SpielRäume: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film 9783205792840, 9783205795209

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SpielRäume: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film
 9783205792840, 9783205795209

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mdw Gender Wissen Band 5 Eine Reihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl und Doris Ingrisch

Andrea Ellmeier · Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

SpielRäume Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film

2014 Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch:

Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Irmgard Dober Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Prime Rate Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79520-9

Inhaltsverzeichnis Andrea Ellmeier · Claudia Walkensteiner-Preschl Einleitung 7

Hanna Hacker Arme (und) Mädchen  : Eigensinn im Raum feministisch-dekolonialer Protestgeschichte/n 15

Rosa Reitsamer Feministische Räume im Wandel der Zeit  : Frauenmusikfestivals und Ladyfeste 37

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up Räume bilden im Fokus. Ein Bündnis zwischen Architektur und Film 51

Andrea B. Braidt »This is the way we live … and love.« Zur Konstruktion von Liebesverhältnissen in der seriellen Erzählung von »The L Word« (2004–2009) 85

Markus Grassl Von Spiel-Räumen zu espaces d’écritures  : Komponierende Frauen im Frankreich des ancien régime 101

Gabriele Proy Poetische Klangräume 133 5

Inhaltsverzeichnis

Steffen Jäger Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides 151

Isabelle Gustorff »Die Bühne als Kartographie des Schicksals« – Die Bühnen des sirene Operntheaters 167

AutorInnen und Herausgeberinnen 193

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Andrea Ellmeier · Claudia Walkensteiner-Preschl

Einleitung Spiel_Räume, Spiel mit Räumen, wer spielt wie mit und in welchen Räumen  ? Wer darf, wer kann spielen  ? Wie SpielRäume sehen lernen, wie nützen  ? Wer bestimmt diese wann wie wo  ? Was, wenn es keinen SpielRaum gibt  ? Was, wenn es gerade auf diesen einen SpielRaum ankommt  ? … Viele Fragen, ebenso viele Antworten bietet dieser Band unserer Reihe »mdw Gender Wissen« und in der Musik-, Theater- und Film/Mediengeschichte gibt es umso mehr davon. Musik, Theater und Film/Medien sind die drei Künste und Wissenschaften, die an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien gelehrt und ausgeübt werden. »SpielRäume« war das Thema der Gender-Ringvorlesung 2013 an der mdw. Der Untertitel des vorliegenden Sammelbandes ist mit »Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film« derselbe wie in den zuvor in dieser Reihe erschienenen Bänden. Warum immer dieser Untertitel  ? Damit wollen wir ausdrücken, dass in allen bisher erschienenen Publikationen interdisziplinär gearbeitet und jeweils alle an der Universität vertretenen Künste resp. Wissenschaften – Musik(wissenschaft), Theater(wissenschaft) und Film/Medien(wissenschaft) – repräsentiert sind, wie auch immer nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht/Gender gefragt wird. Dieser Untertitel bedeutet für den vorliegenden Band, dass ausgehend von einer dieser drei Künste – Musik, Theater oder Film/ Medien – Beispiele präsentiert werden, die uns Facetten davon vor Augen führen, was Gender-SpielRäume in einem jeweiligen Kontext sein könn(t)en. Die Fallbeispiele mögen eine Vorstellung davon geben, wie breit das Thema »SpielRäume« per se ist und wie listenreich es behandelt werden kann. Beinahe (fast) jedes Thema kann zu einem SpielRaum-Thema werden, da die Spiel- wie auch die Raum-Metapher ein überaus weites Assoziationsfeld – einen vielgestaltigen Assoziationen-Raum – eröffnet. Der erste Text, ein Beitrag der Soziologin und Frauen-/Lesbenbewegungshistorikerin Hanna Hacker, trägt den vieldeutigen Titel »Arme (und) Mädchen  : Eigensinn im Raum feministisch-dekolonialer Protestgeschichte/n«. Die Autorin zeigt auf eindrückliche Weise, wie sich das Thema »wie viel Spielraum für Eigensinn« historisch-kulturwissenschaftlich und soziologisch darstellen lässt. 7

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Hanna Hacker erzählt am Beispiel des Grimm’schen Märchens »Das eigensinnige Kind« über das widerständige Ärmchen (Arm) eines kleinen Kindes, das von der Autorin im Deutschen geschlechtsunspezifisch als Kind, im Englischen hingegen geschlechtlich konkretisiert als Mädchen vorgestellt/imaginiert wird und damit deutlich unterschiedliche Denkhorizonte eröffnet. Die befremdliche post­mortale (!) Geste des Kindes/Mädchens, seinen Arm aus dem Grab zu strecken, wird von der Autorin als Widerständigkeit interpretiert. So führt uns die Autorin vor Augen, woran wann wie gedacht werden kann/könnte, wenn wir uns einen SpielRaum nehmen  : Sie entwirft ein ganzes Potpourri an intellektuellen Möglichkeiten, sich SpielRäume auszudenken für dieses Grimm’sche Märchen und dies mit der realen Sozialgeschichte der historisch sich herausbildenden alleinigen Zuständigkeit von Frauen für Kindeserziehung und -disziplinierung zu konfrontieren. Mit diesem Text zeigt uns Hanna Hacker zugleich auch ein Stück selbst gelebten Eigensinns. So möge dieser erste Text des Bandes deutlich machen, wie in kulturwissenschaftlicher Forschung Denk- und Handlungsmöglichkeiten, ja ‑spielräume ausgelotet werden können und welche Spannbreite an Interpretationen sich in kulturellen Äußerungen ausmachen lassen. Gehen Sie den Fährten der Autorin nach und machen Sie sich ein eigenes Bild  ! Die Soziologin, Djane und DJ-Forscherin Rosa Reitsamer fragt in ihrem Beitrag »Feministische Räume im Wandel der Zeit« nach der Geschichte von Frauenmusikfestivals und Ladyfesten, die in den letzten drei Jahrzehnten in Wien stattgefunden haben. Dabei arbeitet sie mit einem Raumkonzept, in dem grundsätzlich von einer Dualität von Raum ausgegangen wird  : »Die Dualität von Raum meint […], dass ›Räume nicht einfach nur existieren, sondern dass sie im Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln beeinflussen können‹ […]« Die Autorin zeigt, dass sich die Ansprüche und primären Beweggründe von Frauenmusikfestivals und Ladyfesten über die Jahre hinweg verändert haben, dass sich in den Festivals die jeweils aktuellen Ansprüche der politischen Frauen-, Lesben-, Transgender-Bewegung(en) spiegeln. Der Forschungsstand lasse es derzeit aber leider noch nicht zu – so Reitsamer –, die Festivals auch hinsichtlich ihres Programms zu analysieren. Dargelegt wird, wie sich Anliegen und Ansprüche der ersten von späteren Musikfestivals unterscheiden, die Autorin rubriziert die Art und Weise der Herangehensweise und kontextualisiert Organisatorinnen wie auch das Publikum  : Waren die Frauenmusikfestivals der 1980er- und 1990er-Jahre noch singuläre (Spiel-)Räume von und für Frauen, so verändert sich dieser Anspruch in den Festivals ab den 2000erJahren. Die queer-feministischen Ladyfeste, ab 2006 dann die »Rampenfiber«8

Einleitung

Festivals der Zeitschrift »fiber«, verstehen sich als neue soziale Räume, die durch eine »Rhetorik und Politik der Inklusion, Partizipation und Intervention« die hegemonialen heteronormativen Raum-(An)Ordnungen unterbrechen wollen. Dies wiederum soll zu einem neuen Verständnis von Raumproduktion führen, wie es auch »unmittelbar mit der Frage nach der Geschlechtszugehörigkeit von FestivalorganisatorInnen, MusikerInnen und BesucherInnen verbunden ist«. Die Unterschiede in der Konzeption der Festivals sollen jedoch – so Reitsamer – keinesfalls ihre zentrale Gemeinsamkeit verdecken  : die Produktion von gegenkulturellen feministischen Räumen, »die Ergebnisse von (Selbst-)Reflexivität und körperlich-emotionalem Begehren sind und sich gegen soziale (Geschlechter‑) Ungleichheiten aussprechen«. Die Filmemacherin Karin Macher und die Architektin Renate Stuefer haben ihren Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung, den sie wie eine Performance gestalteten, als Drehbuch verfasst. Schon der Vortragsraum wurde von ihnen ungewöhnlich ausgekleidet. Die Künstlerinnen legten auf den Tischen und auf dem Boden Rasenteile aus und forderten die anwesenden ZuhörerInnen auf, diese anzufassen, zu spüren, wie es sich anfühlt. Parallel dazu erzählten sie von ihren seit 2007 unter dem Namen »setting^up« durchgeführten gemeinsamen Projekten, präsentierten Fotos und filmten die ZuhörerInnen. Karin Macher und Renate Stuefer verstehen ihre gemeinsame Arbeit als einen interdisziplinären Beitrag über die Grundlagenforschung zur Wahrnehmung sowie Aneignung von Räumen. Sie gehen davon aus, dass Raum wirkt und bereits kleine Eingriffe die Logik eines Raumes verändern sowie neue Möglichkeiten schaffen, sich in Räumen zu bewegen, Räume in Besitz zu nehmen. Es ist ein Spielen und Experimentieren mit Kindern in Schulen, das sie auch filmisch dokumentieren, um auf diese Weise eine Reflexionsebene bereitzustellen. Bei jedem Projekt werden neue Handlungsspielräume zwischen den Personen, der Kamera und den jeweiligen Räumen ausgelotet und spielerisch verändert. »Es entstehen Erfahrungen kollektiver und prozesshafter Kreativität«, schreiben die Autorinnen. Um die Lebendigkeit ihrer Projekte wie auch ihrer Performance während der GenderRingvorlesung wiederzugeben, schrieben sie ein Drehbuch, das die Agilität ihrer Projekte gut nachvollziehbar macht und beim Lesen neue Räume in den Köpfen der LeserInnen entstehen lässt. Mit dem Text »This is the way we live … and love« führt die Filmwissenschafterin Andrea Braidt in die Welt der US-amerikanischen Fernsehserie »The L Word« ein. Die Serie des TV-Senders Showtime Networks (2004–2009) war 9

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

bis dahin die erste »lesbische Fernsehserie«. »Same Sex – different City« lautete der Werbeslogan für den Serienstart und fungierte damit eindeutig als Anspielung auf die Erfolgsserie »Sex and the City«. Statt in New York spielt »The L Word« in Los Angeles und statt heterosexueller Beziehungen geht es um lesbische Liebes- und Sexverhältnisse. Andrea Braidt zählt »The L Word« zum Genre der TV-Beziehungsserien und interpretiert sie als eine Weiterentwicklung des Melodramas für das Fernsehen, »die ein schier endloses Schauvergnügen im eigenen Wohn- und Schlafzimmer ermöglicht«. Die Autorin lotet in ihrem Text das Potenzial der medialen Konstruktion von Liebesverhältnissen von nahezu ausschließlich lesbischen Figuren aus. Sie verweist in der Folge auf Diskurse der Polyamory (ausgelöst von Dossie Eastons), auf das Konzept der kontrasexuellen Gesellschaft (formuliert von Beatriz Preciado) ebenso wie auf Adrienne Rich, die für ein »lesbisches Kontinuum« argumentiert. Rich tritt für eine lesbische Existenzweise ein, die es allen Frauen erlaube, jedwede Beziehungen und Bezüge zu anderen Frauen zu realisieren, und sich zum Ziel setze, die machtvolle Institution der Zwangsheterosexualität zu subvertieren. In der Serie »The L Word« gehe es – so Andrea B. Braidt – trotz Zugeständnissen an eine »premium-paying straight audience« vor allem darum, zu sehen, wie lesbische Existenzweisen als Alternative zur Heteronormativität medial inszeniert werden und wie diese Inszenierungen Schaulust für ein queeres und interessiertes Publikum bieten. Markus Grassl fördert schließlich im nächsten Beitrag »Von Spiel-Räumen zu espaces d’écritures  : Komponierende Frauen im Frankreich des ancien régime« Interessantes aus der musikalischen Welt des 18. Jahrhunderts zu Tage  : Der Musik­ historiker und ausgebildete Jurist weist darauf hin, dass in diesen Jahren vor der Französischen Revolution viele aristokratische und manche ›hoch‹bürgerliche Töchter und Ehefrauen u. a. auch kompositorisch tätig waren. Besonders erwähnenswert findet Grassl deren Vorliebe für die Komposition von sogenannten Airs  : »Der Air ist ein typisches Beispiel für eine Art von Musik, der eine von absolut gesetzten ästhetischen Werthaltungen ausgehende Musikforschung nur wenig Prestige beigemessen hat […]. Jedoch verweist gerade die ›Einfachheit‹ der Faktur ebenso wie die massenhafte Erzeugung auf die immense kulturelle Relevanz bzw. die Verwendung in diversen musikalischen Praxisbereichen«, schreibt der Autor. Markus Grassl hat die verdienstvolle Arbeit unternommen, diese bislang in der Musikgeschichtsschreibung ohne Namen und Anerkennung gebliebenen Liedkomponistinnen zu »entdecken« und sie für eine Tradierung würdig zu befinden. Dies ist ein wichtiger Beitrag zu einer noch zu schreibenden Sozialgeschichte der Komposition in der europäischen Neuzeit. Wird nämlich 10

Einleitung

von der musikwissenschaftlichen und musikhistorischen scientific community entschieden, dass KomponistInnen nur dann als »groß« zu bezeichnen sind, wenn sie ausreichend viel für die großen Formen von Musik, d. h. große Orchesterwerke, Oper etc., geschrieben haben, dann fallen aus einem solchen definitorischen Maßstab freilich viele Komponistinnen, die aus sozialhistorischen Gründen von einer Komposition großer Formen nur träumen konnten, heraus. Daher zeigt sich »Geschlecht/Gender« einmal mehr als eine für die Musikgeschichtsschreibung essenziell zentrale Kategorie. Markus Grassl erinnert zugleich aber auch an das von Jacqueline Letzter und Robert Adelson konstatierte »flowering of opera by women«, »also [das] bemerkenswerte[n] Phänomen, dass aus der Zeit zwischen 1770 und 1820 insgesamt 54 in Text und/oder Musik von Frauen verfasste Opern bekannt sind«, von denen allerdings in den aktuellen Opernhäusern wenig zu hören wie auch in der Musikgeschichtsschreibung wenig zu lesen ist  : Das aber kann ja auch geändert werden. Die zeitgenössische Komponistin Gabriele Proy gibt Einblicke in ihre Handlungs-SpielRäume als freiberufliche, vom E-Musikmarkt abhängige Komponistin. Sie berichtet über ihre konkreten Arbeitszusammenhänge und die unterschiedlichsten Anforderungen, die eine Künstlerin, die von ihrer Kunstausübung leben muss und will, bewältigen muss. Die (in letzter Zeit in Österreich nicht mehr regelmäßig erscheinenden) Berichte über die soziale Lage von KünstlerInnen zeigten immer wieder, dass es denkbar schwer ist, aus eigener Kunstproduktion ein Existenz sicherndes, regelmäßiges Einkommen zu generieren. Gabriele Proy erzählt, dass auch bei ihr – wie bei so vielen anderen österreichischen KünstlerInnen – der Weg zur Anerkennung in Österreich über ihre internationale Präsenz geführt habe. Diese internationalen Erfolge seien notwendig gewesen, um in Österreich als Komponistin überhaupt einmal wahrgenommen und »gesehen« zu werden. Proy war im Jahr 2005 (!) die erste Komponistin, die in den »Arbeitskreis für Ernste Musik« des (1913 gegründeten) Österreichischen Komponistenbundes nominiert worden war, was einmal mehr zeigt, dass in der Musik und da insbesondere in der Komposition wie auch im Dirigat die Welt nach wie vor tatsächlich eine dominant männliche ist. Die vorliegende Publikation und darüber hinaus die in den US-amerikanischen und europäischen musikwissenschaftlichen universitären Instituten, Musikhochschulen und -universitäten in den letzten 25 Jahren verstärkt aufgetauchten und rezipierten Gender-StudiesForschungen und -Aktivitäten mögen dazu beitragen, dass künftig die Komposition wie auch das Dirigat ein Stück weiter geschlechtergerecht werden. Es bleibt noch viel zu tun  ! 11

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Der nächste Text führt in die Welt der griechischen Tragödie. Am Beispiel der »Bakchen« von Euripides zeigt Steffen Jäger die vielfältigen wie auch spezifisch Gender-relevanten Lesarten des Mythos des »Dionysischen« auf. Der Mythos Dionysos hat in den letzten drei Jahrtausenden zahlreiche DichterInnen, DenkerInnen und KünstlerInnen inspiriert. Ausgehend von Nietzsches Begriff des »Dionysischen« – im Gegensatz zum »Apollinischen« – als ein rauschhafter, der Natur entsprungener, unberechenbarer, an Wahnsinn grenzender lebendiger Zustand, bezieht sich Steffen Jäger in seinem Beitrag auf eine differenzierte Lektüre des Mythos und bespricht dies am Beispiel der »Bakchen« des Euripides. Der Autor beschreibt den Herkunftsmythos des Dionysos, die Gottheit, das Spiel mit den Geschlechtern, die Umkehrung der Rollen von Macht und Herrschaft, von List und Ohnmacht. Gerade die Verwandlungen der Geschlechter und deren Auflösungen, die Entgrenzung zwischen Natur und Kultur sind für den Autor zentrale Motive des Dionysos-Mythos. »›Die Bühne als Kartographie des Schicksals‹ – Die Bühnen des sirene Operntheaters« nennt Isabelle Gustorff, Germanistin und Dramaturgin beim sirene Operntheater, ihren Beitrag, in dem sie das erzähltechnische sowie poetologische Raumkonzept der Regisseurin Kristine Tornquist beschreibt. Das sirene Operntheater wurde 1998 von der Autorin und Regisseurin Kristine Tornquist und dem Komponisten und Dirigenten Jury Everhartz gegründet. »Strategie der Verkleinerung« benennt das Theaterprojekt seine Ambitionen und wendet sich insbesondere der Kurzoper, sogenannten Operellen, zu, die in mehreren Zyklen aufgeführt und von unterschiedlichen Komponisten geschrieben wurden. Isabelle Gustorff zeigt anhand von präzisen Erörterungen und kulturhistorischen Reflexionen einiger Inszenierungen des sirene Operntheaters, wie z. B. der »Körper in seiner plastischen Dimension« konkret zu einem Raum konstituierenden Moment auf der Bühne wird und wie sehr gerade Räume – eine Kategorie der Bewegung und der Zeit – dabei eine tragende Rolle spielen. In ihrem Text vermittelt Gustorff, welche Bedeutungen Gestik und Bewegungen der Figuren in den Räumen einzunehmen vermögen, wie sehr Verwandlungen auf der Bühne raumgreifend wirken, wie einzelne Bühnenobjekte Räume konzentrieren etc. Das sirene Operntheater hat eine eigene, zurückgenommene und doch nahbare Bühnensprache entwickelt und will damit auch auf eine Utopie der Menschlichkeit, des menschlichen Maßstabes verweisen. Unser Dank gilt nicht zuletzt den Autorinnen und dem Autoren für ihre Beiträge und Irmgard Dober für das umsichtige Lektorat sowie Ursula Huber und 12

Einleitung

Michael Rauscher vom Wiener Böhlau-Verlag für die aufmerksame Produktion des vorliegenden Bandes. Last but not least geht unser Dank an Anita Götterer vom IKM (Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft) an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, die unsere – dieser Publikation zugrundeliegende – Gender-Ringvorlesung so engagiert begleitet hat. Ihnen – liebe Leserinnen und Leser – wünschen wir bei der Lektüre des vorliegenden fünften Bandes der Reihe »mdw Gender Wissen« Freude, Muße, Phantasie, Inspiration und nicht zuletzt auch einen großen persönlichen SpielRaum fürs Denken, Tun und Lassen.

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Hanna Hacker

Arme (und) Mädchen  : Eigensinn im Raum feministisch-dekolonialer Protestgeschichte/n Mein Beitrag befasst sich mit Bedeutungsebenen von Widerständigkeit und mit Möglichkeiten, über Widerständigkeit zu sprechen. Ich möchte nicht-normatives Gestalten von (Handlungs-)Räumen sichtbar und im historischen Gedächtnis halten. Zugleich ist es mir wichtig – in Sympathie für Widerständigkeit und Nicht-Normativität –, darzustellen, inwieweit die Produktion von Begehren und Körperlichkeit einerseits und die Produktion von »Ort« oder Raum andererseits zusammenhängen (vgl. Hacker 2007, Sanchez-Eppler/Patton 2000). Ich folge dem thematischen Faden »Eigensinn«, »Aufmüpfigkeit«, »Renitenz« als einer spezifischen historischen und imaginären Form von Widerständigkeit und beziehe mich dabei generell auf feministische Perspektiven in Theorie und Praxis. Ganz konkret wird es zunächst um ein Märchen gehen und anschließend um Frauenbewegungsgeschichte.

Es war einmal Die Kultur- und Sozialwissenschaftlerin Sara Ahmed hat meine Aufmerksamkeit auf ein Märchen gelenkt, das ich als einen Ausgangspunkt meiner Überlegungen setze. Sara Ahmed legt in ihren neueren antirassistischen und queerfeministischen kulturkritischen Analysen einen Schwerpunkt auf otherness innerhalb von Institutionen, auf politische Strategien von Akteur_innen, die zu »Differenten« gemacht und zugleich von einer Mainstream-Politik der Inklusion – Stichwort  : diversity – vereinnahmt werden (Ahmed 2012a). Vor diesem Hintergrund kehrt bei ihr das Thema willfulness immer wieder. Sie spricht vom feministischen »will«, der klassische Konstellationen von (Schein-)Harmonie und vorgeblichem Glück sprenge. Feministinnen – oder auch rassialisierte oder sonstwie markierte Personen – seien prädestiniert dafür, mit ihrer Eigenheit gleichsam willkürlich aufzustören, aufzumischen, als Spaßverderberinnen zu gelten, sobald sie zum Ausdruck brächten, dass ihnen selbst angesichts dominanter Verhältnisse der Spaß vergeht (vgl. Ahmed 2010, 50–87). In der ideengeschichtlichen Perspektive einer »queer history of will« verbinde sich »will« mit einer Tendenz zur Abwei15

Hanna Hacker

chung auch im Sinn einer Ortsveränderung, eines Anderswohin-Gehens. Vor allem nicht-weiße feministische und queere Politik sei eine Politik der Bewegung gegen den Strom  ; ein Moment, das den Mainstream aufhalten wolle. »Willful subjects« legten sich auch mit ihrem Körper que(e)r gegen eine dominante Ordnung (vgl. Ahmed 2010, 88–120, Ahmed 2006). Beim großen internationalen Kongress der Association for Cultural Studies im Juli 20121 in Paris begann Sara Ahmed ihren Eröffnungsvortrag mit dem Zitat einer deutschen Volkssage bzw. eines Märchens (die definitorischen Übergänge sind fließend), das die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm Anfang des 19. Jahrhunderts festgehalten und publiziert haben. Es ist eine ganz kurze Geschichte. Sie heißt bei den Grimms »Von einem eigensinnigen Kinde«, in späteren Textausgaben »Das eigensinnige Kind«, und lautet in der deutschen schriftlichen Überlieferung so  : Es war einmal ein Kind eigensinnig und that nicht was seine Mutter haben wollte. Da hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und es ward krank, und kein Arzt konnt’ ihm helfen und bald lag es auf dem Todtenbettchen. Als es ins Grab versenkt war, und Erde darüber gedeckt, kam auf einmal sein Aermchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber legten, so half das nicht, er kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selber zum Grab gehen und mit der Ruthe auf das Aermchen schlagen, und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein und hatte nun erst Ruh unter der Erde. (Grimm 1815, 172)2

Grimmig … Die Brüder Grimm sammelten und veröffentlichten Märchen und Sagen, als sie nach Abschluss ihres Studiums in Geldnöten waren, und hatten mit ihren Büchern dann großen Erfolg. Sie ließen sich in ihrem bürgerlichen Bekanntenkreis die Geschichten erzählen, wie Freunde und Freundinnen sich an sie erinnerten  ; sie glätteten und beschönigten dann ein wenig, eliminierten beispielsweise zu deutliche sexuelle Bezugnahmen und verliehen ihnen, wie es dem Kontext des frühen 19. Jahrhunderts gemäß war, teils romantisierende Tendenz, teils biedermeierliche Überformung.3 Dass sowohl Romantik als auch Biedermeier stark nationalistisch geprägt waren, bleibt hier zu assoziieren. Es gibt berühmtere und weniger berühmte Auseinandersetzungen mit dem Märchen vom eigensinnigen Kind.4 Eine für den Kontext linker Theoriebildung wesentliche Bezugnahme findet sich im Buch »Geschichte und Eigensinn« von 1981. Der Philosoph und Historiker Oscar Negt und der Filmemacher und Filmtheoretiker Alexander Kluge beschäftigen sich darin vor dem Hintergrund 16

Arme (und) Mädchen  : Eigensinn im Raum feministisch-dekolonialer Protestgeschichte/n

deutscher politischer Geschichte mit dem »Arbeitsvermögen«, mit menschlicher und gesellschaftlicher Arbeitsfähigkeit. Welche Bedeutung hat die Veränderung von Materie durch Menschen  ? Wie sind Arbeit, »Kampf-Arbeit« und Krieg historisch verbunden  ? Negt und Kluge definieren Eigensinn gleichsam als das, was in der Entfremdung durch Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse »übrig bleibt«. Eigensinn, vom Subjekt vor- und eingebracht, werde den (kapitalistischen) Arbeitslogiken entgegengesetzt und manifestiere sich stark auch im Körper der Ausgebeuteten, der von Arbeit/Ver-Arbeitung Markierten. Die Autoren argumentieren dies in vielerlei historischen Häppchen, in Exkursen, Kommentaren und Bruchstücken, die kreuz und quer gelesen werden können und sollen, in zahlreichen Illustrationen und Textkästen, Kommentaren und Exkursen (Negt/ Kluge 1981). Auf Seite 765 des beinahe 1300 Seiten umfassenden Bandes – begraben, aber leicht zu finden – zitieren sie die Geschichte vom eigensinnigen Kind. Sie bestimmen »Eigen-Sinn« hier als »eigener Sinn«, als »Eigentum an den fünf Sinnen« (Negt/Kluge 1981, 766) und fragen, was der Grausamkeit der Mutter gegenüber diesem Anspruch an den eigenen fünf Sinnen des Kindes vorangegangen sein muss. […] die Strafe, die das eigensinnige Kind bis unter die Grabdecke hinein erfährt, ist die moralische Antwort auf eine vorausgegangene kollektive Enteignung der Sinne, die nicht geglückt ist. Wäre sie gelungen, bedürfte es nicht der Verfolgung bis ins letzte Glied  ; der traumatische Schrecken sitzt für Jahrhunderte in den Gliedern der Gesellschaft. […] Der Eigensinn ist das, was über das Grab hinaus hartnäckig fortwirkt. Er kann nicht getötet werden oder selber sterben. Er zieht sich lediglich hinein. […] Eigensinn [lebt] unter der Erde fort, als kollektive Erinnerung, die nur durch ein gesondertes Ritual der Versöhnung zu brechen ist, nicht durch den einfachen Tod. (Negt/Kluge 1981, 766 u. 767)

Das heißt, Negt/Kluge lesen in diesem Märchen Eigensinn als Resultat einer (versuchten) »Enteignung der eigenen Sinne«, als einen »Protest gegen Enteignung« (Negt/Kluge 1981, 766), der historisch bestraft wurde, aber nicht zu vernichten war. Sara Ahmed wiederum geht in ihrem Vortragstext »A Willfulness Archive« (Ahmed 2012b) natürlich (?) von einer englischen Fassung der Sage aus. Diese lautet  : 17

Hanna Hacker

The Willful Child. Once upon a time there was a child who was willful, and would not dowh as her mother wished. For this reason God had no pleasure in her, and let her become ill, and no doctor could do her any good, and in a short time she lay on her death-bed. When she had been lowered into her grave, and the earth was spread over her, all at once her arm came out again, and stretched upwards, and when they had put it in and spread fresh earth over it, it was all to no purpose, for the arm always came out again. Then the mother herself was obliged to go to the grave, and strike the arm with a rod, and when she had done that, it was drawn in, and then at last the child had rest beneath the ground. (Ahmed 2012b, o. S.)5

Zwei evidente und bedeutsame Verschiebungen passieren hier  : Erstens ist das Kind nun eine »Sie«, ein Märchenmädchen, gleich vergeschlechtlicht wie die Mutter.6 Zweitens hat das eigenwillige Märchenmädchen »arms« an der Stelle der originalen »Ärmchen«, einen Mädchenmärchenarm also, nicht ein Märchenärmchen oder Märchenmädchenärmchen und schon gar nicht ein bloßes Kindermärchenärmchen. Ein zum Fürchten böses Mädchen. Dies gibt Hoffnung. Ahmed setzt in ihrer weiteren Interpretation spannende und wichtige Schwerpunkte. Sie diskutiert das historische Bild der Organe eines Gesellschaftskörpers, von dem Subjekte Teil werden sollen und müssen, damit das Ganze funktioniert. »Teile« brauchen dementsprechend Disziplinierung, Normierung und Fürsorge, andernfalls erheben sie sich in Widerstand. Diese Deutung treffe auf Staatskörper zu, aber auch auf Familiengenealogien. Das einzelne Mitglied hat in den Hintergrund zu treten und sich einzufügen. Erst wenn Widerständigkeit, willfulness, eigensinnige Politik Platz greifen, offenbart die übergeordnete Institution ihre gewalttätige Seite in vollem Ausmaß. Wer Gewalt, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie etc. benennt, wird als eigensinnig, als eigenwillig bestimmt und erfährt strafende Entgegnung. Ahmed arbeitet viel mit Sprach- und Wortspielen, insbesondere rund um den will (»Eigensinn« etwa mit obstinacy, zu übersetzen, wie es immer wieder üblich ist, hätte da weit mehr Schwierigkeiten geboten …), auch rund um die arms, die Arme als Waffen. Sie artikuliert zuletzt einen call to arms, einen Aufruf zur Widerborstigkeit, zur Besinnung auf eine feministische und antirassistische Politik des Eigensinns (Ahmed 2012b, o.S.). Wenn wir uns auf diese Genealogie besinnen, muss Sojourner Truth Erwähnung finden, die Schwarze USamerikanische Wanderpredigerin und vormalige Sklavin, die sich 1851 in ihrer berühmt gewordenen Rede »Ain’t I a Woman  ?« von der bürgerlichen Defini18

Arme (und) Mädchen  : Eigensinn im Raum feministisch-dekolonialer Protestgeschichte/n

tion der schwachen Frau distanzierte und dabei ausdrücklich auf die Kraft ihrer Arme verwies  : That man over there says that women need to be helped into carriages, and lifted over ditches, and to have the best place everywhere. Nobody ever helps me into carriages, or over mud-puddles, or gives me any best place  ! And ain’t I a woman  ? Look at me  ! Look at my arm  ! I have ploughed and planted, and gathered into barns, and no man could head me  ! And ain’t I a woman  ? I could work as much and eat as much as a man – when I could get it – and bear the lash as well  ! And ain’t I a woman  ? (Truth 2000, 66)

Schwarze Mädchen Die enteigneten Sinne also und der Protest des unterdrückten Subjekts gegen diese Enteignung, der sich nur gewaltsam verdrängen, nicht vernichten lässt (nach Negt/Kluge), die Wendung des Blicks hin zum Feministischen, der Ruf zum Aufstand, die Erinnerung an das Potenzial von Widerborstigkeit auch des Körpers (bei Ahmed)  : Dies sind ohne Zweifel wichtige Eckpunkte für eine Analyse von Protestgeschichte(n). Mir scheint aber, die Sage vom eigensinnigen Kind birgt noch weitere Erzähl- und Erkenntnisschichten zum Thema »Protest« in Referenz auf Räume, Körper und Geschlecht. Auf einige davon möchte ich im Folgenden eingehen. Aus meiner Sicht als Historikerin gilt es zunächst, die historische und geopolitische Verortung des Märchens bzw. seiner schriftlichen Überformung zu reflektieren. Das frühe 19. Jahrhundert in deutschen Staaten, das bedeutet Napoleonische Feldzüge und deutsche »Freiheitskriege«, »Sieg« schließlich, geopolitische Neuordnungen beim Wiener Kongress, Gründung des Deutschen (Staaten-)Bundes und beginnender Vormärz. Die sozialgeschichtlichen Umbrüche in den Produktionsverhältnissen und in den Geschlechterverhältnissen betreffen, jedenfalls in klassischer feministischer Narration (vgl. Hausen 1976), den Beginn einer folgenschweren Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit und einer strikt separierenden Zuordnung der Geschlechter – zeitgenössisch definiert als »Geschlechtscharaktere« – zu je einer dieser Sphären/Räume. Mütter mitsamt ihrem Auftrag zu Straf- oder Befriedungsaktionen sind auf dem historischen Weg, »qua Natur« Zuständigkeit für den Raum des Kindes zu übernehmen. Die prägende Kraft der Standesgesellschaft schwindet  ; Frauen/Mütter werden nunmehr (um es ein wenig verkürzt zu sagen) weniger etwa als Teil einer bäuerlichen 19

Hanna Hacker

oder adeligen Schicht definiert, sondern zunehmend als im »Innenraum« und schließlich im Raum der Gefühle verortete Geschlechtswesen. In den Text des Märchens schleicht sich nun, meiner Lesart zufolge, das UnHeimliche der genannten historischen (Neu-)Ordnungen ein. Die Mutter unterliegt dem »Muss« eines göttlichen Auftrags, der der familialen Order ganz deckungsgleich zu entsprechen scheint. Um ihn zu erfüllen, geht sie allerdings »zum Grabe«, lesbar als  : »hinaus«, weg aus dem ehelichen Beziehungsraum, hin zur Stätte, an der Gruseliges sich ereignet. Ihr Handeln changiert eigentümlich zwischen »Natürlichkeit«, vielleicht gar »natürlicher Weiblichkeit«, und einem befremdlichen Automatismus. Wollen Gott und/oder Ehemann sie in der alten Gesellschaftsordnung halten oder sie in die neue zwingen  ? Ein Ehemann wird im Text gar nicht genannt  ; deutet die Dyade Mutter/Tochter auf das Geheimnis eines Gatten- oder Vatermordes hin  ? (Vgl. dazu Weber 1993) Zugleich zieht sich ein militärisches Moment durch die glatte Erzählung. Sie enthält kein überflüssiges Wort, keine Ausschmückung, kein Zögern. Ein Komma nach dem anderen, und dann ist auch schon alles geschehen. Duktus und Rhythmus machen gezwungen, einen Ausweg gibt es nicht, die Mutter handelt selbst wie automatisiert. Sie »muss«, alle »müssen«  ; wie steht es denn mit den Empfindungen  ? In der Ordnung dieses Märchens gibt es keine Emotionen, keine Trauer, keine Tränen der Eltern, kein Verzweifeln an Gott oder an der Kunst der Ärzte, der Ärmchenärzte, der Armenärzte. Die Perspektive, sich historisch zu familialer Biedermeierlichkeit zu formieren, hat der Eigensinn des Kindes wohl gesprengt, aber auch romantische Bindungen werden ausgeschlossen. Hier ist kein Platz für Kindertotenlieder, wie etwa Friedrich Rückert sie 1834 nach dem Tod zweier seiner Kinder verfasste (vgl. Rückert 2007). Im Unterschied zu anderen Grimm’schen Märchen bildet zudem die Darstellung der Erlebniswelt des Kindes eine Leerstelle  ; zu seinen Ängsten, seinen Freuden oder seiner Traurigkeit wird nichts formuliert. Den Erzähler_innen erscheint das historisch noch nicht ganz Vollzogene familiärer, geschlechtlicher und nationaler hierarchischer Systeme wie auch das sich ankündigende Verschwinden von Standesordnung und religiöser Selbstverständlichkeit wenig geheuer. »A grim story« (Ahmed 2012b, o.S.) läuft auf das Muss der Wiederherstellung von Ruhe hinaus. Der Eigensinn erhebt hiebei keine eigene Stimme, er erhebt sich nur in einer sich wiederholenden Geste, und sein Ort liegt in einer Zwischenwelt. Historisch gesehen hatte das Kind noch gar nicht lange seine eigene Kindheit, gilt diese ja als kulturelle »Entdeckung« im europäischen Kontext von Aufklärung und Französischer Revolution (vgl. Ariès 1975). Volksmärchen erzählen von Kindern, aber zeitgenössisch galt ihr Arbeitsvermögen als von dem erwach20

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sener Personen qualitativ nicht unterschieden. Ihr Wünschen und ihr Begehr ebenso  ? Der Eigensinn des grimmigen Märchenkindes äußert sich evident (und doch weder bei Negt/Kluge noch von Ahmed so benannt) als Begehren, als eine Form posthumen phallischen Begehrens schließlich. Immer wieder kommt das Ärmchen in die Höhe, nimmt seine Begierde sich Raum und sorgt dieses Raumbegehren für Unruhe. Sex stört und stört auf – und führt, wie er hier erzählt wird, sogleich zu Foucaults These von der »Pädagogisierung« des kindlichen Geschlechts (Foucault 1983, 125), die als eine von vier zentralen Strategien Sexualität in Europa als Macht/Wissens-Dispositiv ab dem 18. Jahrhundert hervorgebracht und gekennzeichnet habe. Für Pädagogisierung steht hier allerdings noch ganz unmittelbar Unterdrückung, Niederringung des Begehrens, und zwar in Form von Kastration durch die Mutter, außerhäuslich dort am Grabe. »Eigensinn« muss meines Erachtens sozial und sexuell gelesen, kurzum  : als »Aufbegehren« übersetzt werden. Dabei erweist sich die aufständische Begehrlichkeit als in zwei Richtungen deutbar  : Zum einen bedeutet Begehren in dieser unheimlichen und doch Hoffnung bergenden Geschichte Begehren nach sich selbst, nach Verfügung über den eigenen Körper, dabei letztlich ein final anmutendes Arrangement mit der Tatsache, dass der Körper allein als Mittel zur Selbst-Setzung übrig bleiben mag, sofern angesichts von Strafe und Vernichtung überhaupt noch »bloßes Leben« bestehen kann, um es mit Agamben zu sagen (vgl. Agamben 2002). Zum anderen wird hier, bei aller lakonischen Kürze, Begehren als unabgeschlossenes, ganz und gar nicht finales, vielmehr potenziell unendlich vielzähliges und vielgestaltig fragmentierbares angedeutet. Judith Butlers Ausführungen zum »lesbischen Phallus«, also die Idee der symbolischen Aneignung und machtvollen Umdeutung eines Körper- bzw. Sinnbildes männlicher Ordnungsmacht, kommen der Märchenleserin hier in den (Eigen-)Sinn (vgl. Butler 1995, 85–127). Etwas »geht los«, da mit dem Arm gleichsam ein »beliebiger« Körperteil als Akteur der Lust sichtbar gemacht wird. Dieser Eigensinn schickt polymorphes Begehren in den Raum der Lebenden, im besten queeren Sinne »perverse« Begierde, die nicht genital sein muss, sondern unvorhersehbar erprobt, welche Oberfläche sie genießen kann und wo sie an die Oberfläche gelangt. Freilich erscheinen Begehren, Geschlechtlichkeit, Widerborstigkeit und letale Maßregelungen doch dominant duster gerahmt, »schwarz«. Was hat es mit dem Dunkel und der Schwärze auf sich  ? Nicht einfach als »problematically« formuliert (Ahmed 2012b, o.S.) möchte ich abtun, dass ein historisches Erziehungsprinzip seit dem gleichnamigen Buch von Katharina Rutschky aus den 1970er-Jahren »schwarze Pädagogik« heißt. Verdrängt (im Sinn historischen Nicht-Erinnern-Wollens) und verdrängend (auf »Triebabwehr« gerichtet) 21

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habe dieses Erziehungsprinzip Gewalt eingesetzt  ; Körperstrafen, Manipulation, Missbrauch und gewaltsame psychische Zurichtung, um den Willen des Kindes nachhaltig zu brechen und unbedingten Gehorsam an die Stelle der willfulness zu setzen (vgl. Rutschky 1977). Dieser Umgang mit Kindern, mit dem »Kinder­ fehler des Eigensinns« (Grünewald 1977 [1899]), ausgearbeitet im 18. Jahrhundert, lebt in weitergegebenen Märchen fort,7 deren Archetypik Kinder brauchen und lieben, jedenfalls, wenn »mit Liebe erzählt« (Bettelheim 1983, 35). Der Grund, warum Kinder Märchen/kinder liebten, liege darin, dass diese Erzählungen von ihnen erlebte psychische Konflikte offenlegten und ihre Probleme als Heranwachsende der Bewältigung zuführten  ; sie zeigten richtige Lösungen und gingen typischerweise gut aus, schreibt der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim. Dass als Happy End gelten soll, dass/wenn Ruhe einkehrt, vermag mich allerdings aufs Äußerste zu beunruhigen. »Schwarze Romantik« ist der Begriff, der sich in meiner Assoziation hier anschließt  : Die dunkle Seite auch der deutschen Romantik beinhaltet Imaginationen des Morbiden und Makabren, Erotiken der Grausamkeit und Faszination des Todes, Phantasmen des Satanischen, stilprägende Schauerromane und Verknüpfungen einer tödlich-üppigen »romantischen« Bilderwelt mit Orientalismus. Mit orientalisierenden Zuschreibungen schuf das abendländische Subjekt ein »fremdes Morgenland« als phantasmatischen Ort des eigenen Begehrens. Schwarze Romantik speist sich schließlich zu weiten Teilen aus Fantasien zur Figur der grausamen Frau, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts noch prägnanter formt, einen kulturellen Beginn aber in der Gestalt der belle dame sans mercy nimmt, in der gnadenlosen schönen Frau schon der höfischen Literatur des Spätmittelalters (Praz 1981, vgl. auch Dijkstra 1986). So gesehen, verweist das Märchenkind auf einen traditionsreichen Wunsch nach der Gestalt der grausamen Frau/Mutter  ; auf ein patriarchales, familienlogisches und Gottvatergerechtes Begehren, das auf der Kehrseite von Unterdrückung und Befriedung die Lust an Befriedigung als Züchtigung situiert  : im Un-Heimlichen der Grabstelle. In besonderer Weise abgründig und herausfordernd scheint mir die Frage nach dem »Nachher«. Was ist nach dem Happy End dieses Märchens  ? Das Kind hat seine Ruhe, sein Begehren ist still gemacht und stillgelegt, nach dem letzten Schlag der Mutter mit der Rute rutscht das schlimme Ärmchen an seinen Platz, alles ist unten, geweihte Erde deckt zu, keine Bewegung ist mehr auszumachen. Es gibt nichts zu hören außer Friedhofsstille und Grabesruhe, nichts wahrzunehmen außer Schwarzfilm, nichts als sensorische Deprivation, die auch Folter sein kann. 22

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Unten, im schillernden Dunkel, in trügerischer Ruhe, totgeschlagen wie totgeschwiegen, leben abgründig die Körper und Seelen der Untoten. Das Verdrängte ist nicht tot, und wer weiß schon, ob die Seele des eigensinnigen Kindes nun als erlöst gelten darf  ? Gespenstische und unheimlich rachsüchtige, nie erlöste Wiedergänger_innen gehen um und erinnern an die Grenzen der Seelenruhe einer bürgerlichen Gesellschaft mit Über-Vater Gott und funktioneller Mutter, die einsieht, dass Eigensinn nicht gut tut. Im europäischen »Volksglauben« stellt die Gestalt des untoten Wiedergängers einen zentralen Topos dar. Über dieses Motiv der potenziellen Wiederkehr des Verdrängten hinaus nehme ich in der Grimm’schen Geschichte vom eigensinnigen Kind, das ein Mädchen gewesen sein könnte, auch einen leisen kolonialen Widerhall wahr. Die Zeit, da sogenannten »edlen Wilden« von ihren »Entdecker_innen« und Kolonialisator_innen ein Stück wie auch immer kulturalistischen, immanent imperialistischen Respekts entgegengebracht wurde, nähert sich um 1800 schon länger ihrem Ende. Die Bewohner_innen exotischer Länder »drüben«, »unten«, »jenseits« trotzen der Disziplin wie Kinder und müssen ihrem Seelenheil – und, im Foucault’schen Sinne, ihrem Sex – zuliebe gezüchtigt, befriedet, bestraft werden. Nie ist jedoch gewiss, ob sich im Dunkel, in das sich ihr Eigensinn zurückgezogen hat, nicht auch bedrohliche Geister formieren, heimtückische Krankheiten, mächtige Hexenmeister, eine Magie, die im schlimmsten Fall dann stärker ist als die göttliche und familiale Ordnung ihrer Herren und »Entdecker« (vgl. dazu auch Carter 1996, Hacker 2005a). Die finsteren Projektionen des »schwarzen Kontinents« beförderten die Praktiken der schwarzen Pädagogik und öffneten Ventile für Phantasmen, die in »schwarze Romantik« überhöht wurden. Das Schwarze Mädchen spukt am unheimlichen Ort des weißen Unbewussten, ohne einen Laut, aber mit widerborstigem Körper.

Was wiederkehrt Eigensinnigkeit, dies stellten, wie oben ausgeführt, ja schon Negt/Kluge fest, will und kann nicht sterben, sie kann sich allenfalls zurückziehen, und dementsprechend kehrt sie wieder. Die »Wiederkehr« soll im Folgenden eine Metapher bleiben, mit der sich an der Genealogie sozial- und kulturhistorischer Topoi arbeiten lässt. Im nächsten Teil meiner Ausführungen möchte ich also Elemente der Erzählung und Performance von Eigensinn mitsamt seinen Körper-, Begehrens- und räumlichen Dimensionen, wie ich ihn bisher anhand des Grimm’schen Märchens betrachtet habe, in verschiedenen kulturellen Produktionen skizzieren, 23

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insbesondere in feministischen. Dabei unterscheide ich zunächst Bezugnahmen auf den Begriff »Eigensinn«, dann die Wiederholung bestimmter »eigensinniger« Motive und schließlich Eigensinn als eigenständige Form von (politischem) Protest. Es gab in Österreich einen interessanten Versuch, den historischen Begriff des Eigensinns für feministische Kunstproduktion im Kontext der Neuen Frauenbewegung zu adaptieren, nämlich das internationale Ausstellungsprojekt »Kunst mit Eigen-Sinn« 1985 im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien. Die Titel großer Events mit Ausstellung, Debatten, Publikationen und multimedialen Zugängen zu feministischen künstlerischen und kulturtheoretischen Positionen lasen sich im Umfeld der Neuen Frauenbewegung in Österreich mehrmals anspruchsvoll, so 1975 die von Valie Export konzipierte »Magna. Feminismus  : Kunst und Kreativität« in der Wiener Galerie nächst St. Stephan oder das Festival »Andere Avantgarde« 1983 im Linzer Brucknerhaus. Was ließ die Kuratorinnen und Organisatorinnen zum Begriff des Eigensinns greifen, und wie bringen sie ihn mit der »Kunst« zusammen  ? Im Vorwort zum Katalog bezieht sich Valie Export affirmativ auf Hegel und seine Definition der »Weltgeschichte« als »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« (Export 1985, 7). In einer normativen Schreibbewegung setzt sie »Fortschritt«, »Kunst«, »Freiheit« und »Individualität« in engen wechselseitigen Zusammenhang  : Wenn wir Freiheit als Sinn der Geschichte und Individuation als Sinn der Kunst verstehen, dann konvergieren Individuation und Freiheit im Begriff Eigen-Sinn, ebenso wie Kunst und Geschichte. […] Kunst mit Eigen-Sinn ist also eine Art doppelter Behauptung, denn sowohl Kunst wie Eigen-Sinn haben als telos und Rede die Freiheit des Individuums. Insoferne ist Kunst Eigen-Sinn und Eigen-Sinn ident mit Kunst. Eigen-Sinn ist Forcierung dessen, was in der Kunst selbst schon angelegt ist. (Export 1985, 7 f.)

Cathrin Pichler eröffnet8 mit einem Räsonnement zum Begriff Eigensinn, das sich stark aus Negt/Kluge speist und sich an der Idee der Widersetzlichkeit gegenüber dem »Gesetz« orientiert. Eigensinn diene gewissermaßen als gemeinsamer Nenner der beiden gegenläufigen (Argumentations-)Bewegungen, die die Textproduktion zur Ausstellung – und generell, in ihren Worten  : »den weiblichen Diskurs« – durchzögen, nämlich die Bejahung von Differenz und die Kritik an Ungleichheit (Pichler 1985, 11). Ihr Text endet weitab von Negt/Klugeschen Definitionen. Eigen-Sinn gehört, wie es schließlich scheint, ganz uns (uns Kri24

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tikerinnen des Weiblichen und des Feministischen  ?), da zum Synonym eines »Beharren(s) des Weiblichen auf seinem Da-Sein« (Pichler 1985, 11) geworden. Die grim story des Eigensinns aber bleibt ja nicht beim Begriff stehen, sondern bündelt konkrete Motive. Das Motiv der begehrlichen Körperteile, der Gliedmaßen, Arme und Ärmchen, die ihre eigene Wahrheit sprechen, die das Verborgene, Versteckte, Begrabene, das nur im Dunkeln Auffindbare sichtbar machen und verraten, indem sie es und sich behaupten, durchzieht im 20. Jahrhundert – wie es dem Naheverhältnis zwischen Psychoanalyse und Kino gemäß erscheint – spätestens seit dem Horrorklassiker »Orlacs Hände« (1924) insbesondere das Medium Film  ; Leinwandmärchen und -sagen also und SciFis9. In »Dr. Strangelove or  : How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb« (»Dr. Seltsam oder  : Wie ich lernte, die Bombe zu lieben«) von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1964 etwa agiert der dämonische, wahnsinnige Wissenschaftler im Rollstuhl, dessen Rechte (Arm und Hand) ein Eigenleben führt. Der Arm reckt sich zum Hitlergruß, die Hand im schwarzen Handschuh fährt hoch zur Kehle und würgt ihren Besitzer. Er, der mit deutschem Akzent spricht, schlägt auf die verräterisch vorgestreckte Rechte dann ein oder befreit sich mit letzter Kraft aus ihrem Würgegriff.10 Das Verhalten von Dr. Strangeloves rechter Extremität erinnert an die Präsenz des Nationalsozialismus, der in Gestalt eines Wiedergängers, dessen Körper und Geist nicht unterzukriegen waren, noch den Weltuntergang überleben und von ihm profitieren will  ; sie repräsentiert verkörperte Ambivalenz, trachtet sie ihren Träger doch auch an dieser Bejahung des Weltuntergangs zu hindern. Eine deutlicher queer-feministische Assoziation wiederum führt zum Film »I.K.U.« von Shu Lea Cheang ( Japan 2000), einem Cyber-Porno-SciFi, in dem ein Großkonzern Replikant_innen losschickt, um für eine kommerzielle Datenbank Orgasmusdaten zu sammeln. Die weiblich markierte Protagonist_in Reiko – ein_e Cyborg oder eben eher eine ganz non-humane Replikantin – gerät auf ihrer Mission an einen Virus, eine »Frau« namens Tokyo Rose, den die Konkurrenz ins Rennen gesandt hat und von dem sie lahmgelegt wird (vgl. auch Jacobs 2003). Das Medium, mit dem Reiko Orgasmen speichert, ist ihr zum Dildo ausfahrbarer Arm. In einer künstlichen Welt künstlicher Körper und Begierden erzeugen Arm und Hand einer Frau, die keine ist, Lust und konservieren die Lust zugleich, machen sie vermarktbar und stehen doch für die Autonomie von Körperteilen, die sich ausfahren und einziehen, die sexuelles Wissen generieren, es aufbewahren und distribuieren, die sich in Sexualorgane verwandeln und dann wieder ganz etwas anderes bedeuten. Feministische Cyborg-Theorien verweisen ja seit den 1980er-Jahren auf die verschwimmenden Grenzen zwischen Natur und Kultur, Körper und Maschine, Mensch und Tier (Haraway 25

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1991). Auch Trans- und Queer-Theoreme stellen darauf ab, dass Insignien des Geschlechts, phallische allzumal, demontiert und anderswo wieder »aufgesetzt« werden können (z. B. Garber 1993, 93–117, Butler 1995, 85–127). Reiko wird zu einem eigensinnigen Mädchen, das gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebt  : Ihre Systeme fahren wieder hoch, als sie lernt, sich selbst sexuell zu befriedigen. Mit ihrer Hand. Den Topos der aufständischen Hände und Arme kennen wir nicht zuletzt aus Kontexten des politischen Protests und seiner Bilder. Wenige Stereotype werden so gern despektierlich zitiert und verächtlich gemacht wie der »gereckte Arm« und die »geballte Faust«, wenn es gegen linken Protest geht.11 Zwar reckt und ballt es sich auch im Umfeld der Rechten, der reaktionären Regime und der faschistischen Aufmärsche, aber der wiederkehrende Eigensinn des unterdrückten, des getöteten Kindes scheint doch eher ein linker Eigensinn zu sein. Willful arms sind lieber linke Arme, die nur unter Gewaltanwendung auf ihre renitente Sichtbarkeit verzichten. Und als Mädchenärmchen sind es Frauenarme, die sich feministisch zeigen  ; die mit der Mutter ringen müssen, damit »weiblicher« – vielleicht eher  : »un-weiblicher« – Aufstand möglich wird. »Wenn unser starker Arm es will«, drohte schon historisch die frühe Arbeiterbewegung  ; »el pueblo unido jamas será vencido« war der kollektive Reminder, dass der Kampf weiterging, in Chile, in Kuba, in Spanien, in Portugal, in Griechenland, überall. Frauenbewegungen schlossen an und definierten neu. Die als phallisch gedeutete, dann aber feministisch angeeignete Faust durchbrach in der Bildersprache der Anfangsjahre der Neuen Frauenbewegung den Kreis, der den oberen Teil des »Frauenzeichens« bildet. Das zunächst in der Biologie gebräuchliche Weiblichkeitssymbol, ein Kreis über einem Kreuz, auch als Symbol für »Venus« verwendet, wurde feministisch als einschließender Zirkel der patriarchalen, göttlichen, familiären Ordnung gedeutet  ; die geballte Faust schließlich wollte den Venusspiegel symbolisch zum Bersten bringen (vgl. Hacker 2013, 210–213). Zwei (hochgehobene) Hände, deren Zeigefinger und Daumen sich spreizen und an den Spitzen aneinander liegen, brauchte es für das Vulva-Symbol, das deutlicher an sexuellen Eigensinn gemahnte, sich allerdings weit weniger durchsetzte als Faust-imKreis-Variationen. Neben dem Motiv der eigensinnigen Körperteile wäre schließlich der Topos des unbotmäßigen Kindes nachzuzeichnen. Nicht nur Volksmärchen und Grimm’sche Sagen aus dem Vormärz wissen, wo die schlimmen Kinder wohnen und was aus bösen Mädchen wird. Die Figur des bösen Mädchens ist eine machtvolle, und über ihre Repräsentation in der Kunst- und Kulturgeschichte lassen sich Bände schreiben. Man/Frau denke an Nabokows Romanfigur Lolita 26

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und Wedekinds Dramengestalt Lulu, an ungehorsame »Trotzköpfe« im Mädchenroman des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an Mädchengangs in TV-Soaps und mörderische Kinder in Horrorfilmen (vgl. Möhrmann 2012). Aus frauenbewegungsgeschichtlicher Perspektive scheint bedeutsam, dass böse Mädchen in den 1990er-Jahren vielgestaltig (und) populärkulturell zu Sprache, zu Selbstrepräsentation, schließlich in Mode kamen, von »Riot Grrrls« in der Musik über »Bad Girls« und »Bad Women« an Ausstellungswänden hin zu den subversiven »Ladyz« … (vgl. Hacker 1998, 9 u. 287, und Reitsamer in diesem Band).

