als Sennerinnen auf den Almen – gesungen wurde da wie dort. Ein besonderes Spezifikum waren die Altausseer Trommelweiber. Das waren keine »Weiber« und keine »Trommlerinnen« – es waren bürgerliche Herren, die als Frauen verkleidet am Faschingsdienstag Bad Aussee unsicher machten und »verkehrte Welt« spielten  : »Trommelweiber«, die gar keine »Weiber« waren, die gar keine Musikantinnen waren, die aber laut sein durften  : also etwas, was Frauen lange nicht durften. Die Performance Studies haben sich Ende der 1970er-Jahre in den USA ausgehend von gesellschaftskritischen Analysen von Theaterstücken und Musicals entwickelt. Die Theaterwissenschaftlerin Katharina Pewny positioniert in ihrem Beitrag die deutschsprachige Theaterwissenschaft versus die feministischen Performance Studies. Die Arbeitsweise der feministischen Performance Studies erläutert Pewny am Beispiel von Männlichkeitsdarstellungen in drei ausgewählten Performances. »Perform Performing« von Jochen Roller stellt die »Arbeit am Männerkörper« als aktuelle Leistungsanforderung an das prekär gewordene männliche Subjekt ins Zentrum der Darstellung. In einem solchen Prozess werde auch der Männerkörper zu einer Ware. Das Duo »United Sorry« thematisiert in »Frans Poelstra, his dramaturg and Bach« die Verschränkung von Bewegung und Sprechen und performt zwei zunächst sehr unterschiedliche Figuren  : da 15

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ein nackter Tänzer, dort sein bekleideter Dramaturg, der eine tanzt, der andere spricht. Sie teilen sich eine Bühne und verändern zunehmend ihre Rollen, nach der Hälfte der Aufführung beginnt sich der Dramaturg auszuziehen und hört zu sprechen auf. Eine solche Dramaturgie könne auch »als Mimesis der Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts – vom Drama zum Körper – gelesen werden«. »Wie die Socke zum Penis mutiert« betitelt Pewny die dritte Performance, die Drag-King-Inszenierungen rund um die Figur »Johnny« der Performerin Barbara Kraus vorstellt. Die Transformationskraft von Johnny zeige »sich als Durchschreiten einst getrennter Räume und als Verwandlung von Feminität in Maskulinität (und zurück)« – eine Kraft, die erst durch den Kontakt mit dem Publikum, dem Gegenüber möglich werde. »Indem sie performativ sind«, erscheinen die Transformationskräfte »auch als Transformationen des Sozialen, und damit von Geschlecht und Maskulinität«. Seit den 1990er-Jahren seien nach Pewny nackte Körper – darunter auch nackte Männer-Körper – auf den Theaterbühnen ausgesprochen ›üblich‹ geworden. Fraglich sei, ob das Zeigen des ›nackten Mannes‹ in der Kultur des Phallus – in der wir nach wie vor leben – als Zeichen von Versicherung oder Verunsicherung gewertet werden solle. Die Tänzerin und Choreografin Saskia Hölbling reflektiert in »Gender Shifts« eigene Körperinszenierungen als Interpretationsangebote, Körper so darzustellen, wie sie gedacht werden, wie sie von den Subjekten gedacht und vorgestellt werden. D. h., dass Körpervorstellungen bewusst und aktiv mitgestaltet und erprobt werden können, indem wir sie wahrnehmen und denken, mitdenken lernen. Hölblings Projekte nennen sich »exposition corps«, »superposition corps«, »your body is the shoreline«, »secret sight« und möchten u. a. den ZuschauerInnen vor Augen führen, wie stark geschlechtlich vorgeprägt wir Körper wahrnehmen, welche vielfältigen Möglichkeiten aber menschliche – weibliche, männliche, transgender, intersexuelle – Körper haben, sich dar- und vorzustellen. Die »Brechung der Aufrichtung« formuliert die Choreografin als ein wichtiges Ziel und meint damit, dass die traditionelle Körper-Anordnung – oben Kopf, dann Hals, Rumpf, Arme und Beine – verschoben werden kann, wir uns in den Ellbogen, das Knie, den Bauch hineindenken und aus diesen Positionen heraus den, unseren Körper neu denken und entfalten lassen könnten. Hölbling geht es in ihren Körperbesprechungen um die in solchen Körper-denk-Bewegungen möglichen Neuräume, um Annäherungen an ein von Geschlechterstereotypisierungen befreites KörperDenken, Körper-Sein. Die Antwort der Performerin und Künstlerin Carola Dertnig auf unsere Bitte nach einem Text über Gender Performances ist das Kunstprojekt »Lora Sana, Aktionistin, 62« und ein kurzer persönlicher Text darüber, wie es zu dieser Arbeit 16

Gender Performances

über eine fiktive Wiener Aktionistin gekommen ist. Es ist Dertnig wichtig, dass sie in und mit ihren künstlerischen und dokumentarischen Arbeiten jene zum Sprechen bringt, die bisher aus der offiziellen Geschichtsschreibung des Wiener Aktionismus herausgefallen waren. Mit »Lora Sana, Aktionistin, 62« holt sie stellvertretend für viele andere eine dieser Aktionistinnen zurück auf die Bühne, stellt eine damalige Randfigur ins Zentrum. Die Geschichte der PerformanceKunst in Wien ist für Dertnig ohne die Frage nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht – wer machte was und wie wurde darüber gesprochen, wie und was wurde dokumentiert, wie wird es erinnert – nicht erzählbar. Last but not least analysiert die Historikerin und Filmwissenschaftlerin Monika Bernold in »Schwarze Engel« die Filme »Der Himmel über Berlin« und »Paris is Burning« als Beispiele für die Wirkmächtigkeit des Konzepts »Whiteness«. Das Konzept Whiteness, das Lebens- und Arbeitsweisen global bestimmt, weil sämtliche nicht-weiße Identitäten sich an Whiteness orientierend herausbilden, formen und daran gemessen werden. Monika Bernold zeigt, dass der Engel in »Der Himmel über Berlin« vieles sein kann, aber sicher kein »schwarzer Engel«, weil ein solcher in den Engelsdarstellungen der westlichen Welt nicht vorgesehen sei. Bernold schließt ihren Beitrag mit einem aktuellen Hinweis auf ein für die feministische Analyse interessantes theoretisch-politisches Ereignis, bei dem Judith Butler im Juni 2010 in Berlin beim Christopher Streets Day (CSD) von dessen Veranstaltern einen Preis für Zivilcourage entgegennehmen sollte. Sie lehnte ihn in einer viel beachteten Rede mit der Begründung ab, dass die Veranstaltung zu kommerziell orientiert sei und sich zu wenig gegen Rassismus und Mehrfachdiskriminierung richte. Einige der Veranstalter hätten sich sogar explizit rassistisch gegen MigrantInnen geäußert, seien somit Teil derjenigen, »die kulturelle Kriege gegen MigrantInnen führen wollen«. Die Philosophin Judith Butler leitete den für sie bestimmten Preis »an jene weiter, die, wie sie sagt, vor Ort Courage zeigen im Kampf gegen diese kulturellen Kriege, zum Beispiel ReachOut und LesMigraS«. Abschließend wünschen wir Ihnen – liebe Leserin, lieber Leser – eine informative wie auch vergnügliche Tour durch die hier von WissenschaftlerInnen und Künstlerinnen vorgestellten Gender Performances, die die Anordnung(en) der Geschlechter in unterschiedlichsten künstlerischen und wissenschaftlichen Kontexten befragen und diverse Erscheinungsformen, Verkörperungen wie auch Darstellungen der Geschlechtsidentitäten diskutieren. Die Texte möchten dazu anregen, weiter zu fragen, weiter zu reflektieren und ab und zu innezuhalten und nachzufragen, was wahrgenommen wird bzw. überhaupt wahrgenommen werden kann. 17

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Anmerkungen 1 »Foucault zufolge ist kein Körper vor seiner Bestimmung innerhalb eines Diskurses – durch den er mit einer ›Idee‹ des natürlichen oder wesentlichen Sexus versehen wird – in irgendeinem Sinne als ›sexuell bestimmter‹ anzusehen. Innerhalb des Diskurses gewinnt der Körper allerdings nur im Kontext von Machtbeziehungen eine Bedeutung. Die Sexualität meint hier eine geschichtlich spezifische Organisation von Macht, Diskurs, Körpern und Affektivität. Als solche bringt sie, so Foucault, den ›sexus‹ als künstliches Konzept hervor, das die Machtbeziehungen, die für seine Genese verantwortlich sind, erweitert und zugleich verschleiert.« (Butler 2003 [engl. 1990/dt. 1991], 139 f.) 2 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass in einem mehr sozial- als kulturwissenschaftlich orientierten feministischen Kontext der Begriff »Intersektionalität« und die daran geknüpfte »Intersektionalitätsdebatte« für einen in den 2000er-Jahren virulent gewordenen neu-alten Anspruch steht, der davon ausgeht, dass die Kategorie Geschlecht/Gender eine zwar wichtige, aber eine unter mehreren sozialen Kategorien sei, die in einer feministischen Gesellschaftsanalyse berücksichtigt werden sollten. Neben Geschlecht sind das vor allem die Kategorien Klasse/Schicht, Ethnie, Alter, sexuelle Orientierung, Religion/Weltenordnung etc. Dieses »etc.« blieb und bleibt vielfach unbestimmt und richtet sich danach, welche Fragestellung(en) erörtert werden. Vgl. z. B. Knapp 2005, Klinger/Knapp/Sauer 2007, Walgenbach/Dietze/Hornscheidt/Palm 2007, Winker/Degele 2009. 3 So war es in Österreich bis zum allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrecht im Jahr 1907 lediglich Steuer zahlenden Personen (darunter waren im 19. Jahrhundert auch einige wenige besitzende Frauen) vorbehalten, zu wählen. Mit dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht für alle (außer für Prostituierte) im Jahr 1918 entfielen diese qua Geschlecht diskriminierenden Einschränkungen (zunächst einmal auf rechtlicher Ebene, was aber z. B. noch nicht einen tatsächlich gleichberechtigten Zugang zur politischen Öffentlichkeit und Repräsentation bedeutete). Das Wahlrecht zu erhalten, hieß ja nicht nur das Wahlrecht zugestanden zu bekommen, sondern damit verbunden war ein deutlich besserer Zugang zu bürgerlichen Grundrechten, darunter zu der Einforderung von Menschenrechten. Vgl. Zaar 1994. 4 Hier zeigt sich wohl auch ein Wissens- wie auch Vermittlungsdefizit zwischen angewandter Gender-Politik/-Forschung und avancierter feministischer Theorie. Angelika Wetterer spricht von einem Auseinanderdriften von angewandter (feministischer) Gender-Politik und theoretischer feministischer Kritik, was sie an den Beispielen von Gender-ExpertInnen und Gender-TheoretikerInnen ausführt. Auf der politischen Ebene wurden von Gender-ExpertInnen Gender-sensibilisierende Projekte entwickelt und durchgeführt, die u. a. manchmal zu einem »Geschlechterwissen« (Wetterer) führen können, in dem biologische Geschlechterunterschiede sogar noch verstärkt würden. Die feministische Theorie hingegen habe in den letzten 20 Jahren dieses Geschlechterwissen immer weiter differenziert und dabei vor allem gerade die binäre heterosexuelle Geschlechternorm kritisch hinterfragt und aufgebrochen. Vgl. Wetterer 2005. 5 Die Differenzierungen und neuen Denkmöglichkeiten, die sich durch die theoretischen Entwicklungen eröffnen, werden früher oder später auch zu neuen politisch anwendbaren Subkategorien und einer adäquateren, differenzierteren Wahrnehmung von Menschen in ihren spezifischen geschlechtlichen, sozialen, ethischen etc. Identitäten auf ganz praktischer Ebene führen. Derweilen geht der (alltägliche) Kampf um mehr Geschlechtergerechtigkeit weiter und kommt in egalitären politischen Konzepten der gleichberechtigten politischen Teilhabe, von Gender Budgeting, einer

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Gender Performances

geschlechtergerechter Sprache und von Gender-Awareness- und Gender-Kompetenz-Programmen zum Ausdruck.

Literatur Judith Butler (1997 [engl. 1993/dt. 1995]), Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann (edition suhrkamp Neue Folge Band 737). Frankfurt am Main (Orig.: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of «Sex”. New York/London 1993, erste deutsche Übersetzung 1995) Judith Butler (2003 [engl. 1990/dt. 1991]), Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Katharin Menke (Sonderausgabe zum 40-jährigen Bestehen der edition suhrkamp, edition suhrkamp 2433). Frankfurt am Main (Orig.: Gender Trouble. New York/London 1990  ; dt. 1991, edition suhrkamp 1722) Judith Butler (2005), Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main Judith Butler (2006 [engl. 1997/dt. 1998]), Haß spricht. Zur Politik des Performativen, aus dem Englischen von Katharina Menke und Markus Krist. Frankfurt am Main (Orig.: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York/London 1997, erste deutsche Übersetzung 1998). Judith Butler (2009), Die Macht der Geschlechternormen, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber. Frankfurt am Main Judith Butler (2009a), »Gender-Regulierungen«, in  : dies., Die Macht der Geschlechternormen, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber. Frankfurt am Main, 71–96 (Das Orig. »Gender Regulations« war von Gil Herdt und Catharine Stimpson für einen Band zu »Gender« bei der University of Chicago Press erbeten worden und erscheint demnächst in »Critical Terms for the Study of Gender«. Eine stark gekürzte deutsche Fassung erschien als »Gender-Regulierungen« in  : Katharina Pühl, Tanja Paulitz, Daniela Marx, Ute Helduser (Hg.) (2004), under construction  ? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis. Frankfurt am Main, 44–57) Judith Butler (2009b), »Das Ende der Geschlechterdifferenz  ?«, in  : dies., Die Macht der Geschlechternormen, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber. Frankfurt am Main, 281–324 (Das Orig. »The End of Sexual Difference  ?« erschien in anderer Fassung in  : Miska Kavka, Elizabeth Bronfen (Hg.) (2001), Feminist Consequences. Theory of a New Century. New York. Eine kürzere deutsche Fassung, »Das Ende der Geschlechterdifferenz  ?«, wurde veröffentlicht in  : Jörg Huber, Martin Heller (Hg.) (1997), Konturen des Unentschiedenen  : Interventionen. Basel/Frankfurt am Main, 25–44) Judith Butler (2009c), »Die Frage nach der sozialen Veränderung«, in  : dies., Die Macht der Geschlechternormen, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber Frankfurt am Main, 325–366 (Das Orig. »The Question of Social Transformation« erschien ursprünglich in einer längeren spanischen Fassung in  : Elisabeth Beck Gernsheim, Judith Butler, Lidia Puigvert, (Hg.) (2002), Mujeres y transformaciones sociales. Barcelona) Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.) (2010), Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film (mdw Gender Wissen Bd. 1). Wien/Köln/Weimar Cornelia Klinger, Gudrun-Axeli Knapp, Birgit Sauer (Hg.) (2007), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt am Main

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Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Gudrun-Axeli Knapp (2005), »Intersektionalität als neues Paradigma der Gender Studies  ? Zur transatlantischen Reise von ›Race, Class, Gender‹«, in  : Feministische Studien, Jg. 23, H.1, 68–81 Joan W. Scott (1986), »Gender. A Useful Category of Historical Analysis«, in  : American Historical Review, 91. Jg., 1053–1075 (Erneut erschienen in  : dies. (1988), Gender and the Politics of History. New York, 28–50. In deutscher Übersetzung  : »Gender  : eine nützliche Kategorie der historischen Analyse«, in  : Nancy Kaiser (Hg.) (1994), Selbst Bewusst. Frauen in den USA. Leipzig, 27–75) Joan W. Scott (2001), »Die Zukunft von gender. Fantasien zur Jahrtausendwende«, in  : Claudia Honegger, Caroline Arni (Hg.), Gender – die Tücken einer Kategorie. Beiträge zum Symposium anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott. Zürich, 39–63 Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt, Kerstin Palm (2007), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen Angelika Wetterer (2005), Gleichstellungspolitik und Geschlechterwissen – Facetten schwieriger Vermittlungen, Vortrag gehalten am 14. Februar im GenderKompentenzZentrum in Berlin, abrufbar unter http  : //www.genderkompetenz.info/veranstaltungen/genderlectures/050214glhu (3. 10. 2010) Gabriele Winker, Nina Degele (2009), Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit. Bielefeld Eike Wolgast (2009), Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte. Stuttgart Eske Wollrad (2005), Weißsein im Widerspruch – feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion. Königstein am Taunus Birgitta Zaar (1994), Vergleichende Aspekte der Geschichte des Frauenstimmrechts in Großbritannien, den Vereinigten Staaten von Amerika, Österreich, Deutschland und Belgien, 1860–1920, 2 Bände, Dissertation. Universität Wien

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Performing Music Analysis Genderstudien als Prüfstein für eine ›Königsdisziplin‹

Mit musikanalytischer Praxis geht vielfach der Anspruch einher, dass im Wege der Musikanalyse Aussagen über Musik in dem Sinne ›objektiviert‹ werden könnten, als dass durch sie Eigenschaften des analysierten Objekts bestimmbar würden. In manchen Wissensgesellschaften, wie sie sich in musikwissenschaftlichen Lehr- und Forschungsinstitutionen ebenso wie in Standesvertretungen manifestieren, gilt die Musikanalyse gar als ›Königsdisziplin‹, welche die Musikwissenschaft überhaupt erst zur ›exakten‹ Wissenschaft macht. Dieser Anspruch gründet sich nicht selten auf die Anwendung formalisierter Analysemethoden, die suggerieren, dass sich die derart erbrachten Befunde unabhängig von musikanalytisch handelnden Subjekten ergeben und daher eine »neutrale Ebene« (Nattiez 1990, 12 – in Anlehnung an Jean Molino) der Werkbetrachtung bilden könnten. Doch erweisen sich solche Prämissen spätestens dann als illusorisch, wenn Kompositionen analysiert werden, die sich der impliziten Ästhetik der angewandten Methoden widersetzen. Dieses Missverhältnis zwischen Produktionsästhetik und Analysekategorie tritt besonders anschaulich zutage, wenn etwa die Musik von Komponistinnen mit Kategorien analysiert wird, die dazu entwickelt wurden, um die Meisterschaft männlicher Tonsetzer nachzuweisen. Diese Diskrepanz ist jedoch noch keine geschlechterspezifische  ; sie ist ebenso anzutreffen, wenn Kompositionen von Männern analysiert werden, deren Werke nicht dazu herangezogen wurden, um ›Regeln der Kunst‹ zu abstrahieren und diese als Kriterien für Meisterschaft zu verallgemeinern (Huber 2008). Gleichwohl wurden die prinzipiellen Fragen nach der Kompatibilität von Gegenstand und Methode sowie dem Erkenntnisgewinn des Musikanalysierens erneut akut, als mit dem Aufkommen der Frauenmusikforschung Strategien entwickelt werden mussten, um das kompositorische Schaffen von Frauen angemessen würdigen zu können. Im Folgenden wird daher zunächst ein Horizont grundlegender Problemfelder des Musikanalysierens entworfen, vor dem die anschließenden Beispiele für strukturanalytische Zugriffe auf die Musik von Frauen die Anforderungen an eine Metatheorie des Musikanalysierens mit größerer Klarheit hervortreten lassen. 21

Annegret Huber

Objektivitätsanspruch Am Anfang der Frauenmusikforschung stand unter anderem der Vorwurf, die Musik von Frauen sei unbesehen aus der Musikgeschichtsschreibung ausgeschlossen geblieben (Weissweiler 1981, 9 f.)  ; wenn man sie nur genau studierte – so die Denkfigur –, könnten die kompositorischen ›Fakten‹ für sich selbst sprechen und der vormalige Ausschluss würde sich automatisch als ungerechtfertigt erweisen (Weissweiler 1981, 12). Doch wie trügerisch diese Hoffnung auf Objektivierung ist, zeigt sich, wenn man die Funktion der Musikanalyse innerhalb diverser Teildisziplinen der Musikwissenschaft auf ihre Neutralität hin überprüft. Im Sinne der resolutiv-kompositiven Methode der analytischen Philosophie ist Analyse nicht nur eine reine »Reduktion zum Einfachen« ; sie erfordert anschließend auch eine von diesem »Einfachen ausgehende Deduktion zum Komplexeren« (Prechtl 1999, 22) – die Synthese (Rey 2003). Gleichwohl ist der kleinste gemeinsame Nenner diverser Definitionen philosophischer Analyseverfahren der des Zergliederns (Beaney 2003). So definiert das Riemann-Lexikon dieser Minimalanforderung gemäß die Musikanalyse zunächst allgemein als »die Auflösung eines Gegebenen in seine Bestandteile oder Voraussetzungen« und in Bezug auf die Musik als die »Zurückführung von Werken auf ihre rhythmischen, harmonischen oder formalen Elemente und Prinzipien, speziell die Formen-A[nalyse]« (Riemann 1967, 36). Die Notwendigkeit zur Synthese wird philosophisch informierten LeserInnen allenfalls durch die Erwähnung der Formanalyse impliziert. Denn der Akt der Synthese wird bei der Formanalyse dadurch geleistet, dass Binnenteile (wie etwa Themen) aufeinander bezogen werden, sodass diese Funktionen innerhalb des Gesamtzusammenhangs erfüllen können. Untersuchungen der übrigen genannten Parameter hingegen könnten auch durch reine ›Zergliederungen‹ im Sinne von Beschreibungen oder Übersetzungen abgehandelt werden und müssten nicht zwangsläufig mit einer Synthese einhergehen. (Eine Form der Übersetzung wäre beispielsweise die Beschreibung von Akkorden mit Kürzeln der Stufentheorie. Die Bezeichnung von Akkorden mit Symbolen der Funktionstheorie dagegen lässt die reine Beschreibung schon hinter sich, da sie – wie der Name schon sagt – Akkorden harmonische Funktionen zuweist.) Durch die Zerlegung des Analysegegenstands in die ihn konstituierenden Elemente sollen seine Eigenschaften festgestellt und möglichst unabhängig von Wertungen des analysierenden Subjekts beschrieben werden. Daher können sie als konstative Sprechakte bezeichnet werden  ; sie sollen daraufhin beurteilt werden können, ob sie ihrem Inhalt nach wahr oder falsch sind. Ein unbestreitbares Beispiel dafür wäre das Zählen – wenn man etwa Akkorde als Drei- oder Vierklänge bezeich22

Performing Music Analysis

Abb. 1  : Dreiklänge auf den Stufen einer Dur- und einer Moll-Tonleiter (römische Ziffern = Stufen von (oben) C-Dur und (unten) a-Moll) – nebst funktionaler Interpretation desselben eingekreisten Dreiklangs in den beiden unterschiedlichen Kontexten

net  : Einen dreitönigen Akkord als Vierklang zu bezeichnen, ist klar als Fehler zu erkennen. Doch schon dann, wenn man einem Dreiklang eine Position innerhalb einer Gruppe von acht linear angeordneten Akkordgrundtönen zuweist, werden implizit Angaben zu Umfang und Anordnung einer Gruppierung von Akkorden gemacht (vgl. Notenbeispiel Abb. 1). Die Erklärung etwa eines Dreiklangs d-f-a (im Notenbeispiel eingekreist) zur Subdominante von a-Moll oder zur Subdominantparallele von C-Dur gerät zum deklarativen Sprechakt  : Durch ihn wird nicht nur ein Sachverhalt benannt  ; er wird vielmehr zu etwas ›erklärt‹. Ihm wird dadurch innerhalb eines Systems – hier  : der Funktionsharmonik – eine ›Bedeutung‹ zugewiesen, die aber je nach Kontext eine unterschiedliche sein kann (hier  : Subdominante oder Subdominantparallele). Doch werden mit ihnen auch Hierarchien (wie etwa im angeführten Beispiel die Unterscheidung von Haupt- und Nebenfunktionen) oder andere Systemstrukturen auf den Analysegegenstand projiziert. Die Sichtweise des deklarierenden Individuums prägt so die Realität der Werkstrukturen. Häufig werden jedoch Aussagen zu musikanalytischen Befunden auch dann mit der Attitüde eines konstativen Sprechakts und dem Gestus der Selbstevidenz vorgebracht, wenn sie von ihrem ›Wahrheitsgehalt‹ her genau genommen deklarativ sind  : Ein Beispiel dafür wäre die umfangreiche Diskussion um den sogenannten Tristan-Akkord bei Richard Wagner  : Dass sein Grundton in der II. Stufe einer Mollskala zu sehen ist, wird gemeinhin nicht bestritten. Debattiert wird vielmehr darüber, ob der Akkord als Stellvertreter der Subdominante 23

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oder als Doppeldominante zu deklarieren ist. Beide Funktionen haben denselben Grundton, was daher mit einem konstativen Sprechakt außer Frage gestellt werden kann. Doch sind die beiden ›Deklarationen‹ des Akkords als einem subdominantischen oder doppeldominantischen gleichermaßen ›wahr‹, obwohl sie einander widersprechen. Werden sie mit dem Gestus des Konstativen vorgebracht, erübrigt sich jegliche Diskussion  ; Verhandlungsspielraum um die ›Wahrheit‹ der beiden Aussagen entsteht erst, wenn sich die SprecherInnen auch über die Prämissen ihrer deklarativen Sprechakte verständigen. Die beiden Wahrheitswerte der klassischen Logik ›wahr‹ und ›falsch‹ erweisen sich damit als wenig geeignet für die Beurteilung musikanalytischer Aussagen. Gleichwohl übernehmen manche FachvertreterInnen mathematischer Musiktheorien mit der Beschränkung auf dieses Bivalenzprinzip auch den Anspruch auf mathematische Exaktheit, die Wissenschaftlichkeit garantieren soll. Damit geht aber auch der Anspruch auf Deutungshoheit einher, und wer diese besitzt, kann über Macht verfügen. Auf der anderen Seite bleibt aber eine Reihe von Fragen offen  : Kann/muss die Logik der Musik dieselbe sein wie die der Mathematik  ? (vgl. Nicolas 2002) Entspricht die ›Wahrheit‹ der Mathematik der Realität der Musik  ? Handelt es sich bei der Anwendung von mathematischen Verfahren auf Musik nicht eher um eine auf Analogien beruhende Projektion  ? Verwischt sich in der Vorstellung der mathematischen MusiktheoretikerInnen nicht die eigene Produktionsästhetik mit einer Betrachtungsperspektive, die keine genuin analytische ist  ? Denn dass MusikmathematikerInnen Computern im Wege von Programmiersprachen sehr wohl ›beibringen‹, Musik zu erzeugen, ist kaum zu bestreiten  ; aber es resultiert daraus eben jene Musik, für die sich mathematisch denkende Köpfe Programme ausgedacht haben  : Besitzt aber auch die Musik, die nicht aus solchen mathematischen Denkprozessen heraus entworfen worden ist, dieselben mathematischen Merkmale  ? Schon an diesen einfachen Beispielen zeigt sich, dass lediglich konstative Aussagen zur Musik kaum möglich sind und auch als verhohlen deklarative Sprechakte noch nicht sehr viel Erkenntniswert besitzen müssen  ; viele Äußerungen, die ein höheres Abstraktionsniveau erreichen wollen, geraten aber fast unausweichlich zu performativen Sprechakten – wenn etwa Metaphern als musikalische Termini verwendet werden. Das Kennzeichnende einer Metapher ist nämlich, dass sie Bildstrukturen innerhalb eines Vorstellungsbereichs nutzt, um innerhalb eines anderen durch Analogie und Assoziation einen erweiterten Bedeutungsraum zu erzeugen (Däschler/Schweikle 1990, 301). Ein Begriff wird nicht im wörtlichen, sondern im übertragenen Sinne verwendet (wie etwa das ›Bein‹ eines Stuhls). An Metaphern kann daher nicht beurteilt werden, ob sie wahr oder falsch sind – wie etwa die Bezeichnung von musikalischen Taktgruppen durch Begriffe der Gram24

Performing Music Analysis

Abb. 2  : Adolph Bernhard Marx, Beispiel einer achttaktigen Periode. Takt 1–4 = Vordersatz, Takt 5–8 = Nachsatz (Marx 1859, Bd. I, 89)

matik natürlicher Sprachen. Obwohl man bereits seit dem Mittelalter den rhetorischen Begriff der Periode zur Beschreibung musikalischer Abschnitte verwendete, verfestigt er sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts zum Terminus, der als »Kunstwort, welches aus der Redekunst entlehnt ist«1, die Relationen zwischen zwei oder mehr aufeinander bezogenen Viertaktern definiert. Dabei nutzten Musiktheoretiker die Begrifflichkeit der Grammatik, um zu betonen, dass die vormals als bedeutungsarm erachtete Instrumentalmusik ebenso wie Sprache »aus mehrern unter einander verbundenen Haupt- und Nebensätzen bestehet, und mit einem Puncte geschlossen wird«2 und daher ebenso viel zu ›sagen‹ hat wie Literatur. Dies kann natürlich nicht verifiziert werden  ; der damit vollzogene performative Akt wird zur Sprechhandlung, die musikalischen Strukturen Eigenschaften aus dem Gegenstandsbereich der Grammatik zuschreibt. Seine Wirkung ist daran abzulesen, dass er sich dem Objekt regelrecht einschreibt  : Die mit ihm verbundenen Definitionen werden heute noch im Musiktheorieunterricht gelehrt, obwohl die Metapher mittlerweile verblasst und ihre Begriffsgeschichte im Bewusstsein der Studierenden kaum mehr präsent ist. Besonders angreifbar werden aber Zuschreibungen, wenn die musikanalytisch argumentierenden Subjekte mit metaphorischen Termini nicht nur Eigenschaften von Musikstrukturen veranschaulichen wollen, sondern davon ausgehen, dass durch die ›Zergliederung‹ des Analyseobjekts diesem seine ihm mutmaßlich innewohnende ›Bedeutung‹ entnommen werden könne und diese sich in den Metaphern eines strukturanalytisch argumentierenden Narrativs artikulieren ließe  ; davon später mehr.

Funktionen der ›Königsdisziplin‹ in Kontexten von Musikwissenschaften und musicology Die Musikanalyse wird im Gefolge der disziplinären Zwei- bzw. Dreiteilung der Musikwissenschaft nach Guido Adler zusammen mit der Musiktheorie der sys25

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tematischen Musikwissenschaft zugerechnet. Prinzipiell sollen durch sie wiederkehrende ›Regeln der Kunst‹ am Beispiel der Musik erkannt und in ein System gebracht werden, das »unwandelbare Gesetze der Tonkunst« zu zeigen vermag – so etwa der Untertitel von Heinrich Schenkers Reihe »Der Tonwille« aus den Jahren 1921–1924. Doch wie anfechtbar dieser Anspruch ist, zeigt sich an folgenden Fragen  : Wie generalisierbar sind solche Abstraktionen, wo doch in der abendländischen Kultur Werke geschaffen wurden, die sich als ›Originale‹ von Konventionen der Zeit abheben mussten, damit sie wiedererkennbar und ihrem Autor/ihrer Autorin zuzuordnen sind  ? Ergeben sich auf dieser statistischen Basis genügend Probanden, um daraus ›Normen‹ ableiten zu können  ? Auch die »Unwandelbarkeit« solcher Normen ist zu bezweifeln – wenn etwa die Musik Barbara Strozzis (1619–1677) mit der aus Ethel Smyths (1858–1944) oder Kaija Saariahos (*1952) Zeit verglichen wird. Auch greifen an zentraleuropäischer Kunstmusik abstrahierte Kategorien bei der Betrachtung der Musik anderer Kulturen nicht einmal dann, wenn Tonstrukturen einander genau zu entsprechen scheinen  : So wird die heptatonische Skalenstruktur der japanischen Modi Ryo und Ritsu nicht selten durch den Verweis auf zwei Kirchentonarten des europäischen Mittelalters veranschaulicht.3 Während die Transposition von Kirchentonarten auf diverse Ausgangstöne nichts Ungewöhnliches ist, erhält jedoch jede dieser japanischen Skalen mit dem wechselnden Grundton einen besonderen Namen4, da die absolute Tonhöhe in japanischer Musik wichtiger ist als die relative Ordnung der Tonleiter. Das europäische Veranschaulichungsmittel sagt also kaum etwas über den japanischen Gegenstand aus (verschleiert womöglich sogar dessen Charakteristika) und vermittelt vielleicht nicht einmal anderen EuropäerInnen die erwünschte Vorstellung, wenn diese etwa mit türkischer Kunstmusik aufgewachsen sind  : Auch dort gibt es heptatonische Skalen, doch beruhen diese auf einer Unterteilung des Ganztons in neun Teiltöne und sind daher – bis auf den Ganzton – aus ganz anderen Intervallschritten zusammengesetzt. Metaphern und die aus ihnen erwachsenden Zuschreibungen verraten also zudem einiges über den soziokulturellen Hintergrund der Personen, die sie verwenden. Die Musikanalyse kann also nicht nur einem der drei musikwissenschaftlichen Teilbereiche zugeordnet werden, sondern muss sich zwischen systematischen, historischen und vergleichenden Erkenntnisinteressen immer wieder im Hinblick auf ihr Forschungsziel legitimieren. Vor dem institutionellen Hintergrund in den USA verlaufen jedoch noch weitere disziplinäre Grenzen  : Während in Großbritannien jeder Akademiker, jede Akademikerin, der/die über Musik schreibt, als musicologist bezeichnet wird, versteht man in den USA darunter lediglich music historians. Diese unterscheiden sich recht deutlich von den music 26

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theorists (Cook 1999, vgl. den Abschnitt »Music and the knowledge industry«). Bedienen sich Erstere hermeneutischer und textkritischer Methoden, um Werke der Musik (nicht zuletzt für Editionen) sowie deren historische Kontexte zu erschließen, konzentrieren sich Letztere unter Verwendung standardisierter Methoden auf die Analyse der Strukturen der Musik.5 Der Graben, der zwischen den Lagern der amerikanischen musicologists und music theorists verläuft, könnte pointiert so beschreiben werden  : Werfen die einen den anderen vor, dass deren durch Textkritik und Hermeneutik erbrachte Werkbetrachtungen zu wenig ›exakt‹ seien, weil sie sich nicht einer etablierten Analysemethode verdankten, kontern die anderen damit, dass der Erkenntniswert der mit diesen formalisierten Methoden erbrachten Befunde kaum höher zu bewerten sei, weil das zu Erkennende bereits durch das analytische Verfahren prädeterminiert sei.6 Eines wird aber deutlich  : Musikanalyse – egal ob textkritisch, hermeneutisch, ethnologisch, strukturalistisch oder formalistisch orientiert – erfordert auf wissenschaftlichem Niveau Spezialkenntnisse  ; im Streit um die Validität ihrer Befunde enthüllt sich ihr autoritativer Anspruch einer ›Königsdisziplin‹. Auf einer übergeordneten Ebene geht es aber nicht allein um musikanalytische Fragen, sondern auch um Positionen und Verhältnisse symbolischer Macht innerhalb der sozialen Räume akademischer Gesellschaften und wissenschaftlicher Institutionen. Durch die Nähe der sprachwissenschaftlichen Textkritik zur Literaturkritik entstand auch in der Musikwissenschaft eine gewisse Neigung, Werke der Tonkunst mit denselben Interessen zu untersuchen wie Werke der Dichtkunst. Eine immer wieder äußerst kontrovers diskutierte Frage kreist um Sinn, Gehalt oder Bedeutung von Musik – oder ›meaning‹, worunter die ›New‹ Musicology eine kaum absehbare Reihe von erkenntnistheoretisch nur schwer aufzulösenden Problemen zusammenfasst. Diese ließen sich mit einigen grundlegenden Überlegungen zur Semiotik und Qualität musikalischer Zeichen unschwer – wo nicht lösen, so doch – relativieren. Doch die problemerhaltende Prämisse besteht in der Annahme, dass ›meaning‹ nicht nur durch einen ›Sinn gebenden‹ Leseakt der Musik überhaupt erst entsteht, sondern sogar in ihr ›verkörpert‹ sei und daher wie eine ihr inhärente ›Aussage‹ ihres Autors/ihrer Autorin aus ihr ›spräche‹. Die New Musicology warf den VertreterInnen der traditionellen Richtungen vor, sie hätten mit den oben geschilderten Forschungsrichtungen Tendenzen marginalisiert, die Musik auf ihre ideologischen, sexuellen (  !) und damit ihre gesellschaftlich relevanten Inhalte hin zu untersuchen (Cook 1999, vgl. den Abschnitt »A changing discipline«). Insbesondere der Umstand, dass nicht nur das soziale Geschlecht der Komponierenden, sondern auch Musikstrukturen als körperliche Repräsentationen von deren biologischen Geschlecht (Stichwort »sexual politics of sonata 27

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form«) zum Gegenstand der Forschung wurden, sorgte für Zündstoff. (Besonders eindrückliche Beispiele dafür finden sich im Bereich der sogenannten »Queer Studies«.7) Bezeichnenderweise enthüllten die mitunter heftigen Reaktionen auf den Vorwurf der Marginalisierung seine Berechtigung  : In den Bemühungen, ihn argumentativ zu entkräften, artikulierten sich neben sachlichen Einwänden auch weltanschauliche Überzeugungen und gesellschaftliche Haltungen der DiskutantInnen (Cook 1999), die zeigten, dass auch musikwissenschaftlicher Forschung Merkmale sozialen Verhaltens und Handelns innewohnen.Es wurde deutlich, dass es ForscherInnen (egal welcher Ausrichtung) kaum möglich ist, ›objektiv‹ allein Merkmale der Untersuchungsgegenstände aufzuzeigen, ohne dabei Einblicke zu gewähren, wie sie sich als Wissen schaffende Subjekte zum Objekt ihrer Forschung positionieren – was sich schon allein in der Entscheidung für bestimmte Werke, Repertoires, Erkenntnisinteressen und Untersuchungsmethoden äußert.

Prüfsteine In dem Moment, in dem auch Musik aus weiblicher Produktion zum Gegenstand von Strukturanalysen gewählt wurde, wurden innerhalb der oben skizzierten Forschungslandschaften einige Fragen aktualisiert, über die es sich auch im Zusammenhang mit den schon hinlänglich bearbeiteten Repertoires nachzudenken lohnt. Die folgenden Beispiele wurden daher um fünf dieser Problemkreise gruppiert. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Bereiche ist die Kompatibilität von Gegenstand, Analysemethode und Erkenntnisinteresse. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass es sich noch lange nicht um eine Genderstudie handelt, nur weil die Musik von Frauen analysiert wird  : Da Musik weder Geschlechtschromosomen oder ‑hormone besitzt noch sich sexuell fortpflanzt, kann an ihren Strukturen weder das biologische noch das soziale Geschlecht untersucht werden  ; Fragen nach Sex und Gender ergeben sich erst unter Einbeziehung der sie komponierenden oder analysierenden Individuen und den sozialen Kontexten, in denen Prozesse der Sinngebung und -stiftung stattfinden. Dass die Beispiele zu den Punkten a)–c) aus der Forschungsliteratur um Fanny Hensel (geb. Mendelssohn Bartholdy) entstammen, mag auf den ersten Blick etwas einseitig anmuten. An diesen Beispielen konnte jedoch die Autorin dieses Beitrags auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Die Beispiele dürften auch einigermaßen aussagekräftig sein  : Die Quellenlage ist so vielfältig, wie sie auch für nicht wenige andere Komponistinnen des 19. Jahrhunderts anzunehmen ist  ; 28

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dennoch ist ein hoher Prozentsatz aller existierenden Kompositionen in Archiven zugänglich, sodass die Beobachtungen auf einer breiten Basis ruhen. Damit soll gezeigt werden, dass es ziemlich zeitraubend ist, überhaupt erst einmal die philologischen Voraussetzungen für eine Strukturanalyse zu schaffen und dann noch die Kompatibilität von Analysegegenstand, musikanalytischem Verfahren und Erkenntnisinteresse zu prüfen und historisch zu kontextualisieren – bis man endlich einmal zur eigentlichen Analyse kommt. a) Wahl des Untersuchungsgegenstands Als im März 2008 zwei kanadische Musiktheoretikerinnen – Laurel Parsons und Brenda Ravenscroft – dazu aufriefen, Beiträge für eine Buchpublikation einzureichen, die ausschließlich Analysen von Kompositionen von Frauen gewidmet sein sollten (Parsons/Ravenscroft 2008), war dies durchaus so gemeint, dass ein Gegengewicht zu der Menge an analytischen Studien zum Werk der bekannten männlichen Musikheroen entstehen sollte. Mit ihrer Metapher der »kritischen Masse« suggerieren die Herausgeberinnen, dass durch die Menge an musikanalytischer Literatur über die Musik von Frauen – wie bei der Spaltung von atomaren Stoffen – eine unaufhaltbare Kettenreaktion erzeugt werden könne. Vor dem Hintergrund des oben skizzierten statistischen Problems darf dies durchaus als Hoffnung darauf interpretiert werden, dass sich auf der Basis einer größeren Menge an Probanden in gleicher Weise Maßstäbe und Kriterien für das kompositorische Schaffen von Frauen entwickeln ließen, wie dies bereits am Beispiel der zu Meisterwerken erklärten Kompositionen von Männern demonstriert worden war. Allerdings legte sich der Aufruf nicht auf bestimmte analytische Vorgehensweisen fest  ; es wurde lediglich um »technische« Strukturanalysen gebeten (Parsons/Ravenscroft 2008). Die oben skizzierten Auseinandersetzungen zwischen music criticism, hermeneutics und music theory, zwischen traditionellen und ›new‹ musicologists blieben offenbar bewusst unartikuliert. Die ›diplomatischen‹ Gründe dafür sind zwar gut nachvollziehbar  ; doch werden die ganz konkreten erkenntnistheoretischen Probleme, die in den oben angedeuteten Debatten aufgebrochen sind, deswegen nicht verschwinden – im Gegenteil  : Es steht zu befürchten, dass die eingefahrenen Wissenspraktiken unhinterfragt weiter betrieben werden und dass im Glauben an die vermeintlich Objektivität schaffende Musikanalyse die Musik von Frauen mit scheinbar neutralen Kriterien vermessen wird und nicht – umgekehrt – überprüft wird, ob die Regeln und Formeln musikanalytischer Verfahren den eigentümlichen Merkmalen dieser Musik gerecht werden. Ebenso unspezifisch ist das gewünschte Repertoire  : Die einzige Eingrenzung für den 29

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ausgeschriebenen ersten Band ist eine zeitlich recht großzügige (von 1800 bis zur Gegenwart)  ; ansonsten können die Beiträge Musik unterschiedlicher kultureller Herkunft und stilistischer Ausrichtung behandeln (Parsons/Ravenscroft 2008). Orchestermusik von Louise Farrenc (1805–1875) könnte ebenso Berücksichtigung finden wie Experimentalmusik von Yoko Ono (*1933)  ; das Ergebnis könnte ein Reigen vielfältigster Einzelstudien sein, die unter Umständen so wenig miteinander gemein haben, dass nicht einmal vergleichende, geschweige denn systematische Fragen gestellt werden können. Es bleibt abzuwarten, welche Einreichungen letztlich ihren Weg in die Publikation finden werden  ; das Erscheinen des Bandes dürfte unmittelbar bevorstehen. Aber allein durch eine unspezifizierte ›kritische Masse‹ wird sich nichts an den epistemologischen Problemen ändern. b) Erschließung von Untersuchungsgegenständen Als geklärt angenommen werden vielfach auch Probleme der Quellenlage, des Werkbegriffs und der Autorisierung  ; doch stellen gerade diese die Musikanalyse gleich zu Beginn vor nicht unerhebliche Probleme. Nicht viele Komponistinnen namentlich des 19. Jahrhunderts veröffentlichten ihre Kompositionen im Druck. Diese existieren häufig nur in Form von Autographen, bei welchen nicht immer klar ist, welche die Komponistin unbesehen für die Drucklegung autorisiert hätte  ; sie unterscheiden sich häufig als Ab- und Reinschriften von Niederschriften, die Korrekturen (von erwachsenen Komponistinnen ebenso wie von MentorInnen der jungen Schülerinnen) enthalten oder unvollendet sind. Hier beginnen schon die Probleme  : Wo setzt eine Analyse an, wenn der Analysegegenstand offensichtliche Lücken aufweist  ? Kann man umgekehrt aus dem Fehlen offensichtlicher Lücken wirklich daraus schließen, dass eine Komposition vollständig ausgearbeitet ist  ? Wie beurteilt man an vorgefundenen Strukturen (die als nichts anderes als vorübergehende Stadien der Ausarbeitung betrachtet werden müssen, solange ihr Endstadium nicht bekannt ist), ob ein mutmaßlicher ›Fehler‹ nur noch nicht redigiert wurde oder ob die vermeintlich ›fehlerhafte‹ Struktur ein mehr oder weniger gelungenes Experiment darstellt (das darin besteht, ›Regeln‹ absichtsvoll zur Disposition zu stellen)  ? Oder entsteht der Eindruck eines ›Fehlers‹ nur deswegen, weil die entsprechende ›Regel‹ erst viel später von einer an Systematik interessierten Musiktheorie definiert wurde, die sich mit künstlerischer Differenz schwertut  ? Daneben finden sich jedoch auch Autographe, die durchaus als ›veröffentlicht‹ gelten dürfen – etwa in Form von Albumblättern oder Aufführungsmaterialien von ›Gelegenheitskompositionen‹ im mehr oder 30

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weniger öffentlichen Raum. Diese ›Mitteilung‹ von Musik an andere kann als Form der Autorisierung für die Differenzierung von Autographqualitäten und zur Entwicklung alternativer Werkbegriffe nutzbar gemacht werden. Für die spezielle Quellenlage Fanny Hensels etwa gaben Renate Hellwig-Unruh und Cornelia Bartsch wichtige Impulse  : Abstrahierte Hellwig-Unruh für die Vielfalt der Autographe zwischen kalligraphischer Reinschrift, KopistInnenabschrift, Kompositionsniederschrift und Fragment sehr sinnvolle Differenzierungen des Autorisierungsakts (Hellwig-Unruh 2000), entwickelte Bartsch für ein Komponieren in privater Geselligkeit das Konzept der Korrespondenz als Alternative zum emphatischen Werkbegriff (Bartsch 2007). Darüber hinaus wird die kompositionsgeschichtliche Kontextualisierung auch dadurch erschwert, dass es sich bei dem, was von den Komponistinnen selbst in Druck gebracht wurde, wegen mangelnder Aufführungsmöglichkeiten selten genug um repräsentative Werke wie etwa Sinfonien oder Streichquartette handelt, sondern häufiger um Lieder und Klavierstücke. Werden nun Autographe von späteren Generationen aus dem Nachlass veröffentlicht, geschieht dies vielfach, um die Kompositionen für das Konzertrepertoire zu erschließen. Daraus ergibt sich jedoch für die HerausgeberInnen ein Drahtseilakt  : Schon mechanisches Abschreiben und die Drucklegung allein lassen eine Komposition wie ein vollgültiges Stück erscheinen, weil Arbeitsspuren nicht redigierter Autographe zumeist nicht wiedergegeben werden. Lediglich Abschreiben reicht aber auch nicht  ; in der Regel führt ein sinnerfassender Leseprozess dazu, dass Inkohärenzen ausgeglichen werden, auf welche Fragen wie die oben angeführten sehr wohl hinweisen würden. Wenn dessen Ergebnisse nicht in einem Lesartenverzeichnis nachgewiesen werden (worauf gerade ›praktische‹ Ausgaben meinen verzichten zu können), sind solche Ausgaben für die Strukturanalyse nutzlos. Da aber erst in Ausnahmefällen8 einheitliche philologische Richtlinien für die Erschließung der Autographe zu Gesamtausgaben gefunden wurden, ist zu befürchten, dass AnalytikerInnen die Beschaffenheit desselben Manuskripts in unterschiedlicher Weise beurteilen und so von ungleichen Voraussetzungen ausgehen  ; wissenschaftliche Diskurse werden dadurch erheblich erschwert. Besonders fatal wirken Korrekturen, wenn EditorInnen meinen, die Komponistinnen gegen vermeintliche Kompositionsfehler verteidigen zu müssen. Vermutlich würden EditorInnen ihre editorischen Eingriffe niemals als Analysen bezeichnen, gleichwohl liegen manchen Fehlentscheidungen implizite musikanalytische Akte zugrunde, die allenfalls auf der Kenntnis einer didaktisch verkürzten Allgemeinen Musiklehre beruhen (Huber 2006). So erschien Fanny 31

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Hensels im Autograph explizit so bezeichnete »Sonata o Fantasia« für Klavier und Violoncello als »Fantasia« (Hensel 1994) im Druck – mutmaßlich weil in dem Stück eine ›regelrechte‹ Sonatensatzform vermisst wurde. Aus Perspektive des Lehrbuchschemas könnte man dies wohl als Argument gelten lassen, doch würde in dessen Rahmen auch mancher Sonatensatz eines so renommierten Komponisten wie Ludwig van Beethoven nicht ohne Weiteres erfasst werden können. Tatsächlich weist dessen Sonate op. 102/1 für dieselbe Besetzung einige äußerliche Merkmale auf, die vermuten lassen, dass sich Hensel mit ihrer Komposition weniger auf allgemeine Formtheorien ihrer Zeit bezieht, sondern vielmehr dezidiert auf dieses Werk (vgl. Huber 1997a, 99 ff.). Auch das Scherzo in Hensels Streichquartett leidet in der Ausgabe des Verlags Breitkopf & Härtel (Hensel 1988) darunter, dass der Herausgeber der Komponistin zeigen wollte, was ein ›anständiges‹ Scherzo ist – in Unkenntnis der historischen Entwicklung der Scherzotheorie  : Denn die Auffassung, dass es sich beim Scherzo um »nichts als eine Ausdehnung« (Lobe 1844, 148) der dreiteiligen Menuettform handle, setzte sich in den Lexika erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch (Steinbeck 1981). Noch Adolph Bernhard Marx beobachtete, dass namentlich bei Beethoven »öfters […] statt der Menuettform die erste oder zweite Rondoform in lebhafter Bewegung ein[tritt]« (Marx 1845, 331). Generell galt – unabhängig von der gewählten Form –, dass das Scherzo ein »wahres Spiel mit musikalischen Formen« (Schilling 1838, 193) sei. Hensel beabsichtigte ebendieses (vgl. Huber 2001) und überklebte zu diesem Zweck acht Takte, die eine allzu vorhersehbare Form erzeugt hätten. Eine solche wird aber im Druck – die Überklebung der Komponistin ignorierend – äußerst unglücklich wiederhergestellt, da nicht die vorletzte Fassung (unter der Überklebung) konsequent rekonstruiert wurde, sondern Überklebung und Überklebtes als gleichwertig aneinandergereiht wurden, wodurch sich eine unstatthafte Verlängerung des Satzes um acht Takte ergibt. Offenbar führt das Engagement für weibliches Komponieren nicht zwangsläufig dazu, dass man den Komponistinnen die Verwirklichung von Ideen zutraut, die regelhafte Konventionen hinter sich lassen  ; die Möglichkeit eines Experiments, das sich einer Schubladisierung widersetzt, wird vorsorglich zurechtgestutzt. c) Analysekriterien und implizite ›Kunstregeln‹ Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der geringeren Menge an autorisierten Beiträgen von Komponistinnen zu ›seriösen‹ Gattungen taucht immer wieder die Frage nach der Beherrschung der ›großen‹ Form auf. Doch auch hier zeigt sich, dass ein gewisses Vorverständnis9 – wo nicht gar die Befürchtung, eine Kompo32

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nistin könne den Erwartungen nicht entsprechen – die Interpretationen analytischer Befunde steuert. Im Falle Fanny Hensels scheint dies durch ein Selbstzeugnis begründet zu sein, das gerne als Beleg für ihre Selbstkritik herangezogen wurde  : »Es ist nicht sowohl die Schreibart an der es fehlt, als ein gewisses Lebensprinzip, u. diesem Mangel zufolge sterben meine längern Sachen in ihrer Jugend an Altersschwäche, es fehlt mir die Kraft, die Gedanken gehörig festzuhalten, ihnen die nöthige Consistenz zu geben. Daher gelingen mir am besten Lieder, wozu nur allenfalls ein hübscher Einfall ohne viel Kraft der Durchführung gehört.« (Weissweiler 1985, 150) Die ›selbstkritische‹ Deutung verkennt jedoch, dass es sich bei Hensels »längern Sachen«, die »in ihrer Jugend an Altersschwäche« sterben, ganz wörtlich um größer konzipierte Werke handeln muss, die bereits in einem frühen Kompositionsstadium nicht mehr weiterverfolgt wurden. Solche Werke könnten nicht einmal das Stadium der erhaltenen Skizzen erreicht haben, weil sie möglicherweise ihren frühen Tod in Hensels Papierkorb erleiden mussten. Dies trifft nicht auf die »Cholerakantate« von Fanny Hensel zu  : Das über halbstündige Werk für Soli, Chor und Orchester wurde nicht nur vollständig ausgearbeitet  ; es wurde auch Notenmaterial für eine Aufführung am Geburtstag ihres Vaters 1831 hergestellt. An den frühesten analytischen Untersuchungen fällt auf, dass – obwohl die Großform zur Debatte steht – nicht das Werkganze, sondern nur Einzelsätze diskutiert werden. Bei der Betrachtung des Chorsatzes Nr. 3 etwa kommt Eva Weissweiler – unter Anwendung wertender Klischees aus der musikanalytischen Werkzeugkiste – zu wenig schmeichelhaften Befunden  : »Anstatt einen thematischen Gedanken in Ruhe zu entwickeln, zitierte sie ihn oft nur ein paar Takte lang, um gleich einen neuen folgen zu lassen. So benutzt sie z. B. […] acht verschiedene Themen von jeweils vier Takten in einem Gesamt­ rahmen von nur 35 Takten.« (Zit. nach Weissweiler 1985, 203) Wiewohl sie noch im Abschnitt davor Hensel die perfekte Beherrschung u. a. der Formenlehre attestiert hatte, liefert sie mit der Deutung dieses Befundes ein Argument dafür, dass sehr wohl Zweifel an der Fähigkeit der Komponistin angebracht sein könnten, solche »thematische Ruhelosigkeit« durch einen stringenten Formverlauf zu zügeln  : »An ein ›biologisches Defizit‹ ist gewiss nicht zu denken, wohl aber an Gefühle der Angst und Unsicherheit, an das Bestreben, Vorurteile wie ›musikalisches Genie ist männlich‹ durch besonderen Einfallsreichtum zu widerlegen.« (Zit. nach Weissweiler 1985, 203) Solche Spekulationen sind dann unnötig, wenn tatsächlich das Werkganze betrachtet wird  : Dann zeigt sich, dass die von Hensel selbst zusammengetragene Textcollage einer streng symmetrischen Dramaturgie unterworfen ist, die auch die musikalische Gesamtform bestimmt  ; die formale 33

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›Unordnung‹ des beanstandeten Chorsatzes steht einem kontrapunktische ›Ordnung‹ schaffenden Satz gegenüber  ; die thematische Kurzatmigkeit im ersten versinnbildlicht das Chaos, das mit einem Strafgericht Gottes hereinbricht  ; die Strenge des zweiten unterstreicht das Sündenbekenntnis, das – ganz nach Luther – dem Gnadenakt Gottes vorausgehen muss (Huber 1997b). An solchen Beispielen wird klar, dass analytische Kategorien, die Interpretation der Befunde und persönliche Haltungen der Analysierenden in einem zu diskutierenden Verhältnis stehen. Und dieses Verhältnis ist auch dann zu bestimmen, wenn die analysierenden Subjekte hinter formalisierten Methoden verschwinden. d) Performativität musikanalytischer Systeme, Kategorien und Termini Bei den folgenden beiden Punkten sollen Performanz und Performativität dahingehend differenziert werden, dass »Performanz verstanden als Aufführung oder Vollzug einer Handlung ein handelndes Subjekt vorauszusetzen scheint«, während »der Terminus Performativität gerade die Vorstellung eines autonomen, intentional agierenden Subjekts [bestreitet]« (Abgrenzung nach Posselt 2003). Subjekte lassen sich unschwer ausklammern, wenn musikanalytische Gliederungskriterien – wie etwa die Frage nach Anzahl und Ort des Auftretens von Themen – schematisiert und die terminologischen Metaphern zu ihrer Beschreibung verabsolutiert werden. Vor ihrer Verabsolutierung wurde jedoch die Sinnhaftigkeit mancher Metapher von ihrem Erfinder erläutert  ; so erklärt Adolph Bernhard Marx, warum er das erste und das zweite Thema eines Sonatensatzes als Hauptsatz und Seitensatz – und eben nicht als Haupt- und Nebensatz – bezeichnet, denn »beide [haben] gleiche Berechtigung […], der Seitensatz [ist] nicht bloss Nebenwerk, Nebensatz zum Hauptsatz« (Marx 1838, 282), sondern »erst beide mit einander ein Höheres, Vollkommneres« (Marx 1838, 282). Die Termini ›männliches Thema‹ und ›weibliches Thema‹ werden jedoch weder bei Marx noch bei Riemann erläutert – und zwar aus dem einfachem Grund, dass sie dort nicht eingeführt werden. Marx (1838) argumentiert vor dem Hintergrund des Ideals der Einheit des Charakters, an dem man noch im 18. Jahrhundert auch das Sonatenallegro maß, eine halbe Seite lang seine Beobachtungen an Beethovens Sonatensätzen. An diesen beobachtete er nämlich durchaus thematische Kontraste, die diesem Ideal aber widersprechen. Und um diese Gegensätze mit dem Primat der Einheitlichkeit vereinbar zu machen, betont er mit seiner Formulierung das Gleichnishafte der Metapher, derzufolge sich der Seitensatz zum Hauptsatz wie »das Weibliche gleichsam [  !] zu jenem vorangehenden Männlichen« verhalte. Sein Vergleich des Verhältnisses der Themen 34

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Abb. 3  : Lehrbuchschema des Sonatensatzes mit den im Text erwähnten terminologischen Metaphern

zueinander mit den biologischen Geschlechtern von Mann und Frau ist also ein Bild, das Einheit und nicht Opposition vermitteln soll. Auch in Hugo Riemanns »Großer Compositionslehre« (1902–1913) sucht man die beiden Termini vergebens  : Im Register findet sich lediglich der Eintrag »Männliches und weibliches Element in der Thematik« (Riemann 1902–1913, Bd. I, 529). Denn ein Thema ist etwas anderes als die Thematik  : Ein Thema ist die Ausformung eines bestimmten musikalischen Gedankens, während die Thematik das allgemeine Prinzip der Themenbildung unabhängig von konkreten Ausformungen darstellt. Daher sind es lediglich thematische Elemente (  !), die Riemann als weiblich oder männlich konnotiert. Konsequenterweise diagnostiziert Riemann hier auch keine Polarität der beiden Themen, denn »diese so einfach scheinende und naheliegende Scheidung der Gebiete beider Charaktere ist doch schließlich seltener, als man meinen sollte« (Riemann 1902–1913, Bd. I, 457). Erst Joseph MüllerBlattau verwendet Mitte des 20. Jahrhunderts – im Jahr 1955 – eine Formulierung so, dass sich aus ihr die essenzialistische Verkörperung des Männlichen und Weiblichen in den beiden Themen ablesen lässt  : »Zwei Grundprinzipe des Menschen sollen in den beiden Hauptthemen Gestalt werden.« (Müller-Blattau 1954/1955) Anders als diese Autoren verwendet Antoine Reicha (1826–1828, übers. von Carl Czerny 1832) zwar die Geschlechtermetapher der idée mère10, doch ohne das Gegensätze stiftende Potenzial auszuschöpfen  : Er stellt ihr keine idée père zur Seite, sondern eine zweite idée mère (Huber 2003). Obwohl Reicha sehr explizit die Funktion (Reicha 1832, 1101) der idées mères im Verlauf der Exposition in die Nähe eines Akts der Zeugung rückt,11 ist dieser offenbar ein geistiger, der eher auf die Entwicklung der musikalischen Ideen gleich der eines Embryos während der Schwangerschaft, und weniger auf die (Er-)Zeugung als solche rekurriert. 35

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Andere Autoren nutzten biologistische Implikationen, um die ›Natur‹ ihrer Musiktheorien zu begründen. Wenn Joseph Riepel 1755 Dur als männliches, Moll als weibliches Tongeschlecht dadurch begründet, dass eine »weibliche Tonart […] ihre Wesenheit von der männlichen her [hat], und für sich selbst gar keine Leiter« (Riepel 1755, 596), spiegelt sich darin die kompositorische Erfahrung, dass man bei Kadenzen in Moll die Dominante der gleichnamigen Durtonart ›borgen‹ muss, wenn man nicht mehr modal komponieren will. Riepels Denkfigur besteht in einer Analogie  : Was in der zeitgenössischen Tonordnung ohnehin begründet liegt, erläutert er mit dem Menschenbild seiner Zeit, in dem der weibliche Organismus als inferiore Sonderform des ›menschlichen‹ (= männlichen) gilt. Dementsprechend verwendet Riepel weitere Metaphern, um mit männlichem landwirtschaftlichen Personal leitereigene Durakkorde zu versinnbildlichen – mit dem Meyer als I. Stufe, dem Oberknecht als V. und dem Taglöhner als IV. Stufe – und mit weiblicher Belegschaft leitereigene Mollakkorde – mit der Obermagd als VI. Stufe, der Untermagd als III. Stufe und der Unterläuferin als II. Stufe. Bemerkenswert ist jedoch, was Riepel in der leiterfremden Mollvariante der Durtonika sieht (z. B. c-Moll in C-Dur)  : Mit der »schwarzen Gredel« rekurriert er ebenso auf etliche gleichnamige Heilige und mythologische Frauenfiguren, die Männern widerstanden, ihre Macht über/für diese nutzten oder über spezielles Wissen zur Beeinflussung des Wetters oder des Geburtsverlaufs verfügten, wie auf Herrscherinnen, die sich wie Königin Margareta Sambiria von Dänemark (1230–1282) oder Gräfin Margarete von Tirol, genannt Maultasch (1318–1369), in einer von Männern dominierten Gesellschaft behaupteten (vgl. Huber 2010). Bei Hans Kayser (Namensgeber des 1967 gegründeten Hans-Kayser-Instituts für Harmonikale Grundlagenforschung, aus dem 2002 das Internationale Harmonik-Zentrum an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien hervorgegangen ist) jedoch fußen die Ähnlichkeiten nicht auf funktionalen Entsprechungen, sondern entstehen allein durch Zahlenproportionen, die – so Kayser – den verschiedensten Elementen des Kosmos gemein seien  : Er teilt »den Raum des Mannes […] in Dreierrationen, denjenigen der Frau in Fünferrationen. Eben hierdurch bekommt die Scheitelhöhe des Mannes (von unten gemessen) 5/6 der Einheit, diejenige der Frau 4/5 der Einheit. […] Höchst interessant dagegen scheint mir gerade unter dem Aspekt der […] Tonbewertung das MannFrau-Verhältnis 5/6   : 4/5 zu sein. Wir haben hier nämlich (bei Saitenlängen) das Verhältnis der kleinen Terz 5/6 es zur großen Terz 4/5 e  ! [Die] Terz, ob groß oder klein, an sich nicht nur im musikalischen Sinne der ›Geschlechtston‹ […], [vermag] da sie den Dur- und Molldreiklang bestimmt […] in morphologisch-meta36

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physischem Sinne das Problem der Sexualität auf eine völlig neue Weise zu deuten […], d.h., schon ihre rein äußerlichen Maße weisen auf das innere Sexualverhältnis beider Geschlechter hin.« (Kayser 1950, 179 f.) Hier fällt die Grenze, die typischerweise zwischen den beiden Bildbereichen einer Metapher besteht  ; was über die eine Sphäre zu sagen ist, gilt für Neo-Pythagoreer ›essenziell‹ auch für die andere – oder wie Aristoteles bereits an den Pythagoreern seiner Zeit kritisiert  : Diese »befassten sich zuerst mit der Mathematik, […] und kamen [dann erst] zu der Überzeugung, dass ihre Prinzipien, die Prinzipien alles Seienden sind« (Aristoteles, 58 B4 Abb. 4  : »Harmonikaler Aufbau der Menschen[Aristot. Metaph. A 5.985 b 23]). Daform« (Kayser 1950, 177 f.) her glaubten diese, »die Zahl sei der Ursprung und zwar als Stoff für das Seiende und als [Maßgabe für] seine Zustände und sein Befinden« (Aristoteles, 58 B5 [Aristot. Metaph. A 5.986 a 15]). Die »Elemente der Zahl« aber beschrieben diese in den binären Oppositionen »Grenze und Unbegrenztes, Ungerades und Gerades, Eins und Vielheit, rechts und links, männlich und weiblich, ruhend und bewegt, gerade und krumm, Licht und Dunkel, gut und schlecht, quadratisch und rechteckig« (Aristoteles, 58 B5 [Aristot. Metaph. A 5.986 a 15]). Wenn man so will, dann gilt Kaysers Beobachtung für die Sexualität der Harmonik ebenso wie für die Mathematik der Geschlechterverhältnisse. e) Performanz der analysierenden Subjekte Dualismen ziehen Geschlechterkonnotationen an. Der dem Lehrbuchschema der Sonatensatzform zugrunde gelegte Themendualismus zog im Gefolge der Metaphorik Marx’ und Riemanns eine musikanalytische Praxis nach sich, die sowohl die thematische als auch die anthropologische Zweiheit bevorzugt als Opposition interpretierte. Merkwürdig ist an ihrer Genese die angenommene Entwicklungsrichtung  : Marx wird dargestellt, als ob er Riemann eine Vorlage ge37

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liefert hätte, von der dieser lediglich das organische Ideal von jenem überwunden hätte, nicht aber die Vorstellungen von Opposition und Dualismus (Citron 1993, 135). Das ist insofern nicht nachvollziehbar, wenn man die übliche Referenzstelle in ihrer Vollständigkeit (s.u.12) betrachtet  : Von vier aufgezählten Aussagen zum Seitensatz – nicht dem ›weiblichen Thema‹  ! – kreist lediglich eine um kontrastierende Aspekte  ; die übrigen drei Punkte betonen gerade das Gegenteil. Die Höherbewertung der Gegensätze und mit ihr die Verfestigung des Gleichnisses zum nicht historisch belegbaren Terminus männliches/weibliches Thema beginnt also zumindest nicht mit Marx und fließt erst danach im Zuge der MarxRezeption in die analytische Praxis ein. »Gendered distinctions« (Citron 1993), die eine entsprechende Analyseperspektive ermöglichen, fand Susan McClary aber in folgendem Narrativ  : »The story of a hero who ventures forth, encounters an Other, fights it out, and finally reestablishes secure identity.« (McClary 1993, 333) Dieser Plot sei auch dann in absoluter Musik wirksam, wenn er nicht explizit durch Paratexte auf die gesellschaftlichen Konstellationen verweise, weil ihm die angeblich allergrundlegendsten ideologischen Spannungen westlicher Kulturen anhafteten und er eben daher so überaus weitverbreitet sei. Seine Wirksamkeit sei so stark, dass KomponistInnen, die in ihrer Musik von etwas anderem ›erzählen‹ wollten, das Unverständnis ihres Publikums riskieren würden, so sie dies nicht durch verbale Beigaben ausdrückten und dadurch an der Entstehung von Programmmusik mitwirkten (McClary 1993, 333). Die Schlüsselworte in der zitierten Passage sind »Other« und »identity«  ; sie stehen geradezu symbolhaft für zwei Denkfiguren, die unter anderem (  !) bei der Verhandlung von Geschlechterverhältnissen Relevanz besitzen. Mit dem ›Anderen‹ ist in der Entwicklungspsychologie von Jacques Lacan ein symbolischer Ort gemeint, an dem das Subjekt in Abgrenzung vom ›Nicht-Selbst‹ geformt wird. Eine gewisse Analogie besteht auch zum linguistischen Konzept der Markiertheit  : Eine unmarkierte Form – z. B. Studenten – ist demnach die Grundform, die alle anderen Formen mitmeint (alle männlichen und weiblichen Studierenden), so diese nicht eigens – als Studentinnen – markiert werden. In diesen beiden Relationen könnte man durchaus Spiegelungen von Marx’ und Riemanns Erörterungen des Haupt- und Seitensatzes erkennen. Mit einem Plot umgeben werden die Dichotomien Self/Other und markiert/unmarkiert jedoch, wenn man sie als jene beiden komplementären Protagonisten verstehen will, an denen Hegel sein Gedankenexperiment zur Herr/Knecht-Dialektik durchführt  : Zwei Menschen – noch ohne geschichtliche, kulturelle oder soziale Kontexte – treffen aufeinander und führen einen »Kampf auf Leben und Tod um Anerkennung«, aus dem sie als Herr oder Knecht hervorgehen. Der Knecht ist zwar dem Herrn untergeordnet 38

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und bringt dem Herrn Anerkennung entgegen  ; aber der Herr kann trotz seiner Überlegenheit ohne die Anerkennung des Knechts nicht Herr sein. Beide gewinnen durch den Kampf unterschiedliche Freiheit und Identität (im Sinne eines Bewusstseins seiner selbst), jedoch nur in Abhängigkeit voneinander. McClary rekurriert zwar nicht explizit auf Hegel  ; doch wurden Herr und Knecht in Philosophie und Literatur vielfach als Reflexionsfiguren herangezogen, um interdependente soziale Austauschprozesse zu erörtern, sodass man mit einigermaßen guten Gründen McClarys »most common plot outline and the most fundamental ideological tensions available within Western culture« (McClary 1993, 333) darin vermuten kann. Allerdings würden etliche KommentatorInnen diesen Plot nicht notwendigerweise als unausgesprochene Programmkonvention im Sonatensatz ausgetragen sehen. An den Analysen McClarys zeigt sich jedoch auch eine etwas problematische Lesehaltung  : Es kann sehr wohl akzeptiert werden, dass sie selbst Form und Inhalt von Sonatensätzen als Geschlechterkampf13 liest. Doch nur weil sie einen solchen Sinn er-liest, heißt das noch lange nicht, dass dieser Sinn einem Text auch inhärent ist. Aus dem intendierten Textsinn der AutorInnen und den Intentionen von LeserInnen entsteht nicht notwendigerweise eine Schnittmenge in den Strukturen eines Musikwerks, an der man den ›Wahrheitsgehalt‹ konstativer Aussagen messen könnte.14 McClarys Sinn stiftende Leseakte sind ebenso berechtigt und ›wahr‹ wie die der FachvertreterInnen, die sie kritisiert  ; sie beruhen sogar auf ähnlichen hermeneutischen Voraussetzungen (siehe auch Bertone/Fuhrmann/Grant 2004, 121 f.) und musikanalytischen Vorgehensweisen. McClary demonstriert lediglich, dass sie aufgrund derer auch zu feministischen Lesarten gelangen kann  ; die Verfahren als solche dekonstruiert sie jedoch nicht. Dadurch aber, dass sie ausführlichst über ihr Leseinteresse Auskunft gibt, werden sie selbst als analysierendes Subjekt und die Wirkungsweise ihrer Zuschreibung auf das Objekt beobachtbar.

Von Genderfragen zur Grundlagenforschung Bereits Mitte der 1980er-Jahre verfügten die Literaturwissenschaftlerinnen Susan Van Dyne und Marilyn Schuster – beide Professorinnen am legendären Smith College in Northampton (Massachusetts) – durch ihre Forschung und Lehre über genügend Daten und Erfahrungen, um im akademischen Bereich Entwicklungen überblicken zu können, die im Europa unserer Zeit unter dem Begriff Gender Mainstreaming15 zusammengefasst werden. In ihrem Buch 39

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»Women’s place in the academy  : Transforming the liberal arts curriculum« (Van Dyne/Schuster 1985, zit. nach Faulstich-Wieland 2006) unterscheiden sie sechs Entwicklungsstufen, deren erste aus Genderperspektive noch gar keine (und daher gewissermaßen die ›nullte‹) ist, denn auf ihr wird das Fehlen von Frauen in maßgeblichen Bereichen noch gar nicht bemerkt. Auf den Stufen zwei bis sechs können sich jedoch folgende Fortschritte vollziehen  : 2  :  »Hinzufügen zu den vorhandenen Informationen innerhalb der vorherrschenden Sichtweisen« 3  :  »Protest gegen die vorherrschenden Paradigmen, aber innerhalb der Sichtweisen der herrschenden Gruppen« 4  :  »Außerhalb der existierenden Paradigmen, Entwicklung einer eigenen Perspektive« 5  :  »Erkenntnistheorie« 6  :  »Verändern der Paradigmen« Das anzustrebende Ziel auf den Stufen 5 und 6 ist klar  : Fragen der Genderforschung aktualisieren grundlegende erkenntnistheoretische Probleme der traditionellen Disziplinen erneut, sodass daraus eine Grundlagenforschung mit veränderten Paradigmen erwächst. Daraus erhalten auch die etablierten Methoden und hergebrachten Gegenstandsbereiche der philologisch, hermeneutisch, ethnologisch und strukturalistisch ausgerichteten ›alten‹ und ›neuen‹ Musikwissenschaften zeitgemäße Impulse  ; eine Annäherung der Teildisziplinen über die eingangs skizzierten Verwerfungen hinweg scheint möglich, wenn übergreifende epistemologische Erkenntniskategorien ausgehandelt werden. Eine ganz andere Frage ist jedoch die nach unserem aktuellen Stand, denn die zuvor angeführten Beispiele zeigen zumindest, dass für eine übergreifende musikwissenschaftliche Erkenntnistheorie noch einiger Verhandlungsbedarf besteht. Die kanadischen Musiktheoretikerinnen Parsons und Ravenscroft etwa befinden sich mit ihrem Call for Papers auch 2008 noch auf der zweiten Stufe, wenn sie lediglich musikanalytische Informationen zur Musik von Frauen angehäuft haben wollen, ohne zu problematisieren, wie dieses Wissen erzeugt wird. Eva Weissweiler darf zwar für sich in Anspruch nehmen, gegen die vorherrschenden Paradigmen protestiert zu haben, doch gelingt es ihr nicht, neue Sichtweisen zu entwerfen  ; sie muss ihre Perspektive zu den Bedingungen der alten Vorurteile verteidigen (Stufe 3). Susan McClary protestiert zwar vehement gegen die existierenden Paradigmen und pflegt eine sehr eigene Perspektive, doch gelingt es ihr nicht, diese epistemologisch einwandfrei zu fundieren. Abgesehen davon reproduziert sie biologistische 40

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Geschlechterklischees, die eigentlich durch die Kritik des Feminismus in Frage gestellt und überwunden werden sollen (Knaus 2002, passim). Die Konsequenzen, die sich aus dem Konzept Gender als sozialer Konstruktion ergeben, setzt sie nicht um (Knaus 2002, 326). Daher erscheint es fraglich, ob durch ihren Ansatz Stufe 4 überhaupt erreicht werden kann. Eine wichtige – wenn nicht die wichtigste – Errungenschaft der modernen Kulturwissenschaften ist jedoch ihr Interesse an den Prozessen der Wissenserzeugung  ; sie erschöpfen sich nicht nur in Fragenkatalogen zu den hinlänglich bekannten Konzepten, sondern betreiben am Beispiel des bereits erbrachten Wissens und seiner Dispositive Archäologie. Ein erkenntnistheoretischer Paradigmenwechsel entsteht also nicht allein durch die Ergänzung fehlender Daten oder veränderter Perspektiven, sondern erst, wenn sich aus neuen Kriterien für den Umgang mit diesen eine andere wissenschaftliche Praxis entwickelt haben wird. Praktiken unterscheiden sich jedoch von Handlungen dadurch, dass jene »immer schon [laufen], die Frage ist nur, was sie am Laufen hält und wie ›man‹ oder ›Leute‹ sie praktizieren […]«, während diese erst »in Gang gesetzt werden [müssen], sie verlang[en] nach einem Impuls und einem Sinnstiftungszentrum. […] Nach einer Handlung fragt man [daher] am besten Akteure, eben weil ihre Sinnstiftung im Zentrum steht.« (Hirschauer 2004, 73) Eben diesen Unterschied wird eine erweiterte Erkenntnistheorie berücksichtigen müssen (Stufe 5)  : Die musikanalysierenden Subjekte und ihre Sprechhandlungen müssen ›mit-theoretisiert‹ werden – und zwar weniger in der Hoffnung, dass man Verhaltensweisen musikanalysierender Individuen systematisieren könnte, sondern indem man die bisherigen Praktiken als Handlungen untersucht, um daraus Kriterien dafür zu entwickeln, wie Subjekte in musikanalytischen Diskursen verhandeln können, damit die erbrachten Sichtweisen auf das Objekt nicht unverbunden nebeneinander stehen bleiben müssen. In Marcia Citrons Buch »Gender and the Musical Canon« findet sich die Kapitelüberschrift »Music as gendered discourse« (Citron 1993, 120), die im Rahmen einer neu auszuhandelnden Theorie des Musikanalysierens in dieser Form nicht mehr vorstellbar wäre, beruht sie doch auf der Denkfigur, dass sich komponierende Individuen im ›Text‹ der Musik zu Aspekten des biologischen und/ oder sozialen Geschlechts äußern. Wenn dazu aber die KomponistInnen allein musikalische Strukturen ohne Zusatzinformationen in anderen Zeichensystemen oder Medien16 verwendeten, entsteht eine gewisse Beweisnot für musikanalytische Argumentationen, wovon die Einlassungen Susan McClarys zu sogenannter ›absoluter Musik‹ zeugen. Es handelt sich also weniger um einen in Musik komponierten »gendered discourse« als vielmehr um die Diskurse der analysie41

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renden Subjekte über Musik, die mehr oder weniger von der sexuellen Identität und dem Gender dieser Individuen geprägt sind. In ihnen fließen Erlebnisse aller musikbezogenen Wahrnehmungsprozesse von auditiver Perzeption über visuelle Eindrücke sinnstiftender Leseakte bis hin zu transmusikalischen Assoziationen zusammen. Die resultierenden Metatexte sind insofern fiktional,17 als dass die lateinische Wurzel fingere »bilden, formen« bedeutet  : Musikanalysen vermitteln also weniger, wie das Objekt als solches ›ist‹, sondern wie das analysierende Subjekt das Objekt ›versteht‹  ; sie sind so ›geformt‹, dass dies anderen Individuen vermittelt werden kann. Da solche Zu-Schreibungen die Wahrnehmung von Musik verändern, sind sie per se als performative Akte zu bezeichnen, die sich ihrem Objekt ein-schreiben. Darüber hinaus tragen sie auch Spuren der Geschlechterperformanz der musikanalysierenden Frauen und Männer. Diese äußern sich nicht zuletzt im Gestus männlich oder weiblich konnotierter Über- oder Unterlegenheit, mit dem sie vollzogen werden, und bilden auf diese Weise soziale (Macht-)Verhältnisse in Wissensgesellschaften ab (Maus 1993). Aber auch in der Entscheidung, beim Musikanalysieren lediglich geschlechtsspezifische soziale Kontexte oder – Judith Butler folgend – untrennbar von diesen auch Begehren und sexuelle Praktiken mitzuberücksichtigen, äußern sich subjektive Erfahrungen und Überzeugungen der Analysierenden. Durch Genderstudien wird die ›Königsdisziplin‹ sicherlich nicht um eine ›Königinnendisziplin‹ ergänzt werden  ; doch regen sie dazu an, darüber nachzudenken, was wir durch das Analysieren von Musik überhaupt über sie wissen können, welcher Art dieses Wissen ist und wie wir intersubjektiv darüber kommunizieren können.

Anmerkungen 1 Lemmaeintrag »Periode« in Koch 1802, zit. nach http  : //www.koelnklavier.de/quellen/koch/periode.html (13.8.2010). Koch spricht daher auch von der »melodischen Interpunction«. 2 Lemmaeintrag »Perioden« in Adelung 1793–1818, zit. nach http  : //www.zeno.org/Adelung– 1793/A/Periode,+die  ?hl=periode (13.8.2010). Koch definiert die musikalische Periode als »größere oder kleinere Anzahl der Sätze, die zu einer Periode vereinigt werden, und zugleich die Art, wie diese Vereinigung geschieht«. Vgl. Lemmaeintrag »Periodenbau« in Koch 1802, zit. nach http  : //www.koelnklavier.de/quellen/koch/periodenbau.html (13.8.2010). 3 Ryo wird mit Mixolydisch, Ritsu mit Dorisch verglichen  ; vgl. etwa Burt 2001, 163. 4 Eine Ryo-Skala von D heißt dann Ichikotsu-chô, von G aus Sô-jô und von E aus Taishiki-chô, während eine Ritsu-Skala von E aus als Hyô-jô, von A als Ôshiki-chô und von H aus Banshikichô bezeichnet wird. Daraus ergeben sich für die entstehenden Musikstücke gravierende Konsequenzen  : Abhängig von der absoluten Tonhöhe wird aus dem sehr bekannten Stück Etenraku

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(»Himmelsmusik«) ein völlig anderes Stück, je nachdem, ob es im Banshiki-chô, Hyô-jô oder Ôshiki-chô – NB  : lauter Ritsu-Skalen – steht. Dies entspricht modernen Darstellungen des 20. Jahrhunderts  ; dass es aber historisch so einfach nicht ist, zeigen jüngere Beiträge (siehe etwa Ng 2002).   5 Cook 1999. Cook bringt es auf den Punkt  : »Musicologists laboured at getting the texts right  ; theorists explained why one note must (or must not) follow another.« Das unterschiedliche Fachverständnis führte konsequenterweise dazu, dass sich die music theorists von der American Musicological Society abspalteten und die Society for Music Theory gründeten. Dies erklärt auch, warum ein Buch von Joseph Kerman, das 1985 in England unter dem Titel »Musicology« erschienen war, im selben Jahr in Amerika unter dem Titel »Contemplating Music – Challenges to Musicology« veröffentlicht werden musste.   6 Diese Auseinandersetzung lässt sich schon an den Überschriften der nachstehend genannten Publikationen ablesen  : Kramer 1992a  : »Haydn’s Chaos, Schenker’s Order  ; Or, Hermeneutics and Musical Analysis  : Can They Mix  ?«  ; Burnham 1992  : »The Criticism of Analysis and the Analysis of Criticism«  ; Kramer 1992b  : »Criticizing Criticism, Analyzing Analysis«. Mit »Schenker’s Order« verweist Lawrence Kramer auf ein musikanalytisches Verfahren, das auf Heinrich Schenker zurückgeht und von seinen SchülerInnen insbesondere in den USA seiner didaktischen Verwertung zugeführt wurde. Es ist an vielen US-amerikanischen Universitäten fester Bestandteil des Curriculums.   7 So im Titel von Brett (1994)  ; darin auch Suzanne G. Cusick, »On a lesbian relation with music  : A serious effort not to think straight« (67–83), oder Jennifer Rycenga, »Lesbian compositional process  : One lover-composer’s perspective« (275–296).   8 Zwei der noch wenigen Ausnahmen sind Louise Farrenc (»Orchester- und Kammermusik sowie ausgewählte Klavierwerke« – leider noch keine Gesamtausgabe, dafür aber auf höchstem textkritischem Niveau –, hg. von Freia Hoffmann, Wilhelmshaven 1998–2005) und Annette von Droste-Hülshoff. Letzterer – einer Dichterin  ! – ist unter den Komponistinnen die erste(  !) historisch-kritische Gesamtausgabe gewidmet, weil sich die Tübinger Herausgeber nicht allein auf ihr dichterisches Werk beschränkten mochten  ; vgl. Droste-Hülshoff 1988.   9 Eine so eingeschränkte Analyseperspektive, dass man weniger von Vorverständnis als von Unverständnis reden möchte, praktiziert Wolitz 2007  : Abgesehen davon, dass er in seinem sehr disparaten Untersuchungsfeld unterschiedliche Stadien der Ausarbeitung nicht berücksichtigt und einen völlig ungeeigneten Werkbegriff zugrunde legt, erzeugt er im Wege der Musikanalyse durch unsachgemäße Gattungszuordnungen und die Anwendung eines sehr einschichtigen ›Konzepts‹ des Einflusses den Ruch der Epigonalität und des Dilettantismus der Komponistin. Darüber hinaus begreift er nicht, was Gender, geschweige denn Cultural Studies, sind, und kann daher auch nicht bemerken, dass er weder das eine noch das andere vorgelegt hat, obwohl er eben dieses für sich in Anspruch nimmt (vgl. die Rezension in Noeske/Unseld 2009). 10 Bezeichnenderweise übernimmt Czerny die Metapher in seiner Übersetzung nicht. 11 Reicha 1832, 1159  : »DE LA CRÉATION DES IDÉES MUSICALES  : Le faculté de produire ou de créer nous est donnée par la nature […] Cette faculté que l’on nomme vulgairement GÉNIE (*) […] (*) Du mot Latin GIGNERE [= zeugen], qui signifie produire, enfanter, créer.« 12 Marx 1838, 281 f. (Hervorhebungen von der Autorin)  : »Im Allgemeinen wissen wir vom Seitensatze Folgendes  : Erstens. Er hat mit dem Hauptsatze durch innere Stimmung wie äusserlich durch den Sitz seiner

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Modulation und gleiche Taktart (beides nicht ohne Ausnahmen) ein Ganzes zu bilden, folglich eine gewisse Einheit und Einigkeit zu bewahren, dabei aber Zweitens sich von ihm entschieden als ein Anderes, als ein Gegensatz loszulösen durch den Inhalt, namentlich durch die Modulation gern auch durch die Form  ; Haupt- und Seitensatz stehn als Gegensätze einander gegenüber, die in einem umfassenden Ganzen zu höherer Einheit sich innig vereinen. In diesem Paar von Sätzen ist Drittens der Hauptsatz das zuerst, also in erster Frische und Energie Bestimmte, mithin das energischer, markiger absoluter Gebildete […], das Herrschende und Bestimmende. Der Seitensatz dagegen ist das nach der ersten energischen Feststellung Nachgeschaffne, zum Gegensatz Dienende von jenem Vorangehenden Bedingte und Bestimmte, mithin seinem Wesen nach nothwendig das Mildere, mehr schmiegsam als markig Gebildete, das Weibliche gleichsam zu jenem vorangehenden Männlichen. Eben in solchem Sinn ist jeder der beiden Sätze ein Andres und erst beide mit einander ein Höheres, Vollkommneres. Aber in diesem Sinn und der Tendenz der Sonatenform ist auch Viertens begründet, dass beide gleiche Berechtigung haben, der Seitensatz nicht bloss Nebenwerk, Nebensatz zum Hauptsatz ist, mithin im Allgemeinen auch gleiche Ausbildung und gleichen Raum wie der Hauptsatz fodert [sic  !]  ; wobei natürlich von kleinlichem Taktabzählen nicht die Rede sein darf.« 13 So will McClary etwa in Kopfsätzen von Sinfonien erkennen können, dass Beethoven »ungewöhnliche Gewaltsamkeit« in der »Eroica« ausübt oder Schubert in seiner »Unvollendeten« »anteilnehmend« »das Unvermeidliche« vollzieht, wenn der Seitensatz in der Reprise eine Quinte tiefer (Beethoven) oder höher (Schubert) als in der Exposition eintritt. (Vgl. entsprechende Formulierungen in McClary 1991, 69). Schuberts Tonartenkonzept ist in der Tat so unkonventionell, dass es sehr wohl Diskussion verdient – allerdings vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Sonatensatztheorie. Es fällt schwer zu glauben, dass die in Wien ansässigen Komponisten Beethoven und Schubert das Gleichnis des Berliner Musiktheoretikers Marx zu männlichen und weiblichen Aspekten der Hauptthemen vorausgeahnt und durch die Behandlung der Seitensätze ihre persönliche Haltung zur sozialen Stellung der Frau ausgedrückt haben könnten  : Marx’ Theorie war erst viele Jahre nach dem Tod beider Komponisten im Druck nachzulesen. 14 McClary versucht zwar, sich an den semiotischen Voraussetzungen abzuarbeiten, jedoch ohne die nötige erkenntnistheoretische Stringenz. Problematisch bleibt immer ihre überhöhte Einschätzung der Verweiskraft (eigentlich selbstreferenzieller) musikalischer Zeichen  : »Yet this absence of words does not automatically exempt the repertory from the kinds of questions I am asking. […] eighteenth-century instrumental music was able to cast off verbal reference largely because its composers and audiences had inherited from opera an extensive vocabulary for the articulation of affect and topos. […] That vocabulary is still alive and well (somewhat modified over time, but still recognizable) in the music of films and advertisements« (vgl. McClary 1994, 75). Hier erweist sich einmal mehr das Fragwürdige ihrer Prämisse  : Da der ›Sinn‹ einer Botschaft nicht in ihr liegen kann, sondern ihr erst durch menschliche Leseakte verliehen wird, sind die Bedingungen der Sinnstiftung im 21. Jahrhundert ebenso wie die sinnstiftenden Indviduen ganz andere als im 18. Jahrhundert. 15 Tatsächlich wurde der uns mittlerweile sehr geläufige Begriff Gender Mainstreaming im Publikationsjahr der Studie von Van Dyne/Schuster bei der 3. UN-Weltfrauenkonferenz in Nairobi (1985) zum ersten Mal diskutiert. 16 Vielfach erleichtern Paratexte – wie etwa vertonte literarische Werke, transmusikalische Programmtitel oder Selbstzeugnisse der KomponistInnen in Briefen oder Tagebüchern – die Argu-

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mentation. Doch lassen auch solche noch erheblichen Interpretationsspielraum. Etwas leichter scheint die Situation bei Filmmusik zu sein. Doch stützen sich die Analysen dann primär auf Strukturen des Films  ; Musikstrukturen sind in diesem Kontext eher als akzidentiell zu betrachten. 17 Guck 1998. Auch wenn mit einer scheinbar neutralen Beschreibungssprache nichts anderes vermittelt werden soll als Aussagen zum Objekt, verbinden sich mit diesen nicht selten auch implizite Wertungen (vgl. Levy 1987). Insbesondere wenig komplizierte Strukturen ziehen nicht selten das Urteil des zu wenig Kunstvollen auf sich – es sei denn, es fiele jemandem ein, dieselbe Struktur mit klassischer Klarheit in Verbindung zu bringen.

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Performing Aggression Männlichkeit und Krieg im Heavy Metal In zahlreichen Heavy-Metal-Songs findet das stereotype Bild vom ›kriegerischen Mann‹ seinen Niederschlag in Form von verbalen und visuellen Darstellungen. Dass die Musik des Heavy Metal häufig als ›aggressiv‹ beschrieben wird, scheint dieses Männlichkeitsstereotyp zu bestätigen. Indessen ist bisher weitgehend ungeklärt, inwiefern sich die Darstellung kriegerischer Männlichkeiten auch in der Musik analysieren lässt bzw. was unter musikalischer ›Aggressivität‹ konkret verstanden werden kann. Diesem Problem widmet sich die vorliegende Untersuchung. Die Kategorie der Performanz stellt dabei das Paradigma der zu entwerfenden Analyse. Wenn hier der Fokus auf Darstellungen kriegerischer Männlichkeiten im Heavy Metal gerichtet wird, ist das nicht als generalisierende Aussage über das gesamte Genre zu verstehen. Zwar spielen das Thema Krieg und Darstellungen von Männlichkeiten eine große Rolle im Heavy Metal  ; auch sind in der Heavy-Metal-Szene nach wie vor die Männer in der Überzahl, insbesondere unter den MusikerInnen. Aber es gibt ebenso eine Vielfalt von Themen wie eine Reihe verschiedener Männlichkeiten, unter denen die kriegerischen nur einen bestimmten Typus darstellen. Außerdem finden sich verschiedene Darstellungen von Weiblichkeiten, und in allen Bereichen der Heavy-Metal-Kultur sind viele Frauen aktiv, ob als Musikerinnen, Journalistinnen, Fans usw.1 Dass Frauen im Heavy Metal lange Zeit marginalisiert wurden und teilweise immer noch werden, soll mit dem Fokus auf Männlichkeiten nicht fortgeschrieben werden. Allerdings wurde in dem noch jungen Feld der Männerforschung in den letzten Jahren betont, wie notwendig es ist, die vermeintliche Konstante ›Mann‹ aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln zu dekonstruieren (Erhart 2005, Horlacher 2010a). Gender Performance impliziert auch die Performanz von Männlichkeit, bedarf aber, um nicht zum Schlagwort zu verkommen, der konkreten Analyse – auch aus der Perspektive der Musikwissenschaft. Dabei impliziert die Kategorie der Performanz, dass grundsätzlich sowohl Männer als auch Frauen zur Darstellung von Männlichkeit in der Lage sind. Ebenso rezipieren sowohl männliche als auch weibliche Heavy-Metal-Fans die Performanzen kriegerischer Männlichkeit, die hier im Blickpunkt stehen. 49

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In diesem Zusammenhang relevant ist die der Musik des Heavy Metal häufig zugeschriebene Qualität der Aggressivität, die zwar nicht bedeutungsgleich ist mit kriegerischer Gewalt, sich aber mit dieser inhaltlich überschneidet. Die Frage nach Darstellungen von Krieg im Heavy Metal gehört zur umfangreichen Debatte um die Fülle an Gewaltdarstellungen in der populären Kultur. Im öffentlichen ›Besorgnis-Diskurs‹ wird bei Heavy-Metal-Fans ebenso wie bei den Fans von Horrorfilmen »[v]on der Gewalttätigkeit des Genres auf die Gefährdung seiner KonsumentInnen geschlossen« (Röser 2003, 218, vgl. Winter 1995, 127 f.). Wichtig ist mir, darauf hinzuweisen und an gegebener Stelle in der Diskussion in der hier gebotenen Knappheit darzustellen, dass solche Stereotype der Komplexität der Rezeption von Heavy-Metal-Musik (vergleichbar derjenigen von Horrorfilmen) nicht gerecht werden. Eine nähere Untersuchung der Rezeption von Darstellungen kriegerischer Männlichkeit durch Heavy-Metal-Fans kann und will dieser Beitrag jedoch nicht bieten.2 Heavy Metal ist heute eine vielfältige Musikkultur mit zahlreichen Subgenres, die in verschiedenen Szenen rund um den Globus verortet ist. Meine Beispiele geben notwendigerweise einen begrenzten Einblick in diese Vielfalt. Sie dienen hier dem Ziel, allgemeine Überlegungen zur Performanz kriegerischer Männlichkeiten zu exemplifizieren und einen Eindruck von diversen ästhetischen Ausprägungen zu vermitteln.

Heavy-Metal-Männlichkeiten Die Diskussion von Männlichkeitsbildern im Heavy Metal basiert u. a. auf dem Paradigma der Repräsentation (vgl. von Hoff 2005, Nieberle 2010, 515). Demzufolge repräsentiert der Heavy Metal Männlichkeit bzw. Männlichkeiten, das heißt, er fungiert als Abbild von Männlichkeit. Es wird also von der Existenz eines Vorbilds ausgegangen, aus dem ein Abbild erzeugt wird. Das Verhältnis von Vorbild und Abbild ist zu einem gewissen Grad beweglich  : Erstens sind die Vorbilder von Männlichkeit als Stereotype erkennbar, das heißt, sie sind (wie z. B. die männliche Codierung der E-Gitarre) kulturell bedingt und damit potenziell wandelbar  ; zweitens ist Männlichkeit nicht exklusiv an Männer gebunden, sondern kann auch von Frauen dargestellt werden (im Bereich des britischen Heavy Metal z. B. durch die Band »Girl School«, vgl. Weinstein 2009). Trotz dieser grundsätzlich gegebenen Beweglichkeit wird das Repräsentationsparadigma von Seiten der dekonstruktivistischen Gendertheorie als starr kritisiert, da es das Vorbild der geschlechtlichen Identität als gegeben annimmt und seine Beeinflus50

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sung durch die Abbilder nicht zur Kenntnis nimmt (von Hoff 2005). So würden mit der Aussage, ein Krieger repräsentiere Männlichkeit, die solcher Männlichkeit zugrunde liegenden Stereotype eher verfestigt als hinsichtlich ihrer soziohistorischen Bedingtheit hinterfragt. Demgegenüber wurde in der theoretischen Gender-Debatte zunehmend das dynamische Paradigma der Performativität von Geschlecht vorgezogen, das vor allem auf die Arbeiten von Judith Butler zurückgeht (Butler 1991, 1997, vgl. von Hoff 2005). Auf das Konzept von Männlichkeit bezogen bedeutet Performativität, dass Männlichkeit erst dadurch entstehe, indem sie durch wiederholte performative Akte hergestellt werde. Männlichkeit werde durch solche Akte ›gemacht‹, weil diese kulturellen Normen entsprächen, die diskursiv geprägt seien. Butler unterscheidet ihren Begriff der Performativität von der Performanz im Sinne individueller Selbstdarstellung eines Subjekts, das aus freier Entscheidung auf die Geschlechternormen Bezug nimmt  : Die ›performative‹ Dimension der Konstruktion ist genau die erzwungene unentwegte Wiederholung der Normen. In diesem Sinne existieren nicht bloß Zwänge für die Performativität  ; vielmehr muß der Zwang als die eigentliche Performativität neu gedacht werden. Performativität ist weder freie Entfaltung noch theatralische Selbstdarstellung, und sie kann auch nicht einfach mit darstellerischer Realisierung [performance] gleichgesetzt werden. (Butler 1997, 139)

Geht es Butler also um die grundsätzliche Performativität von Geschlecht in der Alltagsrealität, erweist sich ihr Konzept dennoch auch für künstlerische Gender Performances als fruchtbar, gerade wo es um spielerische und parodistische Praktiken der Maskerade geht wie z. B. um Fetischisierung und Travestie. »Jedwede Geschlechtsidentität kann insofern grundsätzlich als Maskerade, als Verkleidungsspiel und damit als permanente Nachahmung eines nicht vorhandenen Originals gelten.« (von Hoff 2005, 173) In diesem Sinn befragt kritische Männerforschung künstlerische Praktiken daraufhin, »wie also Performativität in performance überführt wird  : Dies ist – neben anderem – das eigentliche Feld von masculinity studies, die sich nicht damit begnügen wollen, die Konstruiertheit des männlichen Geschlechts nur zu behaupten und die Zeichen einer äußerlich ›starken‹ und ›mächtigen‹ Männlichkeit bloß vorzuführen oder zu kritisieren.« (Herrmann/Erhart 2002, 38 f.) In angewandten Analysen standen bisher visuelle Praktiken im Vordergrund, auch dort, wo es um Musik geht.3 Robert Walser liefert in seiner Studie über »Power, Gender, and Madness in Heavy Metal Music« zwar detaillierte Einblicke in die Musik des US-amerikanischen Heavy Metal der 1980er-Jahre, fokussiert in seiner Analyse von Männlichkeiten aber auf Mu51

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sikvideos (Walser 1993). Unbestritten bieten Musikvideos und die visuelle Ebene von Musikaufführungen ergiebiges Material zur Analyse von Gender Performances, insbesondere das Spiel mit Fetischen und Travestie wie im Glam Metal oder in Einzelfällen auch im Black Metal.4 Ohne die Notwendigkeit und Ergiebigkeit interdisziplinärer Perspektiven auf die diversen medialen Ebenen von Performanz infrage stellen zu wollen, möchte ich im Folgenden aber den Fokus auf die musikalische Ebene richten.