Protest ist Zur (Wiederkehr der) »Form« von Eigensinn ist noch ein wenig weiter auszuholen, wenn – wiederum in feministischer Perspektive und unter Bedachtnahme auf Relationen von Begehren und Ort, Körper und Raum – den Verbindungen der Form des »individuellen« Eigensinns zu kollektiv(er)en Formen von Protest nachgegangen werden soll. Revolution ist, sagen uns klassische marxistische Theorien, wenn Arbeiter_innen die Produktionsmittel übernehmen  ; wenn die selbst-bewusste ausgebeutete Klasse Eigentums- und Produktionsverhältnisse umwälzt. Revolution ist, sagen uns politikwissenschaftliche Deutungen zu Ereignissen beispielsweise jüngst in Ländern des nördlicheren Afrika, wenn eine große Zahl an Menschen sich so wirksam erhebt und protestiert, dass das Regime weichen muss und stürzt und neue Verhältnisse vielleicht möglich werden. Mit dem Begriff Widerstand verbindet sich (politisch) zumeist am schnellsten der Widerstand gegen den Nationalsozialismus bzw. gegen faschistische Regime  ; Aufstand bedeutet ein wenig punktuelleren, dabei organisierten Protest, bei dem es den Akteur_innen um die Aneignung von Herrschaft geht  ; Protest wiederum erscheint individueller denn Revolution, nicht ganz so umfassend, mehr im Alltag verhaftet, begleitet von der größeren Schwester Rebellion (vgl. u.v.a. Arendt 1963, Gramsci 1995, Marx/ Engels 1973). Aber Subjekte können auch einfach stur sein, starrsinnig, obstinat, trotzig, widerborstig, widerspenstig, ungezähmt. Das märchenhaft eigensinnige Kind ist keinen Volksaufständen angeschlossen, es scheint aus der historischen Verortung kollektiver Widerständigkeiten zu fallen und repräsentiert sie, wenn wir den Interpretationen folgen, doch auch exemplarisch. In den – mehrheitlich westlichen – Neuen Frauenbewegungen ab den 1960er Jahren kommt, heißt es manchmal, tatsächlich etwas ganz Neues in die Welt, eine neue Vision der Freiheit und eine Ausarbeitung von Protestformen, die es 27

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in dieser Form zuvor nicht gab. Westliche Frauenbewegungen versuchten, Freiheit auf der Ebene des Politischen zu instituieren und das künftig Mögliche durch kollektives Handeln radikal zu entfalten (Zerilli 2010  : 99–130, vgl. auch Arendt 1960, Hacker 2013).12 Manche Ansätze definierten den feministischen als Guerilla-Kampf in Parallele zu Guevara, Castro oder auch Mao, da es darum ging, den Antagonismus geschlechtlicher Machtverhältnisse kämpfend an Orten sichtbar zu machen und auszutragen, wo Attacken historisch nicht vorgesehen waren, nämlich im Raum des Privaten, in der Familie, in den persönlichen Beziehungen.13 Feministisch-anarchistische Orientierungen knüpften an »68er«-Slogans wie »Die Phantasie an die Macht« oder auch »Keine Macht für Niemand« an (vgl. Hacker 2013). Der Begriff der Subversion wurde relevant und politisch identitätsstiftend, noch ehe »alle« Foucault gelesen hatten. Als ein geflügeltes Wort von vielen können – im deutschsprachigen Raum – die »Listen der Ohnmacht« gelten  : historische Aufmüpfigkeiten von Frauen, die trachteten, zugeschriebene Ohnmächtigkeit ins Widerspenstige zu wenden (Honegger/Heintz 1981). Global-geografisch war der Ort der genannten Widerstandsverständnisse natürlich klein, er war weiß, er war westlich. In stärkerem Maß minoritär positionierte Frauen hingegen organisierten sich »anders«, hieß es von einem Anfang an, beispielsweise nicht (so) separatistisch, und sie hätten teils »andere« Anliegen – beispielsweise eher ihr Überleben als ihre sexuelle Selbstentfaltung (oder ist dieser Blickwinkel nicht doch schiere ideologische Projektion  ?). Der feministische Mainstream musste sich mit – auch bewaffneten – Freiheitskämpfen wie etwa denen in Algerien gegen die Kolonialmacht Frankreich nicht direkt verstricken. Dabei gilt doch, dass die Archive westlicher Frauenbewegungen, auch die Quellen ihrer Deutungsmacht, außerhalb der Begrenzungen des Westens liegen, dass Akteur_innen und Formationen wie die erwähnten Guerillakämpferinnen oder aufständische Genossinnen in Palästina, Chile, China zu den wichtigsten phantasmatischen Identifikationsfiguren im westlichen Feminismus vor allem der 1970er Jahre zählten (vgl. Rogoff 2003, 37, Hacker 2005b, 25, auch Hacker 2009). Wie gesagt  : Subjekte können auch einfach stur sein, starrsinnig, obstinat, trotzig, widerborstig, widerspenstig, renitent. Das eigensinnige Märchenmädchen geht weder für die Rechte ihres Geschlechts zur Guillotine noch auch zu den Geschlechtsgenossinnen in den antikolonialen maquis und repräsentiert doch, wenn wir den Interpretationen folgen, feministische Hoffnungen. Geschichte und Gegenwärtigkeit der Möglichkeiten von Widerstand, Protest und Aufstand werden im Kontext des seit den späten 1980er Jahren so bezeichneten third wave feminism bzw. Postfeminismus definitiv anders erzählt als zu28

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vor. Im Unterschied zu den Anfängen der Neuen Frauenbewegung unterliegt nunmehr das Potenzial politischen Avantgardismus’ starkem Zweifel, die Aufmerksamkeit für Medialisierung und Performativität steht im Vordergrund. Akteur_innen lernen Feminismus in der Regel nicht mehr innerhalb einer sozialen Bewegung kennen, sondern als Element populärer Repräsentation und Kultur, via Medien und Institutionen wie die Schule. Feministische Aktivistinnen haben es mindestens seit den 1990er Jahren dementsprechend schwer, eine politische und/oder intellektuelle Position »außerhalb« eines Geschlechterregimes zu entwerfen, das sich aus popkultureller Inszenierung, Massenkonsum und medialer Vereinnahmung geschlechterkritischer Ansätze speist. Keine politische und auch keine akademische Avantgarde vermag sich dieser Konstellation ganz zu entziehen. Manche sagen es noch harscher  : Es gab sie vermutlich auch nie, Feminismus war immer schon Medieninszenierung (z. B. Gills/Howie/Munford 2004, vgl. auch Hacker 2011). Neuere feministische Theorien und Praktiken demontieren nicht nur die Vorstellung eines »Originals« von Weiblichkeit oder Männlichkeit, sondern auch die eines Originals des Politisch-Revolutionären. Wir könnten aufständisches Handeln lediglich darzustellen versuchen, einzig eine Idee nachahmen, die in der Realität nur deshalb existiert, weil wir sie in unserem politischen Handeln zitierten und unser Handeln medial verbreitet und aufbereitet wurde. Dieser Position entsprechen am ehesten Protestformen wie etwa radical cheerleading oder Pink-Silver-Blocks bei »klassischen« Demonstrationen, tute bianchi und Volxtheaterkarawanen  : Wenn Cheerleader_innen, wie wir sie sonst nur von US-amerikanischen Aufmärschen kennen, mit ihren Puscheln plötzlich radikale Parolen untermalen, wenn Demonstrant_innen mit rosa Röckchen Geschlechterstereotype durch Übertreibung zum Kippen bringen oder in silbernen oder weißen Overalls die Nicht-Unterscheidbarkeit der protestierenden Körper hervorheben, dann handelt es sich um betont paradoxe Clownerien, Travestien, »Possen«, die das theatrum gouvernemental, also die Selbstinszenierung der Herrschenden, zu ironisieren und zu verblüffen trachten (vgl. Müller 2008). »Possen des Performativen« machen öffentlichen Raum zur Bühne und werfen den eigenen Körper in die Waagschale des Protests, als wäre er das Einzige, das Letzte und dabei ein »Ganzes«, das zu widersprechen vermag. Vielleicht tut das eigensinnige Märchenmädchen ja Ähnliches, und wir können dies erst dank poststrukturalistischer, postmoderner und postkolonialer analytischer Theoreme umfänglich begreifen  ? Bei aller Liebe zu Performancetheoremen sollte nicht vergessen werden, dass es die Überzeugung von der Realisierbarkeit politischer Avantgarde gab (und es sie in vielen feministischen und dekolonialen Kontexten ja auch weiterhin gibt), 29

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und dass, wie auch immer medialisiert, widerspenstige, nicht-normative Menschen/Frauen ausgebeutet, misshandelt, gefoltert und getötet werden. Auch »wir« leben in metaphorischen und realen Räumen, deren Logiken den Körper angreifen, verändern und zerstören, die ihre eigene Ordnung gewaltsam durchzusetzen trachten und die eine tödliche, eine tötende Dimension in sich tragen. Subjekte können begehrlich und stur sein, starrsinnig, obstinat, renitent, widerborstig, widerspenstig, ungezähmt. Manchmal sterben sie daran.

I don’t wanna die Sara Ahmed spielt in ihrer Deutung des Märchens vom eigensinnigen Kinde mit dem Doppelsinn der »arms«. Nun hat arms tatsächlich nicht nur im Englischen die Doppelbedeutung, die einschließt, dass »Waffen« eigentlich Körperteile verlängern und repräsentieren oder ersetzen (vgl. Scarry 1992, 101–106). Auch im Deutschen sind die Arme als Körperteil sprachgeschichtlich Waffe und Werkzeug14 und nur homophon, nur gleich klingend mit den Armen, den Menschen ohne Mittel (Kluge 2002, 60), auch wenn sie Werkzeuge haben und Arbeitsvermögen, hinter dem ihr Eigensinn als eine Variante sogenannten »Körperwissens« (Hirschauer 2008) sich verbirgt. Eigensinnige Arme sind also stets eher Waffen denn Menschen in Armut. Und doch schwingt eine Verbindung zwischen den marginalisierten mittellosen »Armen« und den widerborstigen Mädchenfrauenladyzkörpern mit. Sind Wortspiele den einen recht, dann den anderen billig  : Aus klinischen Kontrolluntersuchungsberichten kenne ich die Formulierung  : »Patientin ist weitgehend beschwerdearm.«15 Meinen Beschwerde-Arm möchte ich mir bewahren  ; sei es mit Arm-Mut. Oder, wie die verstorbene Schwarze Schriftstellerin June Jordan in ihrem »Manifesto of the Rubber Gloves« schrieb  : I am wearing brand new loud blue Rubber gloves because I’m serious about I don’t wanna die from mainstream contamination mainstream poison water poisonous like 30

Arme (und) Mädchen  : Eigensinn im Raum feministisch-dekolonialer Protestgeschichte/n

statistical majorities that represent the mainstream poison water poisonous like neo-Nazi perspectives that reflect the mainstream […] I’m serious because I don’t wanna die I don’t wanna die I don’t wanna die. ( Jordan 1999, 52–54)

Anmerkungen 1 Einen Vortrag gleichen Titels – »A Willfulness Archive« – hielt Ahmed schon im Jänner 2012 in Amsterdam, vgl. http://culturalanalysis.wordpress.com/2012/01/11/amsterdam-research-centerfor-gender-and-sexuality-arc-gs-january-lecture/ (1. 8. 2013). 2 In der 2. Auflage heißt der Wortlaut dann  : »Es war einmal ein Kind eigensinnig und that nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden und kein Arzt konnte ihm helfen und in kurzem lag es auf dem Todtenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt war und Erde über es hingedeckt, so kam auf einmal sein Aermchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber thaten, so half das nicht, es kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehn und mit der Ruthe aufs Aermchen schlagen und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein und hatte nun erst Ruhe unter der Erde.« (Grimm 1819, 152) 3 Eine gründlichere Auseinandersetzung mit den Arbeiten der Brüder Grimm kann ich, so wichtig sie wäre, an dieser Stelle nicht leisten  ; ich fasse hier in der Tat hauptsächlich nach Wikipedia zusammen. »Brüder Grimm«, in  : http://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCder_Grimm (1. 8. 2013). 4 Für einen medientheoretischen Kontext sei auf Texte von Giaco Schiesser hingewiesen, z. B. Schiesser 2004. 5 Ahmed zitiert den Text nach Grimm/Grimm 2009, 258  ; abgesehen von einem Tippfehler gleichlautend ist  : http://grimmstories.com/en/grimm_fairy-tales/the_wilful_child (1. 8. 2013). 6 Es gibt eine (an Lacan orientierte) Analyse zur deutschen Fassung des Märchens, die ebenfalls postuliert, das eigensinnige Kind könne als Mädchen gedacht werden (Weber 1993). 7 Und in der Heimerziehung ebenfalls … 8 Als Motto der Texte im Katalog dient eine Definition des Eigensinns aus Zedlers »UniversalLexicon« von 1734.

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Hanna Hacker

 9 SciFi  : Science Fiction. 10 Die Psychiatrie kennt das Syndrom des »alien arm« oder der »alien hand« bei split brain-Patient_ innen. Split brain ist die Folge neurochirurgischer Eingriffe, die die beiden Gehirnhälften trennen, so dass diese nicht mehr miteinander kommunizieren können. U.a. bewirkt dies, dass eigene Körperteile gesehen, aber nicht als zu sich selbst gehörig erkannt werden, so dass der entsprechende Körperteil sich scheinbar unkontrolliert bewegt (vgl. Magraf/Maier 2012, 833). Eine unmittelbare Verbindung von »Dr. Seltsam« und dem genannten Symptom stellt ein englischer WikipediaEintrag her  : http://en.wikipedia.org/wiki/Dr._Strangelove_Syndrome (1. 8. 2013). 11 Spezifisch(er) anti-feministisch wäre vielleicht das Stereotyp der »schrillen Stimmen«. 12 Interessanterweise findet sich ein ganz ähnlicher Gedanke in Bezug auf den feministischen Eigensinn bei Pichler 1985. 13 Bezugnahmen auf die Guerillametaphorik und die Selbstdeutung als »Guerilla« bleibt in der Geschichte von Protestbewegungen wichtig bzw. kehrt im Kontext neuerer Medienaktivismen (»Kommunikationsguerilla«) immer wieder, vgl. u.v.a. Fraueneder/Stiletto 2010. 14 Und überraschenderweise haben »Arm«, »Armee« und »Artist« ähnliche Etymologie – der_die Künstler_in ist eine_r, der_die »Geschicklichkeitsübungen vorführt« (Kluge 2002, 60 u. 63). 15 Mit der »Patientin« bin ich selbst gemeint. Mit eigensinnigem Arm. Ja, vielleicht.

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Arme (und) Mädchen  : Eigensinn im Raum feministisch-dekolonialer Protestgeschichte/n

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Rosa Reitsamer

Feministische Räume im Wandel der Zeit  : Frauenmusikfestivals und Ladyfeste Bereits in den 1970er-Jahren plädiert Henri Lefèbvre (1991 [1974]), Pionier der modernen Raumsoziologie, für eine Analyse, die den Raum selbst beschreiben und die sozialen Beziehungen, die in den Raum eingebettet sind, offenlegen soll. Mit diesem Plädoyer ebnet Lefèbvre den Weg für ein relationales Raumkonzept, das sich von absolutistischen Modellen mit ihrer Vorstellung von Raum und sozialem Handeln als voneinander getrennte soziale Phänomene verabschiedet. Vier Jahrzehnte später formuliert Martina Löw eine Soziologie des Raums, die den Konstitutionsprozess von Räumen in den Mittelpunkt rückt. Das Räumliche sei, so Löw, nicht vom Gesellschaftlichen zu trennen, weil Strukturen nicht vom Handeln losgelöst betrachtet und Raum nicht als starrer Behälter begriffen werden könne, der unabhängig von sozialen und materiellen Bedingungen existiere. Löw versteht Raum als »relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert« (Löw 2001, 131). Mit dem Begriff »(An)Ordnung« wird Anthony Giddens’ Erkenntnis einer »Dualität von Struktur und Handeln« auf eine »Dualität von Raum« ausgeweitet, um zwei Aspekte der Raumkonstitution zu benennen, nämlich »erstens die Ordnung, die durch Räume geschaffen wird, und zweitens den Prozess des Anordnens, die Handlungsdimension« (Löw 2001, 166). Die »Dualität von Raum« meint folglich, dass »Räume nicht einfach nur existieren, sondern dass sie im Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln beeinflussen können« (Löw/ Steets/Stoetzer 2007, 63). Räume sind also stets sozial, weil sie im Handeln entstehen und auf Konstruktionsleistungen basieren. Die Raumkonstitution geschieht in der Regel aus dem praktischen Bewusstsein heraus, in dem Handelnde im Alltag ihr kognitives und habitualisiertes Wissen aktualisieren, ohne darüber zu reflektieren. Handelnde bringen Räume also über alltägliche vorreflexive soziale Praktiken hervor. Zentral für die Raumkonstitution seien, so Löw, die beiden Prozesse »Spacing« und »Syntheseleistung«  : »Spacing« bezeichnet das Errichten, Bauen und Positionieren von sozialen Gütern und Menschen in Relation zu anderen Platzierungen  ; bei der »Syntheseleistung« werden über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse Güter und Menschen zu Räumen zu37

Rosa Reitsamer

sammengefasst (Löw 2001, 158). Jede Konstitution von Raum ist demnach zum einen durch die sozialen Güter und Menschen, zum anderen durch die Verknüpfung derselben bestimmt. Die Konstitution von Räumen über die »relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten« (Löw 2001) ist nicht von den Praktiken der Macht zu trennen, da mit jeder Platzierung auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse zum einen entlang der Strukturkategorien Geschlecht, Klasse, »race« und Sexualität/Körper (Winker/Degele 2009) und zum anderen entlang der materiellen und symbolischen Eigenschaften, die den sozialen Gütern zugeschrieben werden, verhandelt werden (Löw 2001). Ein Beispiel aus dem Bereich der elektronischen Musik1 illustriert, wie durch Einladungspolitiken zu Musikfestivals soziale Platzierungen vorgenommen und Musikschaffende entlang ihrer Geschlechtszugehörigkeit in Relation zueinander gesetzt werden. Auf 39 Festivals für elektronische Musik in 29 Ländern in Europa, Nordamerika, Asien, Lateinamerika, Afrika und Australien, die 2012 und 2013 (bis März) stattfanden, sind 2682 männliche Musikschaffende aufgetreten (83,9 Prozent), 246 Bands, die aus Frauen und Männern bestehen (mixed) (7,7 Prozent), und lediglich 268 Musikerinnen (8,4 Prozent) 2 (Female Pressure 2013). Eine detaillierte Aufstellung für Österreich und Deutschland (Abb. 1 und 2) verdeutlicht dieses Geschlechterverhältnis nochmals  : female

male

Ars Electronica 2012

32

95

mixed 3

Music Unlimited 2012

 6

18

4

Springfestival 2013



26

2

Urban Art Forms 2013

 1

47

2

Abb. 1  : Festivals in Österreich, Tabelle errechnet aus der Female-Pressure-Statistik (Female Pressure 2013) female

male

Berlin Festival 2012

12

  66

mixed  9

c/o pop 2012

14

  54

14

CTM Festival 2013

18

153

 7

frameworks festival 2013

 1

   8



Fusion Festival 2012

24

174

53

Melt  ! Festival 2012

5

  48

 6

Wax Treatment Africa Special 2012



  30

 1

Abb. 2  : Festivals in Deutschland, Tabelle errechnet aus der Female-Pressure-Statistik (Female Pressure 2013)

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Feministische Räume im Wandel der Zeit  : Frauenmusikfestivals und Ladyfeste

Die Einladungspolitiken verweisen darauf, wie Geschlecht respektive Zweigeschlechtlichkeit und die damit verbundenen Mechanismen der Heterosexualität als omnipräsente Strukturkategorien der Gesellschaft ihre Wirkmächtigkeit bei der Konstitution von Räumen in musikalischen Feldern erlangen  : Der Bühnenraum bleibt durch die deutliche Unterrepräsentation von Musikerinnen überwiegend Männern (DJs, Musikproduzenten, Instrumentalisten, Sängern, Tontechnikern) vorbehalten, während Frauen auf den ZuschauerInnenraum und die Position der Fans verwiesen werden. Diese Raumaufteilung bei Musikfestivals reproduziert die im 19. Jahrhundert etablierte Aufteilung und Bewertung von Kunst-/Musikschaffen als produktiv, männlich, aktiv und der öffentlichen Sphäre zugehörig und von Kunst-/Musikkonsum als reproduktiv, weiblich, passiv und der Privatsphäre zugehörig. VeranstalterInnen von Musikevents steuern mit ihren Einladungspolitiken aber nicht nur die Auswahl der Musikschaffenden und die soziale Zusammensetzung des Publikums und in der Folge die geschlechtsspezifische Nutzung des physischen Raums. Mit Einladungen zu Auftritten vergeben sie an Musikschaffende auch die Möglichkeit, Netzwerke zu knüpfen und zu intensivieren, Anerkennung für die musikalischen Leistungen zu erhalten und Geld mit den Auftritten zu verdienen (Reitsamer 2013). Die Prozesse der Raumproduktion finden somit in einem wechselseitigen Zusammenspiel mit der Vergabe von Chancen zur Akkumulation von sozialem, kulturellem, symbolischem und ökonomischem Kapital (Bourdieu 1993) statt, wodurch die Position der Musikschaffenden in künstlerischen Feldern beeinflusst wird. Wie die Tabellen veranschaulichen, werden durch die Einladungspolitiken der VeranstalterInnen, die zumeist unreflektiert bleiben, geschlechtsspezifische Hierarchisierungen in den Raum eingeschrieben und Ausschlüsse von Musikerinnen reproduziert. Seit den 1970er-Jahren zeichnet sich mit der Veranstaltung von Frauenmusikfestivals die Konstitution von feministischen Räumen in musikalischen Feldern ab, die von dieser alltäglichen sozialen Praxis, die soziale Ungleichheiten reproduziert, abweicht und Macht- und Herrschaftsverhältnisse hinterfragt. Diese Räume lassen sich als »gegenkulturelle Räume« beschreiben, weil sie auf Veränderungen von Gewohnheiten und Abweichungen bzw. kreativ-gestalterisches Handeln abzielen, indem sie eine (An)Ordnung von Menschen und sozialen Gütern an Orten jenseits von repetitivem und habitualisiertem Handeln verfolgen und sich gegen institutionalisierte (An)Ordnungen richten (Löw 2001, 185). Für diesen Entwurf von »gegenkulturellen Räumen« wird Gegenkultur »als ein zur Dominanzkultur gegenläufiges Geschehen definiert« (Modelmog 1994, zit. n. Löw 2001, 186), das sowohl Ergebnis von Reflexivität als auch von Kör39

Rosa Reitsamer

perlichkeit bzw. körperlich-emotionalem Begehren sein kann. Der Begriff Gegenkultur3 vereint somit Reflexivität und Körperlichkeit als einander ergänzende Handlungsantriebe für gesellschaftliche Veränderungen (Löw 2001, 186). Lefèbvre verortet das von dominanten Ordnungen und Diskursen abweichende Handeln und widerständige Denken in den »Räumen der Repräsentation«, also im Raum des Imaginären, das über Bilder und Symbole vermittelt wird und die »räumliche Praxis« der AkteurInnen ergänzt (Lefèbvre 1991 [1974]). In Bezug auf die Konstitution gegenkultureller feministischer Räume lassen sich widerständige Handlungspraktiken als »politisch und kollektiv geführte Kämpfe [beschreiben], die um die Aneignung von physischen Räumen, die sich wiederum als soziale Räume konkretisieren, geführt werden« (Doderer 2002, 39). Wie sich Frauenmusikfestivals und damit die Strategien zur Konstitution feministischer Räume seit Beginn der 1980er-Jahre bis heute in Wien verändert haben, wird im Folgenden diskutiert.

Frauenmusikfestivals im Wien der 1980er- und 1990er-Jahre Den Auftakt in der Geschichte der Frauenmusikfestivals in Österreich bildet die »Erste Österreichische Frauenmusikwoche« 1983 an der Universität (damals Hochschule) für Musik und darstellende Kunst und weiteren Veranstaltungsorten in Wien, an die 1985 und 1986 eine zweite und dritte Frauenmusikwoche anschließen. 1993 realisiert der Verein Femage das »Internationale Frauenmusikfestival Wien« im Veranstaltungslokal Reigen, 1994 folgt das Festival »Female Music Rush Hour« in der Szene Wien und 1995 der Kongress »Women Composers« im Wittgenstein-Haus. Die Frauenmusikfestivals der 1980er- und 1990er-Jahre vereinen Konzerte aus den musikalischen Bereichen Klassik, Avantgarde, Jazz und Rock – ihr politisches Ziel ist es folglich, die Gleichberechtigung der Frauen in allen musikalischen Sparten voranzutreiben sowie Musikerinnen sichtbar zu machen und zu fördern. Mit diesen Forderungen orientieren sich die Festivals am für die Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre zentralen Thema der Gleichheit und/oder Differenz zwischen den Geschlechtern. Der Musikbegriff dieser Musikfestivals folgt dabei nicht der etablierten Trennung zwischen »Hoch-« und »Popularkultur«, sondern zielt auf ihre Aufhebung ab. Feministische Akteurinnen verfolgen dafür in einem ersten Schritt die Gleichstellung, in einem zweiten stellen sie notwendigerweise auf eine »Positivierung des Weiblichen« (Gildemeister/Wetterer 1992) ab, um die weibliche Position um- und aufzuwerten und dem Ausschluss von Frauen aus 40

Feministische Räume im Wandel der Zeit  : Frauenmusikfestivals und Ladyfeste

dem »Main-« bzw. »Malestream« des Musikbetriebs entgegenzuwirken. Die Aufwertung weiblicher Positionen manifestiert sich in der Rekonstruktion des »weiblichen Lebenszusammenhangs« (Prokop 1976) und der Suche nach einer eigenständigen »Frauenkultur«, die im Sinne eines HerStory-Narratives mit der Gründung von temporären und institutionalisierten Frauenräumen wie Buchhandlungen und Archiven sowie der Organisation von Ausstellungen, Konzerten und Festivals eine Umsetzung findet. Annemarie Türk, die Ko-Organisatorin der ersten und zweiten Frauenmusikwoche in Wien, rekapituliert die feministische Aufbruchsstimmung der damaligen Zeit so  : Margit Niederhuber und ich haben am IKM (Anm.: Institut für Kulturmanagement an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) studiert […] und wir haben gemeinsam eine Veranstaltung der Galeristin Grete Insam zur Situation von Frauen im Kunstbetrieb besucht […] und das Reizwort im Musikbereich waren natürlich die Wiener Philharmoniker, weil dort Frauen überhaupt nicht denkbar waren. Gleichzeitig wurden von der INTAKT (Anm.: Internationale Aktionsgemeinschaft bildender Künstlerinnen, 1977 gegründet) die ersten feministischen Aktivitäten im Bereich der bildenden Kunst gesetzt wie auch die Zeitschrift »Eva & Co« gegründet wurde. Dieses neue engagierte politische Handeln war wichtig für unsere Bewusstseinsbildung und es war auch eine Ermutigung, […] aber in der Musik war es besonders zäh. Wir, also Margit Niederhuber, Anka Hauter von der Band »Schneewittchen« und ich, haben dann die »Erste Österreichische Frauenmusikwoche« organisiert, 1985 kam dann die zweite und die dritte haben dann vor allem Margit und Anka gemacht. (Interview mit Annemarie Türk im Mai 2013, geführt von der Autorin)

Die Protagonistinnen der Frauenmusikfestivals der 1980er-Jahre sind in die feministischen Diskurse um die Gleichstellung von Frauen und Männern involviert und entwickeln eine feministische Praxis, die sich durch die Zusammenarbeit von Frauen für Frauen, durch Selbstbestimmung und Selbstorganisation sowie Parteilichkeit von und für Frauen charakterisiert (Doderer 2002). Für die Realisierung der Frauenmusikfestivals eignen sich die Organisatorinnen physische, von Männern dominierte Räume an mit dem Ziel, soziale Räume zu schaffen, die sich gegen alltägliche habitualisierte und vorreflexive Praktiken richten und in den Prozess des (An-)Ordnens von Frauen und Männern an universitären Orten und in Veranstaltungslokalen intervenieren, der die hierarchische Geschlechterdifferenz reproduziert. Die Konstitution eines exklusiven gegenkulturellen Frauenraums steht für die Organisatorinnen der ersten Frauen­ 41

Rosa Reitsamer

musikwochen allerdings nicht im Vordergrund, wie Annemarie Türk im Interview rückblickend erzählt  : Für uns war es wichtiger, die krassen Missstände in der Musik aufzudecken, als einen Frauenraum zu propagieren. Die Idee eines Frauenraums ist schon im Raum geschwebt, und wir haben darüber auch diskutiert, aber das war jetzt nicht das vorrangige Thema, weil wir immer wieder bemerkt haben, dass davor noch andere Schritte gemacht werden müssen, es eigentlich gar nicht bewusst war, dass man/frau keine Komponistinnen kennt, bei den Wiener Philharmonikern keine Frauen spielen und Frauen viel weniger Chancen haben als Männer, in ein Orchester zu kommen. Das war damals halt einfach so, darüber gab es keine Diskussionen. Und das wollten wir ändern. (Interview mit Annemarie Türk im Mai 2013, geführt von der Autorin)

Um die Unterrepräsentation von Musikerinnen in möglichst vielen musikalischen Feldern zu thematisieren und musikschaffende Frauen sichtbar zu machen und zu fördern, umfasst das Veranstaltungsprogramm der Frauenmusikwoche 1983 Klassik-, Jazz-, Avantgarde- und Rockkonzerte u. a. mit Anka Hauter, Barbara Thompson, Marie-Therese Escribano sowie dem 1. Österreichischen Frauenkammerorchester. Die Konzerte konnten auch von Männern besucht werden, während die Workshops und Vorträge Frauen vorbehalten waren. Diese temporären Frauenräume sollten Möglichkeiten der bewussten Reflexion über die Situation von Musikerinnen und Komponistinnen eröffnen und auch die Aneignung von Wissen für die musikalische Praxis bieten. Im Unterschied zu den Frauenmusikwochen in den 1980er-Jahren findet das »Internationale Frauenmusikfestival Wien« 1993 zur Gänze unter Ausschluss von Männern statt. Vertreten waren auf diesem Festival u. a. Gabriele Proy mit einer Klanginstallation, die Musikerinnen Sylvia Bruckner, Joëlle Léandre und Madga Vogel (»DominaDea«) sowie Bands wie »Kik La Luna«. Manuela Schreibmaier, eine der Protagonistinnen des Vereins Femage, beschreibt die Erfahrungen der Frauen, die von der Frauenbewegung reflektiert und um feministische Standpunkte erweitert werden, und ein körperlich-emotionales Begehren von feministisch-lesbischen Frauen als wesentliche Antriebskräfte für die Konstitution eines exklusiven Frauenraums  : Frauenräume waren Teil des Selbstverständnisses der damaligen autonomen Frauenbewegung. Es war uns ein Bedürfnis, für diese Szene ein großes Musik-Event zu veranstalten, und das an einem Ort, wo es keine männliche Präsenz gab und auch keinen Sexismus. Das war der Grundanspruch für das Festival – ein gewaltfreier 42

Feministische Räume im Wandel der Zeit  : Frauenmusikfestivals und Ladyfeste

Raum, in dem sich Frauen frei bewegen und tanzen und auch küssen konnten. Das war in den damaligen Lokalen Wiens nicht so ohne Weiteres möglich, weil es immer wieder Übergriffe auf Lesben gab. Und wir wollten auch die Sexualisierung von Musikerinnen durch das männliche Publikum unterbrechen und einmal aus der Enklave des autonomen Frauenzentrums ausbrechen und uns einen anderen Raum aneignen. (Interview mit Manuela Schreibmaier im Januar 2013, geführt von der Autorin)

Die Ansprüche an Frauenräume verweisen auf ein utopisches Moment in der Raumproduktion, das seine Referenzpunkte sowohl in der normativen Abweichung und der Dekonstruktion als auch in der Reproduktion heteronormativer und leistungsbezogener Normen und Klassifizierungen verortet (Doderer 2002, 34). Das Autonomieverständnis der Frauenbewegung der 1970er- und 1980erJahre geht folglich einher mit widerständigem Handeln gegen männerdominierte Organisationen, Forderungen nach einer Verschränkung von Privatheit und Öffentlichkeit sowie individueller und kollektiver Selbstbestimmung und selbst verwalteten Räumen. Frauenräume beinhalten aber auch eine gewisse Anstrengung und den Mut zur Selbstbezüglichkeit, wobei »die Strategie der Abgrenzung gegenüber Männern das Potenzial selbstreflexiver Rückbezüglichkeit mit sich bringt – und sei es nur die Erkenntnis, dass Frauen keine besseren Menschen sind« (Doderer 2002, 35). Diese Selbst- und Rückbezüglichkeit auf Frauen wird dem Verein Femage für das Frauenmusikfestival »Female Music Rush Hours« 1994 seitens der Förderinstitutionen der Stadt Wien nicht länger zugestanden. Manuela Schreibmaier erklärt den damaligen Sachverhalt  : Der Frauenraum musste sich zunehmend erklären. Es wurde uns vorgeworfen, das zu tun, was Männer über Jahrhunderte getan hatten und bis heute tun, Frauen aus vielen Bereichen einfach auszuschließen. Diese Diskussionen wurden jenseits der Machtfrage geführt. Es war klar, dass die Frauenmusikfestivals in einem lesbischfeministischen Kontext standen und Frauen, die sich etwas getraut haben, waren ganz oft lesbisch. Vor dem Hintergrund der Rechte für Homosexuelle zur damaligen Zeit gab es dann das Argument, dass Männer ausgeschlossen waren. Das war lächerlich  ! Der Begriff der Lesbe war nicht salonfähig, und die gesellschaftspolitischen Probleme und Diskriminierungen wurden ausgeblendet. Die Forderung von Männern, in Frauenräume gehen zu dürfen, bedeutete ja auch, dass Männer in Lesbenräume wollten. Was aber machen Männer dort  ? (Interview mit Manuela Schreibmaier im Januar 2013, geführt von der Autorin) 43

Rosa Reitsamer

Während Frauenräume für die autonome Frauenbewegung den Versuch verkörpern, eine Utopie für ein Leben jenseits männlicher Vorherrschaft und Kontrolle zu konkretisieren, stellen sie für die breite Öffentlichkeit und für VertreterInnen aus Politik und Medien eine nicht unerhebliche Provokation dar. Diese »Provokation« seitens der autonomen Frauenbewegung hat zur Folge, dass der Verein Femage die Subventionen für das Festival »Female Music Rush Hour« nur unter dem Zugeständnis erhält, den BesucherInnenraum auch für Männer zu öffnen. Zeitgleich mit der Infragestellung der Legitimität von exklusiven Frauenräumen und der Ablehnung der Subventionierung dieser Räume zeichnen sich innerhalb der Frauenbewegung Diskussionen über die produzierten Ausschlüsse und Normen der Räume ab. Der Mangel an physischen Räumen von und für Frauen bewirkt eine Homogenisierung der Frauenräume, weil vor allem Feministinnen der Mittelschicht ihre politischen und kulturellen Ansprüche realisieren. Diese Debatten um Ausschlüsse in Frauenräumen entlang von Klasse, Hautfarbe oder Migrationshintergrund führen zu einer Erweiterung der politischen Ausrichtung der Frauenbewegung, indem das Thema Gleichheit und/oder Differenz zwischen den Geschlechtern um notwendige Diskussionen über die Differenzen zwischen Frauen ergänzt wird – heute unter dem Begriff der Intersektionalität bekannt. Diesen Perspektivenwechsel leiten lesbische Frauen, Women of Color und postkoloniale Feministinnen ein, die die Kategorie »Frau« als universalistische Leitkategorie für feministische Theorie und Praxis infrage stellen. Die Ära der »Frauenkultur« und der »women’s music«, die vor allem in den USA auf große Resonanz in der Frauenbewegung gestoßen war, steuert in den 1990er-Jahren auf ein Ende zu. Das (sub-)kulturelle Erbe dieser Zeit sind Frauenmusikfestivals, die in Österreich nach einer zehnjährigen Pause realisiert werden – nunmehr unter dem Einfluss queerer Theorien, der Riot-Grrrl-Bewegung und der feministisch-queeren Musik- und Kunstfestivals, die unter dem Namen »Ladyfest« reüssieren.

Queer-feministische Musikfestivals im Wien nach der Jahrtausendwende Die Wurzeln der Ladyfeste liegen in der zu Beginn der 1990er-Jahre entstandenen US-amerikanischen Riot-Grrrl-Bewegung, einer feministischen Jugendkultur, die mit dem Slogan »Revolution Grrrl Style Now  !« selbstbestimmt ihren Platz in der männerdominierten Post-Punk-Szene einfordert. Bis Juli 2010 fanden 264 Ladyfeste und queer-feministische Festivals weltweit statt (Zobl 2011), 44

Feministische Räume im Wandel der Zeit  : Frauenmusikfestivals und Ladyfeste

die einerseits explizit durch die Verwendung des Namens Ladyfest und/oder implizit durch die Geschichte der Riot-Grrrl-Bewegung verbunden sind, sich andererseits hinsichtlich ihrer Verortung im lokalen musikalischen Feld und der Orientierung an liberal-feministischen, autonom-feministisch-lesbischen oder queeren Standpunkten unterscheiden (Reitsamer/Zobl 2010  ; vgl. auch Baldauf 2010). In Wien beginnt die Ära der queer-feministischen Musikfestivals mit dem ersten Ladyfest im Jahr 2004. Daran schließt 2005 ein weiteres an. 2006 veranstaltet das Kollektiv der feministischen Zeitschrift »fiber« das »Rampenfiber«Festival, 2008 sind es die »Queer-feministischen Tage«, die das Musik- und Kunstschaffen von queeren AkteurInnen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen  ; und 2009, 2011 und 2012 findet abermals das »Rampenfiber«Festival statt. Diese Festivals teilen mit vielen anderen ihrer Art eine »Rhetorik und Politik der Inklusion, Partizipation und Intervention«, die zu einem neuen Verständnis der Raumproduktion führt und unmittelbar mit der Frage nach der Geschlechtszugehörigkeit von FestivalorganisatorInnen, MusikerInnen und BesucherInnen verbunden ist. Im Unterschied zu den Frauenmusikfestivals der 1980er- und 1990er-Jahre, die sich mit der Konstitution von Frauenräumen an einer feministisch-lesbischen Identitätspolitik orientieren, verfolgen queer-feministische Musikfestivals ein anderes Ziel. Sie wollen die traditionellen Geschlechtszuschreibungen aufbrechen, indem sie queere (Raum-)Praktiken und Repräsentationen entwickeln, die Geschlecht und Sexualität nicht auf die hierarchische Geschlechterdifferenz und Heteronormativität beziehen (Engel 2007). Dieser Anspruch wird auf der Website des Ladyfests Wien im Jahr 2007 deutlich  : »Play Gender – ›Welches Geschlecht hast du  ?‹ Unsere Antwort auf diese Frage ist interessanter, vielfältiger, nicht-binär, revolutionärer etc. als nur ›männlich‹ oder ›weiblich‹.« (Ladyfest Wien 2007) Ladyfeste lehnen mit der Verwendung der Begriffe »Lady« und »queer« ein essenzialistisches Verständnis der Kategorie Frau ab, das mit den Frauenmusikfestivals vergangener Jahrzehnte verbunden ist, und plädieren dafür, »Lady« als inklusiven Terminus zu verstehen, den sich Menschen – unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit, ihrem Alter oder sozialen Hintergründen – aneignen können. Queer stellt dabei allerdings keine Identität dar, sondern eine Identitätskritik und eine »Identitätsbaustelle, ein[en] Ort beständigen Werdens« ( Jagose 1996, 165). Wer mit Lady angerufen ist und sich unter diesem parodistisch umgedeuteten Begriff angesprochen fühlt, muss nicht mehr notgedrungen etwas mit dem pro45

Rosa Reitsamer

blematisch gewordenen »Frau-Sein« bzw. dessen biologistischem Verständnis zu tun haben (Ladyfest Wien 2004). Dieses Verständnis von Lady korrespondiert mit den Konzepten der »queeren Temporalität« und der »queeren Räume«. »Queere Temporalität« tauche, so Judith Halberstam (2005), innerhalb homosexueller Gemeinschaften in den 1980er-Jahren auf, die, tief erschüttert von der AIDS-Epidemie, konventionelle Vorstellungen über Leben, Zukunft und Vergänglichkeit einer Revision unterziehen und neue Formen der Gemeinschaft unter den Vorzeichen von Risiken, Krankheit und Tod sowie abseits der heterosexuellen Lebenserfahrungen von Ehe und generativer Reproduktion entwickeln müssen. Diese queere Temporalität ist unmittelbar verbunden mit der Konstitution »queerer Räume«. Sie verweisen auf »place-making practices« von queeren ProtagonistInnen in Zeiten der Postmoderne, die als reale und symbolische Orte der Gegenöffentlichkeit und des Widerstands ein heteronormatives Verständnis von Raum und Zeit zurückweisen (Halberstam 2005, 3–5). Dass Raum und Zeit auch für queer-feministische Festivals in Wien von spezifischer Bedeutung sind, illustriert der Aufruf des Ladyfests 2007  : »Ladyfest Wien 2007 – Baustelle – Betreten erbeten – Zeit und Raum für ladyzz jetzt – und stürzt das rassistische sexistische gendergenormte scheiss-system  !« (Ladyfest Wien 2007) Queer-feministische Festivals verfolgen eine Kritik an Identitätspolitiken, die auf Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität basieren  ; gleichzeitig sollen weibliche Musikschaffende durch das »antikapitalistische, nicht-kommerziell orientierte Festival« (Ladyfest Wien 2004) gefördert und queere Räume »ohne rassistische, homophobe, transphobe und sexistische Strukturen« (Ladyfest Wien 2004) hergestellt werden. Die Produktion queerer Räume beginnt bereits bei der Organisation der Festivals durch temporär ins Leben gerufene Kollektive, die sich an den Prinzipien der Do-it-yourself-Kultur (Selbstermächtigung, Selbstorganisation und Eigeninitiative) orientieren und mit der Aufforderung zur Partizipation an den Festivals, die durch Flyer, Plakate und Mailaussendungen kommuniziert wird, versuchen, die Trennung zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen aufzuheben. Bei der Wahl der Veranstaltungsorte, den Entscheidungen über die Finanzierung der Festivals und der Öffentlichkeitsarbeit verfolgen die Kollektive konsensorientierte Entscheidungsprozesse, die von queer-feministischen Ansprüchen geleitet werden. Die Nutzung von Frauenräumen wird allerdings abgelehnt, »denn damit ist zumeist auch ein Ausschluss von Männern und Transgender verbunden«, der sich mit dem Anspruch, »Raum in einer heterogenen Umgebung geltend zu machen« (Mooshammer/Trimmel 2007, o. S.), nicht vereinbaren ließe. 46

Feministische Räume im Wandel der Zeit  : Frauenmusikfestivals und Ladyfeste

Dem Prinzip der Frauenmusikfestivals der 1980er- und 1990er-Jahre folgend eignen sich queer-feministische Festivals heteronormative physische Räume an. Die Produktion sozialer Räume vollzieht sich jedoch nicht durch den Ausschluss von Männern, sondern durch eine »Rhetorik und Politik der Inklusion, Partizipation und Intervention«, durch die die heteronormativen Raum-(An)Ordnungen unterbrochen werden sollen. Diese Rhetorik wird bei der Ankündigung des »Rampenfiber«-Festivals 2012 deutlich  : rampenfiber hat es sich […] zum Ziel gesetzt, das Spektrum queer-feministischen Musikschaffens für eine breite Öffentlichkeit sichtbar zu machen und damit die männliche, heteronormative und sexistische Dominanz, wie sie so oft auch auf Konzertbühnen anzutreffen ist, zu durchbrechen. Das Festival ist dabei auch utopischer Raum […] und alle auf noch so unterschiedliche Art am Festival Beteiligten gestalten diesen Raum aktiv mit. […] Die physische Raumgestaltung und deren Aneignung über Eingriffe in und an der Architektur zählen hier für rampenfiber genauso dazu wie der Versuch für manche Programmpunkte Dolmetscher_innen bereit zu stellen [sic  !], um Sprachbarrieren möglichst niedrig zu halten. Unsere politischen Anliegen sollen […] in der Praxis vor Ort erfahrbar werden und Besucher_innen zum Mitmachen anregen. (Rampenfiber Festival 2012)

Die Festivalorganisatorinnen stellen für die Konstitution queerer Räume eine Bandbreite an Handlungsanweisungen bereit, die neben »Eingriffen in und an der Architektur« durch das Anbringen von Transparenten, Visuals und Graffitis in den Innen- und Außenräumen der Veranstaltungsorte und dem Verteilen von Flugblättern während des Festivals auch das »Konzept der Self-Security  : Alle sind Security« umfasst. Die Verantwortung, in Situationen einzugreifen, in denen »eine(r) jemand anders [sic  !] blöd angeht« (Ladyfest Wien 2008), liegt dabei nicht bei den OrganisatorInnen alleine oder beim im Club arbeitenden SecurityPersonal, sondern bei allen im Veranstaltungsraum Anwesenden, die in Situationen intervenieren sollen. Unter dem Slogan »Act up  !« schlägt das Ladyfest 2007 auf seiner Website eine Bandbreite von möglichen Interventionen vor  : Act up  ! Was ist Intervention  ? Einmischen, ������������������������������������������������ Raum verteidigen, angreifen, was sagen, rempeln, anschreien, rausschmeißen, deeskalieren, sich solidarisieren, streiten, Raum besetzen, diskutieren, um Hilfe bitten, sich breit machen, es weitererzählen, Raum markieren, auslachen, darüber reden, nicht darüber reden müssen, … Interventionen sind vielfältig. […] Wichtig ist aber, dass sich alle für den Raum verantwortlich fühlen. […] Nicht wegschauen, sondern intervenieren für den Ladyspace  ! (Ladyfest Wien 2007) 47

Rosa Reitsamer

Bei queer-feministischen Festivals wird Raum zu einem »performing space« (Rose 1999), in dem die ProtagonistInnen darauf abzielen, mit einer »Rhetorik und Politik der Inklusion, Partizipation und Intervention« in heteronormative Inszenierungen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie in regulative Normen und Raumpraktiken einzugreifen. Diese »Rhetorik und Politik der Inklusion, Partizipation und Intervention« sowie der Versuch, queere Räume herzustellen, sind charakteristisch für neuere feministische Bewegungen, die unter den Begriffen »Third-Wave-Feminismus«, »Popfeminismus«, »Postfeminismus«, »Do it yourself-Feminism« oder »Hip-HopFeminismus« gefasst werden. Im Unterschied zur Zweiten Frauenbewegung, zum »Second-Wave-Feminismus«, der primär im Feld des Politischen agiert und im Bereich der Kunst und Kultur Räume für HerStory-Narrative produziert, situieren sich die AkteurInnen neuerer feministischer Bewegungen im Feld der Populärkultur und verstehen die kritische Auseinandersetzung mit Popkultur als eine Komponente ihres politischen Kampfes. Dieses feministische Selbstverständnis wird von afroamerikanischen Rapperinnen in den 1980er-Jahren und der Riot-GrrrlBewegung im Verlauf der 1990er-Jahre artikuliert und umfasst eine Bandbreite von Artikulationsweisen wie die (sub-)kulturelle Produktion von Musik, alternativen Medien (Fanzines) und Kunst sowie die Nutzung neuer Medientechnologien für politische Aktivismen und den Aufbau von Netzwerken (vgl. Reitsamer 2012). Für ihre Abgrenzung zur Zweiten Frauenbewegung referieren die feministischen AkteurInnen häufig auf queere Theorien und greifen eine »Rhetorik und Politik der Inklusion, Partizipation und Intervention« auf, die die Identitätspolitik des Second Wave Feminism herausfordern soll – ohne dabei die Diskurse der Zweiten Frauenbewegung, vor allem die Thematisierung von Gewalt gegen Frauen oder die notwendige Solidarität zwischen Frauen, zu verwerfen.

Schlussbemerkungen Dieser Artikel diskutierte die Geschichte und die politisch-ideologische Ausrichtung der Frauenmusikfestivals in Wien von den 1980er-Jahren bis zur Gegenwart. Waren für die Festivals in den 1980er- und 1990er-Jahren vor allem Gleichstellung, Sichtbarmachtung und Förderung von Musikerinnen und die Konstitution eines exklusiven Frauenraums die primären Ziele, sind für heutige Festivals queere Aktivismen, eine Rhetorik und Politik der Inklusion, Par48

Feministische Räume im Wandel der Zeit  : Frauenmusikfestivals und Ladyfeste

tizipation und Intervention und die Absage an exklusive Frauenräume prägend. Diese Unterschiede zwischen den Festivals sollen jedoch nicht über ihre zentrale Gemeinsamkeit hinwegtäuschen, die sich in dem Versuch äußert, feministische gegenkulturelle Räume zu produzieren, die Ergebnisse von (Selbst-)Reflexivität und körperlich-emotionalem Begehren sind und sich gegen soziale (Geschlechter-)Ungleichheiten aussprechen. Eine kritische Diskussion über die Kontinuitäten und Brüche von feministischen Festivals im Bereich der Musik benötigt allerdings eine detaillierte historische Rekonstruktion der Aktivitäten, die durch Publikationen und Archive einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Dieses Projekt wartet bislang auf seine Realisierung.

Anmerkungen 1 In diesem Artikel wird zwischen Klassik, Jazz, Rock und elektronischer Musik unterschieden. 2 Die angeführte Statistik bezieht sich auf elektronische Musikfestivals, bei denen mehrheitlich DJs, MusikproduzentInnen und vereinzelt auch Bands auftreten. DJs und MusikproduzentInnen treten zumeist alleine auf. Die Kategorien female bzw. male beziehen sich folglich auf Einzelpersonen, die Kategorie mixed auf Bands, wobei die Anzahl der Bandmitglieder in der Female-PressureStatistik nicht ausgewiesen ist. 3 Der Begriff »Gegenkultur« findet in den 1970er-Jahren im Kontext der Frauenbewegung eine umfassende Verwendung und manifestiert sich in zahlreichen Versuchen, neue Lebens-, Liebes-, Arbeits- und Wohnformen zu etablieren, die sich von gesellschaftlichen Konventionen absetzen und diese in Frage stellen.

Literatur Annette Baldauf (2010), »Feminismus und Popkultur«, in  : Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film. Wien/ Köln/Weimar, 91–109 Pierre Bourdieu (1993), The field of cultural production. New York Yvonne Doderer (2002), Urbane Praktiken. Strategien ���������������������������������������������������� und Raumproduktionen feministischer Frauenöffentlichkeit [Eigenverlag] Antke Engel (2007), »Entschiedene Interventionen in der Unentschiedenheit. Von queerer Identitätskritik zur VerUneindeutigung als Methode«, in  : Sabine Hark (Hg.), Dis/Kontinuitäten  : Feministische Theorie. Wiesbaden, 285–304 Female Pressure (2013), Presseaussendung März 2013  ; abrufbar unter  : http://www.femalepressure.net/ PDFs/fempressreport-03-2013.pdf ( Juni 2013) Regine Gildemeister, Angelika Wetterer (1992), »Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung«, in  : Gudrun-

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Rosa Reitsamer

Axeli Knapp, Angelika Wetterer (Hg.), Traditionen Brüche  : Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg i. Brsg. 201–254 Judith Halberstam (2005), In a Queer Time and Place  : Transgender Bodies, Subcultural Lives. New York/London Annamarie Jagose (1996), Queer Theory  : Eine Einführung. Berlin Henri Lef èbvre (1991) [1974], The Production of Space. Oxford Martina Löw (2001), Raumsoziologie. Frankfurt a. M. Martina Löw, Silke Steets, Sergej Stoetzer (2007), Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie. ­Leverkusen Ilse Modelmog (1994), Versuchungen  : Geschlechtszirkel und Gegenkultur. Opladen Bettina Mooshammer, Eva Trimmel (2007), »Räume verändern. Das Ladyfest als feministische Raumpraxis«, in  : Kulturrisse. Ausgabe 02/2007  ; abrufbar unter  : http://kulturrisse.at/ausgaben/022007/ oppositionen/raeume-veraendern.-das-ladyfest-als-feministische-raumpraxis ( Juni 2013) Ulrike Prokop (1976), Weiblicher Lebenszusammenhang. Von der Beschränktheit der Strategien und der Unangemessenheit der Wünsche. Frankfurt a. M. Rosa Reitsamer, Elke Zobl (2010), »Youth Citizenship und politische Bildung am Beispiel der Ladyfeste«, in  : Magazin Erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 11. Wien  ; abrufbar unter  : http://www.erwachsenenbildung.at/magazin/10-11/meb1011.pdf (April 2013) Rosa Reitsamer (2012), »Female Pressure  : A Translocal Feminist Youth-Oriented Cultural Network«, in  : Continuum. Journal of Media & Cultural Studies. Issue 26 (3), 399–408 Rosa Reitsamer (2013), Die Do-it-yourself-Karrieren der DJs. Über ������������������������������������� die Arbeit in elektronischen Musikszenen. Bielefeld Gillian Rose (1999), »Performing Space«, in  : Doreen Massay, John Allen, Phillip Sarre (Hg.), Human Geography Today. Cambridge, 247–259 Gabriele Winker, Nina Degele (2009), Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld Elke Zobl (2011), »Zehn Jahre Ladyfest. Rhizomatische Netzwerke einer lokalen, transnationalen und virtuellen queer-feministischen Szene«, in  : Rosa Reitsamer, Wolfgang Fichna (Hg.), They Say I’m Different … Popularmusik, Szenen und ihre AkteurInnen. Wien, 208–227

Informationen zu »Ladyfesten« und zum »Rampenfiber«-Festival Ladyfest Wien Archiv  : http://www.ladyfestwien.org/archiv.htmlLadyfest Wien 2004  : http://work. malmoe.at/artikel/erlebnispark/674/1 Ladyfest Wien 2007  : http://plone.ladyfestwien.org  ; http://plone.ladyfestwien.org/texte/interventio nen-raeume-veraendern Rampenfiber Festival 2012  : http://www.fibrig.net/  ?page_id=889 (alle Links Juni 2013)

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

Räume bilden im Fokus Ein Bündnis zwischen Architektur und Film

Ein interdisziplinärer Beitrag über die Grundlagenforschung zur Wahrnehmung, Aneignung und das Bilden von Räumen. Alleine die Knotenpunkte der Verstrickungen der beiden Disziplinen – Architektur und Film –, ihre Synergien, ihre Geschichten, die sich miteinander, aber nicht ähnlich oder parallel entwickeln, besitzen eine gefühlte Logik, die sich nur über das spielerische Experimentieren in einem Raum der Worte sortieren lässt. Renate Stuefer ist Architektin und unterrichtet an der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien. Karin Macher ist Filmschaffende und unterrichtet an der Filmakademie Wien, mdw. Seit 2007 verwirklichen sie gemeinsame Projekte unter dem Namen »setting^up«. Es folgt ein Drehbuch/Treatment zu »Räume bilden im Fokus«.

Director’s Statement Raum wirkt

Wir passen uns der räumlichen Umwelt an. Wir überlassen uns dem Raum in seiner permanenten Anwesenheit meist unreflektiert und widerspruchslos. Er quartiert sich in unserem Leben ein und formt oft unmerklich und unbewusst, jedoch in großem Maße unsere Persönlichkeit sowie die Entwicklung unserer Gehirnstrukturen. Wir denken Raum als passives Gefäß, obwohl er unser Handeln lenkt, manches ermöglicht und anderes verhindert. Er arrangiert und ordnet unser Leben. Er greift aktiv in unser Leben ein. Wir lassen unsere Körper von Planerinnen und Planern im Raum inszenieren und unsere Gefühle von politischen Raumstrukturen leiten. Wer wird ausgeschlossen, wenn Bezirke durch Unterführungen erschlossen werden, die zu niedrig für Busse gebaut sind  ? Wen trifft es, wenn Parkbänke so geformt sind, dass man darauf nicht liegen kann  ? Wem dient es, wenn die Nachrichtensprecherin visuell im Weltall positioniert wird und auf die Weltkugel herunterschaut  ? Warum steckt Schule in ihrem räumlichen Korsett fest, auch wenn die Pädagogik sich bereits verbiegen muss, 51

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

um noch hineinzupassen  ? Warum ist es wichtig, dass ein sechs Monate altes Baby mehr Spielraum bekommt, als sein Gitterbett umfasst  ? Wie viel Platz beanspruchen Sie selbst in einer Besprechung  ? Zuallererst gilt es Raum wahrzunehmen, um in weiterer Folge mündig und widerborstig an unser aller Umwelt mitzubauen. Dies trifft auf viele Frauen in besonderem Maße zu. Auf Frauen, die historisch gesehen auf das Private, also auf das Innen, reduziert wurden und teilweise auch noch werden – während Männern – wie das Sprichwort sagt – die Welt gehört  ? Deshalb müssen Frauen, die einen Raum in dieser patriarchalen Welt erobern wollen, einen meist doch noch viel höheren Aufwand betreiben als Männer, um dieses Ziel zu erreichen. Es bedeutet für sie, einerseits die oben angeführte Zuschreibung auf das Innere, das Zuhause, das Private zu überwinden, wie auch andererseits die Notwendigkeit zu akzeptieren, sich den Raum, die Stadt anzueignen. Der Raum und seine Abhängigkeiten Die Komplexität des räumlichen Bauens im kindlichen Maßstab lässt sich durchaus in Beziehung setzen zu den Aufgaben einer Architektin und eines Architekten. Vor allem dann, wenn Vorgefundenes sowie von Kolleg_innen Entwickeltes mit den eigenen Bedürfnissen abgestimmt wird. So lässt sich das Berufsbild Architekt_in erklären, Schwellenängste können abgebaut und Verständnis entwickelt werden. In den Projekten wird an den sozialen Strukturen gearbeitet, die sich in die tatsächlichen Räume der Gebäude einschreiben und die dann in der Umkehrung die Art und Weise prägen, wie wir diese Räume nutzen, also uns selbst formen bzw. beschreiben. So berührt der Prozess eine sehr private und intime Seite eines jeden Mitwirkenden, Erinnerungen werden geweckt, es wird mit Sehnsüchten gearbeitet. Die entstandenen Räume sind gesellschaftliche Räume, die nicht nur produziert, sondern vor allem auch genutzt und bewohnt werden. Im Besonderen ist die Veränderung durch die Nutzung bzw. die anders als geplante Nutzung als Erfahrung relevant und soll beobachtet und nachträglich analysiert bzw. reflektiert werden. Die Architektur konkretisiert sich über spezifische Komponenten wie das Verhalten von Nutzer und Betrachter. Grenzen und Übergänge zwischen innen und außen, Intimität und Öffentlichkeit weichen auf und verwischen. So kann es auch gelingen, wiederholt in der Dichte des entstandenen Konglomerats an Räumen, Orte neu zu entdecken und deren Veränderung als realen Prozess 52

Räume bilden im Fokus

zu erleben. Die soziale Charakteristik, die besonderen Bedürfnisse der einzelnen Nutzer_innen und deren sehr unterschiedliche Wünsche, die Notwendigkeit der Integration gesellschaftlicher Kontexte bei der Gestaltung und Aneignung von Räumen werden so transparent. Ebenso gilt der Umkehrschluss  : Die Rolle des Gestaltens für die Gesellschaft und die damit verbundene mögliche Integration oder der Ausschluss von Gesellschaftsgruppen und die damit verbundene soziale Ungleichheit werden sichtbar. (Stuefer 2007, 23) Spiel Räume  ! Schon mit kleinen Eingriffen und Verfremdungen bilden sich neue, veränderte, auf den Kopf gestellte Räume. Allein ein gespanntes Kreppband kann Wege lenken. Wir versuchen für Kinder eine Umgebung vorzubereiten, die eine unbestimmte und definitionsoffene kindliche Raumaneignung anregt. So entstehen Möglichkeitsräume, in denen spielerische Interaktion zum sensiblen und lebendigen Treffpunkt von Architektur und Film bei der gemeinsamen Raum- und Formsuche wird. Handeln wird zur Mitteilungsform des Raumes und seiner Benutzer_innen. Das Bauen im Maßstab 1  :1 ist eine Reise. Selbst wenn dasselbe Ziel angepeilt wird, sind die Bedingungen stets unterschiedlich. Die Umgebung, das Wetter, die Mitreisenden, das Material, die Kondition und die Tagesverfassung, die Wege, die Prozesse, die Hürden, die Beschilderung, die Impulse und Inputs, … eröffnen und fordern unterschiedliche nicht-lineare Richtungen, die eingeschlagen werden können und müssen. Es entstehen unterschiedliche Projekte, innerhalb derer nicht das direkte Lernen der gekennzeichnete Ankunftsort ist, sondern das Vernetzen von Wahrnehmung, das explorativ-experimentelle Handeln sowie das Beobachten und Erkennen von Wirkungszusammenhängen. Es werden spielend mit Spaß und Freude Räume gebaut und dabei Erkenntnisse über sich selbst und die Umwelt geformt.

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

Abb. 1  : Spiel Räume – gemeinsam handeln, Grafik Stuefer, 2013

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Räume bilden im Fokus

Technische Umsetzung – Film Kommt das Denken in Bewegung, wenn das Tun und das Handeln beobachtet wird  ? Was passiert mit gebauter Realität, wenn der Blick durch die Kamera auf sie fällt  ? Wie kann behutsam mit der Macht einer Kamera gespielt werden  ? Die gemeinsame Anwesenheit von Film und architektonischer Interaktion bedeutet noch kein gelingendes Miteinander. Es gibt keine zugewiesenen Rollen, sondern bei jedem Projekt werden erneut die Handlungsspielräume zwischen gestaltenden Personen, der Kamera und dem Raum als Persönlichkeit verhandelt. Es entstehen Erfahrungen kollektiver und prozesshafter Kreativität. Es geht immer um ein konzentriertes Hinschauen auf den Raum, seine Veränderungen und den Einfluss, den er ausübt. Architektur bewegt sich in ihrer Zeitdimension gegenläufig zum Film. Die Architektur entsteht im Kopf, durch einen Auftrag hin zu einem Raum, der im Computer, im Modell oder auf dem Blatt Papier entsteht, und der dann dreidimensional umgesetzt wird. Film geht im traditionellen Fall von der Idee, dem Buch, aus hin in einen dreidimensionalen filmbaren Raum. Er wird in der Folge auf einem Screen in einem zweidimensionalen Medium veröffentlicht. Bei unseren gemeinsamen Architekturvermittlungsprojekten ändern wir beide – die Filmemacherin und die Architektin – die Blickrichtung und beginnen mit Kindern und Jugendlichen Raum zu spüren und über diese Raumwahrnehmung ein bis dahin lose umrissenes Projekt aufzubauen und abzubilden. Film kann den architektonischen Prozess verdichten, Blicke lenken und intensivieren. Die entstandenen Bilder entwickeln weitere Perspektiven und können kontrovers diskutiert werden. Architektur und Film werden gemeinsam zu etwas Selbstständigem, einem kompensatorischen Ort, der Rückkopplungseffekte und Impulse setzt – für die kindlichen Raumbildungsprozesse und den aktuellen baukulturellen Diskurs. Beim Arbeiten mit Kindern ist Zeit ein wichtiger Baustoff für das Gelingen. Wenn Kinder in ihrem Tun begleitet werden, braucht es Zeit, um miteinander bekannt zu werden, zu sehen und zu verstehen. Das gilt für die Kameraarbeit genauso wie für die Raumarbeit oder einfach das Sein mit Kindern. Oft greifen wir übereilig in das Spiel der Kinder ein – allein ein Blick oder eine Geste kann den Bewegungsfluss umleiten oder stoppen. Zentrale Frage ist und bleibt  : Inwieweit wird der Raum vorbereitet – was ist gemeinsames Konzept und der Rahmen –, um jungen Menschen einen angemessenen Spielraum und eine Gestaltungsmöglichkeit zu geben sowie genügend Grenzen, um sich zu reiben. Braucht es Spielvereinbarungen  ? Wie wird mit der Fragilität von entstehenden Netzwerken umgegangen  ? Wie schafft man mit 55

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

Materialien Bedeutungsoffenheit  ? Wie werden Machtverhältnisse sichtbar  ? Es ist immer ein Spiel zwischen Offenheit und Vorgabe … Mit Film Zeitabläufe und Erkenntnisprozesse an einem Ort kontrolliert wiederzugeben, bietet vielfältige Beobachtungsmöglichkeiten und bereichert die Perspektive. In wenigen Filmminuten können ein ganzer Tag, eine ganze Woche oder sogar ein Jahreszeitenverlauf oder parallel laufende Handlungen eines Schultages gezeigt werden. Während des Projekts »Eigene Wände« machten wir uns auf die Suche und fanden neu entstandene Nischen, Orte, die zur Ruhe oder zum Rennen und Toben einluden. Es entwickelten sich Räume für Begegnungen und Austausch, es entstanden Hindernisse und formulierten sich Sehnsüchte. Für uns persönlich tauchte die Frage auf, wie wir mit der Macht der Bilder umgehen wollen, und die Zeitlupe wurde für uns ein Werkzeug, um Bedürfnisse zu erkennen. Im Drehbuch werden diese Szenen ausführlich beschrieben. Wir stellten also die Kameraführung und den Schnitt in den Dienst der Kinder, um die Blicke auf ihre Raumsuche zu richten. Es gilt, offen in den Prozess zu gehen und hellwach auf das Geschehen im Moment zu fokussieren, beim Drehen auf Stimmungen zu reagieren und sich auf diese einzulassen. Der Blick durch die Kamera verfährt dabei nicht dokumentarisch, sondern ist wie ein Notieren einer Beobachtenden resp. Teilnehmenden – eine ethnographische Reise. Hinter der Kamera und am Schneidetisch sind die Wahrnehmungskompetenz und die Kompetenz im Bündeln, Verdichten und Formen der Blicke bei dieser forschenden Feldstudie maßgeblich für das Ergebnis. Die Fähigkeit und der Mut zum Extempore, die Anliegen der Kinder, die Interessen der Architektin und der Filmemacherin werden zu einer filmischen Bildsprache, in der all diese meist non-verbalen Aspekte und Themen mit eingewoben werden. So werden soziales Handeln, Blicke und Gesten, das Räumen und Bilden eingefangen.

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Räume bilden im Fokus

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

1. Szene Acker

Außen/Morgendämmerung

INSERT  : Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Orten sind nicht zufällig. Ackerlandschaft am frühen Morgen. Nebel hängt über dem Feld. In der Ferne Alleebäume und Wald. WEITE TOTALE tief am Boden. Es ist still. Einzeln sind Vögel, Zirpen, Käfer und Wind zu hören. Weit entfernt ein leises Traktorgeräusch. Auf der dunklen Ackererde beginnt sich langsam Grashalm für Grashalm durch die Erde zu bohren. Langsam, aber deutlich nachvollziehbar wird sie zu einer Wiese … Aus den Klängen entsteht eine Melodie, ruhig und versetzt mit Natur­ geräuschen … MUSIKSCORE  : »Das Gras wachsen hören« Die Kamera geht tiefer, gibt den Blick unter die Grasnarbe frei. Erde, Graswurzeln, Käfer. Langsam kommt das Traktorgeräusch näher. Von rechts kommt ein riesiges Schneidegerät vorne ins Bild. Es ist vorne auf einem Traktor montiert und dazu da, die Grasdecke abzutrennen und einzusammeln. Die Grasdecke rollt sich auf und lässt sich von der Maschine aufheben. Die erste Rolle Rasen beginnt ihre Übersiedlung … 2. Szene Büro, mdw, Wien

Innen/Tag

Ein elegantes Büro mit einem großen modernen Gemälde in klaren Farben, Grau, Türkis und Rot, ist im Hintergrund. Claudia Walkensteiner-Preschl tippt ein E-Mail. Der Text ist auf ihrem Bildschirm lesbar.

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Räume bilden im Fokus

Claudia Walkensteiner-Preschl An  : Macher, Karin CC  : Stuefer, Renate Betreff  : Einladung Ringvorlesung SoSe 2013

Fr., 7. Dez. 2012, Uhr 13.18

Liebe Karin, Wir möchten Dich gemeinsam mit Deiner Kollegin von der TU herzlich einladen, im Rahmen unserer nächsten interdisziplinären mdw-Gender-Ringvorlesung »spiel-Räume  ! Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film« im kommenden Sommersemester 2013 eine Vorlesung zu halten. Geplant ist diese Vorlesung für Donnerstag, 2. Mai (16–19 Uhr gesamter Film/Medienblock). Mit lieben Gruessen – auch von Andrea Ellmeier Claudia Univ.-Prof. Dr. Claudia Walkensteiner-Preschl Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Institut für Film und Fernsehen, Filmakademie Wien

Die Return-Taste wird gedrückt. 3. Szene Innenhof des mdw-Campus

Außen/Tag

Der Kofferraum eines Autos wird geöffnet. Eine Gruppe Rasenrollen liegt aufgestapelt darin. Grün und dunkles, sattes Braun windet sich in Spiralen übereinander. Die Rasenrollen schnaufen und stöhnen. Langsam fängt die erste Rolle Rasen an, sich aufzubäumen und über den Kofferraumrand hinauszurollen. Mit einem Plumps stürzt sie auf den Kiesboden des Parkplatzes. Die anderen Rollen folgen nach. Zielstrebig rollen sie in das Gebäude hinein und auf den Lift zu. 4. Szene Gang zum Seminarraum/Seminarraum

Innen/Tag

Die erdigen grünen Rollen verschwinden in dem modernen, vor Kurzem in Betrieb genommenen Seminarraum. Hinter ihnen her sind Karin Macher und 59

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

Renate Stuefer. Sie sind bepackt mit Taschen, Stativ und Kamera. Gleichzeitig bemühen sie sich, mit Schaufel und Besen die Erde und die Grashalme aufzusammeln, die von den Rasenrollen zurückgeblieben sind. Auf einem der Seminartische hat sich bereits ein Stück Rasen breitgemacht. Die Kehrschaufel kommt ins Bild. Wie beim Frisör die Haare wischt Karin mit dem Bartwisch die Grashalme weg (die Spitzen vom frischen Haarschnitt) und bürstet die grüne Frisur in Form … 5. Szene Seminarraum

Innen/Tag

Die Vorlesung ist in vollem Gang. Auf und unter den U-förmig aufgestellten Tischen liegen die Rasenstücke  : Sie dehnen und räkeln sich und breiten sich noch weiter aus. Studentinnen und Studenten sitzen mit weiteren Zuhörer_innen im Kreis und hören zu. Ein junger Student ist irritiert und versucht, seinen dicken Schmöker auf den Tisch zu legen. Die Grashalme strecken sich dem Buch freudig entgegen … Der Student ist irritiert und nimmt es schnell wieder zu sich. Er kämpft mit seiner Koordination. Er will, ohne den Tisch zu nutzen, weiter mitschreiben und auch das Buch nicht auf das Gras legen. Dies fällt ihm offensichtlich gar nicht leicht. Eine der Zuhörerinnen hat sich die Schuhe ausgezogen und spielt mit ihren Füßen im Gras unter den Tischen. RENATE INSERT  : Renate Stuefer, Architektin Die Strategie der Verfremdung steht ebenso wie der spielerische körperbetonte Umgang mit Raum im Mittelpunkt unserer Vermittlungsarbeit. Es ist eine Einladung, sich Räume durch aktive Körpererfahrung anzueignen, sie durch Handeln zu konstituieren wie auch neue Raumerfahrungen aus der Perspektive der Selbstwahrnehmung zu machen. Die Verfremdung und Erweiterung ihrer Funktion stellt Normierungen in Frage und ermöglicht gegenkulturelles Handeln. Es ist eine Ermutigung zum phantasievollen Umgang mit Gewohnheiten. (cont.)

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Räume bilden im Fokus

Karin steht an der Seite mit einer Kamera in der Hand. Sie filmt mit. RENATE Bei unseren Projekten, die immer auch eine Partnerschaft von Architektur und Film abbilden, spielt die Vorbereitungsphase die essenzielle Rolle. Hier legen wir die Rahmen­bedingungen für die Selbstfindungsprozesse fest. Was ist nötig, um später im Projektverlauf möglichst große Freiheit im Handeln und Ablauf zu bieten  ? Denn nur so können Spielräume zu Bildungsräumen werden, die sich im Verhältnis zwischen Subjekt und Raum abspielen.

Karin legt die Kamera in den Rollrasen auf dem Tisch, diese filmt weiter, während Karin nach vorne tritt. Im Hintergrund ist die Leinwand zu sehen. Eine aktuelle Statistik der Filmakademie Wien wird via Beamer eingeblendet  : Wie viele Männer bzw. Frauen bewerben sich pro Studienrichtung  ? KARIN INSERT  : Karin Macher, Filmschaffende Und hier setzt auch mein Zugang zu diesen Projekten ein. Auch Film vermittelt uns Normen und Gewohnheiten. Es ist mir ein Anliegen vor und hinter der Kamera, im Schnitt – im gestalteten Film als mächtiges Instrument – Differenzen sichtbar zu machen bzw. bereits im Tun manifestierte Verhaltensmuster und soziale Vorstellungen aufzubrechen.

Auf der Leinwand sind Bilder von Making-ofs einzelner Projekte. Man sieht vorwiegend junge Frauen an der Kamera. KARIN Zentrale Frage ist und bleibt  : Inwieweit wird der Raum vorbereitet – was ist gemeinsames Konzept und Rahmen –, um jungen Menschen einen angemessenen Spielraum und eine Gestaltungsmöglichkeit zu geben sowie genügend Grenzen, um sich zu reiben  ?

Großaufnahme der Hand einer Studentin, die den Rasen vor ihr am Tisch streichelt. Sie zupft die losen Halme heraus. Der Rasen bekommt ein Eigenleben … schmiegt sich ihrer Hand entgegen, lässt sich mit sichtlichem Wohlwollen streicheln.

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

SCHNURREN und langsam beginnt die MUSIK  : »Das Gras wachsen hören« KARIN Wie bekommen wir junge Menschen dazu, neue Wege zu denken  ? (Braucht es Spielvereinbarungen  ?) Der Zugang übers tatsächliche Handeln, selbst Dinge zu erfahren, zu spüren ist für mich gangbarer Weg geworden … Hier nun ein Beispiel des Drehs im Bundesrealgymnasium am Contiweg.

TON blendet langsam aus … 6. Szene BG, BRG Contiweg – Schulhof

Außen/Tag

Das Schulgebäude ist neu, glatt und unpersönlich. Es ist die Zeit zwischen zwei Unterrichtseinheiten. Schüler_innen sind unterwegs, in Bewegung. LÄRM Kindergeschrei und Rennen, Toben Man sieht, wie sich im Schulhof riesige Flächen Endlos-Wellpappe unter Kinderhänden winden und verwandeln. Schüler_innen verändern das serielle Aussehen der großen beigen Pappflächen, lachend und scherzend mit Stanleymessern in den Händen. Eigene Wände klappen und poppen in der ansonsten nackten und sterilen Schullandschaft auf. Bewegliche Fenster, Türen und Wandelemente entstehen durch aufwendige Falttechniken. Vielfältige Pop-up-Räume bevölkern die Schule. INSERT  : Projekt Endlos-Wellpappe, eigene Wände VOICE-OVER aus dem Seminarraum beim Vortrag der Ringvorlesung. RENATE (Off) Vor Ort waren wir mit dieser Situation am Limit – es war wild und laut. Erst beim Schneiden und Immer-wieder-Anschauen, mit und ohne Ton, wurde für uns Folgendes sichtbar  : Die Jungs haben sich genau an den Arbeitsauftrag des Raumbauens und Raumforschens gehalten und sich den Bewegungsraum geschaffen, den sie brauchen – ein verwinkeltes Labyrinth mit vielen Laufmetern.

Eine Gruppe Schüler_innen macht sich auf den Weg in die Direktion, sie wollen ihre Direktorin einladen, ihre neu gebauten Räume zu besuchen. Karin steht mit 62

Räume bilden im Fokus

der Kamera auf einem Stativ an der Seite und beobachtet die gesamte Szenerie. Renate ist mit auf der Suche … 7. Szene Schule Contiweg – Schulhof Labyrinth

Innen/Tag

Grinsende Bubengesichter sind in labyrinthischen Gängen beim kollektiven wie bewegten Raumforschen zu sehen. Sie rennen, sie springen, sie schauen um die Ecken, sie suchen und verstecken sich. Rennen durch die Gänge. Fangenspielen und Verstecken (Subjektive Kamera). VOICE-OVER aus dem Seminarraum beim Vortrag der Ringvorlesung. KARIN (Off) In der Umsetzung des Themas arbeiten wir als Projektverantwortliche mit filmischen Mitteln wie Zeitraffer, Rückwärtsabläufen und Wiederholungen. Diese Effekte sollen die Zuschauer_innen zum genaueren Hinschauen führen und können bestimmte Handlungen und Abläufe genauer zeichnen. Die eigens von Jonnie White komponierte Musik wird bei unseren Projekten im Regelfall direkt zum Schnitt bzw. während des Schneideprozesses komponiert. Die Musik öffnet einen zusätzlichen Wahrnehmungsraum, der das Filmbild verstärkt und kommentiert.

MUSIKSCORE  : »Stereo Bells« INSERT  : Eigene Wände, Produktion  : »setting^up«, 2012 Die Zeit und die Jungs laufen rückwärts. Das Pappwand-Labyrinth entwirrt sich. Es wird dabei schneller und schneller – schwankt und kippt – und bleibt groß und eben als Pappfläche im Hof liegen. 8. Szene Schule Contiweg – Aula

Innen/Tag

In der Aula. Patrick steht vor Karin und Renate. Er lädt zwar die beiden ein, wendet sich jedoch direkt an die Kamera. Patrick gehört nicht zu der Truppe von Jungs, die kollektiv diesen schlauchartigen Raum erkundet haben. Patrick ist ein stiller und bedacht handelnder Junge. Er hat sich bei diesem Projekt Raum genommen – viel Raum. Er hat sich riesige Räume inmitten der Aula gebaut – 63

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

Räume, die nicht zu übersehen waren. Wege ganzer Horden an Schulkindern wurden durch seine Bauwerke gelenkt und beeinflusst. PATRICK (Schüler) Wenn man eine Abkürzung will, dann geht man hier herein. Hier haben wir noch ein Zimmer …

Sein Stolz wird in seiner im Film deutlich erkennbaren einladenden Präsentationsbewegung sichtbar. Der mit Patricks Sessel beschriftete Stuhl ist Zeugnis dieser notwendigen persönlichen Aneignung im Kontext eines genormten Schulgebäudes. VOICE-OVER aus dem Seminarraum RENATE (Off) Die Kamera wird zum Spielgefährten und zum Zeugen. Patrick lädt uns und die Kamera in seine Welt ein. Wir lassen uns einladen und führen.

Patrick bleibt in seinem Raum auf seinem Sessel allein, er sieht durch die aufgeklappten Öffnungen der Wand hinaus in die Aula. 9. Szene Schule Contiweg – Aula

Innen/Tag

In einer Ecke der Aula. Eine Gruppe junger Mädchen in einem aus Wellpappe gebauten Zimmer. Auf einer der Wände steht groß SPRECHZIMMER. Eine weitere Wand hat Fenstertüren in Form der Anfangsbuchstaben der bauenden Mädchen. Die Mädchen bringen gerade ein Schild an  : NICHT AUFMACHEN LACHEN, KICHERN, REDEN der Mädchen dringt durch die Wände. RABIA (Schülerin) Warum habt ihr Sprechzimmer geschrieben und nicht Wohnzimmer  ? MANAR (Schülerin) Es ist aber kein Wohnzimmer  !

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Räume bilden im Fokus

Die Mädchen laufen weiter um die Ecke in einen anderen Teil ihres Sprechzimmers. Nur Florine kommt auf die Kamera zu und spricht direkt hinein. FLORINE (Schülerin) Wenn man eine Wand besitzt, kann man alles draus machen … und es ist praktisch, Wände zu haben, die man schieben kann – je nachdem, was für ein Zimmer man gerade braucht.

VOICE-OVER aus dem Seminarraum RENATE (Off) Die Direktorin haben wir zwar gefunden, sie nahm sich aber – zur großen Enttäuschung der Kinder – keine Zeit. Allerdings machte sie sich lautstark Sorgen, ob von diesem Projekt Schnittspuren am Boden zurückbleiben würden. Zudem war dann auch noch die Lehrerin, die uns eingeladen hatte, dieses Projekt in der Schule zu verwirklichen, mit dem Pause-Klingelton verschwunden. Zurück blieben enttäuschte junge Menschen, die sich in ihre Räume zurückzogen, um dort alleine oder als Gruppe mit oder ohne uns über all das Passierte zu sprechen. Das Ausmaß dieser Bestürzung traf uns unerwartet.

10. Szene Schule Contiweg – Schulhof

Außen/Tag

WEITE TOTALE auf den Schulhof. Es ist ein schön angelegtes nagelneues Areal. An den Seiten sind weit ausladende dekorative Kiesflächen. Eine Gruppe Schüler_innen will durch den Kies in die Aula gehen. Sie wird vom Schulwart abgefangen und vom Kies runtergejagt. Er kehrt mit dem Besen hinter ihnen her. Die Schüler gehen missmutig auf dem ordentlichen Weg weiter. Blick auf den Schulwart, der sich erzürnt über die Schüler_innen bei der Kamera beschwert. SCHULWART Wir sind hier eine Patschenschule  !

Er kehrt weiter. VOICE-OVER aus dem Seminarraum 65

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

KARIN (Off) Es fiel uns schwer, die Kinder dort zurückzulassen. Ihnen zuerst ein Werkzeug und eine Methode in die Hand zu geben, um ihre Bedürfnisse sichtbar zu machen, und sie dann gegen eine Wand der Ignoranz laufen zu lassen.

Hinter dem Schulwart sieht man langsam eine der Rasenrollen um die Ecke kullern. Gefolgt von weiteren, schleichen sie sich langsam an. Es legt sich ein sanftes Grün über die graue kühle Kieslandschaft. MUSIKSCORE  : »Das Gras wachsen hören« RENATE (Off) Beim Filmschneiden haben wir sehr mit uns gerungen, ob wir die oben angesprochene Stimmung im Film zeigen wollen oder nicht. Nach vielen Gesprächen haben wir uns dagegen entschieden, weil sie die Raumarbeit der einzelnen Kinder überdeckt hätte.

Die Rasenrollen erobern den gesamten Vorplatz und wälzen sich in die Schule hinein. Durch die Fenster ist zu sehen, wie sie sich unter die Wellpappe-Räume schmiegen. Die Schüler_innen beginnen sofort, sich darauf auszubreiten … diesen grünen Teppich in ihre Räume zu integrieren und zu bewohnen. 11. Szene Schule Contiweg – Aula

Innen/Tag

Im Innenraum des Sprechzimmers haben es sich die Mädchen auf der Wiese gemütlich eingerichtet. Ihr Gesprächsthema sind Raumvisionen – eine Welt, die sie gerne hätten. FLORINE Ich möchte mit dem Geruch feuchter Erde aufstehen, mit den Zehen in der nassen Wiese frühstücken, nach der Schule in der duftenden Blumenwiese ein Sonnenbad nehmen und jeden Sonntag das Gras mähen, es dann zu einem Haufen formen und mich hineinlegen, weil ich den Duft von frisch geschnittenem Gras liebe … paradiesisch  !

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Räume bilden im Fokus

EMMA (Schülerin) Jede Wohnung bräuchte ein Wiesenzimmer zum Toben und Ausruhen.

VOICE-OVER aus dem Seminarraum RENATE (Off) Der Boden, auf dem wir leben, beeinflusst unsere Bewegungen und unser Sein. Schauen wir uns in der Welt um, können wir viel über Kulturen und Lebensweisen anhand der Böden, auf denen gelebt wird, erkennen.

Die Mädchen sind barfuß. Sie werfen ihre Patschen durch die Fenster … Draußen vor dem Fenster schleppt ein Trupp Mädchen große Pappwände. Sie lachen und hinterlassen Spuren im Grün des Rasens. EMMA Ohne Wiese wäre die Natur nur halb so groß  !

12. Szene Seminarraum

Innen/Tag

Auf der Leinwand im Hintergrund des Seminarraumes sind Filmbilder aus »Eigene Wände« zu sehen. RENATE Wir passen uns alle der räumlichen Umwelt an. Raum arrangiert und ordnet unser Leben. Er greift aktiv in unser Leben ein. Wir lassen unsere Körper von Planerinnen und Planern im Raum inszenieren und unsere Gefühle von politischen Raumstrukturen leiten. Wer wird ausgeschlossen, wenn Bezirke durch Unterführungen erschlossen werden, die zu niedrig für Busse gebaut sind  ? Wen trifft es, wenn Parkbänke so geformt sind, dass man darauf nicht liegen kann  ? KARIN Für mich persönlich sind unsere Projekte eine Möglichkeit, selbstbestimmtes Handeln unter einem mädchen- und frauenfördernden Aspekt umzusetzen, zum Beispiel in der Aktivierung von Eigenkompetenz im Umgang mit Raum, Technik und Produktionsweisen. Es geht mir einerseits darum, Macht über das produzierte Bild zu bekommen, und andererseits um die Entwicklung einer Selbstrezeption als Akteurin. 67

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

Auf der Leinwand im Hintergrund des Seminarraumes sind Bilder des Mädchentags bei der KinderuniTechnik und der KinderuniKunst zu sehen. RENATE Bei unserer Forschung darüber, wie wir das breite Feld der Architektur für junge Lai_innen delikat aufbereiten könnten, ohne dass es vorgekaut schmeckt, haben wir uns auf die Suche gemacht und die Wiese als Thema entdeckt. Denn  : Wer sich mit der Wiese beschäftigt, ist gut geerdet. Wir verpacken es in einen wissenschaftlichen Ton und nennen es Grund-lagen-Forschung. KARIN Ich möchte gerne einen Satz von Gerda Lerner zitieren, der mir in meinem Leben, in meiner Arbeit mit Filmen sehr wertvoll ist  : Feministisches Bewusstsein gründet sich auf Selbstbewusstsein, eine Wahrnehmung unserer besonderen Bedürfnisse als Frauen. Und genau dies ist die Übung für Schülerinnen und Schüler, die in den Workshops realisiert wird … das Wahrnehmen der eigenen Bedürfnisse … wenn dies nicht von klein auf gelernt wird, ist es mühevoll nachzuholen. Lerners Überlegungen beinhalten auch den nächsten Schritt, die Wahrnehmung der Gemeinschaft der Frauen als Kollektiv. Wie wir immer wieder beim konkreten Raum-Bauen und -Bespielen sehen, eignen sich Burschen im Vergleich zu Mädchen viel mehr Platz an. Mädchen lassen sich leicht verdrängen, Die Notwendigkeit der gegenseitigen Unterstützung wird daher von uns bei den Arbeiten von »setting^up« immer als zentrale Handlungsebene gelebt. Deshalb ist die Wiese – die auch hier vor uns liegt – für mich ein Ort des Handelns, der machbaren Schritte, der Interventionen, des Selbst-Hand-Anlegens und des Mich-der-Bilder-Bemächtigens – ein Ort für Freiheit im Kopf und für neue Wege. Darum folgt hier eine Sammlung von Stimmen über die Wiese als Ort.

13. Szene Burggarten

Außen/Tag

Der Burggarten in Wien. Menschen gehen spazieren, liegen herum. Tourist_innen fotografieren. Eine Frau führt eine Gruppe junger Frauen und zeigt ihnen den Park. 68

Räume bilden im Fokus

VOICE-OVER aus dem Seminarraum RENATE (Off) Wachstum einer Gesamtmasse aus Individuen findet statt – hier und jetzt. Eine Ausbreitung an Lebensformen, ein urbanes Wuchern, auf das zu wenig Augenmerk gelegt wird. Denn damit ein Organismus als Ganzes wachsen kann, muss das Einzelwachstum, die Entwicklung des und der Einzelnen, Platz finden. Wir haben uns auf die Reise begeben und Expertinnen und Experten aus den Bereichen Architektur und Film sowie deren Vermittlung befragt  : Was bedeutet der Ort »Wiese« für dich persönlich und was macht diesen aus  ? Wohin würdest du diese Qualitäten gerne verpflanzen und warum  ?

STADTGERÄUSCHE kommen aus dem Hintergrund, laut und störend. Felicitas Konecny, die Stadtführerin, sammelt die Gruppe junger Frauen um sich. Sie setzen sich auf den Rasen. Renate setzt sich zu ihnen, sie hat eine kleine Handkamera dabei. Karin steht an der Seite und filmt die Gruppe. FELICITAS INSERT  : Felicitas Konecny, Stadtführerin Themenspaziergänge Architektur Der Burggarten steht für die Möglichkeit, sich ohne Konsumzwang zu treffen, zu zweit, zu dritt oder spontan in einer beliebigen Zahl – der Kreis öffnet und schließt sich immer wieder. Die Lage ist zentral, man muss sich nicht verabreden, man kommt vorbei. Hier bildet sich – und das ist leider nicht selbstverständlich, es musste erkämpft werden – die Vielfalt der Stadt ab  : Studierende und Müßiggänger_innen aller Arten treffen auf das geschäftige City-Volk und Tourist_innen. Einen Ausschluss gibt es allerdings  : Durch das Hundeverbot müssen auch viele Punks draußen bleiben – sonst wär’s das Paradies auf Erden …

MUSIKSCORE  : »Das Gras wachsen hören« Im Hintergrund ist eines der Tore in Richtung Ring zu sehen. Dort wirbeln, von links kommend, die Rasenrollen hinter den Autos her. Langsam verdrängen sie den Verkehr. Der Motorenlärm nimmt immer mehr ab. Karin und Renate gehen mit den Kameras den rollenden Rasenrollen entgegen. Sie filmen die Aktion auf der Straße aus unterschiedlichen Perspektiven. 69

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

FELICITAS Wien würde sicher noch einiges mehr an Rasenfreiheit vertragen. Gemeinsam mit den quirligen Rollen Rasen kommt eine Truppe Punks mit Hunden in den Garten hinein.

14. Szene Museumsquartier Innenhof

Außen/Tag

Zwei Frauen und ein Mädchen stehen auf Rollrasen im Museumsquartier. Dieses Rasen-Implantat wird gerade abgebaut, die Überreste der Impuls-Tanz-Eröffnung 2013 liegen sichtbar herum. VOICE-OVER aus dem Seminarraum RENATE (Off) Nicht das Verhältnis von Institution und Raum steht im Mittelpunkt, sondern das Verhältnis von Subjekt und Raum, in dem sichtbar wird, dass sich Selbstbildungsprozesse in diesem Verhältnis entwickeln. Die Rahmungen selbst sind keine Räume, sondern Bedingungen, unter denen Räume erst durch das Handeln und Wahrnehmen der AkteurInnen entstehen.

Das Abbau-Team der Impulswochen wirkt irritiert. Noch während sie den ausgelegten Rasen abbauen, trudeln von der Seite neue Rasenstücke herein. Diese drehen, kreiseln, schieben sich und breiten sich aus und begrünen erneut das Museumsquartier. Renate geht auf die neu ankommenden Rollen zu. Sie hilft ihnen, weitere Räume zu erobern, Stiegen sanft zu überwuchern, vertikale Mauern zu besiedeln und grün behaarte kartoffelförmige Sofas zu formen. MUSIKSCORE  : »Das Gras wachsen hören« CHRISTINE INSERT: Christine Aldrian-Schneebacher, Architekturvermittlerin Architektur Spiel Raum Kaernten Den Traum von der grünen Wiese kennen wir alle, und wir versuchen, ihn auf unterschiedliche Weise zu verwirklichen. (cont.) 70

Räume bilden im Fokus

Kennt ihr die Geschichte? »Da ist eine wunderschöne Wiese«, sagt Herr Timtim im gleichnamigen Kinderbuchklassiker von 1985. Woraufhin alle Stadtleute regelmäßig mit dem Auto zur wunderschönen Wiese fahren und sie Schritt für Schritt noch weiter verschönern, bis sie sich von der Stadt nicht mehr unterscheidet.

Der Rollrasen hat großflächig das Museumsquartier erobert. Unzählige Jugendliche kommen dazu und fangen an, sich zu gruppieren. Sie machen es sich auf dem einladenden Grün gemütlich. Einige fangen an, Musik zu spielen. CHRISTINE Oft genug geschieht es noch so wie im Kinderbuch, und die ehemals grünen Wiesen entwickeln sich zu Einfamilienhausansammlungen mit Garagen, Swimmingpools und ein bisschen Rasen statt Wiese rundherum.

Claudia lacht. Renate kommt mit der Kamera und einer Rolle Rasen im Arm zu ihnen. Sie legt die Rolle ab und setzt sich auf das zusammengerollte Grün. CLAUDIA INSERT  : Claudia Lohinger, Senso-motorische Wahrnehmungsförderung Ich bin noch rechtzeitig auf Timtims Wiese gewesen und bin von dieser spielend hinuntergekullert und unten liegen geblieben. Dann hab ich mir von dort einen Blumenstrauß als Übergangsobjekt mit nach Hause genommen.

Karin kommt zu der Gruppe und beginnt das Kamerastativ aufzubauen. 15. Szene Wien Museum, Karlsplatz

Außen/Tag

Auf dem Karlsplatz vor dem Wien Museum steht eine Gruppe Jugendlicher und mehrere Leute. Sie geben Interviews. Neben ihnen liegen große Rollen Rollrasen in Form einer großen grünen Pyramide.

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

SCHÜLERIN INSERT  : Schülerin und Mitgestalterin einer Performance (geplant indoor im Atrium im Wien Museum) Wir sind immer vom Rollrasen ausgegangen. Wir haben während der Vorbereitungen immer vom Kunstrasen gesprochen und meinten einen Fertigrasen … das Museum dachte, wir meinen damit Plastikrasen … und jetzt dürfen wir nicht mit der Grasnarbe ins Museum – das hat konservatorische Gründe. Wir haben spontan beschlossen, stattdessen direkt den Karlsplatz zu begrünen.

Sie grinst. Die anderen Jugendlichen verlegen die Rollen. Direkt vor dem Eingang des Museums entsteht eine sinnlich wachsende Begegnungsfläche. ISABEL INSERT  : Isabel Termini Vermittlerin Wien Museum, Leitung des Eintagsmuseums Erst bei der Anlieferung zeigte sich, dass wir verschiedene Rasen meinten. Durch das Vokabelgewirr wurde mit dem Rasen auch die Kommunikation vor das Museum direkt auf den Karlsplatz verlegt. Damit wurde der Rasen zum sozialen Ort – eine Geschichte aus dem Museumsalltag.

Die Gruppe der Interviewten beginnt ein Gespräch und wird dabei immer wieder von Schüler_innen mit Rollrasen umrollt. Marlies Rief behält die Ruhe und erzählt ihre Geschichte. MARLIES INSERT  : Marlies Rief, Landschaftsarchitektin Beruflich habe ich mit Wiese meist im Zusammenhang von Kostenminimierung und unter dem Motto »muss pflegeleicht sein« zu tun. Dabei stellt sich aber auch oft raus, dass die vermeintlich »gmahte Wiesn« ein bisschen stachelig ist. ROBERT INSERT  : Robert Mokosch-Wabnitz, Leiter Consulting & Planung Bene Ich wäre schon froh über eine stachelige Wiese in meinem Berufsalltag  ! Zum Beispiel in der Aula im Bürohaus, als ein Ort zum Ruhigwerden, sich Sammeln, sich Treffen, sich aus dem Weg Gehen, um sich zu konzentrieren und zu inspirieren … Ein Ort, der einen Geist hat, der weiterdenkt, … 72

Räume bilden im Fokus

Von den arbeitenden Schüler_innen kommt eine mit einer dicken Rolle Rasen vorbei. Sie wirft sie den Erwachsenen lachend vor die Füße. Diese fangen die Rolle auf … Gemeinsam mit den Schüler_innen beginnen sie den Rasen als langen Zebrastreifen zu verlegen. KARIN INSERT  : Karin Harather, Künstlerin, Architekturfakultät TU Wien Obwohl es viele dieser Wiesen meiner Kindheit auch heute noch gibt, haben sie sich doch nachhaltig verändert – die Blumenvielfalt ist durch die intensivere landwirtschaftliche Nutzung und den damit verbundenen Einsatz von Kunstdüngemitteln verloren gegangen, viele Arten sind gänzlich verschwunden. Trotzdem stellt sich für mich, wenn ich über diese Wiesen gehe, noch immer ziemlich rasch ein Gefühl von Freiheit und Zufriedenheit ein. Direkt verpflanzen lassen sich diese Qualitäten wohl leider kaum.

Der Karlsplatz wird von Wiese überflutet. Dort, wo sich das Rasenrelief an die Inseln mit hochgewachsenen Gräsern anlehnt, beginnt es auch schon in die Höhe zu schießen. Man sieht eine bunte Vielzahl an Blumen sich in die Höhe strecken. Es wächst eine Sommerwiese, umringt von Karlskirche und TU. 16. Szene Sommerwiese am Karlsplatz

Außen/Tag

Antje Lehn kommt mit der Kamera auf die Sommerwiese. Wir sehen sie zu Beginn durch den Sucher der Kamera. Dann verändert sich das Bild und sie steht neben einem jungen Kind, das in der Sommerwiese liegt. Die beiden sehen einander ähnlich. Das Mädchen liegt in der Sommerwiese im langen Gras flach auf dem Boden. Es ist vom Weg aus nicht mehr zu sehen. Es blickt nach oben. Das Gesicht strahlt Ruhe und Heiterkeit aus. Antje schaut zum Kind. Sie greift ins Nichts, als würde sie ein Bild aus der Luft holen. Ihre Hand zaubert und greift das Bild des Mädchens in der Sommerwiese. Die Szene des Mädchens wird in ihrer Hand zu einer Fotografie. Antje als Erwachsene hält jetzt das Foto mit dem Mädchen zwischen ihren Fingern.

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

ANTJE INSERT  : Antje Lehn, Architektin Akademie der bildenden Künste Wien So einen schönen Ort wünsche ich mir immer in der Nähe. Vielleicht könnte man all das in eine Tasche geben und die Wiese bei Bedarf ausbreiten … – um für einen Moment unsichtbar zu sein.

Es ist ein altes Foto aus ihrer Kindheit. Der Hintergrund ist wieder der Karlsplatz, die selbe Sommerwiese wie zuvor. Zu ihr kommen Nora und Monika, sie blicken auf Antjes Foto. NORA INSERT  : Nora Amélie Sahr, Architekturstudentin So oft habe ich mich in den letzten Jahren nach dem Weitblick und Einblick aus den frühen Morgenstunden in den kniehohen Wiesenlandschaften meiner Jugend gesehnt. MONIKA INSERT  : Monika Abendstein, Architekturvermittlerin aut. architektur und tirol  … und nach dem satten Grün mit den vereinzelten weißen und gelben Punkteansammlungen. Für mich ist die Wiese ein Bett für Geborgenheit und Versöhnung. Gleichzeitig ist sie wie ein Übergang für Sehnsucht und Weite.

Von hinten kommend, stellt Wolfgang sich zu ihnen WOLFGANG INSERT  : Wolfgang Gasser, Historiker Was es heißt, eine grüne Wiese vor Augen zu haben, erlebte ich vor einigen Jahren eindrücklich während eines Studienaufenthalts in Israel. Ich erfasste, wie sehr ich von Kindheit an mit diesem Anblick vertraut und wie sehr mir sattes Grün über Monate hinweg abgegangen war. Es war die Farbe Grün …

Die Sommerwiese auf dem Karlsplatz verändert sich während seiner Geschichte. Sie wird zu weiten Feldern. Alles ist in Wüstentönen, verdorrtes Gras und braune Hügel in der Ferne. 74

Räume bilden im Fokus

WOLFGANG Bis dahin hatte ich mich noch in der Illusion gewogen, frei und ortsungebunden zu sein. Doch es waren die grünen Wiesen einer vertrauten Umgebung, die mich wie Magie an sich zogen. Und wie sie schon in »My Fair Lady« weiterfragte  : »Was macht das blöde Grün  ?« – »Es grünt so grün  !«

Der Rasen schwappt über die Landschaft … es grünt … so grün  ! Sie wird zu … 17. Szene Neubaugebiet, Wilhelmshaven

Außen/Tag

… einer grüne Wiese hinter einem Neubaugebiet mit Einfamilienhäusern der Sechzigerjahre in Wilhelmshaven. In der Ferne ist die Nordsee, dazwischen Marschland. Manfred Blohm kommt mit Gummistiefeln im Ölzeug auf die Wiese Richtung Meer, er entfernt sich langsam von der Stadt. Er telefoniert beim Gehen. MANFRED INSERT  : Manfred Blohm, Leitung des Bereichs Medienpädagogik Universität Flensburg Die norddeutsche Landschaft ist für einen Alpenländer wie dich bestimmt vollkommen fremd, im Herbst wird es dort früh dämmerig und überhaupt hat diese Landschaft etwas Melancholisches, was auf die Seele abfärbt, wenn man dort geboren und aufgewachsen ist. Ich erinnere mich daran, dass diese Wiese im Frühjahr und Herbst oft nach starken Regenfällen unter Wasser stand.

Während er geht und erzählt, verwandelt er sich in das Kind, das er einst war, und auch die Landschaft um ihn herum in seine Kindheitslandschaft. Die Wiese wächst ungenutzt vor sich hin, unterbrochen von Gräben, die vermutlich der Entwässerung dienen – ein Grasland ohne Wiesenblumen, eine Landschaft mit dem typischen norddeutschen Wetter  : tief hängende Wolken, Regenwetter, Wind. MANFRED (Off) Ich erinnere mich, wie reizvoll und manchmal sogar ein wenig unheimlich es für mich war, mit Gummistiefeln durch die überflutete Wiese zu streifen, zu sehen, dass sich die Pflanzen halb unter Wasser, halb über Wasser befanden. 75

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

Er geht durch den nassen Grund, passt auf, dass er nicht allzu sehr in den unscharfen Grenzbereich zu den Gräben kommt. Es gelingt ihm nicht. Er sackt ein und das Wasser dringt in die Gummistiefel ein. MANFRED (Off) Ich glaube, das ist das, was Kindern heutzutage meist fehlt, zumindest in den Städten  : das ungenutzte Stück Land, das der Natur ausgesetzt ist und sich mit den Jahreszeiten und Wetterverhältnissen ändert. Ein Stück Land, das Kinder zum dort Verweilen anregt, eben weil es nicht eventmäßig aufbereitet wurde, kein Spielplatz ist und deshalb Freiräume für eigene spielerische Erkundung lässt.

Der junge Manfred hockte am Rand der Wiese und schaute lange fasziniert in den Graben, denn es gibt dort allerlei Tiere  : Wasserläufer, Wasserflöhe, Würmer, Wasserschnecken, kleine dunkle Egel und kleine Tiere, die für ihn keine Namen haben. Kleine Frösche hüpfen über die Wiese, er läuft los und fängt sie mit den Händen. VOICE-OVER aus dem Seminarraum RENATE (Off) Der Geschichte liegt die These zu Grunde, dass Spielräume zu Bildungsräumen werden, wenn in ihnen das Verhältnis von Subjekt und Raum und die Bewegung und Interaktion zwischen den beiden zum Thema werden kann.

Er ist am Meer angekommen. WEITE TOTALE über den Strand. 18. Szene Sandstrand, Computerbildschirm

Innen/Tag

Der Strand. Eine Frauenhand schreibt ein Mail an ihrem Tablet-Computer. Wir sehen genau, wie der Text geschrieben und verschickt wird. Im Hintergrund das Meer und badende Kinder.

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Räume bilden im Fokus

Liebe Renate  ! Ich bin auf Urlaub und lasse meine Seele baumeln – Wiesenbitte kann ich nicht erfüllen. Brigitte Moser Bewusstseinserweiterung Coaching Wegbegleiterin

19. Szene Computerbildschirm & Seminarraum

Innen/Tag

Am Bildschirm wird ein Mail geschrieben. Bildfüllend sehen wir, wie der Text entsteht  : Betreff  : re  : wiesenbitte

Datum  : Donnerstag 11. Juli 2013 20  :10

liebe renate, danke für den netten wiesenplausch  ! zur wiesenbitte – da kriegst natürlich auch noch ein paar zeilen lllllllllllllllllllllllllllllllliiiiiiiiiiiillllliiilllllilillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll (eine wiesenzeile vorab mal für dich)

grüße, martina Martina Mückler Tanz- & Ausdruckstherapeutin, Tanzpsychagogin, Ergotherapeutin

RÜCKFAHRT der Kamera in eine Totale Die Schrift wird zu einer Grafik auf der Leinwand im Seminarraum. 20. Szene Seminarraum

Innen/Tag

Der Beamer schaltet auf Weiß. Auf dem Tisch liegen große und kleine Sackerln, Taschen, Küchenmesser und Küchenrollen. 77

Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

RENATE Alle Anwesenden sind eingeladen, abschließend und weiterführend Rasenstücke mitzunehmen und mit ihnen auf den Bestand des Alltags zu reagieren und darin eigenständig zu agieren. Sie können daheim neue Orte und Geschichten pflanzen. Sie haben so die Gelegenheit, als Rollrasenbesitzer_innen aus architektonisch-räumlicher Perspektive ihr Zuhause neu zu entdecken und wahrzunehmen. Wir freuen uns über Fotos und Erlebnisberichte.

Es beginnt ein gemeinsames Zerschneiden, Aussuchen, Vermessen und Einpacken. Karin hat die Kamera abgelegt und sich wieder den Bartwisch geholt. Sie kämpft gegen die Erdbrösel, die der Rasen verliert. Eine Studentin spannt eine Rolle auf ihren Rucksack, nimmt ihr Fahrradschloss und verabschiedet sich. 21. Szene WG Wohnzimmer

Innen/Nacht

Die Studentin kommt in ihrer Wohnung an. Sie schiebt das Sofa beiseite und ersetzt es mit dem Stück Rollrasen. Sie legt sich gemütlich auf ihre neue Wiese. ZEITRAFFER Die Zeit vergeht. Es vergehen Tage und Nächte, der Rasen wächst, wird benützt, belebt und verwendet … Es ist Zeit vergangen und die Wiese ist um zwei Handlängen gewachsen. Sie hat mittlerweile viele lange Grashalme und blüht vereinzelt … 22. Szene Balkon Miethaus

Außen/Tag

Auf einem Wiener Mietshausbalkon liegt ein Stück Rollrasen auf einem großen Müllsack ausgebreitet.

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Räume bilden im Fokus

BRIGITTE INSERT  : Brigitte Weich, Produzentin, Regisseurin Anbei der gewünschte Fotoreport von dort, wo sie jetzt wohnt. Wenn sie so weiter gedeiht, muss ich mir wirklich bald einen Balkonrasenmäher zulegen.

Ein kleiner Junge kommt zur Wiese. 23. Szene Innenhof

Außen/Tag

Ein Stück frischer grüner Rollrasen liegt eingebettet neben einem abgetrennten Stück Beet. NIKE INSERT  : Nike Glaser-Wieninger, Filmschaffende Grüne Küsse rundum und nochmals Dank für das Rasenstück. Wie du sehen kannst, liegt es schon in einer Struktur, die von meinen ehemaligen Nachbarn stammt. Gerade unter meinem Fenster.

24. Szene Miethaus

Außen/Tag

Vor der Türe liegt ein Stück Rollrasen auf der Position, die sonst ein Fußabstreifer bekommt. Daneben steht eine Tonkröte. SUSANNE INSERT  : Susanne Wastl, Filmschaffende, Nachwuchskoordination Film, bmukk Bild eines Türeingangs mit Rollrasen-Fußmatte und Tonkröte  : Die Kröte staunt in ihrem Eck  : Wie wuchs denn hier ein Wiesenfleck  ? Bild ohne Kröte  : Den Eintritt, den ich genieße, ziert nun auch ein Stückchen Wiese  !

Ein kleiner Staubsauger kommt ins Bild und saugt über den Rasen.

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

25. Szene Küche

Außen/Tag

Am Küchentisch liegt ein Stück Wiese zwischen den Frühstücksutensilien. Auf der Wiese liegt ein Ei. GABRIELE INSERT  : Gabriele Reisinger, Kamerafrau Grün … Grün, grün, hurra  !  !

Das Ei wird geköpft, um die Wiese herum wird gefrühstückt. 26. Szene Studio Ö1

Innen/Nacht

Renate gibt ein Interview im Ö1-Studio beim »Nachtquartier«, zum Thema Der Raum, mein Spielgefährte Es ist alles sehr technisch-steril dort, bis auf eine kleine Spinnwebe an der Decke. RENATE Raum, in dem etwas geschehen kann – etwas, von dem vorher nicht definiert ist, was es sein wird und wer darin agiert – unerwartete und ungewöhnliche Begegnungen – es geht ums Räume Aneignen, ums Räume Herstellen und ums Räume Abbilden. Räume, die entstehen, in denen das, was geschieht, etwas verändern kann. Ein konzentriertes Wahrnehmen und Erforschen der eigenen und gemeinsamen Bedürfnisse führt zum Wissen, was wir brauchen, und somit dazu, handlungsfähig zu sein, um den Umraum mitzugestalten. Die Machtverhältnisse, innerhalb derer all das stattfindet, werden untersucht. Wichtig ist zu betonen, dass das Ziel einer Auseinandersetzung nicht auf Augenhöhe verfolgt werden kann, wenn die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nicht zugleich mitthematisiert und – im Hinblick auf ihre Veränderung – in Betracht gezogen werden. Performative Handlungen und neue Formen des Umgangs sind Spielgrundlage, in der auch die Strategie looking away für Partizipation Eingang findet. Sie lenkt den Blick auf das, was geschehen kann.

Renate hat sich ein Stückchen Rasen auf den Boden des Radiostudios gelegt und die Schuhe ausgezogen … – die Füße auf gutem Grund. 80

Räume bilden im Fokus

27. Schlusstitel

Ich bitte Sie nun, das Buch zu schließen und eine Wiese zu besuchen – eine imaginäre oder eine reale, eine im Hier und Jetzt oder im Damals. Lassen Sie sich Zeit. Wir warten in aller Ruhe auf Ihre Rückkehr. ENDE

Literatur Die dem Drehbuch vorangestellten Texte sind Auszüge aus der gerade in Fertigstellung befindlichen Dissertation »Der Raum – mein Spielgefährte« von Renate Stuefer. Renate Stuefer (2007), Definitionsoffenes Raumgestalten. Eine Methode, Architektur zu vermitteln. Wien Wir danken allen, die mit ihren Stimmen und Gedanken am Wachstum dieses Textes beteiligt waren. Durch das Drehbuchformat finden Sie alle Zitate, die wir speziell für diesen Buchbeitrag geschenkt bekommen haben, im Drehbuch immer durch »INSERT« gekennzeichnet. Für geringfügige formelle Änderungen aufgrund der Notwendigkeiten eines Drehbuchformats entschuldigen wir uns und bitten um Verständnis.