Krieg, Aggression und Aggressivität im Heavy Metal Die stereotype Assoziation von Heavy Metal und Männlichkeit korreliert insofern mit der großen Bedeutung von Aggression im Heavy Metal, als Aggression zu den zentralen Wesensmerkmalen des klischeebeladenen ›harten Mannes‹ gehört (Badinter 1993, 161). Aggression kann einerseits als schädigendes oder verletzendes Verhalten und somit als Gewalt gesehen werden (Imbusch 2002, 33), beinhaltet andererseits aber auch eine nicht destruktive Komponente im Sinn von Durchsetzungsfähigkeit und Selbstbehauptung (Musfeld 2002). Von Seiten des Feminismus und der Genderforschung sowie in der jüngeren Aggressionsforschung wird die Vorstellung, Männer seien aggressiver als Frauen, in Frage gestellt (Micus 2002, Musfeld 2002, Weindl 2005, 61–62). Aus der kulturellen Norm ergeben sich Benachteiligungen für Frauen, indem Aggression als offene Form der Selbstbehauptung und Durchsetzung bei Männern eher toleriert, bei Frauen dagegen »schneller stigmatisiert oder psychiatrisiert« wird (Musfeld 2002, 6). Im Sinn von Gewalt wird Aggression im Heavy Metal in Songtexten sowie in der Ikonografie von Albumcovern und Band-T-Shirts deutlich in Szene gesetzt. Von den verschiedenen Formen von Gewalt (vgl. Imbusch 2002) steht dabei die physische Gewalt, häufig in Form von Krieg, an erster Stelle. Dementsprechend ist der Krieger bzw. die Kriegerin ein häufig anzutreffendes Bühnenimage von Metal-Musikern und -Musikerinnen (siehe Abb. 1 und 2). Walser hat die männlichen Krieger-Bilder in Songtexten und auf Albumcovern mit den »Männerphantasien« verglichen, die Klaus Theweleit bei soldatischen Männern der Freikorps analysiert hat (Theweleit 2009). In ähnlicher Weise wie dort werde im Heavy Metal eine kriegerische Männlichkeit mit gepanzerten Körpern inszeniert, die darum bemüht sei, alles Weibliche, insbesondere jegliche erotische Anziehung, aus ihrer Welt auszuschließen  : 52

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Abb. 1  : Das Foto der norwegischen (Männer-) Band »Enslaved« aus dem Booklet ihres Albums »Frost« (1994) zeigt die Musiker in einer krude gemischten Aufmachung für (pseudo-) wikingerzeitliche Kämpfer mit Helm und Schwert sowie in Lederbekleidung und mit Accessoires der S/M-Szene. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Osmose Productions, Beaurainville, Frankreich

Abb. 2  : Auf dem Cover-Foto zum Album »Metalwar« (2009) der schwedischen (Frauen-) Band »Hysterica« vereint sich ein Frauengesicht mit der Klinge eines aufwendig gestalteten Fantasieschwerts. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Crong Production. Foto : Gustaf Sandholm Andersson

The historical context and social location of these fantasies marks them as very different from heavy metal, but the writings and drawings of the German soldiers Theweleit studied evince a similar exscription of women and a concomitant hardening and metallic sheating of the male body as a defense against culturally produced gender anxieties. Such images from heavy metal lyrics and album cover art could be cited by the hundreds, in a tradition that goes back to one of the founding texts of heavy metal, »Black Sabbath’s« »Paranoid« (1970), which included the song »Iron Man«. (Walser 1993, 116)

Der gesamte Bereich der Gewaltdarstellung in Heavy-Metal-Songtexten ist ein weites Feld, das thematisch u. a. okkulte Rituale sowie Körperzerstörungen umfasst, wie sie in Horrorfilmen vorkommen, und hinsichtlich der Fiktionalität dieser Darstellungen und des ethischen Umgangs damit reiches Diskussionsmaterial bietet (vgl. Kahn-Harris 2007, Purcell 2003). Jedenfalls sind verschiedene Formen physischer Gewalt (mehr als z. B. verbale Aggression) und insbesondere Krieg zentrale Themen des Heavy Metal (Chaker 2006, Puri 2010). 53

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Dabei darf man nicht übersehen, dass im Heavy-Metal-Diskurs die metaphorische Gleichsetzung von Heavy Metal und Krieg einen Topos darstellt. Quer durch die Geschichte und die verschiedenen Subgenres des Heavy Metal finden sich zahlreiche Songs, in denen Krieg als Metapher für Metal, das heißt für die Musik und das Lebensgefühl der Metal-Szene, besungen wird. Ausdrücke wie »Metal Warriors« werden auf das Kollektiv der Band bzw. der Band und ihrer Fans angewendet und tragen zur Selbstinszenierung der Szene als einer Gruppe bei, die erstens von einem starken inneren Zusammenhalt geprägt ist und sich zweitens als im Widerstreit zur übrigen Musikwelt versteht. Indem Krieg im Diskurs zur Metal-Metapher wird, erscheint das Image des Kriegers als authentisches Metal-Image. In dieses Image fügt sich auch, dass E-Gitarren gerne als Äxte oder Schwerter bezeichnet, also Musikinstrumente mit Waffen gleichgesetzt, werden. Wenn im Heavy Metal Krieg thematisiert wird, steht in den Augen der Metal-Fans häufig weniger die fiktive Darstellung des Kriegs im Vordergrund als dass es darum geht, den Heavy Metal und das Wir-Gefühl der Metal-Szene zu feiern. Wenn Krieger und damit auch Metal-Krieger in der modernen westlichen Kultur als Verkörperungen von Männlichkeit wahrgenommen werden, hängt das mit dem traditionellen Dualismus vom ›kriegerischen Mann‹ und der ›friedfertigen Frau‹ zusammen, der »sich bis zur antiken Vorstellung von der Liebe als weiblichem Gegenbild zum Krieg zurückverfolgen läßt, die durch das Paar Venus und Mars symbolisiert wurde« (Hagemann 1998, 13). Aus der noch jungen Verbindung von Genderforschung und Militärgeschichte kommt die Erkenntnis, dass dieser Dualismus aber innerhalb des realen Kriegswesens erst relativ jungen Datums ist. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war die Bedeutung des Kriegertums für das vorherrschende Männlichkeitsideal noch gering  : Der Anteil der Soldaten unter den Männern war gering, auch waren nicht alle mittelalterlichen Ritter Krieger und in den Lebensgemeinschaften der Armeen gehörten Frauen und Kinder selbstverständlich mit dazu (Hagemann/Pröve 1998, Lundt 2001). Erst im bürgerlichen Zeitalter, im 19. Jahrhundert, wurde das Militär zu einer ›Schule der Männlichkeit‹5 und dadurch kam es zu einer Verfestigung des Stereotyps vom ›kriegerischen Mann‹. Im Heavy Metal wird die stereotype Männlichkeit des Kriegertums durchaus häufig bekräftigt, z. B. wenn, wie Deena Weinstein gezeigt hat, die KriegerImages der Songtexte mit stereotypen Männlichkeitsmerkmalen auf der visuellen oder musikalischen Ebene kombiniert werden (Weinstein 2009). Auch wird das Kollektiv der Metal-Krieger nicht selten verbal als männlich vereindeutlicht, wenn z. B. die Band »Manowar« in ihrem Song »Metal Warriors« von »Brothers 54

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of true Metal« singt.6 Andererseits können sich auch viele weibliche Fans mit diesem als kriegerisch charakterisierten Kollektiv identifizieren. Manche Musikerinnen formulieren das kriegerische Metal-Kollektiv geschlechtsneutral, sodass es auf der verbalen Ebene Männer und Frauen gleichermaßen einschließt.7 Andere Musikerinnen geben dem Kriegerimage eine dezidiert weibliche Prägung, z. B. die Frauenband »Hysterica«, deren Debütalbum im Titel »Metalwar« den beschriebenen Topos aufgreift (siehe Abb. 2). Solche Bilder weiblicher Kriegerinnen finden ihren Rückhalt in der gestiegenen Popularität fiktiver Heroinnen seit der Comicfigur »Wonder Woman« (1941) und insbesondere der erfolgreichen Fernsehfilm-Amazone »Xena« (1995–2001), die auch in der Heavy-Metal-Szene ihre Fans hat.8 Kriegsdarstellungen begegnen mir zuhauf auch im Rahmen meines laufenden Forschungsprojekts zur Rezeption nordischer Mythen im Heavy Metal.9 Themen rund um die nordische Mythologie und die Wikinger erfreuen sich seit den 1990er-Jahren gesteigerter Beliebtheit im Heavy Metal und haben zur Ausprägung eigener Subgenres wie Viking Metal und Pagan Metal beigetragen.10 Das Kriterium für die Aufnahme von Heavy-Metal-Alben in meine Untersuchung ist der textliche Bezug zur nordischen Mythologie. Dieses Korpus offeriert eine Palette verschiedener Darstellungen nordischen Kriegertums. Abseits der Text­ analyse stellt sich die Frage, inwiefern sich Kriegsdarstellungen auch musikalisch niederschlagen. Olavi Mikkonen, Gitarrist der schwedischen Band »Amon Amarth«, deren Songs ausschließlich von Wikingern und nordischer Mythologie handeln, sagte mir in einem Interview, das Thema Krieg passe eben zur HeavyMetal-Musik.11 Das ist eine einfache, aber auch sehr allgemeine Antwort, die der Differenzierung bedarf  : Welche musikalischen Eigenschaften sind es, die zum Krieg ›passen‹  ? Eine Antwort kann in der angesprochenen Ambiguität des Aggressionsbegriffs liegen. Schließt Aggression als Gewalt einerseits den Krieg mit ein, beinhaltet sie andererseits auch eine Durchsetzungskraft, die Musik sich als expressive Qualität zu eigen machen kann, ohne dass dies mit einer verletzenden oder schädigenden Wirkung einhergeht. (Dass die hohen Lautstärken, in denen Heavy-Metal-Musik oft gespielt bzw. gehört wird, Hörschäden erzeugen können und einige Heavy-Metal-Tanzformen ein gewisses Verletzungsrisiko bergen, steht durchaus in Zusammenhang mit der aggressiven Qualität der Musik, kann aber innerhalb der vorliegenden Argumentation vernachlässigt werden.) Dementsprchend wird Heavy-Metal-Musik von Metal-MusikerInnen und -Fans, aber auch von Außenstehenden immer wieder als »aggressiv« charakterisiert. In diesem Sinn bezeichnet »Aggressivität« kein Potenzial zu aggressivem Verhalten 55

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als »Vorstufe zur Gewalt« (Imbusch 2002, 33), sondern eine Ausdrucksqualität. Zum Beispiel beschreibt der Gitarrist Edward Van Halen, dessen spektakuläre Soli viele GitarristInnen in den 1980er-Jahren und später geprägt haben, wie er seinen Metal-Stil gerade mittels Aggressivität vom Vorgängerstil des Blues absetzte  : I can play really good blues – that’s the feeling I was after. But actually I’ve turned it into a much more aggressive thing. Blues is a real tasty, feel type of thing  ; so I copped that in the beginning. But then when I started to use a wang [vibrato] bar, I still used that feeling, but rowdier, more aggressive, more attack. (Zit. nach Walser 1993, 68, Hervorhebung F. H.)

Für solche Charakterisierungen von Metal-Musik als aggressiv finden sich zahlreiche Belege. Dass Aggressivität dabei eine positive, als authentisch geltende Eigenschaft der Musik verkörpert, bestätigt sich z. B. in Rezensionen neuer Alben in Heavy-Metal-Magazinen. Hier ein Beispielzitat vom Anfang des Rezensionsteils aus einer aktuellen Ausgabe des deutschen »Metal-Hammer«  : »›Abadden‹ verschmelzen zackiges Riffing, feine Leads, Arsch-tretendes Drumming und aggressive Vocals zu einer satten Klangwand, bei der das Songwriting und somit der Abwechslungsreichtum stets im Vordergrund steht.« (Strater 2010, 83) Typisch ist allerdings, dass die affirmative Beschreibung musikalischer Aggression (»Arsch-tretendes Drumming«)12 kombiniert wird mit ästhetischen Wertungen, die die spieltechnische und kompositorische Kontrolliertheit, Kreativität und Ausgewogenheit der Musik hervorheben. Rainer Diaz-Bone, der den HeavyMetal-Diskurs anhand ausführlicher Analysen von Magazinen untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass Aggressivität eher in der Außenwahrnehmung der Musik betont wird, während Wertungen wie die zuletzt genannten in der Innenwahrnehmung wichtiger sind  : Extreme Lautstärke, ›ästhetischer Primitivismus‹, Aggressivität und ein dumpfer Kult männlicher Macht sind aus Sicht der Außenwahrnehmung die kennzeichnenden Eigenheiten. Der Heavy-Metal-Diskurs als kulturweltliche Innenansicht des Genres erweist sich dazu wie die Gegenthese. Beständigkeit, Ausgewogenheit und Reifung sind die Begriffe, die mit den durch sie diskursiv organisierten kulturellen Wissenskonzepten zu einer Qualitäts- und Entwicklungssemantik gehören, welche die Gefühlsstruktur des Heavy Metals [sic  !] kennzeichnen. (Diaz-Bone 2010, 397)

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Vor diesem Hintergrund relativiert sich die stereotype Gleichsetzung von Heavy Metal, Aggression und Männlichkeit nochmals. Aggressivität als Merkmal von Männlichkeit erweist sich insofern als Konstrukt, als sie in der vordergründigen Außenwahrnehmung eine größere Rolle spielt als innerhalb des Heavy MetalDiskurses, der sich en détail mit den musikalischen Parametern auseinandersetzt. Exkurs  : Schlachtenmusiken Während Aggressivität als Expression in relativ abstraktem Zusammenhang zum Krieg steht, fällt bei oberflächlichem Hören zunächst ein anderes Phänomen der musikalischen Kriegsdarstellung im Heavy Metal auf  : In zahlreichen Songs werden Kriegsgeräusche zitiert. Diese »musikalische Lust am Kriegerischen« (Wenzel 2005) ist musikhistorisch gesehen nichts Neues  : In der Bataille hat die musikalische Nachahmung von Schlachten eine lange Tradition, die sich vom 16. bis ins 19. Jahrhundert beachtlicher Beliebtheit erfreute.13 Auch wenn HeavyMetal-MusikerInnen sich vermutlich kaum bewusst auf diese Tradition beziehen, könnte man angesichts der Häufung von Schlachtenmusiken im Heavy Metal von einem populärmusikalischen Bataille-Subgenre sprechen. Die folgenden drei Beispiele sind willkürlich gewählt, mögen aber illustrieren, dass das Phänomen zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Subgenres des Heavy Metal aktuell ist. Alle drei Songs beginnen mit Zitaten realistischer oder imitierter Kriegsgeräusche, um diese dann in die kompositorischen Strukturen zu transformieren  : 1. Die deutsche Power-Metal-Band14 »Helloween« leitet ihren Song »Warrior« (auf dem Album »Walls Of Jericho«, 1985) mit einem Geräuschensemble aus Maschinengewehrfeuer, Einzelschüssen, Explosionen und Flugzeugtriebwerken ein. Das einsetzende Gitarrenriff greift mit schnellen Tonrepetitionen das Maschinengewehrfeuer auf  ; auf einer weiteren Gitarre wird das Geräusch eines vorbeifliegenden Kampfjets imitiert, indem der Spieler mit dem Plektrum über die umsponnenen Saiten fährt. Der Höreindruck lässt offen, ob es sich bei den konkreten Geräuschen um ein Zitat, z. B. aus einem Film, handelt oder ob diese eigens für den Song montiert wurden. 2. Deutlicher erscheint der Zitatcharakter am Anfang des Songs »Panzer Division Marduk« vom gleichnamigen Album der schwedischen Black-MetalBand »Marduk« (1999)  : Hier ertönt ein Ensemble aus Schritten, Stimmen und anderen nicht genau erkennbaren Geräuschen, sodann ein Ruf »Feuer  !« (auf Deutsch)15, wiederholt von einer zweiten Männerstimme, jeweils gefolgt von einem Kanonenschuss, danach ein Aufschrei (»Ah  !«) und eine größere, anhaltende 57

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Explosion. Über dieser setzt die Band mit einem schnellen Black-Metal-Riff ein, nach einem Break nochmals von mehrfachen Detonationsgeräuschen unterbrochen, die unmittelbar in einen Schlagzeugwirbel übergehen. 3. Die schwedische Melodic-Death-Metal-Band16 »Arch Enemy« eröffnet »Blood Is on Your Hands«, den ersten Song ihres Albums »Rise of the Tyrant« (2007), mit Geschützfeuer und zwei nacheinander einsetzenden Sirenen. Über dem Sirenengeheul setzt, beginnend mit einer Gitarre, die Band ein, vier Takte später dann die Sängerin Angela Gossow mit einem lang gezogenen Schrei, dessen schrill-heiserer Anteil sich in der Tonhöhe dem höchsten Sirenenton (es²) annähert. Bei allen drei Beispielen ist dem Hörer/der Hörerin von Anfang an klar, dass die Musik von Krieg handelt – und dies auch, ohne den Songtitel zu kennen und noch bevor er/sie eine einzige Silbe gesungenen Texts vernommen hat. Zugleich verdeutlicht der Umstand, dass es sich bei der Erzeugerin des (Kriegs-) Schreis im dritten Beispiel um eine Frau handelt, dass das Stereotyp vom ›kriegerischen Mann‹ sich im Heavy Metal nicht durchweg bestätigt.17 Der Bezug zum Krieg vollzieht sich in der hier beschriebenen Praxis über das akustische Zitat und dessen Transformation. Der Krieg und – sofern man dem Stereotyp folgt – die kriegerische Männlichkeit kommen als akustisches Zeichen ins Spiel.

Kriegsgesänge und Kampfgeschrei Die Frage nach der musikalischen Performanz von Männlichkeit im Heavy Metal führt letztendlich zu den Verkörperungsbedingungen der Musik (vgl. von Hoff 2005, 173). Auf der visuellen Ebene ist die zentrale Bedeutung des Körpers für die Performanz bereits angesprochen worden  ; hierin ähnelt die Aufführung von Musik dem Theater bzw. man kann von der Theatralität der musikalischen Aufführung sprechen. Dass der Körper und mit ihm auch das Geschlecht des oder der Aufführenden bei der Wahrnehmung von Musik immer eine Rolle spielt, wurde in der Musikwissenschaft kaum reflektiert, solange diese sich im Wesentlichen auf das klassisch-romantische Konzertrepertoire konzentrierte und dabei von der Untersuchung des Notentexts ausging. Die auf dem Feld der Theatralität entwickelten Theorien schärften den Blick für die Verkörperungsbedingungen musikalischer Aufführungen, was hier wie im Theater durch die künstlerische Praxis befördert wurde, indem in der Neuen Musik parallel zur PerformanceKunst seit den 1960er-Jahren z. B. körperliche Anstrengungen der Aufführenden deutlich sichtbar gemacht wurden (Brüstle 2001). Der Soziologe Simon Frith hat 58

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darauf verwiesen, dass im Bereich der Populären Musik der Performanz seit jeher größere Bedeutung für Wahrnehmung und Bewertung zugemessen wurde, u. a. weil hier der Ereignischarakter einer Aufführung selbstverständlich dazugehörte (Frith 1996, 204). Er verweist auf Parallelen zwischen der Populären Musik und der Performance-Kunst, von der sich weite Teile der Theoriedebatte haben inspirieren lassen. Im Kern beschreibt Frith Performanz als einen sozialen Akt, zu dem immer auch ein Publikum gehört, das seinerseits auf den Körper der Performenden reagiert. Als ZuhörerInnen erleben wir im musikalischen Klang immer auch denjenigen oder diejenige, der/die diesen Klang erzeugt  : »The presence of even a recorded sound is the presence of the implied performer – the performer called forth by the listener – and this is clearly a sensual/sexual presence, not just a meeting of minds.« (Frith 1996, 215) Demnach ist Musik nicht nur als LiveEreignis, sondern auch als Album-Einspielung auf ihre Körperlichkeit hin zu analysieren. Zentral ist für den Ausdruck von Körperlichkeit die Stimme, »ein performatives Phänomen par excellence« – nicht nur im Musikbereich (Kolesch/Krämer 2006, 11). Ob gesungen, gesprochen oder geschrien, die Stimme ist »individuell und sozial, Ausdruck einer immer auch geschlechtlich konnotierten Individualität wie auch Organ elementarer Vergemeinschaftung. Und schließlich ist die Stimme immer beides  : Aktion der Sprecherin [des Sprechers, Anm. F. H.] und Passion des Ohres, welches Anruf und Ansprache aufnimmt.« (Kolesch/Krämer 2006, 12) Die gesungene Stimme ist Teil der Musik und gehört zugleich zur Person des Sängers/der Sängerin. Eben darin besteht nach Frith eine der Parallelen zwischen Populärer Musik und Performance-Kunst  : »The central pop gesture, a sung note, rests on the same inner/outer tension as performance art  : it uses the voice as the most taken-for-granted indication of the person, the guarantor of the coherent subject  ; and it uses the voice as something artificial, posed its sound determined by the music.« (Frith 1996, 210) Die Stimme verweist letztendlich auf drei Ebenen der Identität  : Erstens stellt sie den Inhalt des Songs dar, verkörpert dessen SprecherInneninstanz bzw. das lyrische Ich, zweitens stellt sie den/ die SängerIn als Bühnenfigur dar, seine/ihre Identität als MusikerIn bzw. Star, und drittens ist sie nicht zu trennen von der realen Person bzw. dem Subjekt, das einen Song, aber zugleich auch sein Image als MusikerIn darstellt  : »A physical body producing a physical sound  ; sweat produced by real work  ; a physicality that overflows the formal constraints of the performance.« (Frith 1996, 212) Wie die Musikwissenschaftlerin Suzanne Cusick hervorhebt, die sich unmittelbar auf Butler bezieht (»How could Butler’s ideas pertain to music  ?«), verweist die Körperlichkeit der Stimme nicht auf ein biologisch determiniertes Ge59

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schlecht, sondern auf ein kulturell geprägtes. Was Kolesch und Krämer als das Individuelle und Soziale der Stimme beschreiben, ist bei Cusick das Verhältnis zwischen der Sängerin/dem Sänger und ihrer bzw. seiner Kultur. Die Stimme, die aus dem Innern des Körpers kommt, stellt die Grenzen des Körpers zur Außenwelt dar  : »All voices, but especially singing voices, perform the borders of the body. They perform those borders’ relationship both to the body’s interior and to the exterior world.« (Cusick 1999, 29) Dementsprechend vermittelt die Performanz von Männlichkeit in einer Heavy-Metal-Stimme zwischen der Individualität des Sängers, die nach Frith auf bis zu drei Ebenen zu denken ist, und seinem kulturellen Kontext. Gerade die Vielfalt des Heavy Metal mit seinen zahlreichen Subgenres spiegelt die kulturelle Prägung der Stimmen wider, wie der nähere Blick auf einige Beispiele zur Darstellung von nordischem Kriegertum im Folgenden zeigen soll. Dabei stellt sich die Frage, ob das in Songtexten und oft visuell unterstrichene Kriegerische sich ebenfalls in der stimmlichen Performanz niederschlägt. Die Band »Manowar« hat mit Eric Adams einen Sänger, der das Stimmideal des klassischen Heavy Metal der 1980er-Jahre verkörpert. Grundsätzlich ist der Gesang im Heavy Metal immer expressiv und kraftvoll, niemals zurückhaltend, cool oder fragil. Bei »Manowar« korrespondiert Adams’ vokaler Ausdruck von Kraft mit einer bombastischen Ästhetik, die sich u. a. auf Richard Wagner als Vorbild beruft (vgl. Custodis 2009, 23–60). Durch ihre Songtexte, in denen es meist um heroische Kämpfe geht, nicht zuletzt aber durch ihre visuellen Inszenierungen, in denen sich Bodybuilder-, Biker- und martialischer Barbarenstil abwechseln bzw. mischen, verkörpern die Musiker von »Manowar« das Klischee von harten Heavy-Metal-Männern, »Metal for real men« (Sharpe-Young 2007, 311). Adams’ Stimme zeichnet sich wie die anderer Metal-Sänger seiner Generation, die in den 1980er-Jahren (oder früher) bekannt wurden, z. B. Rob Halford, Bruce Dickinson oder Udo Dirkschneider, durch ihre enorme Höhe aus. Die hohen Männerstimmen lassen sich auf die Blueswurzeln zurückführen, die im Heavy Metal aber – durchaus analog zum obigen Zitat Edward Van Halens über die Blueselemente in seinem Gitarrenspiel – ›aggressiver‹, mit durchgängig hohem Kraftaufwand versehen werden. Im Song »Gates of Valhalla« vom Album »Into Glory Ride« (Manowar 1983) singt Adams aus der Perspektive eines Kriegers, der nach seinem Heldentod erwartet, in Walhall, das heißt in der jenseitigen Halle des Gottes Odin, aufgenommen zu werden. Am Ende des Songs führt er in hoher Lage einen mehrfachen final battle cry aus. Dabei nutzt er die Kopfstimme und setzt hörbar viel Druck ein, sodass sich sein Gesang tatsächlich einem Schreien annähert, zugleich aber einer eindeutigen Melodielinie folgt. Dieser 60

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extremen vokalen Performanz kann man durchaus einen aggressiven Charakter zubilligen, aber sie verliert dabei nie die Kontrolle. Die Tonhöhe überschreitet einerseits eindeutig den Normbereich männlichen Gesangs unserer westlichen Kultur, andererseits entspricht sie, gerade auch indem sie von einem Mann ausgeführt wird, der Genrekonvention des ›klassischen‹ Heavy Metal. In dem Maß, wie eine männliche Identität unter Heavy-Metal-Sängern in den 1980er-Jahren noch die Norm war, stellte ein außerordentlich hoher Gesang innerhalb des Genres Männlichkeit nicht infrage. Beim Hören frage ich mich allerdings, ob hier das lyrische »Ich« des Songtexts nicht hinter der Identität der Bühnenfigur bzw. des Musikers Eric Adams verschwindet. Jedenfalls wird die Fiktionalität der mit Adams’ Stimme singenden Kriegerfigur durch die Artifizialität des final battle cry, nicht zuletzt auch durch dessen enorme Höhe, stark betont  ; zugleich treten Adams’ körperliche Anstrengung, aber auch die gekonnte Beherrschung in diesem gesungenen Schrei in den Vordergrund der Wahrnehmung.

Notenbeispiel 1  : Ausschnitt aus »Gates of Valhalla« aus dem Album »Into Glory Ride« von »Manowar« (1983). Transkription  : F. H.

In den 1980er-Jahren entstanden innerhalb des Heavy Metal verschiedene Subgenres wie Death Metal und Black Metal, die sich zur Kennzeichnung ihrer grenzüberschreitenden Ästhetik unter die Kategorie Extreme Metal subsumieren lassen (Kahn-Harris 2007). Der Extreme Metal zeichnet sich stilistisch durch eine gesteigerte Aggressivität aus, die je nach Subgenre verschieden ausgeformt wird. Im Bereich der Stimme wird das melodische Singen häufig durch ein ästhe61

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tisiertes Schreien abgelöst. Typisch für den Black Metal, dem mein nächstes Beispiel entstammt, ist ein hohes Kreischen, so auch bei dem Sänger Grutle Kjellson von »Enslaved«, einer der bekanntesten Bands des norwegischen Black Metal der 1990er-Jahre. Ihr Song »Wotan« aus dem Album »Frost« (1994, siehe Abb. 1) stellt dem Text nach eine archaische Herausforderung zum Kampf dar  : Trekk sverd, kjemp med Krigers Gud  : Wotan  ! [Draw sword, fight with the war god  : Wotan  !]18

Kjellsons Kreischen auf unbestimmter Tonhöhe ist in puncto Aggressivität eine deutliche Steigerung gegenüber dem battle cry von Adams. Die Stimme hat hier nicht nur eine raue Farbe, sie klingt gänzlich rau, heiser, gespannt. Gegenüber Adams’ Gesang tritt hier durch die Abwesenheit der Melodie auch der Aspekt der Kontrolle in den Hintergrund. Die ungefähre Tonhöhe lässt kaum eine Unterscheidung zu, ob es sich der kulturellen Norm nach um eine Männer- oder Frauenstimme handelt. Allerdings wird im Schreien, das zugleich ein NichtSingen ist, Männlichkeit performiert. Cusick hat auf das Faktum hingewiesen, dass in der westlichen Kultur seit dem späten 20. Jahrhundert die meisten Frauen singen, die meisten Männer dagegen nicht (Cusick 1999, 33). Anhand einer Darbietung von Eddie Vedder, dem Sänger der Rockband »Pearl Jam«, zeigt sie, dass dieser mit seiner Stimme Männlichkeit performiert, indem er gesanglichen Konventionen nicht entspricht und damit die kulturelle Norm »Männer singen nicht« bestätigt. Grutle Kjellsons Black-Metal-Kreischen lässt sich sinnvoll als Steigerung von Eddie Vedders Nicht-Singen und insofern als gesteigerte Performanz von Männlichkeit deuten. Im Death Metal hat sich mit dem Growling eine Praxis des ästhetisierten Schreiens etabliert, die nicht nur im Sinn des Nicht-Singens, sondern auch aufgrund ihrer tiefen Tonlage (im Bassbereich) männlich konnotiert ist. Typische Death-Metal-Themen sind Tod, brutale Gewalt, häufig im Stil von Horrorfilmen, Krieg, Depression. Die Songs der schwedischen Band »Amon Amarth« handeln hauptsächlich von Kämpfen von Wikingern oder Erzählungen vom Weltende aus der nordischen Mythologie. Bestachen Sänger des klassischen Heavy Metal durch ihre Höhe, fällt der Vokalist von »Amon Amarth« Johan Hegg durch sein relativ tiefes Growling auf.19 Interessant an Hegg ist außerdem, dass er in LiveSituationen das Gewicht seiner Stimme zwischen den Songs einzusetzen weiß, indem er auch Ansagen in tiefer Lage ausführt – was beim Publikum durchaus Wirkung erzeugt.20 In solchen Konstellationen mit hörbarer Reaktion der Zuhörerinnen und Zuhörer wird der performative Aspekt der Stimme besonders 62

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deutlich. Dabei zeigt sich, dass die der Bassstimme eingeschriebene Männlichkeit nicht zwingend etwas mit Aggression zu tun hat, sondern auch mit einem romantisierenden, auf ausgeprägten Geschlechterdifferenzen basierenden Bild von Männlichkeit  : Laut Beobachtungen von Szene-ReporterInnen zieht Hegg viele weibliche Fans aufgrund seiner Stimme an. Wenn eine schreiende Männerstimme mit einer singenden Frauenstimme im Duett erklingt, werden beide Seiten der kulturellen Norm ›Frauen singen, Männer hingegen nicht‹ zugleich performiert. Solche Konstellationen kommen insbesondere in Metal-Stilen, die der Gothic-Kultur nahestehen, vor. Dabei singen die Frauen oft mit Kopfstimme, klar und betont wohlklingend – ein Vokalstil, der heavenly voice genannt wird und mit seinem stereotyp weiblichen Charakter dem verbreiteten hyperfemininen Stil weiblicher Gothic-Fans entspricht.21 Im Kontrast dazu wiederholt das Schreien des Mannes nicht nur die Norm männlichen Nichtsingens, sondern ist auch Expression von Aggression und wird klanglich häufig analog gesetzt zu stereotypen Fiktionen von Monsterstimmen. Somit sind solche Duette nicht nur Performanzen der Geschlechternorm sängerischer Aktivität, sondern auch des Stereotyps vom ›aggressiven Mann‹ und der ›friedfertigen Frau‹. Im Zusammenhang mit einer Fiktion von nordischem Kriegertum findet sich eine solche Duettkonstellation zum Beispiel bei der deutschen Band »Adorned Brood«. Auf ihrem Album »Asgard« (1999 [2009]) wird der Kontrast durch die Besetzungsangaben im Booklet ausdrücklich formuliert  : Dem aggressiven, Black-Metal-typischen Kreischen des Sängers Frost wird hier die heathen voice zugeschrieben, der melodisch singenden Sängerin Ingeborg Anna die fairy voice. In dem Song »Mighty Swords« ist diese Stimmkonstellation eindeutig mit Krieg verbunden  : Die eröffnenden Worte »This is war  !« werden ebenso wie die anschließende Erzählung von einem tödlich endenden Kampf von Frost geschrien  ; die in diese Situation quasi visionär hineinsprechenden Erinnerungen an die Familie des Kämpfers werden von Ingeborg Anna mit sanfter klarer Kopfstimme vorgetragen. Wird von ›nordischem‹ Kriegertum im Heavy Metal gesprochen, so muss darauf hingewiesen werden, dass diese Vorstellungen bei einem kleinen Teil der Metal-Szene sich mit rechtsextremen Ideologien mischen. Bezüge auf Wikinger und auf die nordische Mythologie sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der völkischen Bewegung und im Nationalsozialismus mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verknüpft worden. Diese Verknüpfungen finden sich bei heutigen rechtsextremen Gruppierungen wieder, die sich zum Teil, wie z. B. die »Artgemeinschaft«, explizit auf völkische Ideale beziehen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Heavy-Metal-Bands, die von ›nordischen‹ Kriegern singen, 63

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häufig in den Verdacht einer rechtsextremen Orientierung geraten  ; im Interview bestätigte mir das u. a. Frost von »Adorned Brood«.22 Indessen distanzieren sich die Mitglieder von »Adorned Brood« ebenso wie die meisten anderen MetalBands von rechtsextremen Standpunkten. Dennoch bleibt es häufig schwierig zu beurteilen, inwiefern Bezüge zu ›nordischen‹ oder ›germanischen‹ Kriegern in Verbindung zu rechtsextremen Ideologien stehen, zumal solche Bezüge von den HörerInnen auch dann in kritischer oder affirmativer Hinsicht mit rechtsextremen Standpunkten verknüpft werden können, wenn dies von den MusikerInnen nicht beabsichtigt ist. Diese Schwierigkeit ist wesentlich darin begründet, dass Identität und Zusammenhalt der Heavy-Metal-Szene auf einem Selbstverständnis als ›unpolitische‹ Musikkultur gründen. Demnach gilt im szeneinternen Diskurs alles, was jenseits der Musik und ihrer etablierten Themen liegt, als belanglos. Der Soziologe Keith Kahn-Harris hat die Einstellung hinter solcher Konstruktion einer ›unpolitischen‹ Kultur als reflexive anti-reflexivity beschrieben  : »If unreflexivity is ›not knowing better‹ and anti-reflexivity is ›not wanting to know‹, then reflexive anti-reflexivity is ›knowing better but deciding not to know‹.« (Kahn-Harris 2007, 145) Szenemitglieder, deren Interesse für ›nordische‹ Krieger sich mit dieser im Extreme Metal verbreiteten Grundeinstellung verbindet, wollen dieses Interesse in der Regel auf den ästhetischen Aspekt begrenzt sehen und gehen häufig einer offenen Auseinandersetzung mit den ideologischen Verwicklungen in der Rezeptionsgeschichte der nordischen Mythen aus dem Weg. Eine kleine Minderheit bekennt sich indessen offen zu rechtsextremen Positionen, zum Teil auch zu völkischem bzw. neonazistischem Gedankengut. Im deutschsprachigen Raum ist »Absurd« aus Thüringen, die sich selbst dem Black Metal zuordnet, die bekannteste rechtsextreme Band der Szene. Ihr Gründungsmitglied Hendrik Möbus war vorübergehend als »Reichsführer« der Deutschen Heidnischen Front, einer neuheidnischen rechtsextremen Organisation, aktiv (Dornbusch/Killguss 2007, 157–160). Die über die Szenegrenzen hinausreichende Bekanntheit von »Absurd« beruht weniger auf ihrem musikalischen Erfolg als auf einem Mord  : 1994 kam die Band in die Schlagzeilen, weil ihre damals noch jugendlichen Bandmitglieder Möbus, Sebastian Schauseil und Andreas K. ihren Mitschüler Sandro Beyer getötet hatten. Möbus wurde außerdem mehrfach für verfassungsfeindliche Aktivitäten verurteilt, 1999 auch für die Verunglimpfung des Mordopfers (Dornbusch/Killguss 2007, 52–54, 148–168). Trotz – teilweise sogar wegen – der Gewalttat fanden die »Absurd«-Musiker unter Rechtsextremen in der Black-Metal-Szene, aber auch in der Skinhead- und Dark-Wave-Szene Unterstützung. In der Heavy-Metal-Szene insgesamt ist »Absurd« hingegen ebenso wie andere offen rechtsextreme Bands oder MusikerIn64

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nen eine Randerscheinung geblieben  : »Members with the most overtly fascist and racist views have been pushed to the furthest margins of the extreme metal scene, into a closer accommodation with the Nazi music scene.« (Kahn-Harris 2007, 156) Die unverblümt rassistischen, neonazistischen Positionen von »Absurd« lassen sich mit der reflexive anti-reflexivity nicht vereinen. Ein Teil der MusikerInnen und Fans distanziert sich durchaus offen von Bands wie »Absurd«  ; beim »Ragnarök«-Festival, auf dem hauptsächlich Pagan Metal gespielt wird und Aktualisierungen nordischer Mythen somit einen breiten Raum einnehmen, sind die Veranstalter darauf bedacht, keine rechtsextremen MusikerInnen zuzulassen und jegliches Tragen bzw. Verbreiten von rechtsextremen Symbolen, Gesten und Äußerungen zu unterbinden. Allerdings findet eine offensive Auseinandersetzung sowohl mit Rechtsextremismus als auch mit realer Gewalt innerhalb der MetalSzene meines Erachtens immer noch zu selten statt (vgl. auch Dornbusch/Killguss 2007, 290–291).

Notenbeispiel 2  : »Kriegertod« aus dem Album »Blutgericht« von »Absurd« (2005), Anfang der Singstimme mit folkloristischer Melodik. Transkription F. H.

Manche Songs von »Absurd« unterscheiden sich nicht signifikant von Songs ›unpolitischer‹ Heavy-Metal-Bands über Germanen oder Wikinger, andere aber sind offen neonazistisch. Der Song »Kriegertod« aus dem Album »Blutgericht« (2005) behandelt im Kern dasselbe heroische Thema wie »Gates of Valhalla« von »Manowar«  : Die Erwartung des ruhmreichen Todes in der Schlacht und des anschließenden Eingangs nach Walhall. Indes müssen die Zeilen »Wenn wir nun heut hier streiten / Als unseres Volkes letzte Wehr« als implizites Postulat einer völkisch-deutschnationalen Haltung gelesen werden. Der musikalische Stil von »Absurd« ist aber deutlich weniger aggressiv als derjenige der meisten ExtremeMetal-Bands, obwohl die Band behauptet, sie orientiere sich am norwegischen Black Metal der 1990er-Jahre. »Kriegertod« weist als Metal-typisches Element 65

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in erster Linie das Spiel der Double-Bass im Schlagzeug auf  ; die Harmonik ist indessen Metal-untypisch und tendiert eher zum klassischen Rock oder Neofolk, auch die Melodie passt eher zum Genre einer Folk-Ballade. Dem entspricht, dass die Stimme des Sängers Ronald »Wolf« Möbus (des Bruders von Hendrik Möbus) zwar rau und krächzend klingt, jedoch einer klar erkennbaren Melodie folgend weniger aggressiv wirkt als die typischen Black-Metal-Stimmen. Allerdings lässt sich analog zu Cusicks Analyse von Eddie Vedders ›Nicht-Singen‹ auch Möbus’ krächzender Gesang als Performanz der männlichen Kulturnorm interpretieren.

Tanz zur Trommel Musikalische Performanz von Kriegertum und Männlichkeit ist nicht auf die Stimme beschränkt. Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Verkörperungsbedingungen von Musik sind Bewegungen, und zwar sowohl diejenigen, die zur Produktion von Klängen eingesetzt werden, als auch jegliche Bewegungen zur Musik, die sich im weitesten Sinn als Tanz auffassen lassen. Den letztgenannten Punkt möchte ich im Sinn eines Ausblicks kurz erläutern, weil gerade darin der Aspekt der Körperlichkeit auf der Seite der Zuhörenden ins Spiel kommt. Als Beispiel greife ich nochmals auf den Song »Wotan« von »Enslaved« zurück. »Wotan« trägt charakteristische Merkmale des Black-Metal-Stils seiner Zeit  : Genretypisches Tremolo-Gitarrenspiel eröffnet den Song und gibt das enorme Tempo vor, in dem die Blast Beats des Schlagzeugs einsetzen (siehe Notenbeispiel 3), die Stimme ertönt, wie oben erläutert, als als raues, aggressives Kreischen. Das Grundtempo liegt im ersten Teil des Songs bei 190 bpm (Viertelnoten)  ; das heißt, sowohl das Tremolo der Gitarre als auch die Blast Beats des Schlagzeugs werden mit 760 Sechzehntel-bpm gespielt.23

Notenbeispiel 3  : »Enslaved«-Schlagzeuger Trym Torson führt in »Wotan« (aus dem Album »Frost«, 1994) verschiedene Formen des Blast Beats aus. Die Transkription gibt eine dieser Formen wieder, in der die Snare-Drum die Sechzehntelschläge spielt. Transkription F. H.

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Durch das hohe Tempo vor allem der A-Teile stellt sich beim Hören der Effekt ein, dass die Einzelschläge beinahe ineinander verschwimmen.24 Die Gitarrentremoli und die Blast Beats liegen an der Grenze des spieltechnisch Möglichen und klingen kaum wie ein prägnanter Rhythmus, der zum körperlichen Mitschwingen auffordert, sondern bilden vielmehr ein rasend pulsierendes Klangband mit unbestimmter Tonhöhe. Umso stärker ist der Effekt, wenn diese Klangmasse nach über drei Minuten zum Stillstand kommt, das Grundtempo sich plötzlich um mehr als die Hälfte auf 72 bpm verlangsamt und das Schlagzeug mit BassDrum und Hi-Hat25 einen schleppenden Beat angibt. Erstmals in diesem Song entfaltet sich ein Rhythmus mit körperlichem Aufforderungscharakter, etwas, das in Jazz- und Popmusik als Groove bezeichnet wird. Wer ähnliche GrooveEinsätze bei Live-Events erlebt hat, weiß, dass MetallerInnen an solchen Stellen kaum anders können, als kollektiv mit den Köpfen zu bangen, und/oder mit dem Arm die schweren Viertelschläge in der Luft zu schlagen, die Hand zur Faust geballt oder zur »Pommesgabel« (Zeigefinger und kleiner Finger aus der Faust zu ›Hörnern‹ gestreckt), dem gestischen Metal-Symbol, geformt. Was hier durch die Musik angestoßen wird, ist nichts anderes als Tanz – dafür hat der Heavy Metal, wie jedes andere Genre Populärer Musik, seine eigenen Formen entwickelt  : »Conventions of dance performance are genre-based  ; they follow a combination of stylized and naturalized movements, of learned and spontaneous responses.« (Frith 1996, 223) Dabei ist nicht zu vergessen, dass besonders ›hartgesottene‹ Black-Metal-Fans im Umkreis der norwegischen Szene der 1990er-Jahre auf ein möglichst cooles Image bedacht waren (und zum Teil immer noch sind), das einen weitgehenden Verzicht auf körperliche Regungen zur Musik impliziert (vgl. Dornbusch/Killguss 2007, 29). Ich meine jedoch, dass man der Aufforderung der Musik nach Bewegung nicht unbedingt sichtbar nachkommen muss, um sie in ihrer Körperlichkeit zu empfinden. Für Frith ist klar, dass die beschriebene Heavy-Metal-Tanzform die traditionelle (bürgerliche) Männlichkeit performiert, wenn er schreibt  : »The meaning of heavy metal is best articulated by head-banging, male bonding in futility.« (Frith 1996, 224) Sicherlich ist damit ein oft übersehener, wenn auch stark verallgemeinernder Aspekt benannt, der Heavy Metal gegenüber anderen populärmusikalischen Genres als besonders maskuline Kultur erscheinen lässt. Inwiefern aber im Head-Banging (konkreter Personen bzw. Gruppen in konkreten Situationen) Männlichkeit performiert wird, wäre meines Erachtens erst noch gesondert zu untersuchen. Das Beispiel des »Enslaved«-Songs »Wotan« ist hier auch deshalb interessant, weil zum beschriebenen Groove noch eine zweite, symbolträchtige Schicht hinzutritt  : Nachdem sich die ZuhörerInnen vier langsame Takte lang 67

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in den schleppenden Beat haben einschwingen können, beginnt der Schlagzeuger, darüber auf der Snare-Drum26 einen prägnanten Rhythmus zu spielen, der vermutlich jedem und jeder westlich geprägten ZuhörerIn als Militärmusikzitat erkennbar ist.

Notenbeispiel 4  : »Wotan« aus dem Album »Frost« von »Enslaved«  : (1994), Drum-Pattern am Schluss. Transkription F. H.

Indem die Snare-Drum ungewohnt als Militärtrommel erklingt, wird der kriegerische Inhalt des Songtexts durch ein musikalisches Zitat illustriert – ähnlich wie die im obigen Exkurs angesprochenen musikalischen Transformationen von Kampfgeräuschen nach Art von Schlachtenmusiken. Aber dieser Rhythmus ist nicht nur klingendes Symbol für das Militärische und Kriegerische, denn auf der Grundlage des vorgängigen Groove-Einsatzes vermittelt er sich als körperliches Erleben. Darin wird das Performative dieser Kriegsmusik deutlich  : Die Bedeutung der Musik erschließt sich nicht – zumindest nicht vollständig –, indem ich sie als autonomes Werk verstehe, sondern indem ich auch die körperliche Kommunikation zwischen Musik und Hörenden in Betracht ziehe. Wer sich körperlich auf den Groove in »Wotan« einlässt, spürt sich plötzlich zu einer Militärtrommel tanzen, sieht sich also selbst, nämlich mit dem eigenen Körper, in das kriegerische Thema der Musik involviert. Für mein Empfinden ist diese Einsicht mit Schrecken verbunden, ein Schrecken, der sich allerdings in einen Anstoß zur weitergehenden Reflexion über Gewalt in der Musik verwandeln lässt. Zusammenfassend ergibt sich aus der Analyse von »Wotan«, dass das im Songtext thematisierte Kriegertum sowohl als Aggressivität im Schreien des Sängers performiert wird als auch durch das körperliche Mit-Bewegen zur Musik. In diesem Aspekt eröffnen sich meines Erachtens lohnende Perspektiven zur weiteren Untersuchung von Gender Performances im Heavy Metal.

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Anmerkungen 1 Vgl. Chaker 2007, Heesch 2009 und 2011. 2 Mit der Frage, ob Heavy-Metal-Musik aggressionsstimulierend auf die HörerInnen wirkt, hat sich Dina Weindl (2005) auseinandergesetzt. 3 Britta Herrmann und Walter Erhart exemplifizieren die Analyse musikalischer Performanz von Geschlecht anhand von Musikvideos von Madonna und Prince (Herrmann/Erhart 2002). 4 Glam Metal, mit Bezug auf die toupierten Langhaarfrisuren der Musiker auch Hair Metal oder Poodle Metal genannt, war vor allem in den 1980er-Jahren populär, vertreten durch US-amerikanische Bands wie »Mötley Crüe«, »Poison« oder »Twisted Sister«. Neben seinem textlich und musikalisch an der Popballade orientierten Stil zeichnet sich der Glam Metal durch das aufwendige Styling der durchweg männlichen Musiker aus, das mit den Frisuren, dem Make-up und Fetischelementen in der Kleidung Weiblichkeitsklischees beinhaltet. Zur Männlichkeitskonstruktion im Glam Metal siehe Walser 1993, 124–136. Vgl. auch Simon Frith, der kritisch beobachtet, dass Musikvideos in den 1990er-Jahren zum beliebten Analysegegenstand von Performance Studies geworden sind, während Bühnenshows auch vor und jenseits des Musikvideos Gegenstand der Analyse musikalischer Performanz sein sollten (Frith 1996, 224–225). Black Metal entstand in den 1980er-Jahren in Europa, als Metal-Bands wie »Venom« (England), »Bathory« (Schweden), »Mercyful Fate« (Dänemark) und »Celtic Frost« (Schweiz) musikalische Punk-Einflüsse mit satanistischen bzw. okkulten Themen und visuellen Darstellungen verbanden. Ein hoher Grad an Verzerrung prägt im Black Metal nicht nur den Gitarrensound, sondern das gesamte, häufig bewusst unvollkommen gestaltete Klangbild. In den frühen 1990er-Jahren etablierte sich in Norwegen eine international viel beachtete Black-Metal-Szene, zu deren Vertretern u.a. die Band »Enslaved« gehört. Über Travestie in Bühnenshows finnischer Black-Metal-Bands hat Mikael Sarelin in seinem Vortrag »The Performance within the Performance. Applying Judith Butler’s Theory of Gender Performativity on the Black Metal Scene« auf dem internationalen Kongress »Heavy Metal and Gender«, 8.–10. Oktober 2009, gesprochen  ; siehe auch Sarelin 2010. 5 Der Ausdruck wurde 1902 von dem Berliner Pädagogik- und Philosophieprofessor Friedrich Paulsen formuliert (Frevert 1997, 145). 6 Auf dem Album »The Triumph of Steel« (1992)  ; siehe dazu Kahn-Harris 2007, 122. 7 Zum Beispiel singt Sabina Classen auf dem aktuellen Album »Agony Of Death« (2008, Wacken Records) ihrer Band »Holy Moses« in der »Wir«-Form von einem kämpferischen »Bloodbound Of The Damned«. In einem Podiumsgespräch beim Kongress »Heavy Metal and Gender«, 8.–10. Oktober 2009, bestätigte Classen den geschlechtsneutral imaginierten Charakter dieses Kollektivs. Das Bild der weiblichen Kriegerin in Gestalt eines Cyborgs findet sich ebenfalls auf dem genannten Album, nämlich auf der Coverillustration. 8 Zu Xena vgl. Moser 2008, 66. DVD-Ausgaben der Fernsehserie »Xena  : Warrior Princess« sind bei diversen Heavy-Metal-Merchandise-Versandfirmen im Bestand (abrufbar unter http  : //www. emp.de/, http  : //www.fullmetalconcert.com/  ; letzter Zugriff jeweils am 27. 9. 2010)  ; auf dem »Ragnarök«-Festival 2009 in Lichtenfels ist mir ein weiblicher Fan in Xena-Verkleidung begegnet. 9 Das Projekt ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten interdisziplinären Forschungsprojekts »Edda-Rezeption« an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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10 Beide Genrebezeichnungen basieren auf den Themen der Songs und der Ikonografie und werden manchmal synonym verwendet. Der Pagan Metal beinhaltet Bezüge zu verschiedenen Mythologien, neben nordischen werden insbesondere keltische Mythen, aber u.a. auch slawische Mythen einbezogen. 11 Interview des Verfassers mit Olavi Mikkonen am 11. März 2009 in Köln. 12 Dabei handelt es sich um eine Eindeutschung des englischen Slang-Begriffs »Kickin’ Ass«. 13 Als frühestes und prägendes Beispiel dieser Gattung nennt Wenzel (2005) das vierstimmige Chanson »La guerre« von Clément Janequin (1528 in Paris erschienen), aus dem 19. Jahrhundert u.a. Ludwig van Beethovens Orchesterstück »Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria« (1813). 14 »Helloween« gilt als eine der prägenden Bands des Power Metal, eines Heavy-Metal-Subgenres, das sich durch seinen melodiösen, teils bombastischen Stil auszeichnet, wobei u.a. im Fall von »Helloween« auch virtuoses Gitarrenspiel eine charakteristische Rolle spielt. 15 Im Titel »Panzer Division …« klingt ein fragwürdiges Interesse der »Marduk«-Musiker für die deutsche Wehrmacht bzw. den Nationalsozialismus an. Um den Verdacht zu entschärfen, bildete die Band auf dem Albumcover einen britischen Tank ab (Sharpe-Young 2007, 236). 16 Der hauptsächlich von schwedischen Bands aus dem Raum Göteborg geprägte Melodic Death Metal hebt sich von anderen Death-Metal-Stilen durch seine diatonische Harmonik sowie durch eher melodiöse Riffs und Instrumentalsoli ab. 17 Zur geschlechtlichen Codierung von Angela Gossows Screaming siehe Heesch 2011 (Druck in Vorbereitung). 18 Gesungen bzw. geschrieen wird auf Norwegisch (»Trekk sverd […]«. Die englische Übersetzung (»Draw sword […]«) hat die Band im Booklet des Albums bereitgestellt. 19 Zum Begriff und zur Technik des Growling siehe Heesch 2011 (Druck in Vorbereitung). 20 Dokumentiert z. B. auf der Live-Einspielung vom Auftritt der Band beim Summer-Breeze-Festival 2007, als Bonus-CD in der Deluxe-Edition des Albums »Twilight Of The Thunder God« (2008) enthalten  : insbesondere die Ansage zu Track 6 »Pursuit Of Vikings«. 21 Prägend für die später so genannten Heavenly Voices war die klare Stimme von Lisa Gerrard von der 1981 gegründeten australischen Gruppe »Dead Can Dance«. Zur Hyperfemininität in der Gothic-Kultur siehe Brill 2008. 22 Das Interview fand am 17. April 2009 am Rand des »Ragnarök«-Festivals in Lichtenfels statt. 23 Dieser erste Teil hat eine A-B-A-Form, wobei im B-Teil das Tempo leicht zurückgenommen wird. Der erste A-Teil, über dem der komplette Text geschrieen wird, umfasst 80 Takte und dauert somit (bei 190/4 = 47,5 Takten pro Minute in konstant gespieltem Tempo) 1 Minute, 41 Sekunden. Im anschließenden instrumentalen B-Teil, dem ein anderes Riff zugrunde liegt, wird das Tempo zunächst auf ca. 170, dann auf 160 bpm reduziert, was aber immer noch schnell ist. Am Ende dieses Teils, nach 32 Takten, hält der Rhythmus kurz inne, indem ein Schlag über fast vier Takte ausgehalten wird, bevor mit einem Auftakt ein weiterer A-Teil im Anfangstempo einsetzt. Diese wiederum 32 Takte stellen sowohl im Tempo als auch dynamisch eine Steigerung dar  ; in der zweiten Hälfte zieht das Tempo nochmals bis auf 200 bpm an. 24 Es gibt durchaus andere Musiken mit extremen Grundtempi. Zum Beispiel ging György Ligeti mit seiner Komposition »Continuum« für Cembalo, einem Prestissimo über vier Minuten, schon 1968 an die Grenzen sowohl der spieltechnischen Möglichkeiten als auch der Wahrnehmung extremer Geschwindigkeiten. Auch hier stellt sich beim Hören der Effekt ein, dass die Einzel-

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schläge sich in ein kontinuierliches Klangband auflösen, der Rhythmus durch das hohe Tempo verschwindet. Jedoch ist »Continuum« ein Stück Avantgardekunst, kein Beispiel für ein populärmusikalische Genre. 25 Die Hi-Hat ist ein Becken-Paar, das mit einer Fußmaschine und ggf. zusätzlich mit Schlägeln gespielt wird. In vielen populären Musikgenres gehört die Hi-Hat zu den Grundinstrumenten des Schlagzeugs. 26 Die Snare-Drum oder kleine Trommel ist eine beidseitig bespannte Trommel mit Schnarrsaiten (englisch  : snares) am Resonanzfell. Ursprünglich aus der Militärmusik kommend ist sie in Jazz und Rock das zentrale Schlaginstrument.

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Let’s Sex the ›Revolution‹ Die Rolle des slowenischen Punk im Demokratisierungsprozess der 1980er-Jahre1 Die Revolution gegen die ›Revolution‹ Die sozialistische Revolution im Sinne einer sich im ständigen Umwälzungsprozess befindenden Gesellschaftsform nahm in den einzelnen Ländern der östlichen politischen Hemisphäre unterschiedliche Ausprägungsformen an. So unterschied sich nach dem Bruch mit Moskau im Jahr 1948 auch der in der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien eingeschlagene ›eigenständige Weg in den Sozialismus‹ in mehrfacher Hinsicht vom real existierenden Sozialismus einer DDR oder der Sowjetunion. Die wichtigsten Merkmale bildeten die Übernahme bestimmter Aspekte der Marktwirtschaft (Ökonomische Reform von 1965), das System der sozialistischen Selbstverwaltung (implementiert nach der Änderung der Staatsverfassung im Jahr 1968) und die führende Rolle in der Bewegung der Blockfreien Staaten2 (vgl. Ramet 2009). Das politisch zwischen den beiden damals dominierenden Gesellschaftssystemen stehende Land Jugoslawien bildete deshalb eine Art des Westens im Osten (Djurić/Šuvaković 2003, 7), wo marktorientierte Produktionsbedingungen auf die sozialistische Ideologie trafen und die neo-stalinistischen Wurzeln des kommunistischen Regimes mit einem Mantel des pseudo-demokratischen Beinahe-Liberalismus überdeckt wurden (vgl. Tomc 1985, 13). Das Verhältnis zur Kultur war vergleichsweise tolerant, zumal die damalige Politik den Pluralismus ästhetischer Ausdrucksformen als ein wichtiges Distinktionsmerkmal betrachtete, durch das sich das jugoslawische System der sozialistischen Selbstverwaltung vom real existierenden Sozialismus abzugrenzen versuchte. Dank einer derartigen kulturpolitischen Ausrichtung florierten nicht nur sämtliche Sparten der sogenannten Hochkultur in Anlehnung an internationale Trends, sondern auch eine äußerst lebendige, politisch protegierte und weitgehend kommerziell ausgerichtete Massenkultur, darunter auch populäre Musikgattungen westlicher Provenienz. Zensorische Eingriffe in die Kulturproduktion waren insbesondere seit den 1960er-Jahren selten und eventuelle Repressionen fielen im Vergleich zu den Ostblockstaaten milde aus. 75

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Zudem stellte der Kulturbereich einen gewissen Freiraum dar, in dem unter anderem eine Projektion politischer Problematik auf die Kultur möglich war beziehungsweise in dem stellvertretend für die blockierte realpolitische Opposition auch regimekritische Sachverhalte artikuliert werden konnten. Von diesen Möglichkeiten wurde in mehreren Wellen Gebrauch gemacht, sodass sich aus der historischen Perspektive drei aufeinander folgende Kulturrevolten identifizieren lassen. Den ersten Aufruhr verzeichnete man Anfang der 1960er-Jahre im Bereich der Literatur und des Theaters. Es folgten die Studentenbewegung und der Punk beziehungsweise die ästhetisch-politischen Herausforderungen der Alternativszene von Ljubljana.3 In diesem Sinne bildet der Titel des vorliegenden Beitrags eine Anspielung auf die Tatsache, dass der Punk als die dritte Kulturrevolution gegen die ›sozialistische Revolution‹ auch Gender-konnotierte Sachverhalte tangierte beziehungsweise dass die Frage der Sexualität einen wichtigen Aspekt dieser Revolte darstellte.

Die slowenische Studentenbewegung4 und der »politisierte Komplex der Subkultur« Um Ereignisse der 1980er-Jahre zu verstehen, muss zunächst die slowenische Studentenbewegung gestreift werden. Sie wurde von den internationalen Vorbildern beeinflusst und forderte gleichermaßen eine grundlegende Studienreform wie auch gravierende politische Veränderungen. Den Höhepunkt des Protestes stellte 1972 die Besetzung der Philosophischen Fakultät von Ljubljana dar. Danach verlor die Bewegung ihre massenhafte Basis und zersplitterte in isolierte, den Angriffen des Establishments ausgesetzte Gruppierungen. Repressionen äußerten sich in ›Säuberungsaktionen‹ in unterschiedlichen Gremien, Verhören und der Beschlagnahmung von Reisedokumenten (vgl. Zlobec 1983, 1589). Auf der politischen Ebene muss die Studentenbewegung, die sich – wohlgemerkt in einem sozialistischen System – für den »Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz« einsetzte (Švarc 1983, 1584), als gescheitert angesehen werden (Makarovič 1983, 198). Der Kulturbereich hingegen erwies sich als für »alternative Konzepte […] relativ offen« (Rupel 1983, 1578), sodass dort auch neue, in der Regel aus den westlichen Industrieländern übernommene, ästhetische Ausdrucksformen erprobt werden konnten. Sie setzten der zweckgebundenen Auffassung des »Neuen Sozialistischen Menschen« ein ganzheitliches Konzept entgegen, etablierten das hedonistisch-sensualistische Lebensgefühl als einen Wert sui generis und protegierten das sinnlich-spielerische Erfahren von Politik als un76

Let’s Sex the ›Revolution‹

mittelbare Lebenspraxis. Dadurch wurde der studentische Protest zum kreativen Lebensakt, in dem das Individuell-Persönliche, das Politische und das Kulturelle zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Die Verkörperung eines derartigen Kulturverständnisses stellte die Rockmusik dar. Sie wurde als ein Mittel eingesetzt, mit dem die Bewegung ihre MitläuferInnen auf eine ›gemeinsame Wellenlänge‹ einzuschwingen versuchte, und bildete zugleich den Kern des sogenannten politisierten Komplexes der Subkultur, worunter das Ineinandergreifen von ästhetischen Sachverhalten mit politischen Konnotationen, spezifischem Lifestyle und Unterhaltung verstanden wurde. Die Herausgeber5 einer 1982 veröffentlichten Dokumentation der Ereignisse feierten deshalb die »Einführung der Rockmusik als Medium der Politik« als »größte Innovation dieser Revolte« (Autorenkollektiv 1982, 213).

Die Alternativszene von Ljubljana Von einem ähnlichen Kulturverständnis gingen in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren auch die ProtagonistInnen der slowenischen Punkbewegung beziehungsweise der Alternativszene von Ljubljana aus. Sie knüpften beinahe nahtlos an die Studentenbewegung an und nisteten sich in den aus ihr hervorgegangenen Kulturinstitutionen ein, die – ›perfiderweise‹ finanziert von der öffentlichen Hand – die ökonomische und organisatorische Basis ihrer Tätigkeit sicherten. Hierzu gehörte zunächst das bereits 1969 im Sinne eines Sprachrohrs der Bewegung gegründete Radio Študent (Studentenfunk). Programmschwerpunkte dieses subversiven Senders konzentrierten sich auf die Politik und den ›nonkonformen‹ Teil der populären Musik mit (tatsächlichen oder nur vermeintlichen) sozialen beziehungsweise politischen Implikationen, wozu in unterschiedlichen historischen Abschnitten Protestsongs, progressiver Rock, Reggae, Avantgardeund Industrierock, Techno und Rap gehörten (vgl. Radio Študent 1994). Ende der 1970er-Jahre bildete allerdings der Punk den Inbegriff der ›revolutionären‹ Musik, und so diente der Studentenfunk nicht nur als wichtigste Informationsquelle für Punk-relevante Ereignisse, sondern er beteiligte sich auch maßgeblich an der Gestaltung der slowenischen Punkbewegung (vgl. Žerdin 2002, 15). 1970 ging aus den kulturellen Aktivitäten des Radio Študent das Studentische Kulturzentrum6 hervor. Das Programm umfasste Verlagstätigkeit, die ästhetische Produktion in allen künstlerischen Sparten sowie die Organisation von kulturellen Veranstaltungen, darunter auch von Tänzen und Rockkonzerten. Außerdem 77

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unterhielt das Studentische Kulturzentrum die ersten slowenischen unabhängigen Labels, sorgte über die Gestalterische Sektion für das Design von Fanzines und Plakaten und öffnete seine Galerie für (Rock-)Konzerte und diverse zwischen Pop und Avantgarde-Kunstströmungen anzusiedelnde (multimediale) Ereignisse. Eine wichtige Rolle spielte weiters die Disco Študent (Studentendisco), die spätere Disco FV 112/15. Der Name ist eine verschlüsselte Botschaft, denn die Buchstaben stehen für den Autor eines Fremdsprachen-Wörterbuches, die Zahlen für die Seitenzahl beziehungsweise für die Zahl des betreffenden Spruches. Dieser lautet »C’est la guerre« (»Es ist Krieg«  ; vgl. Deisl 2008) und birgt in sich eine weitere Verschlüsselung, indem er auf das Plakat anspielte, das zur Verhaftung eines Studenten führte, die wiederum den Anstoß für die Eskalation der Revolte der Studenten und die Besetzung der Philosophischen Fakultät von Ljubljana gegeben hatte. Disco Študent galt in den 1980er-Jahren als die beliebteste Diskothek von Ljubljana. Dort wurden nicht nur jene Stilrichtungen gespielt, die in den studentischen Kreisen als ›anspruchsvoll‹ betrachtet wurden, sondern es wurden auch Graffiti als Kunstgattung eingeführt, Experimente mit dem Video als Medium ästhetischer Gestaltung durchgeführt, die Grundlagen der alternativen Fotografie gelegt und das Image7 als Modespektakel gepflegt (vgl. Djurić/Šuvaković 2003, 510 ff.). Die erwähnten Kultureinrichtungen – dazu kam noch das Študio Akademik – bildeten ein selbstgenügsames und in sich geschlossenes System für die Produktion und Distribution der alternativen Kultur. Sie veranstalteten Punk-bezogene Events in allen ästhetischen Ausdrucksformen (Musik, Video, Film, Mode, Grafik, Design, Fotografie, Literatur, multimediale Performances), gaben Tonträger heraus und propagierten die von den etablierten Medien umgangene musikalische Stilrichtung auf den Wellen von Radio Študent. Ferner ist Anfang der 1980er-Jahre aus dieser Szene auf eine für musikalische Subkulturen untypische Weise eine künstlerische Avantgarde hervorgegangen, die unter dem deutschen Namen »Neue Slowenische Kunst« agierte. Dem circa 40 Mitglieder zählenden KünstlerInnenkollektiv gehörten eine Gruppe von Malern, eine Theatergruppe, ein Team von DesignerInnen, ein Filmprojekt, eine Architektengruppe, die Abteilung für reine und praktische Philosophie sowie die auch international als Kultband gefeierte Musikgruppe »Laibach« an (vgl. dazu Arns 2002).

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Let’s Sex the ›Revolution‹

Die Frauen und der Punk Als charakteristisch für die ästhetische Produktion der Alternativszene von Ljubljana muss ihr provokativer Charakter mit einem unverkennbaren politischen Anstrich angesehen werden. Sie spiegelte einerseits die soziale, ökonomische und politische Krise der 1980er-Jahre wider, die schließlich zum Kollaps des sozialistischen Regimes und zur Desintegration des einstigen Jugoslawien führten. Andererseits eröffnete sie aber nach dem Motto »das Private ist politisch« auch neue Zugänge zu Fragen des Individualismus, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Liebe und der Sexualität, was heißt, dass sowohl der Katalog ihrer Provokationsstrategien als auch die thematischen Schwerpunkte einen nicht verkennbaren Gender-Aspekt beinhalteten. Auch in dieser Hinsicht bildete die Rockmusik ein wichtiges Feld der Erprobung neuartiger Werthaltungen und Gender-Entwürfe. Vergegenwärtigt man sich nämlich die Rockgeschichte, stellt man fest, dass hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse diese angeblich ›emanzipierte‹ Musik weniger ›fortschrittlich‹ war, als sie sich darzustellen pflegte (vgl. Büsser et al. 1999). Waren vor der »Rock’n’Roll-Revolution« ein Drittel der Popmusik-KünstlerInnen noch Frauen, war der Rock’n’Roll der 1950er-Jahre ›Männersache‹, und so sank bis 1958 der Anteil der Frauen in den Hitparaden auf acht Prozent. »Die Rockmusik wurde von Männern geschrieben, gespielt und produziert«, betonten Pieke Biermann und St. Luis Guy. »Frauen sangen nicht, sie wurden besungen.« (Biermann/Guy 1979, 199) Die Flower-Power-Ära hingegen ging von einer (vordergründigen) Angleichung der Geschlechter aus. Die Mode wirkte mit langen Haaren, dem Tragen von Schmuck, weichen, verspielten Gesten und sanften Umgangsformen ausgesprochen feminin. Trotzdem waren die Hippies im Umgang mit den Geschlechterzuweisungen eher konservativ (vgl. Reynolds/Press 1995, 11). In der BeatnikIdeologie wurde nämlich Kreativität mit Unkonventionalität gleichgesetzt, sodass laut Simon Frith die Frau als Verkörperung von »Wurzeln, Heim und Familie« nicht nur die »männliche Unabhängigkeit«, sondern gleichzeitig die »männliche Kunst« bedrohte (Frith 1981, 203–204). Folgerichtig reduzierte sich in dieser Subkultur die Rolle von Frauen auf die von Mitläuferinnen oder Groupies (vgl. Reynolds/Press 1995). Profilierte Musikerinnen, wie Janis Joplin, Carole King, Joni Mitchell, Patti Smith oder Nico, waren selten. Zudem betätigten sich die meisten als (Songs schreibende) Sängerinnen. Herausragende Instrumentalistinnen, wie zum Beispiel Maureen Tucker von »Velvet Underground«, waren zu jener Zeit eine Ausnahme. 79

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Während der Punkbewegung verzeichnete man jedoch eine zunehmende Beteiligung von Frauen (vgl. Gaar 1994, 272). Gründe dafür gab es mehrere. Der Punk, der in seinem Song-Repertoire so gut wie keine Liebeslieder kannte, gab sich in gewisser Hinsicht asexuell (vgl. Reynolds/Press 1995, 23). Weiters trug die Huldigung der »Ästhetik der Hässlichkeit« wesentlich dazu bei, dass sich Frauen trauten, aus den herkömmlichen Rollenklischees auszubrechen und gegen die Schönheitsideale eines vorwiegend männlichen Publikums anzukämpfen (vgl. Reynolds/Press 1995, 33). Einen wichtigen Aspekt stellte dabei die Tatsache dar, dass die englische Punkbewegung eng mit dem Rock Against Sexism 8 verbunden war und deshalb das (politische) Engagement in diese Richtung in gewisser Hinsicht zum ›Programm‹ der internationalen Punkbewegung gehörte (vgl. dazu O’Hara 2006, 101). In musikalischer Hinsicht wiederum ermöglichte die dem Punk eigene aesthetic of incompetence, dass alle, auch Frauen, ohne besondere musikalische Vorkenntnisse Musik machen konnten. Sie wagten sich an Instrumente wie Schlagzeug, Bass- und E-Gitarre, schrieben ihre eigenen Texte sowie ihre eigene Musik und traten in Punkgruppen nicht mehr als ›Nur-Sängerinnen‹, sondern auch als Ins­ trumentalistinnen auf. Einige unter ihnen, darunter Siouxie, Poly Styrene und Nina Hagen, gründeten sogar eigene Bands. Außerdem waren viele Frauen als Designerinnen, Organisatorinnen, Managerinnen oder Fanzine-Macherinnen tätig (Sterneck 1998, 215).

»Tožibabe« – die erste slowenische Frauenband In Slowenien verlief dieser Prozess etwas anders als in westlichen Ländern, obwohl auch hier an allen Aktivitäten der studentischen Kulturorganisationen Frauen maßgeblich beteiligt waren. Sie waren bei der Programmgestaltung der Disco FV sowie bei der Arbeit der Musiksektion beziehungsweise der Videosektion des Studentischen Kulturzentrums mehr oder weniger gleichberechtigt vertreten. Die bildnerische Sektion, die sich unter anderem um die Gestaltung von Punk-Fanzines und Punk-Plakaten kümmerte, wurde sogar von zwei Frauen geleitet (vgl. Alajbegović, 1986). Was die Bands betraf, dominierten – mit Ausnahme der Gruppe »Borghesia« (siehe unten), in der eine Frau mitwirkte – allerdings nach wie vor reine Männergruppen. Die erste slowenische Frauenband namens »Tožibabe« (»die Petzen«) kam erst Anfang der 1980er-Jahre zum Vorschein. Sie wurde von drei Frauen gegründet, die nicht nur alle Texte und die Musik selbst schrieben. Sie gestalteten 80

Let’s Sex the ›Revolution‹

auch Fanzines, drehten eigene Videos, befassten sich mit Fotografie, konzipierten Rundfunksendungen und betätigten sich als DJs. »Tožibabe« begeisterten vor allem mit Energie, Phantasie, bodenloser Frechheit und Spaß an ihren im wörtlichen Sinne ›dilettantischen‹ Performances. »Wir spielen unsere eigenen Akkorde«, gaben die Musikerinnen in einem Interview zu, »weil wir andere nicht spielen können.« (Zit. nach Piotr T. 1985, 17) Ihre kurzen, repetitiven Songs zeichneten sich durch atemberaubende Schnelligkeit, hohes Aggressionsniveau und kantige Härte aus. Dem musikalischen Duktus entsprechend transportieren auch die Texte, wie etwa ihr Hit »Dežuje« (Es regnet), negative Gefühle, gekennzeichnet von Ausweglosigkeit und neurotischer Morbidität  : »TOŽIBABE«  : DEŽUJE

»TOŽIBABE«  : ES REGNET9

mokre, puste ceste dežuje hodim okrog mene ljudje ne vidim ne slišim ne čutim

nasse, leere Straßen es regnet ich gehe rund um mich Leute ich sehe nicht ich fühle nicht ich spüre nicht

okrog mene ljudje strah me je poskusam teči poskusam zbežati ne morem se premakniti kri

rund um mich Leute ich habe Angst ich versuche zu laufen ich versuche zu entkommen ich kann mich nicht bewegen Blut

okrog mene ljudje ne vidim ne slišim ne čutim okrog mene ljudje (transkribiert vom Video)

rund um mich Leute ich sehe nicht ich höre nicht ich spüre nicht rund um mich Leute

Der Text dieses Songs, eine schlichte Aneinanderreihung von emotionalen Momentaufnahmen, hält flüchtige Augenblicke des Unbehagens fest. Er wurde mehr geschrien als gesungen, getragen von einem zwar rhythmisch betonten, ansonsten jedoch kaum ausdifferenzierten Klangbrei. Ebenso kunstlos ist auch die dazugehörige visuelle Gestaltung des Videos, das die Hektik der rush hour am Bahnhof 81

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von Ljubljana mit dem nicht weniger hektischen Gedränge in einem Musikklub kombiniert. Zur bedrückenden Atmosphäre trägt weiters ein Galgenstrick bei, der zwecklos von der Decke der sichtbar heruntergekommenen Location baumelt. Obwohl »Tožibabe« eine Zeitlang das Herzstück der Hard-Core-Szene von Ljubljana darstellte, erfolgreich einige Auftritte in anderen Republiken des ehemaligen Jugoslawien absolvierte und ihre Musik neben der Maxi-Single »Dežuje« (»Es regnet«) auch auf einigen ausländischen Samplern veröffentlichte, blieben negative Reaktionen ihrer männlichen Kollegen nicht aus. Wie aus einem Artikel aus dem Jahr 1985 hervorgeht, hätten sich allerdings auch »die meisten Feministinnen« – was darunter zu verstehen wäre, blieb unklar10 – mit der Gruppe nicht anfreunden können. Wohl aber Teile der alternativen Presse, die ihnen eine wegweisende Funktion zuschrieben  : Bereits ihr pures Dasein könnte auch andere passive Teilnehmerinnen dazu ermutigen, mit größerem Selbstverständnis und Mut den Rock als eine Möglichkeit des Selbstausdrucks wahrzunehmen. Die Bekämpfung der männlichen Übermacht in der Popularmusik ist keine Frage des Feminismus, sondern der einfachen Erkenntnis, dass die Frau selbst auf das Podest treten soll, insbesondere wenn sie gesellschaftlich gleichberechtigt ist. (Ogrinc 1985, 28)

Das sozialistische Patriarchat Um sich die Brisanz dieser Aussage zu vergegenwärtigen, müssen einige Anmerkungen über die Situation der Frauen im System der sozialistischen Selbstverwaltung gemacht werden. Im ehemaligen Jugoslawien herrschte der sogenannte ›Staats-Feminismus‹, verankert in der Staatsverfassung aus dem Jahr 1946. Der Staats-Feminismus behandelte Frauenrechte nicht speziell, sondern im allgemeinen Rahmen der sozialen Sicherungssysteme, garantierte aber den Frauen zusätzlichen Schutz in Bezug auf Sachverhalte wie Mutterschaft oder Nachtarbeit (vgl. Ramet 1999). Ein eigenes Forum für die Artikulation ihrer spezifischen Bedürfnisse hatten die Frauen allerdings nicht, denn die einzige nach dem Zweiten Weltkrieg noch bestehende Frauenorganisation Antifašistična fronta žensk (Die antifaschistische Frauenfront) wurde 1953 abgeschafft (vgl. Bahovec et al. 2002, 312–313). Oberflächlich betrachtet schien es für eine derartige Plattform auch keinen Bedarf gegeben zu haben. Die meisten Frauen waren berufstätig und in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren stellten sie bereits 42 Prozent der ge82

Let’s Sex the ›Revolution‹

samten erwerbstätigen Bevölkerung dar (Zavod za statistiko 1983, 71). Auch in Bezug auf das Bildungsniveau gab es kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen (vgl. Boh/Sadar-Černigoj 1978, 93). Eine nähere Analyse bringt allerdings ein anderes Bild zum Vorschein. Die sozialistische Selbstverwalterin hatte in ihrem Beruf dasselbe zu leisten wie ein Mann, gelangte jedoch nur selten in Führungspositionen. Familienstrukturen orientierten sich trotz anders klingender politischer Proklamationen weitgehend am katholisch geprägten Familienbild. Die ungleiche Behandlung spiegelte sich vor allem auch in der Freizeitgestaltung wider, die von Frauen zumeist mit Haushalt, Gartenpflege, Handarbeit und Kindererziehung verbracht wurde, also mit Aktivitäten, die bereits traditionell mit der Frauenrolle assoziiert werden (vgl. Černigoj-Sadar 1991). Sogar in der Rechtsprechung gab es gravierende Unterschiede. So war es nicht unüblich, dass man die von Frauen verübten Delikte mit anderen moralischen Maßstäben zu messen pflegte als jene, die von Männern begangen wurden, oder dass Frauen für Taten bestraft wurden, für die Männer nicht einmal mit einer Anklage rechnen mussten (vgl. Družbeni 1976, 90). Diese Verhältnisse spiegelten sich auch in der Musik wider. In der Volksmusik waren Frauen, die ein Instrument spielten, derart selten, dass es für sie nicht einmal einen Begriff gab (vgl. Muršič 2000, 236 ff.). Dasselbe galt (und gilt) für die volkstümliche Musik, wo sie zwar häufig als Sängerinnen auftreten, jedoch nur selten als Instrumentalistinnen. Was populäre Musikgattungen betrifft, folgten auf eine mehr oder weniger erfolgreiche Generation von Schlagersängerinnen vorwiegend männlich besetzte Rockgruppen. Zu den seltenen Ausnahmen gehörte »Bele vrane« (»Weiße Kräne«), die mit zwei Sängerinnen arbeitete.11 Doch sogar bei dieser Gruppe lobte der Bandleader in einem Interview vor allem jene Qualitäten, die sich aus ihrem Frau-Sein ergaben  : Wir wurden oft gefragt, warum wir zwei Sängerinnen aufgenommen haben. Wir dachten, dass es bereits genügend Ensembles gibt, in denen nur Jungen spielen, und dass mit einer derartigen Besetzung nicht mehr viel Neues zu erreichen ist. Die Frauenstimmen lassen den Sound lebendiger klingen und außerdem wirkt eine Gruppe mit Mädchen viel attraktiver. (D. T. 1972, 39)

Noch diskriminierender äußerte sich der Autor des Artikels, aus dem obiges Interview stammt, über die Gruppe »Up 2« (»Hoffnung 2«)  : Im Ensemble tritt auch eine Sängerin auf. Man kann nichts sagen, denn das musikgierige Auge (Ohr) sieht sich gern ein weibliches Wesen auf der Bühne an, ob83

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wohl es nur von Zeit zu Zeit singt, ansonsten aber mit einem Stäbchen auf die Kuhglocke klopft. (D. T. 1972, 39)

Lilit und Magnus Im Sog der allgemeinen Aufbruchsstimmung Anfang der 1980er-Jahre geriet allerdings auch die im Sozialismus »verschwiegene patriarchalische Welt« (Iveković 1982, 45) ins Wanken. Der entstehenden Frauenbewegung ging es weniger um ökonomische Unabhängigkeit als vielmehr um das Zerschlagen herkömmlicher Geschlechterstereotype auf symbolischer Ebene. Folglich registrierte man im Kulturbereich die meisten feministischen Ansätze. Dazu gehörten unter anderem eine im Selbstverlag erschienene Publikation mit Frauenlyrik, Übersetzungen von Frauenliteratur und das 1982 veranstaltete Symposium zum Thema »Frauen als Symptom der Entwicklung«. Um diesen Aktivitäten eine organisatorische Basis zu liefern, wurde 1985 im Rahmen des Studentischen Kulturzentrums der Frauenclub Lilit gegründet. Sein Kernstück waren eine Diskothek beziehungsweise die entsprechenden FrauenFeste. Weitere Aktivitäten umfassten Diskussionsabende, Frauentheater sowie Film und Video (vgl. Tratnik/Segan 1999). Eine ebenso wichtige Rolle wie für die Frauenbewegung spielte der Punk für die Emanzipation der Homosexuellen, wobei beide Bewegungen miteinander untrennbar verwoben waren (vgl. Gržinić 2006). Auch die Tatsache, dass sich an der Punk-Subkultur verhältnismäßig viele Frauen beteiligten, wurde teilweise auf die Präsenz von Homosexuellen zurückgeführt, was eine »weitestgehend ungezwungene Atmosphäre« bewirkt haben soll (vgl. Alajbegović 1986). Ferner wurde beim Studentischen Kulturzentrum die Sektion Magnus ins Leben gerufen (vgl. Tratnik/Segan 1999, 22). Sie hatte circa 150 Mitglieder und gab nach dem Vorbild der Punk-Fanzines ein Gayzine heraus (vgl. Magnus Sekcija 1985, 36). 1984 veranstaltete Magnus das erste groß angelegte Projekt, bei dem Performances, Filme, Videos, Vorlesungen und Ausstellungen zum Thema Homosexualität und Kultur dargeboten wurden (Renar 1984, 10). Ferner wurden wöchentliche Gay-Disco-Abende eingeführt, die die einzige Form öffentlichen Lebens Homosexueller in einem sozialistischen Staat überhaupt darstellten (vgl. Erjavec/Gržinić 1991, 49). In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre organisierten sich nach demselben Vorbild auch die Lesben. Auch in diesem Zusammenhang war vor allem das Studentische Kulturzentrum aktiv, in dessen Rahmen sich 1987 Lezbični Lilit (Lesbisches Lilit) etablierte. 84

Let’s Sex the ›Revolution‹

Die Kultband »Borghesia«12 Der erste Treffpunkt der Homosexuellen war die Disco FV 112/15. Sie wurde von der Gruppe »Borghesia« geleitet, die bereits Ende der 1970er-Jahre als Theatergruppe auf sich aufmerksam machte. Als sie 1981 die Verwaltung der Diskothek übernahm, führte sie eine Reihe von Novitäten ein. Sie spielte ausschließlich Punk und New Wave, also Musik, die außer auf Radio Študent nicht zu hören war, und sie lud die neu gegründeten Punkbands zu Konzerten ein. Binnen einiger Wochen verwandelten sich ihre Abende zu echten Punk-Feten, die immer mehr Publikum anzogen. Darunter befanden sich neben Punkfans auch Studierende unterschiedlicher Kunstrichtungen (Schauspiel, Bildende Kunst, Design, Fotografie) (vgl. Erjavec/Gržinić 1991, 52), sodass die Tätigkeit von FV durch Kulturformen angereichert wurde, die dem bisherigen Diskothekenbetrieb fremd waren. Ferner gründete »Borghesia« das unabhängige Label FV, das sich in erster Linie der Dokumentation der heimischen Punkproduktion widmete. Musikalisch präsentierte sich »Borghesia« zunächst als klassische Gitarrengruppe mit Sängerin nach dem Vorbild der »Gang of Four«. Später trat unter diesem Namen ein Elektronikduo auf. Es bildete den stabilen Kern dieser Formation, die je nach Bedarf für bestimmte Projekte geeignete Musiker engagierte, sodass jedes Projekt mit einer anderen Besetzung durchgeführt wurde. Auch stilistisch zeichnete sich »Borghesia« durch äußerste Flexibilität aus. Sie orientierte sich an den ständig wechselnden modischen Trends und begeisterte weniger durch die Eigenständigkeit ihrer musikalischen Ausdrucksweise als durch ihre Anpassungsfähigkeit und das meisterhafte Recycling von bekanntem musikalischen Material. Bis 1995 spielte »Borghesia« insgesamt 15 Singles, LPs und CDs ein. Ihre zum Teil mit serbokroatischen, italienischen und englischen Texten versehenen Tonträger sind sowohl in Slowenien als auch im Ausland erschienen, wo einerseits die Gruppe in Underground-Kreisen als eine Kultband behandelt wurde. Andererseits stieß aber ihre angeblich Gewalt verherrlichende Ästhetik im Westen vielfach auf Widerstand. So wurde beispielsweise in England der Gruppe eine Tournee an diversen Colleges verboten, da ihre Stücke angeblich »zu hart für deren [= englische] moralische Maßstäbe« gewesen seien (vgl. Muršič 1996, 7). »Borghesia« arbeitete nämlich mit der »Strategie der Affirmation« (vgl. dazu Brock 1983, 34–35) und setzte die Überidentifikation mit dem politischen Regime als die radikalste Form der Kritik ein. So brachte die im Studienjahr 1979/1980 noch als eine Theaterformation auftretende Gruppe eine Performance mit dem Titel »Velika majska predstava« (»Die große Maifeier«) auf die Bühne  : 85

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Das war eine Anspielung darauf, dass sich das herrschende Regime im Monat Mai gleich an drei Feiertagen zu bestätigen pflegte  : dem Tag der Arbeit, dem Tag der Befreiung und dem Tag der Jugend. Dasselbe galt für die ästhetische Umsetzung des Topos Militarismus, wobei die anti-militaristische Haltung der Gruppierung durch die Abbildung von Militärparaden ohne ironische Brechungen präsentiert wurde.

»Borghesias« multimediale Performances »Borghesia« spielte sowohl in Diskotheken und bei Rockkonzerten als auch im Rahmen von künstlerischen Events und setzte je nach Anlass unterschiedliche Präsentationsformen ein. Sie trat entweder als Live-Band auf oder ließ Musik, inklusive Gesang, vom Band laufen und konzentrierte sich auf das visuelle Geschehen. Die vom Theater herkommende Gruppe fühlte sich nämlich dem verpflichtet, was sie selbst als »multimediale Performance«, »Spektakel« oder »Rock Theater« (Erjavec/Gržinić 1991, 51) bezeichnete und bediente sich mehrerer Medien (Musik, Film, Dia-Projektionen, Bühnenaktion) gleichzeitig, um den »totalen Angriff auf die Sinnesorgane des Publikums« (Barbabegović 1984, 17) zu starten. »Borghesias« erbarmungslose Anklage des hochtechnologisierten Zeitalters, der Entfremdung im modernen Großstadtleben, des Totalitarismus und der (sexuellen) Gewalt wurde musikalisch äußerst raffiniert umgesetzt. Sie galt als eine Hightech-Underground-Band und zeichnete sich durch die konsequente Anwendung von Keyboards, Synthesizer und Computer aus, sodass in einigen Songs nur der Vokalpart live eingespielt wurde. Das Bühnengeschehen war gekennzeichnet durch großflächige Leinwände, auf die flashartig computerverzerrte Dias projiziert wurden. Weiters wurden einige Fernsehmonitore in die Handlung einbezogen, auf denen Videospots und/ oder Simultanübertragungen der Live-Performance liefen.

»Die Liebe ist kälter als der Tod« Zu den wichtigsten Tonträgern von »Borghesia« gehört die 1985 von FV in Zusammenarbeit mit Diavlery Productions aus Bologna eingespielte LP »Ljubav je hladnija od smrti« (»Die Liebe ist kälter als der Tod«). Auf dieser LP wurden die thematisch im Spannungsfeld zwischen Eros und Thanatos angesiedelten Schil86

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derungen der urbanen Paranoia von einer hektischen Musik untermalt, basierend auf ostinaten, oft synthetisch erzeugten und in mehreren Schichten übereinander gelagerten rhythmischen Pattern. Weitere Merkmale bilden minimalistische Riffs, spärliche (Computer-generierte) Soli und eingewobene Geräusch-, Klang- und Textmontagen, die sich zu stationären, sich in einer subtilen Balance zwischen Dichte und Transparenz befindenden Noise-Flächen zusammenfügen. Einen Kontrast dazu stellt der eher melodisch angelegte Gesangspart dar, der sich gelegentlich bis zum unartikulierten Schrei der Verzweiflung steigert. Trotz der konsequenten Anwendung der Monotonie als Stilmittel überraschen die einzelnen Songs mit kleinen, konzeptionell sorgfältig durchdachten musikalischen Einfällen. So steht zum Beispiel dem Song »A. R.« der folgende lapidare Text zugrunde  : »Ehe. Familie. Nachbar. Guten Tag, Heimat. Ich gehe weiter.« Jedes Wort hat eine eigene, sich aus dem Sprachduktus ergebende ›Melodie‹ beziehungsweise musikalische Gestalt, die zunächst etliche Male im selben Tonfall wiederholt wird und sich am Ende des Songs in ihre Bestandteile (Silben, Vokale, Konsonanten) auflöst. Eine weitere Besonderheit bilden lang gehaltene Passagen auf der Bassgitarre, deren dröhnender Sound an das spezifische Violaspiel von John Cale (»The Velvet Underground«) erinnert. Die ›antimilitaristische Hymne‹ »Tako mladi« (»So jung«), ein vergleichsweise langsamer und ruhiger Song, konzentriert sich wiederum auf die Vermittlung der verbalen Botschaft und schildert in einem gut verständlichen Rezitativ an der Grenze zum Gesang, was von einer Schlacht (welcher auch immer) übrig bleibt  : »Schwimmende Fleischstücke […] zwischen Algen und eigenem Gedärm.« Der Song »Brisk vomit« beschreibt eine bedrückende Szene aus einer psychiatrischen Klinik – die ›Heilung‹ durch Elektroschocks. Die Musik spielt sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen ab. Die erste bildet der von einer ›unterkühlten‹ Singweise gekennzeichnete Gesangspart, die zweite der minimalistisch-punktualistische Instrumentalpart, in dem die Einzeltöne in keinem verbindlichen Zusammenhang zu stehen scheinen. Die ›Schizophrenie‹ der dargestellten Situation wird durch die Tatsache verstärkt, dass die beiden Teile unabhängig voneinander aufgenommen und dann so zusammenmontiert wurden, dass der Sänger in gewisser Hinsicht stets ›aus dem Rhythmus fällt‹. Einen weiteren thematischen Schwerpunkt von »Borghesias« frühem Schaffen bilden politische Sachverhalte. Im Video »Yugoslav Dream« recycelte die Gruppe eine Rede des ehemaligen Präsidenten Tito über die ›leuchtende Zukunft des Sozialismus‹, nun dargeboten von einem jung klingenden Sprecher. Die visuelle Ebene bringt Archivmaterial über eine Massenversammlung aus Anlass seines Besuches in Ljubljana, die musikalische Ebene eine nostalgische Schlagermelodie 87

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der 1960er-Jahre, als die sozialistische Utopie noch realisierbar zu sein schien. Das Video »Socijalizam« (»Sozialismus«) arbeitet mit der Aufnahme eines Politikers, dessen einziger Satz »Der Sozialismus wird allmählich in der ganzen Welt zu einer beherrschenden Kraft« in seine semantischen Bestandteile gebrochen wird. Auch der Titel »Who has turned out the Light« befasst sich mit der Frage der politischen Regime und der gängigen Repressionsmechanismen  : »BORGHESIA«  : KDO JE UGASNIL LUČ

»BORGHESIA«  : WHO HAS TURNED OUT THE LIGHT13

Režimi lijevi. Režimi desni. Režimi crveni. Režimi crni. Režimi uvjeravaju. Režimi tvrde. Režimi proganjaju. Režimi streljaju.

Regimes red. Regimes black. Regimes of the left. Regimes of the right. They want to convince. They claim. They prosecute. They shoot.

Režimi istoka. Režimi zapada. Imaju epolete, skidaju glave, održavaju parade, mašu zastavama. Liječe elektrošokovima.

Regimes of the East. Regimes of the West. They have got epaulets. They took heads off. They hold parades. They wave their banners. They cure by electroshocks.

Režimi demokracije. Režimi slobode. Režimi sa radija, sa naslovnih stranica. Režimi režima. (zit. nach dem Plattencover)

Regimes of democracy. Regimes of freedom. Regimes from the radio. Regimes from front pages. Regimes of regimes. (zit. nach dem Plattencover)

Das Gleichstellen des ›linken‹ Totalitarismus mit dem ›rechten‹ Totalitarismus gehörte zu den wichtigsten Topoi der Alternativszene von Ljubljana. An dieses Gedankengut knüpft auch »Borghesias« Analyse der Mechanik der Herrschaft beziehungsweise der medialen Massenmanipulation in jeglicher, also auch der demokratischen, Gesellschaftsordnung an. Akustisch wird dieser Sachverhalt dadurch veranschaulicht, indem der kaum verständliche Text durch eine Lautspre88

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cheranlage die Zuhörenden erreicht – eine Anspielung auf die unsichtbare und kaum hörbare und trotzdem ständig präsente (politische) Macht. Im Titel »On« (»Er«) wurden allerdings die Mechanismen der Macht und der Repression14 auf der Ebene des Individuums untersucht und in einen sado-masochistischen Kontext gestellt  : »BORGHESIA«: ON

»BORGHESIA«: ER15

Čvrste ruke Visoke čižme I autoritet Krv na oltaru On se moli I traži blagoslov On voli oštar seks Fijuk biča I brazgotina na licu Oko u ruci Krv na oltaru On traži blagoslov (transkribiert vom Video)

Feste Hände Hohe Stiefel Und Autorität Blut auf dem Altar Er betet Und bittet um Segen. Er liebt scharfen Sex Den Schlag der Peitsche Und eine Narbe auf der Wange Ein Auge in der Hand Blut auf dem Altar Er bittet um Segen

Der Zusammenhang zwischen geschlechtlichem und politischem »Anders-Sein« Die musikalische Produktion von »Borghesia« steht als Pars pro Toto für den Kern der ästhetischen beziehungsweise politischen Opposition der Alternativszene von Ljubljana. Mit ihrer Thematisierung des Totalitarismus subvertierte die Gruppe die damals noch geltende sozialistische Ideologie und brach somit mit den herrschenden Tabus in einer ähnlichen Art und Weise wie mit der sich teilweise an der Grenze zu Pornographischem befindenden Sexualisierung ihrer Performances. Die unterschiedlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern standen deshalb stellvertretend für alternative Denkweisen, Lebensformen und politische Einstellungen, die geforderte Toleranz gegenüber verschiedensten Gender-Entwürfen für die geforderte Toleranz gegenüber differierenden Meinungen. Ferner begünstigte die vom Punk ausgehende Huldigung des Anders-Seins auch die Tätigkeit anderer oppositioneller Gruppierungen, sodass Anfang der 89

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1980er-Jahre die Alternativszene von Ljubljana zu einem Sammelbecken für die aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen wurde. Diese meist subpolitischen Initiativen setzten in der Verfolgung ihrer Ziele zwar unterschiedliche Akzente, ihre ProtagonistInnen frequentierten aber dieselben Lokale und besuchten dieselben Konzerte wie die Punks und sie führten gelegentlich auch gemeinsame Projekte durch. Als Beispiel soll die 1986 von FV herausgegebene Maxi-Single »Njihovi zakoni, naša življenja« (»Ihre Gesetze, unsere Leben«) von der Gruppe »Borghesia« erwähnt werden, die in Zusammenarbeit mit den Sektionen Lilit und Magnus sowie mit der Sektion für die Friedenskultur realisiert wurde. Ähnlich wie der Frauen- und der Homosexuellenbewegung ging es auch diesen Initiativen nicht primär um ›große Politik‹, sondern um die Durchsetzung konkreter politischer Ziele, wie etwa die Demokratisierung des Erziehungswesens, Friedenserziehung, Einführung des Zivildienstes oder die Lösung von ökologischen Problemen. Weitere Gemeinsamkeiten waren die veränderte politische Sensibilität im Sinne einer ›selektiven Kritik‹, der unmittelbare Bezug politischer Fragestellungen zur eigenen Lebensführung, die radikale Ablehnung totalitärer Strukturen, institutionalisierter politischer Entscheidungsträger und ideologischer Imperative, der Glaube an die politische Wirksamkeit symbolischer Formen des Widerstands sowie Autonomie, Spontaneität, Improvisationslust und eine gewisse Infantilität (Mastnak 1994, 94).

Der Beitrag des Punk zum Demokratisierungsprozess der slowenischen Gesellschaft Der slowenische Punk beziehungsweise die Alternativszene von Ljubljana war keine explizit politische Opposition, die realpolitische Forderungen stellte. Ihre politische Wirkungskraft ist eher darin zu suchen, dass sie soziale Missstände archetypisch vergrößerte, politische Haltungen ironisierte, die ideologische Substanz der sozialistischen Selbstverwaltung de-konstruierte und heikle Tabubereiche enttabuisierte. Die sozialästhetische Codierung der Differenz, wie sie sich unter anderem in Gender-Performances manifestierte, förderte den Pluralismus unterschiedlichster Lebensstile und Lebensformen und somit auch die Differenzierung, Segmentierung und Dezentralisierung des sozialistischen Gemeinschaftswesens. Ferner erweiterte die Subjektivierung politischer Sachverhalte sowohl in ästhetischer als auch in politischer Hinsicht die bestehenden gesellschaftlichen Freiräume und antizipierte dadurch die sich auch in den anderen gesellschaftlichen Segmenten abzeichnenden Liberalisierungstendenzen. 90

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Da die radikale ästhetische Produktion der Alternativszene von Ljubljana mit einer ebenso radikalen theoretischen Reflexion16 einherging, fühlte sich das sozialistische Regime im Kern seiner ideologischen Werthaltungen getroffen und reagierte mit teilweise heftigen Gegenattacken, die wiederum als Sujets für weitere Songs, Texte, Videos oder Performances aufgegriffen wurden. Aus diesem Wechselspiel ergab sich eine Art Dialog zwischen den unterschiedlichen Akteuren und Akteurinnen, an dem sich alle gesellschaftlichen Segmente beteiligten. Dabei ging es weniger um den Punk per se als um die von dieser Subkultur thematisierten Sachverhalte, wie etwa den Stalinismus, Militarismus, Totalitarismus und den Kult der Arbeit sowie die künstlerische, intellektuelle und nicht zuletzt auch sexuelle Freiheit, die bislang aus dem öffentlichen Diskurs ausgeklammert wurde. Der Punk und die ästhetische Produktion der Alternativszene von Ljubljana stellten deshalb nicht nur ein Medium für die Artikulation oppositioneller Stellungnahmen, Meinungen und Werthaltungen dar  : Sie bildeten auch eine wichtige Plattform für politische Auseinandersetzungen, in denen im Vorfeld der Implosion des Sozialismus die Gesellschaft einen erbitterten Kampf mit sich selbst führte. Ferner gingen aus dem diffusen Umfeld des Punk Impulse für eine ›alternative Politik‹ aus, sodass dieser Szene aus der historischen Perspektive die Rolle einer wichtigen Triebkraft der sich in den 1980er-Jahren vollzogenen gesellschaftlichen Umwälzungen zugesprochen werden kann.

Anmerkungen 1 Teile dieser Abhandlung basieren auf meinem Buch (2005) »Vom ›Punkfrühling‹ zum ›slowenischen Frühling‹. Der Beitrag des slowenischen Punk zur Demontage des sozialistischen Wertesystems«. Hamburg. 2 Die Bewegung der Blockfreien Staaten wurde 1961 auf Anregung des jugoslawischen Präsidenten Tito, des ägyptischen Staatschefs Nasser, des indischen Premiers Nehru und des indonesischen Präsidenten Sukarno gegründet. Sie verurteilte den Kalten Krieg zwischen den damals bestehenden militärischen Blöcken und setzte sich für die friedliche Koexistenz zwischen den Staaten und die allgemeine Abrüstung ein. Die Bewegung ist nach wie vor aktiv, sie verlor aber nach 1989 an politischer Bedeutung. 3 Eine klare Abgrenzung des Punk von der »alternativen Kultur« kann nicht vorgenommen werden, da die Bereiche nahtlos ineinander übergingen. Aus diesem Grund bezeichneten sogar die ProtagonistInnen selbst das Kulturphänomen wechselweise als »Punk«, »alternative Kultur«, »Subkultur«, »Gegenkultur« und gelegentlich auch »Avantgarde«, oder es wurde der Oberbegriff »Punk« derart breit gefasst, dass sich darunter neben der gleichnamigen (musikalischen) Subkultur auch eine oppositionelle geistige Haltung einordnen ließ.