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

MOOD BOARD

Abb. 2  : DVD-Cover »eigene Wände«, Grafik Stuefer 2012

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Räume bilden im Fokus

Abb. 3  : Still »eigene Wände«, Sprechzimmer, Macher/Stuefer, 2012 Abb. 4  : Still »eigene Wände«, Labyrinth, Macher/Stuefer, 2012 Abb. 5  : Still »eigene Wände«, Patricks Aula, Macher/Stuefer, 2012

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Karin Macher · Renate Stuefer – setting^up

Abb. 6  : Postkarte »setting^up«, Grafik Stuefer, 2012

Abb. 7  : Postkarte »setting^up«, Rückseite mit Filmverzeichnis, Stuefer, 2012

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Andrea B. Braidt

»This is the way we live … and love.« Zur Konstruktion von Liebesverhältnissen in der seriellen Erzählung von »The L Word« (2004–2009)1

Aus dem Kino ins Wohn-Schlaf-Zimmer Kaum ein Ort eignet sich so gut zur Reflexion von Liebesverhältnissen wie das Kino. Seit jeher wird das Schauen aus dem dunklen Kinoraum auf die helle Leinwand mit Zuhilfenahme eines Vokabulars des Begehrens beschrieben  ; immer schon galt einem großen Teil filmtheoretischen Arbeitens das Verhältnis zwischen ZuschauerIn und ProtagonistIn als ein Verhältnis der Identifikation, des So-wie-der/die-Andere-Sein-Wollens. Ins Kino gehen heißt in vielen Fällen, für neunzig Minuten Liebesverhältnisse zu Figuren eingehen und sich in einer Art und Weise in diese Liebe, in dieses Verlangen verlieren, wie man es im wirklichen Leben niemals wagen würde. Zu prekär für den Subjektstatus ist diese »Suture«, das Eingenähtwerden in die Erzählung durch die Wirkungsweise des cinematischen Apparats. Doch das Kino ist auch ein Ort der Wahl für das Ausleben von Liebesverhältnissen, beispielsweise von geheimen, sogenannten »illegitimen«  : Das Date mit dem/der LiebhaberIn wird oft getarnt durch den Kinobesuch. Bereits in der Anfangszeit des Kinos war dieses Potenzial des Ortes von den MoralhüterInnen der Gesellschaft realisiert und als gewichtiges Argument gegen das damals neue Medium in die »Kinodebatte« geworfen worden  : Der dunkle, anonyme Raum öffne Tür und Tor für Sodom und Gomorrha. Sex in den engen Reihen des niemals ganz dunklen Zuschauerraums des Theaters  : undenkbar – im Kino  : eine Selbstverständlichkeit. Der Wahl des zu schauenden Films kommt bei der Date-Gestaltung eine wesentliche Rolle zu. Filme haben Einfluss auf die emotionale Lage der BetrachterInnen und können so zur Vorbereitung (oder Verunmöglichung) zwischenmenschlicher Handlungen beim oder nach dem Anschauen beitragen. Aber die Filmauswahl bedeutet auch Distinktionsgewinn (»Sollen wir uns den neuen Godard ansehen  ?«) und ermöglicht Einordnung des (eigenen und anderen) Marktwerts am Liebesmarkt, gerade am Beginn eines Verhältnisses. 85

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Doch vom Ort des Kinos als Schauplatz für Liebesverhältnisse soll hier eigentlich gar nicht die Rede sein. Sondern von den filmischen Vermittlungen, ohne die das Kino gar kein Ort werden könnte, sondern Nicht-Ort, »unsichtbares« Kino bleiben müsste. Beziehungsweise von der Transformation eines bestimmten Filmgenres für das Medium des Fernsehens. Die Rede soll hier sein vom Genre der TV-Beziehungsserie, jener Weiterentwicklung des Melodramas für das Fernsehen, die ein schier endloses Schauvergnügen im eigenen Wohnoder Schlafzimmer ermöglicht und die dem Darstellen von Liebesverhältnissen schon einfach durch die zeitliche Dimensioniertheit dieses speziellen medialen Dispositivs gänzlich andere Möglichkeiten bietet als der durchschnittlich 120 Minuten dauernde Film. Ich möchte im Folgenden das Potenzial der medialen Konstruktion von Liebesverhältnissen in der amerikanischen Fernsehserie »The L Word« (6 Staffeln, Showtime Networks, USA 2004–2009) ausloten  : Welche Beziehungsformen werden in einer Serie, deren (nahezu) gesamtes Figurenpersonal nicht-hetereosexuell identifiziert ist, darstellbar  ? Wie wird die Normvorstellung der heterosexuellen, monogamen und reproduzierenden Zweierbeziehung diskursiviert  ? Wie wird das Verhältnis von Sexualität und Liebesbeziehung realisiert  ? Und schließlich, wie könnte sich das Verhältnis der ZuschauerInnen zu mittlerweile 70 Stunden »The L Word« gestalten  ? Welche Begehrensstrukturen zu den Figuren (und SchauspielerInnen) sind denk- und realisierbar  ? Welche Konsequenzen zeitigt die (wenn auch nur temporäre) Aufgabe des Kinos als Ort des Filmschauens zugunsten des eigenen Heims als Ort der Serienrezeption, insbesondere dann, wenn, wie das heute so üblich ist, die Folgen einer Staffel in einer ununterbrochenen Sichtungssitzung (also in ca. 11 Stunden) konsumiert werden  ?

Welche Beziehungsformen  ? »Same Sex – different City«, so lautete in Anspielung an die Erfolgsserie »Sex and the City« der Werbeslogan für den Serienstart von »The L Word«, einer aufwendig produzierten Fernsehserie des TV-Senders Showtime Networks, deren erste Folge am 18. Jänner 2004 im amerikanischen (kostenpflichtigen) Kabelfernsehen ausgestrahlt wurde. Die bis dahin (und bis dato) erste »lesbische Fernsehserie« erweckte somit die Erwartung, das Thema Sex- und Liebesbeziehungen in den Mittelpunkt der Erzählung zu rücken, ein Figurenensemble zu präsentieren, das nicht nur unablässig in sich stets verändernde Liebesverhältnisse verstrickt ist, sondern auch in der Lage, diese Verstrickungen zu reflek86

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tieren und räsonieren und diese Erzählung und dieses Figurenensemble wie in »Sex and the City« in einem urbanen Setting zu konstruieren. Ähnlich wie New York sollte diesmal Los Angeles Modernität der Lebensstile und einen gewissen »Glamour-Faktor«, was Ausstattung und Lokalitäten betrifft, versprechen. Darüber hinaus signifiziert Los Angeles beziehungsweise Kalifornien die diskursive Speerspitze, was Rede über und Praxis von alternativen Sexualitäten betrifft, und bietet dadurch den optimalen Hintergrund für eine Serie wie »The L Word«. Schon beim ersten Nachdenken über die Möglichkeiten der narrativen Konstruktion von Beziehungsformen in einer Serie, deren Mittelpunkt eine FreundInnen-Community von lesbischen Frauen bildet, wird klar, wie vielfältig diese Möglichkeiten im Vergleich zu einer Serie mit heterosexuellen Frauen im Mittelpunkt sind  : Die ProtagonistInnen des inner circle der Narration (Bette, Tina, Shane, Alice, Dana, Jenny, Kit, Moira/Max) können nicht nur, wie in »Sex and the City«, Liebesverhältnisse mit Figuren außerhalb dieses Kreises unterhalten, sondern auch mit Figuren des inneren Kreises, was einen wesentlich ausgeklügelteren dramaturgischen Komplexitätsgrad erlaubt. Bette ( Jennifer Beals) und Tina (Laurel Holloman) sind nicht nur die beiden zentralen Figuren der Serie, sondern auch ein Liebespaar, dessen Status in jeder Staffel ein anderer ist  : committed life partners, betrogen und getrennt, sexuell umorientiert, wieder vereint. Gerade in jenen Folgen, in denen die beiden getrennt sind, werfen sich Fragen der Loyalität der anderen Figuren zu Bette oder Tina auf und ermöglichen nicht nur ein Sprechen über Beziehungsverläufe, sondern auch ein Mitgestalten von ebendiesen durch empathische oder dissoziierende Positionierung der anderen FreundInnen. »The L Word« schöpft jedoch die Möglichkeit zur inner circle-Beziehung auch in anderen Variationen aus  : Alice (Leisha Hailey) und Dana (Erin Daniels), best friends der Staffel 1, werden ein Liebespaar in Staffel 2 und in Staffel 3 ein true, impossible love couple in klassischer Melodrama-Tradition  : Dana, die Alice für eine andere zu Beginn der Staffel verlässt, erkrankt an Brustkrebs und quält ihre neue Liebhaberin so lange mit ihrem eigenen Schmerz, bis diese geht. Die nie über die Trennung hinweggekommene Alice wird wieder als trostspendende Freundin in ihr Leben integriert und schließlich, in einer äußerst dramatisch inszenierten Folge gegen Ende der Staffel, stirbt Dana. Wenn die Beziehung von Bette und Tina für die eheähnliche Praxis des Teilens von Tisch und Bett steht (dazu mehr weiter unten), so wird über das Freundinnen-dann-Liebhaberinnendann-wieder-Freundinnen-Verhältnis der als ursprünglich bisexuell eingeführten Figur der Alice und der zu Beginn als prototypische Schranklesbe inszenierten Dana die Dimension des Beziehungsexperiments und die (Un)Möglichkeit von aus Liebesverhältnissen entstehenden Freundschaftsverhältnissen thematisierbar. 87

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Während Alice mit ihren Vorstellungen von der idealtypischen Beziehungsform ringt und das Feld der Liebesbeziehungen auch als Experimentierlabor begreift – was sowohl Objektwahl (vom lesbian-identified man über die Vampirologin zur im Irak dienenden Soldatin) als auch Beziehungsform anbelangt (in Staffel 6 werden Alice und Tasha mit Tamlin eine Dreierbeziehung beginnen) –, ermöglicht »The L Word« mit der Figur der Shane (Katherine Moennig) auch die Repräsentation von unverbindlichen Sexbeziehungen. »Every time Shane walks into a room, a girl leaves crying« – mit dieser Metapher beschreibt Bette die Konsequenzen von Shanes sexueller Überdeterminiertheit bei panikartiger Bindungsangst. Die Serie macht als Quelle von Shanes sexueller Potenz und unwiderstehlicher Attraktivität ebendiese Verquickung von Bindungsangst und Sexoverdrive aus, eine nicht gerade originelle psychologische Herleitung, die jedoch dramaturgisch ad infinitum ausbeutbar ist  : Shanes als emotional rücksichtslos, widersprüchlich und zustandsgebunden konstruierte sexuelle Handlungen ermöglichen jene plot-twists, die das Wesen einer Fernsehserie darstellen. Erst die unvermutete Wendung in der Handlung animiert zum Dranbleiben, insbesondere am Ende einer Staffel. Shanes Ablehnung von verbindlichen sexuellen Liebesverhältnissen wird von der Serie durchgehend als Unfähigkeit, streckenweise als nahezu pathologische, thematisiert. Shanes Bevorzugung von unverbindlichem Sex gegenüber verbindlicher Liebesverhältnisse rührt, so die Serie, von ihrer Sozialisation in einem Waisenheim und der durch diese Erfahrung produzierten emotionalen Störung her. Das Blut des Vaters, auf den kein Verlass ist, rinnt auch durch ihre Adern, so psychologisiert die Serienlogik, etwa als Shane ihre Braut Carmen vor dem Traualtar stehen lässt und – ihren Vater nachahmend – einfach »abhaut«. Um diese drei dominanten Pole – ehegleiche Lebenspartnerschaft, experimentelles Labor und unverbindliche Promiskuität – sind alle anderen Beziehungsformen und -möglichkeiten in »The L Word« angeordnet. Die Spannbreite dieses Feldes wird durch temporäre Modelle erweitert  : etwa das prostitutionsähnliche Verhältnis von Helena (Rachel Shelley) zur Glücksspielerin Catherine oder die von einem Generationenunterschied geprägte Beziehung zwischen der Mittfünfzigerin Kit (Pam Grier) und dem Twen Angus sowie das späte Eheglück zwischen Phyllis (Cybill Sheperd) und der Anwältin Joyce. Die Beziehungsformen, die »The L Word« präsentiert, sind also stets an der Zweierbeziehung orientiert  : affirmativ, explorativ, scheiternd. Positive, als lebbare Alternativen präsentierte Verwerfungen des Modells der Zweierbeziehung stehen nicht auf der Agenda der Serie. Was jedoch nicht bedeutet, dass »The L Word« keine kritische Haltung gegenüber heterozentristischen Normativierungspro88

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zessen einzunehmen vermag. Aber, so werde ich im nächsten Abschnitt argumentieren, dies geschieht weniger durch die formale Gestaltetheit der Liebesverhältnisse als vielmehr durch die personelle Ausgestaltung – also das »wer mit wem« – in den Beziehungen.

Die heterosexuelle, monogame und reproduzierende Zweierbeziehung und ihre Alternativen In diesen wilden postpostmodernen Zeiten verheißen selbst die Sterne virulente Veränderungen. Soziale und familiäre Strukturen, Bindungs- und Beziehungsmuster stehen zur Diskussion. Gesucht werden neue Freiheiten, stärkere innere Unabhängigkeit, Spiritualität. […] Die polyamourösen Personen bekennen sich offen und ehrlich zu einer Alternative  : Polyamory, die Philosophie der bedingungslosen Liebe und der daraus folgenden Praxis, mehr als eine Person gleichzeitig lieben zu können. (Méritt/Bührmann/Schefzig 2005, 5)

Als Initialzündung für den Diskurs über Polyamory gilt Dossie Eastons und Catherine Liszts in Form eines Ratgeberbuchs verfasstes Manifest »The Ethical Slut. A Guide to Infinite Sexual Possibilities« aus dem Jahr 1990. Darin erklären die Autorinnen, welche Beziehungsregeln eingehalten werden müssen, um lang währende, konsensuell eingegangene nicht-monogame Liebesverhältnisse leben zu können. Der pejorative Begriff der slut (Schlampe), ursprünglich für Promiskuität praktizierende Frauen gebraucht, wird in diesem Kontext vereinnahmt und affirmativ positiv gewendet, eine Rhetorik, die in den 1990er-Jahren im deutschsprachigen Raum als »Schlampagne« übernommen wurde. Ethisches Schlampentum bedeutet in erster Linie eine verbindliche, offen kommunizierte und von größtmöglicher Ehrlichkeit geprägte Verhandlungsethik (vgl. Méritt/ Bührmann/Schefzig 2005, 5). Diese Verhandlungsethik, der Praxis des Sex-Contractings aus S/M Zusammenhängen entlehnt, ermöglicht die Konstruktion von je individuellen, zeitlich gebundenen und verbindlichen, jedoch nicht unveränderbaren Prämissen für Liebesverhältnisse. Polyamouröse Liebesverhältnisse wenden sich mit dieser Praxis gegen patriarchal geprägte Selbstverständnisse, allen voran gegen jenes der sexuellen Exklusivität. Angeknüpft wird dadurch, wenngleich oft unausgewiesen, an jenen Diskurs der Zweiten Frauenbewegung, der in den 1970er-Jahren die frauendiskriminierenden Herrschaftsverhältnisse in heterosexuellen Ehebeziehungen radikal kritisierte. Diese Kritik liefert dem gegenwärtigen Diskurs über Polyamory poli89

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tischen Hintergrund und geschlechtertheoretische Fundierung.2 Wenn sexuelle Exklusivität als definierende Eigenschaft jener Beziehungsform begriffen wird, die als Keimzelle des Patriarchats und somit als Ursprung der Unterdrückung von Frauen durch Männer gilt, können nur zwischenmenschliche Beziehungen, die an einer Überwindung dieses Exklusivitätsanspruchs arbeiten, zur Emanzipation aus patriarchalen Machtstrukturen beitragen. Wenngleich die analytische Prämisse von Schlampagne und Zweiter Frauenbewegung oberflächlich nahe beisammen zu liegen scheinen, unterscheiden sich die Vorschläge zur Umsetzung der alternativen Beziehungspraxen doch beträchtlich. Während etwa Adrienne Rich in ihrem bahnbrechenden Aufsatz von 1980 »Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz« (v������������������������������ gl. Rich 1994) ��������������� für ein »lesbisches Kontinuum« argumentiert – das heißt für eine Existenzweise, die es allen Frauen erlaubt, jedwede Beziehungen und Bezüge zu anderen Frauen zu realisieren und der herrschenden Ideologie der Heteronormativität zu entkommen, im Grunde also die machtvolle Institution der Zwangsheterosexualität mit all ihren propagandistischen Strukturen und ausbeuterischen Methoden zu subvertieren –, so orientieren sich die Vorschläge aus der Perspektive der Schlampagne weniger an politischer Handlungsnotwendigkeit, sondern an individuell umgesetzter Glückssuche. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass die Texte der Schlampagne durchaus konkret und handlungsanleitend formuliert sind, während die Argumentation von Adrienne Rich auf abstrakter, theoretischer Ebene funktioniert. Eine Serie wie »The L Word« hat, was die Kritik an Heteronormativität und deren beziehungstechnischen Umsetzungen betrifft, evidenterweise ein großes Potenzial. Durch die Marginalisierung von männlichen Figuren und durch den Diskurs der Selbstverständlichkeit, was die sexuelle Orientierung betrifft, werden die Wirkungsweisen von Zwangsheterosexualität sichtbar. Wenn Bette in der ersten Einstellung der Serie auf Tinas Feststellung, dass sie gerade ovuliert, mit der romantisch-verklärten Aufforderung »Let’s make a baby« antwortet, ist durch die gleichgeschlechtliche Natur ihrer Beziehung klar, dass es nicht der auf diese Einstellung folgende Sexakt ist, der das Reproduktionsvorhaben ermöglichen wird. Die heteronormative Koppelung von Sex und Reproduktion – von Nancy Chodorow in den 1970er-Jahren prominent aus feministischer Perspektive kritisiert – wird in »The L Word« im Verlauf der ersten Staffel durch die ausführliche Darstellung der Suche nach geeigneten Samenspendern für Bettes und Tinas Nachwuchs dekonstruiert. Eine Suche, die sich vor allem durch die Unwilligkeit vieler Männer, sich als »Samenmelkkühe« instrumentalisieren zu lassen, äußerst schwierig gestaltet. Die Ausbreitung zahlreicher menschlicher, 90

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rechtlicher und beziehungstechnischer Hindernisse des lesbischen Reproduktionsprojekts bei gleichzeitiger Selbstverständlichkeit der Umsetzbarkeit und ethischen Richtigkeit des Vorhabens entlarvt die gängigen heteronormativen Prämissen von Sexualität, Zeugung und Elternschaft als unzeitgemäße und politisch unkorrekte Klischees. Gerade weil Bette und Tina ein eheähnliches Beziehungsmodell repräsentieren, das von ökonomischen Bedingungen und Verhandlungen durchzogen (abwechselnd bestreiten Bette und Tina den gemeinsamen Unterhalt) und von juristischen Voraussetzungen (etwa dem in Kalifornien geltenden Adoptionsrecht für homosexuelle Paare oder dem ebendort eingeführten, den heterosexuellen Scheidungsbestimmungen ähnelndem Trennungsgesetz für Lebensgemeinschafen von Schwulen und Lesben) geprägt ist, werden heteronormative Selbstverständnisse durch lesbische Vereinbarungskultur ersetzbar. Ethnische Unterschiede (ein für die afroamerikanisch identifizierte Bette selbstverständlicher schwarzer Samenspender bedeutet für die nicht-afroamerikanisch identifizierte Tina die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den eigenen Rassismen) müssen dabei ebenso verhandelt werden wie geschlechterdifferent geprägte Rollenvorstellungen von Elternschaft. Lesbische Existenzweise wird in ihrer voraussetzungsarmen und verhandlungsreichen Praxis ethisch vorbildhaft und gesellschaftskritisch relevant. Wenngleich in oben erwähntem Beispiel weniger Polyamory, sondern lesbische Existenzweise als Alternative zu Heteronormativität medial inszeniert wird, so bietet die langfristige serielle Erzählweise mit ihren Möglichkeiten der Komplexitätssteigerung auch Handlungsstränge, die einen direkten Vergleich zwischen polyamourös verhandelten Liebesverhältnissen und lesbischer Existenzweise zulassen. Tina, in Staffel 2 wegen eines Seitensprungs von Bette getrennt, hat nach der Fehlgeburt in Staffel 1 ohne Bettes Wissen eine zweite Insemination vorgenommen. Auf sich allein gestellt, setzt die schwangere Tina eine polyamouröse Liebeskonstellation um  : Während sie mit einer neuen Geliebten – Helena – eine nicht-exklusive, aber verbindliche Affäre unterhält, geht sie auch wieder eine sexuelle Verbindung mit Bette ein. Sowohl Helena als auch Bette gegenüber deklariert Tina ihre Bedingungen und verlangt beiden einerseits Committment, andererseits die Verabschiedung von Exklusivitätsansprüchen ab. Wenngleich sich dieser Handlungsstrang nur über einige Folgen erstreckt, so kann dieses Bild einer schwangeren Lesbe, die darauf besteht, mit zwei unterschiedlichen Frauen emotional verbindliche, jedoch sexuell nicht exklusive Beziehungen aufrechtzuerhalten, als dichte Repräsentation eines polyamourösen, verhandlungsethisch integren Liebesverhältnisses angesehen werden. 91

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Eine weitere Beziehungskonstellation in »The L Word« dekonstruiert die durch Heteronormativität als natürlich konstruierte gegengeschlechtliche Zweierbeziehung. Die Figur Moira, zu Beginn der 3. Staffel als Geliebte von Jenny (Mia Kirschner) eingeführt und im Verlauf der Serie als FTM-TransgenderPerson namens »Max« entwickelt, geht in Staffel 5 mit dem Schwulen Tom eine Liebesbeziehung ein. Max ist in transition, nimmt Testosteron und bereitet sich auf die geschlechtsanpassende Operation vor, als in Staffel 6 klar wird, dass er schwanger ist. Max’ und Toms Sexualität umfasste, so wird den ZuschauerInnen erst retrospektiv klar, nicht nur schwule Praktiken, sondern auch vaginale Penetration. Und die Hormoneinnahme, das vergegenwärtigt auch Max erst nachträglich, verursachte keine Unfruchtbarkeit. Da Max’ Schwangerschaft für eine Abtreibung zu weit fortgeschritten ist, arrangieren sich er und Tom in einer homosexuellen, aber reproduktionsfähigen Liebesbeziehung. Die Herausforderung, welche diese Konstellation für die beiden, jedoch auch für den Freundeskreis und erst recht für die Gesellschaft bedeutet, inszeniert die Serie ausführlich  : Der als Mann durchgehende, barttragende Max wird mit zunehmend sichtbarer Schwangerschaft in jedwedem Kontext – sei es in der Frauenarztpraxis, sei es in der Schwulendisko – als Freak diskriminiert. Die Freundinnen kämpfen mit den Personalpronomina in den Dialogen mit Max, die genderspezifischen Voraussetzungen für den Schwangerschaftsdiskurs werden an die Grenze zur Skurrilität getrieben. Als etwa bei der in Amerika üblichen Schwangerschaftsparty das Thema des Stillens aufkommt, muss sich Max, dessen konstitutiver Befreiungsmoment als Transgender unter anderem im Abbinden seiner Brüste bestand, übergeben. Und als Jenny Max, dessen lebenslanger Wunsch es war, als Mann durchzugehen, klarzumachen versucht, dass die Geburt eines Kindes der erfüllendste Moment im Leben einer Frau wäre, beschließt Max impulsiv, sein Kind Bette und Tina zur Adoption zu überlassen. Die homosexuelle Liebesbeziehung mit Tom hält dem aus heteronormativ vergeschlechtlichten Reproduktionsvorstellungen resultierenden Druck nicht stand – Tom verlässt Max. Die narrative Konstruktion des schwangeren Max erlaubt eine Steigerung der Durchkreuzung jener binär organisierten heterosexuellen Matrix, die – wie Judith Butler zeigte – sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identifikation intrinsisch miteinander verschaltet  : Männer und Frauen können entweder Männer oder Frauen begehren  ; männliche und weibliche Hetero- bzw. Homosexualität affirmiert dadurch männliche oder weibliche Geschlechtsidentität, eine Konstruktion die »weder ein einzelner Akt noch ein kausaler Prozess ist, der von einem Subjekt ausgeht und in einer Anzahl festgelegter Wirkungen endet« (Butler 1995, 32). Die transgeschlechtliche Identifika92

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tion von Max innerhalb seines Liebesverhältnisses mit einem homosexuell identifizierten Mann verschiebt das Raster dieser Matrix bereits beträchtlich. Doch die Schwangerschaft des homosexuellen Max und die prospektive Vaterschaft des homosexuellen Tom hebt das Raster nachgerade auf. Max verzweifelt an dieser Situiertheit in einem geschlechtlichen Nicht-Ort, dem nicht einmal das als liberal und Identitäts-kreativ konstruierte Fernsehen Los Angeles’ eine Begrifflichkeit und damit eine mögliche Existenzweise anzubieten hat. Es ist nicht der einzige Moment in dieser Serie, aber vielleicht der zugespitzteste, an dem die Wirkmächtigkeit heteronormativer Liebesideologie sichtbar wird.

Weit weg vom Kontrasex Queere Strategien in der Darstellung von Sexualität und die Beschreibung von visuellen Praxen, die sich unter Begriffen wie »queer« oder »post-porn« fassen lassen, operieren in den letzten Jahren mit einem dominanten Referenzpunkt  : Seit der Veröffentlichung von Beatriz Preciados paradigmatischer Schrift »Kontrasexuelles Manifest« (2000), das bereits drei Jahre nach seiner französischen Erstausgabe auf Deutsch erschien (vgl. Preciado 2003) und in den letzten sechs Jahren breite Rezeption gefunden hat, steht der Begriff der Kontrasexualität im Mittelpunkt der Debatten um Praxis, Darstellung und Konstruktionsweise(n) von Sexualität. Kontrasexualität, so Preciado, zielt in erster Linie darauf ab, die als natürlich begriffene Sexualität als eine als natürlich konstruierte zu entlarven und alle gesellschaftlichen, kulturpolitischen und repräsentationsrelevanten Konsequenzen, die in eine »kontrasexuelle Gesellschaft« münden können, zu beschreiben  : Kontrasexualität handelt nicht von der Erschaffung einer neuen Natur, sondern vom Ende einer Natur, welche als Ordnung verstanden wird und die Unterwerfung von Körpern durch andere Körper rechtfertigt. Kontrasexualität existiert. Erstens  : als eine kritische Analyse sowohl der sexuellen als auch der geschlechtlichen Differenz, die beide vom heterozentristischen Sozialvertrag produziert werden, dessen normative Performanzen sich als biologische Wahrheit in die Körper einschreiben. Zweitens  : Kontrasexualität zielt darauf ab, den Sozialvertrag, den man Natur nennt, durch einen kontrasexuellen Vertrag zu ersetzen. […] Kontra-Sexualität definiert Sexualität als Technologie und betrachtet die unterschiedlichen Elemente des Systems Sex/Gender  – also »Mann«, »Frau, »homosexuell«, »heterosexuell«, »transsexuell« ebenso wie deren Praktiken und sexuellen Identitäten – als Maschi93

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nen, Produkte, Werkzeuge, Apparate, Gadgets, Prothesen, Netze, Anwendungen, Programme, Verbindungen, Energie- und Informationsströme, Unterbrechungen und Unterbrecher, Schlüssel, Zirkulationsgesetze, Grenzen, Zwänge, Designs, Logiken, Ausstattungen, Formate, Unfälle, Abfälle, Mechanismen, Gebrauchsweisen, Umwidmungen … (Preciado 2003, 10–11)

Im Zentrum von Preciados Vorschlag für eine kontrasexuelle Gesellschaft steht einerseits die zwischenmenschliche Vereinbarungspraxis (der »kontrasexuelle Vertrag«), welche die als naturgegeben begriffenen Voraussetzungen für sexuelle Beziehungen durch individuell gestaltbare und zeitlich begrenzte Regeln und Abmachungen ersetzen soll, und andererseits der abstrakte (philosophische) und zugleich konkrete (sexuelle) Einsatz des Dildos. Dieser Einsatz soll mithilfe der »Dildotektonik«, einer »Gegen-Wissenschaft«, theoretisch ergründet und praktisch weiterentwickelt werden (vgl. �������������������������������������������������� Preciado 2003, 37)�������������������������� . Der Dildo ist das Fundament der Kontrasexualität, er ist »der Ursprung des Penis. Kontra-Sexualität bezieht sich auf den Begriff des ›Supplement‹ wie er von Jacques Derrida formuliert wurde  ; sie [die Kontra-Sexualität] identifiziert den Dildo als Supplement, der produziert, was er vervollständigt.« (Preciado 2003, 12) Entgegen heterozentristischen, biologistischen Sichtweisen des Dildos als Mangelausgleich vertritt Kontrasexualität die Position, dass der Penis die Kopie des Dildos darstellt und nicht umgekehrt. Durch diese Perspektivenverschiebung wird eine demokratische, gender-unbiased Sexpraxis ermöglicht, denn in der kontrasexuellen Gesellschaft werden nicht die für die Reproduktion zuständigen Organe als Genitale beziehungsweise als primäre erogene Zonen identifiziert. Vielmehr ist es der Anus und jedwede sexuelle Praxis, die den Anus betrifft, der zur erogenen Zone number one wird. Mit all diesen Vorschlägen wendet sich Preciado gegen die auf Zweigeschlechtlichkeit fußende, geschlechterdifferent diskriminierende und immer noch patriarchal strukturierte Gesellschaft. Kontrasexualität, so verheißt das Manifest, entlässt die Menschen aus der selbst gewählten Unmündigkeit in eine selbst verantwortete Selbstermächtigung. Wie keine andere Serie hätte »The L Word« Möglichkeiten, die Grundzüge einer kontrasexuell orientierten Gesellschaft zu bebildern. Wie gut könnte man den Dildo als Ursprung, als Derrida’sches Supplement, in einem all-lesbian Figurenensemble darstellen. Wie hervorragend eignete sich die Grundprämisse der Serie – Lesbenleben ohne Probleme in Utopia – für die radikale Entkoppelung von Sex und Reproduktionsorganen. Doch die dargestellte Utopie will nicht mit den Grundfesten der Gesellschaftsordnung brechen  : Also werden in der Serie keine Sexszenen gezeigt, welche den Penis als Kopie und den Anus als Kör94

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peröffnung der Wahl präsentieren. Eine derartige Repräsentationsagenda würde aber nicht nur einem heterosexuell orientierten Publikum ein massiver Verfremdungseffekt sein, sondern auch eine lesbisch/queer identifizierte ZuschauerInnenschaft herausfordern. Und selbstverständlich muss eine Hollywood-Serie im Rahmen jener ökonomischen und repräsentationstechnischen Logiken funktionieren, die sie überhaupt ermöglichen. Die Sex-Darstellung in »The L Word« steht also nicht im Dienst einer radikalen Dekonstruktion des Naturmythos von Sexualität, sie hat eine ganz andere Funktion  : keine in erster Linie politische, sondern vielmehr eine dramaturgische. Die Sexszenen in »The L Word«, so argumentiert Candace Moore, verfolgen eine Doppelstrategie  : Während sie für eine »premium-paying straight audience« attraktiv sein müssen, sollen sie auch Schaulust für das queere Publikum bieten. [The L Word] makes us all tourists, through the enticement of lesbian sex (a spectacle of attraction for straight and queer viewers alike) and through the wonderment of either »understanding« the other or »recognizing« oneself (fantasy of authenticity), through both »watching from a remove« and »being there«. (Moore 2007, 3)

Sextourismus im übertragenen Sinn »The L Word«, so Moore, ist äußerst erfolgreich in dieser Bedienung des geteilten Publikums und produziert in seinen im Verlauf der Serie immer zahlreicheren und komplexeren Sexszenen sowohl den Effekt des »Verständnisses für das Andere« (das heißt die andere sexuelle Praxis) und die »Fantasie der Authentizität« durch Wiedererkennung – ein Phänomen, das die Autorin mit Zuhilfenahme des Begriffs vom »touristic gaze« (vgl. Strain 2003) beschreibt  : Tourismus fetischisiert mit der Zurverfügungstellung des touristischen Blicks (durch Führungen, Reisebücher, ethnographische Beschreibungen etc.) die Erfah­ rung des »hier Seins« während gleichzeitig zwischen den Betrachtern (Touris­ tInnen) und den Betrachteten (die »Einheimischen«) eine Distanz eingezogen wird. (Moore 2007, 6)

Diese Praxis der Distanzierung, derer sich der Tourismus bedient, kann auch bezüglich der Art und Weise, wie Medientechnologien funktionieren, beobachtet werden  : Die ZuschauerInnen als TouristInnen schauen den fiktionalen Figuren 95

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als Einheimischen dabei zu, wie sie in deren Welt agieren. Dabei spielt das Gefühl des »hier Seins« (die Immersion in die fiktionale Welt) bei gleichzeitiger (sicherer) Distanz (vor dem Fernseher) eine wesentliche Rolle. In dieser Analogie funktioniert die Lesbenserie wie folgt  : »The  L  Word« acts as a tour, albeit fictionalized, of Los Angeles’s lesbian world. Queer difference is not immediately visually verifiable (like racial otherness often is)  ; thus »The L Word« begins its tour by »providing« queer bodies by displaying them engaged in queer sex acts. (Moore 2007, 6)

Die Funktion, die in Arztserien wie »Emergency Room« die möglichst detailliert gestaltete Operation am Patienten oder in Krimiserien wie »CSI« die High-tech-Repräsentation der Ermittlungstechnologien einnimmt, kommt in einer Lesbenserie wie »The L Word«, so müsste man Moores Argumentation weiterdenken, den Sexszenen zu. Die Tätigkeit, die die Figuren einer Lesbenserie als Lesben visuell erkennbar macht, ist die Darstellung ihrer »Beruf(ung)sausübung«. Die perfekte Beherrschung dieser berufsspezifischen Praxis durch die fiktionalen Figuren (das Operieren, Kriminologisieren, homosexuelle Kopulieren) unterscheidet die »Einheimischen« von den »TouristInnen«  ; sie muss jedoch so gezeigt werden, dass die einen über die Komplexität der jeweils dargestellten Praxis staunen können (seltene Operationen, gefinkelte Mordfälle), aber auch die anderen noch begreifen können, worum es (zumindest ungefähr) geht  : Das Stakkato an medizinischer Fachterminologie, welches bei Notoperationen in »ER« oder »Grey’s Anatomy« auf die ZuschauerInnen hereinprasselt, darf bis zu jenem Grad befremdlich sein, als es durch Tonfall oder immer wieder eingestreute breit verständliche Begriffe noch nachvollziehbar bleibt. Doch im Gegensatz zu Serien wie »Emergency Room« oder »CSI«, deren Repräsentation der Distinktionshandlung auf einer abstrakten und mit den neuesten Medientechnologien verschränkten Ebene passiert (computergenerierte Trickaufnahmen von Hochgeschwindigkeitskameras durch Arterien et cetera), ist »The L Word« – was Spezialisierungsgrad und technologischen Einsatz in den Sexszenen betrifft – zurückhaltend. Zu belastend scheint die Bürde, das Laienpublikum aufklären zu müssen, und zu ernst wird, zumindest in den ersten Staffeln, das Projekt genommen, möglichst wenig Exotisierung zu betreiben. Insbesondere Staffel 2 nimmt sich dieser Bürde und Ernsthaftigkeit an, und zwar durch einen sehr dominanten Handlungsstrang, der den exotisierenden Blick auf Lesbensex thematisiert und, auf eine Metaebene überführt, in seiner Medialisiertheit kritisierbar macht. 96

»This is the way we live … and love.«

Mark, der männliche, heterosexuelle, als Video-Nerd eingeführte Mitbewohner von Jenny und Shane, versucht mit in Jennys und Shanes Haus versteckten Kameras einen »Dokumentarfilm« über Lesben zu drehen. Der Geldgeber des Films, ein Pornofilmproduzent aus San Fernando Valley, ist vor allem an hot, lesbian pussy interessiert und setzt Mark dahingehend unter Druck, ebensolche footage zu produzieren. Doch Marks Interesse, das sich zu Beginn seines »Projekts« auch noch an genau diesen Einstellungen orientiert hatte – er wollte vor allem Shanes sexuelle Technik, Vielseitigkeit und Unwiderstehlichkeit ergründen –, gilt zunehmend der Recherche dessen, wie Lesben »wirklich sind«, und nicht so sehr, wie sie vögeln. Er konzentriert sich also weniger auf die Sexszenen, sondern mehr auf die intimen Momente zwischen den Figuren, mit denen er sich – sozusagen außerhalb seines Projekts – immer mehr anfreundet. Er filmt break-ups, Wiederversöhnungen, Liebesgeständnisse und dergleichen und überschreitet somit, so wird das Staffelende höchst moralisierend vorführen, mit Zuhilfenahme ausgetüftelter Medientechnologien die Grenzen der Privatsphäre in einer Art und Weise, die nicht nur unverzeihlich ist, sondern auch massive psychische Probleme (bei Jenny) auslöst. Während Shane Mark verzeihen kann, entwickelt Jenny eine Borderline-Symptomatik und wird, wie das amerikanische Idiom es so schick bezeichnen kann, ein cutter. Sex zu zeigen, das scheint die Serie vermitteln zu wollen, ist wesentlich weniger problematisch, als jene Kulturtechnik zu zeigen, für welche Lesben eigentlich bekannt sind  : »What do lesbians do  ? They talk. They talk about everything. They talk and they talk.« Das sagt Mark im Vorspann seines Videoprojekts, und die Einheimischen unter den ZuschauerInnen müssen schmunzeln. »The L Word« verlegt sich also darauf, ganz ähnlich wie das Videoprojekt von Mark, Sexszenen stets im Kontext von Liebesbeziehungen zu zeigen. Sex in »The L Word« bekommt nahezu immer eine beziehungstechnische Bedeutung zugewiesen und hat somit in der Logik des seriellen Erzählens vor allem die Rolle des Figurenkonfigurators  : Sex lässt Figuren zu Paaren oder zu Singles werden, Sex funktioniert als Betrugs- oder Verbindlichkeitsbezeugung, Sex-Haben und SexWollen definiert die sozialen Beziehungen. Ganz im Gegensatz zur Forderung des Kontrasexuellen Manifests von Beatriz Preciado reiteriert die Repräsentation von »The L Word« eine voraussetzungslose, naturgegebene Ordnung der sexuellen Dinge  : Beinahe jede sexuelle Begegnung wird mit der Großaufnahme des signifizierenden Blickaustauschs der Sexpartnerinnen eingeleitet, und diese Blicke enthalten die unausgesprochene, unverhandelte und unhintergehbare Botschaft des Begehrens, welches unter dem Diktat der romantischen Liebe steht, genauer  : unter jenem des melodramatischen (amerikanischen) Mythos’ der immerwäh97

Andrea B. Braidt

renden Liebe mit dem »richtigen« Menschen (Ms. Right), die es im Verlauf eines Lebens, einer Fernsehserie, eines Spielfilms zu finden gilt.

Liebe on/off-screen Die Konstruktion von Liebesverhältnissen in einer seriellen Erzählung, wie sie »The L Word« ist, funktioniert einerseits in der Darstellung von zwischenmenschlichen Beziehungen, die stets an der monogamen Zweierbeziehung orientiert sind, und andererseits in der Repräsentation einer Sexualität, welche – formal sowohl ZuschauerInnen in the know als auch heterosexuelle »TouristInnen« ansprechend – Liebesverhältnisse als grundlegend romantische, also unverhandelbare und nicht-sprechbare Konditionen, diskursiviert. Die serielle Erzählung verleiht den Charakteren eine Geschichtlichkeit, mit der Figuren im Spielfilm nicht ausgestattet werden können. Über Jahre hinweg verfolgen die ZuschauerInnen die Entwicklung der ProtagonistInnen des lesbischen Utopia und wachsen mit ihren Problemen mit. Immerhin fünf Jahre dauert »The L Word« (bisher), fünf Jahre, in denen die ZuschauerInnen Alice, Bette, Tina, Shane und andere zu ihren Freundinnen werden lassen können. Das Schauerlebnis kann durch schiere zeitliche Koinzidenz mit der eigenen Biographie korreliert werden (»Damals, während der zweiten Staffel, da hatte ich mein Coming-Out  !«) oder, in Nachahmung des melodramatischen Modus’ der Schicksalhaftigkeit, bewusst konstruiert werden (»Während der dritten Staffel hab’ ich mich von meiner Freundin getrennt. Wie Shane von Carmen.«) oder, im Extremfall, in ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis gebracht werden (»Als meine Mutter sah, wie Phyllis lesbisch wurde, hat sie sich in eine Frau verliebt  !«). Die Konstruktion von Liebesverhältnissen im seriellen Erzählen funktioniert also nicht nur inner-diegetisch, also innerhalb der erzählten Welt, sondern auch zwischen den ZuschauerInnen und dem fiktionalen Text. Dieses Potenzial realisierend, sollte bei der Produktion der nächsten Lesbenserie die Möglichkeit der Propagierung einer radikalen Gesellschaftskritik stärker in Betracht gezogen werden.

Anmerkungen 1 »This is the way we live … and love« ist eine dem Titelsong der Serie entnommene Textzeile. Dieser Text wurde in leicht veränderter Form erstmals veröffentlicht in Guth/Hammer 2009. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Herausgeberinnen und des Verlags.

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»This is the way we live … and love.«

2 Auch Ina Freudenschuß konstatiert die Verwandtheit der beiden Diskurse, wenngleich sie sehr zu Recht am Polyamory-Diskurs das (naive) Festhalten an einer Vorstellung von »wahrer, ehrlicher Liebe« kritisiert, also am Streben nach einem Gefühl, das übrig bleibt, wenn man sich erfolgreich aus den patriarchal konstruierten Beziehungsdiktaten herausgeschält hat (vgl. Freudenschuß 2009).

Literatur Judith Butler (1995), Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin Dossie Easton, Catherine Liszt (1990), The Ethical Slut. A Guide to Infinite Sexual Possibilities. San Francisco Ina Freudenschuß (2009), »Liebe ohne Geiz«, in  : Missy Magazine 01/2009, 30 Doris Guth, Heide Hammer (Hg.) (2009), Love me or Leave me. Liebeskonstrukte in der Populärkultur. Frankfurt a. M. Laura Mérrit, Traude Bührmann, Nadja Boris Schefzig, (Hg.) (2005), Mehr als eine Liebe. ����� Polyamouröse Beziehungen. Berlin Candace Moore (2007), »Having it All Ways  : The Tourist, the Traveler, and the Local in The L Word«, in  : Cinema Journal, Jg. 46, H. 4/2007, 3–22 Beatriz Preciado (2003), Kontrasexuelles Manifest. Berlin Adrienne Rich (1994), »Compulsory heterosexuality and Lesbian Existence«, in  : dies., Blood, Bread, and Poetry. New York Ellen Strain (2003), Public Places, Private Journeys  : Ethnography, Entertainment, and the Tourist Gaze. New Brunswick

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Markus Grassl

Von Spiel-Räumen zu espaces d’écritures  : Komponierende Frauen im Frankreich des ancien régime

Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben Beiträge zu einer Musikhistoriographie, die der eminenten Bedeutung von Frauen als Akteurinnen in der Musikgeschichte gerecht zu werden versucht, zahlreiche Komponistinnen aus dem Frankreich des ancien régime in Erfahrung gebracht.1 Nach derzeitigem Forschungsstand wissen wir aus der Zeit von der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis unmittelbar vor der Französischen Revolution2 von insgesamt 138 Frauen, denen in der Überlieferung Partituren bzw. Notate zugeschrieben werden (siehe das Verzeichnis im Anhang). Nimmt man die Frauen hinzu, die uns »nur« als Sängerinnen, Instrumentalistinnen, Druckerinnen, Verlegerinnen oder Lehrerinnen bekannt sind, erhöht sich die Zahl um ein Vielfaches.3 Einer Antwort auf die Frage, weshalb in Frankreich seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts musikalisch aktive Frauen in doch so großer Zahl sichtbar werden, das heißt  : zumindest ein Stück weit bereits zu ihrer Zeit öffentlich wahrgenommen wurden und dementsprechend dokumentarischen Niederschlag gefunden haben, hat sich die Literatur wiederholt durch Hinweis auf mehrere begünstigende Faktoren angenähert. Einige der wichtigsten seien stichwortartig genannt. – Zunächst haben Frauen des Adels in Frankreich schon während der ersten Jahrhunderthälfte eine prominentere Stellung im öffentlichen politischen Raum erlangt, indem sie – wie die Mütter von Ludwig XIII. und Ludwig XIV. als Regentinnen für ihre minderjährigen Söhne oder einzelne Hocharistokratinnen als Anführerinnen während der Fronde4 – phasenweise Schlüssel- und traditionell männlich konnotierte Positionen einnahmen. Mit diesem realen Zuwachs an gesellschaftlicher Bedeutung korrespondierte eine in einer Reihe von Traktaten entwickelte Ideologie der dem Mann körperlich und geistig ebenbürtigen femme forte  ; beides zusammen trug zu einem neuen weiblichen Selbstbewusstsein bei, das sich nicht zuletzt auch in einer stärkeren Partizipation von Frauen aus den sozialen Eliten am kulturellen Leben äußerte. – Die herausragende Rolle für den »accès des femmes à la culture« (Timmermans 2005) spielte der Salon. Hier erhielten die Frauen (denen im ancien 101

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régime der Besuch höherer Bildungseinrichtungen verwehrt blieb) vor allem des Adels und des höheren Bürgertums nicht nur passiven Zugang zur Kultur und damit die Möglichkeit, sich zu bilden, sondern sie begannen darüber hin­aus indirekt wie auch direkt – als Publikum, ästhetische Urteilsinstanz und durch eigene künstlerische Produktion – auf das kulturelle Leben, vor allem auf das literarische Feld, prägenden Einfluss zu nehmen. – Generell führte ein aus verschiedenen Wurzeln (wie dem gegenrefomatorischen Bildungsimpuls oder dem humanistisch-neoplatonischen Menschenbild) gespeistes ideengeschichtliches Klima dazu, dass sich für Frauen, jedenfalls der gehobenen sozialen Schichten, die Chancen, eine fundiertere, auch künstlerische, Erziehung zu erhalten, tendenziell verbesserten. Wesentlich zu diesem Klima hat der als Querelle des femmes bekannte Diskurs beigetragen, in dem radikale ExponentInnen der »gynophilen« Fraktion (wie François Poullain de La Barre) für damalige gesellschaftliche Verhältnisse ja sogar so weit gingen, die natürliche Gleichheit der Geschlechter zu postulieren, Frauen dasselbe intellektuelle und verstandesmäßige Potenzial wie Männern zuzusprechen und die behauptete Ungleichheit als Vorurteil, die faktische Ungleichheit als Resultat kontingenter gesellschaftlicher Bedingungen, vor allem der unterschiedlichen Erziehung, zu erkennen. – Hinzu kamen schließlich bestimmte Entwicklungen im Bereich der offiziellen kulturellen Institutionen, speziell die Gründung öffentlicher musikalischer Einrichtungen wie der Académie royale de musique, also der Pariser Oper, 1671 und später der Concerts spirituels 1725, in deren Rahmen sich für Frauen die Möglichkeit eröffnete, öffentlichkeitswirksam einer professionellen musikalischen Tätigkeit nachzugehen. Auf der Hand liegt folgendes Problem  : Bei Faktoren wie dem phasenweise politischen Machtzuwachs von Aristokratinnen, der Salonkultur und der Querelle des femmes handelt es sich um allgemeine (kultur-)historische Voraussetzungen, bei der Etablierung öffentlicher musikalischer Veranstaltungsorte um ein institutionengeschichtliches Phänomen, von dem zunächst fast ausschließlich Sängerinnen und Instrumentalistinnen profitierten. Wie lässt sich also von hier aus zu einer Erklärung der zahlreichen Einzelfälle komponierender Frauen gelangen  ? Konkret stellt sich etwa die Frage, in welcher Hinsicht weibliches Komponieren durch die doch primär literarische Salonkultur stimuliert wurde.5 Oder es wäre näher zu bestimmen, ob und, wenn ja, in welcher Weise die musikalische Erziehung von Frauen die Basis für eine musikalische Eigenproduktion legte (typische Bildungswege zukünftiger männlicher Komponisten wie etwa die Schulung in 102

Von Spiel-Räumen zu espaces d’écritures  : Komponierende Frauen im Frankreich des ancien régime

einer maîtrise6 waren Frauen im Frankreich des ancien régime verschlossen). Noch aus einem weiteren Grund ist mit »großflächigen« Erklärungen kein vollständiges Auslangen zu finden  : Eine egalisierende Vorstellung von der (weiblichen) Komponistin neben der Normvorstellung des (männlichen) Komponisten wäre gänzlich inadäquat. Sehr schnell ist zu erkennen, dass sich hinter den 138 (weiblichen) Komponistinnen mit Blick auf soziale Herkunft, kompositorische Genres, Schaffensbedingungen usw. durchaus verschiedene Konstellationen verbergen. Zwar mag dies bis zu einem gewissen Grad auch für männliche Komponisten gegolten haben. Ein Spezifikum der musikalischen Produktion von Frauen lässt sich allerdings vorweg festhalten. Zu einem wesentlichen Teil vollzieht sich das Komponieren von Männern auf Basis oder im Rahmen von Positionen (als Kapellmeister, Instrumentalist, mitunter auch explizit als compositeur) an kirchlichen oder höfischen Einrichtungen, Positionen, die Frauen im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts grundsätzlich verwehrt blieben. Für eine kompositorische Aktivität mussten diese daher andere Räume wählen oder sich überhaupt erst schaffen. Mit Blick auf die Diversität weiblichen Komponierens bzw. im Bestreben, voreilige Generalisierungen zu vermeiden, wird im Folgenden von drei Einzelfällen ausgegangen, ehe abschließend einige Ausblicke für die zukünftige Auseinandersetzung mit dem Thema skizziert werden. Vorab scheint freilich noch ein kurzer Hinweis angebracht, weshalb hier statt von »Komponistinnen« immer wieder von »komponierenden Frauen« die Rede ist. Zweierlei ist damit anvisiert  : Erstens soll darauf verwiesen sein, dass sich in fast allen Fällen das Komponieren von Frauen außerhalb professioneller (männlichen »Komponisten« vorbehaltener) Karrieremuster vollzog. Zweitens soll die Evokation eines (im deutschen Sprachraum nach wie vor oft mit dem Terminus konnotierten) »emphatischen« Begriffs von Komposition vermieden werden, d. h. einer Vorstellung von Komposition als einem Hervorbringen von Musik, das in Produktion und Rezeption essenziell an Schrift gebunden ist, sich in abgeschlossenen, fixierten Werktexten manifestiert, unter einem Originalitäts- und Individualitätsanspruch steht, einen gleichsam »ortlos« gedachten schöpferischen Geist zum Urheber habe und mit einem allein an musikalisch-immanenten Wertkriterien festgemachten ästhetischen Wert belegt wird. Rezente, kulturwissenschaftlich ausgerichtete Entwicklungen der Musikgeschichtsschreibung haben deutlich werden lassen, dass ein solcher Kompositionsbegriff für ein Verständnis der musikalischen Produktion nicht nur, aber im Besonderen auch von Frauen unzureichend ist. Vielmehr gilt es, im Sinne eines handlungsorientierten Ansatzes – und folglich eines Perspektivenwechsels von einer Geschichte der Komposition zu einer Geschichte des Komponierens – dieses als eine Aktivität zu begreifen, die in einem weiter zu fas103

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senden Raum situiert ist  : So stellt sich Komponieren zum einen als ein Modus innerhalb eines Felds von Praktiken dar, das – in fließenden Übergängen und enger Wechselbezüglichkeit – Spielen, Improvisieren, Verschriftlichen, Aufführen, Verbreiten und Publizieren umschließt  ; eng verbunden ist damit zum Zweiten, dass Komponieren als eine Praxisform in den Blick genommen wird, die wesentlich durch ihre Verwobenheit in bestimmte soziale Beziehungen und konkrete kulturelle Kontexte bestimmt ist.7

Fallstudie I  : Anne Madeleine Guédon de Presles (ca. 1700/10–  ?) Die zwischen ca. 1700 und 1710 geborene Anne Madeleine Guédon de Presles8 kann ein Stück weit als exemplarisch für eine große Gruppe von komponierenden Frauen im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts gelten, mit Blick auf sowohl das von ihr vorrangig gepflegte musikalische Genre als auch ihren sozialen Hintergrund. 46 ihrer insgesamt 49 erhaltenen Stücke sind Lieder, d. h. airs – so lautet der zeitgenössische Überbegriff für das Generalbass-begleitete weltliche Sololied bzw. die zentrale musikalisch-lyrische Kleinform der französischen Musik bis ca. 1750.9 Der Air spielt in der kompositorischen Produktion von Frauen insgesamt eine dominierende Rolle  : Von mehr als 70 der insgesamt 138 im Anhang verzeichneten Frauen sind ausschließlich derartige Lieder überliefert. An dem in Abb. 1 wiedergegebenen Satz von Guédon de Presles lassen sich die typischen Eigenschaften der Gattung ablesen  : ein knapper Umfang, die Gliederung in zumeist zwei wiederholte Teile, ein nicht übertriebener technischer Anspruch, schließlich die kleine, aus Solostimme und Continuo bestehende Besetzung, die gelegentlich auf ein Vokalduo und/oder um ein Melodieinstrument erweitert, nicht selten aber sogar nur auf eine Gesangsstimme (ohne instrumentale Begleitung) reduziert wird. Die Gattung ist in hohem Maße musikalisch wie poetisch standardisiert. Dies schloss einerseits Differenzierung nicht aus – sie artikuliert sich dann aber notwendigerweise in relativ subtilen Feinheiten bzw. Nuancen –, eröffnete andererseits aber auch weniger Versierten die Möglichkeit, sich im Verfassen solcher Liedsätze zu versuchen. Dem entspricht eine in die Tausende gehende Produktion10 unter Beteiligung zahlreicher, oft nicht identifizierbarer Amateure und Amateurinnen, aber auch der namhaftesten Komponisten der Zeit. Der Air ist ein typisches Beispiel für eine Art von Musik, der eine von absolut gesetzten ästhetischen Werthaltungen ausgehende Musikforschung nur wenig Prestige beigemessen hat (vgl. Eastwood 1984, 84–86). Jedoch verweist gerade die »Einfachheit« der Faktur ebenso wie die massenhafte Erzeugung auf die im104

Von Spiel-Räumen zu espaces d’écritures  : Komponierende Frauen im Frankreich des ancien régime

Abb. 1  : Air »Revien« von Anne Madeleine Guédon de Presles (1731, 41); © Bibliothèque municipale de Besançon, Sig. 247972

mense kulturelle Relevanz bzw. die Verwendung in diversen musikalischen Praxisbereichen  : Produktion wie Reproduktion lag im Vermögen von Musikern und Musikerinnen vom Anfänger- bzw. Amateur- bis hin zum professionellen Niveau  ; der Air eignete sich als Unterrichtsmaterial, zum Musizieren für sich selber oder im intimen gesellschaftlichen Rahmen und im Salon, hatte aber ebenso einen festen Platz in diversen Genres der Theatermusik und fand als lyrisches Einlagestück Eingang sogar in erzählerische Literaturformen wie insbesondere den Roman. Zwei konkrete Beispiele seien genannt, in welchen (vielleicht überraschenden) Zusammenhängen Airs begegnen können  : Aus einer Bemerkung des Musikschriftstellers Jean Lecerf de la Viéville geht hervor, dass es in Gesellschaften offenbar üblich war, zum Singen von Airs überzugehen, wenn die Konversation zu stocken begann (Lecerf de La Viéville 1705/06, 107)  ; die bekannte Briefschriftstellerin Marie de Sévigné berichtet in einem Brief, dass sie und ihr Sohn sich bei einer Kutschenfahrt die Zeit mit dem Dichten von Liedtexten ver105