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  4 Ich spreche hier von Studenten- und nicht von StudentInnenbewegung, weil nur wenige Studentinnen aktiv beteiligt waren.   5 Wie aus der erwähnten Dokumentation hervorgeht, war die slowenische Studentenbewegung eine Männersache. Die Sexualität im Sinne der sexuellen Freiheit spielte dabei zwar eine wichtige Rolle, sie wurde aber nicht theoretisiert.   6 Die studentische Kulturvereinigung wurde von der Kulturgemeinschaft Sloweniens sowie der Kulturgemeinschaft der Stadt Ljubljana subventioniert und gehörte gemeinsam mit der Schwes­ terorganisation Forum, mit der sie sich 1984 zum ŠKUC/Forum vereinigte, unter die Schirmherrschaft des Verbandes der Sozialistischen Jugend Sloweniens.   7 Das slowenische Punkimage orientierte sich an internationalen Vorbildern, präsentierte sich aber in einer vergleichsweise abgeschwächten Form. Die Jungs trugen alte, weiße Nylonhemden mit abgetrenntem Kragen, lässig gebundene, enge Krawatten, alte Sakkos und – das war nur in den seltensten Fällen ein erfüllbarer Wunsch – eine Lederjacke. Weitere Kleidungsstücke waren T-Shirts mit abgetrennten Ärmeln, handbeschriftet mit beleidigenden Parolen wie etwa »Fuck off«, verwaschene und an den Knien zerrissene Jeans sowie große, klobige (Berg-)Schuhe. Die Mädchen hingegen bevorzugten enge Miniröcke aus (Kunst-)Leder oder Skai, alte Spitzenblusen, Netzstrümpfe, beschriftete T-Shirts und ausgeleierte Pumps mit hohen Absätzen. Beide Geschlechter trugen Schmuck, vor allem Sicherheitsnadeln (mit denen absichtlich zerrissene Kleidungsstücke zusammengehalten wurden), Ledergürtel, Armbänder und andere lederne Accessoires mit Metallnieten, Ohrringe (entweder unterschiedliche oder sie wurden nur in einem Ohr getragen), alten Schmuck aus »Trompetengold«, Glasperlen, enge schwarze Brillen und Ketten (vgl. Potokar 1985). Zum Schmuck gehörten auch Badges mit provokanten Slogans wie »Anarhija« (Anarchie), »I hate school«, »No Future«, »My Way« und »I’m a virgin, but this is a very old badge«. Für Frauen war auffälliges Make-up, das für Konzerte und Disco-Abende besonders dick aufgetragen wurde, obligatorisch. Es gab aber auch männliche Punks, die gelegentlich in die Schminkkiste griffen.   8 Rock Against Sexism, eng verbunden mit Rock Against Racism, kam 1978 in Großbritannien zum Vorschein und setzte sich (teilweise in einer diffusen Art und Weise) gegen den Sexismus in der populären Musik (und auch generell) ein. Diese Bewegung trug zwar einiges zur Partizipation von Musikerinnen beziehungsweise zu gleichberechtigteren Geschlechterverhältnissen in der Szene bei, hatte allerdings keine nennenswerte politische Relevanz.   9 Übersetzt von der Verfasserin. 10 In den ehemaligen jugoslawischen Republiken Serbien und Kroatien gab es bereits in den 1970erJahren einige Ansätze der feministischen Bewegung und 1978 wurde mit internationaler Beteiligung in Beograd die Tagung »Genosse Frau« durchgeführt (vgl. Knežević 2008, 81). In Slowenien hingegen gab es Projekte mit feministischem Anstrich, wie etwa die Videoproduktion der Gruppe »Meje kontrole št. 4« (»Grenzen der Kontrolle Nr. 4«), erst im Rahmen der Punkbewegung. Allerdings übten auch diese Projekte in erster Linie Kritik am Sozialismus (vgl. Gržinić 2006  : 107). Fundiertere theoretische Beiträge sowie empirische Untersuchungen zur Genderthematik gab es deshalb erst ab Anfang der 1990er-Jahre. 11 Im ehemaligen Jugoslawien stellte in den 1960er-Jahren eine aus Zagreb stammende Girl-Group eine seltene Ausnahme dar. Sie trug den bezeichnenden Namen »Lutkice« (»Püppchen«). 12 Bereits der Name dieser Gruppe hatte politische Brisanz, da er auf das im Sozialismus nicht geduldete Bürgertum verwies, schien aber das Establishment nicht besonders zu stören.

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13 Englisch von »Borghesia«. 14 »Borghesia« gab 1988 auch einen Tonträger mit dem Titel »Surveillance and Punishment« heraus, auf dem sie sich expressis verbis auf Michel Foucault (1926–1984) und sein Buch »Surveiller et punir« berief. 15 Übersetzt von der Verfasserin. 16 Prominentester Exponent war Slavoj Žižek. Vgl. z. B. Slavoj Žižek 1989 u. 2001 sowie Salecl 1994.

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Diskografie Borghesia (1985), Ljubav je hladnija od smrti [Die Liebe ist kälter als der Tod] (LP, Založba FV/ Italian Materiali Sonori, Ljubljana)

Videografie Borghesia, On, abrufbar unter http  : //www.myspace.com/ebmborghesia (31. 8. 2010) Borghesia, Socijalizam, abrufbar unter http  : //www.ljudmila.org/scca/ip/zanka/angl/Sub.html (31.  8. 2010) Borghesia, Yugoslav Dream, abrufbar unter http  : //www.ljudmila.org/scca/ip/zanka/angl/Sub.html (31. 8. 2010) Tožibabe  : Dežuje, abrufbar unter http  : //vids.myspace.com/index.cfm  ? fuseaction=vids.individual& VideoID=7770668 (31. 8. 2010)

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Gerlinde Haid

Geschlechterrollen und Geschlechterrollenspiele Beispiele aus dem Ausseerland Geschlechterrollen als kulturelle Phänomene sind erst in der jüngeren Ethnomusikologie durch die Gender-Studien ins Bewusstsein getreten, wobei besonders Osteuropa, der Balkan und der Mittelmeerraum im Zentrum der Betrachtungen stehen (vgl. Magrini 2003). Dort haben sich vor dem Hintergrund der traditionell gesellschaftlich vielfach getrennten Sphären von Frauen und Männern frauenspezifische und männerspezifische Musikkulturen entwickelt, deren Typik bis heute sichtbar ist und von den ForscherInnen schon länger wahrgenommen wird. In der Alltagskultur der Alpen haben wir es mit anderen religiösen und soziokulturellen Voraussetzungen zu tun, und wir gehen meistens davon aus, dass diese nie zu einer ähnlich scharfen Trennung zwischen Frauenwelten und Männerwelten geführt hätten, was allerdings nur bedingt richtig ist. Das stellt sich heraus, wenn diese Frauenwelten und Männerwelten unter dem Aspekt ihrer ›Performanz‹ näher betrachtet werden. Die Volksmusikforschung mit ihrer Nähe einerseits zu den Geschichtswissenschaften (historische Musikwissenschaft, Literaturgeschichte) und andererseits zur europäischen Ethnologie versteht sich über weite Strecken als ein Fach, das sich seine Forschungsgrundlagen empirisch durch Feldforschung schafft. Das bedeutet, in oft jahrelanger Zusammenarbeit mit Gewährsleuten1 zu recherchieren und zu dokumentieren, was sonst nur in schriftloser Überlieferung existiert und nur im Zuhören, Zuschauen und Nachfragen erfahrbar wird. Dabei ist die ›Performanz‹ seit dem performative turn in den Geschichtswissenschaften (vgl. Fischer-Lichte 2003, 33) im Blick, allerdings unter dem Begriff der ›Aufführungspraxis‹, wobei musikalische Parameter wie Instrumente, Besetzung, Mehrstimmigkeit, Spielpraxis und Zeichengebung bisher im Zentrum standen. Aber die FeldforscherInnen gehen schon seit längerer Zeit auch außermusikalischen Parametern nach wie beispielsweise Kleidung, Spielstätten, Bezahlung, Medien, Gender. Der Begriff der ›Performanz‹, wie er sich in den Kulturwissenschaften durchgesetzt hat, legt demgegenüber nun allerdings eine erweiterte Sicht nahe, die all diese Aufführungen als »gesellschaftliche Interpretationen durch die Akteure« versteht (vgl. Brückner/Schömbucher 2003) und aufgerufen ist, die »Art und Weise zu erklären, in der sozial 97

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Handelnde die soziale Wirklichkeit durch Sprache, Geste und alle möglichen Arten symbolischer sozialer Zeichen erst konstituieren« (vgl. Butler 2002, 301). Dieser Auftrag ist zwar von der Volksmusikforschung erst einzulösen, doch hat sie schon jetzt Erkenntnisse anzubieten, die aus ihren Erfahrungen mit mündlichen Traditionen, mit Aufführungen und Ritualen stammen, die ohne die Methoden der Volksmusikforschung nicht leicht zugänglich sind und teilweise nur neu gelesen werden müssen, um zum Performanz-Thema beitragen zu können. Ich möchte im Folgenden am Beispiel des Ausseerlandes im steirischen Salzkammergut darlegen, wie sich dort arbeitsbedingte Frauengemeinschaften und Männergemeinschaften entwickelt haben, und der Frage nachgehen, was das für die Geschlechterrollen bedeutet, wie weit sich daraus spezifisch weibliche oder männliche Ausdrucksformen in Musik, Tanz, Kleidung oder Brauch ergeben haben, in welchen Quellen sie aufzuspüren sind, welche Normen sie transportieren und ob und wie sie zur Konstruktion und De-Konstruktion von Geschlechterrollen beitragen oder beigetragen haben. Dabei nehme ich einen Zeitraum etwa von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart in den Blick. In dieser Zeit hat das Ausseerland viele Veränderungen durchgemacht, deren einschneidendste der Niedergang des Salinenwesens und das Ende der traditionellen Almkultur sind.

Soziokulturelle Voraussetzungen Das Ausseerland im engeren Sinn umfasst die Gemeinden Bad Aussee, Altaussee und Grundlsee (nimmt man die historische Verwaltungseinheit und die Tourismusregion, werden auch Pichl-Kainisch, Bad Mitterndorf und Tauplitz dazugezählt). Bad Aussee ist heute eine Kurstadt mit rund 5000 EinwohnerInnen und gilt als der Hauptort des steirischen Salzkammergutes. Es liegt am Zusammenfluss der Quellflüsse der Traun und verdankt seine Entstehung und Entwicklung dem Salzbergwerk in Altaussee und der damit verbundenen Saline. Bad Aussee wird heute vom sanften Tourismus geprägt. Für die gesamte Region kennzeichnend ist die immer größer werdende Anzahl an Zweitwohnsitzen. Etwa vier Kilometer von Bad Aussee entfernt liegt an einem See am Fuße des Salzberges das Dorf Altaussee als die ältere Siedlung, mit etwa 1900 EinwohnerInnen. Ursprünglich eine Bergarbeitersiedlung, ist es heute ebenfalls ein Kur- und Urlaubsort mit See und Schigebiet  ; Altaussee ist seit dem späten 19. Jahrhundert ein beliebtes Urlaubsziel zahlreicher Schriftsteller wie Hugo 98

Geschlechterrollen und Geschlechterrollenspiele

von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Jakob Wassermann und Friedrich Torberg. Prominente Töchter und Söhne sind u. a. Barbara Frischmuth und Klaus Maria Brandauer. Im Kur- und Amtshaus befindet sich das Literaturmuseum Altaussee. Ebenfalls einige Kilometer entfernt an einem weiteren See liegt das Dorf Grundlsee mit etwa 1 300 EinwohnerInnen, verteilt auf verschiedene Katastralgemeinden, deren wichtigste das am Ende des Sees gelegene Gößl ist. Früher eine Holzarbeitersiedlung, ist Grundlsee heute ebenfalls ein Kurort mit ebenso prominenten ZweitwohnsiedlerInnen und Feriengästen wie Altaussee. Altaussee und Grundlsee befinden sich – metaphorisch und geographisch gesprochen – am ›Ende der Welt‹, nämlich am Ende von Sackgassen, wobei diese Abgeschiedenheit bis heute dem Dialekt anzumerken ist. In Gößl hat sich überdies die bis ins Mittelalter zurückgehende Institution des ›Dorfrichters‹ als Nachleben der »kleinen Gerichtsbarkeit« erhalten, eine Würde, die unter den Gößler Bauern von Jahr zu Jahr reihum geht, wobei der jeweils aktuelle Dorfrichter für die Ausrichtung von Gemeinschaftsarbeiten (Zäune herrichten, Weiderechte, Austriebstage usw.) und tatsächlich immer noch auch für die Schlichtung kleinerer Streitigkeiten zuständig ist. In Gößl war von etwa 1885 bis zu seinem frühen Tod 1924 der Wiener Großindustrielle Konrad Mautner Jahr für Jahr in den Sommermonaten als ›Sommerfrischler‹ anwesend. Er entdeckte dort seine Liebe zur Volkskultur und dokumentierte nach und nach vieles davon in beeindruckender Qualität und Fülle. Das sogenannte »Steyerische Rasplwerk«, eine Liedersammlung aus seiner Feder und 1910 in einer Auflage von 400 Stück erschienen, ist die erste und wichtigste musikalische Dorfmonographie Österreichs (vgl. Mautner 1910). In Altaussee lebte Ferdinand Leopold Freiherr von Andrian-Werburg (1835– 1914), der 1870 die Anthropologische Gesellschaft in Wien gründete und mehrere naturwissenschaftliche und ethnologische Forschungsreisen unternahm (u. a. nach Bosnien-Herzegowina). Er wurde 1894 Ehrenmitglied der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte und starb 1914 in Nizza  ; seine Grabstätte befindet sich auf dem Altausseer Friedhof. Seiner Wahlheimat hat er die 1905 in Wien bei Hölder erschienene anthropologische Monographie »Die Altausseer« gewidmet. Schon 1810 war Erzherzog Johann, der Bruder von Kaiser Franz I., zum ersten Mal im Ausseerland. 1819 wurde ihm bei der Rückkehr von einer Jagd im Toten Gebirge am Toplitzsee hinter Gößl Anna Plochl, die Tochter des damaligen Ausseer Postmeisters, vorgestellt, in die er sich verliebte – und sie sich in ihn. Nach jahrelangem, zähem Ringen um die Erlaubnis seines kaiserlichen Bruders heiratete er sie. Sie gebar einen Sohn und wurde in weiterer Folge als »Gräfin Meran« 99

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in den Adelsstand erhoben. Die Spuren dieser eindrucksvollen Liebesgeschichte mit Happyend sind im Ausseerland allenthalben anzutreffen. Ihre Bedeutung ging damals weit über das Private hinaus ins Hochpolitische und wurde besonders in der Steiermark vor allem auch als Signal einer Neubewertung von Volkskultur wahrgenommen, zu der der Erzherzog aus seinem Verständnis von aufgeklärtem Absolutismus auch noch durch die Gründung zahlreicher Institutionen zum Wohl des Volkes ( Joanneum, Landwirtschaftsgesellschaft, Historischer Verein für Steiermark, Grazer Handels- und Gewerbekammer, Wechselseitige Brandschadensversicherung u. a.) nachhaltig beitrug (vgl. Wietersheim 2005). Viele Nachkommen der Familie Meran sind bis heute mit dem Ausseerland verbunden geblieben. Mit der Frage, wie weit die Gräfin in die Gründungen ihres Mannes involviert war, wie weit sie seine politischen Aktivitäten unterstützte, hat sich Renate Basch-Ritter in ihrem Buch über Anna Plochl beschäftigt. Sie kommt zu dem Schluss, dass Annas Ehe ihrer Zeit voraus war. Johann übertrug ihr schon in der Verlobungszeit wichtige Aufgaben in der Wirtschaftsführung und bei der Verwaltung der Güter, wie es für Damen aus höheren Gesellschaftsschichten durchaus nicht üblich war (Basch-Ritter 2005, 150). Sie leitete alle Haushalte persönlich, überwachte die Bediensteten, kümmerte sich um Neuanstellungen und zahlte die Löhne aus (Basch-Ritter 2005, 158). Sie hatte sich dabei allerdings den Grundwerten ihres Mannes anzuschließen  ; neue Bildungsinhalte waren für sie nicht vorgesehen (Basch-Ritter 2005, 8). Prominente Männer und Frauen haben also ihre Spuren in der Geschichte dieser Region hinterlassen  ; aber auch die Spuren der weniger bedeutenden Männer und Frauen, des sogenannten Volkes, fanden schon sehr früh Beachtung und wurden professionell gelesen und gedeutet. Entscheidend für die ganze Region war – auch in Hinblick auf die Konstruktion von Männerrollen und Frauenrollen –, dass über Jahrhunderte die Salzproduktion dominierte, der alles untergeordnet war. Der Historiker Michael Kurz, der die Geschichte des Ausseerlandes in seinem Beitrag »Vom Kammergut zum Ausseerland« kürzlich komprimiert dargestellt hat, formuliert pointiert, dass die Region, die ja direkt dem Kaiserhaus unterstand, praktisch als Firma geführt wurde. Die Ansiedlung von ›Auswärtigen‹ (nicht in der Region geborenen Personen) wurde blockiert, es entstand eine relativ homogene Bevölkerung mit den drei Hauptberufen Holzknecht, Bergknecht und Sudknecht. Jeder und jede Ansässige war direkt oder indirekt für die Saline tätig, die auf ihre Arbeiter großen Wert legte und sie mit Privilegien ausstattete, von denen andere ZeitgenossInnen nur träumen konnten. 100

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Dies alles führte zu einer sehr klein strukturierten Region mit hohem Selbstbewusstsein, sehr konservativer und traditioneller Lebensweise, höchst heimatverbunden und sozial ambivalent, quasi ›Arbeiter-Bauern‹, Lohnempfänger, die ihre eigene Wirtschaft unterhielten. Diese Wirtschaft jedoch betrieben die Frauen, da die Männer montags bis samstags im Holzwald oder im Bergwerk waren. Die Abgelegenheit ihrer Arbeitsplätze verurteilte sie zu Wochenpendlern. (Kurz 2010, 64)

In diesem Zitat steht der männliche Arbeiter-Bauer im Zentrum der Aufmerksamkeit des forschenden Historikers. Die Bedeutung der hier angesprochenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung für das soziale Gefüge der Region näher herauszuarbeiten, ist Ziel des nächsten Abschnitts.

Weibliche und männliche Arbeitsgemeinschaften Aus dieser (von Michael Kurz erzählten) Geschichte wird verständlich, dass die ›alten‹ Verhältnisse tatsächlich so waren, dass es nicht nur in den Familien eine klare Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern gab, wobei die Männer ihrem Beruf nachgingen und die Frauen die Wirtschaft führten, sondern dass es auch signifikant zur Herausbildung von männlichen und weiblichen Arbeitsgemeinschaften kam, die ganze Wochen oder auch Monate im Wechsel von Arbeit und Freizeit miteinander verbrachten. Das betraf große Teile der Bevölkerung, wenn auch nicht alle. Es gab auch Bauernfamilien, in denen die Männer keiner Nebenerwerbstätigkeit nachgingen. Und es gab neben den Bauern und ArbeiterBauern die BürgerInnen des Marktes Aussee, für die die geschilderten Strukturen nicht galten. Weibliche Arbeitsgemeinschaften/Frauen(arbeits-)gemeinschaften Die auffallendsten weiblichen Arbeitsgemeinschaften – von denen Michael Kurz übrigens nicht spricht – bildeten sich während der Sommerzeit auf den Almen. Von etwa Anfang Juni bis etwa Ende September waren Frauen mit dem Vieh auf jenen Almen, wo die betreffenden Bauern ihre Almrechte hatten, in der Regel mehrere Wegstunden von ihren Wohnstätten entfernt. Da die Männer ihrer Erwerbstätigkeit nachgingen und ihre Frauen auch im Sommer für die Wirtschaft im Tal gebraucht wurden, waren es hauptsächlich junge Mädchen, die neben älteren (meist ledigen) Frauen für die Arbeit auf den Almen in Frage kamen. Sie waren (meist schlecht) bezahlte Bauernmägde, die im Winter ihre Arbeit auf 101

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dem Hof versahen, im Sommer auf der Alm. Ihre Bezeichnung lautete »Almerin« oder »Almdirn«. Der erste Bericht über die Ausseer Almwirtschaft stammt von Erzherzog Johann, der im August 1810 auf seiner ersten Alpenreise von Grundlsee aus in das Tote Gebirge aufstieg bzw. ritt und darüber ein genaues Tagebuch geführt hat  : Überall auf den Alpen fahren Mädchen auf  ; entweder haben sie das Vieh eines oder mehrerer Bauern zu versehen. Ein oder zwei Halter sind ebenfalls da, um das Schafvieh zu besorgen. Jede Magd hat die Aufsicht über 6–8 Kühe, 1–2 Schweine, 10–12 Schafe […]. Überall fand ich die größte Ordnung und bewunderungswürdige Reinlichkeit […]. Die Dirnen sind sehr fleißig  ; sie müssen Futter holen gehen für jene Tage, wo böses Wetter den Austrieb hindert  ; an den steilsten Stellen wird es geschnitten, und dabei geschieht manches Unglück. Die Mägde sind schlecht bezahlt, sie erhalten für das ganze Jahr 11 fl. und Schuhe, so viel sie verreißen. Ist die Alpenzeit glücklich, so erhalten sie eine Belohnung […]. Der Halter hat 40 kr. des Tages, so lang er oben ist […]. Es gibt oben junge und alte Mädchen  ; in der Gegend von Aussee fand ich, daß sie am besten singen, drei bis vier Stimmen zusammen  ; es ist sehr angenehm zu hören. Ebenso merkwürdig ist das Zurufen von einer Alpe zur andern, und das Antworten in gedehnter, trauriger Melodie, dann das Juchzen. Die Alten haben die besten und stärksten Stimmen  ; ich fand solche, die schon 30 Jahre hier aufgefahren waren. (Ilwof 1882, 33–35)

Auf jeder Alm wirtschafteten also mehrere Almerinnen  ; manche Almen waren, wie wir aus den historischen Quellen wissen, richtige Dörfer. Auf der Vordernbach-Alm zum Beispiel oberhalb des Grundlsees waren um 1845 etwa 20 Hütten, wie auf einer Zeichnung des Hallstatt-Forschers Friedrich Simony zu sehen ist (vgl. Stadler 1991, 9). Dort entwickelte sich über die Sommer hinweg ein eigenes Leben und dieses Leben war weiblich geprägt. Die Almerinnen hatten schwere körperliche Arbeit zu leisten  ; sie versorgten die Kühe und verarbeiteten die Milch. Solange die Almen voll in Funktion waren, wurde in jeder Hütte die Milch extra verarbeitet  ; Butter und »Schotten« (das ist aus Buttermilch erzeugter Magertopfen) wurden wöchentlich oder vierzehntägig von jeder Almerin mit dem »Fahrtl« zu Tal getragen. Das Fahrtl ist ein Holzgebinde, das 30 bis 40 Kilogramm fasst und, mit einem gestickten Tuch umhüllt, von der Almerin auf dem Kopf getragen wurde. Im Tal deckte sich jede Almerin mit dem Notwendigsten ein und stieg wieder auf zu ihrer Hütte. Neben der Tätigkeit der Almerin für die eigene Wirtschaft gab es auf den Almen Gemeinschaftsarbeiten, die von einer älteren bzw. erfahrenen Almerin gere102

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gelt wurden. Eine sehr gefährliche Gemeinschaftsarbeit der Almerinnen war das schon von Erzherzog Johann beobachtete »Glek«-Schneiden, das Absicheln des Grünfutters an den (Berg-)Hängen über dem Almboden. Beim Hinausziehen zu dieser Arbeit wurde der Rosenkranz gebetet. Und  : »Bevor man sich trennt, wird gejodelt«, schreibt der Anthropologe Freiherr von Andrian 1905 in seiner Studie über die AltausseerInnen. »Nach einiger Zeit kleben die Almdirndln wie Gemsen zur Rechten und zur Linken des Hochtales an den Wänden. Nun beginnt das ›Johizn‹, ein Wechselgesang einzelner zwischen hüben und drüben.« (Andrian 1905, 72) An mehreren Abenden in der Woche wurde gemeinsam gebetet, ansonsten wurde aber nach Beendigung der Stallarbeit miteinander gejodelt, getanzt und gescherzt und es kamen auch Besuche. Sexualität war auf der Alm auch den Unverheirateten ›erlaubt‹, was zwar dem Sittlichkeitsverständnis weltlicher und geistlicher Obrigkeit widersprach, aber für die Gemeinschaft der Almerinnen offensichtlich trotzdem zum Leben gehörte. Die Burschen besuchten also ›ihre‹ Mädchen auf den Almen. Manche Burschen – so die mündliche Überlieferung – nahmen sogar gigantische körperliche Anstrengungen auf sich, um zu den Mädchen auf den Almen zu gelangen. Allerdings wurden gewisse Regeln beachtet  : Wenn ein Bursche während eines Almsommers zum ersten Mal bei einer Almerin über Nacht blieb und das von den anderen entdeckt wurde, gab es vor der Hütte »Katzenmusik« mit allerlei Lärminstrumenten, was man »bauen« nannte. Das betreffende Paar musste dann alle zu einem »Baunkoch«, einer Mahlzeit, einladen. Wenn das geschehen war, war der Fall erledigt  ; ab nun blieb das Paar auf der Alm unbehelligt (vgl. Haid 2010b, 104–105). Die Almabfahrt im Herbst hieß »Hoamfoan« (Heimfahren) oder »Åbirauschen« (Hinunterrauschen) und fand gegen Michaeli (29. September) statt. Wenn im zu Ende gegangenen Sommer kein Unglücks- oder Todesfall zu beklagen gewesen war, wurden die Kühe festlich geschmückt. Die Almerinnen traten in ihrer Standestracht mit rotem Kittel und weißer Schürze auf und verteilten die in Schmalz herausgebackenen »Almraunkerln« unter den ZuschauerInnen. Nach dem Heimfahren fand in einem Wirtshaus im Tal ein »Almtanz« für das Almpersonal statt (vgl. Haid 2010b, 105–106). Frauengemeinschaften waren auch außerhalb der Almzeit und nicht nur unter Almerinnen eine wichtige Form der Geselligkeit. Im Winter trafen sie sich beim sogenannten »Rockasitz«. Das war ein Treffen der Frauen und Mädchen in Privathäusern zum gemeinsamen Handarbeiten (der Ausdruck stammt von dem Gerät, auf dem der unversponnene Flachs angeordnet wird, genannt »Rocken«, 103

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»Spinnrocken«, »Kunkel«). Männer durften da nicht dabei sein. Der Brauch hat sich erhalten, als das Almwesen schon längst nicht mehr existierte, wurde aber in die Wirtshäuser verlegt. Seit den späten 1970er-Jahren findet er nicht mehr statt (Mitteilung von Monika Gaiswinkler, Altaussee, 2010). Männliche Arbeitsgemeinschaften/Männer(arbeits-)gemeinschaften Männliche Arbeitsgemeinschaften wurden von den Salinenarbeitern, auch »Pfannhauser« genannt, den Holzknechten und den Bergarbeitern gebildet. Sehr gefährlich war die Arbeit der Holzknechte. Viele von ihnen lebten in Grundlsee und in Gößl, da dort wegen der großen Entfernung vom Altausseer Salzberg und von der Ausseer Saline ein anderer Erwerb nicht möglich war. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren beispielsweise in Gößl die meisten verheirateten Männer, die nur ein kleines Haus und keine Rinder hatten, wie auch die älteren Burschen sogenannte »Stabile«, das heißt ständig angestellte und pensionsberechtigte kaiserliche Holzarbeiter. Die Woche über hausten sie im Wald in den fest gebauten Holzstuben oder den primitiveren »Sülln«, die nur aus einem auf dem Erdboden ruhenden und mit Baumrinde gedeckten Giebel bestanden. Sie schliefen auf Strohsäcken und kochten am offenen Feuer, jeder für sich selbst, aus den mitgebrachten Nahrungsmitteln (Schmalz, Mehl, Äpfel, Salz) ihr Essen. Einer war der »Geimel«, der das Feuer versorgen und Wasser holen musste. Aufgabe der Holzknechte war es, die für das Berg- und Hüttenwesen notwendigen Bäume zu fällen, zu entasten und zu entrinden und dann zu Tal zu bringen, was oft in den sogenannten »Riesen«, aus Holz gebauten kilometerlangen Rutschen, geschah. Anschließend wurde das Holz über Bäche, Seen und Flüsse weitergetriftet. Zur notwendigen perfekten Verständigung bei diesen Arbeiten dienten den Holzknechten von Generation zu Generation überlieferte signalartige Rufe (vgl. Haid 2010b, 127–128). Die Bergarbeiter waren wie die Holzknechte und die Salinenarbeiter »ArbeiterBauern« mit kleinen Landwirtschaften, einem fixen Lohn und zahlreichen Privilegien. Sie verrichteten achtstündige Schichten  ; sie brachten 24 Stunden auf dem Salzberg, die darauffolgenden 24 Stunden bei ihren Familien zu (Andrian 1905, 63). Einige von ihnen haben sich als begabte Mechaniker und Uhrenbauer hervorgetan (Andrian 1905, 56), andere sind als begnadete Volksmusikanten in die Geschichte eingegangen. Die Salinenarbeiter waren keine Wochenpendler, da die Saline im Ort war und sie nach der Schicht heimgehen konnten. Eine ›verschworene‹ Männergemeinschaft waren sie trotzdem  ; sie hatten ihre Bräuche, ihre Musik, ihr Image und ihren Stammtisch. Leider ist die Kulturgeschichte der 104

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Ausseer Salinenarbeiter, genannt »Pfannhauser« (in der Saline, wo sie arbeiteten, standen die Pfannen zum Sieden des Salzes), noch nicht geschrieben worden. Es gab verschiedene Tätigkeiten zu verrichten. »Die Pfannhauser mußten während der Tag- und Nachtschichten in bestimmten Zeitabständen das in den Sudpfannen ausgefallene Salz in Gemeinschaftsarbeit so schnell wie möglich aus der heißen Sole ziehen und weiterverarbeiten. Anschließend verbrachten die ›Pehrer‹ eine Ruhepause in den Gemeinschaftsräumen. Nur die Schlafpausen wurden im eigenen Heim verbracht.« (Stadler 1971, 49) Man kann sich leicht ausmalen, was in diesen Gemeinschaftsräumen während der stundenlangen Ruhepausen vorging  : Die Arbeiter gingen ihren Hobbys nach, tauschten Erfahrungen aus, dichteten die sogenannten Faschingbriefe, sannen auf Schabernack. In ihrem Stammwirtshaus, dem »Brückenwirt« in Unterkainisch in der Nähe der Saline, saßen sie angeblich in Zweierreihen um den Biertisch, weil in Stoßzeiten nicht alle direkt am Tisch Platz hatten. Dort übten sie die komplizierten Klatschrhythmen für die Ausseer Tänze, indem sie ihre Holzschuhe über die Hände zogen und damit auf den Tisch schlugen, was einen fürchterlichen, wenn auch geordneten Krawall erzeugte (Auskunft meiner Gewährsfrau Monika Gaiswinkler). Für eine spezielle Art der Salzherstellung in Ein-Kilo-Briketts wurde 1904 eine hydraulische Brikettpresse eingeführt. »Die Arbeiter an dieser Presse waren sehr singfreudige Männer, die während der eintönigen Arbeit oft dreistimmige Jodler sangen. Eine dort entstandene Jodlerweise heißt heute noch ›Brikettierer‹.« (Stadler o.J., 89) Witze über die Salinenarbeiter beziehen sich auf deren Langsamkeit  ; nachgesagt wurde ihnen weiters, dass sie sich ihre Häuser durchwegs in Eigenregie herstellten und sich das dafür nötige Baumaterial und Werkzeug in ihrer Arbeitsstätte ›organisierten‹. Heutzutage bietet die Sozialstruktur des Ausseerlandes ein komplett verändertes Bild. Im Salzbergwerk arbeiten nur noch vergleichsweise wenige Bergarbeiter  ; die Saline wurde im Jahr 1984 geschlossen. Dadurch sind auch die Holzarbeiter nicht mehr notwendig. Während es nach dem Zweiten Weltkrieg noch 12 Almerinnen und einige Halter gab, werden heute nur noch Jungrinder, Ochsen oder Kühe mit Kälbern in Mutterkuhhaltung aufgetrieben, auf den Almen findet also keine Milchverarbeitung mehr statt. Es gibt keine Almerinnen mehr (vgl. Stadler 1982, 11  ; Haid 2010b). Das Bürgertum hat seinen einstigen Glanz eingebüßt  ; viele einst angesehene Geschäftsleute und lokale Gewerbebetriebe kämpfen ums Überleben. Das bedeutet eine einschneidende Veränderung im Sozialgefüge. Bis in die 1970er-Jahre galten die Ausseer Kaufleute, Wirte und Gewerbetreibenden als reich und waren es wohl auch. Im Fasching war in Aussee der »Gewerbeball« der regionale ›Nobelball‹. Der »Bürgerstolz« äußerte sich nicht zuletzt in der Kleidung, in der Herausbildung eines eigenen ›Bürgerkleides‹ 105

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für Damen aus teuren Seidenstoffen, das nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings nur noch zu ganz speziellen Anlässen getragen wurde. Bis heute aber ist es den Bürgerinnen und Bürgern vorbehalten, am Faschingdienstag in den kostbaren Gewändern der »Flinserln« aufzutreten – ein Nachklang der einstigen Bedeutung. Das Stadtmarketing, das dem Bedeutungsverlust entgegensteuert, setzt vernünftigerweise auf regionale Produkte, wozu Tracht, Brauch und Volksmusik gehören, die im Ausseerland eine große Tradition haben und hohes Ansehen genießen. Ohne Tourismus würde die Region nicht überleben, ohne die ZweitwohnsiedlerInnen auch nicht, die aus gehobenen Schichten stammen, die lokalen Eigenarten schätzen und mittels ihrer Kaufkraft auch fördern.

Zur lokalen Konstruktion von Geschlechterrollen Es wäre ein Wunder, wenn sich die geschilderten Frauen- und Männergemeinschaften, die es über Jahrhunderte hinweg gegeben hat, nicht auf das lokale Verständnis von Geschlechterrollen ausgewirkt hätten. In diesen Gemeinschaften sind schließlich wichtige Diskussionen gelaufen (die wahrscheinlich anders oder zum Teil gar nicht stattgefunden hätten, wenn die Frauen bzw. die Männer nicht ›unter sich‹ gewesen wären). Dort hat man zweifellos vieles miteinander besprochen, da wurden Erfahrungen ausgetauscht, Meinungen transportiert, Wissen und Praktiken weitergegeben. Es waren Gemeinschaften mit flachen Hierarchien, die ›Chefs‹ und ›Chefinnen‹ waren weit weg, weshalb diese Gemeinschaften wohl auch subversiv und aufmüpfig sein konnten. Das zeigen nicht nur die vielen Geschichten über den bestenfalls als Kavaliersdelikt angesehenen Wilddiebstahl, sondern auch der Umgang mit der Sexualität. Der Historiker Michael Kurz erläutert, dass im Salzkammergut von der Obrigkeit die Heiratserlaubnis nur dann gegeben wurde, wenn die Konjunktur im Salzwesen gut war. »Im Falle einer länger anhaltenden Rezession schränkte man die Hochzeiten ein. Dies resultierte – wenig überraschend – in einer schon im 17. Jahrhundert beispiellos hohen Quote an unehelich geborenen Kindern. Auch ohne den kirchlichen Segen und die obrigkeitliche Erlaubnis erdreisteten sich die ungehorsamen Ausseer also ihre Nachkommen aufzuziehen.« (Kurz 2010, 63) Freilich herrschten und herrschen im Ausseerland patriarchale Strukturen wie überall in Mitteleuropa, weshalb sich besonders der Blick auf die Frauengemeinschaften auf den Almen als interessant für das regionale Verständnis von Geschlechterrollen erweist. Über viele Wochen hinweg in einer Extremsituation Teil einer Frauengemeinschaft zu sein, wie das bei den Almerinnen der 106

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Fall war, prägte zweifellos das Selbstbewusstsein dieser Frauen, zumal es sich um eine arbeitsbedingte Gemeinschaft handelte, in der von jeder Einzelnen Kraft, Geschicklichkeit und Durchhaltevermögen gefordert war. Praktiken im Umgang mit der Natur mussten beherrscht werden  ; Schreien zur Verständigung mit den weit entfernt arbeitenden Kolleginnen und mit den Tieren war eine berufliche Notwendigkeit. Das Zurufen beim Glek-Schneiden (s. o.) diente in einer Zeit ohne Handy vermutlich nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der beständigen akustischen Versicherung, dass bei dieser sehr gefährlichen Arbeit an den ausgesetzten Hängen noch alle da waren, keine ausgerutscht oder von einer Schlange gebissen worden war. Volksmusikalische Feldforschungen bei Almerinnen ergeben dennoch immer, dass sie sich alle Jahre wieder extrem auf die Almzeit freuten. Das war trotz der vielen und schweren Arbeit die Zeit der Selbstständigkeit, der Freiheit, auch der Partnerschaft und Solidarität unter Freundinnen, wo wenigstens für diese Zeit ein unangefochten selbstständiges, kreatives, von Wissen und Können geprägtes Frauenleben im Einklang mit der Natur gelebt wurde, das noch dazu Bedeutendes zur Wirtschaft am Hof beitrug. Im Tal war freilich wieder alles anders. Eine meiner Gößler Gewährsfrauen, die »Anerl Miaz« (Maria Steinegger), hat mir erzählt, dass sie gleich nach der Schule mit 14 Jahren ihren ersten Almsommer verbracht hat, wo sie das gesamte Vieh des Hofes zu betreuen hatte. Nach dem »Heimfahren« wollte sie mit den anderen zum Almtanz gehen, musste aber ihren Vater fragen. Der verbot ihr das mit den Worten »I moan es is dås Fleckü no ned hoal, wo di da Schulapåck gnefft håt« (»Ich meine, es ist der Fleck noch nicht geheilt, wo dich die Schultasche aufgerieben hat«). Das zeigt wohl deutlich, dass das Verständnis des Vaters über die Rolle seiner jungen Almerin ein ganz anderes war als jenes der Tochter. Sie hat damals natürlich gehorcht und ist nicht zum Tanz gegangen. Aber dass sie mir diese Geschichte im hohen Alter noch erzählt hat, zeigt andererseits auch, dass sie sich nie ganz mit der ihr vom Vater zugeteilten Rolle abgefunden hat und dass andere Frauenbilder durchaus vorstellbar waren. (Zur Ehre des Vaters sei gesagt, dass damals, es war die Zwischenkriegszeit, allgemein sehr darauf geachtet wurde, dass die jungen Leute nicht zu jung auf den Tanzboden gingen. Die Burschen durften erst tanzen gehen, wenn sie den Militärdienst geleistet hatten.)

Lieder, Texte, Spiele, Tänze, Kleider, … Die musikalischen Aufzeichnungen, die wir von der Almkultur haben, zeigen, dass die Almerinnen beim Rufen Texte improvisierten, die kurze Schilderungen, 107

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Abb. 1  : Ruf einer Almerin im Gebiet des Hohen Sarstein (Ausseerland), aufgezeichnet von Karl Liebleitner (in  : Zeitschrift Das deutsche Volkslied [25] 1923, 41).

kleine Witze, knappe Mitteilungen über weite Entfernungen transportierten. Einer der originellsten Rufe, der nicht nur musikalisch durch die Verwendung des »Alphorn-fa« (des 11. Obertons) sehr interessant ist, sondern auch eine Geschichte hat, lautet  : »Lisei  ! Kimm ummar auf d’Nåcht, i håw an schön Ålmabuam  !« So rief 1896 eine Almerin in der Gegend des Sarsteins zu ihrer weit entfernten Nachbarin hinüber, als sie einen vom Regen durchnässten jungen Wanderer mit heißer Milch und Schmarrn gelabt hatte und dann zu ihm sagte  : »Üwa Nåcht kånn i di åwa nit khåltn, woaßt, i bi vaheirat, åwa da Lisei wer is sågn.« (»Über Nacht kann ich dich nicht behalten, weißt du, ich bin verheiratet, aber der Lisl werd ich es sagen.«) Diese Geschichte ist einem Wiener, dem begeisterten Bergwanderer Pepi Käßhofer, passiert, der später am Traunstein tödlich verunglückte. Überliefert wurde sie gemeinsam mit der Aufzeichnung des Rufes von dem niederösterreichischen Volksliedforscher Karl Liebleitner (vgl. Das deutsche Volkslied [25] 1923, 41). Wenn wir Erzherzog Johann glauben dürfen, verstanden sich die Almerinnen aber nicht nur auf das Zurufen, sondern auch auf das drei- und vierstimmige Jodeln, was besondere Musikalität und Fähigkeiten im Umgang mit der Stimme voraussetzt. Das verdient deshalb besondere Beachtung, weil das Entwickeln von Mehrstimmigkeit sonst eher bei Männern, in der Geselligkeit der Wirtshäuser, vorgefunden wird (vgl. Bithell 2003  ; Haid 2006). Eine weitere Musikgattung war eine Domäne der Almerinnen  : Sie beherrschten die sogenannten »Almschreie«. Das sind solistisch angewendete Tonfolgen, die oft einen Weg durch mehrere Tonarten beschreiben und auf konsonantenarme Singsilben ohne Wortbedeutung gesungen werden, wobei den Schluss oft das Wort »Alm« bildet, versehen mit einem charakteristischen Schlussportamento. Den Almschreien wurde ähnlich wie den Schweizer Betrufen eine magische Bedeutung und apotropäische, also abwehrende, Wirkung zum Schutz der Alm zugeschrieben. Die Almerinnen waren somit Expertinnen in mehrfacher Hinsicht. 108

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Abb. 2  : Die Schwestern Kölml beim »Johitzen«. Zeichnung von Joseph Tunner (1792–1877), 1840 (aus Klier 1956, Abb. 16).

Aus den regionalen Almliedern, die sich zahlreich in den einschlägigen Liedersammlungen finden, spricht immer ein sehr großer Respekt vor der Almerin. Ein häufiges Thema ist der Besuch des Burschen auf der Alm, der in vielen Texten ähnlich abläuft. Der Bursch kommt zunächst auf die Alm, nähert sich dann zaghaft der Hütte, wird von der Almerin aber freundlich empfangen und darf bei ihr schlafen. Diese Lieder wären bei genauer Analyse (nicht nur der Texte, sondern auch von Provenienz, Überlieferung, Musik und Aufführungspraxis) eine interessante Quelle für Geschlechterrollen und die Normen für Weiblichkeit und Männlichkeit, die in ihnen transportiert werden. Für diese Normen gibt es auch zahlreiche Bildquellen. Zwei Almerinnen aus Grundlsee, die Schwestern Kölml Franz (Franziska) und Kölml Sepha ( Josepha), errangen bei einem von Erzherzog Johann 1840 in Graz veranstalteten bäuerlichen Wettsingen mit ihren Almschreien den ersten Preis. Er ließ sie von seinem 109

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Kammermaler Joseph Tunner in der typischen Haltung beim »Schreien« mit den Fingern am Jochbein abbilden. Aus der Schweiz und auch aus anderen Regionen kennen wir solche Bilder nur von Männern. Mit der Wahrnehmung der Almerinnen durch die gebildeten Schichten wuchs vermutlich der Stolz dieser Berufsgruppe. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Aussee Fotoateliers gegründet wurden, ließen sich viele Almerinnen fotografieren, und zwar mit dem schön gebundenen Almfahrtl auf dem Kopf. Diese Fotos zeigen in vielen Details (Haltung, Kleidung, Handling, Accessoires) ein Abb. 3  : Unbekannte Almdirn mit Almfahrtl. von Stolz, Selbstständigkeit, Kraft, Foto Michael Moser um 1890. Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit Mit freundlicher Genehmigung des Ausseer geprägtes Frauenbild. Das im Atelier Kammerhof­museums von einem Fotografen hergestellte Bild ist wohl die perfekte ›Inszenierung‹ dessen, worauf es der Almerin bei ihrem Auftreten ankam, wie sie gesehen werden wollte – oder auch wie der Fotograf sie aussehen lassen wollte. Eine jüngere Fotoserie stammt von dem ab 1920 im Ausseerland wirkenden volkskundlich interessierten Lehrer, Heimatforscher, Chorleiter und Liederschreiber Hans Gielge (1901–1970), der etwa ab den 1930er-Jahren viel auf den Almen unterwegs war, um Jodler aufzuzeichnen und das Almleben fotografisch festzuhalten. Seine Bilder sind in actu und in situ aufgenommen  ; sie erscheinen nicht gestellt, wohl aber vielleicht ›bestellt‹ in dem Sinn, dass er jene Elemente des Almlebens bevorzugt fotografierte, die ihm interessant erschienen und die er dann wieder in seinen Diavorträgen zeigen konnte. Er kannte Andrians Werk und hat es bei seinen Erkundungen zu Rate gezogen. Das große Selbstwertgefühl der jungen Almerinnen kennzeichnet auch Gielges Bilder. Solche Dokumentationen betreffen nicht allein die Almerinnen, sondern auch die Holzknechte. Sie waren berühmt für ihre Geschicklichkeitsspiele, mit denen sie sich an den Abenden in der Holzknechthütte die Zeit vertrieben. Konrad Mautner hat 1909 dreißig solcher Spiele aufgezeichnet. Solche Spiele lernten 110

Geschlechterrollen und Geschlechterrollenspiele

Abb. 4  : Sennerinnen beim Glek-Schneiden. Diasammlung Hans Gielge. Mit freundlicher Genehmigung des Ausseer Kammerhofmuseums.

Abb. 5  : Sennerinnen beim Holztragen. Diasammlung Hans Gielge. Mit freundlicher Genehmigung des Ausseer Kammerhofmuseums.

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Abb. 6  : Holzknechtspiel, gezeichnet und beschrieben von Konrad Mautner (Mautner 1909, Abb. 45).

die Jüngeren von den Älteren gleichzeitig mit der Erfahrung, dass es nicht immer nur auf die Kraft ankommt, sondern vor allem auf den »Vochtl«. Das Wort kommt von »Vorteil« und meint eine geschickte, kraftsparende, raffinierte Handhabung, mit oder ohne Hilfsmittel, insbesondere beim Heben und Verschieben von Lasten, worin die Holzknechte Meister waren. Am seltensten wurden die Bergarbeiter und die Salinenarbeiter dokumentiert, obwohl sie für die musikalische Kultur der Region genauso prägend waren. So ist beispielsweise das »Paschen«, das Klatschen komplizierter Rhythmusmuster beim Gstanzlsingen2 am Wirtshaustisch oder beim Tanzen, aus dem Arbeitsrhythmus von Salinenarbeitern beim gemeinsamen Bearbeiten des Pfannbleches entstanden. Dass Arbeit ihren musikalischen Ausdruck findet, dass dabei Standesbewusstsein und Standesstolz mit einfließen, ist nichts Neues. Neu ist die Frage, wie weit Geschlechterrollen hier nach wie vor mitgedacht werden. Beim Paschen dürfte das der Fall sein. Frauen paschen bis heute nicht (oder nur selten) in der Öffentlichkeit, obgleich das Paschen inzwischen längst Teil der heimischen Paartänze geworden ist. Aber wenn im Tanzverlauf jene Stelle erreicht ist, wo es zum Gstanzlsingen und zum Paschen kommt, treten die Frauen in den Hintergrund und lassen die Männer alleine werken – was diese dann je nach Vermögen, aber tendenziell überzeugend und mit höchster Konzentration vollführen. 112

Geschlechterrollen und Geschlechterrollenspiele

Abb. 7  : Ein Teil der »Strassner Pascher« im Ausseer Kammerhofmuseum. Foto  : Gerlinde Haid, 2008.

Auch in das Gstanzlsingen mischen sich die Frauen im Allgemeinen in der Öffentlichkeit nicht ein. Viele Gstanzltexte sind erotisch konnotiert und ›politisch nicht korrekt‹ – aber das auf Geschlechterrollen zu untersuchen, wäre ein Kapitel für sich (vgl. Haid 2010a). Die Zurückhaltung der Frauen beim Gstanzlsingen und Paschen ist umso auffallender, als die meisten anderen Bereiche von Tanz- und Instrumentalmusik heute – im Gegensatz zu früher – den Frauen genauso offenstehen wie den Männern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Art des Auftretens, die Kleidung und die Kultur sowohl bei den Almerinnen als auch bei den Holzknechten, den Bergleuten und den Salinenarbeitern zunächst einmal ihrer Arbeit und ihrem Beruf geschuldet waren. Die Normen, die dadurch transportiert worden sind, waren nicht Normen für Weiblichkeit oder Männlichkeit schlechthin, sondern wirkten im Rahmen des jeweiligen Standes, der jeweiligen sozialen Schicht. Die Almerinnen mit ihrem ausgeprägten Selbstbewusstsein wurden jedoch – nicht zuletzt im Zuge der Alpenromantik des 19. Jahrhunderts – zunehmend auch 113

Gerlinde Haid

in der Fremdwahrnehmung zu etwas Besonderem. Nicht zufällig ist die Arbeitskleidung der Almerinnen in jene Tracht eingegangen, die heute als »Ausseer Dirndl« bezeichnet wird. Es besteht aus einem grünen Leib, einem rosa Kittel und einer lila Schürze, die zurückgeht auf jene weiße Leinenschürze, die zum »Milchgeschäft« der Almerinnen gehörte und von diesen gelegentlich mit Schwarzbeersuppe zu dem heute üblichen Lila gefärbt wurde. Bei den Männern ist nicht die Uniform der Bergleute oder die Arbeitskleidung der Salinenarbeiter in die Tracht eingegangen, sondern – wieder dank Alpenromantik – die Kleidung von Holzknechten oder Jägern, wie sie auch Erzherzog Johann aus dem heimischen Kleiderrepertoire für seine Jagdausflüge übernommen hat, also Lederhose, Lodenrock und Filzhut. Aus der Arbeitskleidung der Holzknechte findet man den »Wetterfleck«, einen sogenannten Kopfschlitzüberwurf, vergleichbar dem Poncho bei süd- und mittelamerikanischen Indios, in der Ausseer Tracht wieder (Lipp 1992, 13). Obwohl es also inzwischen keine Almerinnen und fast keine Holzknechte mehr gibt, ist die Prägung durch diese Berufsgruppen in der Tracht sichtbar geblieben. Was beim Tragen der Tracht als schön gilt, erinnert vielleicht auch noch an die einstigen Ansprüche des Almlebens. »Sauber« (hübsch) gilt bei Frauen, »schneidig« (verwegen) bei Männern als ideales Aussehen. Frauen wie Männer können »fesch« angezogen sein, was angeblich von fashionable kommt und so viel bedeutet wie gut sitzend, passend in Farbe, Form und Details, aber auch passend zum Anlass und mit einem gewissen ›Pfiff‹ in der individuellen Zusammenstellung.

Das Spiel mit den Codes Das Ausseerland wird heute als ›Trachteninsel‹ bezeichnet, was daran liegt, dass viele AusseerInnen Trachten zu ihrem Kleiderrepertoire zählen – neben all dem, was heute an Sport-, Freizeit-, Büro- und Ausgehmode üblich ist. In dieser Trachtenwelt sind – anders als bei Sport- und Freizeitmode – Frauenkleider und Männerkleider sehr deutlich voneinander unterschieden, indem Frauen Kittel (Röcke) tragen und Männer Hosen. Diese traditionelle Kleidung ist also deutlich erkennbar entweder weiblich oder männlich codiert – was es allerdings auch möglich macht, mit diesen Codes zu spielen. Es gibt also Brüche und Irritationen, die in aller Regel in die Richtung gehen, dass sich Frauen Attribute aneignen, die ursprünglich männlich sind. Hervorragendes Medium für solche Grenzüberschreitungen scheint in der traditionellen Kleidung des Ausseerlandes vor allem der Hut zu sein, der für viele einheimische Männer ein unabdingbares Accessoire 114

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ist (von den Grundlseern sagt man, dass sie sogar mit dem Hut schlafen  !) und als weibliches Attribut erst mit der Zeit zunächst bei den Bürgersfrauen auftaucht  : natürlich bei Anna Plochl, bei adeligen weiblichen Jagdgästen und seit einigen Jahrzehnten mit Vorliebe bei weiblichen Volksmusikgruppen, vorzugsweise in der Steiermark, als Hut zum Dirndlkleid. Eine Untersuchung darüber steht meines Wissens noch aus. Das Gegenteil, nämlich dass sich Männer Frauenkleider anziehen, gibt es nur im Fasching. Und darauf möchte ich abschließend noch eingehen.

Phänomen Fasching Die Fasnachts- und Faschingsforschung ist ein oftmals behandeltes Thema in der europäischen Ethnologie. In der neueren Literatur steht vielfach das ›Karnevaleske‹ im Zentrum der Betrachtung, wobei das Thema über die alte Festzeit hinaus auf alle möglichen Performances erweitert wird, bei denen Maskierung, Kleidertausch, Geschlechterwechsel und andere Symbole und Rituale der ›verkehrten Welt‹ eine Rolle spielen – vom städtischen ›Sommerkarneval‹ bis zur Love Parade. Nach Michi Knecht, die in den »Berliner Blättern« über ›Karnevalisierung‹ schreibt, sind »Karneval, Fasching und Fas(t)nacht […] nicht einfach Rituale der momentanen Umkehr bestehender Werte, sondern schillern in der Figur einer ›geordneten Unordnung‹ zwischen verschiedenen Polen  : zwischen spielerischer Entgrenzung und grotesker Reglementierung, wilder Zwecklosigkeit und zwanghaft verplanter Ordnung, zwischen Subversion und Restauration, Kreativität und Konvention« (Knecht 2002, 7). Dabei kommen auch Gender-Fragen in den Blick, gehören doch karnevalistisches Crossdressing und Geschlechterrollentausch einerseits zum Altbestand europäischer Fest- und Lachkultur und erleben sie andererseits gerade eine Renaissance in den ungeheuer boomenden ›Paraden‹ (vgl. Braun 2002, 54). Auch im Ausseer Fasching kommt der Geschlechterrollentausch vor. Als Fasching wird im traditionellen Festkalender vorwiegend katholischer Gebiete die Festzeit vor der 40-tägigen Fastenzeit bezeichnet, die dem Osterfest vorausgeht. Über den Ursprung dieser Festzeit gibt es verschiedene Theorien  ; mir erscheint plausibel, dass hier wie in vielen anderen Bräuchen Europas ältere Riten, zum Beispiel in Zusammenhang mit Fruchtbarkeit, christlich überformt worden sind. Die These, dass wir es mit einem auch christlichen Fest zu tun haben, hat 1986 Dietz-Rüdiger Moser in seinem Buch »Fastnacht – Fasching – Karneval« vertreten, in dem er argumentiert, dass diese Festzeit von der Kirche als Spiel von 115

Gerlinde Haid

der ›verkehrten Welt‹ eingeführt wurde mit dem Sinn, den Gläubigen den Spiegel ihrer Dummheiten vorzuhalten, um ihnen die darauf folgende Fasten- und Bußzeit als umso notwendiger für ihren Heilsweg vor Augen zu führen. Das hat viel für sich. Im Ausseerland spricht man seit jeher halb im Scherz, halb im Ernst von den »heiligen drei Faschingtagen«, womit der Sonntag, der Montag und der Dienstag vor dem Aschermittwoch gemeint sind. In diesen drei Tagen liegt über Aussee eine ungemein heitere Grundstimmung. Sie ist geprägt vom »Maschkera-Gehen«, also von Maskentreiben auf Plätzen, Straßen und vor allem in den Wirtshäusern. Die »Maschkera« sprechen mit Fistelstimme und hänseln alle, die als Opfer geeignet scheinen, was man »schlecht sågen« nennt. Manche Maschkera-Gruppen ziehen als »Faschingbriefe« in mehrere Wirtshäuser, wo in Bänkelsänger-Manier mit Texten, Liedern und Bildern Ungeschicklichkeiten und lustige Vorfälle des vergangenen Jahres angeprangert werden. Ein Höhepunkt des Faschingstreibens ist am Dienstagnachmittag der Auftritt der sogenannten »Flinserln«, die von einer Geigenmusik angeführt werden. Das sind Frauen und Männer in wunderschönen kostbaren und bunten Gewändern, auf die Pailletten in traditionellen Mustern appliziert sind. Sie tragen spitze Hüte, haben Stoffmasken vor dem Gesicht und führen Säcke mit Nüssen und Orangen mit sich, die sie an die Kinder verteilen. Die sogenannten »Pleß« hingegen treten eher in alter, abgetragener Kleidung auf, haben einen Bienenkorb oder etwas Ähnliches über den Kopf gestülpt und tragen einen Besen mit einem nassen Fetzen, mit dem sie alle besudeln, die ihnen zu nahe kommen, insbesondere die sie hänselnden Schulbuben. Es sind Burschen und Männer  ; angeblich sind sie früher in Frauengewändern aufgetreten. Die ›verkehrte Welt‹ äußert sich also in mancherlei Gestalt, wobei der Tausch von Frauen- und Männerkleidung mehrfach wiederkehrt. Am deutlichsten zu sehen ist das am Faschingmontag beim Umzug der »Trommelweiber«, einer parodistisch-paramilitärischen Gruppe von Männern in weißen Frauengewändern, die hinter einer Fahne zu den Klängen von Blasmusik und mit einer starken Rhythmusgruppe aus Trommeln und Topfdeckeln einen Tag lang von Station zu Station ziehen.

Ausseer Trommelweiber – »Meine Herrn Trommelweiber« Bei den Trommelweibern verkleiden sich Ausseer Bürger als Frauen in historischer Arbeitskleidung. Es handelt sich um eine schlichte Frauenbekleidung, wie sie um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Obersteiermark getragen wurde, mit 116

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Abb. 8  : Ausseer Trommelweiber 2009. Foto  : Gerlinde Haid.

Häubchen, Halskrause, Hemd, Kittel und Schürze. Vor dem Gesicht tragen die Trommelweiber Papier- oder Kunststoffmasken. So ziehen sie mit Musik durch den Ort. Die Musik besteht aus einer Bläsergruppe, die von Rhythmusinstrumenten wie Trommeln, aber auch perkussiv gebrauchten Topfdeckeln begleitet wird. Fast jedes Trommelweib bedient eines dieser Geräte. Gespielt werden verschiedene Stücke  ; Kennmelodie ist aber der »Ausseer Faschingmarsch«, der bei jeder Aufführung mit dem minutenlangen Schlagen des speziellen Rhyhtmusses      eingeleitet wird und auch wieder so ausklingt. Warum es nur Bürger waren und sind, die Aufnahme bei den Trommelweibern finden, ist eine interessante Frage. Der Brauch ist höchstwahrscheinlich aus dem Gesellschaftsleben der Marktbürger als parodistische Inszenierung entstanden, mit der irgendein Problem angesprochen wurde, das ausschließlich BürgerInnen betraf. Wie streng getrennt Bürgertum sowie Bauern- und Arbeiterschaft lebten, kann erahnt werden, wenn man sich vorstellt, dass noch im vorigen Jahrhundert ein eigener Wächter dafür angestellt war, den Arbeitern und Arbeiterinnen den Zutritt zum Kurpark zu verwehren. 117

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Was könnte nun das angesprochene Problem gewesen sein  ? Gemäß der Aufschrift auf ihren Fahnen sind die Trommelweiber 1767 oder 1778 entstanden. Ihr Auftreten wird in Aussee mit einer Anekdote erklärt  : Eines Abends hätten die Frauen ihre zechenden, den Fasching feiernden Männer aus den Gasthäusern geholt. Ob das stimmt, ist fraglich, denn Geschlechterwechsel und Kleidertausch sind ein häufiges Motiv im Fasching. Auf eine weitere Spur führt uns möglicherweise ein Erlass von 1734, der damals durch Trommelschlag öffentlich kundgemacht wurde und in dem sich der Ausseer Rat gegen das überhand nehmende Tanzen und Saufen, Spielen und Fluchen, Raufen und Schlagen richtete. Der Rat bemängelte insbesondere, »daß die Menscher [Mädchen] derzeit denen Buben und Mannsbildern in die Wirtshäuser nachlaufen und sich selbst annöten und das bei ohnedem drangsaligen und betrübten Kriegszeiten« (Hollwöger 1956, 180). Erlaubte Lustbarkeiten müssten im Sommer nach dem Gebetläuten, im Winter spätestens um 10 Uhr beendet werden. Es wird mit der Trommel Zapfenstreich gegeben und die ledigen »Menscher« müssen sofort heimgehen. »Welches Mensch aber nach vollbrachtem Zapfenstreich ertappt würde, dem werden vom Gerichtsdiener und der verdoppelten Viertelwacht die Hauben, Fürtücher [Schürzen] und Unterröcke abgenommen. Burschen, die sich dem widersetzen oder sich nach 11 Uhr in einem Wirtshaus finden lassen, werden das erstemal in die ›Keichen‹ [Arrest], das zweitemal unter die Soldaten gesteckt.« (Hollwöger 1956, 180) Durch die Heimatforschung ist bisher nur dieser eine Erlass bekannt geworden, aber wir wissen, dass solche Erlässe im 18. Jahrhundert oftmals wiederholt wurden – was auch bedeutet, dass sie selten zum Ziel geführt hatten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieses Verbot über einen längeren Zeitraum gegolten hatte, und es ist gut möglich, dass 1767 oder 1778 die Burschen im Markt Aussee, um sich darüber lustig zu machen, auf die Idee kamen, den Zug der »ledigen Menscher« zu parodieren, die vom Gerichtsdiener nach Hause geschickt werden. Dass die Menscher gemeint waren, war nicht nur an der Kleidung erkennbar, sondern auch an den Topfdeckeln, mit denen man den Rhythmus schlug und die wohl als Insignien der braven Hausmädchen angesehen werden mochten. Wie auch immer – heute sind die Ausseer Trommelweiber eine eingeschworene Männergesellschaft, wenn auch nicht vereinsmäßig organisiert, aber doch mit Symbolen wie Fahne, Schwur und Aufnahmeriten versehen, zusammengesetzt aus dem Kreis des Ausseer Bürgertums. Das bedeutet, dass nicht jeder – schon gar nicht jede –, der Lust dazu verspürt, in dieser Truppe mitmachen kann. Er muss männlich sein, er muss ein Ausseer Bürger sein und er muss aufgenommen werden  ; es handelt sich also um eine sehr exklusive Gemeinschaft. Das 118

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»Obertrommelweib« spricht die mit ihm Ziehenden an diesem Tag bei seinen diversen Reden an mit »meine Herrn Trommelweiber«. Die Riten erinnern an Bräuche von Burschenschaften. In Aussee wäre es undenkbar, dass eine Frau als Trommelweib aufgenommen würde oder mitgehen könnte. Obgleich also weibliche Rollen gespielt werden, findet keine Dekonstruktion von Geschlechterrollen statt. Im Gegenteil  : Die Performance ›richtiger‹ (traditioneller bürgerlicher) Männlichkeit wird durchgezogen und äußert sich in ›Symptomen‹ wie Saufen, Besuchen der Wirtshäuser und Gemeinschaftspflege unter politisch Gleichgesinnten als Spiegel der Machtverhältnisse. Letzteres ist so wichtig, dass sich im Jahr 1928 die politisch anders Gesinnten, nämlich die Arbeiter, zu einem eigenen Trommelweiberzug (genannt »Arbeitertrommelweiber«) formiert haben – ebenfalls unter Ausschluss der Frauen –, der seither jedes Jahr am Faschingdienstag herumzieht, während für die bürgerlichen Trommelweiber der Faschingmontag reserviert ist.

Altausseer Trommelweiber Im vier Kilometer von Aussee entfernten Dorf Altaussee hat sich allerdings 1954 eine ausschließlich weibliche Trommelweiberpartie entwickelt. Parodiert wurden selbstverständlich die Ausseer Trommelweiber. Es handelt sich also um Frauen, die sich als Männer verkleiden, die sich als Frauen verkleiden. Der Grund für diese Innovation war sehr einfach  : Es gab nach dem Krieg wenig Männer in Altaussee, aber viele Frauen, die neun Jahre nach Kriegsende im Fasching endlich wieder einmal so richtig loslegen wollten. Frauencliquen haben in Altaussee, wie zu zeigen war, immer eine große Rolle gespielt, schon auf den Almen, aber auch im Tal bei den »Rockasitzen«.3 In so einer Clique wurde diese Idee geboren. Man ging als Trommelweiber, und weil es lustig war, ging man im nächsten Jahr wieder und so weiter. Inzwischen ist die Truppe auf ca. 80 Frauen angewachsen  ; ein Fixpunkt beim jährlichen Umzug ist die feierliche Schlüsselübergabe bei der Gemeinde und eine gereimte Ansprache über die Missgeschicke des vergangenen Jahres, die den Bürgermeister und seine MitarbeiterInnen betreffen. Niemals dürfte ein Mann mitgehen – außer er ist ein Musikant. Schon beim ersten Mal im Jahre 1954 haben sich die Damen um begleitende Musikanten bemüht  ; inzwischen geht ein Teil der Salinenkapelle mit ihnen – in entsprechender Kleidung. Die Männer verkleiden sich dann sozusagen als Frauen, die sich als Männer verkleiden, die sich als Frauen verkleiden (freundliche Mitteilung von Monika Gaiswinkler und Anita Seebacher, Altaussee). 119

Gerlinde Haid

Abb. 9  : Aus der Chronik der Altausseer ­Trommelweiber, fotografier von Gerlinde Haid.

Dieser Brauch ist zwar aus einer speziellen Situation nach dem Krieg – aus Männermangel – entstanden, bezieht seinen Witz aber zweifellos aus der Irritation, die entsteht, wenn sich Frauen eines spezifischen ›seit ewig‹ eingeführten Männerbrauches annehmen. Noch dazu sind diese Altausseerinnen keine Bürgerinnen, denn die gibt es nur in Aussee  ! Zum Überschreiten der Geschlechterrolle kommt also auch noch das Überschreiten einer Standesbzw. sozialen Schichtgrenze. Auch hier steht eine genaue Untersuchung noch aus. Dass dieser Brauch möglich geworden ist, weil er aus einer weiblichen Gemeinschaft entstanden ist, wie sie seit Jahrhunderten das Gesellschaftsleben in Altaussee mitbestimmt hat, ist eine naheliegende Hypothese.

Conclusio Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Ausseerland die weiblichen und männlichen Arbeitsgemeinschaften, die über Jahrhunderte das Leben vieler Fami­lien geprägt haben, zu spezifischen Ausdrucksformen in Musik, Kleidung und Ritualen geführt haben. Heimatforschung, Anthropologie und Volksmusikforschung erschließen diesbezüglich viele Quellen. Die Normen für Weiblichkeit und Männlichkeit sind stark von diesen Arbeitsgemeinschaften geprägt, wobei besonders die Almerinnen in ihrer Tätigkeit, in ihrem Auftreten und in ihren Wertvorstellungen stark vom bürgerlichen Weiblichkeitsideal abweichen. Was den Versuch der Dekonstruktion von Geschlechterrollen betrifft, so ist dieser bei den bürgerlichen Trommelweibern, wo man ihn aufgrund des Kleiderwechsels zunächst einmal vermuten würde, nicht gegeben, wohl aber bei den Altausseer Trommelweibern, einer Frauenclique, die mit Kreativität, Witz und weiblichem Selbstbewusstsein nachhaltig in die Gestaltung des Faschings im Ausseerland 120

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eingegriffen hat und dies Jahr für Jahr weiterhin tut. Das Selbstverständnis für diese Performanz stammt wohl aus den alten weiblichen Arbeitsgemeinschaften. Die Arbeit am Thema »Geschlechterrollen und Geschlechterrollenspiele. Beispiele aus dem Ausseerland« wirft derzeit mehr Fragen auf, als beantwortet werden können  ; viele davon wurden in der Volksmusikforschung nie bedacht. Das sollte anders werden. Wir haben sehr viele Quellen, die unter einer Gender-Perspektive einfach neu gelesen werden könnten und müssten. Sicher müssen aber auch bei künftigen Feldforschungen ein paar andere Fragen – oder ein paar Fragen anders – gestellt werden.

Anmerkungen 1 Als »Gewährsleute« werden in der Volksmusikforschung jene Personen bezeichnet, auf deren fachkundige Aussagen und Auskünfte sich die FeldforscherInnen beziehen. Verwendet wird auch der Begriff »Gewährspersonen«. 2 »Gstanzln« sind gesungene Epigramme, d.h. zwei- oder vierzeilige pointierte Liedchen, die  – meist von Männern – zu ländlerischen Melodien von gewöhnlich 8 oder 16 Takten mit Musikbegleitung zum Besten gegeben werden, wobei auch einzelne Sänger miteinander in Wettstreit treten. 3 Vergleiche auch Beschreibung weiter oben. »Rockasitz« sind Treffen von Frauen in der Faschingszeit in Wirtshäusern zum Essen, Trinken und Tratschen. In ihrem äußerst lesenswerten Beitrag über diesen Brauch zum Salzkammergut-»Merian«-Heft aus dem Jahr 1978 beschreibt Barbara Frischmuth aus eigenem Erleben das dabei geübte »kiren« oder »kischen« der Frauen  : »In gewissem Sinn ähnelt dieses Lachen auch eher einem Schrei, in Wirklichkeit ist es eine Technik, die dazu dient, sich in Stimmung zu bringen. Im weitesten Sinn vergleichbar den Praktiken gewisser orientalischer Derwische, die sich durch Tanzen, Heulen oder ähnliche Ekstasetechniken in eine bestimmte Gemütslage versetzen.« (Frischmuth 1978, 62)

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Gerlinde Haid

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Geschlechterrollen und Geschlechterrollenspiele

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Katharina Pewny

Männlichkeiten im Blick der feministischen ­Performance Studies Der vorliegende Artikel beginnt mit einer Skizze der Entstehung und Entwicklung der Theaterwissenschaft des deutschen Sprachraums. Darauf folgen Bemerkungen zu Forschungsansätzen aus dem US-amerikanischen Raum. Analysen von Inszenierungen von Männlichkeiten auf den zeitgenössischen Performanceund Tanzbühnen schließen die Überlegungen ab.1

100 Jahre Theaterwissenschaft Die Theaterwissenschaft des deutschsprachigen Raumes ist eine – etwa im Unterschied zu der Germanistik – vergleichsweise junge Disziplin. Institute für Theaterwissenschaft wurden, beispielsweise von Max Herrmann in Berlin, in und seit den 1920er-Jahren gegründet. Herrmann wurde im Nationalsozialismus im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet, andere Institutsleiter unterstützten hingegen den Nationalsozialismus (Fischer-Lichte et al. 1994, 17 f.). So ergab sich nicht nur eine problematische Verwicklung des Faches in den Nationalsozialismus, sondern die Entstehung gesellschaftskritisch orientierter Forschung verzögerte sich möglicherweise. Die Entstehung der Theaterwissenschaft in Deutschland und in Österreich ist einerseits spezifisch ob des Nationalsozialismus, andererseits ähnelt sie den Theaterwissenschaften anderer Sprachgebiete aufgrund ihres Bemühens um Emanzipation von den Literaturwissenschaften. Ihre letztlich erfolgreiche Etablierung als eigenständige Universitätsdisziplin fußt wesentlich auf den künstlerischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts  : Das Theater hat sich als Kunstform – von den Futuristen und Dadaisten über die Performancekunst (Dreher 2001, FischerLichte 2004) seit den 1960er-Jahren – vom dramatischen Text weitgehend abgelöst. Bewegungen, Klänge, Bilder, zunehmend intermediale Inszenierungen und die Integration von ästhetischen Verfahren aus der Performancekunst und aus den bildenden Künsten zeigten in den vergangenen Jahrzehnten sehr deutlich, dass das Theater eine eigenständige Kunstform ist, die keineswegs auf die Inszenierung dramatischer Textvorlagen reduziert werden kann  : Theater ist »postdra125

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matisch« (Lehmann 1999) geworden. Dementsprechend erweitern sich die theaterwissenschaftlichen Forschungsinteressen um Film- und Medienwissenschaft, bisweilen auch um Tanzwissenschaft und um visuelle Kulturen. Institute im deutschen Sprachraum umfassen im Jahr 2010 schlussendlich Angewandte Theaterwissenschaft (Gießen), dramaturgisch orientierte Schauspielinstitute (Graz, Reinhardt-Seminar Wien), Tanzwissenschaft (Freie Universität Berlin und Bern) und interkulturelle und medienspezifische Schwerpunkte (Ludwig-MaximiliansUniversität München).

Feministische Theaterwissenschaft  ? So breit gefächert wie die Fachinteressen sind auch die angewandten Methoden und inhaltlichen Schwerpunkte der Institute und ihrer RepräsentantInnen. Festzuhalten ist im Kontext von ›Performances der Geschlechter‹ allerdings, dass die Theaterwissenschaft des deutschsprachigen Raums bislang keine nachhaltigen öffentlichen Organisationsstrukturen oder kontinuierlichen Diskurse zu feministischer, geschlechterspezifischer oder queerer Theaterwissenschaft hervorgebracht hat.2 Zwar wurde frauenspezifische Lehre in den 1970er- und 1980er-Jahren, am Wiener Institut beispielsweise durch Hilde Haider-Pregler, durchgeführt. Renate Möhrmanns Geschichte der weiblichen Bühnenkunst war hierfür eine Initialzündung (Möhrmann 1989), und einzelne Diplom- und Seminararbeiten interessierter Studentinnen liegen zweifelsohne vor (Haider-Pregler/Meister/Pewny 1999). Zusätzlich sind Debatten zur ›weiblichen Ästhetik‹, also zur künstlerischen Produktivität von Dramatikerinnen, punktuell in die Theaterwissenschaft eingeflossen, wie der Sammelband der Dramaturgin Anke Roeder belegt (Roe­der 1990). Darin sind Interwievs mit den zeitgenössischen Dramatikerinnen Ginka Steinwachs und Friederike Gerhild Reinshagen, um nur zwei zu nennen, zu finden. Die Frage nach einer definierbaren weiblichen Ästhetik wird durchgängig verneint, deutlich wird die Bevorzugung eines nicht-linearen, fragmentierten Theaters, das alle interviewten Autorinnen vertreten  : Sie – unter ihnen auch Elfriede Jelinek – wenden sich ab von einem dramatischen Sprechtheater, das im Sinne der Bildung eines ödipalen (männlichen) Subjekts funktioniert. Das sogenannte postdramatische Theater kommt in dieser Publikation wesentlich zur Sprache. In diesem Kontext stellt sich die Frage für feministische Theaterwissenschaft oder für Gender Studies  : Wie sind die Geschlechter zu ›studieren‹ in künstlerischen Aufführungen, die von der schauspielerischen Darstellung von vergeschlechtlichen dramatis personae ausgehen  ? 126

Männlichkeiten im Blick der feministischen Performance Studies

An dieser Stelle sind die US-amerikanischen und britischen Theaterwissenschaftlerinnen Sue-Ellen Case, Elin Diamond, Jill Dolan und Elaine Aston zu erwähnen.3 Sie bringen, teilweise in Anlehnung an Bertolt Brechts episches Theater (der Verfremdung), seit Beginn der 1990er-Jahre differenzierte Diskurse zu Feminist Theatre, Gender und teils auch Lesbian resp. Queer Studies hervor. Durch diese Quellen gespeist und durch den performative turn der Kulturwissenschaften der 1990er-Jahre forciert, ist es heute möglich, Körper im postdramatischen Theater und damit Prozesse des Genderings auf künstlerischen Bühnen kritisch zu befragen. Damit ist die Theaterwissenschaft an einem Punkt angelangt, an dem sich die Film- und Medienwissenschaften, die Sozial-, Literatur- und Bildwissenschaften schon seit geraumer Zeit befinden. Nach wie vor werden allerdings ›große‹ Ereignisse wie beispielsweise Tagungen, die in Publikationen münden, mehr in einem literatur- als in einem theaterwissenschaftlichen Rahmen organisiert  : Nach der Jahrtausendwende organisieren Germanistinnen im deutschen Sprachraum erstmals akademische Diskursorte/Tagungen, die sich ausschließlich Zusammenhängen von Theater und Geschlecht widmen.4 Dort treffen LiteraturwissenschaftlerInnen, die die Geschlechter in der Geschichte und Gegenwart der Dramatik anhand von Bühnenfiguren befragen, auf TheaterwissenschaftlerInnen, die aufführungs- und körperzentrierte Ansätze vertreten. Die Theorie der Performativität ist das Einfallstor, durch das Genderdebatten den Eingang in die theaterinteressierte Germanistik finden. Diese wissenschaftsgeschichtliche Verspätung und die Tatsache, dass die genannten Tagungen nicht in theater-, sondern in literaturwissenschaftlichem Rahmen stattfinden, ist auffällig.5 Was folgt aus der wenig elaborierten Geschichte der feministischen/geschlechterspezifischen Theaterwissenschaft des deutschen Sprachraumes  ? Es liegt nahe, die feministische Theaterwissenschaft in einer anderen (als theaterwissenschaftlichen) Tradition zu fundieren  : Vonnöten sind theoretische Ansätze, die (im Unterschied zur Literaturwissenschaft) die Analyse von künstlerischen Aufführungen (performances) ermöglichen und im Unterschied zur Theaterwissenschaft Fragen nach Konstruktionen der Geschlechter forcieren. Dies leisten die Performance Studies  : Nicht ausschließlich oder primär ästhetisch, sondern per se ästhetisch und sozial(kritisch) orientiert, bieten sie ausgezeichnete Anknüpfungspunkte für eine feministische, macht- und im weiteren Sinn geschlechterkritische Theaterwissenschaft. Im Folgenden sind daher die Begründung und die Forschungsinteressen der Performance Studies (der New Yorker Tradition) dargestellt. 127

Katharina Pewny

Die Begründung und die Forschungsinteressen der Performance Studies Im Jahr 1979 hält Richard Schechner, Gründer der »Performance Group« und Theaterwissenschaftler, den ersten Kurs zu Performance Theory an der New York University ab. Im Folgejahr 1980 wird das Drama Department der New York University in das Department of Performance Studies umgewandelt. Nunmehr an der Tisch School of the Arts an der New York University situiert, bauen die Performance Studies auf den wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auf (Schechner 2002, 16). Sie beziehen sich auf die künstlerischen Entwicklungen der Performance Art, auch Body Art genannt, die seit den 1960er-Jahren stattfinden. Diese ist unter anderem durch ihre Vermischung von Kunst- und Alltagsräumen, durch die Arbeit der Performer und Performerinnen an und mit ihren eigenen Körpern, durch ihre Negation der Trennung von sogenannter Hoch- und Populärkultur und durch die Auseinandersetzung mit Geschlecht und Sexualität charakterisiert. Die Performance Studies beziehen sich auf die genannten Entwicklungen in der Kunst und sie resultieren aus dem Interesse der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an unterschiedlichen Kulturen. Damit in Zusammenhang steht die Kritik an der (eigenen) US-amerikanischen Politik und Gesellschaft, wie sie in den 1960er- und in den 1970er-Jahren im Kontext des Vietnamkrieges und der gesellschaftlichen Bewegungen entstanden war. Den Zeitgeist, der die Performance Studies hervorgebracht hat, zeigt eine bekannte filmische Darstellung der Kritik der US-amerikanischen Jugendbewegungen am Vietnamkrieg  : der Musical-Film »Hair« aus dem Jahr 1979. Darin verknüpft der Regisseur Milos Forman Gesang und Tanz mit Kriegsdienstverweigerung und mit kollektiven Lebenspraktiken. Die Choreografin Twyla Tharp choreografiert »Hair«, indem sie Alltagsbewegungen in den Tanz integriert. In »Hair« gleiten Alltagshandlungen und Tanz, Gruppenleben und selbstbestimmte Identitäten, die sich unter anderem durch die langen Haare der Männer plakativ zeigen lassen, ineinander. Die Gruppe der Protagonisten und Protagonistinnen tanzt in »Hair« im New Yorker Central Park ihre gesellschaftskritischen Ansichten. Zwar sind traditionelle Frauenrollen darin vorhanden, beispielsweise die reiche Erbin (Prinzessin), die vom armen Mann verführt wird, oder die verlassene Mutter, an Männlichkeit wird jedoch ein emanzipatorisches Interesse deutlich  : Die langen Haare der männlichen Protagonisten werden in einen deutlichen Gegensatz zu den kurzen Haaren der Polizisten und Soldaten gestellt. Auch steht die breite Haarfülle der men of color den langen, dünnen Haaren der white men 128

Männlichkeiten im Blick der feministischen Performance Studies

entgegen. Fragen von Geschlecht, der sogenannten Ethnie, von Klasse und von Politik – ist »Hair« doch vornehmlich ein Film gegen den Krieg und für den Frieden – werden an den Haaren der Männer abgehandelt. Zurück zu den Performance Studies  : Sie speisen sich aus unterschiedlichen Quellen und Disziplinen  ; weder ihre Methoden noch ihre Untersuchungsgegenstände sind klar einzugrenzen. Die Tätigkeit derer, die sie betreiben, kann in der Kurzformel »explaining showing doing« zusammengefasst werden (Schechner 1988, 22). Das bedeutet, das ›Tun‹, das Andere, zu ›zeigen‹, zu ›erklären‹ – Performances (im Sinne des ›vorgeführten Tuns‹) zu erläutern. Das Interesse der Performance Studies beschränkt sich, da es um ›vorgeführtes Tun‹ geht, nicht auf eine bestimmte Kultur und auch nicht auf ein künstlerisches Genre – nicht einmal auf Kunst als alleinigen Untersuchungsgegenstand  : Performance study assumes that we are living in a postcolonial world where cultures are colliding, interfering with each other, and energetically hybridising. Performance Study does not value ›purity‹. In fact, academic disciplines are most active and important at their ever changing interfaces. In terms of Performance Study, this means between theatre and anthropology, folklore and sociology, history and performance theory, gender studies and psychoanalysis, performativity and actual performance events, and more – new interfaces will be added as time goes on, and older ones dropped. […] Performance Studies is ›inter‹ – in between. It is intergeneric, interdisciplinary, intercultural – and therefore inherently unstable. Performance studies resists or rejects definition. As a discipline, Performance Studies cannot be mapped effectively because it transgresses boundaries, it goes where it is not expected to be. It is inherently ›in between‹ and therefore cannot be pinned down or located exactly. This indecision […] or multidirectionality drives some people crazy. For others, it’s the pungent and defining flavor of the meat. (Schechner 1998, 360 f.)

An dieser Stelle bietet sich ein ausgezeichneter Anknüpfungspunkt für feministische und geschlechterspezifische – ebenso wie für queere und postkoloniale – Theaterwissenschaften.6 Transdisziplinär und -kulturell sowie an Übergängen und unscharfen Grenzen zwischen (akademischen) Disziplinen interessiert, sind die Performance Studies für die Analyse von Geschlechterinszenierungen interessant, denn sie lassen sich auf Alltagsperformances und für künstlerische Performances anwenden. So ergänzt auch Judith Butlers Auffassung von Geschlecht als Hervorbringung eines Phänomens, das die Körper produziert, die wir als vergeschlechtlicht wahrnehmen, den Ansatz der Performance Studies. Anders gesagt  : 129

Katharina Pewny

Genderperformanzen bringen die Geschlechter – im Alltag, in sozialen Ritualen, auf Bühnen – erst hervor, Geschlecht ist nicht seiner Inszenierung, oder Performanz, vorgängig. Dies betrifft Männlichkeit ebenso wie Weiblichkeit und damit das gesamte System der Zweigeschlechtlichkeit sowie die Zwischenräume, die sich darin befinden und von Transgender-Personen, von Trans- und Intersexuellen bewohnt werden. Der theaterwissenschaftliche Part besteht nun darin, Konstruktionen und Performanzen der Geschlechter im Theater und in verwandten Kunstformen zu untersuchen. Mit dem System der Zweigeschlechtlichkeit steht, aus der Perspektive der feministischen Performance Studies, auch die Konstitution von Männlichkeiten in künstlerischen Aufführungen auf dem Prüfstand. An dieser Stelle kann eine theaterwissenschaftliche Perspektive an bereits elaborierte Diskurse aus den Literatur- und Sozialwissenschaften – an die sogenannten Men’s Studies – anknüpfen. Die Men’s Studies wurden von Fragen nach der Her- und Darstellung des weiblichen Geschlechts inspiriert und fragen danach, warum und wie das, was als »Mann« oder »männlich« gilt, ebenso wahrgenommen wird. Filme werden beispielsweise danach analysiert, womit Männerrollen verknüpft sind – Stärke, Schwäche, Kraft, sozialer Auf- oder Abstieg. Ein Teil der Men’s Studies beschäftigt sich mit der Gegenüberstellung »weißer« und »farbiger« Männer, wenn »weiße Männer« beispielsweise als kontrolliert und »farbige Männer« als emotional, gefährlich, sexuell aktiv und bedrohlich gelten. Meine Frage nach Performanzen von Männlichkeiten ist jedoch weniger in einer theaterwissenschaftlichen Forschungslücke, sondern primär in künstlerischen Entwicklungen begründet  : Seit der Jahrtausendwende nimmt das Auftreten nackter männlicher Performer (Schauspieler) auf den deutschsprachigen Bühnen in auffälliger Weise zu. Dabei wird das, was in der Geschlechtertheorie seit mittlerweile zehn Jahren dekonstruiert wird – der Körper als Garant des biologischen sex –, als gleichsam letztes Refugium des männlichen Geschlechts präsentiert. Die folgenden Analysen fokussieren daher das Zeigen und Verbergen des Penis, des Geschlechtsteils, das als männlich gilt. Im Sinne der Frage nach Machtverhältnissen ist zu überlegen, ob das Zeigen des Penis als Entmachtung des sonst unsichtbaren Körperteils oder als Machtverfestigung im Sinne des Beharrens zu lesen ist. Anders gefragt  : Wird die stabile symbolische Relation des Penis zum Phallus versichert oder verunsichert durch das Zeigen des Penis (Butler 2004, 136 f.)  ?

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Männlichkeiten im Blick der feministischen Performance Studies

Männlichkeiten in zeitgenössischen Theateraufführungen Das Zeigen und Verbergen von geschlechtlich konnotierten Körperteilen ist der Theater- und Operngeschichte durch Hosenrollen, durch Komödien, Kostüme und Verkleidungen und durch Auftrittsverbote für Schauspielerinnen, bspw. im griechischen Tragödientheater und auf der Shakespeare-Bühne, immanent. Im bürgerlichen Sprechtheater, das seit der Aufklärung die europäischen Bühnen dominierte, soll hingegen das biologische Geschlecht der SchauspielerInnen mit der Figur, die sie darstellen, übereinstimmen. Seit einigen Jahren gibt es eine Tendenz am Theater des deutschsprachigen Raums, männliche Schauspieler in Frauenkleidern zu zeigen und in diesem Zusammenhang ein geradezu obsessives Verbergen und Zeigen nackter männlicher Genitalien. Mutete der nackte Wolfgang Hübsch in Andrea Breths Inszenierung von Kleists »Der zerbrochene Krug« im Jahr 1990 auf der Burgtheaterbühne noch skandalös an, so sind nackte Schauspieler nach der Jahrtausendwende schon so selbstverständlich, dass ein Theaterabend ohne (männliche) Entkleidungsszene bereits mehr Ausnahme als Regel ist. Exemplarisch für diesen Trend sind Nicolas Stemanns Jelinek-Inszenierungen  : In dem Kriegsstück »Babel« (2005) lässt Stemann die drei Soldaten/Söhne nackt auftreten und ihre Penisse mit den Worten »Schauen Sie hin, stellen Sie [den Blick] schärfer« anpreisen und ausstellen. In »Ulrike Maria Stuart« (2007) lässt er eine ebenfalls dreiköpfige ›Boygroup‹ mit Schweinsmasken vor dem Geschlecht auftreten und setzt damit die RAF-Frage »Schwein oder Mensch« ironisch um. Das Körper-Zeigen männlicher Schauspieler geht im deutschen Theaterraum mit dem Auftreten von Schauspielern in Frauenkleidern und mit Langhaarperücken einher, was in den letzten Jahren ebenfalls sehr häufig zu finden ist. Hierfür ist ein aktuelles Beispiel Lars-Ole Walburgs Inszenierung von Felicia Zellers Stück »Kaspar Häuser Meer« (Kammerspiele München 2008), in dem drei männliche Schauspieler in Frauenkleidern auftreten. Die kritische Befragung von Männlichkeiten auf dem Theater geht mit vielfältigen Diskursivierungen von Männlichkeit in anderen gesellschaftlichen Bereichen einher. In den vergangenen fünfzehn Jahren avancierte Männlichkeit in Wissenschaft und Gesellschaft zu einem viel diskutierten Phänomen. Diese Diskurse reichen von Mediendebatten über die ›neue Väterlichkeit‹ bis hin zu der Eröffnung eines einträglichen Marktes der visuellen Gestaltung von Männerkörpern. Zugleich gilt es, die männliche soziale Geschlechtsrolle neu zu definieren, wobei durch die Zunahme von prekärer Arbeit und durch die (Vorläufer der) gegenwärtige(n) ökonomische(n) Krise auch in europäischen Ländern (bürgerliche) Männer ihre identitätslogische Grundlage als Familienernährer zunehmend 131

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verlieren. Man kann auch von einer Prekarisierung des männlichen Geschlechts sprechen. Dies wird am Theater mit Performances über das Scheitern (von Männern) und mit dramatischen Handlungen wie Marin Heckmanns »Kommt ein Mann zur Welt, eine moderne Groteske« (2007 am Schauspiel Dortmund) oder in Andreas Marbers Theatertext »Die Beißfrequenz der Kettenhunde« (2007 am Hamburger Thalia Theater) ebenfalls ausführlich zelebriert. Im Folgenden werden drei künstlerische Aufführungen vorgestellt, die erstens exemplarisch für Performanzen von Männlichkeiten und zweitens exemplarisch für gegenwärtige Theaterformen sind.

Ökonomisierte Männlichkeit – das Penis-Solo Männerkörper sind Protagonisten des Dramas, das von Leistungssteigerung und Profit durch Arbeit am Körper handelt. Diese stellt Jochen Roller in seiner Performance mit dem Titel »Perform Performing« (2004) ironisch aus, wenn er die unterschiedlichen Jobs eines Tänzers (in einer finanziell prekären Situation) zeigt. Er führt die Jobs vor, die ein Performer ausüben muss, um finanziell zu überleben. Das sind Hemden-Verkaufen bei H&M, Telefonieren im Callcenter und Verkaufen von Bauchmuskeltrainern. Dabei entkleidet er sich zusehends und tanzt beispielsweise mit seinen Bauchmuskeln. Die Kontraktion der Bauchmuskeln, die er als Bild für die Ausübung eines prekären Künstler-Jobs vorführt, zeigt das Performen als künstlerische Tätigkeit und als körperliche Optimierung der eigenen Humanressourcen in einer neuen Arbeitswelt. Zentral in »Perform Performing« sind Einspielungen von Interviews mit anderen Männern, die bereits in Rente sind und über ihre ehemalige Erwerbsarbeit als Bahnbeamter, als Winzer und als Ökonom sprechen. Die Interviewpartner markieren das Ende traditioneller Männlichkeitsentwürfe, die durch ein Normalarbeitsverhältnis gestützt sind. Jochen Roller bindet Männlichkeit hingegen an prekäre – also ungesicherte – Arbeit, die sich durch ökonomische Unsicherheit, durch den Zwang zur permanenten Kreativität und durch die Notwendigkeit der Selbstinszenierung auszeichnet (Pewny 2011). Die Hervorbringung des Performers als prekärem Subjekt ist ein performativer Akt, der in der Aufführung auf die Spannung der trainierten Bauchmuskeln zurückführbar ist. Gegen Ende der dreiteiligen Aufführung tanzt Roller nackt, indem er den Körper anspannt und die Hüften schnell von rechts nach links bewegt. Sein Penis tanzt, um in der Ballettsprache zu bleiben, gleichermaßen ein Solo. Die Szene wirkt wie eine Beglaubigung, dass der Penis noch ›dran‹ ist. Künstlerische Arbeit 132

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als sexuelle Arbeit kommt auch im zweiten Teil der Trilogie, den Roller »Art Gigolo« nennt, vor. Dies wiederum ist für Künstler (für Schauspieler) nicht neu, neu ist im Postfordismus jedoch, dass der Künstler/Performer Modell für andere Erwerbsarbeitsmodi ist. Roller zeigt seinen Körper und sein Geschlecht als Material des »Unternehmers seiner selbst« (Bröckling 2002). Der nackte Männerkörper erscheint hier als Ressource der prekären Arbeit an und mit sich selbst. Das Aufdecken der ökonomischen Voraussetzungen von Kunst entspricht dem Entkleiden des männlichen Körpers, der sich hier als Ware und als ihr Besitzer positionieren kann. Folglich wird er Mehrwert anhäufen. Und tatsächlich wurde Roller mit »Perform Performing« sehr bekannt und ist mittlerweile fix am Hamburger Performancehaus Kampnagel engagiert.

Die Überschreibung des Penis mit dem Phallus Zeigt Jochen Roller das Performen als Ökonomisierung von Männerkörpern, so führt das Duo »United Sorry« in »Frans Poelstra, his dramaturg and Bach« (2004) die Verschränkung von Bewegen und Sprechen vor. Der niederländische Tänzer Frans Poelstra und sein Dramaturg Robert Steijn performen seit 2003 als Duo »United Sorry« außerordentlich erfolgreich in Wien, Amsterdam, Paris, Chicago, Oslo, Rotterdam, Brüssel, Essen, Hannover und Rennes. In »Frans ­Poelstra, his dramaturg and Bach« sind zwei eindeutige Figuren auszumachen. Das sind der Tänzer Frans Poelstra und Robert Steijn, sein Dramaturg. Als scheinbar biografische Geschichte inszeniert, wird der Weg Poelstras vom Polizisten zum Tänzer erzählt. Seine berufliche Karriere verläuft vom Repräsentanten der Staatsmacht (Polizisten) zum körperbetonten und körperbetonenden Künstler. Während der ersten Hälfte der Aufführung zeigen Poelstra und Steijn zwei unterschiedliche Maskulinitäten  : Frans Poelstra »den Tänzer« und Robert Steijn »den Dramaturgen«. Poelstra tritt nackt auf, Steijn ist bekleidet. Ein nackter, stumm tanzender und ein bekleideter, sprechender Mann teilen sich die Bühne. Sie sind auf der rechten und linken Bühnenhälfte platziert, sie bewegen sich und sprechen nahezu die ganze Zeit gleichzeitig. Beide Tätigkeiten beanspruchen ähnlich viel Bühnenraum und Aufmerksamkeit. Die beiden sind durch ihre Körperperformanzen voneinander deutlich unterschieden. Poelstra hat einen muskulösen Körper, der sich fließend und geschmeidig bewegt, und Steijn hat runde Körperkonturen. Er ist offensichtlich nicht in Bewegung geschult. Nach der Hälfte der Aufführung wird sich auch der Dramaturg Robert Steijn entkleiden, zu sprechen aufhören und zu tanzen beginnen. Text und Bewegung 133

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werden sich berühren und umarmen. Die Berührungen und Umarmungen, im Modus der Kontaktimprovisation getanzt, inszenieren auf den ersten Blick eine symmetrische Verteilung von Sichtbarkeit und Raum-Einnehmen. Auf den zweiten Blick jedoch zeigt sich die zunehmende Dominanz der Bewegungen über den Text  : Der Dramaturg hört zu sprechen auf und entkleidet sich, der Tänzer rollt über den Dramaturgen, der Text wird vom Textkörper affiziert  : Das Wort wird Fleisch, der Text verstummt und beginnt zu tanzen. Diese Dramaturgie kann auch als Mimesis der Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts – vom Drama zum Körper – gelesen werden. Die Transformation des Wortes in Bewegung mündet in den christlichen Schöpfungsmythos. Nach dem Verstummen des ›Dramaturgen‹ werden Buchstaben auf der Bühne angeordnet. So ist das Bibelzitat  : »Am Anfang war das Wort« zu lesen. Die großen, gut lesbaren Buchstaben werden umgruppiert, bis sie im Satz »Und er stand« angeordnet sind. Gleichzeitig bekleiden Frans Poelstra und Robert Steijn ihre nackten Körper mit weißen Gewändern und hängen sich Schürzen um, auf denen übergroße, goldglänzende Phalloi appliziert sind. Sie lagern auf einer mit Blumen bedruckten Decke in einem symbolischen Paradies. Schlussendlich ordnen sie die Buchstaben von »Und er stand« in »understand« um. In dieser letzten Passage spricht ­Poelstra, der bis dahin stumm ist. Der bewegte, einst nackte Körper hat den Phallus in Gestalt eines goldenen Zeichens bekommen. Der Penis ist – wie Adams Geschlecht hinter dem Feigenblatt, das hier ein goldener Phallus ist – verdeckt. Das Verdecken ermöglicht seine Überschreibung mit dem Phallus – dem Zeichen für Macht, das gleichzeitig die Macht der Sprache, die symbolische Ordnung, bedeutet  : »Und er stand« – »understand«. Mit diesem Ende nimmt die Performance den anfänglichen Topos des christlichen Schöpfungsmythos wieder auf  : Zu Beginn spricht der Dramaturg  : »Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, Bach die ›Goldberg-Variationen‹ in elf. Poelstra ist noch immer nicht fertig.« Das Wort ist Fleisch geworden in dieser Aufführung. Am Ende ist es in christlich-westlich konnotierten männlichen Subjekten verankert, deren nackte Penisse mit goldenen Phalloi überschrieben werden. So könnte »Frans Poelstra, his dramaturg and Bach« als restaurative Re-Installation von Männlichkeiten, die fest in der symbolischen abendländischen Ordnung verankert sind, gelesen werden. Eine CounterLektüre ist jedoch, ausgehend von Beatriz Preciados Theorie (Preciado 2003), die von einem maschinellen Körperverständnis ausgeht, ebenfalls möglich  : Ein Penis ist einfach ein Bio-Dildo, der mit der Autorität des Natürlichen ausgestattet wurde. […] Was ich die Logik des Dildos nenne, ist, zusammengefasst, seine Fähigkeit, Gender und Sexualität zu denaturalisieren. Während der tradi134

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tionelle Feminismus den Dildo als eine symbolische Repräsentation maskuliner, dominanter Sexualität in der lesbischen Praxis kritisiert, erforsche ich ihn als dekontextualisiertes Zitat eines sexuellen Signifikanten, der kommt, um sich über sexuelle Konventionen totzulachen. (Preciado 2004)

In diesem Sinn decouvriert der Phallus, der sich an die Stelle des Penis setzt, die Arbitrarität des Penis, der nicht mehr als natürliches Zeichen für gesellschaftliche Macht gilt, sondern zum Statthalter der Unmöglichkeit, diese zu erhalten, mutiert. Der Phallus kann sich mithin von dem geschlechtlichen Organ ablösen und in die freie Zirkulation eintreten, die Kunst aufgrund ihres imaginären Potenzials gerne forciert. Daher bespreche ich im Folgenden eine Drag-King-Performance, die auf spielerische Weise eine Socke in einen ›gefühlvollen‹ Penis transformiert.