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trieben (vermutlich auf vorhandene Melodien – das Kontrafazieren11 war innerhalb der »Kultur« des Air ein extrem verbreitetes Verfahren  ; Goulet 2004, 465). Wie allein diese Beispiele zeigen, war der Air auf das Engste in gesellschaftliche Interaktion eingelassen, geradezu ließe sich bei ihm von einem bestimmten Modus von Kommunikation sprechen. Anne-Madeleine Goulet hat in ihrer grundlegenden Monographie zum Air der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eindrucksvoll demonstriert, welch eminente sozio-kulturelle Funktion diese musikalisch-poetische Form in der société mondaine erfüllte, also in jener aus Angehörigen teils des Adels, teils des aufstrebenden höheren Bürgertums zusammengesetzten Schicht, die um die Jahrhundertmitte einen neuen Standard distinguierter Kultiviertheit in Sprache und Umgangsformen und damit verbunden eine spezifische Ästhetik entwickelt hatte und die das Publikum der galanten Literatur formierte und zugleich wesentlicher Träger der Salonkultur war. In diesem Milieu fungierte der Air, genauer  : das Erfinden der Musik und/oder der Poesie von Airs sowie deren Vortrag als »signe d’identification sociale«, als Mittel, die Gruppenzugehörigkeit bzw. die entsprechende soziale Identität zu etablieren, zu signalisieren und aufrechtzuerhalten (Goulet 2004). Auch Anne Madeleine Guédon de Presles stammt aus sozial privilegierten Verhältnissen, und zwar aus einer Familie von Hofbediensteten.12 Wenngleich kein Dokument erhalten ist, das über ihre Erziehung Auskunft gibt, kann angenommen werden, dass sie »must have been raised close to court circles« (Moroney 2012, 223) und eine für die soziale Elite typische musikalische Ausbildung genoss. Hinlänglich bekannt ist, dass im französischen Adel und im gehobenen städtischen Bürgertum seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts die Unterweisung im Cembalospiel und im Gesang einen essenziellen Bestandteil der Erziehung gleichermaßen der Töchter wie der Söhne darstellte (wodurch klarerweise gerade auch jene Fähigkeiten vermittelt wurden, derer es für die Realisierung von Airs bedurfte). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam neben dem Cembalo zunehmend das neue Modeinstrument Harfe ins Spiel (die dann dementsprechend häufig als Begleitinstrument für Lieder herangezogen wurde). Neben der elementaren Musiklehre und den manuellen bzw. spieltechnischen Fertigkeiten zählte zu den Inhalten des Cembalounterrichts der Generalbass, und zwar unabhängig vom angestrebten Niveau bzw. von früh an, aber auch unabhängig vom Geschlecht. Nicht nur existieren zahlreiche Nachrichten von accompagnierenden Cembalistinnen, zum Teil ganz jungen Alters. Vielmehr spricht einiges dafür, dass das Continuospiel, insofern es mit Vorstellungen wie Anpassungsvermögen und Unterordnung assoziiert war, als eine besonders Frauen angemessene Tätigkeit angesehen wurde.13 Freilich heißt Generalbasslehre zugleich Satzlehre 106

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und birgt die Realisierung eines Basso continuo eine – wie stark auch immer determinierte – schöpferische Aktivität in sich. Dass der Generalbass als unmittelbare Vorstufe zur eigenständigen Konzeption musikalischer Sätze aufgefasst wurde, macht der Titel von Michel Correttes 1753 veröffentlichtem Lehrbuch »Le Maitre de clavecin pour l’accompagnement« (wörtlich übersetzt  : »Der Cembalolehrer für den Generalbass«) explizit (Abb. 2)  : Demnach ist die Unterweisung im »Accompagnement«, d. h. im Generalbass, u. a. »jenen nützlich, die zur Vortrefflichkeit in der Komposition Abb. 2  : »Le Maitre de clavecin pour gelangen wollen«. l’accompagnement« von Michel Corrette Einen Einblick in die konkrete (1753), Titelseite Realität des Cembalo-Unterrichts im 17. und frühen 18. Jahrhundert eröffnen einige wenige erhaltene Exemplare eines vermutlich verbreiteten Typs von Musikhandschriften  : Notenbüchlein, die von Lehrern im Zuge des Unterrichts für adelige Schülerinnen angelegt wurden. Darin sind vorwiegend Übungs- und Spielstücke enthalten, die aus dem vorhandenen Repertoire an Cembalomusik bezogen wurden, gelegentlich aber auch erste »Kompositionsversuche« der Schülerin, und zwar in Gestalt von Variationsfolgen über ostinate Bässe oder von Transkriptionen von Sätzen aus Opern Jean-Baptiste Lullys (Grassl 2013, 191– 193). Wie nahe solche Arrangements von Opernnummern, die einen erheblichen Teil des Cembalorepertoires ausmachten, in Satzart, Textur, formaler Anlage usw. dem Air stehen konnten, vermag als ein Beispiel von vielen die Transkription von »Suivons l’amour« aus dem Prolog von Jean-Baptiste Lullys »Amadis« zu illustrieren (Abb. 3). Das Stück ist im »Manuscrit de Mademoiselle de La Pierre« enthalten, einem Notenbuch, das in den 1680er-Jahren für den Unterricht einer gewissen Mlle de La Pierre von ihrem Lehrer angelegt wurde und später noch den »leçons« einer Mme Le Noble diente (Schweitzer 2008, 123–127). Dass der Cembalounterricht über das rein Spieltechnische bzw. Reproduktive hinaus die Herstellung kleinerer Tonsätze einschloss und damit zumindest ansatzweise auf die Fähigkeit zur musikalischen Eigenproduktion zielte, wird dann 107

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Abb. 3  : Jean-Baptiste Lullys »Menuet d’amadis« [»Suivons l’amour«] (Lully o.J., 23)

auch in den ab der Mitte des 18. Jahrhunderts vermehrt auftretenden gedruckten Klavierschulen sichtbar. Anton Bemetzrieders 1771 in Paris veröffentlichte »Leçons de clavecin, et Principes d’harmonie« fußen auf dem Unterricht, den der Verfasser 1766 Denise Diderot, der Tochter des bekannten Philosophen und Schriftstellers, erteilt hat. Am Ende des in Form eines Gesprächs zwischen »le maître« (Bemetzrieder), »l’élève« (Denise Diderot) und »le philosophe« (Denis Diderot) gehaltenen Cembalo- und Harmonielehrwerks steht ein von der Schülerin verfasstes quasi-improvisatorisches »Prélude«, in dem die in den vorangehenden Kapiteln behandelten Akkordfortschreitungen, Kadenzen, Modulationen usw. quasi kumulativ zu kreativer Anwendung gebracht werden (Gersdorf 108

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1992, 255–266  ; Schweitzer 2008, 170–173). Auszugehen ist also von einem fließenden Übergang zwischen dem Nachspielen von Stücken, der Improvisation (wie sie ja auch die Generalbassrealisierung darstellt) und selbstständigem Erfinden. Und deutlich erkennbar wird, dass es von den Inhalten des Cembalounterrichts, zumal in Verbindung mit den Erfahrungen, die ein wohl über weite Strecken auf das Air-Repertoire gestützter Gesangsunterricht vermittelte, kein großer Schritt zur eigenen Verfertigung von Tonsätzen in der Art solcher Lieder war. Von einer immensen Dunkelziffer an nicht erhaltenen Airs und an unbekannten Air-Autorinnen und -autoren ist auszugehen. Dafür spricht die große Verbreitung und Bedeutung des Phänomens sowie der ein Stück weit ephemere Charakter dieser Lieder (man denke an die von Marie de Sévigné geschilderte Situation, in der Airtexte aus dem Stegreif erfunden wurden). Die gleichwohl umfangreiche Überlieferung verdanken wir nicht ausschließlich, aber zu einem ganz erheblichen Teil zwei Arten von Medien  : zum einen Liedanthologien, besonders den vom Pariser Verlagshaus Ballard herausgebrachten Sammlungen, die zwischen 1658 und 1731 unter wechselnden Titeln zunächst jährlich, seit 1694 sogar monatlich ediert wurden,14 zum zweiten Zeitungen bzw. Zeitschriften. Die herausragende Rolle spielt dabei der 1672 gegründete, einmal im Monat erscheinende »Mercure galant«, der ab 1724 als »Mercure de France« fortgesetzt wurde und zu den einflussreichsten Zeitungen im frühneuzeitlichen Frankreich zählt (Vincent 2005). Diese Periodika, in denen sämtliche erhaltenen Stücke Guédon de Presles’ enthalten sind,15 waren auf das Engste mit der société mondaine verbunden. Sie bildete das Zielpublikum der Veröffentlichungen und aus ihr rekrutierten sich die zahlreichen Amateurautorinnen und -autoren, die darin mit Dichtungen und/oder Vertonungen vertreten sind. Dass insbesondere der »Mercure« geradezu als Prolongation der für die kultivierte Gesellschaft charakteristischen Kommunikation verstanden werden kann, zeigt nicht nur der Inhalt (der neben gesellschaftlichen Ereignissen und Ereignissen bei Hof in besonderem Maß der mondänen Literatur gewidmet ist), sondern auch die Form  : Die einzelnen Nummern des »Mercure galant« (nicht mehr allerdings des »Mercure de France«) geben sich die Erscheinung von Briefen einer Dame der Gesellschaft aus Paris an eine in der Provinz weilende Freundin. Schließlich pflanzte sich im »Mercure« und partiell in den diversen Liedanthologien der für die Salonkultur typische Modus eines kollektiven, im Rahmen sozialer Interaktion erfolgenden Kunstschaffens fort. Dichtungen und Lieder wurden von den Leserinnen und Lesern eingesandt (wozu auch Aufforderungen der Redaktion bzw. der Verleger 109

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ergingen), Stücke von arrivierten bzw. professionellen Autorinnen und Autoren, die zum Vorbild genommen werden konnten, stehen neben Stücken von Amateurinnen und Amateuren, Poesie wurde mit der Aufforderung, sie zu vertonen, abgedruckt, Airs in der weiteren Folge von jemand anderem kontrafaziert oder um neu gedichtete Strophen erweitert (Piéjus 2010  ; Goulet 2004, 175–183, 454– 460). Die Funktion des Verfertigens von Liedern als Mittel der Integration und Behauptung in der mondänen Gesellschaft scheint im Falle von Guédon des Presles allerdings transzendiert worden zu sein. Dafür spricht allein schon der Umfang ihrer Produktion – mit 46 Airs steuerte sie nahezu ein Drittel des Liedrepertoires bei, das von (insgesamt etwas mehr als 30) Frauen aus der Zeit zwischen 1659 und 1750 erhalten ist (Moroney 2012, 214). Weiterhin fällt an ihrem Schaffen die Vielfalt an Air-Typen, besonders der relative hohe Anteil an airs à boire auf, d. h. an Trinkliedern, die gegenüber dem air sérieux mit dessen galanter, pastoraler bzw. Liebesthematik im Sinne der zeitgenössischen Stilhöhenunterscheidung ein niedrigeres Stilniveau repräsentierten. Und schließlich ist Guédon des Presles mit zwei 1731 erschienenen petits motets die erste Komponistin (und eine der ganz wenigen Frauen) in Frankreich, die lateinischsprachige geistliche Musik veröffentlicht hat. Damit setzt sich Guédon des Presles einerseits deutlich von der Mehrheit der Air-Komponistinnen ab, von denen jeweils nur sehr wenige Stücke erhalten sind (oft überhaupt nur ein einziges), und dies häufig nicht unter vollem Namen.16 Andererseits ähnelt ihr Fall jenem von Françoise Charlotte de Senneterre, gen. Mlle de Ménétou, und von Julie Pinel, die ebenfalls mit einem größeren Korpus von Liedern, und zwar sogar im Rahmen von Individualdrucken, hervorgetreten sind.17 Wenngleich es für eine abschließende Einschätzung noch so mancher Detailerhebung und vor allem einer systematischen Zusammenschau bedarf, so zeichnet sich doch ein Bild ab, das Parallelen zu dem von Alain Viala für die Literatur erbrachten Befund aufweist. Das Gros der Liedkomponistinnen erinnert an jene SchriftstellerInnen im Zeitalter der französischen Klassik, die Viala dem Typus des auteur occasionnel zuordnet (Viala 1985, 179–185)  : Autoren, deren ganz sporadische Textproduktion sich bloß in »Verlängerung« (prolongement) eines sozialen Status, etwa der Zugehörigkeit zu Zirkeln der mondänen Gesellschaft, ergab. Musikerinnen wie Guédon des Presles oder Julie Pinel hingegen kommen als Pendant zu den auteurs avec trajéctoire in Frage  : SchriftstellerInnen, die Texte mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Ambition hervorbrachten, aus dem Schreiben als solchem Prestige bzw. genuin kulturelles Kapital (über ein lediglich soziales hinaus) bezogen, ohne freilich wie professionelle Literaten und Literatinnen »Karriere« im eigentlichen 110

Von Spiel-Räumen zu espaces d’écritures  : Komponierende Frauen im Frankreich des ancien régime

Sinn zu machen, d. h. ohne Positionen oder finanzielle Vergütungen im System der kulturellen Institutionen zu erlangen und einen dadurch definierten statut social einzunehmen.

Fallstudie II  : Elisabeth-Claude Jacquet de La Guerre (1665–1729) Die 1665 geborene und 1729 verstorbene Elisabeth-Claude Jacquet de La Guerre ist während der letzten rund zwanzig Jahre als eine der prominentesten Komponistinnen der europäischen Musikgeschichte in den Blick nicht nur der musikhistorischen Forschung, sondern auch eines breiteren Musik-interessierten Publikums geraten.18 In der Tat ist ihre Karriere als professionelle und höchst erfolgreich in der Öffentlichkeit wirkende Cembalistin und Komponistin im Frankreich des ancien régime einzigartig. Hier sind nur die wesentlichsten Punkte in Erinnerung zu rufen, die als bedingende Faktoren und zugleich als Ausdruck ihrer exzeptionellen Laufbahn zu gelten haben. An erster Stelle zu nennen ist die Abstammung aus der Instrumentenbauerund Musikerfamilie Jacquet und die zeittypische Einheiratung in eine Familie desselben Berufstands, die Organistendynastie der de La Guerre. Jacquets Herkunft ist einerseits als entscheidende Voraussetzung für ihre frühe musikalische Sozialisation anzusehen. Üblicherweise hatten im Frankreich des ancien régime Frauen, die nicht der Oberschicht angehörten, nur dann eine Chance auf eine fundierte musikalische Ausbildung, wenn sie aus einer Musikerfamilie kamen. Andererseits brachte der familiäre Background mit sich, dass Jacquet buchstäblich von Haus aus in ein professionelles, vielfach verwandtschaftlich vermitteltes Netzwerk eingebunden war (dessen Wirksamkeit während ihrer gesamten Karriere beobachtet werden kann). Ein zweiter Schlüsselfaktor war die Förderung durch Ludwig XIV. bzw. die enge Beziehung zu dessen Hof, an dem Jacquet bereits in jungem Alter auftrat, während der 1680er-Jahre mehrere (nicht erhaltene) musikdramatische Werke produzierte und nicht zuletzt um 1680 einige Jahre unter der Obhut von Mme de Montespan, die zu dieser Zeit als Maitresse Ludwigs XIV. eine Schlüsselfigur am Hof war, zubrachte (vgl. Cessac 1995a, 19–25, Unseld 2007, 134–139). Zwar wissen wir über diesen Aufenthalt bei Hof nicht viel mehr als das bloße Faktum, jedoch liegt auf der Hand, dass er in zweierlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung gewesen sein muss  : ­einerseits wegen der Möglichkeit, gleichsam auf tagtäglicher Basis in Berührung mit den führenden Musikern Frankreichs zu kommen  ; andererseits für das Bekanntwerden Jacquets in Kreisen der adeligen Gesellschaft bzw. der sozialen und 111

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kulturellen Elite. Drittens wurde die öffentliche Wahrnehmung Jacquets durch ihre – modern gesprochen – »mediale Präsenz«, insbesondere im »Mercure galant«, verstärkt. Die Zeitung informierte seit 1677 mehrmals über ihre Auftritte in Hofkreisen und die herausragenden Fähigkeiten der jungen Musikerin, die nicht zuletzt die Wertschätzung des Königs gefunden hatten.19 Der (im wahrsten Sinn des Wortes) »Königsweg« einer professionellen Musikerkarriere, eine offizielle Anstellung bei Hofe, stand der Instrumentalistin und Komponistin Elisabeth Jacquet allerdings nicht offen – die einschlägigen Hofämter waren zu ihrer Zeit allein Männern vorbehalten. Zwar wurden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auch Frauen in die königliche Kammermusik berufen, doch waren dies unter Ludwig XIV. ausschließlich Sängerinnen.20 (Analoges galt im Übrigen für die Académie royale de musique, an der Frauen lediglich als Vokalsolistinnen, Choristinnen oder Tänzerinnen dauerhaft engagiert wurden.) Trotz der Unerreichbarkeit einer festen Position in den Institutionen des Pariser Musiklebens ist bei Jacquet eine im hohen Grad professionalisierte Musikausübung insofern zu konstatieren, als sie sich in bemerkenswerter Breite auf den ihr zugänglichen Tätigkeitsfeldern bewegt (bzw. sich diese erschlossen) hat  :21 als Veranstalterin von weithin gerühmten Hauskonzerten, als Cembalolehrerin, durch Arbeiten für das Theater (u. a. ist Jacquet die erste Komponistin einer an der Académie royale de musique herausgebrachten Oper) und vor allem als Autorin, deren Werke zu einem erheblichen Teil im Druck erschienen. Dieser letzte Gesichtspunkt soll im Folgenden etwas näher verfolgt werden. Elisabeth Jacquet ist nicht nur die erste und für lange Zeit einzige französische Komponistin, die eine stattliche Anzahl an Veröffentlichungen quer durch die verschiedenen Genres vorweisen kann,22 sondern es befindet sich darunter auch so manche Pionierleistung. So sind etwa die »Pièces de Claveßin« von 1687 der erste Individualdruck einer Komponistin und zugleich eine der ersten Publikationen von Cembalomusik im Frankreich des 17. Jahrhunderts überhaupt  ; mit den beiden Büchern von »Cantates françoises, sur des sujets tirez de l’Écriture« aus den Jahren 1708 und 1711 liegen die ältesten gedruckten Beispiele der französischen geistlichen Kantate vor  ; die »Pièces de Clavecin qui peuvent se Joüer sur le Viollon« von 1707 schließlich stellen die erste Sammlung von (explizit als solche ausgewiesener) begleiteter Claviermusik23 dar.24 An den Veröffentlichungen Jacquets lässt sich nicht nur das Zusammenspiel der vorhin erwähnten Karrierefaktoren demonstrieren. Vielmehr können sie ganz generell als Anschauungsbeispiel dafür dienen, was es bedeutet, die Tätigkeit eines Komponisten oder einer Komponistin nicht bloß als solipsistischen geistigen Schöpfungsakt aufzufassen, der sich in rein »innermusikalisch« aufzu112

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schlüsselnden Texten objektiviert, sondern als ein in praktische wie diskursive Zusammenhänge eingelassenes und direkt oder indirekt weitere Akteure involvierendes Handeln. Exemplarisch sei Jacquets allererste Publikation, die »Pièces de Claveßin«, eine Sammlung von vier Cembalosuiten, herausgegriffen.25 Mit Blick auf die materiellen Voraussetzungen ist zunächst zu bedenken, dass in Frankreich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts das Edieren von Musik, sofern man sich dafür wie im Falle von Jacquets opus primum des Notenstichverfahrens bediente, im Eigenverlag erfolgte. Der Autor oder die Autorin hatte die gesamte Herstellung, d. h. den (kostenintensiven) Papierankauf, die Anfertigung der Stichvorlagen und den eigentlichen Druckvorgang vorzufinanzieren und ein entsprechendes wirtschaftliches Risiko zu tragen.26 Angesichts dieser Bedingungen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die 1687 erst 22-jährige Jacquet Förderung aus ihrem Umfeld genoss. In erster Linie ist dabei, abgesehen vielleicht von Familienmitgliedern, an den Widmungsempfänger zu denken, d. h. an Ludwig XIV. (dem mit Ausnahme des letzten Kantatenbuchs alle Veröffentlichungen Jacquets dediziert sind). Zwar fehlt ein direkter dokumentarischer Beleg für eine königliche Subvention, auch ist ganz generell der Frage nach den ökonomischen Voraussetzungen der zahlreichen Musikdrucke im damaligen Frankreich bislang nicht systematisch nachgegangen worden. Jedoch ist aus dem Bereich der Literatur hinlänglich bekannt, dass Dedikationen mit einer finanziellen Zuwendung von Seiten des Widmungsempfängers oder der -empfängerin verbunden sein konnten (Viala 1985, 54–57). Von zwei anderen am Publikationsprojekt mitwirkenden Personen wissen wir freilich mit Sicherheit. Ihre Beteiligung verdeutlicht nicht zuletzt die Rolle, die das vorhin erwähnte Familiennetzwerk für Jacquets Karriere spielte. Es handelt sich zum einen um den Verfasser von zwei dem Notentext vorangestellten panegyrischen (sie also preisenden) Gedichten auf die Komponistin, nämlich den Poeten und Kleriker René Trépagne de Ménerville, einen Cousin von Jacquets Ehemann Marin de La Guerre (Cessac 1997)  ; zum anderen um den Stecher Henri de Baussen. Dieser gehörte während der 1670er- und 1680er-Jahre als Kopist und Sänger dem kleinen, aber feinen musikalischen Hofstaat der Mlle de Guise an, an dem (neben immerhin Marc-Antoine Charpentier27) Jacquets ältere Schwester Anne tätig war (Cessac 1995a, 41 u. 44). Unabhängig davon, ob die Widmung finanziell abgegolten wurde, erfüllte sie jedenfalls eine »inhaltliche« Funktion. Dass Jacquet im Dedikationsbrief ihre frühe Präsenz bei Hof, das Gefallen, das sie beim König fand, die daraufhin gewährte königliche Förderung und zwei (nicht erhaltene) Werke für den Hof erwähnt, entspricht zunächst einer Konvention der Textsorte, die erforderte, die 113

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Beziehung zwischen Autor/Autorin und Widmungsträger zu thematisieren. Zugleich wird aber durch die Schilderung dieser Vorgeschichte beim Publikum die Wahrnehmung genau jener Aspekte forciert, die nicht zuletzt dank der Berichte im »Mercure galant« mit dem Namen Jacquet konnotiert waren (zugespitzt ließe sich also von einer Selbstinszenierung in Relation zu einem schon vorhandenen Image sprechen). Mehr noch  : Indem sich Jacquet als Musikerin stilisiert, die vor dem bzw. für den König produziert hat, wird ein Stück weit der Publikation als Ganzer die Bedeutung einer (Re-)Präsentation von ursprünglich exklusiver Musik am Hofe verliehen.28 Das Ausmaß, in dem Jacquets Publizieren quantitativ und qualitativ von jenem der vor ihr publizierenden Komponistinnen absticht (das wie gesagt üblicherweise auf den einen oder anderen Air im Rahmen von Anthologien beschränkt war), legt die Vermutung nahe, dass es sich um eine von großer Bewusstheit getragene Aktivität gehandelt hat. Ein in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreiches Dokument ist der Dedikationsbrief des vermutlich 1691/92 entstandenen Balletts »Jeux à l’honneur de la victoire«.29 Darin heißt es an Ludwig XIV. gerichtet  : Ihr geruhtet […], die ersten Versuche meines Talents gutzuheißen, und es hat Euch gefallen, weiterhin manche Erzeugnisse [meines Talents] anzunehmen. Doch diese besonderen Zeichen meines Eifers waren mir nicht genug, und ich ergriff die glückliche Gelegenheit, davon etwas an die Öffentlichkeit bringen zu können. Dies hat mich dazu bewogen, dieses Ballett für das Theater zu schaffen. Nicht erst seit heute haben Frauen hervorragende Werke der Poesie vorgelegt, die sehr großen Erfolg hatten. Doch bis jetzt hat keine Frau versucht, ein ganzes dramatisches Werk [opera] in Musik zu setzen. Und ich ziehe aus meinem Vorhaben den Vorteil, dass es Eurer umso würdiger ist, je ausgefallener es ist.30 (Übers. nach Cessac 1995b, 246f.)

Der Text signalisiert nicht nur die bewusste Intention, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen (und zwar in diesem Fall durch ein musiktheatralisches Werk, wohl im Unterschied zu früheren, in kleineren Hofzirkeln aufgeführten Kompositionen  ; vgl. Cessac 1995b, 238). Sondern auch der explizite Hinweis auf Vorläuferinnen im Bereich der Literatur ist bedenkenswert. Linda Timmermans (2005, 177–236) hat eindrucksvoll die »emergence de femme ecrivain«, das Auftreten der Schriftstellerin in Frankreich im Laufe der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, beschrieben. Erstaunlich ist nicht allein die schiere Zahl schreibender Frauen (DeJean 1991, 201–219, hat für die Zeit von 1640 bis 1715 mehr als 220 Auto114

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rinnen ermittelt). Entscheidend war vielmehr der wachsende Einfluss, den Frauen auf die literarische Szene gewannen, und ein damit verbundener Prozess der Professionalisierung der weiblichen Literaturproduktion. So stellte das Schrei­ ben von Frauen zunächst eine als mondänes divertissement (als unterhaltsamer Zeitvertreib), wenn nicht als Verlängerung salonspezifischer Kommunikationsformen aufgefasste Gelegenheitsbeschäftigung dar, die sich auf Kleingattungen beschränkte und, wenn überhaupt, dann zu anonym bzw. in Anthologien oder in Zeitungen wie dem »Mercure galant« herausgebrachten Publikationen führte. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts lässt sich dagegen eine Tendenz hin zu einem Verfassen von Texten beobachten, das eine ambitioniert betriebene, unter Umständen identitätsbestimmende Hauptaktivität sein konnte und auf größere Genres (wie insbesondere den Roman) ausgedehnt wurde. Zudem begannen Frauen des Adels und des höheren Bügertums, auf das literarische Feld vernehmbar einzuwirken, etwa durch Beteiligung an öffentlichen literaturkritischen Diskussionen, durch Arbeiten für das Theater und nicht zuletzt durch das In-Druck-Bringen von Texten, das zunehmend individuell (statt in Anthologien), nicht mehr nur anonym und teilweise sogar zur Bestreitung des Lebensunterhalts erfolgte. Anders als die Literaturwissenschaft hat die Musikforschung bislang kein systematisches und umfassendes Gesamtbild des Schreibens von Frauen im Frankreich des ancien régime entwickelt. Frappierend ist aber schon auf den ersten Blick die Parallele zwischen den beiden eben beschriebenen Polen weiblicher Literaturproduktion und dem Verhältnis, das zwischen den zahlreichen Verfasserinnen einzelner Airs auf der einen Seite und einer Komponistin wie Elisabeth Jacquet auf der anderen Seite besteht. Und Jacquets Bemerkung deutet zudem darauf hin, dass die Etablierung von Frauen im literarischen Feld von ihr nicht nur bewusst wahr-, sondern auch zum handlungsleitenden Modell genommen wurde.

Fallstudie III  : Antonia Bembo (ca. 1640 – ca. 1720) Einen ebenfalls einzigartigen, wenngleich ganz anders gelagerten Fall stellt die Sängerin und Komponistin Antonia Bembo dar. Sie ist hier allein schon deshalb zu berücksichtigen, weil sie neben Elisabeth Jacquet die produktivste Komponistin der Ära Ludwigs XIV. war. Auch übertrifft ihr vokalmusikalisches Œuvre an Breite und Vielfalt der Gattungen jenes aller ihrer Kolleginnen im ancien régime. Allerdings birgt die äußerst lückenhaft dokumentierte Biographie und mehr noch die kompositorische Aktivität Antonia Bembos einige Rätsel, auch nach 115

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dem rezenten Versuch, die Lebensgeschichte auf Grundlage einer systematischen Erhebung der einschlägigen Archivalien zu rekonstruieren (Fontijn 2006). Die um 1640 geborene Antonia Padoani kommt aus einer Familie der gehobenen venezianischen Mittelschicht.31 Der Vater, ein erfolgreicher Arzt, ließ seiner Tochter eine gediegene humanistische und musikalische Ausbildung durch Privatlehrer angedeihen, unter anderen durch niemand Geringeren als Francesco Cavalli, den damaligen Kapellmeister am Markusdom und um die Jahrhundertmitte führenden italienischen Opernkomponisten. 1659 heiratete sie den aus einer der prominentesten und ältesten Adelsdynastien Venedigs stammenden Lorenzo Bembo. Nachdem die Ehe, aus der drei Kinder hervorgingen, bereits um 1672 offenbar tief zerrüttet war (man hört von finanziellen Malversationen, wiederholter Untreue, aber auch gewaltsamen Übergriffen Lorenzos), entschloss sich Antonia Bembo zu einem außerordentlichen, existenziell einschneidenden Schritt  : Sie verließ 1676/77 ihre Familie und Heimat und emigrierte nach Paris. In Frankreich gelang es ihr anscheinend, Kontakte zum königlichen Hof herzustellen. Fest steht, dass sie dank der finanziellen Unterstützung Ludwigs XIV. seit 1682 in der mit einem Frauenkonvent verbundenen Petite Union Chrétienne lebte, einem Refugium für obdachlose bzw. gegen den Willen ihrer (hugenottischen) Eltern zum Katholizismus konvertierte Mädchen sowie für (ältere) Frauen, denen wie Bembo als dames pensionnaires, d. h. im Gegenzug für eine finanzielle Zuwendung an den Konvent, ein Rückzugsort geboten wurde. Dort dürfte Bembo bis zu ihrem Tod – vermutlich um 1720 – geblieben sein. Die wenigen gesicherten Nachrichten über Bembos Leben verdanken wir zu einem Großteil Archivalien, die sich auf die Zeit in Venedig bzw. auf ihre familiären Angelegenheiten in Italien beziehen. Für die Zeit in Paris stehen als Informationsquellen hingegen nahezu ausschließlich die Kompositionen bzw. die damit verbundenen Widmungsvorworte zur Verfügung. In den Quellen zum französischen Hof bzw. zum Pariser Musikleben, im französischen Musikschrifttum, in der zeitgenössischen Berichterstattung, Memoiren- und Briefliteratur usf. taucht ihr Name an keiner Stelle auf. Eine Folge ist, dass die persönlichen Kontakte, die Bembo in Paris unterhielt, bzw. ihre konkreten Lebens- und Schaffensumstände allenfalls indirekt und rein hypothetisch erschlossen werden können. Vermutet wurden  : Kontakte zum international renommierten Gitarrenvirtuosen Francesco Corbetta, der vielleicht als Bembos »Fluchthelfer« fungierte und ihr den Zugang zum Hof bzw. zu seinem ehemaligen Gitarrenschüler Ludwig XIV. ermöglicht haben könnte  ; dann Beziehungen zu Brigida Fedeli (drei Stücke Bembos über Texte der bekannten Dichterin, Sängerin und Schauspielerin sind erhalten) bzw. überhaupt zu Mitgliedern der Comédie Italienne (die 116

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ihre Landsfrau vielleicht während der ersten, in ein völliges Dunkel gehüllten Jahre in Paris unterstützten)  ; schließlich für die spätere Zeit die Patronage von Marie-Adelaïde von Savoyen (die seit 1696 mit Louis de Bourgogne, dem Enkel Ludwigs XIV., verheiratet war und der eine Reihe von Kompositionen Bembos gewidmet sind). So sinnvoll die Bemühungen sein mögen, die biographischen Lücken auf spekulativem Weg zu schließen – mindestens so wichtig ist, das Phänomen von Bembos geringer Sichtbarkeit grundsätzlich zu bedenken. Der Mangel an Dokumenten ist ja umso bemerkenswerter, als für die französische Musikkultur der Zeit Ludwigs XIV. ansonsten keineswegs Quellenarmut zu beklagen ist. Die Annahme liegt nahe, dass Bembo eine Existenz weitgehend abseits von Hof, Öffentlichkeit bzw. typischerweise Quellen generierenden Institutionen und kulturellen Sphären geführt hat. Weiterhin kann davon ausgegangen werden, dass sich darin die in mehrfacher Hinsicht marginalisierte Position Bembos widerspiegelt (vgl. Fontijn 1994, 211–214  ; Unseld 2007, 132f.)  : als Frau, die in de facto, aber nicht de iure getrennter Ehe lebte, als Exilantin (»Fremde«) resp. Migrantin und folglich als Musikerin, die (in markantem Unterschied etwa zu Elisabeth Jacquet) zumindest nicht von Haus aus in ein professionelles Netzwerk eingebunden war. Ein dokumentarisches Vakuum besteht nicht zuletzt auch insofern, als keinerlei Nachrichten bzw. ausdrückliche Hinweise zu Aufträgen oder Aufführungen, generell zu einer zeitgenössischen Rezeption von Bembos allesamt unpubliziert gebliebenen Kompositionen erhalten sind. Dabei ist ihr Œuvre wie erwähnt keineswegs schmal. Es umfasst 53 Werke verschiedener Gattungen, darunter eine abendfüllende italienische Oper, und ist in sechs durchaus repräsentativen handschriftlichen Bänden überliefert, welche die Komponistin zwischen ca. 1700 und 1710 zusammengestellt und zum größten Teil Ludwig XIV. oder MarieAdelaïde von Savoyen dediziert hat.32 Zwar wurden für manche Stücke mögliche Aufführungsgelegenheiten und -orte (ebenfalls hypothetisch) erwogen  : zum Beispiel für die petits motets, also die geringstimmigen lateinischsprachigen Sätze, die Petite Union Chrétienne, für die Vertonung der Bußpsalmen in der Übersetzung von Elisabeth-Sophie Chéron der Salon dieser angesehenen Malerin und Dichterin oder für bestimmte italienische Arien und Kantaten, für das »Divertimento per la nascita di Duca di Bretagna« und für ein Te Deum zu demselben Anlass naheliegenderweise der Hof der Mutter des Duc de Bretagne, MarieAdelaïde von Savoyen (Fontijn 2006, 151–154, 194f., 222f.). Dass der Versuch, den einzelnen Werken konkrete Bestimmungs- oder zumindest Aufführungsorte zuzuordnen, nicht vollständig aufgeht, zeigt jedoch die fünfaktige tragedia 117

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in musica »L’Ercole amante« (die zwei der sechs Bände mit Bembos Schaffen füllt)  : Unter Ludwig XIV. ist nach dem Scheitern von Mazarins Bemühungen um die Jahrhundertmitte, die italienische Oper in Frankreich zu etablieren,33 schwerlich eine Institution oder Gelegenheit vorstellbar, die für eine vollständige, geschweige denn eine vollständige szenische Realisierung eines abendfüllenden dramma per musica Raum geboten hätte. Aussichtsreicher dürfte dagegen sein, die Frage nach der »Verortung« von Bembos Schaffen mit Blick nicht in erster Linie auf die einzelnen Stücke, sondern grundsätzlicher auf ihr kompositorisches Handeln und dessen Bedingungen zu stellen. Herauszustreichen ist zunächst, dass Bembos erhaltenes Œuvre ganz überwiegend aus der Zeit in der Petite Union Chrétienne datiert. Als im Kloster (bzw. in einer Kloster-ähnlichen Einrichtung) komponierende Frau steht Bembo im damaligen Frankreich völlig singulär da – nach derzeitigem Informationsstand wissen wir sonst von keiner einzigen französischen »Klosterkomponistin« des 17. und 18. Jahrhunderts. Hingegen handelte es sich in Italien um ein extrem verbreitetes Phänomen. Hier hatte eine nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen um 1600 einsetzende Welle von Klostereintritten, die gerade auch junge gebildete Frauen der höheren sozialen Schichten erfasste, zur Konsequenz, dass (im städtischen Raum situierte) Konvente zu Zentren kultureller und insbesondere musikalischer Aktivität wurden (vgl. Rode-Breymann 2009a). Wenngleich nicht auszumachen ist, ob es bewusst erfolgte bzw. von Anfang an so intendiert war, im Ergebnis jedenfalls hat Bembo für ihre kompositorische Tätigkeit ein setting aus der Heimat in ihr Exilland übertragen. Inwieweit die klösterliche Existenz eine reale Isolation der Komponistin bedeutete, lässt sich mangels konkreter Informationen präzise nicht ermitteln. Fest steht aber einerseits die (bloß) »ideelle Rückbindung« (Unseld 2007, 134) ihres Schaffens an den Hof, die in den Widmungen und einzelnen inhaltlich auf Mitglieder des Königshauses bezogenen Stücken zum Ausdruck gelangt. Andererseits kann davon ausgegangen werden, dass der Rückzug in die Petite Union Chrétienne eine kompositorische Entfaltung ermöglicht hat, die nicht in diesem Ausmaß Imperativen und äußeren Bedingungen unterlag wie ein Agieren in bestimmten institutionellen Zusammenhängen, für den Hof, für das Theater oder für ein durch den Druck zu erreichendes Publikum. Dass sich dem Komponieren Bembos dementsprechend ein spezifischer Spielraum eröffnete, ist nicht zuletzt am individuellen, zum Teil persönlichen Zuschnitt ihres Schaffens ablesbar. Auf die Besonderheit einer italienischen Oper im Kontext der damaligen französischen Musikkultur wurde bereits hingewiesen. Nicht minder signifikant ist die Wahl des Librettos  : Es handelt sich 118

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um jenen von Francesco Buti stammenden Text, der in der Vertonung durch Francesco Cavalli für die Festlichkeiten aus Anlass der Hochzeit Ludwigs XIV. 1660 vorgesehen war. Bembos »L’Ercole amante« eignet damit der Charakter eines doppelten Verweises auf Schlüsselfiguren ihrer Lebensgeschichte  : auf den vormaligen Lehrer in Italien und auf den aktuellen Patron in Frankreich. »Autobiographische Subtexte« sind in Bembos Oeuvre des Öfteren anzutreffen. Etwa in einzelnen Stücken des ersten, »Produzioni armoniche« betitelten Bands, deren (anonyme, möglicherweise von Brigida Fedeli oder von der Komponistin selbst verfassten) Texte allegorisch auf Bembo und (ihre Beziehung zu) Ludwig XIV. anspielen (Fontijn 2006, 87–93). Aber schon ihrer schieren Anlage nach sind die »Produzioni armoniche« ganz individuell gehalten und repräsentieren in einem gewissen Sinn die lebensgeschichtlichen Stationen ihrer Autorin  : Enthalten sind italienischsprachige Stücke, die zum Teil noch in der Heimat entstanden sein dürften, dann italienische Kantaten, in die französische Stilelemente integriert werden, weiterhin mehrere lateinischsprachige Stücke nach dem Muster des französischen petit motet und am Ende ein sozusagen rein französischer Air. Hinzu kommt die Besetzung  : Zum größten Teil beschränkt sich die Sammlung abgesehen vom Continuo auf einen solistischen Sopran, das heißt auf die Stimmlage der Sängerin Antonia Bembo (als solche dürfte sie am französischen Hof eingeführt worden sein und die Gunst Ludwigs XIV. erworben haben). Auch in dieser Hinsicht spricht also aus den »Produzioni armoniche« die Stimme der Komponistin. Außergewöhnliche Züge weisen schließlich die »Sept Pseaumes de David« auf, die das letzte der sechs Werkmanuskripte bilden. Den relativ ausgedehnten, bis zu 440 Takte umfassenden Sätzen liegen die Texte der sogenannten Bußpsalmen in der erstmals 1694 erschienenen, sehr erfolgreichen französischen Paraphrase von Elisabeth-Sophie Chéron zugrunde. Reine Spekulation bliebe (die vielleicht verlockende) Annahme, die Auswahl just dieser Textvorlage wäre durch eine zutiefst persönliche Befindlichkeit motiviert. Fest steht aber, dass die vormals florierende Tradition von Kompositionen über Psalmparaphrasen gegen 1700 abgeebbt war (Launay 1993, 453–455) und – mehr noch – sonst kein Fall einer zyklischen Zusammenstellung von Vertonungen der sieben Bußpsalmen aus Frankreich bekannt ist. Auch musikalisch geht Bembo bis zu einem gewissen Grad eigene Wege. Unter den Gattungen der zeitgenössischen Musik Frankreichs steht den »Sept Pseaumes« als Vertonungen französischer religiöser Versdichtung der cantique spirituel am nächsten. Vom Gros des einschlägigen Repertoires, das eng an die Kleinform des weltlichen Air angelehnt ist, heben sich Bembos Sätze allein schon durch ihren Umfang und die größere Besetzung ab. 119

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Zwar existiert aus der Zeit um 1700 ein kleineres Korpus aufwendiger gestalteter und größer dimensionierter sogenannter cantiques savants. Im Unterschied zu diesen Kompositionen u. a. von Pascal Colasse oder Jean-Baptiste Moreau streifen Bembos durchkomponierte »Sept Pseaumes« jedoch nicht nur die vom Air herkommende Gliederung der Binnenabschnitte in zwei wiederholte Teile ab, sondern weisen zudem eine großformale Gliederung auf, die nicht mehr strikt dem strophischen Bau der Dichtungen folgt (Favier 2008, 113–117).

Ausblick In ihrem Buch »Women Writing Opera« (2001) widmen sich Jacqueline Letzter und Robert Adelson dem »flowering of opera by women« in Frankreich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, also dem bemerkenswerten Phänomen, dass aus der Zeit zwischen 1770 und 1820 insgesamt 54 in Text und/oder Musik von Frauen verfasste Opern bekannt sind, darunter einige damals äußerst erfolgreiche Stücke wie Julie Candeilles »Catherine, ou la belle fermière« 1792 oder Constance de Salms »Sapho« 1794. Letzters und Adelsons Arbeit ist die bislang einzige monographische Studie, die das Komponieren von Frauen in Frankreich – wenn auch nur für eine bestimmte Gattung und für einen begrenzten Zeitraum – umfassend behandelt, d. h. über Einzelfallstudien hinaus zu einem Gesamtbild vordringt, dabei den verschiedensten Aspekten des Themas Beachtung schenkt und zugleich konsequent eine Gender-Perspektive einnimmt. So wird der Ausbildung bzw. der sozialen Herkunft der Komponistinnen und Librettistinnen nachgegangen und gezeigt, dass es diesen nur dank einer frühen, familiär bzw. durch die Tätigkeit insbesondere als Sängerin bedingten Berührung mit der Welt des Musiktheaters gelang, bestimmte Beschränkungen der Frauenerziehung zu überwinden, die dem Erwerb der für das Schreiben einer Oper relevanten Kenntnisse abträglich waren.34 Dass die von Frauen verfassten Opern fast ausschließlich opéras comiques sind, findet eine Erklärung in genderrelevanten Eigenschaften der französischen musiktheatralischen Gattungen  : Die sentimentalen, in einfachen, oft ländlichen Milieus spielenden Handlungen der opéra comique korrelierten – anders als die heroisch-mythologischen Themen der tragédie lyrique – mit dem herrschenden Begriff von Weiblichkeit und waren daher im zeitgenössischen Bewusstsein am ehesten mit der Vorstellung weiblicher Autorinnenschaft zur Deckung zu bringen. Nicht zuletzt rekonstruieren Letzter und Adelson die Schwierigkeiten und die diversen Strategien ihrer Überwindung, die sich aus einem grundlegenden »Widerspruch« ergaben  : Einerseits brachte die 120

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dominierende Gender-Ideologie dem öffentlichen Wirken von Frauen nach wie vor (und im Gefolge der Französischen Revolution sogar wieder verstärkt) Vorbehalte entgegen  ; andererseits genoss die Oper wie keine andere Institution des Musiklebens öffentliche Aufmerksamkeit und erforderte – von der Einreichung von Stücken bei den Theaterhäusern über die Einstudierung bis hin zur Aufnahme durch Publikum und Kritik –, sich in einem weit verzweigten institutionellen und personellen Komplex zu bewegen und durchzusetzen. Für weitere Bereiche des Komponierens von Frauen im ancien régime stehen Untersuchungen, die in systematischer Weise sozial-, gattungs-, institutionenund genderhistorische Aspekte zusammenführen und eine balancierte Sicht auf die Möglichkeiten ebenso wie auf die Beschränkungen weiblicher Musikproduktion bieten, noch aus. Um nur eine – nicht zuletzt im Licht der hier angestellten Beobachtungen – naheliegende Frage zu erwähnen  : Inwiefern kann beim Air von einer typischen Gattung des Komponierens von Frauen gesprochen werden  ? Immerhin sind solche Lieder in nicht minder großer Zahl von männlichen Amateuren erhalten, die unter denselben Bedingungen, d. h. in denselben Medien, oft in ebenfalls nur geringem Umfang und (halb-)anonym publiziert haben. Lässt sich der Verdacht erhärten, dass die einzelnen Subgenres des Air mit einem verschiedenen Grad von Angemessenheit für Frauen konnotiert waren  ? Angesichts des (in einzelnen Fällen belegbaren) jungen Alters mancher Air-Komponistin stellt sich weiterhin die Frage nach einem Einfluss des Familienstands (dass eine Verheiratung nachteilige Folgen für die künstlerische Aktivität von Frauen zeitigen konnte, ist aus anderen Bereichen, etwa von einigen Cembalistinnen, bekannt  ; vgl. Schweitzer 2013, 50). Und in welchem Maß resultiert schließlich die Konzentration weiblichen Komponierens auf den Air »einfach« aus dem Umstand, dass andere Gattungen Frauen weniger oder gar nicht zugänglich waren, und welche Rolle spielen dabei jeweils institutionelle oder in der Erziehung liegende Faktoren  ? Schon jetzt lässt sich freilich eine prinzipielle Anforderung an die weitere Erforschung des Komponierens von Frauen im ancien régime erkennen  : In voller Breite wären die Ergebnisse der Literaturwissenschaft einzubeziehen. Dieses Erfordernis resultiert nicht nur aus den Beziehungen zur Literatur, die »in der Sache« selbst gelegen sind, wie etwa dem Wesen des Air als eine poetische und musikalische Form, oder in der angesprochenen Vorbildfunktion weiblicher Literaturproduktion für das Selbstverständnis von Elisabeth Jacquet, oder in dem Faktum, dass einschlägige Publikationsorgane wie der »Mercure« der Verbreitung auch, wenn nicht sogar in erster Linie von Dichtungen dienten. Vielmehr könnte die Musikwissenschaft von der Literaturwissenschaft – wie auch den 121

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historischen Wissenschaften und den Gender Studies – insoweit profitieren, als hier so manche grundsätzliche, auch für die Musik relevante Frage bereits auf theoretisch vertiefte und methodisch elaborierte Weise in Angriff genommen wurde, so etwa die Frage nach der AutorInnen-Funktion35 (in dem von Foucault herkommenden Sinn), der Begriff und die Strategien des Publizierens, die Struktur des Publikums oder das Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum.

Anhang Verzeichnis komponierender Frauen in Frankreich, 17. bis 2. Hälfte 18. Jahrhundert Nachstehend sind die nach derzeitigem Forschungsstand bekannten Frauen aufgelistet, die in Frankreich vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis vor 1789 kompositorisch hervorgetreten sind. Die Aufstellung ist chronologisch angelegt, wobei wegen der oftmals fehlenden Lebensdaten eine präzise Chronologie nicht zu erreichen ist (im Sinne eines rein pragmatischen Ordnungsprinzips wurden Personen, bei denen nur Zeitraum oder Zeitpunkt von Publikationen bzw. musikalischer Aktivität bekannt sind, einem 20 Jahre früher angesetzten Geburtsdatum entsprechend eingereiht). Grundlage sind die Verzeichnisse von Grassl 2011, Jackson 1994, der »������ Calendrier électronique des spectacles sous l’ancien régime et sous la revolution« (abrufbar unter  : http://cesar.org.uk), das »Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts«, hg. vom Sophie Drinker Institut für musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung (abrufbar unter  : http:// www.sophie-drinker-institut.de), »�������������������������������������� The New Grove Dictionary of Women Composers«, hg. von Julie Anne Sadie, Rhian Samuel, London 1994, sowie Daten, die aus Letzter/Adelson 2001, Sadie 1986, Schleifer/Glickman 1998 und Schweitzer 2008 bezogen wurden. Angélique (= A. Paulet   ?) (+ spätestens 1657) Anne (oder Marguerite) Bocquet (fl. 1650erJahre) Mlle Des Vaux (publ. 1659) Mme de Bieule (fl. ca. 1660–1680) Dauphine de Sartre (+ 1685) Antonia Bembo, geb. Padoani (ca. 1640 – ca. 1720)

Claude Redon (ca. 1650–1718/20) Mlle Sicard (publ. 1678–1682) Mlle de O (publ. 1680–1681) Anne-Marie Plantier (* 1661) Mlle Laurent (fl. 1683–1707) Elisabeth-Claude Jacquet, verh. de La Guerre (1665–1729) Mme de La Grille (publ. 1686–1717)

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Mlle de La Pierre (fl. 1687ff.) Mlle Vailly (publ. 1688) Mlle de La P. (publ. 1688–1700) Mme Talon (fl. ca. 1695) Mlle B*** (publ. 1696) Mlle Goguo C (publ. 1697) Mme de La Rochenard (publ. 1699) Mlle de Ville** (publ. 1699) Mlle de Vilm… (publ. 1699) Françoise Charlotte de Senneterre (Mlle de Ménétou) (* ca. 1680) Mlle le F… (publ. 1700) Catherine de Loison (fl. ca. 1702) Mlle Herault (publ. 1702–1726) Mlle Bat(t)aille (* ca. 1683) Jacqueline Beaupère (Mme de La Plante) (+ 1728) Mlle Choisin (publ. 1703) Mlle Gingant (publ. 1704) Mlle Helv… (publ. 1704) Mlle de Saint Olon (* 1688) Mlle de C*** (publ. 1709) Mlle Herville (publ. 1710) Mlle Pinet la fille (publ. 1710) Mlle Denis (publ. 1711) Mlle de M… (publ. 1711) Mlle de Mn (publ. 1711) Anne-Elisabeth Bour(r)et, Marquise de Mézangère (1693–1779) Mlle H… (publ. 1713) Mlle de B. (publ. 1714) Mlle de H… (publ. 1714) Mlle Gouy (publ. 1715) Mlle B…d… (publ. 1716) Mme L.B.D.L. (publ. 1716) Mlle P… (publ. 1717–1719) Anne Madeleine Guédon de Presles (* ca. 1700/10–1754) Marquise de La Salle (fl. ca. 1720) Mlle Guyot (fl. 1720–1727  ; + 1728) Louise Cavelier, gen. Mme Lévèque (1703– 1743/45) Mlle Lolo (publ. 1726) Mlle Lolotte (publ. 1726)

Mlle But(t)ier (publ. 1727–1732) Mlle Billeh … (publ. 1728) Mme Mano (publ. ca. 1730–1742) Mlle de M… (publ. 1731) Mlle Provost (publ. 1732) Julie Pinel (publ. 1737) Elisabeth de Hautteterre, verh. Levèsque (fl. 1737–1768) Mlle Duval (1718 – nach 1775) Mme Pellicier, verh. Papavoine (ca. 1720–1790) Mlle Michon (publ. ca. 1748–1760) Mme Dupré (publ. 1750) Mlle D…et (publ. 1755) Hélène-Louise Demars (* ca. 1736) Mlle de Riancourt (fl. 1757) Mlle D … (publ. 1758) Mlle Guerin (* 1738/39) Isabelle de Charrière (1740–1810) Mlle Dauvergne de Beauvais (publ. ca. 1760) Mlle Blondel (publ. 1760/68) Mlle Genty (publ. 1761) Mlle de Vannier (publ. ca. 1762) Mlle de C … (publ. 1763) Anne-Louise Boyvin d’Hardancourt, verh. Brillon de Jouy (1744–1824) Mlle Cherbourg (publ. 1765) Genovieffa Vignola, verh. Ravissa (ca. 1745/50– 1807) Marie-Emanuelle Bayon, verh. Louis (1746– 1825) Stéphanie-Félicité de Genlis (1746–1830) Adélaïde-Félicité Mareschal, gen. Mlle Paisible (publ. 1766) Mlle Pean (publ. 1767–1774) Marie-Marguerite Baur (*1748) Henriette-Adlaïde Villard, gen. Mlle de Beaumesnil (1748–1813) Maria-Theresa-Louisa von Savoyen-Carignan, Princesse de Lamballe (1749–1792) Mme Villeroie (fl. 1770) Mlle Le R … (publ. 1770) Mlle Ray (publ. 1770–1784) Mme Gougelet, geb. Le Grand (publ. ca. 1771–1783)

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Elisabeth Le Chantre (* ca. 1752  ; fl. 1767– 1770) Mlle Dubonnet (publ. 1772) (Marie-)Angélique Diderot (1753–1824) Mlle Rose de la Roche (fl. 2. H. 18. Jhdt.) Rosalie Le Vasseur (publ. 1775–1781) Claire Alexandre (publ. 1777) Mlle Delorme (publ. 1777–1789) Mme de Rémusat (publ. 1777–1798) Mlle Edelmann (publ. 1779–1787) Mlle de La B … (publ. 1780) Mme M. (publ. 1780–1781) Mme Labaillive (publ. 1780   ?) Mlle Lambert (publ. ca. 1780) Comtesse de Bussy (publ. 1780–1781) Marie-Élisabeth Duvergé, verh. de Cléry (1761 – nach 1795) Mlle de C … [II] (* 1761  ; publ. 1775) Mlle Duv*** (* 1761) M[me de   ?] Viard (publ. 1781) Mme D.C. (publ. 1781–1785) Mme D.S. Pélé (publ. 1781–1785) Mme L. (publ. 1782) Mme Le Duc (publ. 1782) Mme de Villeblanche (publ. 1782) Mlle Virion (fl. 1782) Mlle Jeanne Cécile (*1762   ?  ; publ. 1783) Mme d’Argenville (publ. 1783)

Hélène Antoinette Marie de Nervo, Marquise de Montgeroult (1764–1836) Agathe Elisabeth Henriette Larrivée (1764/65– 1839) Augustine Pouillan (publ. 1784) Mlle Audini (publ. 1784–1822) Florine Dezède (1765 – vor 1792) Jeanne-Hippolyte Moyroud, verh. Devismes (1765–1834  ?) Mlle Poirier (publ. ca. 1785) Mlle de T. (publ. ca. 1785) Mlle Aurore (publ. 1785–1789) Mlle Gaudin (publ. 1785–1789) Mme Laugier (publ. 1785–1789) Mlle Méon (publ. 1785–1789) Caroline Wuiet (1766–1835) Mme Desmaisons (publ. 1786) Mlle de Th. (publ. 1786–1794) Amélie-Julie Candeille (1767–1834) Constance-Marie de Théis, verh. de Salm (1767–1845) Mlle Bazin (publ. 1788) Mme de Musigny (publ. 1788–1789) Mme de Bonneuil (publ. ca. 1789) Comtesse D.F.Z. (publ. 1789) Lucile (Angélique-Dorothée-Louise) Grétry (1772–1790) Mlle Benaut (*1776  ; publ. ca. 1786–1788)

Anmerkungen 1 Pars pro toto seien als wichtigste einschlägige Arbeiten erwähnt  : Sadie 1986, Fontijn 1994, Jackson 1994, Vilcosqui 1973 und 2001, Letzter/Adelson 2001. 2 Diese hat die Bedingungen für das Musizieren von Frauen in mancherlei Hinsicht grundlegend verändert. Im Folgenden werden daher nur solche Musikerinnen berücksichtigt, deren (früheste dokumentierte) Aktivität in die Zeit vor 1789 fällt. 3 Eine Erhebung aller in der musikwissenschaftlichen Literatur erwähnten Musikerinnen erbrachte allein für den Zeitraum der Regentschaft Ludwigs XIV. (1643–1715) rund 700 Namen. Siehe Grassl 2011. 4 D.h. jener zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führenden Aufstandsbewegung der Jahre 1648 bis 1653, die von königlichen Amtsträgern, dem städtischen Bürgertum, aber auch weiten Teilen des höheren Adels getragen wurde und die sich gegen die auf Stärkung der Zentralgewalt zielende

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Verfassungs- und Finanzpolitik des Kardinalministers Jules Mazarin und der Regentin Anna von Österreich (der Mutter des damals noch minderjährigen Ludwig XIV.) richtete.  5 Erst vor Kurzem hat Jolanta T. Pekacz (1999, 115–124) auf den »inconspicious place of music in seventeenth-century Parisian salons« (115) und auf den von den Quellen erzeugten Eindruck hinge­ wiesen, »that music was not a principal activity in eighteenth-century Parisian salons either« (122).   6 Bei den maîtrisen, einer zentralen Säule der institutionalisierten Musikausbildung im ancien régime, handelte es sich um Schulen, die mit (größeren) Kirchen verbunden waren. Sie dienten der allgemeinen und musikalischen Erziehung der dem Chor der betreffenden Kirche angehörenden Knaben.   7 Vgl. dazu grundlegend nur  : Rode-Breymann 2009b.   8 Die (nur sehr bruchstückhaften) Informationen zu ihrer Person sind den Recherchen von Moroney 2012 zu verdanken.   9 Auf die zum Teil changierende Terminologie bzw. die diversen Subgenres (wie air sérieux, air à boire, brunette, air tendre usw.) braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Auch sei nur kurz darauf hingewiesen, dass ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die sog. romance zum beliebtesten Liedtypus aufstieg. Dieser weist jedoch in den hier relevanten Aspekten keinen essenziellen Unterschied zum Air auf. 10 Allein die in Paris gedruckten Anthologien aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts enthalten mehr als zehntausend Airs  ; siehe Eastwood 1984, 85. 11 Also das Verfahren, vorhandener Musik einen neuen Text zu unterlegen. 12 Ihr Vater Nicolas war chef de fourrière de Mesdames les dauphines, ihr Bruder Honoré Sänger der musique de la chambre et de la chapelle du roi. Siehe Moroney 2012, 219. 13 Vgl. dazu ausführlich und mit zahlreichen Nachweisen Schweitzer 2008, 40–53 (Kapitel »Generalbassspiel – eine Domäne der Frauen«), sowie Schweitzer 2013. 14 Im Einzelnen handelt es sich um die Serien  : »Livre d’airs de différents auteurs« 1658–1694, »Recueil de chansonnettes de différents auteurs« 1676–1694, »Recueil d’airs serieux et a boire« 1690/94–1724 und »Meslanges de musique latine, françoise et italienne« 1725–1731 (in denen, wie der Titel anzeigt, neben Airs auch italienischsprachige Vokalsätze und Motetten veröffentlicht wurden). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgten (ebenfalls zumeist monatlich erscheinende) Liedanthologien wie »Journal hebdomadaire ou recueil d’airs choisis« (1764–1791), »Recueil d’airs nouveaux« (1784–95) oder »Étrennes de Polymnie« (1785–1789), die in verschiedenen der nunmehr zahlreicheren Pariser Verlagshäusern herauskamen. 15 Das Gros ihres Schaffens, 40 französische Lieder, eine italienische (da capo-)Arie und zwei Motetten, wurden von 1728 bis 1731 in Ballards »Meslanges de musique latine, françoise et italienne«, sechs weitere Airs im »Mercure de France« 1742 und 1748 veröffentlicht. Siehe für Details das Verzeichnis bei Moroney 2012, 215–218. 16 Vgl. die zahlreichen Fälle im Anhang, in denen die Angabe der Autorin z. B. »Mlle B***«, »Mme D.C.«, »Mme de La B…« oder ähnlich lautet. Hinter diesem auch in der Literatur extrem verbreiteten Phänomen halb-anonymer Veröffentlichung verbirgt sich eine soziale Norm  : Werke unter eigenem Namen in den Druck zu bringen galt für Angehörige des Adels und des diesem nacheifernden gehobenen Bürgertums als nicht standesgemäß, weil mit dem Odium einer Berufsausübung, wenn nicht kommerziellen Tätigkeit behaftet. Davon betroffen waren Männer gleichermaßen wie Frauen, bei denen freilich die genderspezifische Anforderung der modestie, der Selbstbeschränkung und Zurückhaltung, zumal was das Auftreten in der Öffentlichkeit betraf,

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verstärkend hinzugekommen sein dürfte. Allerdings geriet diese Konvention vielfach in Konflikt zur Intention, gleichwohl als Autor oder Autorin erkennbar zu sein. Zu den Strategien, diesen Widerspruch zu lösen, gehörte, eben durch Angabe der Initialen oder eines Namenskürzels, aber auch durch Andeutungen zur Person, Hinweise auf biographische Daten oder frühere Werke dem mondänen Publikum, das im Übrigen einen relativ überschaubaren Kreis von einander vielfach persönlichen bekannten Personen bildete, die Identifikation des Verfassers oder der Verfasserin zu ermöglichen. Vgl. dazu nur Maître 2001  ; Goulet 2004, 68–77  ; Piéjus 2010, 66–68. 17 Von Mlle de Ménétou erschien 1691 eine 15 Lieder umfassende Sammlung »Airs serieux a deux«, von Julie Pinel 1737 der »Nouveau recueil d’airs sérieux et à boire« mit 31 Sätzen. Vgl. Fontijn 1994, 191–198  ; Brain 2008. 18 Dies manifestiert sich in einer Fülle von CD-Aufnahmen, dem Umstand, dass mittlerweile ihr gesamtes Œuvre in historisch-kritischen Ausgaben vorliegt, sowie in einer ausgedehnten Forschungsliteratur. Davon stellen Cessac 1995a und die diesem Buch zugrunde liegende Dissertation Cessac 1993 die Standardmonographien zu Leben und Werk dar  ; wichtige neuere Veröffentlichungen sind daneben u. a.: Cabrini 2012, Cyr 2008a, Cyr 2008b. 19 So wird beispielsweise im Juli-Heft des »Mercure galant« 1677 (100–110) davon berichtet, dass Jacquet vor dem König einen Air über ein panegyrisches Gedicht auf Ludwig XIV. (von Pierre de Frontinières) vorgetragen hat, und mit folgenden preisenden Worten über sie geschlossen  : »Sie [die Verse von de Frontinières] wurden vor dem König von der kleinen Mlle Jacquier [sic  !] gesungen. Es handelt sich um ein Wunder, das hier [am Hof ] seit vier Jahren erschienen ist. Sie singt die schwierigste Musik vom Blatt. Sie begleitet sich selbst und andere, die singen, auf dem Cembalo, das sie auf unnachahmliche Weise spielt. Sie verfertigt Stücke und spielt sie auf allen vorgegebenen Tonhöhen. Ich habe Ihnen gesagt, dass sie vor vier Jahren mit diesen außerordentlichen Fähigkeiten hier aufgetreten ist, und mittlerweile ist sie gerade einmal zehn [recte  : zwölf ] Jahre alt. Ich weiß nicht, ob Sie, wenn Sie sie sehen würden, nicht dasselbe sagen würden, was man von einem unserer feinsten Geister sagen hört. Er sah sie an, und erstaunt von all diesen Wundern sagte er  : Er sehe wohl, dass sie es ist, aber angesichts von all dem würde er es nicht beschwören  ; wären wir in der Zeit, in der man an Sylphen und Gnome glaubte, könnte man vermuten, dass es sich um ein Erzeugnis [der Geisterwelt] handle.« (»Elles ont esté chantées devant le Roy par la petite Mademoiselle Jaquier. C’est un Prodige qui a paru icy depuis quatre ans. Elle chante, à Livre ouvert, la Musique la plus difficile. Elle l’accompagne, & accompagne les autres qui veulent chanter, avec le Clavessin dont elle jouë d’une maniere qui ne peut estre imitée. Elle compose des Pieces, & les jouë sur tous les tons qu’on luy propose. Je vous ay dit, qu’il y a quatre ans qu’elle paroist avec des qualitez si extraordinaires, & cependant elle n’en a encor que dix. Je ne sçay si en la voyant, vous ne diriez point ce qu’on a entendu dire à un des plus beaux Esprits que nous ayons. Il la regardoit, & surpris de tous ces miracles, il dit agreablement, qu’il voyoit bien que c’estoit elle, mais qu’avec tout cela il n’en voudroit pas jurer. Si nous estions au temps où l’on croyoit les Silphes & les Gnomes, on pourroit douter que ce n’en fust une production.«) 20 Vgl. Benoit 1971, 252–263. Die erste mit einem Hofamt betraute Instrumentalistin war Marguerite-Antoinette Couperin (1705–1778), die 1736 die Nachfolge ihres Vaters François Couperin als Cembalist der königlichen Kammer antrat. 21 Auf eine nähere Erörertung des komplexen Themas der Professionalität muss hier verzichtet werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass von drei Bestimmungsmerkmalen ausgegangen wird  : 1. Spezialisierung (auch in dem Sinn, dass das Musizieren im Selbstentwurf wie in der Außen-

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wahrnehmung ins Zentrum des Lebensvollzugs rückt bzw. konstitutiv für die Identität wird), 2. Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung, 3. Wirksamwerden in der (nach den jeweiligen historischen und kulturellen Bedingungen verfassten) Öffentlichkeit. Vgl. zum Phänomen der Professionalisierung unter einer Gender-Perspektive nur Citron 1993, 80–119. 22 Erst rund hundert Jahre später wird Amélie-Julie Candeille (1767–1834) eine ähnlich umfangreiche und breit gefächerte Publikationstätigkeit entfalten. Vgl. zu Candeille  : Jackson 1994, 80– 85  ; Johnson 1998. 23 »Clavier« war für die Zeit bis inkl. des 18. Jh. der Überbegriff für alle Tasteninstrumente (Cembalo, Spinett, Clavichord, Orgel usw.), Claviermusik bezeichnet somit das einschlägige Repertoire, das auf diesen verschiedenen Instrumenten vielfach auch noch austauschbar gespielt wurde. 24 Die weiteren Publikationen umfassen  : sechs Sonaten für Violine und Generalbass. (»Sonates pour le Viollon et pour le Clavecin«, Paris 1707), drei weltliche »Cantates françoises« und einen dramatischen Dialog »Le Raccomodement comique« (Paris 1715), die Partitur ihrer 1694 an der Pariser Oper uraufgeführten tragédie en musique »Céphale et Procris« (Paris 1694) sowie neun Airs in verschiedenen Anthologien (u. a. den »Recueils« von Ballard). 25 Die bisherige Literatur dazu beschränkt sich auf »traditionelle« philologische, analytische bzw. stilgeschichtliche Ansätze. Vgl. Bates 1984  ; Cessac 1995a, 44–57  ; Cessac 2003. 26 Das einzige damals in Paris tätige Verlagsunternehmen war die traditionsreiche Firma Ballard, die allerdings ausschließlich Ausgaben im veralteten Typendruckverfahren veranstaltete. Ballard hatte für Musikdrucke dieser Art ein königliches Privileg, d. h. de facto ein Monopol, inne. Wollte man diesem Monopol ausweichen oder von vorneherein auf die technisch avancierte Methode des Notenstichs zurückgreifen (die aufgrund ihrer graphischen Möglichkeiten für neuere, insbesondere instrumentale Musik besser geeignet war), sah man sich also auf den Eigenverlag angewiesen. Vgl. zum französischen Druck- und Verlagswesen der Zeit Devriès 1976. 27 Marc-Antoine Charpentier (1643–1704) zählt zusammen mit Jean-Baptiste Lully und Jean-Philippe Rameau zu den bedeutendsten (und heute bekanntesten) französischen Komponisten des Barock. In der Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts wurde er lange als »Antipode« zu Lully angesehen und seine Stellung im französischen Musikleben gegenüber bzw. wegen der dominierenden und alles überstrahlenden Rolle Lullys als (zu Unrecht) marginalisiert eingeschätzt. Wohl ist richtig, dass Charpentier keine offizielle Position bei Hof bekleidete und nach seinem Tod relativ rasch in Vergessenheit geriet. Dennoch ist von einer sehr erfolgreichen Karriere zu sprechen  : Durch Arbeiten für die Pariser Theater (u. a. die Truppe Molières), für den Dauphin und für die zum höchsten Adel Frankreichs zählende Familie Guise, als Musiklehrer von Philippe II. von Orléans (dem Neffen von Ludwig XIV. und späteren Regenten für den minderjährigen Ludwig XV.), als Kapellmeister an der Pariser Jesuitenkirche und an der Sainte-Chapelle entfaltete Charpentier prestigeträchtige Tätigkeiten für erstrangige Patrone bzw. an zentralen Institutionen des französischen Musiklebens. Mit diesen diversen Wirkungsbereichen korrespondiert ein umfangreiches und vielfältiges Œuvre mit mehr als 500 Werken aus den verschiedensten Gattungen der Theater-, weltlichen Kammer- sowie geistlichen bzw. liturgischen Musik. 28 Dass einem Druck paratextuell die Bedeutung einer Manifestation königlicher bzw. königlich sanktionierter Musik eingeschrieben wird, begegnet im Frankreich Ludwigs XIV. des Öfteren. Zu den bekanntesten Beispielen zählen die drei Drucke von Motetten François Couperins (Paris 1703–1705)  ; der Formulierung im Titel zufolge wurden diese »composé[s] de l’orde du Roy« und »chanté[s] à Versailles«.

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29 Von diesem Gesang und Tanz verbindenden Bühnenwerk ist nur ein handschriftliches Libretto überliefert, das auch die Widmung enthält. Vgl. im Detail Cessac 1995b. 30 Der französische Originaltext (Cessac 1995b, 246f.) lautet  : »Vous daignâtes dès lors agréer les premices de mon genie, et il vous a plû depuis d’en recevoir encore quelques productions. Mais ces marques particulieres de mon zele ne me suffisoient pas, et je respirois l’heureuse occasion d’en pouvoir donner de publiques. Voila ce qui m’a portée a faire ce ballet pour le Théatre. Ce n’est pas d’aujourd’huy que des femmes y ont donné d’excellentes pièces de poësie, qui ont eü un très grand succès. Mais jusque’icy nulle n’a essaïé de mettre tout un opera en musique  ; et je tire cet avantage de mon entreprise que plus elle est extraordinaire, plus elle est digne de vous […].« 31 Die folgenden biographischen Angaben stützen sich auf Fontijn 2006, 13–81, sowie Fontijn 1994, 3–43. 32 Im Einzelnen beinhalten die sechs Bände, die sich heute im Besitz der Bibliothèque nationale de France in Paris befinden  : der 1. 35 italienische Arien und Kantaten, 5 lateinische Motetten und 1 Air, für 1–3 St. und b.c. (betitelt »Produzioni armoniche«, gewidmet Ludwig XIV. [ca. 1697– 1701])  ; der 2. ein »Te Deum« für 2 S, B, 2 V. und b.c.; ein »Divertimento per la nascita del Duca di Bretagna« (italienische Serenade) für 5 St., 2 V. und b.c. (gewidmet Marie-Adelaïde von Savoyen [ca. 1704/05])  ; der 3. ein »Te Deum« für Soli, 5-st. Chor und 5-st. Orch.; die Psalmvertonung »Exaudiat te, Dominus« (Ps. 20) für 2 S, B, 2 V. und b.c. (gewidmet Ludwig XIV. [1708])  ; der 4. und 5. die Oper »L’Ercole amante. Tragedia in musica« [1707   ?] und der 6. »Les sept Pseaumes de David« für 1–4 St., 2 V. und b.c. (gewidmet Ludwig XIV. [ca. 1710]). Vgl. im Detail das Werkverzeichnis von Nestola 2007. 33 Kardinal Jules Mazarin (1602–1661), seit 1642 »Erster Minister« Frankreichs, war während der Regentschaft Annas von Österreich für den minderjährigen Ludwig XIV. (1643–1661) die bestimmende Gestalt der französischen Innen- und Außenpolitik. Der gebürtige Italiener (dessen ursprünglicher Name Giulio Mazarini lautet) war während der 1620er- und 30er-Jahre als Diplomat für Papst Urban VIII. Barberini tätig gewesen und hatte in Rom prägende Eindrücke durch das opulente, der Herrschaftsrepräsentation dienende künstlerische Mäzenatentum der Barberini empfangen (das auch die damals noch junge Gattung der Oper einschloss). Im Dienste der französischen Krone wollte Mazarin diesem Vorbild folgen und entfaltete eine reiche Kunstförderung. Zu den zahlreichen von Mazarin aus Italien nach Frankreich geholten KünstlerInnen zählten auch Komponisten, Sängerinnen und Sänger sowie Bühneningenieure, die ab 1645 eine Reihe von Aufführungen italienischer Opern in Paris bewerkstelligten. 34 Zu solchen speziellen Beschränkungen zählte nach Letzter und Adelson (2001, 48–51) etwa die fehlende Möglichkeit, durch das Spiel von Orchesterinstrumenten (die für Frauen als unangemessen galten) bzw. durch die Tätigkeit auf einer Orchesterstelle (die Männern vorbehalten war) Erfahrungen mit dem Orchestersatz zu sammeln. Auch hatten Frauen geringere Chancen auf eine »klassische« Bildung und damit auf eine gründliche Vertrautheit mit den in der Barockoper zentralen mythologischen Stoffen der Antike. 35 Vgl. dazu auch die 2013 erschienene Publikation der Grazer Kolleginnen Kordula Knaus und Susanne Kogler.

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Literatur Carol Henry Bates (1984), »Elizabeth Jacquet de la Guerre. A New Source of Seventeenth-Century French Harpsichord Music«, in  : Recherches sur la Musique française classique 22, 7–49 Marcelle Benoit (1971), Versailles et les musiciens du Roi. 1661–1733  : Étude institutionelle et sociale. Paris Corisha Brain (2008), A Social, Literary and Musical Study of Julie Pinel’s »Nouveau recueil d’airs sérieux et à boire« (Paris, 1737), M.M. Thesis New Zealand School of Music Michele Cabrini (2012), »The Composer’s Eye  : Focalizing Judith in the Cantatas by Jacquet de La Guerre and Brossard«, in  : Eighteenth Century Music 9/1, 9–45 Catherine Cessac (1993), Elisabeth Jacquet de La Guerre (1665–1729)  : Claveciniste et compositeur. Diss. Université de Paris-Sorbonne (Paris IV) Catherine Cessac (1995a), Elisabeth Jacquet de La Guerre. Une femme compositeur sous le règne de Louis XIV. Arles Catherine Cessac (1995b), »Les ›Jeux à l’honneur de la victoire‹ d’Elisabeth Jacquet de La Guerre  : premier opéra-ballet  ?«, in  : Revue de Musicologie 81, 235–247 Catherine Cessac (1997), »Les Liens familiaux et artistiques d’Élisabeth Jacquet de La Guerre et de René Trépagne, curé de Suresnes«, in  : Les Musiciens au temps de Louis XIV (= Ostinato Rigore 8/9), 49–66 Catherine Cessac (2003), »Les Pièces de Claveßin de 1687 d’Elisabeth Jacquet de La Guerre  : Un second exemplaire retrouvé«, in  : Revue de Musicologie 89, 349–363 Marcia J. Citron (1993), Gender and the Musical Canon. Cambridge Michel Corrette (1753), Le Maitre de clavecin pour l’accompagnement. Paris Mary Cyr (2008a), »�������������������������������������������������������������������������������� Elisabeth Jacquet de La Guerre  : Myth or Marvel  ? Seeking the Composer’s Individuality«, in  : The Musical Times 149/1902, 79–87 Mary Cyr (2008b), »�������������������������������������������������������������������������������� Elisabeth-Claude Jacquet de La Guerre  : A Biographical Essay«, in  : dies., Essays on the Performance of Baroque Music. Opera and Chamber Music in France and England. Aldershot, [Text Nr.] I, 1–21 Joan DeJean (1991), Tender Geographies. Women and the Origins of the Novel in France. New York/ Oxford Anik Devriès (1976), Edition et commerce de la musique gravée à Paris dans la première moitié du XVIIIe siècle. Les Boivier – Les Leclerc. Genf Tony Eastwood (1984), »The French Air in the 18th Century  : A Neglected Area«, in  : Studies in Music 18, 84–107 Thierry Favier (2008), Le chant des muses chrétiennes. Cantique spirituel et dévotion en France (1658–1715). Paris Claire Anne Fontijn (1994), Antonia Bembo  : »Les goûts réunis«, Royal Patronage and the Role of the Woman Composer during the Reign of Louis XIV. Ph.D. Diss. Duke University, Durham Claire Anne Fontijn (2006), Desperate Measures. The Life and Music of Antonia Padoani Bembo. Oxford/New York Lilo Gersdorf (1992), Marie Angélique Diderot und die »Leçons de Clavecin et Principes d’Harmonie« von Anton Bemetzrieder. Paris 1771. Diss. Universität Salzburg Anne-Madeleine Goulet (2004), Poésie, musique et sociabilité au XVIIe siècle. Les »Livres d’airs de différents auteurs« publiés chez Ballard de 1658 à 1694. Paris

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Von Spiel-Räumen zu espaces d’écritures  : Komponierende Frauen im Frankreich des ancien régime

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Poetische Klangräume Über Spielräume zu sprechen, ermöglicht, künstlerische, ökonomische und politische Spielräume, die meinen Arbeitsalltag als zeitgenössische Komponistin am Anfang des 21. Jahrhunderts betreffen, zu betrachten, davon zu erzählen, was es bedeutet, dem Beruf der freischaffenden Komponistin nachzugehen. Da es mir in meiner künstlerischen Arbeit insbesondere um eine Poesie des Klang­ lichen geht, habe ich als Titel für meine Ausführungen »Poetische Klangräume« gewählt. Im Folgenden werde ich einen Überblick über meine künstlerischen Spielräume versuchen und anhand einzelner Werke meine kompositorische Arbeits­weise, Aufträge, Anlässe und Inspirationsquellen beleuchten.

Freischaffende Komponistin Mein künstlerischer Berufsalltag gestaltet sich durch Auftragswerke, Konzertreisen, Gastvorträge und künstlerische Lehre, durch die Arbeit als Kuratorin und ehrenamtliche Tätigkeiten im Musikbereich. Als »freischaffende Komponistin« übe ich meinen Beruf als Selbstständige aus. Das Selbstmanagement als freischaffende Komponistin erfordert es, die eigene künstlerische Arbeit – wie für Selbstständige in allen Branchen – als Beruf zu definieren und nicht als Liebhaberei. Als Selbstständige muss ich für meine Kompositionstätigkeit Honorare verlangen und kann nicht zusagen, wenn kein Honorar gezahlt werden kann, denn ich muss von meiner künstlerischen Arbeit leben können. Ich kann auf kein Erbe, keine Schenkungen, keine (permanenten privaten) MäzenInnen zurückgreifen, bekomme keinen monatlichen Scheck ausgestellt. Ich lebe tatsächlich von Auftragswerken und realisiere diese auf Basis vereinbarter Kompositionshonorare. An mich herangetragene Kompositionseinladungen von Musikerinnen und Musikern, von Ensembles und Orchestern, die keine Honorare zahlen können, kann ich vereinzelt, durch den Erhalt einer Auszeichnung, einer Kompositionsförderung oder eines Anerkennungspreises, annehmen. Voraussetzung für eine Zusage bei Ehren-Einladungen ist für mich die Überlegung, wie viel ich mir an unbezahlter Kompositionsarbeit als selbstständige Komponistin leisten kann und was ich mir nicht mehr leisten kann. 133

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Natürlich bringt jede berufliche Situation Vor- und Nachteile mit sich, so auch jene einer freischaffenden Komponistin ohne regelmäßiges Einkommen. Das aus der finanziellen Unsicherheit heraus gewachsene Selbstverständnis, für mein kompositorisches Schaffen Honorare zu verlangen, sehe ich aber auch wieder als Vorteil, weil es eine unbedingte Professionalisierung einfordert. Als nachteilig erachte ich hingegen den großen finanziellen Druck  : Wenn die Honorare in Relation zum tatsächlichen Zeitaufwand zu gering bemessen sind, ich aber den Auftrag nicht ablehnen möchte, weil die an mich herangetragene Aufgabe interessant ist, muss ich noch weitere Aufträge annehmen, damit mein Lebensunterhalt gesichert ist. Ich denke, dass es seitens der Auftraggeberinnen und Auftraggeber eines Umdenkens bedarf, kompositorische Arbeit muss entsprechend entlohnt werden. Die von der Fachgruppe Komposition in der österreichischen Gewerkschaft2 entwickelten Richtsätze für Kompositionsaufträge sehe ich als bedeutenden Beitrag zur Professionalisierung meiner Berufsgruppe.

Auftragswerke und Auszeichnungen Bilden die Auftragswerke die Basis meines beruflichen Einkommens, so eröffnen mir Auszeichnungen die Möglichkeit, frei zu wählen, welche Kompositionsschwerpunkte ich zukünftig setzen will, welche neuen Werke ich mit Hilfe dieser Auszeichnung realisieren möchte. Als Beispiel dafür, in welchem Rahmen Auftragswerke entstehen, möchte ich meinen aktuellen Österreich-Auftrag zur europäischen Kulturhauptstadt »Marseille-Provence 2013« anführen  : Aus diesem Anlass entstand das Klavierquintett »Lavandula vera«, wobei der Mittelmeerraum im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Das Stück ist eine Hommage an meine verstorbene griechische Großmutter und erzählt vom Süden – von strahlendem, gleißendem Licht und vom Schatten der Olivenbäume, von duftenden Kräutern und süßestem Zuckersirup, von Gastfreundschaft und Witwendasein, von Hoffnung auf Frieden und von Emigration. Die Uraufführung mit dem MozARTE Quintett Salzburg fand am 7. September 2013 im Rahmen der europäischen Kulturhauptstadt »MarseilleProvence 2013«3 in Aix-en-Provence statt. Auszeichnungen und Anerkennungspreise ermöglichen neben Auftragswerken eine Kontinuität im kompositorischen Schaffen, sie sind in einer künstlerischen Karriere ein Zeichen dafür, es als Komponist oder Komponistin »geschafft« zu haben, anerkannt zu werden und ohne finanziellen Druck frei 134

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entscheiden zu können, welche Werke realisiert werden. Insbesondere möchte ich da das Staatsstipendium der Republik Österreich für Komposition und den Preis der Stadt Wien für Musik nennen. Mit dem Preis der Stadt Wien wurden seit der ersten Vergabe im Jahr 1947 allerdings erst drei österreichische Komponistinnen ausgezeichnet  : 1992 Luna Alcalay, 2005 Olga Neuwirth und 2013 eben ich, ansonsten waren die bisherigen Preisträger männliche Berufskollegen aus Österreich, darunter meine Kompositionsprofessoren Erich Urbanner und Dieter Kaufmann. Aufgrund dieser beiden Auszeichnungen kann ich u. a. der Einladung der Kultur­plattform Internationale Donauphilharmonie nachkommen, ein neues Werk für großes Orchester zu schreiben – obwohl die Donauphilharmonie, die aus namhaften Orchestermusikerinnen und -musikern der Donauländer besteht, leider, wie so viele Orchester und Ensembles, kein angemessenes Kompositionshonorar zahlen kann.

Konzertreisen und Konzerteinladungen Zu Beginn meiner Karriere waren für mich als junge österreichische Komponistin Konzertreisen4 sehr wichtig. Der intensive künstlerische Austausch mit Komponistinnen und Komponisten aus anderen Ländern und Kulturen hat es mir ermöglicht, meine eigene in die neue Umgebung mitgebrachte kompositorische Arbeitsweise zu reflektieren, Gemeinsamkeiten, Parallelen und Gegensätze auszuloten, um neue kompositorische Standpunkte zu finden. Erst durch internationale Erfolge war es mir schließlich möglich, mich auch in Österreich als Komponistin zu positionieren. Dazu beigetragen haben Konzerteinladungen und Aufführungen in Europa, in der Türkei, im Iran, in Japan, Australien, Kanada, in Lateinamerika und den USA, die in ihrer Vielfalt an Eindrücken, Erfahrungen und Kontakten einen wesentlichen Teil des kreativen Prozesses darstellen. Ich möchte beispielhaft eine Japanreise im Jahr 2005 nennen  : »From people to people« lautete das Motto im »EU-Japan-Jahr 2005«  ; um diesem Motto und dem Kompositionsauftrag des Österreichischen Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten gerecht werden zu können, habe ich für diese Reise begonnen Japanisch zu lernen. Der kulturelle Austausch und die vielen Freundschaften, die dadurch entstanden sind, haben meine kompositorische Arbeitsweise nachhaltig bereichert. So konnte ich beispielsweise durch meine Japanaufenthalte die besonderen Klangfarben der shamisen, eines japani135

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Abb. 1  : Suikinkutsu (Wasserharfe) in Tokyo, Japan, Photo Kumi Kato

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Poetische Klangräume

Abb. 2  : Klangrecherchen in Saskatchewan, Kanada, Photo Charles Fox

schen Saiteninstruments, wie auch die Klänge der suikinkutsu (Wasserharfe) kennen lernen und diese Hörerfahrungen in meine Arbeiten einfließen lassen. Wichtig für die Entwicklung meiner Soundscape-Kompositionen5 waren die beiden Konzertreisen nach Kanada in den Jahren 2000 und 2007.

Ehrenamtliche Tätigkeiten Seit vielen Jahren bin ich in Forschungsgruppen, Institutionen und Vereinen ­ehrenamtlich tätig, um mich beruflich zu vernetzen und künstlerisch auszutauschen. Eine gute Balance zwischen asiatischem Gruppenverständnis und westlicher Fokussierung auf das Individuum erscheint mir als ideale Basis für ein künstlerisches Schaffen. Auch wenn es für diese Tätigkeiten mit wenigen Ausnahmen kein Entgelt gibt, glaube ich doch, dass es notwendig ist, sich als freischaffende Komponistin 137

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zu vernetzen, um sowohl aus eigener künstlerischer als auch aus solidarischer Perspektive die berufliche Situation von Komponistinnen und Komponisten mitzugestalten. So gelang es Regina Himmelbauer, Manuela Schreibmaier, Ulrike Sladek vom Verein Femmage und mir, Anfang der 1990er-Jahre gemeinsam den »9th International Congress on Women in Music« zu konzipieren und organisieren, was von uns allen sehr viel Idealismus und intensive Vorarbeiten erforderte, bis der Kongress schließlich im April 1995 im Wiener Wittgensteinhaus über die Bühne gehen konnte. In Zusammenarbeit mit der International Alliance of Women in M ­ usic (IAWM) wurde so das erste Mal in Österreich die rege Kompositionstätigkeit von Komponistinnen aus aller Welt aufgezeigt.6 Die internationale Ausrichtung mit den daraus resultierenden Kontakten zu den Vortragenden sowie auch zu politischen EntscheidungsträgerInnen ergaben einen interessanten und wichtigen Nebeneffekt  : die weitere Vernetzung und einen Austausch der Ideen.

Arbeit in Gremien und Jurys In diesem Bereich können Künstlerinnen und Künstler ihren im Lauf der Jahre gewachsenen Schatz an Erfahrungen und Wissen weitergeben und auch fördernd wirken. So erlaubt mir etwa die Position als Mitglied im künstlerischen Beirat des Theodor-Körner-Fonds die aktive Förderung junger Komponistinnen und Komponisten am Beginn ihrer Karriere. Auch im Bezug auf Gendergerechtigkeit eröffnen solche Positionen Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten, dazu ein Beispiel aus eigener Erfahrung  : Im Dezember 2005 wurde ich als erste Komponistin in den 10-köpfigen Arbeitskreis für Ernste Musik des Österreichischen Komponistenbundes nominiert. Als dessen Mitglied konnte ich mich dafür einsetzen, dass mehr Frauen aufgenommen werden – aktuell sind vier Komponistinnen7 im Gremium vertreten.

Kulturpolitische Spielräume Politische und kulturpolitische Spielräume gestalten seit jeher die Handlungsspielräume von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, folglich auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von Künstlerinnen und Künstlern. »Alchemilla vulgaris«, eine Komposition für Flöte und Streichtrio, handelt von Vorkämpferinnen der Frauenemanzipation, von deren Beharrlichkeit, Mut, 138

Poetische Klangräume

Willensstärke und Zielstrebigkeit einerseits und auch von Rückschlägen, Enttäuschungen, Diskriminierung und Verfolgung andererseits. In dem fünfsätzigen Quartett (Andante, Andante, Allegretto, Adagio-Largo, Allegretto) spiegeln sich diese Gemütszustände und Erfahrungen wider  : dynamisches Voranschreiten, dramatische Eskalationen und ruhiges Innehalten. Alchemilla vulgaris – der Gewöhnliche Frauenmantel – ist der Name einer Heilpflanze, deren Heilkraft auf ihrem Gehalt an Gerb- und Bitterstoffen beruht. In der Renaissance glaubte man aber auch, dass die Pflanze die durch Alter und Mutterschaft verlorene Schönheit zurückbringen könne (vgl. Reader’s D ­ igest 1978, 105). Die Komposition entstand als Auftrag für den Dokumentarfilm »Aufbruch der Frauen – Acht Wegbereiterinnen der österreichischen Frauenbewegung«8. Die im Film dargestellten Wegbereiterinnen sind Marianne Hainisch, die Grande Dame der Ersten österreichischen bürgerlichen Frauenbewegung, Irene Harand, Co-Gründerin der »Weltbewegung gegen Rassenhass und Menschennot« Anfang der 1930er-Jahre, Bertha Pappenheim, Proponentin der jüdischen Frauenbewegung, Ida Pfeiffer, unerschrockene Weltreisende und Buchautorin, Adelheid Popp, Vertreterin der sozialdemokratischen Frauen­bewegung, Alice Schalek, die einzige weibliche Kriegsberichterstatterin des k.u.k. Kriegspressequartieres während des Ersten Weltkrieges, Irma von Troll-Borostyáni, Journalistin und Vorkämpferin für Frauenrechte, und die Friedensnobelpreis­ trägerin Bertha von Suttner.

Komposition und Klangkunst In allen Kompositionen ist mir eine gewisse Grundstimmung wichtig, die sich in der Musik wiederfinden soll  : Es geht mir um eine subtile Klangtiefe, um ein »In-den-Klang-Hineinhören«. Am Beginn meines kompositorischen Schaffens lag der Interessenschwerpunkt auf der experimentellen Musik, ich gestaltete Performancezyklen mit Bildpartituren, Objektpartituren, aleatorischen Kompositionen und graphischer Notation. Die Quartettkomposition »Damenspiel« ist ein Beispiel für eine Komposition mit spielerischem Charakter  : Die musikalische Transformation des Dame­brettspiels sind wesentliche Parameter dieses Stückes. Im Bereich der elektroakustischen Musik habe ich mich vor allem auf die Weiterentwicklung der anekdotischen Musik9 spezialisiert und einen eigenen Stil der Soundscape-Komposition entwickelt. Eines meiner Werke in diesem Bereich ist »Kimochi«, ein Auftragswerk des Österreichischen Bundesministe139

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Abb. 3  : Tempelglocke, Saisho-in Gojûnotô in Hirosaki, Japan, Photo Gabriele Proy

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Abb. 4  : »Lecture & Concert Gabriele Proy« an der Aoyama Gakuin University, Tokyo, Japan Plakat © Aoyama Gagkuin University

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riums für europäische und internationale Angelegenheiten für das ÖsterreichJapan-Jahr 2009. Das japanische Wort kimochi bedeutet Stimmung bzw. Gefühl. In der Komposition sind Stimmungen und Atmosphären japanischer Klanglandschaften in ein poetisches Klangportrait Japans gefasst. Dazu der Versuch einer Beschreibung in Worten  : Die tiefen, lang anhaltenden Schwingungen der Tempelglocke nahe der fünf­ stöcki­gen Pagode Saisho-in Gojûnotô in Hirosaki begleiten uns zu ruhigen rhyth­ mischen Gartenklängen im Honen-in-Tempel und im Hakusasonsô-Garten sowie zu den religiösen, feierlichen Klangwelten im Chion-in Tempel und Fushi­ mi-Inari-Schrein in Kyoto, und wir tauchen ein in den Klangfarbenrhythmus der Schritte auf »Nachtigallenböden« und in repetitive Klänge des Regens und fließenden Wassers. (Proy 2009)

Wie sehr Reisetätigkeit und der Austausch mit Kolleginnen, Kollegen und Menschen anderer Kulturen auf den künstlerischen Prozess Einfluss nehmen, habe ich durch die Faszination erfahren, welche der japanische Kulturraum auf mich ausübt. Er hat mich zu poetischen Klangräumen inspiriert, wie sie in Werken wie »Kigen«, »Kokoro« oder »Silber« entstehen. Das japanische Wort kigen bedeutet Ursprung. Es geht also in »Kigen«10 um Ursprünge und Anfänge – sowohl um Ursprünge westlicher und asiatischer Musizierweisen und Klangkonzepte als auch um Ursprünge und Anfänge des Lebens. Ich habe dazu als Klangmaterial die beiden pentatonischen Modi ritsu­ sen und ryosen ausgewählt. Einzelne Motive und Klangfolgen dieser beiden japa­nischen Skalen – der weiblichen Skala ritsusen sowie der männlichen Skala ­r yosen – durchweben die gesamte Komposition. Ursprünge und Anfänge meint hier auch ein Nachdenken über musikalische Verortung, eine Reflexion über musikalische Hörweisen und Klangkonzepte, ein Innehalten und Aufsuchen eines klang­lichen »zu Hause Seins« in der spannenden Begegnung westlicher und ­asiatischer Klangwelten. Im Chorstück »Kokoro«11 geht es um Begegnungen, die unser Herz bewegen. Ich habe dazu zwei Textstellen aus dem japanischen Roman »Kokoro« aus dem Jahr 1914 von Sôseki Natsume ausgewählt und diesen Text silben- und tonweise verschiedenen gleichzeitig erklingenden Stimmen zugeordnet, um subtile und fein nuancierte Klangmomente und Stimmungen zu komponieren. Es ist ein addi­tives Kompositionsprinzip, in dem sich sukzessive poetische und fein konturierte Klänge entfalten. 142

Poetische Klangräume

Eine wesentliche Inspirationsquelle für meine Kompositionstätigkeit war und ist die Natur. Naturbezüge finden sich sowohl in meinen Instrumental- und Vokalwerken als auch in meinen Soundscape-Kompositionen. Im Liederzyklus »Silber«12 für Bariton und Orgel verweisen beispielsweise die drei Gesänge »Pflaumenblüte«, »Mitten im Regen« und »Bäume, blätterlos« (Roloff 2009) nach Zen-Kôan auf eine Form der Naturbetrachtung als Meditation und eine mögliche Erfahrung von Transzendenz. I. Pflaumenblüte Pflaumenblüte in der Kälte  : ganz klar der »Sinn des Kommens aus dem Westen« – Ein Blütenblatt fällt nach Westen, ein anderes nach Osten  ! (Zen Sand 14.138) II. Mitten im Regen Mitten im Regen schau die leuchtende Sonne  ; Mitten im Feuer schenk dir aus klarer Quelle ein  ! (Zen Sand 10.60) III. Bäume, blätterlos Bäume, blätterlos, auf Tausenden Bergen, der Himmel unermesslich weit  : Das silberne Band eines einzelnen Flusses, der Mond über allem klar  ! (Zen Sand 14.707)

Das verstärkte Interesse von Ensembles, Orchestern und Chören an meinen Kompositionen hat es mir in den letzten Jahren schließlich ermöglicht, mich vor allem auf traditionelle Besetzungen zu konzentrieren. Waren die Suche nach neuen Präsentationsformen und das Hinterfragen des Werkbegriffes ausschlaggebend für mein künstlerisches Schaffen im Bereich der experimentellen M ­ usik, so führte mich die Suche nach Erweiterung des Klangmaterials zur elektro­ akustischen Musik und in weiterer Folge zur Soundscape-Komposition. Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Ensembles, Orchestern und Chören und die vielen Folgeaufführungen13 bestärkten mich darin, für traditionelle Besetzungen zu schreiben. Gleich einem »Zeitanhaltenwollen« sollen meine Stücke eine gewisse innere Ruhe ausstrahlen und auch nach hochdramatischen Passagen in eine innere Ruhe einpendeln. Mein Ansatz in der Musik ist die Hörkunst  : Es geht mir als Komponistin darum, dass die Zuhörerin, der Zuhörer ein intensives Hörerlebnis hat – ich möchte auch mit zeitgenössischer Komposition Menschen berühren. 143

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Werkliste (Auswahl) mit Informationen über Uraufführung, InterpretInnen und Widmung Schlachthof (1993), elektroakustische Soundscape-Komposition, Uraufführung 25. 11. 1993, Kulturpalast des Volkes, Sofia, Bulgarien Einsatz in der Dokumentation »Aufbruch der Frauen – Acht Wegbereiterinnen der österreichischen Frauenbewegung« (Regie  : Walter Wehmeyer, Kamera  : Benjamin Epp, Musik  : Gabriele Proy, Mischung  : Christoph Amann, Sprecherin  : Christiane von Poelnitz  ; Erstausstrahlung 6. 3. 2011, 3sat/ORF) Voices (1994), interaktive Klanginstallation, Uraufführung 28. 10. 1994, Szene Wien, Österreich Radiohorizonte (1995), Bildpartitur, variable Besetzung, Uraufführung 22. 6. 1995 durch das Tiroler Ensemble für Neue Musik, horizontal radio, ORF, Radio Ö1 Tirol Telephonmessage to Sarajevo and Innsbruck (1995), elektroakustische Komposition, Uraufführung 28. 12. 1995, horizontal radio, ORF, Radio Ö1 Tirol Binary Voices I (1996), interaktive Klanginstallation, Uraufführung 16. 11. 1995, ESC medien kunst labor, Graz, Österreich Binary Voices II (1996), elektroakustische Komposition, Uraufführung 31. 7. 1997, Schloss Nádasdy, Sárvár, Ungarn Water-Lily (1997), Solo für Gitarre, Uraufführung 18. 12. 1999 durch Ursula Fürnkranz, Canisiuskirche Wien, Österreich Wien West Bahnhof (1997), elektroakustische Soundscape-Komposition, Uraufführung 31. 7. 1997, Schloss Nádasdy, Sárvár, Ungarn  ; (CD »Organised Sound«, An International Journal of Music Technology, Vol. 7, No. 3) Klingende Werkstatt (1998), elektroakustische Soundscape-Komposition, Uraufführung 14. 2. 1999, Haydn-Saal, Festspielhaus St. Pölten, Österreich Lagom (1999), elektroakustische Soundscape-Komposition, Uraufführung 5. 10. 1999, Thomaskirche, Nürnberg-Großreuth, Deutschland  ; 144

Poetische Klangräume

(CD »Hearing Place«, move records) Einsatz in der Dokumentation »Aufbruch der Frauen – Acht Wegbereiterinnen der österreichischen Frauenbewegung« (Regie  : Walter Wehmeyer, Kamera  : Benjamin Epp, Musik  : Gabriele Proy, Mischung  : Christoph Amann, Sprecherin  : Christiane von Poelnitz  ; Erstausstrahlung 6. 3. 2011, 3sat/ORF) Damenspiel (2001), Streichquartett (Quartett für Violine, Violoncello und 2 Dame-SpielerInnen), Uraufführung 12. 12. 2001, Koehne Quartett, Karajan Center Wien, Österreich Habana (2002/2003), elektroakustische Soundscape-Komposition, Uraufführung 15. 3. 2003, Kunsthaus Meran, Italien Miracle (2003), elektroakustische Soundscape-Komposition, Uraufführung 12. 5. 2004, Festival Soundings, Österreichisches Kulturforum London, England Waldviertel (2005), elektroakustische Soundscape-Komposition, Uraufführung 16. 10. 2005, EU-Japan-Jahr 2005, 50th Anniversary Auditorium Michinoku Hall, Hirosaki University, Japan  ; (CD »The Art of Immersive Soundscapes«, Canadian Plains Proceedings 41 – im Erscheinen) Einsatz in der Dokumentation »Aufbruch der Frauen – Acht Wegbereiterinnen der österreichischen Frauenbewegung« (Regie  : Walter Wehmeyer, Kamera  : Benjamin Epp, Musik  : Gabriele Proy, Mischung  : Christoph Amann, Sprecherin  : Christiane von Poelnitz  ; Erstausstrahlung 6. 3. 2011, 3sat/ORF) Kokoro (2007), Frauenchor a cappella, Uraufführung 7. 12. 2007 durch den Philharmonischen Chor München, Eva Prockl (Sopran), Dirigent  : Andreas Herrmann, Allerheiligenhofkirche der Münchner Residenz, Deutschland Einsatz in der Dokumentation »Aufbruch der Frauen – Acht Wegbereiterinnen der österreichischen Frauenbewegung« (Regie  : Walter Wehmeyer, Kamera  : Benjamin Epp, Musik  : Gabriele Proy, Mischung  : Christoph Amann, Sprecherin  : Christiane von Poelnitz  ; Erstausstrahlung 6. 3. 2011, 3sat/ORF) Eva Prockl, dem Philharmonischen Chor München und seinem Leiter Andreas Herrmann gewidmet

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Kigen (2008), Solo für Klavier, Uraufführung 2. 10. 2008 durch Manon-Liu Winter, Eröffnung des Wiener Nobelpreisträgerseminars, Großer Festsaal der Universität Wien, Österreich Einsatz in der Dokumentation »Aufbruch der Frauen – Acht Wegbereiterinnen der österreichischen Frauenbewegung« (Regie  : Walter Wehmeyer, Kamera  : Benjamin Epp, Musik  : Gabriele Proy, Mischung  : Christoph Amann, Sprecherin  : Christiane von Poelnitz  ; Erstausstrahlung 6. 3. 2011, 3sat/ORF) Manon-Liu Winter gewidmet Kimochi (2009), elektroakustische Soundscape-Komposition, Uraufführung 27. 10. 2009, Portraitkonzert, Österreich-Japan-Jahr 2009, 50th Anniversary Auditorium Michinoku Hall, Hirosaki University, Japan Ereso (2010), Fassung für großes Orchester, Uraufführung 25. 6. 2010 durch das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Dirigent  : Gottfried Rabl, RadioKulturhaus, Wien, Österreich  ; (CD »102 Masterpieces« des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien, Capriccio) dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien, seinem künstlerischen Leiter Christian Scheib und dem Dirigenten Gottfried Rabl gewidmet Fassung für kleines Orchester, Uraufführung 8. 11. 2012 durch das Ensemble Orchesterwelt, Dirigent  : Vladimir Kiradjiev, Festsaal der Pädagogischen Hochschule Niederösterreichs, Baden, Österreich Alchemilla vulgaris (2010), Quartett für Flöte und Streichtrio, Komposition für den Dokumentarfilm »Aufbruch der Frauen – Acht Wegbereiterinnen der öster­ reichischen Frauenbewegung« von Walter Wehmeyer (Regie), Kamera  : Benjamin Epp, Musik  : Gabriele Proy, Mischung  : Christoph Amann, Sprecherin  : Christiane von Poelnitz  ; Erstausstrahlung 6. 3. 2011, 3sat/ORF Einspielung am 25. 3. 2010 durch das Ensemble »die reihe« (Flöte  : Ulrike Anton, Violine  : Michael Snyman, Viola  : Gertrude Rossbacher, Violoncello  : Till Georg Schüssler) konzertante Uraufführung 10. 12. 2010 durch das Ensemble der Grazer Oper (Flöte  : Manfred Kalcher, Violine  : Klara Ronai, Viola  : Emilia Gladnishka, Violoncello  : Ivanila Lultcheva) Der Frauenministerin Johanna Dohnal in Memoriam und dem Ensemble »die reihe«, seinem damaligen künstlerischen Leiter Rudolf Illavsky sowie dem Dirigenten Gottfried Rabl gewidmet 146

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Violett (2010), Klaviertrio, Uraufführung 16. 10. 2013 durch das MozARTE Quintett Salzburg, Bezirhane in Uçhisar, Kappadokien, Türkei dem MozARTE Quintett Salzburg gewidmet Uçhisar (2010), Duo für Violoncello und Mikroton-Orgel, Uraufführung 13. 12. 2010 durch Jörg Ulrich Krah (Violoncello) und Christoph Breidler (Orgel), Ehrbar-Saal, Wien, Österreich Jörg Ulrich Krah und Christoph Breidler gewidmet Silber (2010), Liederzyklus für Bariton und Orgel, Uraufführung 12. 11. 2010 durch Günter Haumer (Bariton) und Matthias Krampe (Orgel), Evangelische Christuskirche Wien, Österreich Günter Haumer und Matthias Krampe gewidmet Azurit (2011), Solo für Gitarre, Uraufführung 1. 9. 2012 durch Christina Schorn, Uraufführung beim Gitarrenfestival der »Società Aquilana dei Concerti B. Baratelli«, L’Aquila, Italien  ; österreichische Erstaufführung 25. 11. 2012 durch Siegfried Steinkogler Botschafterin Claudia Rochel-Laurich in Memoriam und Christina Schorn gewidmet Türkis (2011/2012), Duo für Flöte und Gitarre, Uraufführung 30. 5. 2012 durch Ulrike Anton (Flöte) und Armin Egger (Gitarre) in Gedenken an die Erdbebenopfer in Japan 2011, Kammerkonzert der Österreichischen Gesellschaft für zeitgenössische Musik, Salvatorsaal Wien, Österreich Ulrike Anton und Armin Egger gewidmet Granat (2012), Klavierquintett, Uraufführung 23. 8. 2012 durch das MozARTE Quintett Salzburg, Schloss Goldegg, Österreich dem MozARTE Quintett Salzburg gewidmet Inachis io (2012), Duo für Flöte und Klavier Ulrike Anton und Russel Ryan gewidmet Lavandula vera (2013), Klavierquintett, Uraufführung 7. 9. 2013 durch das ­M oz­A RTE Quintett Salzburg, Marseille-Provence 2013, Eröffnung des »Conser­vatoire Darius Milhaud«, Aix-en-Provence dem MozARTE Quintett Salzburg gewidmet 147

Gabriele Proy

Frieden (2013), gemischter Chor a cappella, Uraufführung 20. 10. 2013 durch den Denkmalchor Leipzig, Dirigent  : Ingo Martin Stadtmüller, »Eine Europäische Friedensmusik 2013«, Doppeljubiläum Leipzig 1813–1913–2013, Völkerschlachtdenkmal Leipzig, Deutschland dem Denkmalchor Leipzig gewidmet

Anmerkungen   1 Ad meinem Werdegang vgl. auch Himmelbauer 1995. Portraitiert werden in dieser Publikation des Furore-Verlags neben mir die österreichischen Komponistinnen Maria Bach, Olga Neuwirth, Nancy Van de Vate und Grete von Zieritz, die deutsche Komponistin Philippine Schick und die französische Komponistin Elisabeth-Claude Jacquet de la Guerre. Vgl. weiters Huber 2010 und Holzer 2011.   2 Gewerkschaft für Kunst, Medien, Sport, freie Berufe (Sektion Musik)   3 Der Konzerttitel lautete �������������������������������������������������������������������� »La senteur de la mer« und Anlass war die �������������������������� Eröffnung der neuen Musikhochschule Conservatoire Darius Milhaud von Aix-en-Provence.   4 Mit Konzertreisen meine ich hier weltweite Einladungen zu Konzertaufführungen meiner Kompositionen und nicht eine etwaige internationale Konzerttätigkeit als Interpretin.   5 Meine Soundscape-Kompositionen sind poetische Hörbilder über ausgewählte Klangumwelten. Die bei intensiven Klangrecherchen vor Ort aufgenommenen Klänge werden nach kompositorischen Verfahrensweisen (rhythmische Gestalt, Klangfarben, Dynamik, Ereignisdichte usw.) bearbeitet und – das ist das Spezielle an einer Soundscape-Komposition – mit poetischem Verweis zur Klangquelle und dem Kontext, aus der diese Klänge gewonnen wurden, musikalisch gestaltet.   6 Vgl. zur historischen Entwicklung von Frauenmusikfestivals in Österreich den Beitrag von Rosa Reitsamer in diesem Band.   7 Alexandra Karastoyanova-Hermentin, Ursula Petrik, Dana Cristina Probst und ich.   8 Es handelte sich um eine 3sat/ORF-Produktion, die am 6. März 2011 zum 100-jährigen Frauentag auf 3sat/ORF TV gesendet wurde. Der Verein Mäzenatentum hat mich als Komponistin an den Regisseur dieses Dokumentarfilms Walter Wehmeyer vermittelt.   9 Die von Luc Ferrari entwickelte Kompositionsweise der »anekdotischen Musik« organisiert Naturgeräusche nach musikalischen Prinzipien. 10 Ein Auftragswerk zur Eröffnung des Wiener Nobelpreisträgerseminars am 2. Oktober 2008 im Großen Festsaal der Universität Wien. 11 Das Auftragswerk des Philharmonischen Chors München wurde am 7. Dezember 2007 in der Allerheiligenhofkirche der Münchner Residenz uraufgeführt. 12 Auch dies war übrigens ein Auftragswerk, und zwar eines der Evangelischen Kirche Österreichs zum 100-Jahr-Jubiläum der Abteilung für Kirchenmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Das Stück wurde am 12. November 2010 in der Evangelischen Christuskirche in Wien uraufgeführt. 13 Ad Folgeaufführungen vgl. Heindl 2013.

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Poetische Klangräume

Weiterführende Literatur Aoyama Gakuin University (2009), Programmheft zu »Lecture & Concert Gabriele Proy«, am 11. November 2009. Tokyo Anke Haun, Gabriele Proy (2009), »Forum Klanglandschaft im didaktischen Dialog«, in  : Begegnungen Musik – Regionen – Kulturen. Kongressbericht 27. Bundesschulmusikwoche Stuttgart 2008, hg. von Ortwin Nimczik, Verband Deutscher Schulmusiker. Mainz u. a., 233–244 Christian Heindl (2013), Portrait Gabriele Proy  ; abrufbar unter http://www.musicaustria.at/magazin/neue-musik/artikel-berichte/portraet-gabriele-proy (2. 9. 2013) Regina M. E. Himmelbauer (1995), »Eintauchen in die Landschaften der Klänge. Sechs Anmerkungen zur Klangkünstlerin Gabriela [sic  !] Proy«, in  : Brunhilde Sonntag, Renate Matthei, Clara Mayer (Hg.), Annäherung VI – an sieben Komponistinnen. Portraits und Werkverzeichnisse. ­Kassel, 59–68 Andreas Holzer (2011), Zur Kategorie der Form in neuer Musik (Musikkontext Band 5). Wien Annegret Huber (2010), Art. »Proy, Gabriele«, in  : Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld (Hg.), Lexikon Musik und Gender. Kassel, 443 Hartmut Krones (2013), 100 Jahre Österreichischer Komponistenbund 1913–2013. Wien Szabolcs Molnár (2012), Einführungsvortrag zum Portraitkonzert »Klassisch Zeitgenössisches ­Gabriele Proy, Komponistin«, am 8.3.2012 am Österreichischen Kulturforum Budapest Sôseki Natsume (1994 [1914]), Kokoro), Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Oscar Benl. Zürich Gabriele Proy (1997), »Klangzeichen«, in  : Das audiovisuelle Archiv. Fachzeitschrift für Theorie und Praxis des audiovisuellen Archivwesens, Heft Nr. 41/42, 1997, 13–24 Gabriele Proy (2002), »Sound and sign«, in  : Organised Sound. An International Journal of Music Technology, Vol. 7, No. 1, 15–19 Gabriele Proy (2011), »Soundscape Composition  : Composed sonic moments of places and times«, in  : Japanese Journal of Music Education Practice, Vol. 9, No. 1, 20–24 Gabriele Proy (2013), »Waldviertel – A Soundscape Composition«, in  : Pauline Minevich, Ellen Waterman (Hg.), The Art of Immersive Soundscapes (Canadian Plains Proceedings 41). Regina (im Erscheinen) Reader’s Digest AG (Hg.) (1978), »Geheimnisse und Heilkräfte der Pflanzen«, in  : Das Beste aus Reader’s Digest AG. Zürich/Stuttgart/Wien Dietrich Roloff (2009), Eine ZEN-Weisheit für jeden Tag des Jahres. Frankfurt am Main Jürgen Schöpf, Gabriele Proy (2012), »Soundscape work in Austria – an overview«, in  : European Acoustic Heritage, Österreichische Akademie der Wissenschaften – Phonogrammarchiv 2012  ; abrufbar unter http://europeanacousticheritage.eu/2012/09/soundscape-work-in-austria-anoverview (12. 6. 2013) Bertha von Suttner (2008 [1898]), Die Waffen nieder  ! Wien Keiko Torigoe (2006), »Interview to Gabriele Proy«, in  : Soundscape. Journal of the Soundscape ­Association of Japan, Vol. 8, 39–45

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Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides Gegen die Moral also kehrte sich damals […] mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen  ? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit – denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist  ? – auf den Namen eines griechischen Gottes  : ich hiess sie die dionysische. (Nietzsche 2007 [1980], 19)

Friedrich Nietzsche stellt nicht nur die Religion dem Begriff des »Dionysischen« gegenüber, sondern alles Harmonische, Rationale, menschlich wissend Konstruierte. Das »Dionysische« bei Nietzsche bedient sich Attributen, die in der griechischen Antike in der Gestalt des Gottes Dionysoszusammengefasst wurden  : das Rauschhafte, das unberechenbar aus der Natur Entsprungene, das an Wahnsinn grenzende Lebendige. Darin sieht Nietzsche neben dem ordnenden Prinzip des Apollinischen eines der beiden Grundprinzipien menschlicher Existenz. Der Mythos Dionysos hat in den letzten drei Jahrtausenden zahlreiche DichterInnnen, DenkerInnen und KünstlerInnen zur Auseinandersetzung mit dem Gott und dem ihm umgebenden Kult angeregt. Dabei polarisiert die Idee der irrationalen, dionysischen Vitalität heute wie damals. Dionysos, der dem Mythos zufolge mit einer Schar von fanatischen Erleuchteten durch die Welt zog und im rauschenden Tanz ganze Städte dem Erdboden gleich machte, wirft aber auch ein spannendes Bild auf die antike Rezeption von Geschlecht und Sexualität. Die Vorstellung einer einzigen, männlichen Gottheit, die in der freien Natur in Begleitung Hunderter Frauen kultische Feste feiert, sorgte stets für Skepsis. Anders als in den späteren Bacchanalien der römischen Antike waren Männer nicht nur im griechischen Mythos, sondern auch den historisch belegten griechischen Kultfeiern zu Ehren des Dionysos ausgeschlossen. Der Kult um den Gott des Rausches war immer mit dem Vorwurf konfrontiert, nur ein Vorwand für sexuelle Eskapaden zu sein, und wurde durch alle Zeiten hinweg, vor allem aber im Rom des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, auch genauso missbraucht. Das männliche Geschlecht des Gottes Dionysos darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade das Spiel mit den Geschlechtern, die Verwandlung und Auflösung der 151

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durch den Menschen rational festgelegten Abgrenzungen zum zentralen Motivkanon des Dionysos-Mythos gehören. Als naturverbundene, irrationale Gottheit positioniert sich Dionysos in Mythos und Kultus stets gegen Kultiviertheit und Logos. Die räumliche Gegenüberstellung von Naturraum und Kulturraum, von unbezwungener Natur und städtischem Leben, ist eines der Kernmotive von Euripides’ Drama »Die Bakchen«, das umfangreichste Zeugnis antiker Dionysos-Rezeption.