Wie die Socke zum Penis mutiert Die Verwandlung von einem Geschlecht in ein anderes, die bei Jean Cocteau noch monströs konnotiert war und daher unsichtbar bleiben musste (Franko 1995, 97ff.), wird von Barbara Kraus offensiv praktiziert. Kraus – die ihre Aufführung auch als ›Kostümschinken‹ bezeichnet – steht damit in der theatergeschichtlichen Tradition des Spiels mit Maskierung und Geschlechtertausch und in der queeren Praxis des Dragging, der gegengeschlechtlichen Selbstinszenierung, die sowohl in alltäglichen als auch in künstlerischen Aufführungen praktiziert wird. Im Jahr 1998 entwirft Kraus in einem Drag-King-Workshop bei der USamerikanischen Drag-Ikone Diane Torr die Figur »Johnny« oder »John Player Spezial«. Johnny treibt seitdem auf diversen Festivals in unterschiedlichen europäischen Städten als Schnorrer in Fußgängerzonen, als subversives Element bei Subventionsverhandlungen und als Arbeitsloser sein performatives Wesen. Diese Aufzählung zeigt bereits, dass Johnny Grenzen zwischen Kunst und anderen Realitäten überschreitet. Seine Transformationskraft zeigt sich als Durchschreiten einst getrennter Räume und als Verwandlung von Femininität in Maskulinität (und zurück). Sie wird nur durch den Kontakt mit dem Publikum, durch ein Gegenüber, möglich. Indem sie performativ sind, zeigen sich die Transformationskräfte auch als Transformationen des Sozialen, und damit von Geschlecht und Maskulinität. Die Dynamik der Performance »Wer will, kann kommen«, in der Johnny seit 1998 immer wieder auftritt, entfaltet sich durch eine Schichtung unterschiedlicher Medien – Anrufbeantworter, Telefon, Fernsehen, eine Hörinstallation –, 135

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in denen Barbara Kraus als Regisseurin und Johnny als Star des Abends angekündigt werden. Die Performance ist – so wie viele zeitgenössische Performances – multimedial und selbstreflexiv. Sie verweist auf Stereotypen zeitgenössischer Tanzkunst, ironisiert Normen von Festivalökonomien und zitiert sehr bekannte Performances wie Jerome Bels »Shirtology«. Kraus nimmt während der Performance unterschiedliche Gestalten an, bevor Johnny erscheint. Sie transformiert sich auf offener Bühne in Johnny, wobei sie einige Techniken anwendet, die typisch für Dragging7 sind  : das Packing (Füllen der Unterhose, hier mit einer deutlich sichtbaren Socke), das Ankleben des Bartes, den Flirt mit und Kuss einer weiblich wirkenden Frau (aus dem Publikum) und die Referenz auf Elvis Presley, den King schlechthin. Wie andere Drag Kings ist auch Johnny lokal- und schichtspezifisch konnotiert. Er performt einen Wiener Strizzi. Dies wird durch den Habitus und vor allem durch Johnnys breiten Dialekt deutlich. Ein Höhepunkt von Johnnys Genese ist das Füllen seiner Unterhose mit einer weißen Socke und die darauf folgende Frage an die ZuseherInnen, ob sie »den Schwanz angreifen möchten«. Dann behauptet Johnny  : »Aber vorsichtig, ich habe Gefühle in diesem Schwanz.« Das Zeichen für Männlichkeit, für den Penis (die weiße Socke), wird mit diesem Satz in fleischliche Realität übersetzt – ein performativer Sprechakt par excellence, der jedoch nicht Sprechakt bleibt, da er in Bewegung übersetzt wird. Die Anerkennung des ›echten‹ Schwanzes – die Transformation von Wort in Fleisch, von Socke in Penis – funktioniert erstens über sozialen Zusammenhang (die Übersetzung braucht den ›Griff‹ aus dem Publikum) und zweitens über die Überschreitung der Grenze von Performer und Publikum. Das Ausloten des liminalen Raumes zwischen der Performerin und ihrem Publikum ermöglicht hier den Geschlechtswechsel beziehungsweise das Oszillieren zwischen den Geschlechtern und Begehrensmodi. Wie ist also, aus der Perspektive feministischer Performance Studies, die Frage nach der Ver(un)sicherung von Macht in künstlerischen Aufführungen von Männlichkeit zu beantworten  ? Männlichkeit erscheint in den drei genannten Aufführungen nicht als naturgegeben, sondern wird – auch in der Kunst – im Prozess der Darstellung erst hergestellt (performt). Maskuline Körperzeichen, wie männlich konnotierte Genitalien, werden in künstlerischen Aufführungen an konkrete Körper gebunden und von ihnen entbunden. Phallogozentrische Machtverhältnisse werden, so meine Schlussfolgerung, durch das offensive Zeigen männlich konnotierter Genitalien sowohl versichert als auch verunsichert  : Der Verweis auf einen scheinbar ursächlichen Zusammenhang von Penis und Phallus verfestigt diesen (in den drei zitierten Aufführungen) ebenso, wie er an ihm rüttelt. 136

Männlichkeiten im Blick der feministischen Performance Studies

Anmerkungen 1 Ein Teil des vorliegenden Artikels basiert auf Pewny 2010. 2 Anders die Germanistik – seit 2001 veranstaltet das Netzwerk Verein FrideL (Frauen in den Literaturwissenschaften) beispielsweise regelmäßige Tagungen, vgl. http  : //www.fridelev.de/ (22. 09. 2010). Auch feministische Film- und Medienwissenschaftlerinnen veranstalten Tagungen, exemplarisch vgl. Bernold et al. 2004. 3 Neben unzähligen anderen Publikationen ist die folgende – ein Produkt der Feminist Working Group der International Federation for Theatre Research – examplarisch für die gegenwärtige internationale feministische Theaterwissenschaft  : Aston/Case 2007. 4 Ich meine die Tagung »Geschlechterspielräume«, die Franziska Schößler und Gaby Pailer im Herbst 2008 im Rahmen des Vereins Frauen in den Literaturwissenschaften an der Universität Bremen organisierten, und die Tagung »Das andere Theater«, die für den Herbst 2010 an der Universität Trier geplant ist und von den drei Germanistinnen Andrea Geier, Urte Helduser und Nina Birkner organisiert wird. 5 Die beiden genannten Tagungen sind seit dem Ende der 1980er-Jahre die ersten im deutschsprachigen Raum, die explizit und ausschließlich nach Theater und Geschlecht fragen. Ähnliche Fragestellungen behandelt die Diskussionsreihe »Her Position in Transition«, die im Jahr 2006 im Rahmen des gleichnamigen Theaterfestivals an 20 Wiener Theatern stattfand, und die Tagung »Performance und Performativität und Performance. Geschlecht in Musik, Bildender Kunst, Theater und Neuen Medien« am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Hildesheim im Jahr 2007. Auch diese beiden Tagungen fanden nicht in theaterwissenschaftlichem Rahmen statt. Allerding existiert am Wiener Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft seit 2007 eine Reihe zu »Queeren Interventionen«, in der Theater allerdings nur marginal gestreift wird. 6 Aufgrund der genannten Forschungslücken in der geschlechterkritischen Theaterwissenschaft ist es notwendig, feministische Perspektiven der Performance Studies stark zu machen. Mit ›feministisch‹ meine ich im Sinne von Eva Kreisky eine politische Ausrichtung an Macht- und Herrschaftskritik  : »Feminismus […] stellt ein Erkenntnis- und Politikprojekt dar. […] Es geht um die Kritik an androzentischen, an sexistischen Sichtweisen und Praktiken, an dominanten Maskulinismen, an männlichen Wertsystemen und an männerbündischen Organisationsweisen. […] Insgesamt geht es um eine gewalt-, herrschafts- und patriarchatkritische Ausrichtung.« (Kreisky 2010) 7 »Drag« bedeutet, sich einen Habitus/Kleidung zuzulegen, der oder die gemeinhin mit einem anderen als dem eigenen biologischen Geschlecht assoziiert werden. Bei sogenannten Drag King Contests treten beispielsweise Personen auf, die als Frauen gelten, jedoch als »Männer« auftreten. Dragging kann daher entweder als populärkulturelle Form von Entertainment auf einer Bühne, aber auch im Alltag stattfinden. Vgl. Halberstam/Volcano 1999.

Literatur Elaine Aston, Sue-Ellen Case (Hg.) (2007), Staging International Feminisms. New York Martin Berger (2005), Sight Unseen  : Whiteness and American Visual Culture. Berkeley

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Katharina Pewny

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Saskia Hölbling

Gender Shifts Ich schreibe hier als freischaffende Choreografin und Tänzerin im Zeitgenössischen Tanz und möchte keinen herkömmlich referenziellen Artikel verfassen, sondern vielmehr versuchen, jenes physische Denken und Recherchieren zu verschriftlichen, das meine Arbeit kennzeichnet und ausmacht. Ein absolut paradoxes Unterfangen, ist doch mein primärer Ausgangspunkt und die wichtigste Referenz der Körper, das Reservoir unserer Existenz. Das Thema »Gender Performances« ist für mich vor allem in Bezug auf ein ›de-gendering des Körpers‹ interessant zu reflektieren, weil die Körperlichkeit die Ausgangsbasis meiner Recherchen bildet. Ich versuche, mich in den Stücken von Zuschreibungen zu lösen – um in dieser Weise ›neutral‹ Eindrücken anders begegnen zu können und damit anderen Ausdrucksformen Platz zu schaffen. Als Kunstschaffende, als choreografierende Tänzerin habe ich die Chance, anhand eigener Projekte und Erfahrungen nicht-stereotype Körperkonzepte vorstellen und demonstrieren zu können  : Was möchte ich damit erreichen  ? Einen Auftakt für das Aufbrechen stereotyper Genderdominanzen, eine Sensibilisierung für Zwischenbereiche und Fremdfelder, in die jede und jeder diffundieren kann, und eine Ermutigung dafür, diese Freiheit der Darstellung zu nutzen. Gender shifts geht also von der Utopie der Möglichkeit aus, dass unsere Körper sich so verändern können, wie wir sie denken – von Körperkonzepten, die den Körper als modellierbare Masse begreifen, die jegliche Erscheinungsform, mehr noch  : jegliche Seinsform, einnehmen kann. Eine Art liquid body mit liquid identities.

Performing bodies Mich interessiert Körperlichkeit jenseits geläufiger Zuordnungen. Jene physisch sinnlichen Zustände, die durch ein ›Innendenken‹ des Körpers entstehen und nicht durch konkrete äußere und schon bekannte Bilder. Zustände, die autonom Form annehmen und uns Raum und Bewusstsein in anderer Art und Weise begreifen lassen. Die sich schneller und linearer Interpretationen entziehen. Daran liegt das Faszinierende, darin liegt die Poesie. Es ist ein Eindringen in ein wenig erforschtes Universum, ein in seiner Ungezähmtheit zartes und fragiles, 139

Saskia Hölbling

weder laut noch provokativ, schwer in Worte zu fassen, aber seltsam nahe. Es geht um ein Wagnis, einem anderen Selbstverständnis zu folgen, andere Vorstellungswelten zuzulassen, einer anderen Realität zu vertrauen. »other feature« – der Körper als corps matière In »other feature« wurden nackte Frauenkörper so dargestellt, dass schnelle und herkömmliche Assoziationen, die mit dieser Art der Frauenkörperdarstellung normalerweise einhergehen, völlig auslassen. Der gender issue – eine konkrete, körperlich eindeutige (körperlich klar ausgeführte) Repräsentation des weiblichen respektive männlichen Geschlechts – war hier in jeglicher Hinsicht völlig unwichtig, durfte keine Rolle mehr spielen. Auch herkömmliche nonverbale Kommunikationscodes wie Gestik der Hände und des Gesichts wurden vermieden. Die unter diesen Aspekten erarbeiteten Bewegungssequenzen wurden dann als solche (in der Blackbox) exponiert und durch die Lichtregie speziell hervorgehoben. Anfangs in solistischen Existenzen und bodennah. Im Laufe des Stücks dann auch in vegetativen Koexistenzen zu zweit, zu dritt und zu viert, wobei sie sich mehr und mehr zur Aufrichtung (Stand  : Kopf sitzt auf Schultern, Rumpf, Beine) hin entfalten. Das musikalische Material zu diesem Stück musste ebenfalls der Feuerprobe einer nicht-linearen Assoziationsverknüpfung im Gehirn standhalten. Erstaunlich, wie individuell unterschiedlich die auf der Bühne darstellenden Körper – diese vier Körpermassen – trotz der Reduktion der sozialen Codes wahrgenommen werden können  ! Welches Denken liegt dieser Körperdarstellung zugrunde  ? Der Körper wird zu Material/Materie/Modelliermasse, corps matière – in gewisser Weise entsozialisiert, ja fast gänzlich objektiviert (zumindest in einem ersten Schritt). Die völlige Distanznahme zu sich selbst und seinem/ihrem Körper und seine Betrachtung als rein Anderes/Fremdes sind dabei jedoch nicht erstrebenswert, da der Körper sonst völlig objekthaft erkaltet und erstarrt und so als Abbild eingefangen konkret oder abstrakt verharmlost. Spannend wird es dann, wenn dieser corps matière auf uns wirken kann, diese Niederschläge im Denken, in der Aktion/Handlung sichtbar werden. Ein spannender Gedankensalto  : Das Abtragen der sozialen Hülle und Fülle öffnet neue Erfahrungsräume und Einsichten, die in dieser Weise, roh und ›unzivilisiert‹ und in unsere gewohnten Seh-, Assoziations- und Denkkontexte rückgeführt, ganz neue Ansichten und Gedankenverknüpfungen erlauben. 140

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Abb. 1  : »other feature« (2002)

Dementsprechend waren die Rückmeldungen von KritikerInnen und Zu­ schaue­rInnen. Wo die einen den skulpturalen Aspekt herauslasen, verglichen andere mit Francis Bacon oder Hieronymus Bosch und wieder andere versuchten die Bewegungsqualitäten über eigene Bilder wie folgt zu beschreiben  : »Ich habe den Körper von innen gesehen, in anderen Worten, am stärksten war ich angesprochen, als ich sah, wie das Skelett durch das Fleisch sprach.« »Es ist etwas seltsam für mich, den Körper einer Frau zu sehen, die sich wie eine Krabbe fortbewegt.« »… intensiv, es wird einem fast übel, diese Verdrehungen … Ich hatte das Gefühl, als ob mein Körper zucken würde.« »Es eröffnet einen neuen Blick auf den menschlichen Körper, als ob man ihn zum ersten Mal sehen würde, ohne all diese vorgefassten Meinungen.« 141

Saskia Hölbling

»exposition corps« – in der Aufrichtung Mit diesem Solo wollte ich in gewisser Weise austesten, ob dieses ›Anders-Denken‹ des Körpers seine Erscheinung derart verändern würde, dass er dem Stigma ›Unterwäsche auf Frauenkörper‹ entkommen kann. Verschärft wurde dieses Experiment durch die Wahl des Präsentationsraumes  : eine 3 x 3 Meter große Plattform, die im palmersgrün getünchten Bühnenraum durch Scheinwerfer auf drei Stativen weiß erstrahlt und wie ein Filmset hervorgehoben wird – also im wahrsten Sinn des Wortes eine exposition corps. Das Solo zeichnet ebenfalls eine Entwicklung von Bewegungen auf dem Boden bis hin zur Aufrichtung, wirkt allerdings nicht nur in der Frontale, sondern von allen Seiten, das heißt mit einem 360°-Zugang zur Bühne. In der Musik galt dasselbe Prinzip wie bei »other feature«  : Erweiterung um körpereigene Sounds, wie beispielsweise amplifizierte Nervensounds, und um einige bewusst gesetzte konkretere Sounds mit dem Ziel, die Verknüpfungsbandbreite (Assoziationsbandbreite) zu erweitern und in neue Bahnen zu leiten. Der Motor der Bewegungsfindung ist hier das geistige und physische Erinnerungsvermögen des Körpers. Also nicht meine subjektiven Erinnerungen als Individuum, sondern ein weitaus vielschichtigeres Gedächtnis, auf das zugegriffen werden kann, wenn der Sitz des Denkens und der Wahrnehmung verschoben wird, also die ›Hierarchie der Aufrichtung‹ (Kopf sitzt auf Schultern, Rumpf, Beine) aufgebrochen wird  : Wenn beispielsweise einem Ellenbogen oder der kleinen Zehe, der Achselhöhle wie der Einkerbung über dem Schlüsselbein usw. Autonomie in Bezug auf Denken und Wahrnehmung zugestanden wird. Wenn Abstand genommen wird vom Menschenbild, das sein Denken allein in Form des Gehirns im Schädel aufgetürmt auf Hals und Rumpf auf seinen Beinen spazieren trägt.

Das Reservoir dieses ontogenetischen Gedächtnisses ist enorm und im Prinzip allen Menschen zugänglich, lediglich oftmals verschüttet und überfrachtet von Reizen und Verpflichtungen unserer Gesellschaft. Henri Bergsons »Materie und Gedächtnis« (1991 [1896 frz./1908 dt.]) war hier eine fruchtbare ergänzende Lektüre.

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Abb. 2 und 3  : »exposition corps« (2003)

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Abb. 4–Abb. 7  : »superposition corps« (2004)

»superposition corps« – Bewegungsfindung gemeinsam im Raum Die Erweiterung um männliche Körper einerseits und eine eher traditionelle Gender-Kostümierung andererseits war der nächste ›Test‹. Fünf TänzerInnen treffen in einer white fur box aufeinander, wo sie ihre Bewegungszellen exponieren und überlagern. Das Stück »superposition corps« folgt einer Dramaturgie der Öffnung  : sowohl der Präsenzraum, die Bewegungsqualität der Körper als auch das konkrete Bühnenbild  : eine enorme Holzbox, die sich im Laufe des Stückes nach und nach zerlegt/öffnet. In der Musik stehen sich geschlossener Raum und offener Raum wie folgt gegenüber  : Die Soundentwicklung von rauschendem Blut (das Geräusch beim Ohrenzuhalten) wird von Janis Joplins Einwürfen anfangs durchsickert und später im goldenen Schnitt rigoros überfahren und endet schließlich im Herzklopfen der Anwesenden. Die Bewegungsfindung hier zeichnet sich durch fokussierte Distraktion eines Hautwesens aus oder, anders ausgedrückt, durch das präzise Performen unbewältigbar vieler Bewegungsaufgaben, die ihren Ursprung in der Reizung unterschiedlichster Sensoren der äußeren und inneren Hautschichten und Faszien 144

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Abb. 5

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Saskia Hölbling

Abb. 7  : »superposition corps« (2004)

haben. Auch dadurch werden Zustände jenseits linearer Interpretationen zugänglich. In diesen Zuständen des ›Ver-rückt-Seins‹ der physisch sinnlichen Imagination freien Lauf zu lassen ist die Kunst dieser Sprache. »your body is the shoreline« – Berührung Der nächste Schritt war hier die Erweiterung der Bewegungsrecherche um die Dimension der Berührung. Wobei es weniger darum geht, dass zwei Personen aufeinandertreffen, sondern dass zwei Körper aufeinandertreffen. Zwei Körper jenseits sozialer Zuschreibungen, aber mit allen ihren Sinnen und Sensationen, mit allen ihren Einfällen und Verrücktheiten. Die Berührung gibt keine Richtung vor, verfolgt keinerlei Absicht und artikuliert sich doch, erfindet sich in dem Moment. Die Entscheidungen laufen immer dazwischen ab. Schon einmal anders formuliert habe ich das wie folgt  : Welche Intuition setzt die Impulse für Handlung und Äußerung, wenn wir auf den anderen, das andere treffen, es berühren, ihm/ihr begegnen. Ausgelöst durch 146

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Abb. 8  : »your body is the shoreline« (2005)

das physische Miteinander/die Berührung, entstehen Zustände, die nicht mehr unterscheiden zwischen dem einen und dem anderen, die das Zwischeneinander verschmelzen lassen. Diese Gemeinsamkeit, in der wir nicht wissen, in welche Richtung und wohin sie uns trägt, formt eine Nähe ohne Rückzug und ohne Verteidigung. Das Entdecken einer anderen Intimität. (Hölbling o. J.)

»Jours Blancs« – Umgebung Einschreibung dieses ›anders gedachten‹ Körpers in ein konkretes Umfeld (auch ein Experiment in tanztheatralem Kontext)  : Dieser Kontext könnte ein Land sein – Österreich –, er könnte eine Stadt oder auch eine Wohnung sein. Es könnte irgendwo sein – der Druck dieser Umgebung jedenfalls wird als Unterdrückung des Körpers, des Geschlechts, der Gefühle spürbar. In »Jours Blancs« ist der glatte Raum eine Falle, in dem Wohlbefinden Abscheu kaschiert und alltägliche Gesten von Verlangen, Angst und Frustration ausgehöhlt sind. Der weibliche Körper existiert weder als Person noch als Bild, 147

Saskia Hölbling

Abb. 9  : »Jours Blancs« (2006)

er verkörpert nichts – als eine Frage  : ist Fragezeichen und Verbindungslinie zwischen Lust, Schmerz, Wut. Ganz im Sinn der Jelinek’schen Körperskizzen. »secret sight« – Zeichen Recherche um Körper und Nacktheit als graphisches Zeichen. »secret sight« katapultiert uns mitten in ein Dispositiv paradoxer Sichtweisen, wo physische Details und abstrakte Landschaften gleichermaßen begriffen werden wollen, wo der Konflikt des Organischen und des graphischen Zeichens aufeinanderprallen, sich Geschlecht und Raum als gleichermaßen flüchtig erweisen. Inspiriert war die Performance vom Ryoanji-Tempel in Kyoto, ergänzende Lektüre war »Das Reich der Zeichen« von Roland Barthes (2001). »Ein Reich der Zeichen  ? Ja, wenn man berücksichtigt, daß diese Zeichen leer sind und das Ritual ohne Gott ist.« (Barthes 1998, 10)

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Abb. 10  : »secret sight« (2008)

Abb. 11  : »secret sight« (2008)

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Saskia Hölbling

Dissolving genders oder escaping a gender  ? In meinen Arbeiten empfand ich es immer als besonders inspirierend, wenn gender im Sinne der Auflösung thematisiert und veräußert wurde. Sich Geschlechtszugehörigkeiten also als flüchtig erweisen, sich ihren konkreten Festschreibungen entziehen, sich aber trotzdem manifestieren und artikulieren können. Aber vielleicht im jeweils anderen Körper, der bereits vergessen hat, woher er kommt und was sie ist. Das macht Türen auf im Denken und in der Vorstellungsvielfalt. Bewusst ist immer vom Körper die Rede und von seinen schier unerschöpflichen Möglichkeiten, gedacht oder erfunden zu werden. Es obliegt unserer Vorstellungskraft, was uns macht und ausmacht, Bezüge herstellt, sich formt, transformiert oder bricht. Körper ist Fiktion, ein Gedankenexperiment, oder wie Heiner Müller meint, es gehe darum, die eigene Bildmaschine in Gang zu setzen, das Theater im Kopf. (Müller 2003)

Referenzen/Videomaterial other feature/DANS.KIAS (2002), Saskia Hölbling (artistic, direction, concept, choreography), Heide Kinzelhoder, Anne Juren, Moravia Naranjo, Andrea Stotter (dance, choreography), Heinz Ditsch (music), Krisha (lighting, technical direction) (DVD) exposition corps/DANS.KIAS (2003), Saskia Hölbling (artistic direction, concept, choreography, dance), Heinz Ditsch (music), Krisha (lighting, technical direction) (DVD) your body is the shoreline/DANS.KIAS (2005), Saskia Hölbling (artistic direction, concept, choreography), Saskia Hölbling, Michikazu Matsune, Moravia Naranjo, Andrea Stotter (dance, choreography), Heinz Ditsch (music), Krisha (lighting, technical direction) (DVD) Jours Blancs/DANS.KIAS (2006), Saskia Hölbling (artistic direction, concept, choreography, dance), Heinz Ditsch (music), Krisha (lighting, technical direction), Doron Goldfarb (video), Gilles Amalvi (artistic advice) (DVD) secret sight/DANS.KIAS (2008), Saskia Hölbling (artistic direction, concept, choreography), Saskia Hölbling, Moravia Naranjo, Stephen Thomson (dance, choreography), Heinz Ditsch (music), Krisha (lighting, technical direction), Gilles Amalvi (artistic advice) (DVD) fiction in between/DANS.KIAS (2010), Saskia Hölbling, Fabrice Ramalingom (conception, choreography, dance), Heinz Ditsch (music), Maryse Gautier (lighting), Maxime Fleuriot (artistic advice) (DVD) DANS.KIAS.DOC (2006), Insights in a contemporary dance company’s artistic work and living. A documentary by Georg Steinböck, Stage videos  : Peter A. Egger (DVD)

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Gender Shifts

Literatur Roland Barthes (2001), Das Reich der Zeichen, aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt am Main Henri Bergson (1991 [1896 frz./1908 dt.]), Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Mit einer Einleitung von Erik Oger, übersetzt von Julius Frankenberger. Hamburg Saskia Hölbling (o. J.), your body is the shoreline, Dossier  ; abrufbar unter http//  : www.dans.kias.at/ creations/  ?p=dT0xNyZwPTI1Ng%3D% (8. 10. 2010) Elfriede Jelinek (1983), Die Klavierspielerin. Roman. Reinbek bei Hamburg Elfriede Jelinek (1989), Lust. Roman. Reinbek bei Hamburg Heiner Müller (2003), Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiografie. Köln

Bildnachweis Abb. 1  : Foto  : Niko Hölbling Abb. 2–8  : Fotos  : Cyril Minoux Abb. 9  : Foto  : S. Carnovali Abb. 10  : Foto  : Saskia Hölbling Abb. 11  : Foto  : Saskia Hölbling

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Carola Dertnig

Lora Sana, Aktionistin, 62 Im Wiener Kunstumfeld groß geworden, waren mir die Wiener AktionismusFotos seit Langem sehr vertraut. Vor allem die Aktion »Hochzeit« von Rudolf Schwarzkogler mit Anni Brus als Braut. Diese ›Bilder‹ konnte ich mir stundenlang ansehen. Wahrscheinlich hat mich das ›Hochzeitskleid mit Prinzessinnen-Flair und im Yves-Klein-Blau‹ angezogen. Als ich mich zu Beginn des Kunststudiums mit ›Kunstgeschichte im Allgemeinen‹ beschäftigte, wurden diese Aktionen wieder sehr präsent. Immer wieder sah ich mir die Aktionen des Wiener Aktionismus in diversen Büchern an. Vor allem wollte ich etwas über die weiblichen Protagonistinnen wissen. Mir fiel schon damals auf, dass diese oft weder namentlich erwähnt wurden noch in irgendeiner Weise vorkamen. Als angehende Künstlerin beflog mich damals ein intuitives Gefühl von Ungerechtigkeit, was Kunstgeschichtsschreibung im Allgemeinen sowie die Wertschätzung von Künstlerinnen und deren Produktion(en) betraf. Und  : Wenn einem/einer bei der Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie als Vorbilder nur Künstlerinnen einfielen, war das nicht unbedingt ein Pluspunkt, denn der allgemeine Kanon lautete  : »Es gibt ja keine Künstlerinnen, oder wenn, dann höchstens eine pro Generation.« Dies förderte nicht unbedingt das Selbstbewusstsein der angehenden Künstlerinnen. Und doch gab es einige Vorbilder – wie zum Beispiel Valie Export, Birgit Jürgenssen oder Renate Bertlmann. Nach dem Studium lebte und arbeitete ich zehn Jahre in New York und fand dort eine aufgeschlossene Atmosphäre für zeitgenössische Kunstgeschichte wie auch für Künstlerinnen- und Performance-Geschichte vor. »Let’s twist again« – Performance-Geschichte in Wien seit 1960 Zurück in Wien lehrte ich an der Akademie der bildenden Künste und wollte zeitgenössische Performance unterrichten. Das Ziel war, lokale und internationale Performance-Praxen zu zeigen und zu analysieren, aber zu meinem großen Erstaunen fand ich in den Bibliotheken kaum etwas über lokale PerformanceGeschichte seit den 1960er-Jahren. Der Wiener Aktionismus war zwar präsent, aber eben in einer sehr einseitigen Kunstgeschichtsschreibung. Feministische und 153

Carola Dertnig

queere Performance-Geschichte der 1970er- bis 1990er-Jahre war kaum bis gar nicht aufgearbeitet und gerade auf diesem Gebiet war in Wien besonders viel geschehen. Stefanie Seibold und ich entwickelten daraufhin zwei Ausstellungen – »Let’s twist again« (2002) und »Mothers of Invention« (2003) – und ein Buch. Die Publikation »Let’s twist again, worüber man nicht denken kann, darüber soll man tanzen« dokumentiert auf der Basis der von uns im Jahr 2002 kuratierten Ausstellung »Let’s twist again« lokale und internationale Positionen der Performance in Wien seit 1960. »Besonders wichtig sind uns Arbeiten von KünstlerInnen, die trotz ihrer Bedeutung für die Szene von der offiziellen Kunstgeschichtsschreibung ignoriert wurden oder kaum bekannt sind. Schwerpunktmäßig konzentrierten wir uns auf Performances mit feministischer bzw. Gender-Thematik, da diese für die Frage nach der Bedeutung von Performance aus heutiger Sicht besonders relevant zu sein scheinen.« (Dertnig/Seibold 2006, Klappentext ) Die positive Resonanz auf die Ausstellung und das Buch »Let’s twist again« verweist auf ein eklatantes Informationsdefizit hinsichtlich der Geschichte dieses Mediums und seiner Relevanz in der aktuellen Kunstszene. Die Fragen, die wir uns damals stellten, lauteten  : Wo steht Performance in Österreich heute  ? Was sind die interessantesten Ansätze und Strategien  ? Welche Querverbindungen zu anderen Kunsträumen lassen sich nachvollziehen und darstellen  ? Zahlreiche Hinweise von Kunstschaffenden und RezipientInnen auf in unserer Ausstellung »Let’s twist again« nicht vertretene Positionen regte für die Buchproduktion eine weiterführende Recherche nach unterschiedlichen Strategien sowie gegenseitigen Beeinflussungen an. Durch dieses Schneeballprinzip entwickelte sich aus der Ausstellung eine Art wachsendes Archiv, in dem sich mittlerweile eine Vielzahl interessanter Arbeiten versammelt haben, wie in Dertnig/Seibold 2006 nachgelesen werden kann. »Lora Sana, Aktionistin, 62« Nach den intensiven »Let’s twist again«-Recherchen sah ich mir die Wiener Aktionismus-Fotos dann noch einmal an und fragte nach der Autorenschaft der Aktionistinnen und nach der Form der Zusammenarbeit bei einer Aktion. Warum wurden die an einer Aktion mitwirkenden Frauen – die ›Aktionistinnen‹ – zum Großteil nicht namentlich erwähnt  ? War das peinlich  ? Hatten diese Aktionistinnen keinen Stellenwert  ? Aus Gesprächen mit den Aktionistinnen Hanel Koeck und Anni Brus entwickelte sich die fiktive Aktionistin »Lora Sana, 62«. In einem Interview, das die Kunsthistorikerin Johanna Schwanberg mit Anna Brus und 154

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mir führte, sprach Anna Brus aufschlussreich über ihre eigene Rolle als Akteurin in Aktionen von Brus, Mühl und Schwarzkogler und zum Selbstverständnis der – vielfach anonym gebliebenen – Frauen, die bei den Aktionen der Wiener Aktionisten mitwirkten  : Ich denke, die Künstler haben jahrelang versäumt zu sagen, dass sie mit Menschen zusammengearbeitet haben. Wenn sie die Namen nicht nennen, wer soll es dann tun  ? Lange war auch in Texten nur von ›dem Modell‹ die Rede, und ›das Modell‹ hatte keinen Namen – außer Cibulka, aber der war ja auch Fotograf und ein Mann. Erst viel später interessierten sich vor allem junge Frauen dafür, was es eigentlich mit diesen Leuten um die Aktionisten auf sich hatte. (Schwanberg 2006, 49, Hvh. C. D.).

Zudem floss auch ein Telefongespräch mit Hanel Koeck in die Performance und Textarbeit »Lora Sana, Aktionistin, 62« ein. Für »Lora Sana« überarbeitete ich Kopien der ursprünglichen Aktionsfotos mit schwarzen minimalistischen Eingriffen, indem ich die aktiven Aktionen der »Aktionistin« herausarbeitete und in einer performativen Intervention die männlichen Protagonisten in einem von mir gewählten Ausschnitt eines Aktionsfotos überzeichnete. Danach wurde die Arbeit erneut fotografiert und dadurch zu einer Dokumentation einer weiteren Aktion, eines performativen Eingriffs. Die Kunsttheoretikerin und Kuratorin Silvia Eiblmayr schreibt darüber im Vorwort von »Nachbilder einer ungleichzeitigen Gegenwart«  : »›Lora Sana‹ ist eine fiktive Figur, in der Dertnig ihre umfassende Forschungsarbeit zu diesem Thema künstlerisch verdichtet.« (Eiblmayr 2006, 6) Mein Anliegen war es, den klassischen Kunstgeschichtsschreibungskanon am Beispiel des Wiener Aktionismus zu analysieren, um so auf die bisher wenig bis gar nicht ausgewiesenen Beiträge von Aktionistinnen zu den Aktionen des Wiener Aktionismus aufmerksam zu machen.

Literatur Carola Dertnig, Stefanie Seibold (Hg.) (2006), Let’s twist again. Performance in Wien von 1960 bis heute. Was man nicht denken kann, das soll man tanzen. Eine psychogeografische Skizze [Performance in Vienna from 1960 until today. If You Can’t Think It, Dance It. A psychogeographic map, übers. v. Heide Pfenningbauer, Margarethe Clausen, Benjamin Jowett, Quick Translation, John S. Southard]. Gumpoldskirchen/Wien

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Carola Dertnig

Silvia Eiblmayr (2006), Vorwort, in  : dies. (Hg.), Carola Dertnig. Nachbilder einer ungleichzeitigen Gegenwart/Afterimages of a Non-simultaneous Present, Galerie im Taxispalais (deutsch/englisch). Innsbruck/Wien Johanna Schaffer (2008), »Alles, was Flügel hat, fliegt oder  : Das queere Objekt der Performance. Rezension«, in  : Kupfzeitung Nr. 125 (Mai 2008), 24 (als »Was man nicht denken kann, soll man tanzen« abrufbar unter http  : //www.kupf.at/node/1941, 23. 9. 2010) Johanna Schwanberg (2006), »Akteurinnen im Aktionismus. Anna Brus und Carola Dertnig im Gespräch mit Johanna Schwanberg«, in  : Silvia Eiblmayr (Hg.), Carola Dertnig. Nachbilder einer ungleichzeitigen Gegenwart/Afterimages of a Non-simultaneous Present, Galerie im Taxispalais (deutsch/englisch). Innsbruck/Wien, 49–79

Kuratorische Projekte 2002  : Let’s twist again, Kunsthalle Exnergasse, Wien (mit Stefanie Seibold) 2003  : Mothers of Invention, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien (mit Stefanie Seibold)

Bildnachweis Abb. 1  : Foto  : Carola Dertnig Abb. 2  : Carola Dertnig, Lora Sana, Textarbeit 2006. Courtesy Galerie Andreas Huber Abb. 3  : Foto  : Carola Dertnig

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Abb. 1: Carola Dertnig, Lora Sana I/2 2005, am Bild  : Anna Brus

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Carola Dertnig

lora sana, aktionistin, 62: ich war dabei und nicht dabei. vielleicht durch die rolle des models. wenn ich heute die photos ansehe, sehe ich das so: ich nackt mit farbe bespritzt am photo. über, unter oder neben mir ein nackter oder angezogener artist, der einem vielleicht den mund zustopft. das wirkt nicht aktiv. sie fragen, warum ich mitgemacht habe. ich war der meinung, dass diese passive opferrolle in der wir uns in der gesellschaft befanden, durch diese aktionen zum thema gemacht wurde. heute bin ich mir nicht sicher. ich stelle bei den photos eher eine instrumentalisierung meines körpers fest. und dass ein paar hervor gehoben wurden, das hat sich viel später ergeben. ich habe ja auch eigene aktionen gemacht. im nachhinein, von der legende her, transponieren das die, die nicht dabei waren ins übermäßige. ich war zu schüchtern, um in dieser umgebung eine existenz als kunstschaffendes individuum zu wagen, überhaupt daran zu denken. sie müssen das in relation mit der zeit sehen, wir haben nicht im fernen gedacht, berühmt zu werden. die umgebung haben wir ernster genommen als andere, das ist richtig. wir waren jung, wir haben das geld für die produktion der kunst und zum überleben verdient und der andere teil des zusammenlebens hat die kunst gemacht. es ist richtig, dass die berühmt sind, die heute berühmt sind. ich habe mitgemacht und ich stehe auf allen dokumenten, nur manche ideen die waren von mir. das steht heute nirgends. die titel die könnten anders ausfallen. es heisst im original leda und der schwan, dann wäre lora sana und schwan eine elegantere und wahrheitsnähere fassung. aber was ist das: wahrheit ..und wen interessiert das? ich habe schön mitgemischt, das ist auf den photos zu erkennen.. mein name stand oft dabei, aber als kollaboration. nein, wo denken sie hin, was glauben sie wieviel geld da heute im spiel ist! und was so ein photo kostet? das ist eine aktionisten maschinerie, eine fabrik geworden, aus der das kapital spuckt.

Abb. 2

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Abb. 3  : Carola Dertnig, Lora Sana I/4 2005, am Bild  : Anna Brus

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Monika Bernold

Schwarze Engel  ? Performing Whiteness und Gender im Film Kritische Lektüren zu den Metropolenfilmen »Paris is Burning« und »Der Himmel über Berlin«1 »I cannot go to a film without seeing myself. I wait for me. In the interval, just before the film starts, I wait for me.« (Fanon 2008, 140)

Das Kino als »factory of identity performances« (Foster 2003, 12) hat einen wesentlichen Anteil an Prozessen des kulturellen Genderings. Die Körper, die wir auf der Leinwand sehen, sind immer vergeschlechtlichte Körper. Filme führen daher einerseits den Prozess des performativen Genderings auf (und vor) und verweisen andererseits in Form von medialen Inszenierungen auf den performativen Aspekt von Gender. Im Kino wird aber nicht nur Gender, sondern auch Whiteness in vielfältiger Weise in Szene gesetzt. Gender und Whiteness sind dabei sowohl als Identitäts- als auch als normative Strukturkategorien effektiv, die in vielfältigen Beziehungen zueinander und zu anderen gesellschaftlichen Struktur- und Identitätskategorien stehen. Filme, insbesondere Filme des klassischen und postklassischen Erzählkinos, waren überaus erfolgreich darin, hegemoniale Geschlechterbilder zu transportieren. Vor allem Hollywood hatte auch einen großen Anteil daran, Whiteness als unsichtbare kulturelle Norm zu konstituieren.2 Seit dem Beginn des Kinos luden Filme nicht nur dazu ein, sich beispielsweise mit weißen SchauspielerInnen zu identifizieren, Filme führten auch unentwegt und wiederholt jene regulierenden Akte auf, in denen Whiteness als normative Strukturkategorie wirksam geworden ist. Die Dominanz von Whiteness wird im Film in erster Linie über die Lichttechnik, die Maske, über Körperperformances und Kleidercodes hergestellt und gleichzeitig unsichtbar gemacht. Das, was wir im Kino als natürliche Körper wahrnehmen, sind technologisch erzeugte Körperbilder, die sich konsequent und unausgewiesen an der Norm weißer Körper und weißer Gesichter orientieren. (Vgl. insbesondere Dyer 1997.) Die Performativität von Whiteness im Kino liegt also darin  : »Whiteness lacks an original, yet it is performed and reperformed in myriad ways, so much that it seems ›natural‹ to most.« (Foster 2003, 2) 161

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Diese Naturalisierung von Whiteness als Norm hat eine lange Geschichte im Hollywoodkino, wirkt aber, und darum geht es im Folgenden, durchaus auch im US-amerikanischen Dokumentarfilmschaffen oder europäischen Autorenkino, also in der Kinoavantgarde, fort. Ich möchte in diesem Text das komplizierte Verhältnis zwischen Gender und Whiteness an zwei ausgewählten Filmbeispielen aus den zuletzt genannten Feldern des Filmschaffens beleuchten und dabei zugleich unterschiedliche Diskussionsstränge der feministischen Auseinandersetzungen mit diesen beiden Filmen rekonstruieren. Ziel der Analyse ist es, die Naturalisierung von Whiteness als Norm mithilfe kontroverser Positionen feministischer Filmkritik/-theorie kritisch zu hinterfragen. Im ersten Teil des Artikels werde ich ausgehend von bell hooks’ Text »Weißsein repräsentieren« (1996a [1990]) kurz in den Begriff »Whiteness« und seine Konzeptualisierung im Kontext feministischer (Film-)Wissenschaft einführen. Entlang von bell hooks’ Kritik am Film »Der Himmel über Berlin« von Wim Wenders, einem deutschen Autorenfilm der 1980er-Jahre, werde ich weiters deutlich machen, wie eine feministische Repräsentationskritik des Kinos sich mit dem analytischen Konzept Whiteness verknüpft. Im Zentrum des zweiten Teils »Performing Realness« stehen der US-amerikanische Dokumentarfilm »Paris is Burning« von Jennie Livingston sowie zwei prominente und kontroversielle feministische Lesarten zu diesem antihegemonial angelegten Filmprojekt, nämlich insbesondere die von Judith Butler und jene von bell hooks. »Der Himmel über Berlin« und »Paris is Burning« sind sehr unterschiedliche Filme, ein poetisch-experimenteller Spielfilm einerseits und ein formal eher traditioneller Dokumentarfilm andererseits. Entstanden sind sie in zwei westlichen Metropolen der 1980er-Jahre.3 »Der Himmel über Berlin« repräsentiert den Blick eines vierzigjährigen, bereits renommierten, weißen Regisseurs des Neuen Deutschen Films auf die geteilte Stadt Berlin und zum anderen zeigt »Paris is Burning« den Blick einer jungen, weißen Filmemacherin in den USA hinein in eine spezifische New Yorker Subkultur Harlems. Beiden Filmen gemeinsam ist, dass die afroamerikanische Feministin und Kulturtheoretikerin bell hooks sie einer kritischen Lektüre mithilfe des Konzepts Whiteness unterzog (hooks 1996a [1990] und 1996b). Im Zentrum beider Filme steht eine Stadt, einmal Berlin und einmal New York. Beide Städte werden in den späten 1980er-Jahren gefilmt, in der Zeit vor der großen weltpolitischen Transformation und vor der europäischen Zäsur von 1989. Beide Filme nähern sich diesen urbanen Zentren Europas und der USA in gewisser Weise aus der Perspektive des Randes. Einmal durch den ethnographischen Blick auf eine Subkultur New Yorks und einmal durch den Engelsblick auf Berlin, die geteilte Stadt, 162

Schwarze Engel  ?

gewissermaßen vom ›oberen‹ Rand der Welt. Beiden Filmen gemeinsam ist weiters auch, dass sie von weißen FilmemacherInnen gemacht wurden und großteils bei einem weißen Mittelschichtpublikum, bei US-amerikanischen und europäischen Eliten, erfolgreich gewesen sind und von diesen intensiv diskutiert wurden. Beide Filme verwenden das Motiv des Theaters/Zirkusses als Instrument und als Metapher für die Frage von Identität. Beide Filme, dies ist im vorliegenden Zusammenhang besonders entscheidend, sind mehr oder weniger explizit an der Subversion oder zumindest der Verhandlung normativer Geschlechterkonstruktionen und Begehrensstrukturen interessiert. Ob dies um den Preis oder vor dem Hintergrund der Stabilisierung von Whiteness als unsichtbare Norm passiert, wird u. a. Thema der folgenden Seiten sein.

Schwarze Engel  ? Der Film »Der Himmel über Berlin« entstand als deutsch-französische Koproduktion kurz vor der europäischen Zäsur von 1989, vor der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende des sogenannten Kalten Krieges. Er ist ein Film über eine geteilte Stadt, die es so nicht mehr gibt, ein Film über (deutsche) Geschichte in experimenteller Form. »Der Himmel über Berlin« war der bis dahin größte internationale Erfolg des Regisseurs Wim Wenders, sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik. (Er gewann u.a. den Preis für die beste Regie in Cannes.) Wenders selbst sagte in einem Interview, er wollte in diesem Film das Unsichtbare beschreiben  : »Gedichte können das Unsichtbare beschreiben, und genau das hat der Film machen wollen, das Unsichtbare beschreiben.« (Wenders 2006) Um diesen Anspruch umzusetzen, wählt Wenders nicht nur eine poetische Konstruktion des Films als »Filmgedicht«, sondern auch zwei männliche Engelsfiguren, die zu den Hauptfiguren des Films werden und die für das menschliche Auge eigentlich ›unmögliche‹ Blicke auf die Stadt Berlin und das Leben der Menschen in ihr werfen. bell hooks stellt sich nun in ihrem Aufsatz die Frage, warum alle Engel in diesem Film weiß sind und warum das niemand – zumindest kaum eine ihrer feministischen Freundinnen – sieht. Der Film, so bell hooks in dem im Jahr 1990 verfassten Text, sei einer von jenen Filmen, »in denen sich die postmoderne weiße Kultur ein wenig selbstkritisch betrachtet, hie und da etwas revidiert, um sich dann wieder von Neuem in sich selbst zu verlieben« (hooks 1996a [1990], 172). Dieser Film habe zumindest sie dazu gebracht, »gründlich über die weiße Kultur nachzudenken, aber nicht einfach im Sinne von Hautfarbe – eher über Weißsein 163

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als ein Konzept, das dem Rassismus, der Kolonisation und dem Kulturimperialismus zugrunde liegt« (hooks 1996a [1990], 172). Im deutschsprachigen Zusammenhang wird für Whiteness häufig die Übersetzung Weißsein, wie auch im Falle von bell hooks’ Text, verwendet. Die Übersetzung soll anzeigen, dass es auch in deutschsprachigen Kontexten kolonial tradierte oder neokoloniale Systeme der Privilegierung gibt, die sich vordergründig an der Hautfarbe als Zeichen von Differenz festmachen. Ich verwende im Folgenden demgegenüber weiterhin den englischen Begriff Whiteness, weil mir Whiteness geeigneter scheint, auch als Strukturkategorie verstanden zu werden, im Gegensatz zu Weißsein, das doch eher als Identitätskategorie fungiert (Wollrad 2005). Über Whiteness zu sprechen, ist also das Produkt einer Umwegbewegung aus dem angloamerikanischen Kontext, wo das kulturwissenschaftliche Interesse an Whiteness als analytischer Kategorie zuallererst von afro-amerikanischen Intellektuellen und SchriftstellerInnen formuliert wurde. Zentral zu nennen sind hier die Arbeiten von James Baldwin, »The Evidence of Things Not Seen« (1985), oder Toni Morrison, »Playing in the Dark« (1992). Diese Arbeiten zu Whiteness kritisierten die herkömmliche Auseinandersetzung mit Rassismus in der Kultur, bei der race immer unausgesprochen zur Bezeichnung jener verwendet wurde, die nicht weiß waren, also in gewisser Weise nicht der weißen Norm entsprachen. Das Nachdenken und Thematisieren von Whiteness war demgegenüber eine Figur der Sichtbarmachung eines Privilegiensystems, das sich selbst als solches nicht zu erkennen gab. In diesem Sinne arbeitend etablierten sich die Critical Whiteness Studies insbesondere in den USA seit den 1990er-Jahren zunehmend auch akademisch. Im Kontext der feministischen Filmwissenschaft sind spätestens seit Jane M. Gaines selbstreflexivem Text aus dem Jahr 1986 »White Privilege and Looking Relations  : Race and Gender in Feminist Film Theory« von nahezu allen bedeutenden weißen, feministischen und queeren Filmwissenschaftlerinnen im angloamerikanischen Kontext Aufsätze oder Bücher zum Thema erschienen. Erwähnt seien an dieser Stelle zwei  : Mary Ann Doane, »Dark Continents. Epistemologies of sexual and racial difference« (1991), und Linda Williams, »Playing the Race Card. Melodrama of Black and White from Uncle Tom to O. J. Simpson« (2001).4 In den Jahren nach 2000 kam es zu einer interdisziplinären Präsenz von Whiteness- und Weißseinsforschung auch im deutschsprachigen Raum (vgl. u. a. Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt 2005  ; Johnston Arthur 2005). In der deutschsprachigen, feministischen Filmwissenschaft war Bärbel Tischleder die Erste, die aus feministischer Perspektive ein Buch zum Thema rassisierender Re164

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präsentationsökonomien im amerikanischen Gegenwartskino verfasst hat (2001). Die Übernahme der Critical Whiteness Studies in Europa und die Anwendung ihrer postkolonialen Bedeutungsdimensionen insbesondere im deutschsprachigen Kontext wurde aber auch von manchen feministischen Theoretikerinnen kritisiert. Gabriele Griffin und Rosa Braidotti etwa diagnostizierten, dass es durch die Übernahme des Konzepts von Whiteness zu einer Verlagerung und Verleugnung des spezifischen europäischen Erbes des Rassismus, wie er etwa in der Geschichte der Eugenik und des Antisemitismus zu finden ist, kommen würde (2002). Dieser Einwand ist nun in Bezug auf bell hooks’ Lektüre insofern interessant, als es hierbei um die Lektüre eines deutschen Films durch eine afroamerikanische Kulturtheoretikerin geht, die versucht, einen experimentellen, vergangenheitspolitisch orientierten deutschen Film mit der Kategorie Whiteness zu konfrontieren. »Der Himmel über Berlin« ist ein Film, der als Autoren- und Avantgardefilm in die europäische Filmgeschichte eingegangen ist. Erzählt wird darin die Geschichte eines Engels, der die Seite wechselt, also Mensch wird, ein Engel, der die Zirkusartistin und Trapezkünstlerin Marion – auch sie ein Flugwesen zwischen Himmel und Erde – begehrt. Der Engel in Wim Wenders’ Film, der u. a. mit Dokumentarfilmausschnitten vom kriegszerstörten Berlin die deutsche Vergangenheit bearbeitet, figuriert als Metapher für Geschichte, für eine besondere Art der Erinnerung (Kramer 2006, 173). Als Engelsfigur ist der filmische Engel über Berlin mit dem berühmten Engel der Geschichte assoziierbar, den Walter Benjamin 1940 in seiner 9. Geschichtsphilosophischen These als Engel beschreibt, der rückwärtsschauend der Zukunft entgegentreibt  : Es gibt ein Bild von Klee, das »Angelus Novus« heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. (Benjamin 1974, 697 f.)