Die Ankunft des Dionysos Seit Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus sind die Dionysien nachweisbar – jährliche Festspiele im antiken Griechenland, gleichsam Autorenwettbewerb und religiöse Zelebration zu Ehren des Gottes Dionysos. Den Tragödien­ wettstreit gewann im Jahr 405 v. Chr. postum der ein Jahr zuvor verstorbene Euripides mit seinem Stück »Die Bakchen« – einem antiken Thriller. Blutrünstig und voller politischer und persönlicher Verstrickungen geht der Stoff in seiner Bedeutung und Deutbarkeit jedoch weit über den Einsatz von effektvollem Storytellinghinaus, überfordert uns, sprengt den theatralen Rahmen und wird gerade dadurch ganz und gar Theater. Mit dem Eröffnungsmonolog des Dionysos schenkt uns Euripides einen der radikalsten Stückanfänge der Theatergeschichte  : In dies Thebanerland komm ich, der Sohn des Zeus, Dionyos [sic  !], Den einst die KadmostochterSemele gebar, Entbunden durch des Himmelsfeuers Glut. Die göttliche vertauschend mit der sterblichen Gestalt, Nah ich mich meiner blitzgetroffnen Mutter Grab. (Euripides/Werle 2001, 5)

Dionysos unterbricht seine eigenen Festspiele und stellt sich den ZuschauerInnenvor, die ihn ohnehin kennen – schließlich sind sie gekommen, um ihm zu huldigen. Schon dieser Akt der Selbstankündigung zeigt die Komplexität des formal-theatralen Vorgangs. Euripides lässt den Gott seine eigene Zelebration stören, indem er ihn als Figur auf dem Theater daran teilnehmen lässt. Allerdings kommt er nicht in seiner »göttlichen Gestalt«, sondern verkleidet sich als Mensch. Wie wir später herausfinden werden, gibt er sich als Hohepriester des Dionysos aus, spielt seinen eigenen Stellvertreter auf Erden. Der Gott des Theaters kommt ins Theater und spielt Theater. 152

Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides

Ein weiterer Aspekt in der Gegenüberstellung von der Dramengestalt Dionysos und dem von ihm gespielten Stellvertreter auf Erden ist der Schauspieler selbst, der mit Maske und Perücke den Dionysos – und mittelbar über diesen Charakter den Hohepriester desselben – verkörpert. Daraus ergibt sich eine Trinität, die in der praktischen Umsetzung auf den ersten Blick irritiert und überfordert, denn über der theatralen Umsetzung schwebt der Geist des tatsächlichen Gottes, zu dessen Ehren »Die Bakchen« aufgeführt werden.

Darüber hinaus wird Dionysos über die Handlung verteilt immer wieder als Hauptfigur und Handlungstreiber auf der Bühne zu sehen sein. Für die ZuschauerInnen war dieser Vorgang sicherlich aufwühlend. Im griechischen Drama der Zeit war es üblich, die Göttlichen höchstens für Exposition und Exodus einzusetzen (vgl. Bierl1991, 181 f.). Meistenswerden sie während der Dramenhandlungvon den menschlichen Charakteren beschrieben oder zitiert und greifen nur von außen in das Bühnengeschehen ein. In seiner Eröffnung fährt Dionysos fort  :

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Das goldträchtige Land der Lydier, der Phrygier Ließ ich zurück, kam zu der Perser hellen Ebenen, Den Mauern Baktriens, zum winterlichen Land Der Meder und zum glücklichen Arabien, Nach Asien am Strand des salzig bittren Meers Mit seinen vielen schöngetürmten Städten, voll Von buntgemischtem Griechen- und Barbarenvolk, Und unter allen Griechenstädten erst in diese, Mit meinen Tänzen und als Bringer meiner Weihen, Um mich den Sterblichen als Gott zu offenbaren. (Euripides/Werle 2001, 5)

In dieser Beschreibung seiner Reise spiegeln sich Mythos und historische Fakten wechselseitig. Denn tatsächlich herrscht die Vermutung vor, dass sich der Dionysos-Kult seinen Weg aus dem asiatischen Raum zu den Griechen gebahnt hat (vgl. Otto 2011, 51ff.). Theben bekommt im Drama als erste griechische Stadt, die Dionysos bereist, eine besondere Stellung. Mit seiner Ankunft schließt sich ein Kreis, der die bisherige Lebensgeschichte des Gottes als Odyssee beschreibt, denn die Grundlage des Dionysos-Mythos ist eng mit der Geschichte Thebens verknüpft. Geburtshaus und Grab seiner Mutter liegen hier. Und auch Dionysos wäre beinahe in Theben aufgewachsen und als Mitglied des Herrscherhauses bei den Kadmeiern, den Nachkommen des Theben-Gründers Kadmos, im Kreise seiner Familie groß geworden. Diese behütete Kindheit im thebanischen Palast blieb ihm jedoch verwehrt. Der Eröffnungsmonolog des Dramas »Die Bakchen« ist stark von dem zornigen Blick des Dionysos auf die thebanische Königsfamilie geprägt und eröffnet die Möglichkeit einer späten Abrechnung des Gottes mit seinen Verwandten.

Chaos und Kosmos – der wiedergeborene Gott Es lohnt sich, an dieser Stelle einen kurzen Abriss über den Geburtsmythos des Dionysos zu geben. Dieser gehört zum Allgemeinwissen der griechischen Antike und somit der ZuschauerInnen des Dramas. Göttervater Zeus verführte Semele, die Tochter des Gründers von Theben, Kadmos, und zeugte mit ihr ein Kind. Noch während der Schwangerschaft gestand Semele ihrem Vater und ihren Schwestern den Vorfall. Ermutigt von Kadmos, behaupteten ihre Schwestern, Semele hätte ihre Unschuld an einen einfachen Sterblichen verloren und das 154

Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides

Aufeinandertreffen mit Zeus nur erfunden, um ihre Ehre zu retten. Unfähig, die Vaterschaft des Gottes zu beweisen, bat Semele am Rande des Selbstzweifels Zeus, sich ihr in seiner göttlichen Gestalt zu offenbaren. Er gab ihrem Wunsch nach und erschien als Blitz, der die Schwangere augenblicklich tötete. Das ungeborene Kind jedoch, Halbgott Dionysos, nähte sich Zeus mit goldenen Spangen in seinen Schenkel ein, um es später selbst zu gebären. Als die Zeit reif war, gab er das Neugeborene an Semeles Schwester Ino weiter, die es als Amme aufziehen sollte. Hera, die Gattin des Zeus, beobachtete das Geschehen voll Eifersucht und plante ihre Rache. Sie stachelte die Titanen, mächtige Riesen in Menschengestalt, auf, das Kleinkind Dionysos zu töten. Als sie dieses überfielen, verwandelte sich Dionysos nacheinander in verschiedene Tiergestalten, um die Titanen zu verwirren, wurde allerdings von ihnen gefasst und bei lebendigem Leibe zerrissen, bevor sie sein rohes Fleisch verspeisten. Der Kopf jedoch konnte von Athena (in anderen Erzählungen von Rhea) gerettet werden. In blindem Zorn erschlug Zeus die Titanen durch Blitze. Die verstreuten Körperteile des Halbgottes wurden aus der Asche gesammelt, wie ein menschengestaltliches Puzzle nebeneinander gelegt und Dionysos zusammengenäht, wiedererweckt und von Zeus in den Kreis der Götter erhoben. Jan Kott beschreibt in seinem beeindruckenden Aufsatz »Das Gott-Essen oder die Bakchen«die Attribute, die dem Mythos Dionysos durch seine Geburt inhärent sind  : »Die Zerstückelung und Zusammenfügung des Dionysos ist ein kosmischer Mythos der ewigen Wiederkehr, der Erneuerung, ein Mythos von Tod und Wiedergeburt, Chaos und Kosmos.« (Kott 1991 [1975], 208) Der neu erkorene Gott Dionysos begann eine Irrfahrt durch die Welt, die ihn bis nach Indien und wieder zurück nach Theben führte. Dabei folgten ihm in zunehmender Anzahl Frauen, die ihre Heimat hinter sich ließen und in ständiger Weihe dem Gott huldigen wollten, die Bacchantinnen (oder Bakchen). Unterwegs begegneten ihm auch zahlreiche Könige, die an seiner göttlichen Herkunft zweifelten, sichihm widersetzten und infolge dessen grausame Strafen über sich ergehen lassen mussten. In Thrakien verwirrte er den König Lykurgos, der plötzlich seinen eigenen Sohn als Weinstock sah und ihn mit seiner Axt niederschlug. Daraufhin wurde er verstoßen und in den Bergen von wilden Pferden zerrissen. In Orchomenos lehnten drei Königstöchter seine Einladung zu den Mysterien ab. Dionysos schlug die Frauen mit Wahnsinn, in dem er nacheinander die Gestalt eines Löwen, Stiers und Panthers annahm. Im Wahn zerfleischten sie den Sohn der ältesten Schwester und verspeisten ihn. Auch in Argos trieb Dionysos die Frauen in einen Wahn, der sie die eigenen Kinder zerreißen und roh verspeisen ließ. 155

Steffen Jäger

Diese Reiseerzählungen gelten in der Antike als allgemein bekannt und weisen deutliche Parallelen zum Geburtsmythos auf. Fast alle Erzählungen, die Dionysos thematisieren, basieren auf einem Motivkatalog, der vom Zweifel an der Göttlichkeit des Dionysos über den vom Gott ausgelösten Wahnsinn als Strafe und Kindsmord bis hin zum Zerreißen des menschlichen Körpers bei lebendigem Leibe (Sparagmos) und zum Verzehr des rohen Fleisches (Omophagie) durch die eigene Mutter führt. Auch hier wird die Kongruenz von Mythos und Kultus deutlich  : Die Kernelemente der dionysischen Weihen in der griechischen Antike sind rauschartige Tänze und Trance (Wahn), Tieropfer (Sparagmos) mit anschließendem Verzehr des rohen Fleisches (Omophagie). Jan Kott fasst diese Aufeinanderfolge von Reflexion und Projektion zusammen  : »Der Mythos ist eine Rechtfertigung und Interpretation des Ritus.« (Kott 1991 [1975], 206)

Natur und Kultur Im weiteren Verlauf des Eröffnungsmonologs der »Bakchen« gibt Dionysos eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse, die sich seit seiner Ankunft in Theben begeben haben. Auch hier hat er alle Frauen der Stadt (auch die Töchter des Theben-Gründers Kadmos) einem göttlichen Wahn unterworfen. Sie haben bereits den Palast verlassen und sich, bekleidet mit Hirschkalbfellen und Thyrsosstäbe (die klassischen Weiheutensilien des Dionysos) mit sich führend, in die Berge begeben, wo sie von nun an in der freien Natur leben. Hier tauchen schon erste Motive der vorigenEpisodenauf. Der immer wiederkehrenden Abfolge von Gotteszweifel, Wahn, Sparagmos und Omophagie scheint Dionysos auf zwanghafte Weiseunterworfen zu sein. Einerseits zeichnet sich für den weiteren Verlauf des Stückes eine Fortführung dieses Schemas ab, andererseits wird auch die Perspektive auf eine finale Durchbrechung der ewigen Wiederkehr angeboten. Schließlich ist Theben nicht irgendeine Stadt, die Dionysos auf seinem Weg nach Griechenland durchreist. Hier liegt das Grab seiner Mutter. Ihr Tod ist es, den er rächen will. Damit bekommt Theben eine Gewichtung als Ort des ersten, ursprünglichen Zweifels an der Göttlichkeit des Dionysos. Wären Semeles Beteuerungen (und mit ihnen der Halbgott-Status des Dionysos) nicht von ihrem Vater angezweifelt worden, wäre sie höchstwahrscheinlich noch am Leben, Dionysos selbst wäre in Theben als Enkel des Kadmos aufgewachsen und unter Umständen auch König geworden, denn mittlerweile hat Kadmos den Thron an seinen anderen Enkel, Pentheus, den Sohn der Agaue, abgetreten. In diesem Kontext wird der Zorn, mit dem Dionysos seine flammende Rede zu Beginn 156

Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides

der »Bakchen« hält, verständlich. Alle vorigen Episoden scheinen Testphasen für Theben als eigentliches Ziel seiner Reise zu sein. Nach dem Auftritt des Dionysos meldet sich der Chor der Bacchantinnen, der dem Gott auf seiner Weltreise gefolgt ist, zu Wort. Seine Begleiterinnen sind ausschließlich Frauen, die ihm aus meist städtischem Umfeld folgen, um sich den Säften der Natur hinzugeben. Dabei wird die Natur zum Ort des Ursprungs – und die Stadt folglich zum Symbol der Entfremdung von dieser Ursprünglichkeit. Die Gegenüberstellung von urbaner Kultur und Rückkehr in die Natur ist eines der umfangreichsten Motive des Dramas. Das Haus oder der Palast sind dabei deutlichste Vertreter der Überwindung von Natur. Der Chor spricht explizit den Webstuhl und die Spindel an, die zurückgelassen werden müssen, um die städtischen Zwänge abzulegen. Beides sind Vorrichtungen zur Weiterverarbeitung natürlicher Rohstoffe und damit Symbole für die Bezwingung und Nutzbarmachung der Natur durch den Menschen. Hausarbeit ist Frauenarbeit  ; und damit sind Webstuhl und Spindel Stellvertreter der geschlechterspezifischen Rollenverteilung. Dionysos, der wiedergeborene Gott, verschafft auch seinen Anhängerinnen einen Neuanfang, dessen erster Schritt die Entscheidung ist, Haus (und damit häusliche Arbeit) hinter sich zu lassen. Nicht alle sind sofort und bedingungslos der Macht des Dionysos unterworfen. Immer wieder treten ihm Skeptiker gegenüber. Während seine kultischen Feiern und Räusche ausschließlich Frauen vorbehalten sind, akzeptiert und forciert er auch die Anerkennung der Männer. Seine Anhängerinnen erobern sich dabei im Laufe des Stückes immer mehr männliche Domänen  : von der Selbstversorgung und Strukturierung ihrer Gruppe bis hin zur Kriegsführung. Der Gesang des Chors simpliziert, dass bei den Thebanerinnen schon vor dem Erscheinen des Dionysos (wenn auch nur in Anklängen) der Wunsch bestanden hat, die häusliche Arbeit niederzulegen. Insofern kommt Dionysos auch die Funktion eines Schutzpatrons der Frauen vor männlicher Dominanz zu, was nicht automatisch heißt, seine Anhängerinnen wären von jeglicher Art von Unterdrückung befreit. Wer sich nicht selbstständig in die Obhut des Gottes begibt, wird durch Magie zur Hörigkeit gezwungen. Zumeist sind es allerdings Männer, die sich dem Gott anfangs selbstsicher und provokant entgegenstellen und ihre Position zumindest zeitweise behaupten können. Die Strafe für diesen Frevel ist Wahn, meist gefolgt von Tod. Während der bei Frauen schon bestehende Wunsch nach Erlösung vom Patriarchat bereits eine Angriffsfläche für Dionysos’ Magie darstellt, lockt er die Männer vor der magischen Übernahme ihres Geistesstets aus ihrer siegessicheren Überheblichkeit in einen Zustand von Aufgebrachtheit, Zorn oder Verunsicherung. 157

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Das Spiel mit den Geschlechtern Nachdem der Chor seine Worte an Theben gerichtet hat, spielt sich vor den Toren der Stadt eine aberwitzige Szene ab. Der ehemalige Herrscher Kadmos, der die Krone an seinen Enkel Pentheus übergeben hat, und der aus zahlreichen Dramen bekannte blinde Seher Teiresias haben sich entschlossen, sich ebenfalls den dionysischen Orgien in den Bergen anzuschließen. Die beiden Greise (der eine blind, der andere kann nur gestützt gehen) wollen sich, mit Weihegewändern geschmückt, unter die Schar der Frauen mischen. Es fällt auf, dass sie sich nicht bezaubert im Rausch, sondern aus logischen Gründen auf den Weg machen wollen. So entscheiden sie sich, trotz ihres Alters keinen Wagen zu nehmen, sondern den Weg zu Fuß zurückzulegen, da dies dem Gott als größere Hingabe erscheinen wird. Dabei sind Gerüchte über die verjüngende Wirkung der Orgien genauso eine Motivation wie der Wunsch, im Falle eines Siegeszuges des Dionysos auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Überrascht werden sie bei diesem Unterfangen durch die unerwartete Rückkehr des neuen Königs Pentheus, der bis zu diesem Zeitpunkt auf Reisen war. Die Nachricht, die Frauen Thebens seien entflohen, hatte zu seiner augenblicklichen Rückkehr geführt. Obwohl es sich bei den dionysischen Orgien wohl eher um exzessive Ausschreitungen als um erotische Spiele gehandelt hat, unterstellt Pentheus dem neuangekommenen Priester des Dionysos sexuelle Motive und gerät darüber derartig in Rage, dass er in einer wutentbrannten Rede seine Soldaten dazu aufruft, die Frauen gefangen zu nehmen und den Anstifter, den als Priester verkleideten Dionysos, hinrichten zu lassen. Es ist ein zorniger Rausch, der vom Chor als Wahn erkannt wird. Pentheus tritt in den »Bakchen« dem Gott Dionysos antagonistisch entgegen. Mit seinem Auftritt wird der Grundkonflikt des Stückes gesetzt  : Hier kämpft Gott gegen Mensch, König gegen Fremden. Pentheus, der berstend vor Männlichkeit in voller Rüstung regiert, trifft auf den zarten, langhaarigen, weiblich wirkenden Gott. Dionysos wird oft mit den Begriffen Bisexualität und Transsexualität in Verbindung gebracht (vgl. Evans 1988). Der Gott, der aufgrund seiner zahlreichen Beinamen auch der Vielnamige genannt wird, ist auch der Gott der vielen Geschlechter. Das Spiel mit Sexualität und Geschlecht erklärt sich schon aus seinem Geburtsmythos heraus. Dionysos wurde sowohl von einer weiblichen als auch von einer männlichen Gestalt ausgetragen, hat aber den eigentlichen Vorgang der Geburt nie durchlebt. In gewisser Hinsicht ist er durch den Tod der Semele von Zeus um diesen Vorgang betrogen worden, was seinen späteren Hang 158

Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides

zur Mutter und sein zwiespältiges Verhältnis zum Göttervater erklären könnte. Er kommt nach Theben, um den Tod der Mutter zu rächen. Die Konsequenz einer Übernahme Thebens würde aber auch bedeuten, dass er seinem Vater (zumindest in Theben) die zentralste Position unter den Göttern abspricht. Damit würde sich ein Generationswechsel abzeichnen. Nachdem Dionysos von den Titanen zerrissen wurde, verspeisten sie sein rohes Fleisch. Die Aufnahme des Säuglingsfleisches in den Titanenkörper ist aucheine Art von Umkehrung seiner Geburt. Durch den Tod wurde Dionysos in einen vorgeburtlichen – und damit vorgeschlechtlichen – Zustand zurückversetzt. Auch nach seiner Auferstehung wird er diesen vorgeschlechtlichen Zustand aufrechterhalten, in dem er vielgeschlechtlich wird. Seine bevorzugte menschliche Gestalt wird ein langhaariger, feminin wirkender Bursche. Somit bleibt er – obwohl in der Welt – immer auch im Schoß der Semele verhaftet, aus dem geboren zu werden ihm nicht vergönnt war.

Der Untergang des Palastes Tatsächlich gelingt es Pentheus’ Wachen, die Frauen in Scharen gefangen zu nehmen, doch mit Hilfe ihres Gottes Dionysos können sie sich noch am selben Tag wieder befreien. Dionysos aber begibt sich freiwillig in Gefangenschaft, erschafft also ein Tauschszenario mit sich selbst als freiwilligem Pfand. Pentheus und Dionysos, der König und der Gott, der Jäger und seine Beute, stehen sich ein erstes Mal Auge in Auge gegenüber. Das darauf folgende Verhör lässt Dionysos (immer noch in Verkleidung des Priesters) ohne jegliche Demonstration seiner Macht über sich ergehen. Es scheint, als wolle er dem König eine realistische, letzte Chance einräumen, sich der dionysischen Weihe anzuschließen. Zugleich provoziert er ihn durch schnippische Antworten zu mehr Gehässigkeit. Pentheus spricht nun deutlich Zweifel an der Existenz des Dionysos aus. Dafür gibt es neben seiner Treue zu den alten Göttern noch einen anderen Grund  : Dionysos und er entstammen derselben Familie. Beide sind Enkel des Kadmos, also Angehörige derselben Generation. Damit hätte der Gott das Recht, die Thronfolge des Pentheus anzufechten. Um Theben stabil regieren zu können, bleibt dem König also keine andere Wahl, als die Existenz seines Cousins zu negieren. Er schließt das Verhör mit derAnkündigung einer Rückführung zum gewohnten Patriarchat, begleitet von grausamer Willkür  : 159

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Jene [Frauen] aber, die du hergeführt, Mittäterinnen der Verbrechen, die verkaufe ich, Oder behalte sie, wenn ihre Hand der Trommel laut Gedröhn Verlernt hat, dass sie mir am Webstuhl dienen. (Euripides/Werle 2001, 20)

Der schockerstarrte Chor ruft in diesem Moment höchster Verzweiflung seinen Gott an. Pentheus’ Position als »Widersacher der Götter« (Euripides/ Werle 2001, 20) wird noch einmal deutlich festgehalten. Dionysos holt zum Schlag aus. In einem tranceartigen Austausch mit dem Chor spricht er in Form einer allgegenwärtigen Stimme erstmals direkt als Gott und nicht über die vermittelnde Gestalt des Priesters. Er lässt den Palast in sich zusammenstürzen und kommt wieder in menschlicher Gestalt aus der Asche hervor  : eine deutliche Anspielung auf den Geburtsmythos und die Asche der Titanen. Er berichtet dem erleichterten Chor von einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Gott und König  : Indem sich Dionysos erst als Lichtgestalt, später als Stier dem Pentheus zeigte, lockte er ihn aus der Reserve, provozierte ihn zu immer wahnhafterem, verbissenem Zorn und schuf somit die Angriffsfläche für seine finale Betörung.

Provokation und Reaktion Vor der Einleitung des letzten Aktes betritt Pentheus sichtlich erschöpft die Bühne und trifft auf einen Weidebauern, der in den Bergen die Bacchantinnen in Aktion beobachten konnte. Dieser Botenbericht gibt späten Aufschluss über Struktur und Rituale der aus Frauen bestehenden Parallelgesellschaft. Die Beobachtungen lassen sich in fünf Etappen unterteilen  : 1. Heimlich beobachtet von den Weidebauern schlafen die Bakchen im Schatten von Fichten, unterteilt in drei Schwärme. Jeder Schwarm untersteht der Führung einer der Kadmostöchter Ino, Agaue und Autonoé. Dass die Königstöchter auch in den Bergen in der Funktion von Hohepriesterinnen die Leitung übernehmen, lässt auf strukturelle Parallelitäten zwischen der konventionellen Gesellschaft Thebens und der Frauengemeinschaft schließen. Die Fichte findet im Drama zumeist Verwendung als schattenspendendes Dach und mit ihrer phallischen Symbolik einen Bezug zum über die Frauen wachenden Gott. Hier schon weist der Bote darauf hin, dass die Vermutung des Pentheus, die 160

Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides

Frauen würden in rauschenden Weinfesten sexuelle Exzesse feiern, ein Irrglaube sei. 2. Aufgeweckt durch das Brüllen des Viehs, das die Weidebauern mit sich führen, beginnt Agaue, die Mutter des Pentheus, einen Weckruf. Als Mutter des amtierenden Königs nimmt sie auch unter den Schwestern und in der gesamten Gemeinschaft eine zentrale Position ein. 3. Nach dem allgemeinen Erwachen beginnt der rituelle Alltag. Die Frauen schmücken sich mit Efeu, Blüten, Blättern und Rehkleidern. Lebendige Schlangen dienen ihnen dabei als Gürtel. Frauen, die ihre Neugeborenen in Theben zurückgelassen haben, säugen junge Wölfe und Rehkitze. Es wird eine deutliche Symbiose mit der lebendigen Umwelt eingegangen. Grenzen zwischen Mensch und Natur verschwimmen. Die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, wird zum selten genutzten Relikt der thebanischen Vergangenheit. 4. Nach Aktivierung der lebendigen Umwelt folgt nun auch die Einbeziehung der nicht lebenden Natur durch Erschaffung von Quellen mit Hilfe des Efeustabs, der als magisches Instrument dem Dionysos zugeschrieben wird. Aus Steinen und Boden fließen Wasser, Wein, Milch und Honig. 5. Es folgen rituelle Tänze, durch deren Trance Dionysos in die Körper der Frauen und Tiere eintritt (vgl. Euripides/Werle 2001, 39 ff.). Nach der reinen Beobachtung folgt nun der Eingriff der Weidebauern in das System der Bacchantinnen. Sie fassen den Plan, die Mutter des Pentheus, Agaue, gefangen zu nehmen und sie zurück nach Theben zu führen. Der Versuch, sie zu ergreifen, stellt die zündende Provokation dar, die das Gleichgewicht der Weihe zum Kippen bringt. Agaue ruft die Bakchen auf, die Männer zu jagen. Als diese entwischen, stürzen sich die Frauen auf das Weidevieh. Das vom Mensch kultivierte Tier dient hier als Ersatz für die geflohenen Männer und symbolisiert auch die eigene kulturelle Vergangenheit der Frauen. Sie zerreißen die Kühe mit bloßen Händen. Bis zu diesem Zeitpunkt war eine friedliche Koexistenz von Bacchantinnen und Thebanern nicht ausgeschlossen. Das Eindringen der Männer in die Weihestätte und die Provokation der versuchten Entführung Agaues haben einen nicht mehr aufzuhaltenden Stein ins Rollen gebracht. Mit der Unterbrechung des Tanzes haben sie auch die Abfolge des Rituals gestört. Die durch den Kultus kontrollierte potenzielle Energie wird nun freigesetzt. Das Tieropfer, von dem bisher im Drama keine Rede war, wird geboren. Auf den versuchten Raub der Agaue reagieren die Bakchen mit ebendiesem Mittel. Angestachelt durch die erste Bluttat, fallen die Frauen in die umgebenen Städte ein, plündern Güter und rauben Kinder. Das aktive Eindringen in urbane 161

Steffen Jäger

Räume stellt eine neue Etappe im Selbstbild der Frauengemeinschaft dar. Waren sie bis jetzt vor allem der Zelebration des Gottes gewidmet, beginnen sie nun erste kriegerische Tätigkeiten. Dabei stehen die Bakchen unter dem Schutz des Dionysos. So beschreibt der Bote unter anderem, dass jegliches Gut, das sie sich während des Überfalls auf die Schultern legen, auf magische Weise dort haften bleibt. Erst als die Städter sich mit Waffen gegen die Bakchen zur Wehr setzen, kehrt sich der Zorn der Frauen auch gegen die Männer. Doch unter dem Schutz des Gottes wird keine von ihnen verletzt. Die Städter allerdings werden verwundet zurückgelassen. Der Botenbericht endet mit der Rückkehr der Bacchantinnen an ihren Weiheplatz, wo sie sich an den heraufbeschworenen Quellen vom Blut reinwaschen und Schlangen ihnen den Schweiß von den Lippen lecken. Der Rausch endet dort, wo er begonnen hat  : in totaler Verschmelzung mit der Natur.

Die Umkehrung der Rollen In den Trümmern seines zerstörten Palastes scheint Pentheus durch diesen Botenbericht neue Energie zugewinnen. Faszination für und Zorn auf die Bakchen lassen in ihm den Wunsch, sie gefangen zu nehmen, zu einem zwanghaften Drang wachsen. Er wurde bereits bloßgestellt, verhöhnt, sein Geburtshaus dem Boden gleichgemacht – und all diese Rückschläge ohne das kleinste Anzeichen, Theben wieder in die ursprüngliche Ordnung zurückzuversetzen. Mit Soldaten in die Berge zu marschieren und ein Blutbad zu hinterlassenist die letzte Machtdemonstration, die ihm übrig zu bleiben scheint. Dass es ausgerechnet die Frauen der Stadt sind, die seine Regierung zu Fall bringen, ist ihm ein besonderer Dorn im Auge. Es übersteigt das Maß / Wenn wir von Frauen dulden, was uns da geschieht. (Euripides/Werle 2001, 28 f.)

Der als Priester verkleidete Dionysos rät zu einer anderen, unblutigen List. Er nutzt die Besessenheit des Pentheus, die sündigen Frauen beobachten zu wollen, aus und überzeugt ihn, sich im Versteck der Fichten den Frauen zu nähern und die angeblichen Weingelage und sexuellen Ausschreitungen selbst anzusehen. Einst rational kühl, jetzt sprunghaft und unberechenbar getrieben, kann der 162

Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides

König diesem Vorschlag nicht widerstehen. In einem zweiten Schritt überzeugt Dionysos ihn sogar, sich zum Selbstschutz Frauenkleider anzuziehen, damit er im Falle seiner Entdeckung mit dem Leben davonkommt. Nach einigem Zögern (»Da schäm ich mich. […] Mir Weiberkleider anzuziehen vermag ich nicht.« [Euripides/Werle 2001, 30]) lässt er sich doch überzeugen und ausgerechnet Dionysos schmückt ihn mit Kleidern, Kopfbinde und Efeustab. An den Chor gerichtet verrät Dionysos in seiner Priesterrolle die grausame Absicht  : Ihr Frauen, dieser Mann ist jetzt im Netz. Er sucht die Bakchen auf und büßt es durch den Tod. Dionysos, ans Werk nun, denn du bist nicht fern. Laß uns ihn strafen  ; Bring ihn erst durch den Verstand Durch einen leichten Wahn. (Euripides/Werle 2001, 31)

In voller Kostümierung und hypnotisch verblendet tritt Pentheus vor die Bürger von Theben. Der erste Schritt der göttlichen Rache, den König Pentheus vor dem eigenen Volk zu verspotten, ist hiermit getan. Sein Blick hat sich verwandelt, sein Zorn sich gelegt und er scheint die Welt ein allererstes Mal zu betrachten. Er beschreibt, zwei Sonnen zu sehen und zwei Städte Theben – wie die beiden Seiten einer Münze. Dionysos sieht er als gehörnten Stier. Der Zauber des Gottes hat ihn nun vollständig in Besitz genommen. Und in diesem Moment der stärksten Verblendung sieht er die Wahrheit – die Tiergestalt des Gottes und die gespaltene Stadt. Der am Anfang vor Männlichkeit strotzende König beginnt seinen Eroberungszug in Frauenkleidern. Dionysos kam als Fremder in seine ursprüngliche Heimatstadt, Pentheus wird seine letzten Schritte als Entfremdeter zurücklegen. Darin sieht Dionysos eine Gesundung. Vor der Abreise führen die Antagonisten einen zweideutigen Dialog, in dem Dionysos auf den Tod des Pentheus, jener aber auf seine siegreiche Rückkehr anspielt  : Dionysos Du kehrst zurück getragen. Pentheus Süßes kündest du. Dionysos Auf deiner Mutter Arm. Pentheus Verwöhnen läßt du mich. Dionysos Verwöhnen auf besondre Art. Pentheus Mich trifft, was meiner Wert. Dionysos Gewaltiges wirst du Gewaltiger erfahren. (Euripides/Werle 2001, 35 f.) 163

Steffen Jäger

Wie im griechischen Drama üblich erfahren die ZuschauerInnen die nun folgenden, explosiven Geschehnisse nicht direkt, sondern über die Mittlerfigur ­eines Boten. Der Bericht zählt zu den grausamsten Handlungsbeschreibungen der Dramengeschichte  : Als der Trupp in der Nähe des Frauenlagers ankommt, kann Pentheus die Bakchen nicht erblicken. Dionysos zieht unter dem Vorwand, es sei ein besserer Platz zum Ausspähen, die Spitze einer riesigen Fichte bis auf den Boden, setzt Pentheus auf den Wipfel und neigt den Baum vorsichtig in die Senkrechte zurück. Auch hier wird die phallische Anspielung der Fichte deutlich. Der Herrscher ist seinem Ziel so nah wie noch nie, doch jeglicher Männlichkeit enthoben thront er in Frauenkleidern auf der Spitze desgleichen Baumes, der bisher als Dionysos’ schützende Hand über die Bakchen gewacht hat. Daraufhin verschwindet der Gott. Die Hülle des Priesters hat nun all ihre Aufgaben erfüllt und wird von nun an nicht mehr von ihm benötigt. Stattdessen ertönt zum zweiten Mal die allgegenwärtige Stimme des Gottes und richtet sich unversehens an die Bacchantinnen. Er gibt den Hochsitz des Pentheus preis, verrät ihn als Anstifter der Angriffe auf die dionysischen Weihen und befiehlt den Frauen, ihn zu bestrafen. Unter Führung von Pentheus’ Mutter Agaue stürmen die Bakchen auf die Fichte zu und bewerfen den König mit Steinen und Ästen, um ihn zum Absturz zu bringen. Weil er sich auf der Baumkrone halten kann, packen die Frauen den Stamm und reißen ihn mit bloßen Händen aus dem Boden. Pentheus stürzt und landet zu Füßen der Bakchen. Er versucht, sich von seinem Kostüm zu befreien und seiner Mutter zu erkennen zu geben. Doch unter Agaues Anleitung stürzen sich die Bakchen auf den König und zerreißen seinen Leib. Pentheus ist vom Jäger zur Beute geworden. Dionysos offenbart sich als der eigentlich Jagende. Der König zog aus, um sich als Voyeur das obszöne Treiben der Bakchen anzusehen, doch nun wohnt Dionysos dem qualvollen Tod seines Widersachers bei. Pentheus’ Großvater, der alte König Kadmos, sammelt die Leichenteile seines Enkels unter Mühen auf und lässt sie nach Theben bringen. Dort werden sie zusammengelegt. Den letzten Teil jedoch, den Kopf des Pentheus, bringt Agaue, im Glauben, sie hätte einen Löwen erjagt, selbst in die Stadt und lädt die Thebaner ein, das Fleisch des Tieres mit ihr zu verspeisen. Die von Dionysos inszenierte Strafe stellt zugleich eine Wiederholung seines eigenen Schicksals dar und verrät einiges über die Konkurrenz zu seinem Cousin. Beide entstammen derselben Generation. Beide haben völlig unterschiedliche Lebenswege hinter sich und kämpften – jeweils im Glauben, das göttliche Recht auf ihrer Seite zu haben – vor den Augen des Chores (und im Theater  : der ZuschauerInnen) um ihre Heimatstadt. Durch den Sparagmos und das an164

Geschlecht und Ekstase in den »Bakchen« des Euripides

schließende Zusammenlegen wird eine tatsächliche Vergleichbarkeit der beiden erst möglich. Ein Vergleich, den Dionysos für sich entscheiden kann, denn nach dem Erleiden dieses Schicksals existiert er noch, Pentheus aber wird nicht wieder auferstehen. Die von Agaue angekündigte Omophagie (das Essen des rohen Fleisches nach dem Zerreißen der Beute) ähnelt einer inzestuösen Handlung und ist doch zugleich ihre Umkehrung. Vor dem Mutter-Sohn-Inzest im antiken Kanon steht die Ausschaltung des König-Vaters. Daraufhin folgt die Vereinigung von Mutter und Sohn und damit ein Generationswechsel, der nur zur Hälfte als solcher bezeichnet werden kann, da die Mutter als Vertreterin der Elterngeneration noch besteht. Die Sünde des Inzests verfolgt in diesen Fällen die betroffene Familie für viele Generationen. Die Omophagie wiederum, die Aufnahme des Sohnes in den Leib der Mutter, ist die Umkehrung der Geburt. Die anfänglich das Kind säugende Mutter ernährt sich nun vom Fleisch des Sohnes und nimmt somit das von ihr in die Welt geborene Kind wieder in sich auf. Die Parallelen zwischen dem Schicksal des Pentheus und jenem des Dionysos lassen für einen Moment die Illusion eines Neuanfangs, einer Wiedergeburt zu. Doch zu der Omophagie wird es nicht kommen. Angetrieben durch ihren Vater Kadmos erkennt Agaue das Antlitz ihres Sohnes. Im Moment der Erkenntnis wird sie sich der Unumkehrbarkeit des Geschehens bewusst. Der Versuch, den Körper zusammenzulegen (und damit der Wiedererschaffung des Pentheus), ist gescheitert. Kadmos verbannt seine Töchter aus Theben und bleibt als Einziger der Königsfamilie in der Stadt. Dionysos, der sich aus der Distanz das Geschehen angesehen hat, zieht das bittere Resümee  : […] hättet ihr Besonnenheit Gezeigt, wo ihrs nicht wolltet, hättet ihr den Sohn des Zeus Zum Mitstreiter gewonnen und wärt jetzt im Glück. (Euripides/Werle 2001, 50)

Literatur Judith Behnk (2009), Dionysos und seine Gefolgschaft. Hamburg Anton F. Harald Bierl (1991), Dionysos und die griechische Tragödie  : politische und »metatheatrale« Aspekte im Text. Tübingen Marcel Detienne (1995), Dionysos – Göttliche Wildheit. München

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Euripides (2001), Die Bakchen, übers. von Simon Werle. Frankfurt am Main Arthur Evans (1988), The God of Ecstasy  : Sex-Roles and the Madness of Dionysos. New York Michael Grant, John Hazel (2003 [1980]), Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München Karl Kerényi (1998), Dionysos – Urbild des unzerstörbaren Lebens. Stuttgart Jan Kott (1991 [1975]), Das Gott-Essen oder die Bakchen. Berlin Friedrich Nietzsche (2007 [1980]), Kritische Studienausgabe, Band I. München Walter F. Otto (2011), Dionysos. Frankfurt am Main Jochen Schmidt, Ute Schmidt-Berger (Hg.) (2008), Mythos Dionysos. Ditzingen

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Isabelle Gustorff

»Die Bühne als Kartographie des Schicksals« – Die Bühnen des sirene Operntheaters SpielRäume, Vorbemerkung Spielräume, Räume sind das Thema dieser Reihe und das Spiel darin, eine Kategorie der Bewegung und der Zeit  : Der Titel verschränkt in einem Wort die ganze Spannweite eines weit führenden Diskurses, der die Kulturwissenschaften in den letzten zwanzig Jahren beschäftigt.1 Hatte man sich aus naheliegenden Gründen zunächst nach 1945 vom Thema des Raumes abgewandt, erreichte insbesondere über die Rezeption von Arbeiten wie denen von Foucault (1993), Augé (2010) und Lefèbvre (1974) die Reflexion über Räume in einer Zeit ihren Höhepunkt, die einerseits von zahllosen Erfahrungen der Ortlosigkeit, der Migration und des Verlustes von Territorien geprägt ist und andererseits die Erfahrung gänzlich neuer virtueller und medialer Räume integriert, beides verbunden mit der Wahrnehmung fortschreitender Beschleunigung in allen Lebensbereichen. An der Berliner Akademie der Künste fand 2004 ein Symposion zum ­»Topos Raum« statt, in dem die Veranstalter formulierten  : [Dabei] spielt die Einbildungskraft für fingierte, immaterielle und virtuelle Räume eine zunehmende Rolle  ; kein Wunder angesichts der zunehmenden Neutralisierung, Umwidmung und Diskontinuität der realen Räume und im Angesicht globaler Entgrenzungsprozesse. So antworten die Künste auf die mächtig wirkenden Zentrifugalkräfte der Zeit mit Strategien der Verlangsamung, Verkleinerung, der symbolischen Regionalisierung und Territorialisierung. Der Körper in seiner plastischen Dimension wird zum Gravitationszentrum. Von hier aus werden Räume ausgemessen und besetzt, in denen Sinne und Einbildungskraft Anhaltspunkte finden können. (Lammert 2004, 10)

Diese Beobachtung scheint mir für die Arbeitsweise und Intentionen des sirene Operntheaters in vielerlei Hinsicht zutreffend zu sein. Das sirene Operntheater wurde 1998 von der Autorin und Regisseurin Kristine Tornquist und dem Komponisten und Dirigenten Jury Everhartz gegründet. Seither realisierten sie zahlreiche Uraufführungen von Opern und Kurzopern, in Zusammenarbeit mit 167

Isabelle Gustorff

einer ganzen Reihe von AutorInnen und KomponistInnen an unterschiedlichen Spielorten.2 2011 schloss sich das sirene Operntheater mit einigen Kollegen zum Verband der freien Wiener Musiktheater zusammen und veröffentlichte den programmatischen Band »Fragen an das Musiktheater« (Everhartz/Tornquist 2012), in dem die sehr heterogenen künstlerischen Positionen der dreizehn beteiligten Gruppen vorgestellt wurden. »Strategien der Verkleinerung« ergriff die sirene, indem sie sich insbesondere der Kurzoper zuwendete, die sie neuschöpfend »Operellen« nennt, wie sie in mehreren Zyklen3 aufgeführt wurden, aber auch indem große Opernprojekte auf die Schultern verschiedener Komponisten verteilt wurden, wie z. B. die Übertragung des Romans »Nachts unter der steinernen Brücke« von Leo Perutz (1994) in das Medium der Oper. Wie der »Körper in seiner plastischen Dimension« auch konkret zum raumkonstituierenden Moment auf der Bühne wird, soll an einzelnen Beispielen gezeigt werden.

»Die Bühne als Kartographie des Schicksals« »Die Bühne als Kartographie des Schicksals«, ein Titel von Kristine Tornquist (2013), erfasst in wenigen Worten ein ästhetisches Programm, dem das sirene Operntheater verpflichtet ist. Die Bühne ist der Spielraum. Aber welches Schicksal ist gemeint und wie kann eine Kartographie davon aussehen, eine Verortung  ? Weit mehr als um eine pragmatische Entscheidung über die Gestaltung von Räumen geht es dabei um ein erzähltechnisches, ein poetologisches Konzept. Spricht man vom Bühnenraum, hat man es ja sofort mit einem Spannungsfeld zu tun, das besteht zwischen dem realen Raum, dem Theater oder irgendeinem anderen Raum, in dem gespielt wird, und dem imaginierten Raum, in dem das Stück spielt. Ganz analog zu der Spannung oder Diskrepanz zwischen der realen Zeit und der Zeit des Stückes, also der Zeit, die verstreicht, während wir das Spiel sehen, und der davon meist vollkommen abgelösten Zeit, die im Stück selbst erzählt wird. Beides überlagert einander und besteht nebeneinander. So, wie wir wissen, dass die Schauspielerin bzw. der Schauspieler nicht identisch ist mit der im Stück dargestellten Figur, so ist der Raum des Stückes nicht identisch mit dem Realraum. Jens Roselt spricht in seiner Phänomenologie des Theaters von einer grundsätzlichen Doppeldeutigkeit von realem Raum und erlebtem Raum  : 168

»Die Bühne als Kartographie des Schicksals« – Die Bühnen des sirene Operntheaters

Zum einen ist der Raum Voraussetzung von Theater. Dies ruft bereits die Formel des hic et nunc auf. »Hier« deutet eben auf einen bestimmten Ort hin. Zum andern ist der Raum auch Produkt theatraler Vorgänge, er wird durch die Handlungen der TeilnehmerInnen einer Aufführung erst konstituiert. Zum einen begegnet der Raum als statisches Gebilde, zum anderen wird er während der Aufführung erst performativ hervorgebracht. (Roselt 2008, 68)

Die Oper als Kunstform entstand bekanntlich in einer Epoche, in der sich wie nie zuvor raumgreifende künstlerische Ensembles entfalteten, die die optische Verlängerung des Realraumes im Bild problematisierten.4 Die Zentralperspektive bezieht den Betrachter oder die Betrachterin in einer räumlich präzise festgelegten Weise mit in das Bild ein, was dann für lange Zeit analog dazu auch die Guckkasten- und Kulissenbühne tat, die gleichfalls eine Öffnung des Realraumes vorspiegelte. Und wie auch die illusionistische Malerei nur noch eine von vielen ist, ist natürlich heute der scheinbar reale Raum einer Guckkastenbühne nur noch eine von unendlich vielen Möglichkeiten, wenn auch noch immer die häufigste. Die Raumillusion in den Arbeiten von Kristine Tornquist und der sirene hingegen entsteht im Spiel – durch die Präsenz der DarstellerInnen,5 die Gestaltung des Raumes mittels subtiler Lichtregie und die Inszenierung mit sparsamen, oft symbolisch aufgeladenen Objekten. Auf die klassische Raumillusion wird dagegen zumeist verzichtet. In der jüngsten Produktion, der Oper »MarieLuise«, war z. B. die Bühne eine flächige Tafel, auf der einzelne Bildfelder auf- und zugeschoben werden konnten. Sie öffneten sich wie Illustrationsfelder zur Rahmenerzählung, die von einem Schauspieler, der Figur eines Professors, erzählt wurde. Die schmale, tafelartige Bühne stand unvermittelt im Theaterraum, in dem sich der Schauspieler während des gesamten Verlaufs der Oper frei bewegte. In ihren Inszenierungen in der großen Expedithalle der Ankerbrotfabrik in Wien-Favoriten6 wiederum verzichtete Kristine Tornquist auf eine räumliche Begrenzung der Bühne und versetzte die Opernszene auf einzelne, zum Teil weit im Raum verteilte Spielinseln. Die BühnengestalterInnen des sirene Operntheaters sind sich des Spannungsfeldes zwischen Realraum und Bühne immer bewusst und machen es sich auf vielfältige Weise erzähltechnisch zunutze. Die Bühne ist in Kristine Tornquists Arbeiten immer Teil einer zu erzählenden Geschichte, Bühnengestaltung und Regie sind von Anfang an unzertrennlich. Ab wann ist ein Raum eine Bühne  ? Dazu braucht es nicht mehr als eine klare Verabredung, hier ist das Theater, die Bühne, es reicht, wenn ein einziger Mensch auf der Bühne steht und etwas macht  : Nichts  ! Das ist bereits das Spiel und nicht 169

Isabelle Gustorff

Abb.1  : »MarieLuise«, Oper von Gernot Schedlberger, Regie und Libretto von Kristine Tornquist, sirene Operntheater im Palais Kabelwerk, Wien, 2013. Iwona Sakowicz (Marie), Salina Aleksandrova (Luise)

Abb. 2  : Jakob Scheid beim Aufbau der Bühne für »Nachts  !«, Opernzyklus nach dem Roman »Nachts unter der steinernen Brücke« von Leo Perutz, Regie und Libretti von Kristine Tornquist, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009

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»Die Bühne als Kartographie des Schicksals« – Die Bühnen des sirene Operntheaters

das einfachste, es gehört zum Allerschwersten und ist für Kristine Tornquist (2013) ein »Kernpunkt des Theaters – die Spannung, dass jemand auftritt«. »Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht  ; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.« So schreibt Peter Brook (1997, 9) in seinem viel zitierten Text »Der leere Raum«. Unabdingbar notwendig allerdings sind die Zuschauerin und der Zuschauer und ihre Bereitschaft, sich dem Sehen auszusetzen. Beide, SpielerIn und ZuschauerIn, sind für die Konstitution des Bühnenraumes gleichermaßen unverzichtbar. Dabei bleibt auch bei Brook allerdings zunächst unerwähnt, dass ja ein leerer Raum allein schon eine Illusion ist, hinter dem Nichts ist nicht nichts, keine isolierte Monade, auch eine nackte Bühne ist umgeben vom Raum, der seinerseits Geschichte und Identität mit sich trägt. Soll sich die Wahrnehmung allein auf den definierten Bühnenraum beziehen, ist es schon erforderlich, dass die Zuschauerin, der Zuschauer den Realraum aktiv ausblendet. Oder, dass die Bühnengestaltung den Realraum reflektiert und gestaltend aufgreift, wofür sich die sirene entscheidet. Denn »Rätselhaft ist nicht erst das Unsichtbare, sondern schon das Sichtbare. […] Der Künstler macht nicht nur sichtbar, sondern er macht auch sehend, und zwar andere und zunächst sich selbst.« (Waldenfels 1995, 233) Die Betrachter, Zuschauerinnen und Zuschauer, bringen in das Theater die Fülle der Vorerfahrungen mit, die sie mit Theater und Kunst gemacht haben, sodass sich Regie auch vor die Aufgabe gestellt sieht, die Köpfe insofern leer zu räumen, als sie zum Sehen erst wieder bereit werden. Das kann mittels Humor oder Ironie entstehen, als Konfrontation oder als Einladung. Wobei diese letzte Variante nicht nur die höflichste ist, sondern auch jene, die die Zuschauerin oder den Zuschauer als Gast zuallererst ernst nimmt. Es gibt inzwischen im Kunstdiskurs des letzten Jahrzehnts wohl keinen größeren Gemeinplatz als die Rede von den veränderten Sichtweisen.7 Anscheinend werden permanent unsere Sichtweisen durcheinandergewirbelt, sodass sich eigentlich eine große Ratlosigkeit einstellen müsste. Das sirene Operntheater tut dies nun gerade nicht. Es greift vielmehr unsere Sehgewohnheiten und Theatererwartungen auf, kommentiert sie ironisch und baut mit ihnen ihre Bilder und Figurenwelt neu auf. Indem etwa kurzerhand das Publikum in einem konventionellen Theaterraum, wie dem Jugendstiltheater von Otto Wagner auf der Baumgartnerhöhe8, auf der Bühne sitzt und das Spiel im eigentlichen Publikumsbereich beginnt, der sich von allen Stühlen leer geräumt präsentiert, stellt sich eine Bereitschaft zum Hinsehen ein, die die Konzentration auf das eigentliche Geschehen erhöht. Dem sirene Operntheater widerstrebt es, sich scheinbar neutralen Theaterräumen einfach auszusetzen, die 171

Isabelle Gustorff

Abb. 3  : Kristine Tornquist, Titelbild der Oper »Circus« von Jury Everhartz, Libretto und Regie von Kristine Tornquist, sirene Operntheater im Jugendstiltheater, Wien, 2006

sehr stark die gewohnte Erwartungshaltung des Zuschauers zu bedienen scheinen, sodass oft z. B. die Bühne im Raum gleich einmal leicht verdreht aufgestellt wird, um damit unmerklich einen Perspektivwechsel zu erzwingen. Vielfach werden die Bühnenmechanik und die Bühnentechnik offengelegt, um das Spiel im Spiel intelligent zu vermitteln. In der Regie von Kristine Tornquist wird immer mit vielen vertrauten Symbolen gearbeitet, mit denen sie ihren Figuren Tiefe gibt und die Erzählung mit Schichten an Bedeutung anreichert. Ebenso wie in ihren Texten überlagern auch in ihren Regiearbeiten Bedeutungsebenen, Mythen, Symbole und Bilder den oberflächlichen Schein der fiktionalen Realität. Wenn im Stück »Circus« (2006) z. B. Menschen als Tiere und Tiere als Menschen auftreten, eröffnen sich weite Felder der ikonographischen Betrachtung  : Auf dem Titelbild zu dieser Oper sieht man Kristine Tornquists Profilportrait als Maske, die sich ein Affe vor das Gesicht hält. Dies ist zunächst eine Anspielung auf die Metamorphosen, die sich im Stück ereignen. Die Maske symbolisiert an sich schon die Künste, zugleich 172

»Die Bühne als Kartographie des Schicksals« – Die Bühnen des sirene Operntheaters

schwingt in diesem Selbstportrait eine reiche, bis in die Kunst der Renaissance zurückweisende Bildtradition mit, die sich auf eine Wendung von Boccaccio zurückführen lässt  : der Topos von der Kunst als Affe der Natur, »ars simia naturae«9, wie der Affe den Menschen nachahme, sei der Künstler, der die Natur nachzubilden versucht. Die Kunstgeschichte kennt etliche Selbstbildnisse mit Affen als emblematischen Tieren.10 Die Parabel »Circus« kann also durchaus mit autobiographischen Aspekten und als Geschichte über die KünsterInnen in der Welt gelesen werden. Das Spiel der sich überlagernden Bedeutungen setzt sich auch in der Figurenkonzeption fort  : Geschlechteridentitäten werden überlagert, wie z. B. in der Oper »Der Heinrich aus der Hölle« (2009) aus »Nachts  !«, wo die männliche Hauptrolle (Heinrich) von einem Countertenor, seine Mutter aber von einem Bass verkörpert wird. Im selben Stück stricken zwei unheilvolle (männliche) Hofschranzen, die wiederum von Sängerinnen dargestellt werden, ein intrigantes Geflecht. Dieses Konzept schließt natürlich an eine lange Tradition11 der Operngeschichte an, die zahlreiche sogenannte »Hosenrollen« 12 kennt, wie auch die changierende Erotik der hohen Männerstimmen von Kastraten und Countertenören, welche die Barockoper durchzieht13. Wenn man sich mit einer ikonographischen Sichtweise Kristine Tornquists Arbeiten nähert, ergeben sich oftmals Bedeutungskontrapunkte, die eine erste Interpretation nuancieren. Die Sehgewohnheiten sind ja unser kulturelles Wissen, der Humus, auf dem die Texte und Bilder gedeihen können. Wenn wir also einen Raum, ein Theater betreten, dann kann auf dieser Grundlage ein Verständnis des Raumes der Erzählung, des Stückes aufbauen. Der vorhandene Realraum muss nicht künstlich ausgeblendet werden, ebenso wenig wie die Erinnerung der ZuschauerInnen, ihre Herkunft und Identität. Die Produktionen des sirene Operntheaters verstehen Oper bei aller Verschiedenheit14 als erzählendes Musiktheater, sie vereint ein Bekenntnis zur Geschichte, zum Epischen und sie nehmen gleichzeitig Abstand zu vielen modischen Ansätzen der Fragmentierung.15 So beschreibt Kristine Tornquist ihre Arbeit in dem Text »Die Bühne als Kartographie des Schicksals«16  : Tatsächlich werden auf den Bühnen im Allgemeinen (und im Fall der Oper immer) Stücke gespielt, deren Zeit, Topos und Ende bereits feststehen, wenn sie beginnen. Das heißt, den Figuren vor den Augen des Publikums bleibt in Wahrheit keine Wahl, keinerlei Freiheit, sie befinden sich völlig in der Zwangsjacke der Geschichte, deren Ausgang sie nicht ändern können, sondern sogar gezielt herbeiführen müssen. Deshalb betrachte ich Figuren nicht als unabhängige selbstständige 173

Isabelle Gustorff

Wesen, sondern als Funktionen, die sie innerhalb der Geschichte zur Gesamtbewegung erfüllen. Was ist das Opfer ohne den Täter  ? Was ist eine Gesellschaft ohne den Einzelnen  ? Was ist die Liebe ohne den Widerstand  ? Was ist die Entscheidung ohne die Zweifel  ? Jedenfalls keine Geschichte (in dem traditionellen Sinn der Dramaturgie, den ich hier meine). Insofern sind die Figuren einer Geschichte auch nur im Zusammenhang miteinander zu betrachten, sie sind die einzelnen widerstrebenden Gewalten innerhalb der Geschichte, sozusagen als widerstreitende Charakterzüge einer einzigen Figur, der Hauptfigur – der Geschichte. Auf der Bühne herrscht aus diesen medienimmanenten Gründen per se die Beschwörung des Schicksals. Die Figur ist, da der Autor und der Regisseur das Ende einer Geschichte bereits entschieden haben, einem unausweichlichen Schicksal unterworfen. (Das darf man als Künstler bei aller Illusionskonstruktion nie vergessen  !) Als Regisseurin zeige ich diesen Umstand gerne offen her – denn diese Gefangenschaft im Schicksal scheint mir sehr viel Raum für Mit-Leid zu eröffnen. Auf der psychologisch inszenierten Bühne und vor allem im Film wird diese Konsequenz vertuscht, hier wird von der einzelnen Figur ausgehend die Illusion eines offenen Ausgangs erzeugt. Eine Illusion. Auf der Opernbühne gelingt diese Art des Theaters nicht so einfach, da ist das Herstellen dieser Illusion sehr viel schwerer. Die Partitur als getakteter Ablaufplan macht offensichtlich, dass über den Figuren eine höhere Macht waltet, der sie nicht entkommen. Sichtbares Zeichen davon ist der Dirigent, er ist stets präsent, und er ist ein Stellvertreter der Autoren. Er ist der Priester des Weltgeistes, der sprichwörtlich jeden Atemzug vorgibt, den Figuren Leben einhaucht und ihre Schritte taktet und wie ein unausweichlicher Sog die Figuren vorwärtszieht. In seiner Anwesenheit (und der Dirigent oder die Musikertruppe sind eigentlich im Musiktheater meistens sichtbar, in der Oper sowieso) wird die Illusion, die Figuren bei einem freien Spiel zu beobachten, eine Willenssache, die nur hartgesottene Opernfanatiker schaffen. Natürlich kann man für ein Publikum, das dazu entschlossen ist, auch auf der Opernbühne Momente schaffen, in denen die Figuren frei scheinen, aber für den, der der Oper gegenüber nicht aufgeschlossen ist, wird die Illusion brüchig sein und nicht funktionieren. Allein schon der Standardeinwand  : Warum singt denn die  ? Die für mich attraktivere Variante ist, die besonderen Bedingungen der Oper zu akzeptieren und die Möglichkeiten auf der Bühne so zu nützen, wie sie offensichtlich erscheinen  : als ein mechanisch ablaufendes Werk mit darin gefangenen Gefühlen bzw. einer aus den Ritzen und Bruchstellen aufblitzenden ausströmenden widerständigen Seele.« (Tornquist 2013, o. S.)

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»Die Bühne als Kartographie des Schicksals« – Die Bühnen des sirene Operntheaters

Die Bühne also eine Verortung des Schicksals, einer vorherbestimmten Geschichte, mit einem unaufhaltsamen Verlauf, der nicht in den Händen der Akteure liegt, der SchauspielerInnen oder SängerInnen in diesem Fall, sondern von einer unsichtbaren Hand geführt wird, erzählt, gedeutet, von der Autorin, der Regisseurin, in mancher Hinsicht auch von der Dirigentin  ? Indem die reale Architektur, der vorgefundene Raum, in der Inszenierung sichtbar und präsent bleibt, wird sie Teil der Geschichte selbst, wie eine Leinwand der Malerei dient, eine Folie der Historizität, die die Kunst reflektiert.

Die Bühnen des sirene Operntheaters Von den Bühnen des sirene Operntheaters muss man im Plural sprechen, schon allein, weil die sirene kein eigenes Haus hat, kein festes Theatergebäude, in dem sie beheimatet ist, sondern sich als freies Theater auch räumlich ungebunden immer wieder neue Spielstätten sucht. In der Tat ist diese Suche nach dem richtigen Ort ein nicht geringer Teil der Vorbereitung einer neuen Produktion. Für jedes Projekt begeben sich Jury Everhartz und Kristine Tornquist auf die Suche nach der passenden Spielstätte, bevorzugen dabei solche, die noch nicht oder lange nicht als Theater genutzt wurden, die in der Folge auch in ihrer Situation in der Stadt oft eine neue Bedeutung bekommen und in der öffentlichen Wahrnehmung aufgewertet werden. (Dass dabei gelegentlich auch ästhetische Kompromisse gemacht werden müssen, liegt in der Natur der ökonomischen Verhältnisse eines freien Theaters begründet.) Als nahezu idealer Ort hat sich in den letzten Jahren die große Expedithalle (Abb. 4) in der ehemaligen Ankerbrotfabrik in Wien-Favoriten erwiesen. Die 1912 errichtete Halle galt zu ihrer Entstehungszeit als einer der größten freitragenden Räume Europas. Die tragende Deckenkonstruktion mit den filigranen Brückentragwerken von über 40 Metern Spannweite ist eine technische Meisterleistung der in der Monarchie berühmten Stahlbaufirma Ignaz Gridl & Söhne.17 Das sirene Operntheater hat als erste Kompagnie dort Theater gezeigt, zwei Opernzyklen, 2009 das Festival »Nachts  !«, einen Opernzyklus nach dem Roman »Nachts unter der steinernen Brücke« von Leo Perutz, und 2011 »Alf leila wa leila«, einen Zyklus mit Opern nach Geschichten aus »Tausend und einer Nacht«. Beide Male führte Kristine Tornquist Regie und schrieb die Libretti, die von einer Reihe von Komponisten im Auftrag der sirene vertont wurden, jeweils lag die Gestaltung der Bühne in den Händen von Jakob Scheid, die Lichtgestaltung in denen von Edgar Aichinger, die Kostüme waren von Markus Kuscher. Produziert 175

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Abb. 4  : Expedithalle der Ankerbrotfabrik, Wien.

wurden beide Zyklen von Jury Everhartz. Diese KünstlerInnen bilden gewissermaßen das stilprägende Kernteam der sirene. Der außerordentlich weite, freie Raum der Halle in der Brotfabrik ermöglichte eine idealtypische Konstitution des sirene-Bühnenraumes mittels konzentrierter Spiel-Inseln, der Lichtgestaltung und der Präsenz und Körperlichkeit der SchauspielerInnen/SängerInnen. Die alte Industriearchitektur bleibt im Spiel sichtbar und wird ein wesentlicher Teil der Bühnengestaltung. Wie verwandelt sich eine leere Halle in eine Bühne und die Bühne in den Raum einer Geschichte  ? Alles beginnt mit einem Auftritt. Kristine Tornquist schreibt dazu  : Ein alter Traum von mir ist der endlose Auftritt vom Horizont her, der eine ruhige Ewigkeit dauert  – auf einer Open-air-Naturbühne, deren Ende der Bühne die Sichtweite des Publikums wäre. Einen schwachen Abklatsch davon konnten wir in der großen Expedithalle der Ankerfabrik bei »Das verzehrte Lichtlein«18 umsetzen, als ein Sänger während der gesamten Ouvertüre einfach nur langsam die 40 Meter von der Rückwand zum Publikum nach vorn kam, sodass er zum ersten Einsatz der Stimme vor dem Publikum stand. In diesem Fall enthüllte der Auftritt 176

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Abb. 5  : »Nachts unter der steinernen Brücke«, Oper von René Clemencic, Regie und Libretto von Kristine Tornquist, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009

nur nach und nach, wer einem da begegnen wird  : Aus 40 Metern Abstand sieht man kein Gesicht, man nahm nur die Silhouette des Kostüms und die schwerfällige Bewegung wahr, als Nächstes sah man Geschlecht und Atmosphäre des Gesichtes (ein Mann, er ist hager und grau), aber erst als die Figur nach eineinhalb Minuten auf sechs Meter Abstand dem Publikum nähergekommen war und einen Blick über die Tribüne schweifen ließ, erkannte man genau  : Das ist ein reicher Jude in der Renaissance, der Blut hustet und weiß, dass er am Ende des Stückes tot sein wird. Diese einfache Szene des langsamen Kennenlernens/Intimwerdens mit einer Figur beschäftigte das Publikum, die Zeichen nacheinander zu lesen, und gab der Musik Tiefe. Und ist eine Konzentration auf einen Kernpunkt des Theaters – die Spannung, dass jemand auftritt. (Tornquist 2013, o. S.)

In einer Oper beginnt das Spiel bereits mit dem Auftritt des Dirigenten oder der Dirigentin. So war in den sirene-Opern in der Ankerfabrik das Erscheinen des Dirigenten immer bereits ein inszenierter Teil des Stückes, besonders in dem Stück »Sarabande«19 vermittelte der Auftritt des Dirigenten dem Zuschauer ein Gefühl für den Raum, seine Weite und Dimension  : In »Sarabande« fuhr der Dirigent Jury Everhartz mit einem Fahrrad zum in der Mitte des Bühnenhinter177

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Abb. 6  : »Sarabande« (Zyklus »Nachts  !«), Oper von Wolfram Wagner, Regie und Libretto von Kristine Tornquist, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009. Dimitrij Solowjow als Rabbi Löw.

grundes platzierten Orchesterpodest. Ein Moment der Überraschung, der Heiterkeit im Publikum, der hübsche Kontrast zur Theaterkonvention, der gleichzeitig aber auch sofort die Dimension der Bühne verdeutlichte, die Zuschauer bekamen einen unmittelbaren Eindruck der Weite des Raumes. Das Licht war zunächst neutral, kühl, die alte Industriearchitektur der Halle mit ihren Spuren und Vernarbungen blieb sichtbar, wurde nicht ausgeblendet oder ganz verdunkelt. Der Realraum wurde sukzessive zum Bühnenraum, zum Teil des Stückes, der Erzählung, ab dem Moment, in dem der erste Sänger auftrat, deutlich und intensiv, wie selbstvergessen eine Melodie summend. Der Eindruck von einer Stadtarchitektur blieb erhalten, ohne konkrete Anhaltspunkte. Die Konzentration des Publikums auf das Spiel und den nahen Bühnenraum entstand allein durch die Präsenz des Darstellers, zunächst auch noch ohne Licht. Die ganze Halle war zu Beginn nicht künstlich beleuchtet, das natürlich dunkelblaue Dämmerlicht drang durch die matte Glasdecke in den Raum. Zu Beginn wusste der Zuschauer noch nicht, wo das Spiel zu verorten ist, man erkannte den Rabbi, die Zentralfigur des Romans von Perutz, an seiner charakteristischen Kleidung. In diesem Moment wendete er langsam den Blick nach 178

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Abb. 7  : »Die Sarabande« (Zyklus »Nachts  !«), Oper von Wolfram Wagner, Regie und Libretto von Kristine Tornquist, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009

oben und der Zuschauer verstand sofort, dass der Nachthimmel Prags vorgestellt wurde, wo, so viel war im Voraus gewusst, die Geschichte spielte. Während der Sänger langsam schreitend summend die Bühne querte und in sein Haus ging, das kein Haus war, sondern ein dafür vorgestellter Bereich der leeren Bühne, erkannte man die Verwandlung des Raumes durch Lichtkegel und Mobiliar, ein fahrbares Lesepult, an dem die Bühnenmaschinerie mit vielen Seilzügen befestigt ist. Rabbi Löw ist in dem Stück jene Figur, die den Verlauf der Geschichte durch Zauber beeinflusst und die Fäden der Handlung beieinander halten muss auf Gedeih und Verderb. Jakob Scheid setzt die zentrale erzähltechnische Funktion der Figur bildhaft um in eine Art Schaltzentrale der Bühnenmaschinerie, ein funktionales und inhaltliches Herzstück des Opernzyklus. Ein häufig vorkommendes Moment in den Arbeiten von Kristine Tornquist ist die Verwandlung auf der Bühne. In »Sarabande« zogen sich die SchauspielerInnen und SängerInnen auf der Bühne die historisierenden Kostüme an und betonten damit den abgeschlossenen Charakter der Geschichte, die innerhalb einer Rahmenhandlung erzählt wird. In den ersten Szenen der Oper begannen sie – aus der Sphäre der Erzählerfigur, des Rabbi Löw tretend – den Ballsaal erst 179

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spielerisch zu bilden. Das Konstrukt eines überdimensionierten Lüsters wurde mit Hilfe der offen sichtbaren Bühnenmaschinerie aus dem vorgestellten Zimmer des Rabbis heraus heruntergelassen, um dann nach und nach eingeschaltet zu werden. Die gemessen schreitenden Bewegungen der SchauspielerInnen ließen bereits den zeremoniellen Charakter der folgenden Ballszene vorausahnen. Eine vollkommen abstrakte Szene, aber Atmosphäre und Rhythmus eines historischen Raumes können assoziiert werden, ohne dass sie jemals simpel nachgebildet würden. Die Figuren bildeten im Spiel den Raum.

Raum und Gestik, Raum und Bewegung Welche Bedeutung Gestik und Bewegung für die Konstitution des Bühnenraumes haben, wird exemplarisch deutlich in einer Szene aus der Oper »Nachts unter der steinernen Brücke«20 (Abb. 8). Es handelt sich um die schicksalhafte Begegnung der Figuren der schönen Jüdin Esther, in die sich Kaiser Rudolph II. bei einem Besuch im jüdischen Stadtteil Prags verliebt, ohne zu wissen wer sie ist, und damit um den Beginn der Geschichte, die Leo Perutz’ Roman (1994) »Nachts unter der steinernen Brücke« erzählt. Kristine Tornquist ließ in ihrer Inszenierung die zarte, hell gekleidete Esther und die durch ein tragendes Gestell überdimensionierte, machtvolle Gestalt des Kaisers im dunklen Raum einander gegenüber stehen, beide bewegten überaus langsam die Hände aufeinander zu, wobei der Raum zwischen ihnen unüberwindlich blieb, obschon er in Wirklichkeit nur eine kleine Entfernung umspannte. Das Größenverhältnis der beiden Figuren drückte überdeutlich ein Machtverhältnis aus, wobei beide, Mann und Frau, gleichermaßen Spielball des unabwendbar verhängnisvollen Verlaufes der Geschichte waren, in dem keiner der beiden einen Handlungsfreiraum gehabt hätte. Auf der Bühne standen zunächst nur die beiden Figuren, die Masse des Volkes und des kaiserlichen Gefolges aus der Handlung waren ausgeblendet und kamen nicht vor. Der Raum um die Figuren Esther und Kaiser Rudolf II. veränderte sich im Moment ihrer Begegnung im Spiel der verlangsamten Gestik. Auch die Musik wurde in diesem Moment fast statisch, blieb auf einem Ton stehen, einem Glockenton, der ja ohnehin stets die Assoziation zum Raum birgt. Der von dem Zuschauer oder der Zuschauerin wahrgenommene Raum entstand in dem Spannungsfeld zwischen den beiden Figuren. An der Art, wie sie mit Bewegung und Gestik sparsam und deutlich umgeht, erkennt man genau Kristine Tornquists Sicht auf die Dinge als bildende Künstlerin und auch ursprünglich Bildhauerin. 180

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Abb. 8  : »Nachts unter der steinernen Brücke«, Oper von René Clemencic, Regie und Libretto von Kristine Tornquist, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009. Romana Beutel als Esther, Rupert Bergmann als Rudolph II.

Die Wirkung einer Geste im Raum ist bei ihr gezielt und klar kalkuliert, visuell und skulptural gestaltet, bleibt nicht dem Schauspieler oder der Schauspielerin überlassen. Es ist nicht einfach, in Worte zu fassen, was die Qualität des so veränderten Raumes ausmacht, auch der Begriff der Präsenz bleibt zumindest etwas vage  : Erika Fischer-Lichte beschreibt in ihrer Analyse das Rätselhafte der Präsenz im performativen Akt als ein Phänomen, welches die Dichotomie zwischen Körper und Geist aufhebt.21 Wie sich dies konkret auf die Wahrnehmung des Raumes auswirkt, bleibt jedoch undeutlich. Man kommt hier vielleicht eher weiter, wenn man schaut, wie Raum tatsächlich durch Skulptur konstituiert wird. Die Figur scheint wie ein Kraftfeld zu wirken, das den Raum bestimmt und bildet. Gottfried Boehm beschreibt das Phänomen der figurativen Wirkung im Raum sehr anschaulich  : Es ist der dynamische Vorgang der Körperdarstellung selbst, dessen explizite Kraft ihren »Ort« entwirft. Seiner Natur nach beruht er auf einer Entfaltung von Impulsen, die einen imaginären Umraum markieren, der wie ein allseits fallender Schatten durch die Figur erzeugt wird. […] [Der Raum] stellt sich mit der Figur, die 181

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sich als sorgsam kalkulierter Unruheherd erweist, im Akt einer Verkörperung und Verortung allererst her. Was ihn eröffnet, sind Vektoren und dynamische Kräfte, eine Regie der Zeit, die sich der plastischen Oberfläche bedient. (Boehm 2004, 36)

Die Figuren bilden also den Raum auf der Bühne, analog zu einer Skulptur, der Körper wird zum »Gravitationszentrum« (Lammert 2008, 10).

Rauminseln und Wagen – Spielräume Seit vielen Jahren arbeitet der bildende Künstler Jakob Scheid mit dem sirene Operntheater zusammen. Seine Bühnenobjekte sind wesentlicher Bestandteil der wichtigsten Produktionen der letzten Jahre. Kunststücke, die konzentrierte Räume im Raum bilden, Häuser, Fahrzeuge, Bühnenmechaniken. Das Haus des Prager Juden Mordechai Meisl im Zyklus »Nachts  !« z. B. war gleichsam die Miniatur eines Hauses, aus Versatzstücken von Mobiliar gefertigt, fahrbar, zitatartig zusammengesetzt, ein verdichtetes Haus, mit überraschenden Öffnungen, Türen und unerwarteten Möglichkeiten, das der Betrachter oder die Betrachterin dennoch in seiner Funktion als Gehäuse unmittelbar verstehen konnte. Es wirkte wie die Quintessenz eines Hauses und schuf in der Weite der Halle einen konzentrierten Anhaltspunkt, einen optisch festen Ort, der, paradox, auf Rädern und also beweglich war. Das Zimmer der Anne Frank in der gleichnamigen Mono-Oper von Grigori Frid gestaltete Jakob Scheid als ein Klaustrophobie auslösendes Objekt  : In einem Schrank, einer Mischung aus Garderobe, Küche und Dachkammer, wird auf beklemmende Weise die ausweglose Situation des im Versteck gefangenen Mädchens im Bild realisiert. Mit den Objekten von Scheid entsteht in der Weite des Theaters eine Insel konzentrierten Raumes durch ein Maximum an Verdichtung der Objekte. Die Kutsche aus »Der Stern des Wallenstein«22 steht als Beispiel für eine ganze Reihe von Fahrzeugen, oder besser  : in sich geschlossenen, fahruntauglichen Fahrzeugen. Wiederum setzt Jakob Scheid etwas a priori Unmögliches ins Bild  : eine hermetische Bewegung, die die Idee der Bewegung viel deutlicher versinnbildlicht, als es eine reine Abbildung täte  : Die großen Räder, auf denen die Kutsche ruht, können sie nicht nach vorn bewegen, die Achsen sind verschoben und erlauben nur ein Vor- und Zurückschwingen. Die auf- und niederschwingende Bewegung auf der verschobenen Achse (dezentrale Speichen) lassen sofort den beschwerlichen Weg auf einer Landstraße des 16. Jahrhunderts mitfühlen. 182

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Abb. 9a und 9b  : Jakob Scheid  : Haus des Mordechai Meisl aus »Nachts  !«, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009. Romana Beutel als Esther, Johann Leutgeb als Mordechai Meisl

Abb. 10  : Jakob Scheid  : Bett Kaiser ­ Ru­dolphs II. aus »Nachts  !«, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009, Rupert Bergmann als Rudolph II.

Abb. 11  : »Anne Frank«, Oper von Grigori Frid, Regie Kristine Tornquist, sirene Operntheater im Jugendstiltheater, Wien, 2006, Bühne  : Jakob Scheid

Abb. 12  : Jakob Scheid  : Kutsche aus »Der Stern des Wallenstein«, Oper von Akos Banlaky, Regie und Libretto von Kristine Tornquist, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009

Abb. 13  : Jakob Scheid  : fahrbarer Sessel aus »Der Stern des Wallenstein«, Oper von Akos Banlaky, Regie und Libretto von Kristine Tornquist, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2009.

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Abb. 14  : »Harun und Dschafar« von René Clemencic aus »Alf leila wa leila« Opernzyklus nach Geschichten aus Tausend und einer Nacht, Regie und Libretti von Kristine Tornquist, sirene Operntheater in der Ankerbrotfabrik, Wien, 2011

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Voran rollt die Kutsche tatsächlich auf sehr kleinen darunter befestigten Rollen, die man erst auf den zweiten Blick wahrnimmt. Auch hier wird die Bewegung auf engsten Raum verknappt, eine Potenzierung von Bewegung, gerade durch die Unmöglichkeit der Fortbewegung. In mündlich überlieferten Geschichten wie Märchen oder Mythen wechseln oft eher geraffte Phasen der Erzählung mit geweiteten Erzählräumen ab, in denen genauer beschrieben und langsamer vorangeschritten wird, Räume, in denen die Erzählung zu verweilen scheint. Diese Erzählstruktur übertrug Kristine Tornquist in dem Opernzyklus »Alf leila wa leila« (2011) in der Ankerbrotfabrik wie zuvor auch schon in »Nachts  !« auf eine weite offene Bühne mit Spielinseln und beweglichen Wagen, jene Räume, in denen sich die Erzählung verbreiterte, verlangsamte und wo sie verweilte. Einfache gestalterische Elemente wie ein Schirm, ein Dach, Teppiche suggerierten die orientalisch gedachte Zeltarchitektur einer nomadisch geprägten Gesellschaft und den märchenhaften Charakter von 1001 Nacht. Die Erzählräume wechselten im Lichtkegel, der Spielräume entstehen und verschwinden ließ. Der Wechsel des Lichts auf der Wand der Expedithalle evozierte hin und wieder weite Wüstenlandschaften oder Oasenstädte aus Lehm. In die Bühnengestaltung hinein spielte aber auch immer die reale Architektur der Halle, sodass Bedeutungsschichten einander überlagerten und die Geschichte des Raumes in die Erzählung hindurchschimmerte  : Ein diaphanes Bild entstand.

Historische Theaterräume und neutrale Räume Bereits mehrfach wurden Produktionen des sirene Operntheaters in historischen Theatern realisiert, wie im Jugendstiltheater am Steinhof und zuletzt im Schlosstheater Schönbrunn. Im Fall der Oper »Türkenkind«, des Lebensberichts einer jugendlichen Türkin am Hof Maria Theresias, die als freigelassene Sklavin in Österreich heimisch wird,23 ergab sich aus der Lokalisierung in Schönbrunn ein unmittelbarer inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Realraum und dem Bühnenraum. Das Theatergebäude konnte so von vorneherein direkt Teil der Geschichte sein, während dies in anderen Räumen erst entstehen muss. Im Barocktheater war es nicht üblich, den Zuschauerraum komplett zu verdunkeln, eher lag die Bühne selbst etwas im Dunkel, die Räume waren zentral beleuchtet, sodass das Geschehen in den Logen mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wie das Bühnengeschehen auf sich zog (vgl. Roselt 2008, 76). Diesen reizvollen Raumeindruck konnten die ZuschauerInnen nun ähnlich wahrnehmen, insbesondere 185

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bei mehreren Auftritten der Sängerin und MusikerInnen in Zuschauerraum und Proszenium. Realraum und Bühnenraum wurden zu einem Gemeinsamen. Auch das Jugendstiltheater birgt in sich durch seine sozialgeschichtliche und architektonische Bedeutung allein schon viel erzählerisches Potenzial, das als Folie gleichsam hinter den Opern ausgebreitet liegt. So denkt man als ZuschauerIn natürlich die Geschichte des Steinhofes24 mit, wenn man dort die Mono-Oper »Anne Frank« sieht. Die Vergangenheit des Ortes bleibt also in der Gegenwart des Stückes präsent und ist Teil der Inszenierung, der erzählten Geschichte und ihres Verlaufs als dessen, was Kristine Tornquist »Schicksal« nennt. »Die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, die sie begrenzt und für sich beansprucht – in dieser Versöhnung erblickt der Genfer Gelehrte Jean Starobinski das Wesen der Moderne.« (Augé 2010, 81) Die Erinnerung schwinge als »Bassstimme« mit. So zitiert ihn der Ethnologe Marc Augé in seinem Buch »Nicht-Orte«  : Basstimme, der Ausdruck den Starobinski gebraucht, um an alte Orte und Rhythmen zu erinnern, ist sehr treffend, die Moderne löscht nicht aus, sondern rückt sie in den Hintergrund. Sie zeigt gleichsam die Zeit an, die vergeht und überlebt. Sie überdauern wie die Worte, die ihnen Gestalt verleihen und weiterhin Gestalt verleihen werden. In der Kunst bewahrt die Moderne sämtliche Zeiten des Ortes, wie sie im Raum und im Wort fixiert sind. (Augé 2010, 82)

Darin sei in die »Möglichkeit einer Polyphonie geschaffen, in der die virtuell unendliche Verschlingung der Schicksale, Taten und Erinnerungen sich auf eine Bassstimme zu stützen vermag, welche die Stunden der irdischen Zeit schlägt und den Platz markiert, den einmal das antike Ritual einnahm (und noch wieder einnehmen könnte)« (Starobinski zit. nach Augé 2010, 81). Marc Augé definiert auch das Gegenstück hierzu, den Nicht-Ort. In unserem Fall ist das ein problematischer Theaterort  : »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.« (Augé 2010, 83) So erscheinen derartige Nicht-Orte, sogenannte neutrale Räume, wie z. B. das Kabelwerk, in dem die sirene im Jänner 2013 die Oper »MarieLuise« von Kristine Tornquist und Gernot Schedlberger zeigte, zunächst problematischer als historisch besetzte und auch im Formalen sehr weitgehend festgelegte Theaterräume. 186

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Abb. 15a und 15b  : »MarieLuise«, Oper von Gernot Schedlberger, Regie und Libretto von Kristine Tornquist, sirene Operntheater im Palais Kabelwerk, Wien, 2013

Der scheinbar neutrale Ort Der Theatersaal im sogenannten Palais Kabelwerk, ein »niedrigschwellig zugängiges, bevölkerungsnahes Kulturzentrum mit Mehrspartennutzung«25, ist ein sich architektonisch ganz und gar nackt und neutral gebender Sichtbetonkasten  ; die Bühne muss notwendigerweise alle theatralisch/erzählerischen Elemente aus sich selbst heraus erschaffen. Ein Raum, dessen Aussage ausdrücklich ist, keine Aussage zu haben, will nichts erzählen. Wie geht nun das sirene Operntheater mit so einem Raum um, der a priori ein Nicht-Ort ist  ? Für die Oper »MarieLuise« wählten Kristine Tornquist und das Bühnenteam um Andrea Költringer eine bildschirmartige Fläche, eine Art Schultafel mit einem schmalen Bühnenstreifen davor. Die Bühne wurde auf eine überdimensionierte Schultafel extrem verdichtet, in der sich Fenster öffnen, die Bilder wie Ausblicke zeigten. Dadurch entstand ein maximaler Abstand zur umgebenden Architektur. Gleichzeitig bettete Kristine Tornquist die Handlung der Oper in eine von einem Schauspieler gesprochene Rahmenerzählung ein, die die in der Oper erzählte Geschichte eines siamesischen Zwillingspaares als ein Labor­ exempel oder Lehrstück eines Wissenschaftlers vorstellte. Der Realraum des Theaters fügte sich in die Erzählung als Gehäuse des Wissenschaftlers. Mit diesem Kunstgriff ermöglichte sie es sich, ihrem Konzept der Bühne treu zu bleiben, auch in einem als problematisch wahrgenommenen Raum. Der Theaterraum im Kabelwerk selbst will unhistorisch und neutral sein. Das ist eine Absicht, die vielen anderen TheatermacherInnen auch entgegenzukommen scheint, denn das allerorten noch immer sehr beliebte schwarze Moltontuch, mit dem man markante Architekturen auszublenden sucht, hat eine ganz ähnliche Wirkung  : Man versucht keine Bezugnahme zum Realraum herzustellen, 187

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bezweckt eine theatralische Abgehobenheit, erwartet vom Stück und der Regie, dass sie alle erzählerischen Momente aus sich selbst heraus produzieren. Der Preis dafür ist allerdings der Verlust der Historizität und der Zeitgenossenschaft. Das ästhetische Äquivalent für diese Verengung in Theatern als black boxes ist die white cube-Museumsarchitektur. Das Problem daran ist die Neutralisierung der Kunst, die aus dem Kontext herausgerissen auch wirkungslos wird. Ohne Wirkung in den Kontext zurück heißt auch ohne Wirkung in die wirkliche Welt. Die Stücke der sirene jedoch, und insbesondere jene von Kristine Tornquist, haben immer auch eine eminent politische Aussage, selbst wenn sie im Gewand des Märchens, des Symboles und des verrätselten Bildes daherkommt  : Wir haben eine eigene, sehr zurückgenommene, aber nahbare Bühnensprache entwickelt und uns dabei vom permanenten Aktualitätszwang unabhängig gemacht. Nahbar in der Langsamkeit des realen Materials, mit den Grenzen der Mechanik statt der Elektronik. Und wir versuchen durch eine scheinbare Naivität so etwas wie eine Utopie der Menschlichkeit, des menschlichen Maßstabs zu entwickeln […]. (Everhartz/Tornquist 2012, 91)

Anmerkungen 1 Ein Überblick über Diskurs des spatial turn findet sich in Döring/Thielmann 2008, 1ff. 2 Nach ersten Produktionen in der Jesuitenkirche, dem Wasserturm und dem Künstlerhaus in Wien fand das sirene Operntheater 2003 eine Basis im Jugendstiltheater am Steinhof in Wien, 2009 in der ehemaligen Ankerbrotfabrik in Wien Favoriten. Zuletzt war die sirene zweimal im Palais Kabelwerk Wien Meidling. Gastspiele führten zweimal ans Tiroler Landestheater nach Innsbruck oder 2009 zum Styraburg-Festival in Steyr und auf die Musikbiennale in Zagreb. 2012 folgte die Einladung der Ägyptischen Staatsoper nach Kairo. Das sirene Operntheater kooperierte bisher mit dem Theater an der Wien und dem Tiroler Landestheater, Institutionen wie der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien oder verschiedenen österreichischen Kulturforen und renommierten Festivals wie den World Music Days, SOHO in Ottakring oder Wien Modern. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Zusammenarbeit mit österreichischen AutorInnen, KünstlerInnen und KomponistInnen. Bisher haben Oskar Aichinger, Akos Banlaky, Wolfgang Bauer, René Clemencic, Francois-Pierre Descamps, Christof Dienz, Johanna Doderer, Jury Everhartz, Antonio Fian, Barbara Frischmuth, Daniel Glattauer, Gilbert Handler, Lukas Haselböck, Händl Klaus, Radek Knapp, Paul Koutnik, Matthias Kranebitter, Ulrich Küchl, Klaus Lang, Friederike Mayröcker, Irène Montjoye, Daniel Pabst, Hermes Phettberg, Peter Planyavsky, Hannes Raffaseder, Ratschiller & Tagwerker, Herwig Reiter, Günter Rupp, Gernot Schedlberger, Jakob Scheid, Johannes Schrettle, Kurt Schwertsik, Willi Spuller, Walter Titz, Kristine Tornquist, Wolfram Wagner, Oliver Weber und Robert M Wildling Stücke für das sirene Operntheater geschrieben, die es uraufgeführt hat. www.sirene.at.

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  3 »7 Operellen 1 – Millimeterkrisen und Miniaturkatastrophen«, Tiroler Landestheater Innsbruck und Jugendstiltheater Wien, Oktober bis November 2004. »7 Operellen 2 – Abkürzungen & Beschleunigungen« Tiroler Landestheater und Jugendstiltheater Wien, März bis April 2007. www. sirene.at/archiv.   4 Monteverdi jedenfalls hatte sowohl Andrea Mantegnas fiktive Raumöffnung in der Camera degli Sposi des Palazzo Duccale als auch Giulio Romanos einstürzende Welten im Palazzo del Té in Mantua unmittelbar vor Augen.   5 Zum Phänomen der Präsenz eines Künstlers bzw. einer Künstlerin auf der Bühne siehe die umfangreiche Analyse von Erika Fischer-Lichte (2004, 167 ff.)   6 Ehemalige Anker-Expedithalle, Puchsbaumgasse 1, 1100 Wien   7 Entnervt seufzte der Schweizer Literaturwissenschaftler und Autor Peter von Matt kürzlich  : »Jeder Esel will heute meine Sehgewohnheiten aufbrechen.« Neue Zürcher Zeitung vom 31. 12. 2012   8 In Wien 1140   9 Siehe die bahnbrechende Studie von Horst W. Janson (1952, 295 ff.). Kürzlich auch  : Art the Ape of nature, Das Motiv des Affen in der zeitgenössischen Kunst, Ausstellung Universitätsmuseum Heidelberg, Februar–Mai 2013 10 So noch in Frida Kahlo  : Selbstbildnis mit Affen, 1943  ; Diego Rivera und Frida Kahlo, Trust, Mexico  ; oder Maria Lassnig  : Selbstportrait mit Affen, Städelmuseum Frankfurt 2001 11 Eine Tendenz, die man auch bei anderen zeitgenössischen Musiktheaterproduktionen feststellen kann. Z. B. (als eines von vielen) bei George Benjamin und Martin Crimb  : »Written on Skin«, Theater an der Wien, Wien, Juni 2013. 12 Wie etwa Cherubino (Mozart), Komponist (Offenbach), Rosenkavalier (Strauss). 13 Wo zahlreiche Männerrollen, die ursprünglich für Kastraten geschrieben worden waren, lange Zeit von Frauen (Altistinnen) interpretiert wurden, wie z. B. »Giulio Cesare« von Händel (heute wieder eher von Männern), aber z. B. auch in »Poppea« von Monteverdi, wo auffälligerweise die Amme Arnalta von einem Tenor gesungen wird. 14 Verschiedenheit der Werke, die sich beispielsweise stilistisch auch aus der Kooperation mit vielen verschiedenen KomponistInnen ergibt. 15 »Derzeit entwickelt sich eine neue Umgangsweise (mehr im amerikanischen Film als im europäischen Theater), diese traditionellen Erzählmuster raffiniert zu erweitern, timelines in Schlingen zu legen, zu verknoten oder zu dehnen, ohne dabei die logischen Ketten zu zerschneiden, wie es die Moderne und Postmoderne gerne tun. Neodramatisch könnte man dazu sagen. Ich glaube, dass das Zeitalter des Brechens bald vorbei ist.« Kristine Tornquist in Everhartz/Tornquist 2012, 88. 16 Der unveröffentlichte Text ist der Anlass der hier vorliegenden Publikation und sollte daher auch hier etwas mehr Raum bekommen. Ich danke Kristine Tornquist für die Erlaubnis, eine längere Passage daraus zu zitieren. 17 Siehe Loftcity GmbH, www.loftcity.at/index.php/expedithalle (23. 9 .2013). 18 Aus dem Opernzyklus »Nachts  !« nach dem Roman von Leo Perutz  ; Libretto und Regie Kristine Tornquist (nach Leo Perutz), Musik Paul Koutnik, Ankerbrotfabrik, Wien, 2009. 19 Die »Sarabande« aus  : »Nachts  !«, 2009 20 Libretto und Regie Kristine Tornquist, Musik René Clemencic, Ankerbrotfabrik, Wien, 2010. 21 »Wenn der Schauspieler seinen phänomenalen Leib als einen energetischen hervorbringt und so Präsenz erzeugt, dann tritt er dadurch als embodied mind in Erscheinung, das heißt, als ein Wesen,

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bei dem Körper und Geist/Bewusstsein sich überhaupt nicht voneinander separieren lassen, …« (Fischer-Lichte 2004, 171). 22 »Der Stern des Wallenstein«, Oper von Akos Banlaky aus dem Zyklus »Nachts  !«, 2009 23 Oper nach der gleichnamigen Romanbiographie von Irène Montjoye, Libretto und Regie Kristine Tornquist, Musik Wolfram Wagner, Schlosstheater Schönbrunn, 2011. 24 Im von 1907 nach Plänen von Otto Wagner gebauten Spital des Wiener Krankenanstaltenverbundes befindet sich ein psychiatrisches Krankenhaus, zu dem auch von 1940 bis 1945 die sogenannte Kinderpsychiatrische Fachabteilung »Am Spiegelgrund« gehörte, ein nationalsozialistischer Schreckensort, an dem fast 800 Kinder zu Tode kamen. Vor dem Jugendstiltheater erinnert ein Mahnmal an diese Kinder. www.wien.gv.at/rk/msg/2003/1126/006.html (23. 9. 2013). 25 http://palaiskabelwerk.at/haus/mission.html (23. 9. 2013).

Verzeichnis der erwähnten Bühnenwerke Alf leila wa leila (Opernzyklus nach Tausend und einer Nacht, Libretti von Kristine Tornquist, Wien, Ankerbrotfabrik, 2011 [darin  : »Harun und Dschafar« von René Clemencic.]) Anne Frank (Mono-Oper von Grigori Frid, Jugendstiltheater Wien, 2006/2009) Circus (Oper von Jury Everhartz, Libretto von Kristine Tornquist, Jugendstiltheater Wien, 2006, Musikbiennale Zagreb, 2009) MarieLuise (Oper von Gernot Schedlberger, Libretto von Kristine Tornquist, Wien, Kabelwerk, 2013) Nachts  ! (Opernzyklus nach Leo Perutz, Libretti von Kristine Tornquist, Wien, Ankerbrotfabrik, 2009 [darin  : »Der Heinrich aus der Hölle« von Gernot Schedlberger, »Nachts unter der steinernen Brücke« von René Clemencic, »Sarabande« von Wolfram Wagner und »Der Stern des Wallenstein« von Akos Banlaky]) Türkenkind (Oper von Wolfram Wagner, Libretto von Kristine Tornquist nach Irène Montjoye, Wien, Schlosstheater Schönbrunn, 2011)

Literatur Marc Augé (2010), Nicht-Orte. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe. München Gottfried Boehm (2004), »Das spezifische Gewicht des Raumes. Temporalität und Skulptur«, in  : Angela Lammert (Hg.),Topos Raum. Berlin, 31–42 Peter Brook (1997), Der leere Raum (Übers. Walter Hasenclever). Berlin Jörg Döring, Tristan Thielmann (2008), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld Jury Everhartz, Kristine Tornquist (Hg.) (2012), Fragen an das Musiktheater. Wien Erika Fischer-Lichte (2004), Ästhetik des Performativen, Berlin Michel Foucault (1993), »Andere Räume«, in  : Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis  : Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig, 34–46 Horst W. Janson (1952), Apes and Apes Lore  : In the Middle Ages and the Renaissance, Studies of the Warburg Institute. London

190

»Die Bühne als Kartographie des Schicksals« – Die Bühnen des sirene Operntheaters

Angela Lammert, Michael Diers, Robert Kudielka, Gert Matterklott (Hg.) (2004),Topos Raum. Die Aktualität des Rahmens in den Künsten der Gegenwart, hg. v. d. Akademie der Künste Berlin, Berlin Henri Lef èbvre (1974), La production de l’espace. Paris Leo Perutz (1994 [1953]), Nachts unter der steinernen Brücke. Wien Jens Roselt (2008), Phänomenologie des Theaters. München Kristine Tornquist (2013), Die Bühne eine Kartographie des Schicksals, unveröffentlichtes Manuskript. Wien Bernhard Waldenfels (1995), »Ordnungen des Sichtbaren. Zum Gedenken an Max Imdahl«, in  : Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild. München, 233–252

Bildnachweis Abb. 1  : © Armin Bardel Abb. 2  : © Andreas Friess Abb. 3  : © Kristine Tornquist Abb. 4–14  : © Andreas Friess Abb. 15a und 15b  : © Armin Bardel

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AutorInnen und Herausgeberinnen Andrea B. Braidt, Mag.a Dr.in, Literatur-, Film- und Medienwissenschafte-

rin, Vizerektorin für Kunst und Forschung an der Akademie der bildenden Künste Wien. Seit Ende der 1990er-Jahre Lehrtätigkeit an österreichischen Universitäten mit den Schwerpunkten Gender/Queer Studies, Filmgenres und Erzählforschung  ; Fellowships am IFK – Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien sowie am Kölner SFB Medien und kulturelle Kommunikation. Forschungsaufenthalte in den USA und in Kanada, 2003– 2004 Gastprofessur am Gender Studies Department an der Central European University in Budapest, 2004–2011 Senior Scientist für Filmwissenschaft am TFM – Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Andrea Braidt ist Zweite Vorsitzende der Gesellschaft für Medien e.V. und Obfrau der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung, die sie mitbegründet hat. Bücher (Auswahl)  : Film-Genus. Gender und Genre in der Filmwahrnehmung. Marburg 2008 (Monografie)  ; »Porno«, in  : Montage AV, 18./2, 2009 (hg. mit Patrick Vonderau)  ; Screenwise. Film Fernsehen Feminismus. Marburg 2004 (hg. mit Monika Bernold, Claudia Preschl). Kontakt  : [email protected] sowie mehr Informationen unter  : www.akbild.ac.at Andrea Ellmeier, Mag.a Dr.in, Historikerin, Koordinatorin für Frauenförderung

und Gender Studies an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. War Koordinatorin der Plattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck, Lehrbeauftragte, vorher langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin der Österreichischen Kulturdokumentation. Internationales Archiv für Kulturanalysen  ; Publikationen zu europäischen Kultur- und Medienpolitiken, Creative Industries, Kultur und Beschäftigung. Forschungsinteressen  : Geschlechterdemokratie und Sprache, Arbeitsverhält­nisse im Kunst- u. Kulturbereich  ; Konstruktion der Konsumentin, Konsum­geschichte/n, gegenderte Geschichtsschreibung von Musik und darstellender Kunst. Publikationen  : Ratio und Intuition. Wissen|s|Kulturen und Geschlecht in Musik • Theater • Film (mdw Gender Wissen Bd. 4). Wien 2013 (hg. gemeinsam mit Doris Ingrisch und Claudia Walkensteiner-Preschl)  ; »mdw goes gender. Koordi193

AutorInnen und Herausgeberinnen

nationsstelle für Frauenförderung und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw)«, in  : Sarah Chaker, Ann-Kathrin Erdélyi (Hg.), Frauen hör- und sichtbar machen – 20 Jahre »Frau und Musik« an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Wien 2010, 131–138. Kontakt  : [email protected] sowie weitere Informationen  : www.mdw.ac.at/gender Markus Grassl, ao. Univ.-Prof. Dr., Studium der Musikwissenschaft, Publizistik und Philosophie sowie der Rechtswissenschaften an der Universität Wien. 1989 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über Instrumentalmusik um 1600  ; 2010 Habilitation für historische Musikwissenschaft mit »Studien zur Rezeptions- und Aufführungsgeschichte alter Musik im 20. Jahrhundert«. Seit 1993 Lehrtätigkeit an der Hochschule/Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien  ; 2001 Vertretung einer Professur für Musikwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart. Ausgewählte (einschlägige) Veröffentlichungen  : Bibliographisches Verzeichnis der Musikerinnen in Frankreich 1643–1715. Online-Publikation auf www. musikgeschichte.at  ; »Voilà les véritables Muses«. Titon du Tillets Le Parnasse françois, die Literatur und die Musikerinnen (in Druck). Kontakt  : grassl@mdw. ac.at sowie weitere Informationen unter  : www.mdw.ac.at/iatg Isabelle Gustorff, M.A., Dramaturgin des sirene Operntheaters. Kindheit und Jugend in Hamburg. Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in Tübingen und Paris (Ecole du Louvre)  ; Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Kunsthalle Rostock, Ostsee-Biennale, Organisation, Katalogredaktion, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Mitglied des Wiener Kammerchores. Kontakt  : [email protected] sowie weitere Informationen unter  : www.sirene.at Hanna Hacker, Univ.-Prof.in, Dr.in, seit 2011 Universitätsprofessorin für sozial-

und kulturwissenschaftliche Entwicklungsforschung am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien, davor überwiegend freiberufliche Kultur- und Sozialwissenschaftlerin  ; Lehre an verschiedenen österreichischen Universitäten, an der Université Yaoundé I (Kamerun) und an der CEU Budapest  ; langjähriges Engagement in österreichischen und internationalen feministischen Politikzusammenhängen  ; Berufserfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit in Westafrika. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte  : feministische, queere und postkoloniale Theorie  ; Frauenbewegungen, Sexualitäten und Geschlechterkonstruktionen um 1900  ; Entwicklungskritik  ; Transkulturalität  ; Neue-Medien-Diskurse. 194

AutorInnen und Herausgeberinnen

Veröffentlichungen zuletzt  : Queer Entwickeln. Feministische und postkoloniale Analysen. Wien 2012  ; Spektakel. (Schwerpunktheft von  :) L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 23, 1, 2012 (hg. mit Mineke Bosch und Ulrike Krampl)  ; Norden. Süden. Cyberspace. Text und Technik gegen die Ungleichheit. Wien 2007. Kontakt  : [email protected] Steffen Jäger, Theaterregisseur  ; geb. 1983 in Görlitz. 2003–2005 Studium der Mathematik, Philosophie und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität und der Freien Universität in Berlin  ; 2005–2009 Studium der Schauspielregie am Max Reinhardt Seminar Wien. Seit 2009 Arbeit als freier Regisseur an verschiedenen Theatern, zuletzt mit »Bunbury« (Oscar Wilde) am Landestheater Bregenz und »Occupy Burgtheater« (Sandra Jungmann, Bernd Watzka) am Theater Drachengasse. 2010 Podiumssprecher bei der Tagung »Quo Vadis, Theater  ?« des Internationalen Theater Instituts der UNESCO  ; 2012 Gesprächsleitung beim Theatertreffen deutschsprachiger Schauspielstudierender in Wien sowie Jurymitglied beim ARENA-Festival in Erlangen. Seit 2012 Dozent für Schauspiel am Max Reinhardt Seminar, Wien. Kontakt  : [email protected] sowie mehr Informationen unter  : www.steffenjaeger.de und www.youtube.com/ user/jaegerundgejagte Karin Macher, Mag.a, absolvierte an der Filmakademie Wien der mdw – Univer-

sität für Musik und darstellende Kunst Wien das Fach Produktion. Ihre Arbeitserfahrungen reichen von Kinofilmen bis zu Fernsehproduktionen, IMAX-Filmen und aktuellem Dienst  ; Regisseurin bei diversen Dokumentarfilmen (»Hinter rosa Vorhängen«, »Gute Arbeit«) und Co-Regie bei »Hana, dul, sed …«, mit dem sie den Großen Diagonale-Preis 2009 errang (��������������������������������������� Regie  : Brigitte Weich). Seit 2002 unterrichtet sie an der Filmakademie Wien und betreut regelmäßig interuniversitäre Projekte mit der Universität Wien, Institut für Publizistik, im Bereich »Content Made for Mobile«  ; seit 2009 arbeitet sie gemeinsam mit Renate Stuefer an Filmprojekten zur Architekturvermittlung an der Technischen Universität Wien, Institut für Künstlerisches Gestalten und Visuelle Sprachen. 2011 absolvierte sie das Feministische Grundstudium am Rosa-Mayreder-College, Wien. Filmographie (Auswahl)  : motherland (Regie  ; in Zusammenarbeit mit Su Wastl, Dokumentarfilm, in Postproduktion, 2011). Seit 2009  : Räume bewegen  ; Raumschläuche  ; Die endlose Stadt …  ; Oben im Baum  ; Im kleinen Rahmen  ; Take Over  ; Das fliegende Klassenzimmer (alle gemeinsam mit Renate Stuefer)  ; Hana, dul, sed … (Co-Regie  ; Regie  : Brigitte Weich, Dokumentarfilm, 2009)  ; Gute Arbeit (Regie  ; Script  : Ruth Mader, Produktion  : Bonus-Film, Dokumentarfilm, 2004)  ; Ha195

AutorInnen und Herausgeberinnen

koah Lischot (Regieassistenz  ; Regie  : Yaron Zilberman, Dokumentarfilm 2003)  ; The Majestic White Horses of Vienna (Regieassistenz  ; Regie  : Kurt J. Mrkwicka, 70 mm IMAX, 1998)  ; Hinter rosa Vorhängen (Regie  ; in Zusammenarbeit mit Verein Selbstlaut. Dokumentarfilm über sexuellem Missbrauch vorbeugende Arbeit mit Kindern, 1996). Kontakt  : [email protected] Gabriele Proy, Mag.a, Komponistin, Präsidentin Europäisches Forum Klang-

landschaft. Diplome und Magistra artium (Komposition, elektroakustische Komposition, Instrumentalpädagogik Gitarre) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zahlreiche Gastvorträge und Konzerte an Universitäten in Europa, Australien, Japan und Kanada  ; lehrt seit 1999 Klangkomposition und Sound Design an der ARD.ZDF-Medienakademie Nürnberg und seit 2011 Komposition am Vienna Institute for the International Education of Students. Viele renommierte Ensembles (u. a. das Koehne Quartett, der Philharmonische Chor München, das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, das Ensemble »die reihe«, das MozARTE Quintett Salzburg, das Ensemble Orchesterwelt, das Ensemble Wiener Collage und der Denkmalchor Leipzig) haben ihre Musik aufgeführt. Neben zahlreichen Auszeichnungen erhielt sie den Österreich-Auftrag im »EU-Japan-Jahr 2005«, im »Österreich-Japan-Jahr 2009« und für die Europäische Kulturhauptstadt »Marseille-Provence 2013« sowie als österreichische Komponistin den Auftrag der Stadt Leipzig für das Doppeljubiläum »Leipzig 1813–1913–2013«. 2013 wurde sie mit dem Preis der Stadt Wien für Musik ausgezeichnet. Ihre Kompositionen werden erfolgreich in Europa, der Türkei, im Iran, in Japan, Australien, Kanada, Lateinamerika und den USA aufgeführt. ­Arbeitet und lebt in Wien. Kontakt  : [email protected] sowie weitere Informationen unter  : www.gabrieleproy.at Rosa Reitsamer, Dr.in Mag.a, Soziologin. Universitätsassistentin am Institut für

Musiksoziologie der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte  : Musik-, Jugend-, Medien- und Geschlechtersoziologie. Aktuelle Publikationen  : Die Do-it-yourself-Karrieren der DJs. Über die Arbeit in elektronischen Musikszenen. ����������������������������������������������� Bielefeld 2013  ; »Born in the Republic of Austria«. The invention of rock heritage in Austria. International Journal for Heritage Studies (in Druck)  ; »Female Pressure  : A translocal feminist youth-oriented cultural network«, in  : Continuum. Journal of Media and Cultural Studies, Vol. 26 (3), 2012, 399–408  ; Geschlechterverhältnisse und neue Öffentlichkeiten. Feministische Perspektiven (hg. gemeinsam mit Birgit Riegraf, Hanna Hacker, 196

AutorInnen und Herausgeberinnen

Heike Kahlert, Brigitte Liebig, Martina Peitz) (Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Band 36). Münster 2013. Kontakt  : [email protected] sowie weitere Informationen unter  : http://www.mdw.ac.at/ims/  ?PageId=3546 Renate Stuefer, DIin, Architektin, lehrt am Institut für Kunst und Gestaltung der

Fakultät für Architektur und Raumplanung der Technischen Universität Wien und ist Mutter von sechs Kindern. Arbeitsschwerpunkt  : die Entwicklung von Medien zu »Definitionsoffenem Raumgestalten« und ihre forschende spielerische Anwendung in der Vermittlung sowie die beobachtende filmische Dokumentation dieser Architekturprojekte gemeinsam mit Karin Macher (setting^up). Sie verwendet Film auch als Tool, um Raum zu bauen und Architektur zu kommunizieren. Sie ist Initiatorin der KinderuniTechnik Wien und Gründerin der Plattform räume bilden – Architekturvermittlung an Universitäten  ; Kuratorin der Ausstellung »Fliegende Klassenzimmer« (gemeinsam mit Antje Lehn und Christian Kühn). Publikationen  : räume bilden. Wien 2011 (hg. gemeinsam mit Antje Lehn). Kontakt  : [email protected] sowie weitere Informationen unter  : www. raeumebilden.aspace.at Claudia Walkensteiner-Preschl, Univ.-Prof.in Dr.in, Professorin für Medien- und

Filmwissenschaft und Leiterin des Instituts für Film und Fernsehen »Filmakademie Wien« an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien  ; 2010 Habilitation an der Universität Frankfurt am Main. 2007–2011 Vizerektorin für Lehre und Frauenförderung an der mdw. Seit 2010 Mitherausgeberin der Buchreihe »mdw Gender Wissen« (Böhlau Verlag). Publikationen  : Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der 1910er-Jahre (Filmmuseum-Synema-Publikationen, Bd. 8), Wien 2008  ; »Publikumsgeschmack und soziales Engagement. Zur Pionierin Louise Veltée/Kolm/Fleck aus filmhistorisch-feministischer Perspektive«, in  : Doris Kern, Sabine Nessel (Hg.), Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino. Festschrift für Heide Schlüpmann. Basel/ Frankfurt a. M. 2008  ; »Die Schlager der Groteske«, in  : Karola Gramann, Eric de Kuyper, Sabine Nessel, Heide Schlüpmann, Michael Wedel (Hg.), Sprache der Liebe. Asta Nielsen, ihre Filme, ihr Kino 1910–1933. Wien 2009  ; »Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino. Nachempfunden an Douglas Sirks Universal-Filmen«, in  : Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in ­Musik • Theater • Film. Wien 2012. Kontakt  : [email protected] 197

MDW GENDER WISSEN HERAUSGEGEBEN VON ANDREA ELLMEIER, DORIS INGRISCH UND CLAUDIA WALKENSTEINER-PRESCHL

mdw Gender Wissen ist eine Buchreihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/mdw. Die Publikationen dieser Reihe tragen dazu bei, die Wirkmächtigkeit von Gender (soziales Geschlecht) in Wissens- und Kunstproduktionen sichtbar zu machen. BAND 1: SCREENINGS

BAND 3: KULTUR DER GEFÜHLE

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

THEATER. FILM

THEATER. FILM

2010. 165 S. DIV. GAF. U. S/W-ABB. BR.

2012. 166 S. 14 S/W-ABB. FRANZ. BR.

ISBN 978-3-205-78520-0

ISBN 978-3-205-78783-9

BAND 2: GENDER PERFORMANCES

BAND 4: RATIO UND INTUITION

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

WISSEN/S/KULTUREN IN MUSIK,

THEATER. FILM

THEATER, FILM

2011. 184 S. ZAHLR. S/W-ABB. BR.

2013. 171 S. 45 S/W-ABB. BR.

ISBN 978-3-205-78651-1

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GENDER@WISSEN EIN HANDBUCH DER GENDER-THEORIEN (UTB 3926 M)

Gender@Wissen hat sich seit seinem ersten Erscheinen 2005 zu einem Standardwerk entwickelt. Jetzt liegt das Studienbuch in einer dritten überarbeiteten und erweiterten Auflage vor. Zu den ursprünglich zwölf thematisch geordneten Beiträgen über zentrale Wissensfelder wie Identität, Körper, Zeugung, Reproduktion, Sexualität, Gewalt, Globalisierung, Repräsentation, Lebenswissenschaften, Natur, Sprache und Gedächtnis treten in der dritten Auflage drei weitere über Rassismus, Geld und Mythos. Die abschließenden fünf Beiträge zu Postmoderne, Queer Studies, Postcolonial Theory, Media Studies und Cultural Studies situieren das komplexe Verhältnis von Geschlecht und Wissen in übergreifenden theoretischen Kontexten und Debatten. Dieser Titel liegt auch für eReader, Tablet und Kindle vor. 3. ÜBERARBEITETE UND ERWEITERTE AUFLAGE 2013. 559 S. BR. 215 X 150 MM | ISBN 978-3-8252-3926-8 | eISBN 978-3-8463-3926-8

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