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127 Minuten lang postuliert Wim Wenders’ Film ein neues Geschichtsbewusstsein, tritt für ein anderes Erinnern ein, postuliert gewissermaßen, die traditionellen Repräsentationen von Geschichte kritisch in Frage zu stellen. Der Film versucht aber auch, neue Vorstellungen von Männlichkeit zu entwickeln und die patriarchale westliche Kultur zu kritisieren, die als eine von Krieg und Holocaust gekennzeichnete Geschichte weißer Männlichkeit symbolisiert und zugleich zurückgewiesen wird. Dieser Geschichte gegenüber wird die Vision einer neuen ›guten‹ Männlichkeit in Stellung gebracht, die sich in den Figuren der Engel Damiel und Cassiel sowie in der Figur des Geschichtenerzählers Homer verkörpert. Die Einwände, die bell hooks nun gegen den Film von Wim Wenders formuliert, verbinden sich mit einem doppelten Anspruch an weiße FilmemacherInnen und TheoretikerInnen, wonach es darum ginge, einerseits zu untersuchen, »welche Rolle Weißsein bei der Konstruktion ihrer Identität und in ihren Vorstellungen spielt«, und andererseits »die kulturelle Blindheit der vielen Menschen zu erkunden, die ›Der Himmel über Berlin‹ gesehen haben, aber nicht das Weißsein, das darin als Zeichen und Symbol dargestellt wurde« (hooks 1996a [1990], 180). Was also verdeckt die »kulturelle Blindheit«, von der bell hooks in ihrer Analyse spricht, was wird in dieser Blindheit unsichtbar  ? Unsichtbar wird in »Der Himmel über Berlin« zum einen die normative Matrix der Heterosexualität, die sich im Begehren des Engels gegenüber der Trapezkünstlerin Marion artikuliert, und zum anderen die normative Matrix von Whiteness, die der Film kaum reflektiert übernimmt. Heterosexualität und Whiteness sind also nicht nur im Mainstream-Kino, sondern auch in Autorenfilmen wie »Der Himmel über Berlin« »normative copartners in the coercions of racial and sexual power« (Stokes 2001, 191). Die Unterordnung der homoerotischen Beziehung der beiden Engelfiguren Damiel und Cassiel unter die heterosexuelle Begehrensökonomie verbindet sich mit einer weiblichen Hauptfigur Marion, die zum Objekt des Engelsblicks und damit des männlichen Verlangens wird. Zum anderen haben die Freundinnen von bell hooks (auch mir ging es nicht anders) nicht gesehen, dass alle Engel in dem Film weiß (wohl eher schon, dass sie männlich) sind. Dies ist umso gravierender, als die Figur des Engels als Repräsentation weißer Männlichkeit im Film als fortschrittliche Vision von Männlichkeit intendiert ist. Es sind sanfte, feminisierte männliche Figuren, Engel ohne Flügel, die Wenders uns zeigt.5 Die Figur des Engels ist eine Verkleidung, sie funktioniert als Performance, die auf die potenzielle Absicht des Blicks aufmerksam macht (hooks 1996a [1990], 177). Die Engel bei Wenders sind Agenten des Kamerablicks. Sie sehen, hören, sie sind Zeugen. Die Engel im Film sind für die Menschen im Film un166

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sichtbar. Die Figur des Engels funktioniert damit zum einen als ein Äquivalent des voyeuristischen Kamerablicks (anders als die Menschen im Film können die ZuschauerInnen die Engel sehen und werden damit in der Blickposition den Engeln gleichgestellt). Die Engel sind aber auch immer nur Zuschauer, sie haben keine Empfindungen, keine Handlungsmacht »für sie ist die ›Farbe‹ der Welt Schwarz-Weiß« (Vieler 2009, 238). Die eigentlich unsichtbaren Engel werden im Film verkörpert und also sichtbar gemacht. Sie repräsentieren jene, von Wim Wenders intendierte, Unsichtbarkeit, die eine utopische Form der Wahrnehmung, eine andere Form des Sehens ist. Damiel und Cassiel fungieren zwar einerseits als Gegenentwürfe zu einer imperialistischen, weißen Männlichkeit, sie inthronisieren als weiße Engel andererseits aber auch, so bell hooks, die Sicht »einer Welt, in der visionäre weiße Männer göttliche Präsenz ausstrahlen und das Leben als heilig betrachten« (hooks 1996a [1990], 174). Damit werden sie zu Repräsentanten einer Unsichtbarkeit, die Whiteness als Wahrnehmungsdispositiv normativer Privilegierung stützt und somit weiterhin als unmarkierte Hierarchisierung der dominanten Blickverhältnisse funktioniert. Schwarze Engel verweisen daher auf das, was in einem symbolischen Repräsentationssystem von Whiteness nicht vorstellbar erscheint – nämlich dass Engelskörper schwarz und insbesondere dass nicht-weiße Körper in der Position und im Besitz des Kamerablicks sind. Die Absenz schwarzer Engel indiziert im Modus des Metaphorischen das, was gleichzeitig eine Unmöglichkeit und ein aufrechtzuerhaltender Anspruch ist, nämlich dass das privilegierende visuelle System von Whiteness dekonstruierbar wird.6 Schwarze Engel werden vor diesem Hintergrund zu Trägern jenes Anspruchs, den die Critical Whiteness Studies als Zielvorgabe insbesondere der weißen kritischen Film- und Theorieproduktionen sehen und den Richard Dyer treffend als »making Whiteness strange« formuliert hat (vgl. Dyer 1997, 4). Das Nachdenken über Whiteness als möglicherweise konstitutives Moment US-amerikanischer, aber eben auch europäischer Filmkultur, zu dem bell hooks mithilfe der Figur des in Wim Wenders’ Film abwesenden schwarzen Engels aufruft, bleibt daher ein wichtiges Moment einer feministischen Kritik an rassistischen Repräsentationsökonomien des Kinos.

Performing Realness Der ethnographisch angelegte Film der US-amerikanischen Dokumentarfilmemacherin Jennie Livingston »Paris is Burning« aus dem Jahr 1990 dokumentiert 167

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Drag-Queen-Contests Ende der 1980er-Jahre in New York. Auf diesen Bällen der farbigen, queeren Subkultur Harlems wurden Modeschauen imitiert und AfroamerikanerInnen und Latinos bzw. Latinas traten in verschiedenen Rollen und in verschiedenen Kategorien vor einem Publikum gegeneinander an. Diese Kategorien umfassen nicht nur verschiedene stereotype Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder, sondern verschiedene Positionen der weißen Elite oder der schwarzen schwulen Straßenkultur. Konkurriert wird um die gelungenste Darstellung, um die realness, die Echtheit der Performance. Der Film zeigt einerseits diese Wettbewerbe und andererseits Interviews mit ausgewählten Drag Queens. Die unausgewiesenen Hauptfiguren in der Dramaturgie der Interviewführung sind zum einen Venus Extravaganza, eine Latina, die im Filmkontext als weiß erscheint und auftritt und eine präoperative Transsexuelle von männlich zu weiblich ist. Sie arbeitet als Prostituierte und wird am Ende des Films zum Opfer eines Freiers, der diese Nicht-Eindeutigkeit des Geschlechts ultimativ bestraft. Die andere Hauptfigur Willi de Ninja, der als Tänzer das voguing anleitet, ist der einzige Protagonist des Films, der die von den meisten drags angestrebte Berühmtheit auch im ›wirklichen‹ Leben realisiert. »Paris is Burning« ist ein Film, in dem die weiße US-amerikanische Filmemacherin Jennie Livingston, Jüdin und Lesbe, in den USA minoritäre, nicht-weiße Menschen, drags, Crossdresser, Transgender und Transsexuelle porträtiert und Wettbewerbe filmisch beobachtet, in denen diese die Normen der Realität imitierend aufführen, zelebrieren und vielleicht auch unterlaufen. Livingston zeigt einerseits die spektakuläre Fülle und Pracht der Wettbewerbe, andererseits aber auch die soziale Deklassierung der ProtagonistInnen. In einem Interview in »indiewire« sagt Livingston  : »I was astounded at how profoundly this ›marginalized‹ subculture commented on our society’s center.« (Hernandez 2005) Der Film lebt von der Spannung zwischen bipolaren Welten, zum Beispiel auch von jener zwischen Subkultur und hegemonialer Kultur, von der die Filmemacherin an dieser Stelle spricht. Der Film war Anfang der 1990er-Jahre ein großer Erfolg. Voguing, der insbesondere von Willi de Ninja performte Tanzstil, wurde zum Beispiel von Madonna aufgegriffen und in den Mainstream überführt. Der Film selbst wurde zum Objekt vielfältigster und kontroversieller Lesarten feministischer, queerer und postkolonialer KulturwissenschaftlerInnen. So haben bell hooks und Judith Butler diesen Film sehr divergent interpretiert, Butler eher als potenzielles Dokument der Subversion, bell hooks in einer vorwiegend kritischen Lesart. Butler setzte sich 1993 in dem Text »Gender is burning. Fragen der Aneignung und Subversion« eingehend mit »Paris is Burning« auseinander (Butler 1997 [1993]). Es geht darin um die entscheidende Frage, ob bzw. wie eine De168

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Normalisierung von hegemonialen Normen durch ihre willentliche Re-Diskursivierung, Zitierung und imitierende Wiederholung möglich ist. Der Film interessiert Butler, weil er ihre Thesen zur Subjektkonstituierung, insbesondere zur Performativität von geschlechtlichen Identitäten, gewissermaßen filmisch in Szene zu setzen scheint. Butler thematisiert in ihrem Aufsatz drag7 als Aushandlungsort, als einen Ort spezifischer Ambivalenz von De-Naturalisierung und ReIdealisierung der heterosexuellen Geschlechternorm (Butler 1997 [1993], 178). Wenn Männlichkeit und Weiblichkeit als Aufführungspraktiken Teil der Wettbewerbe werden, zeigt sich, dass Identifizierungsprozesse immer ambivalent und dynamisch sind. Butler liest die drag balls in »Paris is Burning« als Bearbeitung und Imitierung von Normen, die darin potenziell subversiv unterlaufbar werden, drag sei eben dort subversiv, wo die performative Qualität von Gender sichtbar würde. Die drag balls und ihre Darstellung im Film berühren verschiedene Performativitätsdimensionen, die in komplexer Weise mit der Performativität von Whiteness und Geschlecht verschränkt sind  : drag an sich, die balls mit ihren Kategorien und Rollen, die Interviews, in denen der Film die ›authentischen‹ Figuren inszeniert, sowie die ›realen‹ Außenräume, die Straßenszenen und damit den öffentlichen Raum in New York. Die rassisierenden und sexuellen Markierungen, die bei den balls aufgeführt werden und durch das Zitieren möglicherweise die Normativität von Geschlecht oder sexueller Orientierung unterlaufen, sind auf der Ebene der sekundären filmischen Performativität noch ein weiteres Mal wirksam. Diese filmische Performativität8, in der zum Beispiel Raumkonstellationen oder Beleuchtungsmodi gegendert eingesetzt werden, bleiben filmisch unthematisiert und damit unsichtbar.9 Schon die Eröffnungssequenz macht dies deutlich. Zunächst ein höchst klassischer establishing shot auf die nächtliche Skyline von New York und der eingeblendete Schriftzug »New York 1987«, wie wir ihn aus dem Vorspann unzähliger US-amerikanischer Soaps und Hollywood-Filme kennen, und dann der Bruch mit dieser Sehkonvention durch den Blick auf die nächtliche Straße in Harlem, eng kadriert begleitet die Kamera auf Augenhöhe zwei ProtagonistInnen der Straße. Signalisiert wird hier gleich zu Beginn Authentizität als Fetisch, wir sehen (in) ein anderes, ein filmisch traditionell als schwarz und männlich kodiertes New York (vgl. Bowman 1998). Im Zentrum des scheinbar neutralen KameraBlicks werden Welten der Differenz inszeniert. Die Gegensätze, mit denen der Film operiert – schwarz/weiß, schwul/hetero, arm/reich –, werden dabei durch die filmsprachlichen Mittel, die den Spannungsbogen erzeugen, eher affirmiert denn herausgefordert. Innen- und Außenräume, Hell-dunkel-Nuancen werden 169

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in höchst konventioneller Weise dominanten Geschlechtercodes zugeordnet. Die Interviews mit den ProtagonistInnen werden großteils in intim ausgeleuchteten Innenräumen geführt, die Privatheit und den Blick auf das ›echte‹ (Innen-)Leben der Figuren jenseits ihrer Performances bei den balls suggerieren und die in vielfältiger Weise mit Zeichen ausgestattet sind, die den Zusammenhang von Identität und Bild evozieren (Spiegel, Poster an der Wand, Fenster, …). Es ist eben so, dass die Filmemacherin Livingston die Figur Venus Extravaganza, die sich als weiße Frau imaginiert, in einer ganz spezifischen Weise als solche inszeniert. In der Interviewsequenz lehnt Venus Extravaganza im fließenden, weißen Gewand vor dem Fenster auf einem Sofa, das mit einer Blumendecke dekoriert ist, und spricht leise von ihren Wünschen an ein besseres Leben in die Kamera. Dieses Setting bedient eine lange ikonographische Tradition der weißen Frau am Fenster, deren Körper mit dem Ornament der weißen Blumendecke verschmilzt und die in vielfacher Weise mit dem Code der weißen und unschuldigen Weiblichkeit assoziiert ist. Mit dieser Einstellung wird der komplizierte Wunsch von Venus, eine weiße Frau zu sein, die von einem weißen Mann begehrt und in ein ›normales, bürgerliches Leben‹ geführt wird, gleichermaßen ausgestellt und erfüllt. Durch die Inszenierung für die Kamera, die uns eine authentische private Situation suggeriert und einen begehrenden Blick auf den vor der Kamera auf dem Sofa posierenden Körper richtet, wird ein weißes Publikum in seiner Komplizenschaft mit den Wahrnehmungsnormen von Whiteness keineswegs gestört, sondern eher unterstützt. Venus, deren Wunsch, ein ›normales‹ Leben als weiße Frau führen zu können, hier filmisch inszeniert wird, überlebt die Differenz zwischen ihrem Wunsch und der Sichtbarkeit seiner Verfehlung in der realen Existenz nicht. Der Bericht über ihren Tod, die Ermordung durch einen verärgerten Freier, fungiert als melodramatischer Höhepunkt des Films. Butler dazu  : »Natürlich holt der Film Venus gewissermaßen ins Sichtbare zurück, nicht jedoch ins Leben, und er schafft damit in gewisser Weise eine Art filmische Performativität.« (Butler 1997 [1993], 188) bell hooks hat in ihrer Filmkritik darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Film um eine Form der Sichtbarmachung und Kontrolle sozialer Phänomene handelt, ohne die eigene Positioniertheit zu thematisieren – der Film gibt keinen Hinweis auf die Filmemacherin und ihre privilegierte Positionierung als Weiße (hooks 1996b). Der Film thematisiert am Beispiel von Venus Extravaganza das passing als Wunsch danach, weiß zu sein. Unsichtbar zu sein bedeute ja auch, der rassistischen Markierung zu entgehen, schreibt hooks in diesem Zusammenhang (hooks 1996b, 214 ff.). Es ist dieser Wunsch nach der privilegierten Position von Whiteness, als unmarkiert, ›normal‹ zu gelten, der das Imitieren der dominanten 170

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Norm antreibt. Wenn passing als Imitation der Norm bedeutet, der rassistischen und homophoben Markierung durch die hegemoniale Kultur zu entgehen und in diesem Sinn unsichtbar zu werden (vgl. Phelan 1993, 93 ff.), so macht der Film der weißen Filmemacherin Livingston eben diesen Wunsch nach Unsichtbarmachung sichtbar und beutet ihn gewissermaßen aus – das ist die Problematik, die bell hooks, wenn auch implizit, thematisiert. Worauf bell hooks allerdings nicht eingeht, ist die Tatsache, dass nicht alle Männer in dem Film schwarz und schwul sind, dass es Latinos und höchst verschiedene Zugehörigkeiten und Hautfarben in der Community gibt wie auch verschiedene Varianten geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung. Die Kritik von bell hooks an den Effekten von Whiteness im Film »Paris is Burning« birgt daher die Gefahr, eine SchwarzWeiß-Dichotomie zu reproduzieren, durch die eine Vielfalt von Differenzen, die sich dahinter verbirgt, verdeckt zu werden scheint. bell hooks kritisiert nicht nur die Heroisierung weißer Weiblichkeit durch den Film10, sondern moniert, dass die Rituale der Szene zum Spektakel für den Mainstream werden. Die Unterdrückten imitieren und performen die Ideale ihrer UnterdrückerInnen  ; das, so hooks, gefällt dem weißen Publikum (hooks 1996b, 218). Auf der Ebene filmischer Performativität kritisiert hooks den Mythos des Authentischen, den der Film inszeniert, als Kern des Exotisierens. Die De-Naturalisierung der Norm durch ihre multiple Zitierung funktioniert vielleicht bei den balls, in »Paris is Burning« hingegen funktioniert sie insbesondere auf der Ebene filmischer Performativität nur sehr rudimentär. Die Relationen und Verdichtungen verschiedener Diskriminierungen von Anderssein, die der Film thematisiert, sind auch von den politischen, historischen und situativen Kontexten bedingt, in denen er produziert und rezipiert wurde. Die unsichtbare Norm von Whiteness verbindet sich im Kontext eines US-amerikanischen Dokumentarfilms, der in erster Linie an ein großteils weißes, queeres Publikum in New York und diverse internationale Festivals gerichtet war und seither großteils als ›Lehrfilm‹ in Universitäten eingesetzt wird, anders mit den Herausforderungen jeweiliger Geschlechternormen als ein deutscher Autorenfilm der späten 1980er-Jahre. Uneindeutigkeit und Differenz in Hinblick auf Identitätsvorstellungen sind in beiden Filmen Thema und werden filmisch mit verschiedenen Modi der Performativität und mit der Ambivalenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verknüpft. Während in »Der Himmel über Berlin« die Frage des Sehens und der Sichtbarkeit selbst zum Thema des Films und seiner experimentellen Sprache wird und hierbei die Blindheit gegenüber der Affirmation der unmarkierten Normen von Whiteness und Heterosexualität ausgeblendet bleibt, kommt der filmsprachliche Einsatz in »Paris is Burning« über 171

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konventionelle, ethnographische Darstellungsmittel kaum hinaus. Obwohl die AkteurInnen, auf die der Kamerablick sich richtet, bei den balls den Zusammenhang von Sichtbarkeit, Identität und Macht in vielfältigster Weise performativ zur Disposition stellen, bleibt die Kamera einer traditionellen Blickökonomie von Whiteness verpflichtet. Genau an diesem Punkt pflichtet Judith Butler der Kritik von bell hooks an »Paris is Burning« bei  : »hooks hat mit ihrer Behauptung recht, dass in dieser Kultur die ethnographische Eingebildetheit eines neutralen Blicks stets ein weißer Blick sein wird, ein unmarkierter weißer Blick, der seine eigene Perspektive als das Allwissende ausgeben wird, der seine eigene Perspektive ausnützen und inszenieren wird, als sei sie überhaupt keine Perspektive  !« (Butler 1997 [1993], 191) Es scheint, als sähe Butler die Potenziale der Subversion der filmischen Sprache von »Paris is Burning« eher dort, wo die Kamera zum Komplizen des lesbischen Begehrens wird und der Kamerablick einer weißen Lesbe den schwarzen Körper eines Transsexuellen, der sich wünscht, eine Frau zu werden, erotisiert. Darin, so Butler, hätte Livingston die Macht, zu verändern, was sie aufzeichnet.11 Die grundsätzliche Frage, die Butler in ihrer Analyse in Bezug auf Whiteness mit dieser Diagnose verbindet, lautet  : Ist dieser filmische Blick bloß weiß und phallisch oder gibt es in diesem Film auch einen dezentrierten Platz für die Kamera  ? Butler bleibt ambivalent in der Beantwortung  ; ja, sie hätte sich gewünscht, dass die Kamera als körperloser und damit kontrollierender Blick thematisch geworden wäre. Da dies nicht geschehen ist, bleibt die Ambivalenz der Performance im Film für Butler auf die Ambivalenz des den Film rezipierenden Publikums bezogen und damit unbestimmt. Die Frage, die hinter Butlers Frage nach dem weißen Blick in »Paris is Burning« steht und die auch die hier exemplarisch vorgeführte kritische Whiteness-Forschung immer wieder aufs Neue verhandeln muss, ist die Frage danach, wie es möglich ist, gleichzeitig weiß zu sein und Whiteness als System der Privilegierung zu kritisieren. »Try to unlearn your privilege  ?« (Spivak 1990, 30) In Berlin – vielleicht schließt sich hier der Kreis der feministischen Diskussionen der beiden Metropolenfilme der 1980er-Jahre – hält Judith Butler am 20. Juni 2010 anlässlich ihrer Einladung zum Christopher Streets Day (CSD) eine viel beachtete Rede in deutscher Sprache. Seit den kontroversiellen Lesarten von »Paris is Burning« durch Judith Butler und bell hooks sind fast zwanzig Jahre vergangen. In den USA ist nunmehr seit 2009 Barack Obama Präsident, in Deutschland regiert seit mehreren Jahren Angela Merkel als Kanzlerin. Die Amerikanerin Judith Butler soll von den VeranstalterInnen des Christopher Streets Day in Berlin einen Preis für Zivilcourage entgegennehmen. Butler 172

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spricht auf der Bühne vor dem Brandenburger Tor nicht von Whiteness, sondern von Rassismus. Die Veranstaltung sei zu kommerziell orientiert und richte sich nicht ausreichend gegen Probleme wie Rassismus und Mehrfachdiskriminierung von MigrantInnen, die homosexuell oder transsexuell empfinden. Einige der VeranstalterInnen haben sich explizit rassistisch geäußert bzw. sich nicht von diesen Äußerungen distanziert. Die veranstaltenden Organisationen weigern sich, antirassistische Politiken als wesentlichen Teil ihrer Arbeit zu verstehen. In diesem Sinne muss ich mich von der Komplizenschaft mit Rassismus, einschließlich anti-muslimischem Rassismus, distanzieren. (Butler zit. nach Teichert 2010)

Butler spricht von jenen, die kulturelle Kriege gegen MigrantInnen führen wollen, und weist den Preis zurück. Sie leitet ihn symbolisch an jene weiter, die, wie sie sagt, vor Ort Courage zeigen im Kampf gegen diese kulturellen Kriege  : zum Beispiel Gladt, Suspect, ReachOut oder LesMigraS.12 Butler positioniert sich gegenüber den VeranstalterInnen und damit gegenüber einem Teil der Community als bad girl. Die Debatten um ihre Intervention sind sogleich mit dem Verweis auf den Widerspruch zwischen antikapitalistischer Kritik (an der Kommerzialisierung des CSD) und kapitalistischem Lebensstil (Übernachtung von Butler im Luxushotel) bei der Hand. Die Idee, das Privileg aufzugeben, wäre zugleich notwendig und unmöglich, eben dieses Unmögliche anzuerkennen, ist die Bedingung für das Politische am Projekt der kritischen Studien zum Konzept Whiteness.13 Der Akt der Verneinung eines Preises würde dann zu einer Möglichkeit, die unsichtbare Norm von Whiteness zu irritieren, wenn es nicht um die Inthronisierung einer richtigen, ›unschuldigen‹ Position innerhalb des Systems der Privilegierung ginge, sondern um das Entfachen einer Debatte, die die Ambivalenzen der jeweiligen Positioniertheiten benennt. Die Auseinandersetzung mit rassistischen Tendenzen in schwul/lesbischen Communities ist ebenso notwendig wie die Auseinandersetzung mit homophoben Tendenzen in MigrantInnen-Communities oder mit Sexismus in Black und Coloured Communities. Notwendig ist auch, dass jene, deren Engagement sich gegen diese Tendenzen der intersektionalen Diskriminierungen richtet, symbolische Anerkennung und staatliche Unterstützung erhalten. Am dringlichsten aber erscheint mir – in diesem Punkt ist der österreichischen Kulturkritikerin Araba Johnston voll und ganz zuzustimmen –, die grundlegenden staatlichen und institutionellen Formen der gesetzlichen und politischen (Mehrfach-)Diskriminierung zu kritisieren und zu verändern.14 173

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Auf YouTube ist ein kurzes Video vom Auftritt Judith Butlers auf der Bühne des CSD zu sehen.15 Die verwackelten Aufnahmen sind aus der Position des Publikums heraus gefilmt, Butler ist auf der Bühne kaum zu erkennen, unsichtbar beinahe, während ihre Stimme zu hören ist. Sichtbar dagegen sind die Moderatoren des CSD. Sie reagieren im Anschluss an die Rede einerseits mit einer Geste der Vereinnahmung auf Judith Butlers Preisverweigerung (»Da soll noch einer sagen, der CSD sei nicht politisch«) und andererseits mit der Leugnung von Differenz (»Ob weltweit oder hier in Berlin, wir ziehen alle an einem Strang, so wird es immer sein und so bleibt es auch«). Die Moderatoren, die dem Publikum, das Butler applaudiert, entgegenrufen, dass es nicht die Mehrheit ist, tragen weiße Engelsflügel.

Anmerkungen 1 Ich danke Ela Hornung und Margit Reiter für wertvolle Anregungen beim Verfassen dieses Texts. 2 Vgl. Frankenberg 1993  : Whiteness, so definierte Ruth Frankenberg, funktioniert als unsichtbare Norm und Modus der Privilegierung. Das andere von Whiteness ist nicht Blackness, sondern das Nicht-Weiße, das als das ›Andere‹ markierte. Vgl. auch Frankenberg 1996 3 Der Begriff Metropolenfilme im Titel des vorliegenden Textes verweist auf Traditionen der filmischen Auseinandersetzung mit der Stadt als Ort kultureller, politischer und ökonomischer Zentralität, als Ort von Diversität und Mythenbildung. 4 Sehr wichtig in diesem Zusammenhang auch Gaines 2001  : Hier werden die sogenannten race movies aufgearbeitet, die jenseits des Mainstreamkinos für und oft auch von AfroamerikanerInnen gemacht worden sind. Gaines führt darin die theoretische Analyse des rassisierenden Blicks mit der historischen Rekonstruktion eines lange unbeleuchteten Kapitels US-amerikanischer Filmgeschichte, eben der Geschichte des afroamerikanischen Kinos, zusammen. 5 Die Tradition der weiblichen Engelsdarstellungen wiederum ist ein Effekt der Vergeschlechtlichung und Ethnisierung der repräsentierten Engels-Körper als weiß und weiblich, wodurch sich das ent-körperlichte Bild reiner, unschuldiger Weiblichkeit in der christlichen Tradition mit den idealisierenden Bedeutungen von Whiteness verknüpfte und als solche auch in der Geschichte des Kinos sehr wirksam gewesen ist. 6 Vgl. zu den Ambivalenzen der Sichtbarkeit, insbesondere auch zu den verschiedenen Formen von Sichtbarkeit, Schaffer 2008 7 Drag (dressed as a girl) ist als performative Praxis zu verstehen, bei der das jeweils andere Geschlecht imitierend zur Aufführung kommt. Drag Queens sind zumeist schwule Männer, die sich zu spezifischen Anlässen parodistisch überhöht als Frauen inszenieren und verkleiden. 8 Bei der filmischen Performativität geht es um jene Prozesse, in denen der Film sich filmisch über Konventionen, Stile, Wiederholungen, ect. als Film konstituiert. 9 Die weiße Medienwissenschaftlerin Andrea Seier, deren Lesart exemplarisch für die Film/TextRezeption im deutschsprachigen Raum stehen kann, hat darauf hingewiesen, dass Butler in ihrer »Paris is Burning«-Lesart zwar die Performativität von Geschlecht thematisiere, die der Film auf-

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führe, nicht aber hinlänglich die Performativität des Films selbst reflektiere. Vgl. Seier 2007, 36ff. 10 Butler spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Signifikanten für Weißsein und Weiblichsein Sitz eines phantasmatischen Versprechens sind (vgl. Butler 1997 [1993], 186). 11 »Livingston hat deshalb die Macht, Männer in Frauen zu verwandeln, die folglich von der Macht ihres Blicks abhängig sind, um Frauen zu werden und zu bleiben.« (Butler 1997 [1993], 191) 12 GLADT ist eine unabhängige Selbst-Organisation von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen und Transgendern (LSBTT) mit Migrationshintergrund in Berlin  ; SUSPECT ist ein kleines antirassistisches Queerprojekt und ReachOut eine Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin. LesMigraS (Lesbische Migrantinnen und schwarze Lesben) ist der Antigewalt‐ und Antidiskriminierungsbereich der Lesbenberatung Berlin  ; vergleichbare Gruppen in Österreich, vornehmlich in Wien u. a.: Maiz, Autonomes Zentrum von und für Migrantinnen (http  : //www.maiz.at/)  ; Verein Diskursiv. Verein zur Verqueerung gesellschaftlicher Zusammenhänge  ; Pamoja. Bewegung der jungen afrikanischen Diaspora in Österreich oder MiGaY, Verein zur Integration und Förderung von homosexuellen Migrant_innen. 13 Vgl. zur Produktivität der Anerkennung von Unmöglichkeit als Voraussetzung für das Politische Lummerding 2009 14 2008 hat die an der Universität Wien lehrende Theoretikerin und Aktivistin Araba Johnston Arthur (Mitbegründerin von Pamoja. Bewegung der jungen afrikanischen Diaspora in Österreich) den »MiA – Migrantinnen Award für Integration von Migrantinnen in Österreich« in der Kategorie Wissenschaft schon bei der Nominierung mit folgender Begründung abgelehnt  : »Einzelne schwarze Frauen und Migrantinnen für ihre Erfolge vor den Vorhang zu bitten, macht nicht Mut, sondern inszeniert Anerkennung bei gleichzeitiger Aberkennung grundlegender Menschenrechte. Als Grundlage für die Verbesserung der Stellung von Migrantinnen sehe ich es als Notwendigkeit an, dass diese wieder aus der öffentlichen Debatte verdrängten Realitäten der gesetzlich verabschiedeten Schlechterstellung von Migrantinnen nicht unsichtbar gemacht, sondern in den Mittelpunkt gerückt und kritisiert werden.« Vgl.: Offener Brief zur Ablehnung des MiA  ; abrufbar unter http  : //no-racism.net/article/2473/ (20. 7. 2010) 15 http  : //www.youtube.com/watch  ? v=BV9dd6r361k&NR=1-csd-in-berlin/ (16. 7. 2010)

Literatur James Baldwin (1985), The Evidence of Things Not Seen. New York Walter Benjamin (1974), »Über den Begriff der Geschichte«, in  : ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt, 691–707 Monika Bernold (2006), »Whiteness, Österreich und Afrikanismus am Beispiel der ORF-Dokumentation Abenteuer Afrika«, in  : Medienimpulse, Beiträge zur Medienpädagogik 15, Nr. 56, 33–37  ; abrufbar unter http  ://www.mediamanual.at/mediamanual/themen/pdf/diverse/56_Bernold-Whiteness_Oesterreich.pdf  ; (20. 8. 2010) Monika Bernold, Andrea Braidt, Claudia Preschl (Hg.) (2004), Screenwise. Film Fernsehen Feminismus. Marburg Jacqueline Bobo (1988), »The Color Purple  : Black Women as Cultural Readers«, in  : Female Spectators. Looking at Film and Television, ed. by E. Deirdre Pribram, London, 90–109 Ruth Laurion Bowman (1998), »Performing Social Rubbish. Humbug and Romance in the American

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Monika Bernold

Marketplace«, in  : Della Pollock (Hg.), Exceptional Spaces. Essays in Performance and History, 121–141 Judith Butler (1997 [1993]), »Gender is Burning. Fragen der Aneignung und Subversion«, in  : dies., Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Frankfurt am Main, 171–199 Mary Ann Doane (1991), »Dark Continents. Epistemologies of Sexual and Racial Difference« in  : dies. Femmes Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis. London/New York, 209–249 Richard Dyer (1997), White. London Maisha M. Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.) (2005), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster Frantz Fanon (2008 [1952]),  : Black Skin, White Masks, aus dem Französischen von Richard Philcox. New York Gwendolyn Audrey Foster (2003), Performing Whiteness. Postmodern Re/constructions in the Cinema. Albany Ruth Frankenberg (1993), White Women/Race Matters  : The Social Construction of Whiteness. London Ruth Frankenberg (1996), »Weiße Frauen, Feminismus und die Herausforderungen des Antirassismus«, in  : Brigitte Fuchs, Gabriele Habinger (Hg.), Rassismen und Feminismen. Wien, 51–66 Jane M. Gaines (1988 [1986]), »White Privilege and Looking Relations  : Race and Gender in Feminist Film Theory«, in  : Screen 29, Nr. 4, 12–27 Jane M. Gaines (2001), Fire and Desire  : Mixed Race Movies in the Silent Era. Chicago Gabriele Griffin, Rosa Braidotti (2002), »Whiteness amd European Situatedness«, in  : dies. (Hg.), Thinking Differently. A Reader in European’s Women’s Studies. London/New York, 221–236 Eugene Hernandez (2005), »5 Questions for Jennie Livingston, Director of ›Paris is Burning‹ and ›Who’s The Top  ?‹, in  : indiewire, 6. August 2005  ; abrufbar unter http  : //www.indiewire.com/ article/5_questions_for_jennie_livingston_director_of_paris_is_burning_and_whos_the/ (10. 6. 2010) bell hooks (1996a [1990]), »Weißsein repräsentieren. Gedanken zu dem Film ›Der Himmel über Belin‹«, in  : dies, Sehnsucht und Widerstand. Kultur. Ethnie. Geschlecht, aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch und Marion Sattler Charnitzky. Berlin, 171–181 bell hooks (1996b), «Is Paris Burning  ? ” Reel to Real  : Race, Sex and Class at the Movies. London/New York, 214–227 Araba Johnston Arthur (2005), »Das schwarze Objekt der ›Andersartigkeit‹ als Grundlage für weiße österreichische Selbstdefinitionen«, in  : Rosa Reitsamer, Jo Schmeiser (Hg.), Born to Be White. Rassismus und Antisemitismus in der weißen Mehrheitsgesellschaft. Wien Anne Kramer (2006), Das Kino  : Ort der Engel. Die Funktion von Engelsgestalten im Film. Münster Susanne Lummerding (2009), Mehr-Genießen: Von nichts kommt etwas. Das Reale, das Politische und die Produktionsbedingungen – Zur Produktivität einer Unmöglichkeit, in: Barbara Paul, Johanna Schaffer (Hg.), Mehr[wert] queer. Visuelle Kulturen, Kunst und Gender-Politiken. Bielefeld 2009, 199–210. Toni Morrison (1992), Playing in the Dark  : Whiteness and the Literary Imagination. New York Peggy Phelan (1993), »The Golden Apple. Jennie Livingston’s ›Paris is Burning‹«, in  : dies., Unmarked, London/New York, 93–112 Johanna Schaffer (2008), Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld

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Schwarze Engel  ?

Andrea Seier (2007), Remediatisierung. Die performative Konstitution von Gender und Medien. Berlin Gayatri Chakravorty Spivak (1990), The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, ed. by Sarah Harasym. London/New York Mason Stokes (2001), The Colour of Sex  : Whiteness, Heterosexuality, and the Fictions of White Supremacy. London Martin Teichert (2010), »Als Frau Butler ablehnte«, in  : die taz, 24. Juni 2010  ; abrufbar unter http  : // www.taz.de/1/debatte/theorie/artikel/1/als-frau-butler-ablehnte/ (25. 6. 2010) Bärbel Tischleder (2001), Body Trouble. Entkörperlichung, Whiteness und das amerikanische Gegenwartskino. Berlin Veronika Vieler (2009), Filmregie als Verstehensprozess, dargestellt an Wim Wenders’ »Der Stand der Dinge«. Würzburg Wim Wenders (2006), Wim Wenders befragt von Roger Willemsen. Wim Wenders Director’s Edition. DVD Linda Williams (2001), Playing the Race Card. Melodrama of Black and White from Uncle Tom to O. J. Simpson. Princeton Eske Wollrad (2005), Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion. Königstein

Filme Paris is Burning ( Jennie Livingston, USA 1991) Der Himmel über Berlin (Wim Wenders, D 1987/88)

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AutorInnen und Herausgeberinnen Monika Bernold, Mag.a Dr.in, Historikerin und Medienwissenschaftlerin. Lehrt

am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft an der Universität für Musik und darstellende Kunst/mdw und am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte  : Medien- und Konsumgeschichte des 20. Jahrhunderts  ; Geschichte und Theorie der(audio)visuellen Kultur  ; Feministische Film-, TV- und Medienwissenschaft  ; Auto-/Biographieforschung. Publikationen u. a.: Differenz im Bild  : Geschlecht, Nation und Fernsehkultur in den 70er-Jahren (in Vorbereitung)  ; Das Private Sehen. Fernsehfamilie Leitner, mediale Konsumkultur und nationale Identitätskonstruktionen in Österreich nach 1955. Münster 2007  ; Screenwise. Film, Fernsehen, Feminismus (hg. gemeinsam mit Andrea Braidt u. Claudia Preschl). Marburg 2004. Mehr Informationen  : http  : //www. mdw.ac.at/ikm/  ?PageId=2997 E-Mail  : [email protected] Alenka Barber-Kersovan, Dr.in phil., studierte Klavier, Historische Musikwissen-

schaft, Systematische Musikwissenschaft, Psychologie und Ästhetik in Ljubljana, Wien und Hamburg. Sie arbeitete als Musiktherapeutin an der Psychiatrischen Klinik in Ljubljana, war Programmchefin der Musikalischen Jugend Sloweniens und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater und am Institut für Musikalische Bildung in Hamburg. Seit der Promotion unterrichtete sie am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg, an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und der Leuphana Universität Lüneburg. Zudem ist sie als Geschäftsführerin des Arbeitskreises Studium Populärer Musik tätig. Forschungsschwerpunkte  : Populäre Musik und Politik  ; Medien  ; Ästhetik der Multimedialität  ; Pädagogik. Wichtige Publikationen  : Getanzte Freiheit. Swingkultur zwischen NS-Diktatur und Gegenwart (hg. mit Gordon Uhlmann). Hamburg 2002  ; Vom ›Punkfrühling‹ zum ›slowenischen Frühling‹. Der Beitrag des slowenischen Punk zur Demontage des sozialistischen Wertsystems. Hamburg 2005. Frauentöne. Beiträge zu einer ungeschriebenen Musikgeschichte. Karben 2000 (hg. mit Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld). E-Mail  : fk8a003@ uni-hamburg.de

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AutorInnen und Herausgeberinnen

Carola Dertnig, lebt und arbeitet in Wien, 1997 Teilnahme am Whitney Inde-

pendent Study Program in New York. Sie unterrichtet Performance-Kunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien und war als Gastprofessorin an der CAL ARTS in Los Angeles tätig. Dertnigs Arbeit ist in zahlreichen Ausstellungen in Museen und Galerien gezeigt worden, u. a. PS1 Museum, New York  ; Artists Space, New York  ; Museum of Modern Art, New York  ; MUMOK  ; Wien, Galerie für Zeitgenössische Kunst (Gfzk), Leipzig und Secession, Wien. Preise der Stadt Wien, Innsbruck, des Landes Tirol. Einzelausstellungen u. a.: Galerie im Taxispalais, Innsbruck (2006)  ; Secession, Wien (2004). Gruppenausstellungen u. a. Matrix – Geschlechter/Verhältnisse/Revisionen (kuratiert von Gudrun Ratzinger und Sabine Mostegl), Lower Manhattan Cultural Council, New York (2008)  ; As in real life, Gallery P74, Ljubljana (2007)  ; Detourism, Orchard Gallery, New York (2007)  ; Fokus 3  : Aktion, Konzept, Sprache, MUMOK, Wien und Why Pictures Now, MUMOK, Wien (2006)  ; A Complete Guide To Re-writing Your History, 2, SPARWASSER HQ, Berlin (2006). Mehr Informationen  : http  ://www.galerieandreashuber.at E-Mail  : [email protected]

Andrea Ellmeier, Mag.a Dr.in, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, Lehr-

beauftragte an den Universitäten Wien, Innsbruck und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Österreichischen Kulturdokumentation, war Koordinatorin der Forschungsplattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck und ist Koordinatorin für Frauenförderung und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Forschungsinteressen  : Konsum- und Konsumentinnengeschichte  ; Cultural Diversity  ; kultureller Arbeitsmarkt. Publikationen  : »mdw goes gender. Koordinationsstelle für Frauenförderung und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw)«, in  : Sarah Chaker, Ann-Kathrin Erdélyi (Hg.), Frauen hör- und sichtbar machen – 20 Jahre »Frau und Musik« an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Wien 2010  ; »›Wie im ganz normalen Leben auch  !‹ Gleichbehandlung in Kunst und Kultur  ?«, in  : Erna Appelt (Hg.), Gleichstellungspolitik in Österreich. Wien/Innsbruck 2009  ; Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film (mdw Gender Wissen Bd. 1). Wien/Köln/Weimar 2010 (hg. mit Doris Ingrisch und Claudia Walkensteiner-Preschl). Mehr Informationen  : http  ://www.mdw.ac.at/ikm/ E-Mail  : [email protected] 180

AutorInnen und Herausgeberinnen

Gerlinde Haid, o. Univ.-Prof.in Dr.in, Leiterin des Instituts für Volksmusikforschung

und Ethnomusikologie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 1965 Lehramt aus Musikerziehung und Germanistik, 1974 Dr.in phil. aus Volkskunde und Musikwissenschaft. 1975–1989 Generalsekretärin im Österreichischen Volksliedwerk, 1989–1994 Assistentin am Institut für musikalische Volkskunde an der Musikhochschule in Innsbruck, ab 1994 Professorin in Wien. Forschungsschwerpunkte  : Volksmusik der Alpenländer und Europas  ; Biologie der Volksmusik  ; volksmusikalische Feldforschung  ; Transkription und Analyse, Ordnung und Systematisierung von Volksweisen  ; Geschichte der Volksmusikforschung in Österreich. Herausgeberinnenschaft  : Jahrbuch des Österreichische Volksliedwerkes (1977– 1988)  ; Innsbrucker Hochschulschriften, Serie B  : Musikalische Volkskunde (von 1997–2000, gem. m. Josef Sulz und Thomas Nussbaumer)  ; Schriften zur Volksmusik (seit 1996)  ; Klanglese (seit 2000, gem. m. Ursula Hemetek), Musica Alpina (gem. m. Hans Haid). Engagement in zahlreichen Veranstaltungen zur Vermittlung von Wissen über Volksmusik  ; bis 2008 Obfrau des Instituts für Volkskultur und Kulturentwicklung in Innsbruck  ; Trägerin des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Kl. (verliehen 2003). Publikationen  : zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften  ; Volksmusik in Österreich. Wien 1984 (gem. m. Walter Deutsch, Harald Dreo und Karl Horak)  ; Johann Michael Schmalnauer  : »Tanz Musik«. Wien 1996 (Corpus Musicae Popularis Austriacae, 5)  ; Volksmusik in Salzburg. Lieder und Tänze um 1800 (Corpus Musicae Popularis Austriacae, 12). Wien 2000 (gem. m. Thomas Hochradner)  ; European Voices I. Wien/Köln/Weimar 2008 (gem. m. Ardian Ahmedaja). Mehr Informationen  : www.mdw.ac.at/ive/ E-Mail  : [email protected] Florian Heesch, Dr., studierte Schulmusik, Instrumentalpädagogik, Musikwis-

senschaft, Musikpädagogik und Germanistik in Hannover, Köln und Göteborg und promovierte mit einer Arbeit über August Strindberg und die Oper. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt zur Rezeption nordischer Mythen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie im Gender-Forschungsprojekt »History|Herstory« an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Aktuelles Monographieprojekt  : Die Rezeption nordischer Mythen im Heavy Metal. 2009 leitete er in Köln einen internationalen Kongress zum Thema »Heavy Metal and Gender«. Als Redakteur und Autor ist er beteiligt am Lexikon Musik und Gender, hg. von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld. 181

AutorInnen und Herausgeberinnen

Kassel/Stuttgart 2010. Weitere Publikationen u. a. »Sang an Aegir«  : Nordische Mythen um 1900 (Edda-Rezeption 1). Heidelberg 2009 (hg. mit Katja Schulz). Mehr Informationen  : http  ://www.eddarezeption.de http  ://www.historyherstory. de E-Mail  : [email protected] Saskia Hölbling ist freischaffende Choreografin und Tänzerin, Gründerin und

künstlerische Leiterin der zeitgenössischen Tanzcompany »DANS.KIAS« mit Basis in Wien. Sie war u. a. Gastregisseurin am Reinhardt-Seminar Wien. Sie beschäftigt sich seit 2002 intensiv mit Darstellungsformen von Körpern, die sich linearer Interpretationen entziehen, und zwar sowohl in Gruppenformationen als auch solistisch. Was einen Kritiker zu folgenden Zeilen veranlasste  : »Diese AntiBarbiepuppe fordert eine neue Erfindung des Standpunktes […] bricht mit allen Konventionen, mit einer kalten, schönen Kraft voller schweigender Intelligenz sowie einer kämpferischen Körperlichkeit.« Performances  : other feature (2002)  ; exposition corps (2003)  ; Jours Blancs (2006)  ; secret sight (2008)  ; fiction in between (2010)  ; DVD  : DANS.KIAS.DOC A documentary by Georg Steinböck, hg. v. DANS.KIAS. Vienna 2006. Mehr Informationen  : www.dans.kias.at E-Mail  : [email protected] Annegret Huber ist Professorin für Musikwissenschaft (Schwerpunkt Analyse

der Musik) am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien  ; sie lehrt Analyse als Zentrales Künstlerisches (!) Fach in den Studiengängen Komposition/Musiktheorie, Dirigieren und TonmeisterInnenausbildung. In ihrem Ausbildungsgang verbinden sich künstlerische (Klavier, Orgel), pädagogische (Schulmusik, Instrumentalpäda­ gogik) und wissenschaftliche (Musiktheorie, Musikwissenschaft) Schwerpunkte. Forschungsinteressen ergeben sich aus epistemologischen Problemen des Musikanalysierens in kulturwissenschaftlichen Kontexten (Intermedialität, Interkulturalität, Gender) bezogen auf die Musik des 19.–21. Jahrhunderts sowie die Geschichte der Lehre musiktheoretischer Fächer. Wichtige Publikationen  : Das ›Lied ohne Worte‹ als kunstübergreifendes Experiment. Eine komparatistische Studie zur Intermedialität des Instrumentalliedes 1830–50 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 41). Tutzing 2006  ; »Medienwechsel & Zauberformeln. Zu Philosophie und Ästhetiken des Musikanalysierens«, in  : Cornelia Szabó-Knotik, Barbara Boisits (Hg.), Musicologica Austriaca 27 (2008). Jahresschrift der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft. Wien 2009, 281–309. Mehr Informationen  : http  : //www.erg.at/iatgm/iatgm-huber.shtml E-Mail  : [email protected] 182

AutorInnen und Herausgeberinnen

Doris Ingrisch, Univ.-Doz.in Dr.in, studierte Geschichte, Germanistik und Sozio-

logie an der Universität Wien. Sie ist Dozentin für Zeitgeschichte, freiberufliche Wissenschaftlerin sowie derzeit Gastprofessorin für Gender Studies am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Arbeits- und Forschungschwerpunkte  : Cultural sowie Gender Studies  ; Wissenschaftsgeschichte  ; Exil-/Emigrationsforschung sowie Qualitative Methoden. Veröffentlichungen  : »Hinter den Fassaden des Wissens«. Frauen, Feminismus und Wissenschaft – eine aktuelle Debatte. Wien 1999 (mit Brigitte Lichtenberger-Fenz)  ; Der dis/kontinuierliche Status des Seins. Über vom Nationalsozialismus aus Österreich vertriebene (und verbliebene) intellektuelle Kulturen in lebensgeschichtlichen Kontexten. Frankfurt/Main u. a. 2004  ; »Anschluß« und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien. Wien/Berlin 2008 (mit Herbert Posch und Gert Dressel)  ; Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film (mdw Gender Wissen Bd. 1). Wien/ Köln/Weimar 2010 (hg. mit Andrea Ellmeier und Claudia WalkensteinerPreschl). Mehr Informationen  : http  ://www.mdw.ac.at/ikm/ E-Mail  : ingrisch@ mdw.ac.at Katharina Pewny ist Professorin für Performance Studies und Direktorin des Re-

search Center S  :PAM, Studies in Performing Arts and Media, an der Universität Gent. Ihre Forschungsschwerpunkte sind  : Ethik und Ästhetik des zeitgenössischen Tanzes, Theaters und der Performancekunst  ; relationale Dramaturgien  ; antikes Theater  ; Gender, Queer und Postcolonial Studies. Ihre Artikel werden in internationalen Zeitschriften wie »Forum Modernes Theater«, »Modern Austrian Literature« und »Literature and Aesthetics« publiziert. Sie leitet die Arbeitsgruppe »Dramaturgie« der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, ist Mitglied des International Board des Elfriede Jelinek Zentrums der Universität Wien und Partnerin im European Theatre Research Network. Ihre Habilitationsschrift »Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance« erscheint 2011 (Transcript Verlag), die Anthologie »Zwischenspiele. Neue Texte, Realitäts- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance« ist 2010 erschienen. Mehr Informationen  : http  ://www.theaterwetenschappen.ugent. be/KatharinaPewny  ; E-Mail  : [email protected]

Claudia Walkensteiner-Preschl, ao. Univ.-Prof.in, Dr.in, studierte Theaterwissen-

schaft an der Universität Wien. Seit 1993 Hochschulassistentin, seit 2003 Assis183

AutorInnen und Herausgeberinnen

tenzprofessorin am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Habilitation (Venia Filmwissenschaft) Universität Frankfurt am Main 2010. Seit 2008 Vizerektorin für Lehre und Frauenförderung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Forschungsschwerpunkte  : Filmgeschichte und -theorie  ; feministische Filmgeschichtsschreibung  ; Frühes Kino  ; Frauen- und Geschlechterforschung. Publikationen  : Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der 1910er-Jahre (Filmmuseum-Synema-Publikationen Bd. 8). Wien 2008  ; »Die Schlager der Groteske«, in  : Karola Gramann, Eric de Kuyper, Sabine Nessel, Heide Schlüpmann, Michael Wedel (Hg.), Sprache der Liebe. Asta Nielsen, ihre Filme, ihr Kino 1910– 1933. Wien 2009  ; »Publikumsgeschmack und soziales Engagement. Zur Pionierin Louise Veltée/Kolm/Fleck aus filmhistorisch-feministischer Perspektive«, in  : Doris Kern, Sabine Nessel (Hg.), Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino. Festschrift für Heide Schlüpmann. Basel/Frankfurt am Main 2008. Mehr Informationen  : http  : //personal.mdw.ac.at/preschl/index.html  ; E-Mail  : [email protected]

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ANDREA ELLMEIER, DORIS INGRISCH, CL AUDIA WALKENSTEINER-PRESCHL (HG.)

SCREENINGS WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK · THEATER · FILM REIHE MDW GENDER WISSEN, BAND 1

Der Band bietet Einblicke in Gender-Analysen an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Gefragt wird nach den Bedeutungen der Kategorie Geschlecht in der Musik, im Theater und im Film. Die Beiträge thematisieren die Musikwissenschaft als Feld der Reproduktion des sozialen Geschlechts, geschlechtstypische Unterschiede zwischen Musiklehrern und Musiklehrerinnen, Gender-Aspekte in der Ethnomusikologie, Feminismus und Popkultur, die ‚Güte‘ der Frauen in Gender-Pirouetten, das Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies und nicht-normative Männlichkeit im Film. 2010. 165 S. 25 S/W-ABB. BR. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78520-0

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar