Kunst/Erfahrung: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film [1 ed.] 9783205233053, 9783205202813

137 44 7MB

German Pages [205] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Kunst/Erfahrung: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film [1 ed.]
 9783205233053, 9783205202813

Citation preview

Kunst/Erfahrung Wissen und Geschlecht in

Musik ·•· Theater ·•· Film

Andrea Ellmeier / Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

mdw Gender Wissen Band 7 Eine Reihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl und Doris Ingrisch

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Kunst/Erfahrung Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film

Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch die

Die Herausgeberinnen haben sich bemüht, alle Inhaber_innen von Bildrechten ausfindig zu machen. Sollten dennoch Urheberrechte verletzt worden sein, werden nach Anmeldung berechtigter Ansprüche diese entgolten werden Bibliografische Information der Deutscshen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Lektorat: Mag.a Else Rieger, Wien Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23305-3

Inhaltsverzeichnis Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl Was ist Erfahrung  ? Was bedeutet Kunst/Erfahrung  ? 7

Silvia Stoller Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung 15

Ashley Hans Scheirl Ich bin mein_e eigene_r verrückte_r Cyborg-Wissenschaftler_in 51

Janine Schulze-Fellmann Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren 61

Claudia Walkensteiner-Preschl Denkbewegungen im Dialog Ein Essay über Film-Erfahrung 79

Ramón Reichert Selfies und Gender 93

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter Ist die (Musik-)Therapie weiblich  ? Genderaspekte im therapeutischen Kontext 109

5

Inhaltsverzeichnis

Elisabeth Augustin Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende 131

Elfriede Reissig »L’art pour la réalité« Zur musikalischen Sozialisation und subjektiven Erfahrungswelt im österreichischen Musikbetrieb 145

Elisabeth Harnik Die wichtigsten Dinge am Wegrand Erfahrungsbericht einer Nomadin zwischen notierter und improvisierter Musik 179

Autor_innen und Herausgeberinnen 197

6

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Was ist Erfahrung  ? Was bedeutet Kunst/Erfahrung  ? Die Frage nach der Erfahrung im Kontext von Kunst beschäftigte uns im Rahmen der siebten Gender-Ringvorlesung an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, die im Sommer 2015 stattfand. Der Themenbereich Kunst/Erfahrung und Gender wurde in den künstlerischen und wissenschaftlichen Feldern der Universität – Musik • Theater • Film – zur Diskussion gestellt. Wie lässt sich der vielschichtige Erfahrungsbegriff im Kontext von Kunst verstehen  ? Was gilt es zu bedenken, was neu zu begreifen  ? Wie können der Begriff und die Vorstellungen, die damit verbunden sind, in den Bereichen Musik • Theater • Film fruchtbar gemacht werden  ? Bei den Überlegungen, die uns bei der Wahl des Themas und bei der Arbeit zu dieser Publikation geleitet haben, ging es uns einerseits um Debatten zum Erfahrungsbegriff im Kontext der Gender Studies selbst. Anfang der 1990erJahre problematisierte die US-amerikanische Historikerin Joan Scott den Begriff der Erfahrung (Scott 2013/1991) und schlug vor, diesen Begriff nicht mehr zu verwenden. Der Begriff sei alltagssprachlich allzu sehr mit einer Idee von Authentizität verknüpft und nähme zu wenig darauf Bedacht, dass Menschen Erfahrungen im Rahmen von Normen und Werten machen und dass beispielsweise auch und gerade sprachliche Konventionen bei der Vermittlung von Erfahrungen eine Rolle spielen. Die Replik auf diese Kritik forderte wiederum ein Beibehalten dieses Begriffs und fügte hinzu, dass handelnde Personen in diesem Zusammenhang – insbesondere als leibliche Wesen – berücksichtigt werden müssten (vgl. z.B. Bos/Vincenz/Wirz 2004  ; Duden 2004). Außerdem ging es darum, den Begriff der Erfahrung zu historisieren resp. danach zu fragen, was für die Subjekte als Erfahrung galt. Es ging Scott um die Notwendigkeit der Historisierung von Erfahrung, d.h. darum, »den Fokus und die Philosophie unserer Geschichte zu verschieben, von der Neigung die Erfahrung durch den Glauben an die unmittelbare Beziehung zwischen Wörtern und Dingen zu naturalisieren, zu einer Neigung, die alle Kategorien der Analyse kontextabhängig, umkämpft und zufällig erachtet.« (Scott 2013/1991, 160–161)

7

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Als grob umrissene Schlussfolgerung dieser Debatte lässt sich festhalten, dass es zwar unterschiedliche Perspektiven gibt, aber keine von der Gesellschaft unberührte, quasi unmittelbare Erfahrung. Andererseits wollten wir klar hervorheben, wie stark der Aspekt der Erfahrung im Kontext von Kunst wirksam wird. Zentrale Schriften zum Thema, wie beispielsweise die von Stefan Deines, Jasper Liptow und Martin Seel herausgegebene Aufsatzsammlung »Kunst und Erfahrung«, beschäftigten uns zu Beginn unserer Überlegungen. Unterschieden wird in einen phänomenologischen (sinnliche Wahrnehmung), einen epistemischen (Wissenserwerb) und einen existentiellen (»lebensweltliche Bedeutsamkeit«) Begriff der Erfahrung (Dienes/Liptow/Seel 2013, 15). Wann aber ist eine Erfahrung ästhetisch und lässt sie sich verallgemeinern  ? Die Herausgeber von »Kunst und Erfahrung« wenden diese Frage und weisen auf folgende Möglichkeit hin  : »Was […] ein Kunstwerk ausmacht, ist sein (mehr oder minder großes) Potenzial, als Schauplatz ästhetischer Erfahrungen zu fungieren« (ebd., 27). Arthur C. Danto aber vertrete beispielsweise in »Die Verklärung des Gewöhnlichen« die These, »dass eine Definition von Kunst ohne Rückgriff auf ästhetische Wahrnehmung bzw. ästhetische Erfahrung auskommen kann und muss  : Ein Bezug zu ästhetischer Erfahrung gehört demnach nicht zum Wesen der Kunst. […] Denn erst wenn wir ein Objekt als ein Werk der Kunst klassifizieren und interpretieren, können wir überhaupt die ästhetischen Eigenschaften erkennen, auf die wir dann angemessen reagieren können.« (ebd., 29–30)

Doch auch John Deweys Überlegungen können im Nachdenken über Kunst/ Erfahrung mit dem Hinweis darauf, wie Kunst durch Schöpfung neuer Erfahrungen verdichtend und klärend wirken kann, inspirieren (Dewey 1987 [1934]). Damit unterstreicht die pragmatische Philosophie der Kunst die Kontinuität von der Erfahrung des Kunstwerks und des Alltags, regt die Interaktion der Menschen mit dem sie Umgebenden an. Kunst eröffnet einen Erfahrungs- und Erkenntnisraum, in dem die klassische Trennung von Subjekt und Objekt, Geist und sinnlichem Erleben nicht mehr existiert. Ausgangpunkt unserer konkreten Annäherung an den Begriff »Erfahrung« war und blieb jedoch eine relativ einfache Feststellung in Hinblick auf die künstlerische Produktion  : Kunst/Erfahrung ist ein für jedes künstlerische Tun zentraler Aspekt einer Person resp. einer Gruppe von Personen. Viele Künstler_innen berufen sich auf eigene Erfahrungs-Welten, auf eigene autobiografische bzw. autosoziografische Erfahrungen. Diese bilden oftmals den Kern einer Idee, den Anfang eines Konzepts, die Voraussetzung von schöpferischer Fantasie und für 8

Einleitung

ein kreatives und künstlerisches Schaffen. Dazu kommt, dass praktisch erworbene Kenntnisse in diversen künstlerischen Arbeitskontexten – sei es bei Musiker_innen, Schauspieler_innen, Filmmacher_innen – die künstlerische Qualität wesentlich mitbestimmen. Die Autor_innen greifen in den folgenden Beiträgen die Fragen nach Kunst/ Erfahrung sehr unterschiedlich auf und verweisen nicht zuletzt dadurch auf die Vielschichtigkeit und Disparatheit des Themas. Daraus ist ein Kaleidoskop von Zugängen, Assoziationen und Ausarbeitungen aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen und Bereichen zum Thema entstanden, das im jeweiligen Eigensinn seine Qualität und Stimmigkeit entfaltet (vgl. Winter 2001). Silvia Stoller zeichnet in ihrem theoretischen Beitrag die oben angedeutete poststrukturalistische feministische Kritik am Erfahrungsbegriff detailliert nach und entkräftet Punkt für Punkt die massive Kritik von Poststrukturalistinnen am Erfahrungsbegriff, wie er insbesondere auch in der Phänomenologie gedacht werde. Sie betont, dass ganz im Gegenteil der Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis in der Phänomenologie mit Skepsis begegnet werde, ganz anders als etwa im Empirismus, wo Erfahrung als »unhinterfragbare[r] Ausgangspunkt« (Stoller in diesem Band, 40) gilt. Erfahrung werde – so Stoller – aber auch sicher nicht ahistorisch verstanden, »weil die Erfahrung stets eingebunden ist in einen umfassenden Erfahrungshorizont, an dessen äußersten Ende die Welt überhaupt steht, kann die Erfahrung nicht ungeschichtlich sein.« (ebd., 20) Und beide, Phänomenologie wie auch feministische Poststrukturalistinnen, seien an einem »kritischen Erfahrungsbegriff« (ebd., 42) interessiert. Erfahrung könne niemals einfach unmittelbar und authentisch da sein, Kontexte seien in jedem Fall zentral zu berücksichtigen. Die Künstlerpersönlichkeit Ashley Hans Scheirl bewegte sich in den 1990erJahren in den Dyke-/Drag King- und F2M-Transgender-Szenen Londons, die von Kollaborationen gekennzeichnet waren, und präsentiert dies anhand von Fotos, Filmen und Texten. Mit der Devise »Ich bin mein_e eigene_r verrückte_r Cyborg Wissenschafter_in« stellt Ashley Hans sich als Subjekt und Objekt zugleich vor und legt ihre_seine eigene Kunsterfahrung als queeres Kunst- und Lebensprojekt dar. Sie_er thematisiert sich als transgender und bezeichnet es als paradox, geht weiter, berichtet über Erfahrungs(ge)schichte(n), die sich von Kunstprojekt zu Kunstprojekt angereichert haben. Scheirl changiert zwischen den Geschlechtern, schreibt darüber und zeigt in fotografischen Abbildungen (Teile von) Kunstaktionen, die mit engen Wegbegleiter_innen und Freund_in9

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

nen polyamourös organisiert, durchgeführt und gelebt wurden. Passbilder stehen am Beginn dieser autobiografischen Reise und verweisen auf Identität im Plural am Beispiel einer weiblich_männlich vielgestaltigen Persona. Claudia Walkensteiner-Preschl lädt in ihrem Essay über Film-Erfahrung zu Denkbewegungen im Dialog ein. Inspiriert durch die Überlegungen der Literatin Siri Hustvedt zu einer entsprechenden philosophischen Position, die persönliche Erfahrungen, Ich-Perspektive und Erkenntnis in besonderer Weise zueinander bringt, lässt auch sie sich auf einen solchen Prozess ein, um das ihm innewohnende Potential zu erforschen. Dieser Prozess gewinnt durch die Stellung der Autorin in einem universitären Umfeld, der Filmakademie Wien, die sich als Ort künstlerischer und wissenschaftlicher Expertise auszeichnet und an den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft agiert, eine ganz besondere Note. Dass Themen, Sprache, Zugänge und Fragestellungen in diesem in jedem Sinne spannungsreichen und anregenden Ambiente in Bewegung kommen, aufeinander einwirken und Aushandlungsprozesse hervorrufen müssen, bietet für die theoretische wie die Erfahrungsebene reichlich Stoff zur Auseinandersetzung, Analyse und Reflexion. Wissen/schaft/s/kritische Impulse können nicht mehr ausgeblendet werden, sondern fordern dazu heraus, Wahrnehmungen, Erfahrungen und Bewertungen zu hinterfragen und ein neues Denken und Sprechen zu entwickeln bzw. sich entwickeln zu lassen. Janine Schulze-Fellmann konfrontiert uns mit Fragen nach der Wahrnehmung, konkret von Körpern, von tanzenden Körpern. In ihrem Beitrag mit dem Titel »Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren« geht sie davon aus, dass Körperbilder in den Augen der Betrachtenden entstehen und ihre Materialität im Wechselspiel von Aktion und Rezeption. Doch welche Muster werden hierbei wirksam  ? Welche stabilisieren die Vorstellungen von Geschlechtern in einer Gesellschaft, welche bringen sie in Bewegung  ? Mit einem Rückgriff auf die Geschichte des Tanzes in Europa wird uns der Bühnentanz als Mittel der Repräsentation und Macht in Erinnerung gebracht  : ein von Männern getanzter Tanz. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen gingen auch Veränderungen auf der Bühne Hand in Hand. Männlichkeiten und Weiblichkeiten werden immer wieder – mittels tanztheoretischer Schriften, Choreografien, Inszenierungen etc. – neu verhandelt. Diese Setzungen und Verhandlungen von Männlichkeiten im Tanz lassen sich bis in unsere Tage hinein nachzeichnen, perpetuieren die heterosexuelle, weiße bürgerliche Matrix oder arbeiten an ihrer Dekonstruktion. Und das bis zur Leerstelle, zur Verweigerung des Tanzes selbst. 10

Einleitung

Ramón Reichert bezieht sich in seinem eloquenten Beitrag auf die bildbezogenen Selbstthematisierungen mittels digitaler Kommunikationstechnologien, kurz »Selfies« genannt. Reichert spannt einen weiten Bogen von der visuellen Selbstpräsentation durch die Smartphone-Technologien bis hin zu neuartigen Handlungsräumen für Selbstmodellierungen. Die User_innen erscheinen als artifizielle Produzent_innen ihrer eigenen Selbstbilder und sind dennoch in eine klare Ökonomie der digitalen Vernetzung in Form von Klicks, Likes, Tags und Comments eingebunden. Vor diesem Hintergrund thematisiert Reichert die genderpolitische Dimension der visuellen Selbstpräsentation in sozialen Medientechnologien und medialen Beobachtungsanordnungen, die im Rahmen der Verhandlungen von Gegenwartsmedien, Gesellschaft und Geschlechtlichkeit auf bildkulturelle Stereotypen von Weiblichkeit rekurrieren. Der Beitrag von Thomas Stegemann und Raffaela Reiter führt in die Geschichte und Gegenwart der Wiener Musiktherapie und gliedert sich in mehrere Teile  : Musiktherapie als künstlerische Therapie und Erfahrungswissenschaft, Zur Situation der Musiktherapie in Österreich, Musiktherapie an der mdw – begründet von einer Frau, geprägt von einem Mann, Musiktherapie – ein »Frauenberuf«  ? und Zu Genderaspekten in der Musiktherapie. In den ersten Teilen erzählt Thomas Stegemann, Leiter des Instituts für Musiktherapie an der mdw, von der Vorreiterrolle Österreichs in der Musiktherapie. Besonders hervorzuheben ist sein Hinweis auf die Be_Gründerinnen Vally Weigl und vor allem auf Editha KofferUllrich einerseits und den die Wiener Schule prägenden Alfred Schmölz, der das Institut 22 Jahre leitete, anderseits. Diese mit vielen anderen vergleichbare Gründungsgeschichte einer (bürgerlichen) Institution zeichnet sich durch eine offensichtliche institutionelle Nachrangigkeit von Be- oder Co-Gründerinnen aus. Deshalb soll aus geschlechterpolitischer Perspektive genau hingesehen und nachgefragt werden, welche Begründungen für diese patriarchalen Anordnungen gegeben wurden. Wer waren die Mutterfiguren der Wiener Musiktherapie und wie wurden sie in das Gedächtnis der Institution eingeschrieben  ? Die sozial konstruierten Eigenschaften Empathie, Einfühlung, Geduld, die in einer binären Logik traditionell dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben werden, sind für die Ausübung des Therapeut_innenberufs hilfreich, ja notwendig. Deshalb wundert es nicht, dass 75 Prozent der in Österreich angemeldeten Musiktherapeut_innen weiblich sind. »Es ist aber nicht naheliegend, dass diese Berufe ein so deutlich niedrigeres Lohnniveau aufweisen als etwa technische Berufe.« (Stegemann in diesem Band, XXX) Gender war – so die Autor_innen – in der Musiktherapie 11

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

tatsächlich lange (fast) kein Thema – Ausnahmen von dieser Regel gab es nur wenige. Kritisch wird festgehalten, dass die Beschäftigung mit Gender im letzten Jahrzehnt zwar zugenommen habe, dass aber nach wie vor zu diesem Thema nur eine kleine Gruppe von Musiktherapeut_innen forscht und publiziert. Raffaela Reiter, Autorin der 2015 am Institut für Musiktherapie der mdw abgeschlossenen Diplomarbeit »Musiktherapie aus der Genderperspektive. Der Einfluss der Geschlechtsidentitäten von TherapeutInnen und PatientInnen auf den musiktherapeutischen Prozess«, gehörte zu den Ersten am Wiener Institut, die die sich die Frage nach den Auswirkungen der Geschlechtsidentität auf den therapeutischen Prozess stellte. Reiter machte Interviews mit männlichen und weiblichen Therapeut_innen und arbeitete methodisch mit einer qualitativen Inhaltsanalyse. Ihr Setting ist zu klein, um repräsentative Aussagen machen zu können, Tendenzen können jedoch festgestellt werden. Besonderes Augenmerk komme bei der Ausprägung der eigenen Geschlechtsidentität dem sozio-kulturellen Umfeld zu, insbesondere der Frage, ob dort Geschlechterstereotype eher affirmativ oder eher kritisch gelebt werden. Denn die eigenen geschlechtsspezifischen Annahmen spiegeln sich – so Reiter – auch im musiktherapeutischen Prozess. Die Autorin extrahierte acht Phänomene des Umgangs mit der eigenen Geschlechtsidentität in den musiktherapeutischen Settings. Mit ihrer Arbeit setzte Raffaela Reiter einen wesentlichen Impuls für eine weitere kritischere Auseinandersetzung mit dem Gender-Thema am Institut für Musiktherapie der mdw. Gegenwärtig sind Gender- und queere Themen bereits deutlich präsenter und zu einem fixen Bestandteil der für alle Studierenden verpflichtenden Ringvorlesung Musiktherapie geworden. Schauspielerin und Regisseurin Elisabeth Augustin lässt uns in ihrem Beitrag »Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende« teilhaben an der Geschichte ihres Weges zur Schauspielerin und hin zu einer diese Position überschreitenden Regisseurin und Lehrenden, heute Intendantin eines Kulturfestivals. Möglich gemacht haben diese weiterführenden Projekte u.a. politisch erkämpfte Frauenräume wie das Wiener Kosmos Theater. Wichtig ist der Autorin, den Leser_innen vor Augen zu führen, dass sie im Unterricht ein ganzheitliches Welt- und Personenbild vertritt, indem sie die Studierenden darin unterstützt, zu werden, was bereits da aber nicht bewusst ist. Der Text von Elisabeth Augustin besteht aus mehreren Textebenen und -sorten, die teilweise ineinandergreifen. Darunter finden sich auch Wortspenden von früheren Mitstreiterinnen in der Gruppe »Frauen des Burgtheaters«, die Augustin als damaliges Burgtheaterbetriebsratsmitglied im Jahr 1978 als Reaktion auf 12

Einleitung

die Neue Frauenbewegung gegründet hatte. Im zweiten Teil des Textes mit der Überschrift »… signalisieren, dass man sich in die Theaterwelt hineinzustürzen gewillt ist«, einem Zitat ihrer Lehrerin Susi Nicoletti am Max Reinhardt Seminar, spricht Augustin über ihre Lehrerinnen und Mentorinnen. »Erfahrungswelt im österreichischen Musikbetrieb« untertitelt die Gitarristin, Ethnologin und Musikwissenschafterin, Sängerin und Dirigentin Elfriede Reissig ihren Beitrag. Sie erinnert sich an ihre Herkunft aus einer musikaffinen Gastwirtsfamilie und erzählt von ihren unterschiedlichen Kunsterfahrungen  : wie sie von einer volksmusikalischen Kindheit und Jugend, durchsetzt mit ersten Chordirigiererfahrungen, einer Studentinnenzeit mit Kulturwissenschaft ohne direkte Musikausübung, später eine bewusste Hinwendung zur Kunstmusik vollzog und reflektiert, zeigt, wie wenig planbar und geplant ihr persönlicher Werdegang in den Musikerinnenberuf war. Schwierige sozio-ökonomische und emotionale Entwicklungsbedingungen durch frühe Verantwortungsübernahme für andere prägten den persönlichen Weg von Elfriede Reissig, geborene Moschitz, in die Kunstmusik. Spät erst konnte sie das Dirigierstudium an der Kunstuniversität Graz aufnehmen. Die Vermittlung von zeitgenössischer Musik war und ist ihr ein besonderes Anliegen. Da sie weiß, wie schwer die Überwindung vertrauter Klanggewohnheiten sein kann, versucht sie ihre musikalischen Programmkonzeptionen mit interdisziplinären Einbezügen – Tanz, Literatur und »mit dem ganzen Körper hören« anzureichern, um auf diese Weise zu mehr Offenheit und Perzeption von zeitgenössischer Musik beizutragen. »[…] am Wegrand« nennt die Komponistin, Pianistin und Improvisationsmusikerin Elisabeth Harnik ihre Kunst/Erfahrungen. Sie fragt und beschreibt sich nach abgeschlossenem klassischem Klavierstudium als Improvisierende am Instrument, später auch in der Komposition. Nach dem Instrumentalstudium erst die Idee, auch an die Komposition denken zu »dürfen«, es zu wagen, sich selbst als Werke schaffende Künstlerin zu imaginieren  : Ausdruck suchen, (manchmal) finden, gestalten, tun. Und heute – viele Auftritte später, oft gemeinsam mit internationalen Jazz-Kolleg_innen tourend, als Musikvermittlerin in Neue-MusikSchulprojekten und als Improvisationsmusikerin an der Kunstuniversität Graz unterrichtend tätig sowie Gründerin, Bewohnerin, Komponistin, Kuratorin und Musikerin eines Veranstaltungsorts fern der Stadt in Gams/Frohnleiten in der Steiermark – führt sie ein kreatives öffentliches (Musiker_innen)Leben.

13

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Unser besonderer Dank gilt den Autor_innen für ihre Beiträge und Else Rieger für ihr Lektorat. Den Autor_innen stand es frei, welche Form der gendersensib­ len Sprache sie verwenden möchten. Ihnen – liebe Leser_innen – wünschen wir bei der Lektüre des vorliegenden siebten Bandes der Reihe »mdw Gender Wissen« viel Freude und eine inspirierende Erfahrung.

Literatur Marguérite Bos, Bettina Vincenz, Tanja Wirz (Hg.) (2004), Erfahrung  : Alles nur Diskurs  ? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 11. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002. Zürich Arthur C. Danto (1991), Die Verklärung des Gewöhnlichen. Frankfurt a. Main John Dewey (1987 [engl. 1934]), Kunst als Erfahrung, übersetzt von Christa Velten, Gerhard vom Hofe und Dieter Sulzer. Frankfurt a. Main [Art as experience] Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel (Hg.) (2013), Kunst und Erfahrung. Berlin Barbara Duden, Somatisches Wissen, Erfahrungswissen und »diskursive« Gewissheiten. Überlegungen zum Erfahrungsbegriff aus der Sicht der Körper-Historikerin, in  : Marguérite Bos, Bettina Vincenz, Tanha Wirz (Hg.), Erfahrung  : Alles nur Diskurs  ? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte. Zürich, 25–36 Joan W. Scott (2013 [engl. 1991]), Die Evidenz der Erfahrung, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 24/3, 138–166 [The Evidence of Experience, in  : Critical Inquiry, 17/4 (Summer 1991), 773–797] Joan W. Scott (2001) Phantasie und Erfahrung, in  : Feministische Studien 2/2001, 74–88 Rainer Winter (2001), Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Weilerswist

14

Silvia Stoller

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung1 »Die Aufgabe […] sei nicht, den Begriff der Erfahrung fallenzulassen, sondern ihn zu historisieren, danach zu fragen, was für die Subjekte […] als Erfahrung galt und was für uns selbst.«

(Scott 2001, 74)

Die Phänomenologie gilt als eine »Philosophie der Erfahrung«.2 Doch ist das Konzept der Erfahrung in der Phänomenologie unter dem Einfluss des französischen Poststrukturalismus seit den 1970er-Jahren starker Kritik ausgesetzt worden.3 Dies hatte zur Folge, dass die Erfahrung zunehmend in Verruf geriet. Die »Erfahrung« wurde zu so etwas wie einem »dirty word«, wie Elizabeth Grosz in den 1990er-Jahren drastisch, aber nicht unpassend formulierte (Grosz 1993, 40). Daran änderte sich auch nichts, als der poststrukturalistische Feminismus an Einfluss gewann. Vielmehr hat sich die skeptische und ablehnende Haltung der poststrukturalistischen Philosophie gegenüber der Phänomenologie eins zu eins auf den poststrukturalistischen Feminismus übertragen und gewissermaßen zu einer »Diskreditierung der Phänomenologie« (Alcoff 1997, 231) beigetragen, der eine »Diskreditierung der Erfahrung« (ebd., 233) mit einherging. Seitdem prägt eine Kluft das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Poststrukturalismus. Bis heute scheint sich der phänomenologische Erfahrungsbegriff im Kontext der feministischen Philosophie noch nicht von der poststrukturalistischen Kritik rehabilitiert zu haben. Im Folgenden werde ich mich der poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrungskonzeption im Kontext der feministischen Theorie widmen. Ich werde mich dabei in erster Linie auf die poststrukturalistische Theoretikerin Joan W. Scott beziehen, die sich wie kaum eine andere explizit mit dem Erfahrungsbegriff auseinandergesetzt hat. Ihr Anfang der 1990er-Jahre erschienener Text »Experience« hat einen großen Einfluss auf die feministischen Debatten um den Erfahrungsbegriff ausgeübt und kann mittlerweile als ein Schlüsseltext der poststrukturalistischen Kritik am Erfahrungsbegriff bezeichnet werden.4 Bei meiner Untersuchung der poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung wird die Frage leitend sein, ob diese Kritik im Detail gesehen tatsächlich auf die Phänomenologie zutrifft.5 Meine These hierzu lautet, dass die Phänomenologie der poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung standhält. Mehr noch  : Ich 15

Silvia Stoller

vertrete die Ansicht, dass Poststrukturalismus und Phänomenologie hinsichtlich des Erfahrungsbegriffs mehr gemeinsam haben, als man mancherorts gewillt ist zuzugeben. Es deutet nämlich einiges darauf hin, dass der poststrukturalistische Feminismus ebenso sehr wie die Phänomenologie an einem starken Begriff von Erfahrung interessiert ist und nicht nur einem bloßen Verzicht das Wort redet, wovon ich ausgehe. Wenn das zutrifft, dann hat das aber auch fruchtbare Konsequenzen für den Ansatz einer feministischen Phänomenologie. Feministische Phänomenologie könnte dann nämlich eine phänomenologische Philosophie der Erfahrung aus feministischer Sicht unter Berücksichtigung der poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung sein. Dies wiederum könnte nach einer Phase der Diskreditierung wieder zu einer Rehabilitierung der Erfahrung im Kontext der feministischen Philosophie beitragen.

Erkenntnistheoretischer Fundamentalismus Einer der Hauptkritikpunkte der poststrukturalistischen Kritik an einer Philosophie der Erfahrung bezieht sich auf die wissenschaftliche Praxis, die Erfahrung als Ausgangspunkt bzw. Ursprung (origin) oder als Quelle (source) für Wissen und Erkenntnis zu nehmen. Diese Kritik kann als Kritik am erkenntnistheoretischen »Fundamentalismus« (foundationalism) bezeichnet werden. Unter einem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus versteht man in diesem Zusammenhang die Berufung auf die Erfahrung zum Zwecke von Wissensgewinn. Die poststrukturalistische Kritik an einer solchen Auffassung von Erfahrung lautet, dass in dem Maße, wie die Erfahrung zum Ausgangspunkt von Erkenntnis genommen wird, die Erfahrung schlicht als gegeben vorausgesetzt wird  : Sie bildet eine unhinterfragte Voraussetzung (Scott 1992, 26). Indem die Erfahrung unhinterfragt vorausgesetzt wird, wird nicht in Betracht gezogen, dass die sogenannte »ursprüngliche« Erfahrung selbst einen Ursprung haben könnte oder Bedingungen unterliegt, die diese bestimmte Erfahrung erst hervorbringen. Woher kommt es, so ließe sich vor dem Hintergrund dieser Kritik zu Recht fragen, dass eine Erfahrung zu dieser und nicht zu jener Zeit, in diesem und nicht in einem anderen Zusammenhang gemacht wird  ? Mit dieser Kritik positioniert sich der Poststrukturalismus als Gegner des Empirismus. Der Empirismus geht, vereinfacht gesagt, von der erkenntnistheoretischen Annahme aus, dass alles Wissen seinen »Ursprung« in der Erfahrung hat. Zwar ist richtig, dass für Husserl die Erfahrung eine »Rechtsquelle der Erkenntnis« (Ideen 1, Hua III/1, 51) ist.6 In offensichtlicher Anlehnung an Hus16

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

serl schreibt auch Merleau-Ponty, dass die Erfahrung »nächste Quelle und das letzte Richtmaß aller Erkenntnis« (Merleau-Ponty 1966, 43) ist. Doch ist die Phänomenologie trotz ihrer Hinwendung zur Erfahrung mit Nachdruck keine empiristische Wissenschaft. Vielmehr gilt für sie Diltheys Diktum »Empirie, nicht Empirismus« (Dilthey 1997, 17), was nichts anderes heißt, als dass sie zwar sehr wohl mit einem Begriff von Erfahrung arbeitet, diesen aber nicht wie im Empirismus empiristisch verkürzt. Anders gesagt  : Phänomenologie ist nicht Erfahrungswissenschaft, sondern »Wissenschaft von der Erfahrung« (Lembeck 1994, 26). Erfahrung ist nicht Ausgangspunkt für Erkenntnis, sondern Thema der Phänomenologie. Im Unterschied zum Empirismus nimmt die Phänomenologie die Erfahrung nicht als Grundlage für Wissen und Erkenntnis, sondern die Erfahrung selbst und deren Strukturen sind Gegenstand der Phänomenologie. Der Vorwurf, dass Theorien der Erfahrung auf einem ungeprüften Begriff von Erfahrung basieren, kann zwar gegen empiristische Erfahrungstheorien gerichtet werden, er kann aber keinesfalls gegen die Phänomenologie geltend gemacht werden, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Phänomenologie keine empiristische Philosophie im Sinne des Empirismus ist.7

Ungeschichtlichkeit der Erfahrung In unmittelbarem Zusammenhang mit der Kritik am erkenntnistheoretischen Fundamentalismus wird der Vorwurf der Ungeschichtlichkeit der Erfahrung erhoben. Ungeschichtlich ist PoststrukturalistInnen zufolge eine Erfahrung dann, wenn eine bestimmte Erfahrung unabhängig von Zeit und Raum gedacht und in weiterer Folge ohne Berücksichtigung der Kategorien von Zeitlichkeit und Räumlichkeit analysiert wird und die Entstehungsbedingungen einer bestimmten Erfahrung außer Betracht bleiben. Demgegenüber spricht Scott von der Notwendigkeit einer »Historisierung« der Erfahrung (Scott 1992, 33 ff.). Die Phänomenologie hat auf unterschiedliche Weise die Geschichtlichkeit der Erfahrung thematisiert. Prominentestes Beispiel dafür ist Heideggers Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins in »Sein und Zeit« (Heidegger 1986, § 75 ff.). Doch kann der Nachweis der Geschichtlichkeit der Erfahrung schon mit Husserls Phänomenologie erbracht werden. Der im Raum stehende poststrukturalistische Vorwurf der Ungeschichtlichkeit der Erfahrung ist durch den Hinweis auf die »Horizontstruktur der Erfahrung« zu entkräften. Dadurch, dass die Erfahrung nach Ansicht der Phänomenologie immer in Erfahrungshorizonte eingebunden ist, wird der Geschichtlichkeit der Erfahrung Rechnung 17

Silvia Stoller

getragen. Die Scott’sche Forderung nach einer Historisierung der Erfahrung hat demnach ihr Pendant in der Forderung der Phänomenologie, die Erfahrung einschließlich ihrer Erfahrungshorizonte zu thematisieren. Wie das zu denken ist, soll im Folgenden durch den Hinweis auf die phänomenologische Wahrnehmungstheorie und die phänomenologische Theorie der Zeitlichkeit gezeigt werden. Dabei möchte ich eine Geschichtlichkeit im weiteren und eine Geschichtlichkeit im engeren Sinne unterscheiden. Im Zentrum der phänomenologischen Wahrnehmungstheorie steht die These, wonach sich ein Gegenstand in der Wahrnehmung stets vor einem Horizont abhebt.8 Mit »Horizont« sind – im Unterschied zu den eigentlich wahrgenommenen Momenten der Wahrnehmung – die eigentlich nicht wahrgenommenen, aber mit wahrgenommenen Aspekte des Wahrnehmungsgegenstandes bezeichnet.9 Diese mit wahrgenommenen Aspekte sind für die Phänomenologie konstitutiv für die Wahrnehmung insgesamt, denn obwohl die Wahrnehmung stets perspektivisch gegeben ist, wird der Wahrnehmungsgegenstand als solcher wahrgenommen und nicht lediglich eine seiner Seiten. So nehme ich in der Wahrnehmung eines Hauses beispielsweise eigentlich nur seine Vorderseite wahr, dennoch habe ich eine Wahrnehmung des »Hauses« und nicht bloß die Wahrnehmung der »Vorderseite des Hauses«. Durch eine Art des »Mitbewußthabens von anderen Seiten« (Analysen zur passiven Synthesis, Hua XI, 4) »weiß« ich implizit auch um die anderen Seiten Bescheid, und es ist dieses implizite Wissen, das die Einheit der Wahrnehmungserfahrung garantiert und die Wahrnehmung nicht in einzelne Fragmenterfahrungen zerfallen lässt. Das Mitbewussthaben von anderen möglichen Wahrnehmungen hat seinen Grund in einer der konkreten Wahrnehmungserfahrung inhärenten Verweisstruktur  : »zu jeder äußeren Wahrnehmung gehört die Verweisung von den eigentlich wahrgenommenen Seiten des Wahrnehmungsgegenstandes auf die mitgemeinten, noch nicht wahrgenommenen, sondern nur erwartungsmäßig und zunächst in unanschaulicher Leere antizipierten Seiten« (Cartesianische Meditationen, Hua I, 82).10 Dieser Verweisungszusammenhang gehört wesentlich zur Erfahrung. Zur Erfahrung gehört also nicht nur das aktuell Erfahrene, sondern ebenso das potenziell Erfahrbare, das sich in der Erfahrung abzeichnet und nicht von außen einfach hinzukommt.11 Das heißt, dass die Wahrnehmung zwar perspektivisch und anschaulich nur in Teilen gegeben ist, aber dass das phänomenal Gegebene »weit über das jeweils Gegebene hinausweist« (Waldenfels 1993, 266) und also im Grunde von einem Überschuss in der Erfahrung gekennzeichnet ist. Die Erfahrung setzt immer schon mehr voraus, als sie eigentlich ist, sie verweist auf ein Mehr an Erfahrung, als die Erfahrung selbst in der Erfahrung zeigt – 18

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

und dies schon auf der Ebene der schlichten Wahrnehmung  : »Die ›gesehenen‹ Dinge sind immer schon mehr als was wir von ihnen ›wirklich und eigentlich‹ sehen. Sehen und Wahrnehmen ist wesensmäßig ein Selbsthaben in eins mit Vor-haben, Vor-meinen« (Krisis, Hua VI, 51). Neben den Horizonten der Räumlichkeit widmet sich die Phänomenologie auch den Horizonten der Zeitlichkeit, womit wir es mit einer Geschichtlichkeit der Erfahrung im engeren Sinne zu tun haben.12 Unter einem zeitlichen Horizont versteht die Phänomenologie die von der Gegenwart her sich entfaltenden Vergangenheits- und Zukunftshorizonte. In der Gegenwart sind Erfahrungen rückverweisend auf vergangene Erfahrungen und vorverweisend auf zukünftige Erfahrungen. Im einen Fall stellen vergangene Erfahrungen nicht ein für alle Mal verlustig gegangene Erfahrungen dar, sondern in der gegenwärtigen Erfahrung mitgegenwärtige, wenn auch nicht notwendig konkret vergegenwärtigte Erfahrungen. Dass ich einmal geboren wurde, bleibt für immer ein bestimmendes Element meines Lebens, auch wenn ich mich nicht mehr ausdrücklich an meine Geburt erinnern kann. Im anderen Fall stellen zukünftige Erfahrungen Erfahrungen dar, die noch nicht realisiert sind, aber in der jeweiligen Erfahrung bereits vorgezeichnet sind als mögliche, noch zu konkretisierende Erfahrungen. Vergangenheitshorizont und Zukunftshorizont haben also die phänomenale Struktur des »nicht mehr« und »noch nicht«.13 Nur in dieser doppelten zeitlichen Verweisstruktur im Ausgang von der gegenwärtigen Erfahrung ist Erfahrung überhaupt möglich, und wie schon bei der Dingwahrnehmung sind es diese zeitlichen Horizonte, die eine Erfahrung überhaupt als Einheit der Erfahrung gewährleisten. Doch sind die zeitlichen und räumlichen Horizonte in der Erfahrung nicht voneinander zu trennen, als wären einmal nur zeitliche und einmal nur räumliche Horizonte für eine Erfahrung konstitutiv. Beide sind sie Bestandteile jeder konkreten Erfahrung und können durch eine phänomenologische Beschreibung zum Gegenstand gemacht werden. Darüber hinaus muss zwischen einem engen und einem weiten Begriff von Horizont unterschieden werden. Die zeitlichen und räumlichen Horizonte im oben genannten Sinne sind dem engeren Begriff des Horizonts zuzuordnen. Im Unterschied dazu wird der Begriff des Horizonts in der Phänomenologie jedoch auf die Welt überhaupt ausgedehnt, weshalb wir diesen als Horizontbegriff in einem weiten Sinne bezeichnen dürfen. Husserl nennt diesen auf die Welt bezogenen Horizont »Welthorizont« (Krisis Hua VI, 146). Das ist ein Horizont möglicher Erfahrung im weitesten Sinne, der Horizont aller Horizonte  ; er umfasst die Erfahrung der unbelebten wie belebten Natur einschließlich die Erfahrung der sozialen und ideellen Welt (vgl. ebd., 141). Damit ist eine ent19

Silvia Stoller

scheidende Bedeutungserweiterung des Erfahrungsbegriffs vollzogen  : Erfahrung wird zur Erfahrung von Welt erweitert, d. h. letztlich als ein Weltverhältnis begriffen.14 In einer existenzphilosophischen Wendung hat Merleau-Ponty die Erfahrung stärker noch als Husserl als ein »Verhältnis zur Welt« (MerleauPonty 1966, 10), als »Zur-Welt-Sein« (être au monde) (ebd., 10  ; frz. VIII) und die Welt als das »natürliche Feld« (ebd., 7) aller Erfahrung interpretiert, als das »Feld all unserer Erfahrung« (ebd., 462). Bezogen auf den poststrukturalistischen Vorwurf des Ungeschichtlichen lese ich den Horizont als jenes »geschichtliche« Moment in einem umfassenden Sinne, das die PoststrukturalstInnen für die Erfahrung einfordern. Geschichtlich ist die Erfahrung in phänomenologischem Verständnis deshalb, weil sie in eine Verweisstruktur von räumlichen und zeitlichen Horizonten eingebunden ist. Immer ist das, was uns in der Erfahrung begegnet, gebunden an Strukturen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Weil die Erfahrung stets eingebunden ist in einen umfassenden Erfahrungshorizont, an dessen äußerstem Ende die Welt überhaupt steht, kann die Erfahrung nicht ungeschichtlich sein.

Unmittelbarkeit der Erfahrung Ein weiterer Kritikpunkt des Poststrukturalismus bezieht sich auf die sogenannte Unmittelbarkeit der Erfahrung resp. Wahrnehmungserfahrung. Kritisiert wird die Annahme, dass ein Wahrnehmungsgegenstand in der Wahrnehmung unmittelbar gegeben ist und als solcher unmittelbar beschrieben werden kann. Im einen Fall wird angenommen, dass Wahrnehmungen unabhängig vom Wahrnehmenden sind. Im anderen Fall wird davon ausgegangen, dass die Wahrnehmungserfahrung unmittelbar beschrieben werden kann. Die poststrukturalistische Kritik an der Erfahrung hingegen geht davon aus, dass das Objekt der Erfahrung weder unmittelbar gegeben ist noch dass die Erfahrung unmittelbar beschrieben werden kann. Dem Vorwurf der Unmittelbarkeit der Erfahrung bzw. dem Vorwurf, dass die Erfahrung in Philosophien der Erfahrung eine ungedeutete Erfahrung ist, widerspricht in der Phänomenologie das Faktum von der Intentionalität der Erfahrung. Mit der Intentionalität wird eine Grundeigenschaft der Erfahrung bezeichnet.15 Intentionalität bedeutet, bezogen auf die Erfahrung, dass etwas immer als etwas erfahren wird. Husserls Unterscheidung zwischen dem Wie des intendierten Gegenstandes und dem Gegenstand selbst (Logische Untersuchungen, Hua XIX/1, 414), also das, was später von Heidegger in »Sein und 20

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

Zeit« als das hermeneutische »Als« (Heidegger 1986, 149) bezeichnet wird und was Waldenfels die »signifikative Differenz« nennt (Waldenfels 1980, 86), bildet das Kernstück des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs. Mit dieser grundlegenden Differenz ist ein Unterschied zwischen dem Was und dem Wie hervorgehoben, das in unterschiedlichen Spielarten wirksam ist, als Unterschied zwischen Gegebenheit und Gegebenheitsweise, zwischen Gegebenem und Gemeintem, zwischen Gegenstand und Bedeutung oder zwischen Sachgehalt und Zugangsart usw. Während im ersten Fall festgestellt ist, dass ein Gegenstand gegeben ist, wird im zweiten Fall festgehalten, dass der Gegenstand immer auf bestimmte Weise gegeben ist. »Als Theorie der Erfahrung befaßt Phänomenologie sich nicht direkt, sondern indirekt mit dem, was sich zeigt, indem sie es so nimmt, wie oder als was es sich zeigt« (Waldenfels 1998, 21). Der phänomenologische Zugang zum phänomenologischen Gegenstand ist folglich nicht auf die Formel »Schau hin und beschreibe, was du siehst« zu bringen, sondern eher mit den Worten »Schau hin und sag mir, warum du siehst, was du siehst« zum Ausdruck zu bringen. Ein solches Vorgehen ist weit entfernt von einer »Bilderbuchphänomenologie« (Waldenfels 1980, 19), vor der schon Husserl gewarnt hat und gegen die man zu Recht einwenden könnte, dass sie nur beschreibe, was gegeben ist. Doch ist die Phänomenologie durch ihren Anspruch, das Phänomen im Wie seines Erscheinens zu beschreiben, vor der Gefahr eines solchen theoretischen Unmittelbarkeits-Trivialismus, vor dem der Poststrukturalismus mit guten Gründen warnt, gefeit. Folglich ist die Vorstellung, die Phänomenologie würde Gegenstände lediglich beschreiben, nicht korrekt, als könnte sie den Gegenstand je in seiner Vollständigkeit beschreiben oder als läge der Gegenstand dem phänomenologischen Betrachter in aller Breite vor Augen. Zwar ist richtig eingewendet worden, dass Husserls Phänomenologie einseitig an der Anschauung ausgerichtet ist, und hier wiederum an der Dingwahrnehmung, doch daraus den Schluss zu ziehen, dass der in der Wahrnehmung gegebene Gegenstand vollständig gegeben ist, geht an der Phänomenologie vorbei. Hierzu sei in aller Länge auf das die Husserl’sche Phänomenologie bestimmende »Prinzip aller Prinzipien« verwiesen, das da lautet  : »Am Prinzip aller Prinzipien  : dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen« (Ideen 1, Hua III/1, 43 f.). 21

Silvia Stoller

D. h., etwas bietet sich dar, aber auch nur in gewissen »Schranken«, was heißt, dass das, was in der Erfahrung gegeben ist, unvollständig gegeben ist und als solches auch nur begrenzt oder indirekt zugänglich ist. Damit eine Erfahrung in phänomenologischer Methode erfasst werden kann, bedarf es also nicht nur einer Beschreibung dessen, was gegeben ist, sondern in eins damit einer Analyse und Rekonstruktion dessen, was nicht gegeben ist, was sich der Gegebenheit in der Erfahrung entzieht. Dass die Phänomenologie weit entfernt ist von einer Theorie der unmittelbaren Erfahrung, kann weiters durch den Hinweis auf die spezifische Methode, deren sich die Phänomenologie bedient, entkräftet werden. Die Phänomenologie als Methode hebt an mit der Vorstellung, dass wir auf verschiedene Weisen auf die Welt und ihre Gegenstände bezogen sind. Gewöhnlich haben wir zur Welt ein ganz natürliches, ungebrochenes Verhältnis  : Wir erfahren die Welt als vorhanden, gegeben, unmittelbar und für uns da seiend. In der Regel wird nicht an ihr gezweifelt – wir »glauben« an die Welt und an das, was uns in ihr begegnet.16 Diesen Weltbezug, der im Wesentlichen durch einen »Weltglauben« charakterisiert ist, nennt Husserl »natürliche Einstellung« (Ideen 1, Hua III/1, 56 ff.), und das Faktum, wonach wir im Alltagsleben eine natürliche Einstellung zur Welt unterhalten, die »Generalthesis der natürlichen Einstellung« (ebd., § 30). An diesem Punkt setzt die Phänomenologie kritisch an, und hier beginnt ihre eigentliche philosophische Arbeit. Sie beginnt mit einer Problematisierung der natürlichen Einstellung in dem Sinne, dass der natürliche Weltbezug als Weltbezug in natürlicher Einstellung überhaupt zunächst erkannt und als solcher ausgewiesen wird. Nur so ist es möglich, eine »Änderung« der natürlichen Einstellung in methodischer Absicht in Betracht zu ziehen und nicht bei der »reinen Beschreibung« der für mich da seienden Wirklichkeit stehen zu bleiben (ebd., 61). Der eigentliche methodisch-phänomenologische Schritt im Ausgang von der Feststellung der natürlichen Einstellung gegenüber der Welt besteht im Vollzug der »phänomenologischen epoché« (ebd., §§ 31 f.), d. h. im Versuch, sich jeglichen Urteils über das Sein zu enthalten und von Seinsstellungnahmen abzusehen. Dies geschieht durch die sogenannte »Methode der Einklammerung« (ebd., 65). Das, was uns in natürlicher Einstellung gegeben ist, soll nach Husserl nicht wie bei Descartes’ Zweifelsversuch in Form eines universalen Zweifels negiert, sondern lediglich »eingeklammert« werden.17 In Form der sogenannten »phänomenologischen Reduktion« wird in weiterer Folge das in der phänomenologischen Epoché eingeklammerte Sein zurückgeführt auf sein Erscheinen.18 Übrig bleibt das, was die Phänomenologie »Phänomen« nennt. Reduktion bedeutet also, um es mit Waldenfels zu sagen, die »Rückführung dessen, was sich 22

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt« (Waldenfels 1992, 30). D. h. aber, dass die Erfahrung nach Vollzug der phänomenologischen Epoché und der phänomenologischen Reduktion gewissermaßen ein künstliches Phänomen ist, nämlich eine ihrer »Natürlichkeit« und »Vorgegebenheit« nun beraubte Erfahrung  : die Erfahrung in Anführungszeichen (sic  !)19, die Erfahrung reduziert auf den Erfahrungssinn.20 Im Übergang von der »natürlichen« Einstellung zur »phänomenologischen Einstellung« (Ideen 1, Hua III/1, 68) beginnt die phänomenologische Arbeit. Der Übergang von der einen zur anderen Einstellung geschieht folglich nicht bruchlos, vielmehr setzt er einen Bruch mit der »natürlich« erfahrenen und das heißt auch der unmittelbar erfahrenen Welt voraus.21 Diese wenigen Hinweise zur phänomenologischen Methode mögen genügen, um zu zeigen, dass sich die Phänomenologie nicht mit der Beschreibung eines naiven Weltbezugs begnügt, sondern eine reflexive Einstellung auf die in natürlicher Einstellung gegebene unmittelbare Erfahrung voraussetzt.22 Der Phänomenologe ist kein naiv Beschreibender, sondern ein philosophischer Skeptiker  : »Als die Welt Wahrnehmender glaubt er, als reflektierender Skeptiker traut er diesem Glauben nicht, er macht ihn nicht mit« (Erste Philosophie, Zweiter Teil, Hua VIII, 93). Darin besteht die praktische Aufgabe der Phänomenologie, und darin liegt regelrecht ein Paradox der Phänomenologie  : das Selbstverständliche in seiner Selbstverständlichkeit verständlich zu machen.23 Das heißt aber, dass die Phänomenologie gerade nicht einer Theorie der unmittelbaren Erfahrung nachhängt, sondern diese  – mit methodischen Mitteln  – problematisiert, wie es auch der kritischen Intention der poststrukturalistischen Hinterfragung der Erfahrung entspricht. Husserls späte Philosophie, die als »genetische Phänomenologie«24 beschrieben wird, ist ein weiteres Indiz dafür, dass es der Phänomenologie nicht um die bloße Beschreibung naiver Erfahrungsinhalte geht. Es ist Husserls in dieser Zeit erarbeitete »genetische Fragestellung« (Husserl 1985, 38), die als Beleg dafür dienen kann, dass es der phänomenologischen Philosophie nicht einfach um die Deskription dessen geht, was in der Erfahrung unmittelbar erfahren wird. In seinem Spätwerk der »Krisis« wird die Phänomenologie in ihrem methodischen Vorgehen als Rückfrage begriffen, die mit einer Rückbesinnung und einem Rückgang einhergeht.25 Was heißt Rückfrage  ? Rückfrage von wo aus und wohin  ? Das ist hier die Frage. Vorweggenommen bedeutet Rückfrage die Rückfrage von der Wissenschaftswelt auf die Lebenswelt. In »Erfahrung und Urteil« bestimmt Husserl die Lebenswelt als Welt, in der wir »immer schon leben«  : »Der Rückgang auf die Welt der Erfahrung ist Rückgang auf die ›Lebenswelt‹, d. i. die Welt, in der wir immer schon leben, und die den Boden für alle 23

Silvia Stoller

Erkenntnisleistung abgibt und für alle wissenschaftliche Bestimmung« (Husserl 1985, 38).26 Es handelt sich hierbei um einen Bereich der lebensweltlichen Erfahrung. Husserl entwickelt den Gedanken der philosophischen Rückfrage ganz im Sinne einer phänomenologischen Wissenschaftskritik. Sie setzt an bei der Wissenschaftswelt und fragt nach deren Voraussetzungen, d. h. nach derjenigen Welt, die sie immer schon voraussetzt und von der sie im Zuge ihrer wissenschaftlichen Praxis auch immer schon Gebrauch macht  – für Husserl die Lebenswelt. Diese Lebenswelt ist jedoch mit Entstehen der neuzeitlichen Wissenschaften und ihrem Primat der Objektivität verloren gegangen. Die der Objektivität verpflichtete neuzeitliche Wissenschaft respektive die Naturwissenschaft27 abstrahiert von der Lebenswelt, auf die sie doch auf gewisse Weise, wie Husserl argumentiert, bezogen bleibt (Krisis, Hua VI, 133). Sie bleibt unter anderem deshalb auf sie bezogen, weil sie als wissenschaftliche Praxis angewiesen ist auf die anschauliche Umwelt bzw. die sinnliche Erfahrung.28 So benötigt beispielsweise das Elektronenmikroskop, das dem menschlichen Auge Unsichtbares sichtbar macht, den Blick durch das Mikroskop bzw. auf den Bildschirm, auf den das sichtbar Gemachte projiziert wird. Ferner ist sie bezogen auf die Lebenswelt, insofern die objektiven Wissenschaften eine von WissenschaftlerInnen getragene Wissenschaftspraxis voraussetzen. Das will heißen, dass WissenschaftlerInnen mehr als nur Wissenssubjekte sind, sie sind zugleich auch Privatpersonen und somit in lebensweltliche Zusammenhänge eingebunden, die nicht vor den Toren des wissenschaftlichen Labors Halt machen – »selbst Wissenschaftler sind nicht immer in wissenschaftlicher Arbeit« (ebd., 125).29 Wissenschaftliche Praxis und Theorie stehen in einem konstanten und untrennbaren Verhältnis zu einem »vorwissenschaftlichen Leben« (Krisis, Hua VI, 50) oder zu einer »außerwissenschaftlichen Lebenswelt« (ebd., 77). Die von Husserl in der »Krisis« als Aufgabe betrachtete Wiedergewinnung der »Lebenswelt als wissenschaftliches Thema« (ebd., 124 f.) erfordert aber in diesem Zusammenhang auch die Infragestellung der in einer bestimmten historischen Epoche geltenden wissenschaftlichen Wahrheit, d. h. den Nachweis, dass die Wissenschaften und deren Wahrheiten geschichtlich sind. Die für die neuzeitlichen Wissenschaften charakteristische Idee der Objektivität und ihre Vorstellung von Exaktheit und Messbarkeit sind für Husserl Resultat einer geschichtlichen Entwicklung, eine historische Idee, die durch eine »historische Besinnung« (ebd., 16) rekonstruiert und somit sichtbar gemacht werden kann.30 Wenn es also das Ziel der genetischen Phänomenologie ist, die historisch verschüttete, aber darum nicht verloren gegangene Lebenswelt wiederzugewinnen, so muss sie den Weg über die gegenwärtig geltende Wissenschaftsnorm neh24

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

men. Das hat Konsequenzen auf die Methode der Phänomenologie. Da die Lebenswelt immer schon von wissenschaftlichen Konstruktionen überdeckt ist, kann sie nur durch eine »methodisch gezielte[n] Rückfrage« (Waldenfels 1985, 16) wiedergewonnen, d. h. indirekt erschlossen werden, über den Umweg über die vorherrschenden epistemischen Konstruktionen. Von daher versteht sich, dass sich Husserls späte genetische Phänomenologie der Problematik der unmittelbaren Anschauung bewusst ist. Dass die Lebenswelt nur indirekt in Form einer Rückfrage wiederzugewinnen ist, das hat zuvor schon Ricœur in seiner Auseinandersetzung mit Husserls »Krisis«-Werk herausgestellt  : »die Lebenswelt [fällt] niemals in irgendeine direkte Anschauung, sondern ist nur indirekt zugänglich auf dem Umweg über eine spezifische Methode der ›Rückbesinnung‹, die genauer als ›Rückfrage‹ zu charakterisieren ist« (Ricœur 1978, 209). Gegeben, dass unser Wissen von der Welt immer durch epistemisches Wissen geprägt ist, können wir das doxische Wissen von der Welt, das nicht aufgeht in epistemischem Wissen, nur im Durchgang durch die Episteme gewinnen. Das meint die Rede vom indirekten Zugang auf die lebensweltliche Erfahrung.31 In dieser methodischen Rückbesinnung oder Rückfrage ähnelt die Phänomenologie bis zu einem gewissen Grad einem archäologischen Vorgehen, das nach verschütteten Ursprüngen fragt und schrittweise sedimentierte Erfahrungsschichten freilegt, sowie einem genealogischen Vorgehen, das der Genesis bestimmter Erfahrungen auf der Spur ist.

Ungedeutete Erfahrung Der Poststrukturalismus geht davon aus, dass die Erfahrung immer gedeutete Erfahrung ist, d. h. eine Interpretationsleistung  : »Experience is at once always already an interpretation and is in need of interpretation« (Scott 1992, 37). In den von den KritikerInnen vermeinten Philosophien der Erfahrung bleibe dieser Aspekt der immer schon gedeuteten Erfahrung jedoch unberücksichtigt. In diesem Punkt stimmt die Phänomenologie mit dem Poststrukturalismus überein. Die Phänomenologie geht davon aus, dass die Erfahrung immer schon interpretierte Erfahrung ist. Gegen die Auffassung der Erfahrung als ungedeutete oder uninterpretierte Erfahrung spricht der bereits erwähnte Intentionalitätscharakter der Erfahrung, wonach Erfahrung immer Erfahrung von etwas als etwas ist. Deshalb ist die Erfahrung keinesfalls frei von Interpretation, sondern im Gegenteil gekennzeichnet durch einen spezifischen Erfahrungssinn. In der Tat wäre die Erfahrung ungedeutete Erfahrung genau dann, wenn zuträfe, dass das Erfah25

Silvia Stoller

rungssubjekt nicht interpretierend oder deutend in die Erfahrung eingreift, wenn sich also beispielsweise das Erfahrungssubjekt zum Erfahrungsobjekt nur passiv oder rezeptiv verhielte. Husserls phänomenologische Wahrnehmungstheorie ist reich an Analysen, die jedoch zeigen, dass die Erfahrung eine gewisse »Aktivität« des Erfahrungssubjekts voraussetzt.32 Wie bereits erwähnt, ist die Erfahrung eingebunden in ein ganzes Erfahrungsfeld. Das Sehen setzt ein Gesichtsfeld voraus, doch ist nicht alles sichtbar, das Sichtbare ist umgrenzt von einem Feld von Unsichtbarem. Was ich aber letztlich sehe, hängt von meiner eigenen Positionierung innerhalb dieses Erfahrungsfeldes ab. Öffne ich die Augen, ist mein Blick nach vorn gerichtet, will ich nach hinten sehen, muss ich mich umdrehen. Aber auch das im Gesichtsfeld Gesehene erfordert ein gewisses Eingreifen des Sehenden, insofern die im Sehfeld sich zeigenden sichtbaren Gegenstände nicht alle gleichzeitig und nicht in gleicher Weise gesehen werden. Ich sehe z. B. den Bildschirm und nicht den Schreibtisch, an dem ich arbeite. Ich sehe gerade die Bücher im Bücherregal und nicht die Zwischenräume zwischen den Büchern. »Das Erfassen ist ein Herausfassen, jedes Wahrgenommene hat einen Erfahrungshintergrund« (Ideen 1, Hua III/1, 71  ; meine Hervorhebung, S.S.). Eine gewisse »Zuwendung« (ebd.) zum Gegenstand ist Bedingung dafür, einen Gegenstand »erfassen« zu können. Indem ich dieses und nicht jenes aus dem Erfahrungsfeld herausgreife, bin ich gegenüber dem Erfahrungsfeld konstitutiver Teil eines Interpretationsprozesses. Für den Tastsinn gilt Ähnliches. Eine Berührungserfahrung erfordert den Einsatz des tastenden Leibes  : »[D]ie Empfindung des Glatten oder des Rauhen ergibt sich durch eine erforschende Bewegung, die die Oberfläche abtastet. Ohne diese Bewegung des Leibes, die eine taktile Auskunft zu gewinnen sucht, gibt es keine Tastempfindung« (Merleau-Ponty 1994, 173  ; meine Hervorhebung). Die in der Wahrnehmungspsychologie immer wieder herangezogenen Kippfiguren verdeutlichen gleichermaßen die Rolle der eingreifenden Partizipation in der Wahrnehmung. Dies kann verdeutlicht werden am Versuch, das eine oder andere Bildmotiv wahrzunehmen  : Nie können beide Bildmotive gleichzeitig wahrgenommen werden  ; um das eine oder andere zu sehen, bedarf es mitunter einer äußersten inneren Anstrengung  – schnell kann das eine Motiv in das andere Motiv umkippen. Was ich letztlich, wenn auch nur für eine bestimmte Dauer sehe, hängt also von meiner wahrnehmenden Beteiligung meines Blicks ab, der auf die vor mir strukturierte Zeichnung gerichtet ist. Die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen »intentio«, auf die Husserls Intentionalitätsbegriff zurückgeht, bringt exakt diese Gerichtetheit zum Ausdruck  : Sie meint in 26

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

Husserls Verständnis ein Sichbeziehen (Logische Untersuchungen III/1, Hua XIX/1, 390) auf den Gegenstand.33 Deutlicher, als es vielleicht bei Husserl der Fall ist, hat Merleau-Ponty den interpretativen Charakter der Erfahrung hervorgehoben. Er spricht von einer »Gewaltsamkeit« der Erfahrung, die bereits auf der Ebene der Wahrnehmung angesiedelt ist. Die Wahrnehmung ist, wie er in der »Phänomenologie der Wahrnehmung« ausführt, ein »gewaltsamer Akt« (Merleau-Ponty 1966, 414).34 Sie ist »gewaltsam« dadurch, dass sie etwas erschließt, indem sie anderes ausschließt.35 Nur liegt in dieser Gewalt keine Destruktion, sondern ein Moment der Produktion, weshalb diese Form der Gewalt als transzendentale Gewalt beschrieben werden muss.36 Diese Form der Gewalt in der Wahrnehmung ist nicht defizitär, weil sie in ihrer Gewaltsamkeit auch produktiv ist  : Sie ermöglicht Wahrnehmung.37 »Um diesen Preis nur gibt es für uns Dinge und Andere, nicht auf Grund einer Illusion, sondern auf Grund eines gewaltsamen Aktes, der eben die Wahrnehmung selbst ist« (ebd.). Sie ist ferner nicht instrumentell, weil sie kein Mittel ist, das einmal eingesetzt werden kann und ein anderes Mal nicht – jeder Wahrnehmung haftet der Charakter des Gewaltsamen an. Und sie ist vorinstrumentell, weil sie nicht von einem Handlungssubjekt bewusst in Szene gesetzt werden kann – die Gewaltsamkeit der Wahrnehmung geht einer jeden Handlungsintention voraus oder liegt ihr zugrunde. Die Gewaltsamkeit der Erfahrung, die Merleau-Ponty bereits in der Wahrnehmung angelegt sieht, stellt eine Form der Interpretation in der Erfahrung dar, weil die in der Erfahrung wirksame Gewalt für die Strukturierung und Bedeutsamkeit der Erfahrungswelt verantwortlich ist. Dadurch, dass die Erfahrung nicht einfach hinnimmt, was sich ihr im Erfahrungsfeld darbietet, sondern dass sie in dieses Erfahrungsfeld ordnend eingreift, ist die Erfahrung immer schon gedeutete Erfahrung.38

Reproduktion ideologischer Systeme Mit dem folgenden Argument erhält die poststrukturalistische Kritik eine stärkere politische Akzentuierung. Die Kritik lautet, dass die Berufung auf die Erfahrung die Reproduktion ideologischer Systeme fördert  : Die Berufung auf die Erfahrung »reproduces rather than contests given ideological systems« (Scott 1992, 25). Sie stellt also gegebene »ideologische« Systeme nicht in Frage, sondern trägt zu deren Reproduktion bei. Das Argument, wonach die Berufung auf die in einer bestimmten Gesellschaft gemachte Erfahrung die Gesellschaft lediglich reproduziere anstatt sie zu hinterfragen, basiert im Wesentlichen auf dem 27

Silvia Stoller

Gedanken der Wiederholung. Indem man sich auf diverse Erfahrungen beruft, würden diese Erfahrungen ständig unhinterfragt wiederholt und dadurch gefestigt. Doch was nur wiederholt wird, kann nicht etwas Neues sein. Eine bloße Wiederholung reproduziert Bedeutung, aber produziert keine neue Bedeutung. Dies ruft die Frage hervor, ob man mit einem solchen Konzept von Erfahrung eine Veränderung implizierende Theorie des Politischen denken könne. Dem Vorwurf, wonach die Berufung auf die Erfahrung die Reproduktion bestehender Erfahrungen bedeute, widerspricht in der Phänomenologie die Ansicht von der Offenheit der Erfahrung. Das heißt, dass das, was in der Erfahrung auf mögliche andere Erfahrungen verweist, nicht im Vorhinein schon klar und deutlich feststeht. Für diese Offenheit der Erfahrung sorgt erneut die Horizontstruktur der Erfahrung. Der Horizont steht für einen Bereich näher zu bestimmender Erfahrung oder anderer Erfahrungen.39 Charakteristisch daran ist die Unmöglichkeit, den Horizont vollständig bestimmen zu können, weil sich mit jeder neuen Erfahrung neue Horizontbereiche auftun. Drehe ich mich um, bildet das vorher Gesehene den nicht mehr gesehenen Horizont des nun neu Gesehenen. Doch wie man sich dreht und wendet, immer folgt dem neu Gesehenen ein neues Nichtgesehenes. Daraus folgt, dass der Horizont nicht etwas ist, was vollständig bestimmbar wäre. Er ist zwar ein Bereich möglicher Bestimmung, aber keiner der vollständigen oder endgültigen Bestimmung, weshalb Husserl vom Horizont als einer »offene[n] Unbestimmtheit« (Husserl 1985, 141) oder einer »bestimmbare[n] Unbestimmtheit« (Analysen zur passiven Synthesis, Hua XI, 6) spricht, der »nicht beliebig« auszufüllen ist (ebd.).40 Es ist dieser anonyme, unbekannte Horizont, der die Erfahrung zu einer offenen Erfahrung macht  : »er läßt den Gegenstand unvollendet und offen, wie er sich in der Tat in der perzeptiven Erfahrung gibt« (Merleau-Ponty 1966, 94).41 Diese Offenheit der Erfahrung wird jedoch nicht im Sinne eines zu beseitigenden Mangels negativ interpretiert, sondern als positives Phänomen aufgefasst. Der unbestimmte Horizont ist geradezu Garant dafür, dass die Erfahrung in sich nicht in singuläre und unzusammenhängende Einzelerfahrungen zerfällt, sondern in der Regel als Erfahrungseinheit wahrgenommen wird. Der Vorwurf des Poststrukturalismus, nach dem die Berufung auf die Erfahrung die Erfahrung lediglich reproduziere, d. h. wiederhole, aber nicht verändere, trifft daher auf die Phänomenologie nicht zu. Unter Berücksichtigung der unbestimmten Horizontstruktur der Erfahrung kann von einer bloßen Wiederholung der Erfahrung keine Rede sein, weil der Erfahrungshorizont die Möglichkeit von anderen oder veränderten Erfahrungen in der Erfahrung in sich selbst birgt. Selbst im konkreten Falle einer Wiederholung einer Erfah28

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

rung wie der wiederholten Wahrnehmung ein und desselben Wahrnehmungsgegenstandes würde das Wiederholte nicht die gleichen Erfahrungshorizonte mit sich bringen. Unter der Bedingung der Zeitlichkeit der Erfahrung verweist die zeitliche Struktur der Wahrnehmungserfahrung auf veränderte zeitliche Horizonte. Eine wiederholte Wahrnehmung ist nicht einfach eine weitere Wahrnehmung, sondern eine schon einmal wahrgenommene Wahrnehmung. Sie ist keine Wahrnehmung des Gegenstandes multipliziert mal zwei, sondern eine den Gegenstand zum zweiten Mal wahrnehmende Wahrnehmung. Sie ist die Wahrnehmung desselben Gegenstandes, aber nicht die gleiche Wahrnehmung. Dadurch, dass die Phänomenologie in ihrer Analyse der Erfahrung die offene Struktur der Erfahrung zum Vorschein bringt, kann ihr nicht der Vorwurf gemacht werden, dass sie zur Reproduktion ideologischer Systeme beiträgt. Vielmehr zeigt sie mit den Mitteln der phänomenologischen Deskription, dass es zum Wesen der Erfahrung selbst gehört, nicht einfach reproduktiv zu sein. Ergänzend dazu muss erwähnt werden, dass selbst PoststrukturalistInnen nicht umstandslos auf die »Wiederholung« verzichten, wie man in Anbetracht der zuvor erwähnten Kritik an der Wiederholung als bloßer Reproduktion hätte vermuten können. Wie am Beispiel von Judith Butler und deren Konzept der performativen Politik gezeigt werden kann, wird die Wiederholung sogar als eine Bedingung für und als ein Mittel zur Veränderung von Erfahrungen gedacht (Butler 1995). Zur Debatte steht die Frage nach der Veränderbarkeit bestehender Ordnungen, genauer genommen die Frage, wie man Widerstand gegen die in einer bestimmten Gesellschaft wirksamen hegemonialen Normen wie die Heterosexualität – Butlers bevorzugtes Beispiel einer gesellschaftlichen Zwangsordnung – denken könne. Ausgehend von der Annahme, dass man sich den gegebenen Normen nicht entziehen kann, denn noch die äußerste Verweigerung einer Norm stellt eine Bestätigung dieser Norm dar, folgert sie, dass man nicht anders kann, als die gegebenen Normen zu bestätigen bzw. sie gewissermaßen zu »wiederholen« (ebd., 168). Dieses Nicht-anders-Können oder Wiederholenmüssen wird nun aber nicht als Mangel interpretiert, sondern als Chance. Anders gesagt  : Dass wiederholt werden muss, wird von Butler nicht als Verunmöglichung von Veränderung gedeutet, sondern als Ermöglichungsbedingung für Veränderung. Das Argument lautet  : Was so sehr nach Wiederholung verlangt, muss in sich instabil sein. Was aber grundsätzlich instabil ist, kann grundsätzlich Veränderungen nach sich ziehen. Die Wiederholung wird damit zum Anzeichen für eine »konstitutive Instabilität« (ebd., 286), die strukturell die Möglichkeit einer Veränderung in Aussicht stellt.42 29

Silvia Stoller

Das Argument von der konstitutiven Instabilität, von der Butler spricht, findet meiner Meinung nach sein Pendant in der Auffassung von der Offenheit der Erfahrung, von der die Phänomenologie ausgeht. Was für Butler die Instabilität in der Wiederholung, ist für die Phänomenologie die Offenheit in der Erfahrung. Beides wird gedeutet als Bedingung für die Möglichkeit von Veränderung. Wiederholung und Erfahrung stellen unvermeidliche, wenn nicht gar zwingende Momente im Anspruch auf Veränderung dar. Wenn Butler also sagen müsste  : »Man kann nicht nicht wiederholen«, so wäre dem vor dem Hintergrund der phänomenologischen Forschung hinzuzufügen  : »Man kann nicht nicht erfahren«.

Authentische weibliche Erfahrung Feministische KritikerInnen haben angesichts der Geschlechtsneutralität und des Androzentrismus in der Philosophie in der Berufung auf die Erfahrung eine Möglichkeit gesehen, die unterschiedlichen Erfahrungen von Mann und Frau sichtbar zu machen. PoststrukturalistInnen haben an den daraus entstandenen Konzeptionen »weiblicher Erfahrung« kritisiert, dass die Annahme einer spezifisch weiblichen Erfahrung fälschlicherweise davon ausgeht, dass es eine allen Frauen gemeinsame weibliche authentische Erfahrung gibt, was, wie Joan Scott es formuliert, einer Universalisierung der weiblichen Identität gleichkomme (Scott 1992, 31). Eine solche Konzeption authentischer weiblicher Erfahrung unterschlägt ihrer Meinung nach das Faktum unterschiedlicher weiblicher Identitäten zwischen den Frauen. Das poststrukturalistische Argument, wonach das Konzept der »weiblichen Erfahrung« unterschiedliche weibliche Identitäten ausschließt, ist überzeugend. Die Kritik an der sogenannten »weiblichen Erfahrung« hat eine Ausschließungspolitik sichtbar gemacht, die angesichts moderner Geschlechtertheorien und deren Anspruch auf Anerkennung unterschiedlicher weiblicher Identitäten und geschlechtlicher Lebensformen nicht mehr haltbar ist.43 Im Zuge der Transformation der transzendentalen Phänomenologie Husserls hin zu einer existenzialen Phänomenologie, welche insbesondere für die französische Tradition der Phänomenologie typisch ist, geht die Phänomenologie von einer an konkrete Erfahrungssubjekte gebundenen situierten Erfahrung aus. Dieser situierten Erfahrung entspricht die leibliche Verankerung aller Erfahrung, wie sie speziell in der Phänomenologie Merleau-Pontys entwickelt worden ist. Sofern die Erfahrung als leiblich situierte Erfahrung konkreter Erfahrungssubjekte begriffen wird, wird grundsätzlich eine Beschreibung der 30

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

Erfahrung unterschiedlicher geschlechtlicher Erfahrungssubjekte möglich, und dies sowohl hinsichtlich kollektiver weiblicher Erfahrungen im Vergleich zu männlichen Erfahrungen als auch hinsichtlich unterschiedlicher geschlechtlicher Erfahrungen zwischen Frauen im Sinne unterschiedlicher weiblicher Geschlechtsidentitäten. So kann im Sinne einer angewandten Phänomenologie geschlechtlicher Erfahrung gezeigt werden, dass sich beispielsweise die Erfahrung von Frauen, männlicher Gewalt allein aufgrund der Tatsache, dass sie Frauen sind, ausgesetzt zu sein, in ihrem leiblichen Habitus niederschlägt. Es kann aber gleichfalls gezeigt werden, dass diese Erfahrung nicht von allen Frauen geteilt wird, wenn man die phänomenologische Analyse auf singuläre weibliche Erfahrungen einschränkt. Das Problem der Ausschließungspolitik oder der Universalisierung der geschlechtlichen Erfahrung, auf das der poststrukturalistische Feminismus zu Recht aufmerksam gemacht hat, ist kein Problem, das generell Philosophien der Erfahrung angelastet werden kann, sondern ein Problem, das mitunter aus der falschen Anwendung resultiert. Wenn es auch zutrifft, dass das Faktum der geschlechtsspezifischen Erfahrung in den phänomenologischen Beschreibungen konkreter menschlicher Erfahrung in klassischen phänomenologischen Texten entweder ignoriert oder nicht ausreichend genug berücksichtigt wurde, so bedeutet das nicht, dass damit schon die ganze Erfahrungskonzeption der Phänomenologie unbrauchbar wird. Angenommen, der geschlechtsspezifische Charakter der Erfahrung ist in den phänomenologischen Analysen unberücksichtigt geblieben, dann heißt das nicht, dass die Geschlechtlichkeit nicht in die phänomenologische Analyse der Erfahrung integriert werden kann. Es handelt sich bei diesem Problem nicht um ein Defizit der Theorie, sondern um ein Defizit der Anwendung.44 Anders gesagt  : Die phänomenologische Theorie der Erfahrung wird nicht falsch, nur weil sie nicht oder nur unzureichend auf die geschlechtliche Erfahrung angewandt wird.45 Ebenso wenig stößt die Phänomenologie an ihre Grenzen beim Versuch, unterschiedliche geschlechtliche Erfahrungen zwischen gleichgeschlechtlichen Identitäten zu beschreiben. Doch noch etwas anderes scheint mir in diesem Zusammenhang wichtig zu sein. Bevor man das Wort »authentisch« vollständig verwirft, wäre auch eine Analyse dessen, was »authentisch« im Rahmen einer Phänomenologie der geschlechtlichen Erfahrung eigentlich meinen kann, vonnöten.46 Wenn man beispielsweise unter »authentisch« versteht, dass eine bestimmte Erfahrung von Frauen als »echt« empfunden wird, dann macht es nicht viel Sinn zu behaupten, sie würden sich nur täuschen. Wenn Frauen nachts Angst empfinden, wenn sie allein unterwegs sind, und daran denken müssen, männlicher Gewalt ausgesetzt 31

Silvia Stoller

zu sein, dann ist die poststrukturalistische Erklärung, die Angst werde durch Angstdiskurse bloß gefördert oder sogar hervorgerufen, hinsichtlich eines philosophischen Verständnisses der konkret erfahrenen Angst wenig weiterführend. Zwar ist richtig, dass Angstdiskurse Angstgefühle verstärken oder gegebenenfalls tatsächlich erst hervorrufen, doch ist damit noch nichts Näheres über die Erfahrung der Angst als erfahrene Angst ausgesagt.47 Die Phänomenologie stellt an diesem Punkt eine Methode zur Verfügung, die Angst als konkret erfahrene Angst zu analysieren, und zwar unter besonderer Berücksichtigung dessen, wie die Angst von konkreten Subjekten erfahren wird bzw. wie sich die Angst in der konkreten Erfahrung »zeigt«. Dabei ist es unerheblich, ob die Angst berechtigt ist oder nicht, ob sie auf einer Illusion beruht oder von Diskursen erzeugt wird  ; ebenso wenig geht es um die Frage nach den Ursachen der Angst. Gemäß der Phänomenologie geht es bei der Analyse der Erfahrung um die Analyse der Erfahrung als Phänomen, also im Falle der Angst um die Beschreibung dessen, wie sich die Angst in der Erfahrung von ihr selbst her dem Erfahrungssubjekt zeigt. Vom Standpunkt einer Phänomenologie der Erfahrung ist die Angsterfahrung für das Subjekt dieser Angsterfahrung nämlich nie eine getäuschte oder inauthentische Erfahrung. Der Beitrag der Phänomenologie besteht gerade darin, dass sie diesem Aspekt von Erfahrung ausdrücklich philosophische Bedeutung zumisst und ihn nicht einfach übergeht oder vorschnell in den Bereich des bloß Kontingenten verbannt.

Vordiskursive Erfahrung Der letzte Punkt des Poststrukturalismus ist einer der Hauptkritikpunkte, und in dessen Zentrum steht der Begriff des Diskurses. Die Kritik lautet, dass auf Erfahrung basierende Wissenskonzeptionen den diskursiven Charakter der Erfahrung unberücksichtigt lassen, also eine Konzeption vordiskursiver Erfahrung vertreten, was nach Ansicht poststrukturalistischer TheoretikerInnen als Mangel ausgelegt wird. Nach Ansicht des Poststrukturalismus ist jede Erfahrung eine diskursive Erfahrung, was bei Joan Scott gleichgesetzt wird mit einem »linguistic event« (Scott 1992, 34), d. h. eine durch Sprache (language) produzierte Erfahrung.48 Darüber hinaus ist aber nicht nur die Erfahrung ein »linguistisches Ereignis«  ; die Tatsache, dass der Mensch in vielfältige Diskurse eingebunden ist, führt den Poststrukturalismus zur Behauptung, dass auch das Subjekt der Erfahrung »diskursiv konstituiert« wird (ebd.). Ich werde mich auf den ersten Aspekt der Kritik beschränken. 32

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

Mit der Kritik, dass die auf Erfahrung basierenden Philosophien den diskursiven Charakter der Erfahrung unterschlagen, bringt der Poststrukturalismus die Phänomenologie möglicherweise am stärksten in Bedrängnis. Sofern man unter der Diskursivität der Erfahrung die Herstellung der Erfahrung durch Sprache versteht – wie das bei Scott der Fall ist –, kann zugegeben werden, dass die Phänomenologie nicht so sehr an diesem Aspekt der Erfahrung interessiert ist. So kümmert sich Husserl wenig darum, wie durch Sprache oder sprachliche Vollzüge bestimmte Erfahrungen geprägt werden. Das mag daran liegen, dass er die umfassende Bedeutung der konstituierten Sprache als normatives, bedeutungsbildendes Element in der Analyse der Konstitution der Erfahrung unterschätzt.49 Die Phänomenologie geht auch nicht metatheoretisch an die Frage heran, inwiefern Diskurse erst das hervorbringen, worauf sie sich beziehen, bzw. welche Wirkungen bestimmte in einem Diskurs vorherrschende Begriffe ausüben, »what these categories mean and how they operate« (ebd., 25). So hat sich Judith Butler in »Körper von Gewicht« ausgiebig der Frage gewidmet, was es bedeutet, wenn man sich innerhalb eines philosophischen Körperdiskurses, in dem es beispielsweise um die Materialität des Körpers geht, auf bestimmte Konzepte wie die Materialität des Körpers beruft, und auf welchen Voraussetzungen eine solche Berufung auf Konzepte und Begriffe beruht. Auf dieser metatheoretischen Ebene geht es PoststrukturalistInnen folglich nicht um die Materialität als Materialität, was ein spezifisches Vorgehen der Phänomenologie wäre, als vielmehr um die Frage, was es bedeutet, wenn man eine Analyse der Materialität als Materialität zum Gegenstand der Forschung macht.50 Die Frage, die sich meiner Meinung nach jedoch hier stellt, ist, ob eine Philosophie der Erfahrung  – in diesem Fall die Phänomenologie  – notwendigerweise einer solchen metatheoretischen Fragestellung folgen, die Analyse der Erfahrung immer eine Analyse der Diskursivierung der Erfahrung sein muss oder ob die Analyse der Diskursivierung der Erfahrung nicht ein Mittel zur Analyse der Erfahrung unter anderen ist. Meiner Ansicht nach folgt aus der Tatsache, dass Philosophien der Erfahrung diskurstheoretisch analysiert werden können, nicht, dass eine Phänomenologie der Erfahrung falsch wird. Sofern sich Poststrukturalismus und Phänomenologie von einem unterschiedlichen Erkenntnisinteresse leiten lassen, stellen sie zwei unterschiedliche philosophische Zugangsformen der Analyse der Erfahrung dar. Der Vorteil des poststrukturalistischen Ansatzes besteht darin, dass er auf problematische Tendenzen innerhalb von Philosophien der Erfahrung aufmerksam macht und die Analyse der Erfahrung um den Aspekt der Diskursivierung der Erfahrung erweitert. Der Vorteil der Phänomenologie besteht darin, jenen Bereich der Erfahrung philosophisch 33

Silvia Stoller

auf den Begriff zu bringen, der von der poststrukturalistischen Diskurstheorie zwangsweise ausgeblendet wird  : den Bereich der von konkreten Subjekten gelebten Erfahrung. Eine Analyse der Strukturen der gelebten Erfahrung schließt eine Analyse der diskursiven Konstruktion von Erfahrung nicht aus und umgekehrt. Wenn gesagt worden ist, dass sich die Phänomenologie weniger mit der Frage nach der Diskursivierung der Erfahrung auseinandersetzt, dann soll das keinesfalls heißen, dass sie in jeder Hinsicht eine Theorie der vordiskursiven Erfahrung verteidigt. So würde Merleau-Ponty auf Basis seiner Phänomenologie der Wahrnehmung niemals behaupten, dass beispielsweise die Rotwahrnehmung von einem Wissen um eine Farbenskala, die nach verschiedenen Farben differenziert und die man einst gelernt haben muss, um Farben unterscheiden zu können, unabhängig wäre. Darüber hinaus würde er auch nicht behaupten, dass die Erfahrung vorsprachlich im Sinne eines Jenseits der Sprache angesiedelt wäre. Im Rahmen seiner Phänomenologie der Sprache argumentiert er unmissverständlich, dass jedes Sprechen ein System von Sprache voraussetzt. Dies ist die konstituierte Sprache (langage constitué) (Merleau-Ponty 1966, 223  ; frz. 219), also jenes Sprachsystem bzw. System sprachlich verfügbarer Bedeutungen, das für eine bestimmte SprecherInnengemeinschaft verbindlich ist. Doch argumentiert er, dass es nebst der konstituierten Sprache auch eine konstituierende Sprache (langage constituant) (Merleau-Ponty 1984, 37  ; frz. 22) gibt, die nicht aufgeht in der konstituierten Sprache.51 Sie besteht im konkreten Sprachvollzug, der sich zwar notwendig dem konstituierten Sprachsystem bedient, doch nicht mit diesem zusammenfällt. Gemeint ist damit die Sprache als lebendige Rede (parole), die der konstituierten Sprache erst ihren ganz konkreten Sinn in Raum und Zeit verleiht und gegebenenfalls zu einer Bedeutungstransformation beitragen kann. Butler argumentiert in vergleichbarer Weise, wenn sie behauptet, dass bestehende sprachliche Regeln und Normen auf die konkrete Anwendung angewiesen sind, sollen sie wirksam werden können. Nicht das bloße Vorhandensein eines sprachlichen Systems wirkt bedeutungsbildend, sondern erst dessen konkreter Gebrauch bzw., wie sie in Anlehnung an Jacques Derrida sagt, dessen »Zitation« (Butler 1995, 297 ff.).52 Ähnlich wie bei Merleau-Ponty die parole parlante, die auf die parole parlée zugreifen muss, steht das Zitat, das sich eines Textes bedienen muss, bei Butler für jenen Bereich sprachlicher Produktion, der für die Herstellung einer ganz bestimmten sprachlichen Bedeutung verantwortlich ist. Nicht jede Phänomenologie lässt sich so ohne weiteres mit den Anliegen der poststrukturalistischen Theoretikerinnen Scott und Butler in Ver34

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

bindung bringen, doch scheint gerade Merleau-Pontys Phänomenologie der Sprache besonders dazu geeignet zu sein, mit dem Poststrukturalismus in ein produktives Gespräch einzutreten. Es kann nun eingewendet werden, dass die Phänomenologie doch oft auf Vorbereiche verweist, die dem vom Poststrukturalismus kritisierten Bereich des Vordiskursiven entsprechen und dadurch im Gegensatz stehen zur Theorie des diskursiven Charakters der Erfahrung. Husserls vielfache Rede vom »Ur-Ich«, einer »Ur-Sinnlichkeit«, einem »Ur-« oder »Vor-Sein« oder gar einer »Ur-Konstitution« nähren nicht ganz grundlos den Verdacht, dass die Phänomenologie auf diese Weise die Diskursivität umgeht. Nicht zuletzt entwirft Husserl in seiner Schrift »Erfahrung und Urteil« in aller Länge eine Theorie der »vorprädikativen Erfahrung«, die vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen Kritik an der Vordiskursivität Skepsis hervorrufen muss (Husserl 1985). Auch Merleau-Ponty verteidigt in seiner »Phänomenologie der Wahrnehmung« eine im Zentrum seiner Phänomenologie stehende Konzeption der vorprädikativen Erfahrung. Er spricht beispielsweise von der »primordinalen« (Merleau-Ponty 1966, 282), »vorwissenschaftlichen« (ebd., 350), »vorobjektiven« (ebd., 311), »vorbewußten« (ebd., 282), der »stummen« (ebd., 257) oder der »nicht-thetischen« (ebd., 301) Erfahrung. Die Skepsis der PoststrukturalistInnen gegenüber vermeintlichen Ursprüngen und Vorbereichen könnte also auch gegenüber der Phänomenologie ihre Fortsetzung finden.53 Wenn das der Fall ist, dann trifft auch zu, dass der Poststrukturalismus die vorprädikative Erfahrung mit der vordiskursiven Erfahrung gleichsetzt.54 Doch meine These diesbezüglich lautet, dass das Vorprädikative der Phänomenologie nicht mit dem Vordiskursiven des Poststrukturalismus gleichgesetzt werden kann. Oder anders ausgedrückt  : Die vorprädikative Erfahrung ist in erster Linie eine nicht prädikative Erfahrung, aber nicht eine Erfahrung jenseits von Diskursivität. Was darunter verstanden wird, soll im Folgenden kurz erläutert werden.55 Zu diesem Zweck beziehe ich mich auf Husserls grundlegende Unterscheidung zwischen der vorprädikativen und prädikativen Erfahrung in der schon genannten Schrift »Erfahrung und Urteil«.56 Die vorprädikative Erfahrung bei Husserl ist eine der prädikativen Erfahrung im Sinne eines Fundierungsverhältnisses zugrunde liegende Erfahrung. Vorprädikative und prädikative Erfahrung stellen nicht zwei grundlegend verschiedene Erfahrungen dar, sondern zwei verschiedene Modi des Erfahrungsbezugs. In der vorprädikativen Erfahrung ist man unmittelbar auf den Erfahrungsgegenstand bezogen. In diesem besonderen Modus der Erfahrung werden die Gegenstände der Erfahrung unmittelbar erfahren. Dabei verhält sich das 35

Silvia Stoller

Subjekt der Erfahrung zum Gegenstand der Erfahrung – beispielsweise in der Wahrnehmung – mehr oder weniger rezeptiv.57 Die Einheit des Gegenstandes ist eine sinnlich erfasste und keine im logischen Sinne näher bestimmte Einheit. Genauer gesagt  : Im Unterschied zur vorprädikativen Erfahrung ist die prädikative Erfahrung gekennzeichnet durch eine prädikative Bestimmung im Sinne eines logischen Urteils. Die sogenannte prädikative Erfahrung ist ein logisches Urteil, das sich sprachlich in einem Aussagesatz äußert. »Unter Urteil im Sinne der traditionellen Logik ist freilich immer das prädikative Urteil verstanden, das Urteil, das seinen sprachlichen Niederschlag in der Apophansis, im Aussagesatz findet. Ja, überall, wo ein Ding, sei es auch bloß im Zusammenhang praktischen Umgangs, mit einem Namen bezeichnet wird, ist nicht bloß eine vorprädikative Erfassung, sondern auch bereits ein prädikatives Urteilen mit im Spiele, bzw. als vollzogene Sinnesleistung schon vorausgesetzt« (ebd., 62).

Nimmt man diese Husserl’sche Bestimmung der prädikativen Erfahrung als eine besondere Form des Urteils, ergeben sich für sie also folgende Merkmale  : Bei der prädikativen Erfahrung kommt es zu einer mit den Mitteln der Sprache vollzogenen Bestimmung der Erfahrung. Was in der vorprädikativen Erfahrung lediglich sinnlich erfahren wurde, wird nun in der prädikativen Erfahrung mit Namen benannt und somit sprachlich identifiziert. Diese Benennung findet ihren Ausdruck im logischen Urteil der Form »S ist p«. Im Unterschied zum rezeptiven Charakter der vorprädikativen Erfahrung zeichnet sich die prädikative Erfahrung außerdem durch den Charakter der Spontaneität aus  : Das Subjekt der Erfahrung verhält sich nicht primär rezeptiv, sondern primär spontan zum Objekt der Erfahrung. Dem entspricht – gleichfalls auf der Subjektseite – ein anderes Erkenntnisinteresse. Nach Husserl folgt die prädikative Erfahrung einem ganz spezifischen »Erkenntniswillen« (ebd., 244)  : »das Ich will den Gegenstand erkennen, das Erkannte ein für allemal festhalten« (ebd., 232). Ziel dieses Wollens ist die »Erfassung des Gegenstandes in seiner identischen Bestimmtheit« (ebd.). Setzt man nun die Phänomenologie in Bezug zum Poststrukturalismus, dann scheint die poststrukturalistische Idee von der diskursiven Erfahrung der phänomenologischen Idee des prädikativen Urteils am nächsten zu stehen, weil hier jener sprachliche Anteil der Erfahrung thematisiert wird, den der Poststrukturalismus bezüglich der Erfahrung als entscheidend betrachtet. Dabei scheint das von Husserl hervorgehobene Moment der Benennung im prädikativen Urteil der Intention der poststrukturalistischen Auffassung von der Diskursivität der Erfahrung besonders nahe zu kommen, denn das poststrukturalistische Haupt36

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

argument gegen eine vordiskursive Erfahrung lautet, dass eine Erfahrung immer sprachlich erzeugt wird. Die sprachliche »Erzeugung« von Erfahrung wird aber zumeist mit einer sprachlichen »Benennung« gleichgesetzt, stützt man sich auf das oft von poststrukturalistischen TheoretikerInnen wiederholt demonstrativ ins Spiel gebrachte Beispiel der sprachlich vollzogenen Geschlechtsbezeichnung bzw. -bestimmung bei Geburt eines Kindes. Der beispielsweise bei Geburt eines Kindes oder bei einer Ultraschalluntersuchung der Schwangeren vom ärztlichen Personal geäußerte Satz »Das ist ein Mädchen« oder »Das ist ein Junge« stellt eine apophantische Aussage der Form »S ist p« dar, wie sie nach Husserl für die prädikative Erfahrung bestimmend ist.58 Aus phänomenologischer Sicht würde man dagegen einwenden müssen, dass man selbstverständlich nicht immer in Form des prädikativen Urteils auf den Erfahrungsgegenstand bezogen ist. Vielmehr stellt die prädikative Erfahrung bzw. das prädikative Urteil nur eine, und zwar eine ganz bestimmte, Form der Bezugnahme auf den Erfahrungsgegenstand dar. Auch wäre der Einwand zu erheben, dass poststrukturalistische Ansätze der diskursiven Erfahrung zwar jenem wichtigen Aspekt der Diskursivität der Erfahrung Rechnung tragen, jedoch eine solche differenzierte Betrachtung über unterschiedliche Modi der Erfahrung, wie man sie in der Phänomenologie Husserls oder Merleau-Pontys findet, nicht anzubieten haben. Eine diffizile Unterscheidung zwischen verschiedenen Erfahrungsmodi zählt nicht zu ihrem Erkenntnisinteresse und fällt aus ihrer philosophischen Analyse der Erfahrung heraus. Die für uns entscheidende Frage ist damit aber noch nicht beantwortet, nämlich die Frage, ob die vorprädikative Erfahrung vordiskursiv ist. Husserls Unterscheidung zwischen der vorprädikativen und prädikativen Erfahrung bietet uns einen konkreten Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage. Nach den bisherigen Ausführungen scheint die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass die vorprädikative Erfahrung dann als nichtdiskursiv oder vordiskursiv zu bezeichnen ist, wenn man unter Diskursivität eine Prädikation im Husserl’schen Sinne des prädikativen Urteils qua Apophansis versteht, denn die vorprädikative Erfahrung ist keine Erfahrung, die mit der sprachlichen Formulierung eines Urteils der Art »S ist p« oder Ähnlichem zusammenfällt. In der vorprädikativen Erfahrung werden zwar ebenfalls bestimmte Qualitäten identifiziert oder Individuen erkannt, beispielsweise Farbqualitäten wie »Rot« oder »Grün« oder »Mann« und »Frau«, jedoch auf eine weniger ausdrückliche und auch weniger eindeutige Weise, wie das durch ein prädikatives Urteil der beschriebenen Form möglich wäre. Bedeutet das aber, dass die vorprädikative Erfahrung völlig unabhängig vom Diskurs oder der Sprache wäre  ? Diese Frage wird im Folgenden zu verneinen 37

Silvia Stoller

sein. Meine These lautet, dass die vorprädikative Erfahrung zwar nichtdiskursiv ist, sofern man darunter eine Erfahrung versteht, die nicht durch eine sprachliche Äußerung zum Ausdruck gebracht wird. Das heißt aber nicht, dass die vorprädikative Erfahrung von Diskurs und Sprache völlig unabhängig ist, wenn sie nicht durch eine sprachliche Äußerung zum Ausdruck kommt. Ich möchte behaupten, dass in der vorprädikativen Erfahrung sehr wohl eine Verbindung zu Diskurs und Sprache aufrechterhalten wird, aber in einer anderen als der bisher beschriebenen Form. Anders gesagt  : Das Diskursive einer (vorprädikativen) Erfahrung reduziert sich nicht darauf, dass die Erfahrung sprachlich in einem Aussagesatz ausgedrückt wird, d. h., sie reduziert sich nicht auf einen Aussagesatz der oben beschriebenen apophantischen Form oder überhaupt auf irgendeinen gesprochenen oder geschriebenen Satz. Der Bezug der vorprädikativen Erfahrung zur Sprache ist indirekt wirksam, indem die in einer Kultur gültigen Sprachkonventionen und -bedeutungen indirekt die vorprädikative Erfahrung prägen. Sie nehmen Einfluss auf die Erfahrung, ohne dass die Erfahrung sprachlich artikuliert werden muss. Die Sprache wirkt sozusagen im Hintergrund und muss nicht selbst in Form von Rede oder Text in Erscheinung treten. Wenn man beispielsweise beim Lego-Spielen mit roten oder grünen Steinen hantiert oder beruflich mit einer Gruppe von Frauen und Männern zu tun hat, dann tut man dies selbstverständlich auch auf der Ebene der vorprädikativen Erfahrung nicht außerhalb von kulturellen Normen oder sprachlichen Bedeutungen. Wahrnehmungen von »rot« und »grün« oder »Frau« und »Mann« werden auch auf der Ebene der vorprädikativen Erfahrung auf dem Hintergrund einer Kultur gemacht, und zwar konkret einer Kultur, die es für notwendig erachtet, zwischen Farben oder zwischen Geschlechtern zu unterscheiden, oder vor dem Hintergrund einer Sprache, die semantisch zwischen verschiedenen Farben oder Geschlechtern differenziert. Dabei kann zutreffen, dass die in einer Kultur gültigen Bedeutungen nicht oder noch nicht klar zu Bewusstsein gekommen sind. Wenn kulturelle Bedeutungen nicht explizit erfasst sind, können sie dennoch implizit erfasst werden, d. h., Bedeutungen können unterschieden werden, ohne dass man diese Bedeutungen in einen sprachlichen Satz gekleidet haben muss. Wenn ein Kleinkind etwa spielerisch lernt, rote von grünen Steinen zu unterscheiden, dann tut es dies anfänglich beispielsweise über Vermittlung primärer Bezugspersonen, die dem Kind die Wörter »rot« und »grün« in spielerischer Übung nahelegen und nahebringen. Das Kind lernt auf diese Weise Farben zu unterscheiden, ohne dass es dabei ein ausdrückliches Bewusstsein von einer Farbenskala haben muss, ja selbstverständlich auch ohne die Wörter 38

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

»rot« oder »grün« überhaupt aussprechen können zu müssen.59 Wie das Kind von Beginn an gewisse Kenntnisse von Mutter oder Vater erwirbt, noch bevor es »Mama« oder »Papa« sagen kann – so kann das Kind beispielsweise Mutter und Vater durch deren Stimme erkennen –, so hat es von allem anderen auch indirekt Kenntnis. Husserl hat mehrfach betont, dass auch die vorprädikative Erfahrung nicht gänzlich erkenntnis- oder urteilsfrei ist. So spricht er beispielsweise von der »vorprädikativen Erfassung« (Husserl 1985, 62  ; meine Hervorhebung), gesteht also zu, dass auch die vorprädikative Erfahrung eine Art Erkenntnisleistung ist, wenn auch nur eine »Erkenntnisaktivität unterster Stufe« (ebd.). Auch Urteile finden sich bereits auf der Ebene der vorprädikativen Erfahrung, auch wenn diese »vorprädikativen Urteile« eine »niedere Stufe der Aktivität des Ich« (ebd., 63) bezeichnen.60 Der Unterschied besteht darin, dass in der vorprädikativen Erfahrung der Gegenstand der Erfahrung als etwas nichtsprachlich vermeint ist, während in der prädikativen Erfahrung der Erfahrungsgegenstand sprachlich ausgedrückt wird. Das, was aber in der vorprädikativen Erfahrung bloß »vermeint« ist, kann nicht unabhängig von kulturellen oder sprachlichen Bedeutungen vermeint sein, weil »meinen« immer auch »etwas als etwas meinen« heißt. Wir können abschließend festhalten  : Die poststrukturalistische Kritik an der vorprädikativen Erfahrung geht von einer impliziten Gleichsetzung des Vorprädikativen mit dem Vorsprachlichen aus  : Das, was als »vorprädikativ« bezeichnet wird, ist ihrer Meinung nach etwas, was vor der Sprache liegt. Das »vor« der Sprache bedeutet für sie »jenseits« der Sprache, also etwas völlig Sprachunabhängiges. Eine solche Gleichsetzung scheint mir aber in der von mir herangezogenen Phänomenologie nicht der Fall zu sein. Husserls Unterscheidung zwischen der vorprädikativen und der prädikativen Erfahrung ist keine Unterscheidung zwischen Sprache und Vorsprache, sondern zwischen Prädikation und Vorprädikation, wobei die Prädikation eine ganz bestimmte Form des sprachlichen Ausdrucks, nämlich die des Aussagesatzes, bezeichnet, während die Vorprädikation eine Erfahrung bezeichnet, die nicht aufgeht in einem apophantischen Ausdruck, gleichwohl aber indirekt mit Sprache und Sprachbedeutungen verbunden bleibt. Vorprädikative und prädikative Erfahrung verhalten sich also nicht einfach wie Vorsprache zu Sprache. Nur unter der Annahme, dass eine Erfahrung dann sprachlich oder diskursiv ist, wenn sie in einem Aussagesatz der Art des prädikativen Urteils zum Ausdruck kommt, kann die vorprädikative Erfahrung als vordiskursiv bezeichnet werden. Wenn man aber das Vordiskursive nicht auf einen Aussagesatz der beschriebenen 39

Silvia Stoller

Form reduziert, was als eine Verkürzung des Verständnisses von Vordiskursivität interpretiert werden kann, dann wird es möglich, auch die vorprädikative Erfahrung als diskursiv zu begreifen. Mithilfe der Husserl’schen Unterscheidung zwischen vorprädikativer und prädikativer Erfahrung lässt sich dann Erfahrung denken, die auf unterschiedliche und nicht nur auf eine einzige Weise auf Sprache bezogen ist.

Abschließende Bemerkungen Ausgehend von zentralen Kritikpunkten des Poststrukturalismus am Erfahrungsbegriff habe ich argumentiert, dass die poststrukturalistische Kritik in Grundzügen nicht auf die Phänomenologie zutrifft. 1. Hinsichtlich des Vorwurfs des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus habe ich argumentiert, dass die Phänomenologie in ihrer Kritik am klassischen Empirismus der Auffassung der Erfahrung als Grundlage der Erkenntnis mit Skepsis begegnet. Obwohl die Erfahrung für die Phänomenologie fundamental ist, beruft sie sich nicht wie der Empirismus auf die Erfahrung als unhinterfragtem Ausgangspunkt, sondern die Erfahrung wird im Unterschied dazu zum Thema einer phänomenologischen Analyse, indem sie die Strukturen der Erfahrung sichtbar macht und deren phänomenalen Inhalt beschreibt. 2. Der phänomenologische Begriff des Horizonts steht ferner für die Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Erfahrung, und zwar einer Geschichtlichkeit im engeren Sinne, sofern damit die zeitlichen Horizonte gemeint sind, und einer Geschichtlichkeit im weiteren Sinne, sofern man sich auf die räumlichen Horizonte sowie den Welthorizont überhaupt bezieht. 3. Der Problematik der sogenannten »unmittelbaren Erfahrung« begegnet die Phänomenologie durch die spezifisch phänomenologische Methode, die geradezu mit einer Problematisierung der unmittelbaren Erfahrung anhebt. Ihrer Ansicht nach ist die Erfahrung weder unmittelbar gegeben noch unmittelbar beschreibbar. 4. Der Begriff der Intentionalität entspricht der Grundsatzauffassung des Poststrukturalismus, wonach die Erfahrung immer schon interpretierte Erfahrung ist. Für die deutende Komponente der Erfahrung steht in der Phänomenologie zudem die Auffassung, wonach das Subjekt der Erfahrung kein passiver Empfänger von Erfahrungsdaten, sondern aktiver Teilnehmer an der Erfahrungsbildung ist. 5. Anhand der phänomenologischen Auffassung von der Offenheit der Erfahrung habe ich weiters argumentiert, dass der Vorwurf, die Phänomenologie könnte durch die Berufung auf die Erfahrung zur Reproduktion ideologischer Systeme beitragen, nicht berechtigt ist. 6. Die Tatsache, 40

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

dass die Phänomenologie eine Theorie situierter, leiblicher Erfahrung ist, deutet die Möglichkeit der phänomenologischen Beschreibung unterschiedlicher geschlechtlicher Erfahrungen an, die die sogenannte »weibliche Erfahrung« ebenso einschließt wie die Erfahrung unterschiedlicher Erfahrungen unter Frauen. 7. Schließlich muss auch der Vorwurf, die Phänomenologie beruhe auf einem Konzept vordiskursiver Erfahrung, mit Vorsicht genossen werden. Wenn man unter einer Vordiskursivität Vorsprachlichkeit versteht, wie das bei Scott und Butler der Fall zu sein scheint, dann zeugen Ansätze einer Phänomenologie der Sprache wie diejenigen von Merleau-Ponty vom Gegenteil. Aus den vorangegangenen Überlegungen, die dem Versuch gewidmet waren, Phänomenologie und Poststrukturalismus hinsichtlich der Erfahrungstheorie einander anzunähern, kann daher folgender Schluss gezogen werden. Zum einen scheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Ernstnehmen der poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung nicht bedeutet, auf den Erfahrungsbegriff überhaupt zu verzichten. Die Dominanz der poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung hat den Verdacht genährt, der Poststrukturalismus würde die Erfahrung insgesamt verabschieden wollen und den Erfahrungsbegriff für die Anliegen der feministischen Philosophie für unbrauchbar halten. Doch folgt aus den Ausführungen poststrukturalistischer Theoretikerinnen bei genauerem Hinsehen nirgendwo explizit die Aufforderung, auf den Erfahrungsbegriff Verzicht zu leisten. Es wäre geradezu widersinnig, zu behaupten, die Erfahrung würde sich nicht für eine wissenschaftliche Erkenntnis eignen. Sie würde sich mit einer solchen Einstellung zu einem beträchtlichen Teil innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung um ihren eigenen Forschungsgegenstand bringen.61 Als Scott zu einem späteren Zeitpunkt die Dringlichkeit sah, aufgrund einiger an sie gerichteter Einwände ihre kritischen Ausführungen zur Erfahrung im Feld der feministischen Geschichtswissenschaft zu präzisieren, stellte sie klar  : »Die Aufgabe […] sei nicht, den Begriff der Erfahrung fallenzulassen, sondern ihn zu historisieren, danach zu fragen, was für die Subjekte […] als Erfahrung galt und was für uns selbst« (Scott 2001, 74). Nimmt man Scott beim Wort, heißt das, dass es ihr nicht um eine Verabschiedung von der Erfahrung geht, sondern um einen angemessenen Umgang mit ihr. Das will heißen  : Nicht die Erfahrung an sich ist verwerflich, sondern das, was man aus ihr macht. Nicht ein Verzicht auf die Erfahrung kann die Konsequenz aus einer kritischen Hinterfragung des Erfahrungsbegriffs sein, sondern dessen Transformation. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass Poststrukturalismus und Phänomenologie nicht so weit voneinander entfernt liegen, wie es den Anschein hat. Ihre Gemeinsamkeit besteht in einem vergleichbaren Interesse an 41

Silvia Stoller

einem kritischen Erfahrungsbegriff. Beide warnen vor einem naiven, unhinterfragten Erfahrungsbegriff. So stellen beide Ansätze auf ihre Art ein kritisches Gegengewicht zu empiristischen Erfahrungskonzeptionen dar. Doch während der Poststrukturalismus primär die diskursiven Bedingungen der Erfahrung in den Vordergrund stellt, konzentriert sich die Phänomenologie auf die Analyse der innerhalb eines Diskurses von konkreten Subjekten vollzogenen Erfahrung. Die unterschiedliche Perspektive, die ihre Auseinandersetzung mit der Erfahrung leitet, ist kein Indiz für ein Für oder Wider die Erfahrung, sondern vielmehr Ausdruck für ein kritisches Verständnis von der Erfahrung. In diesem Sinne tragen sowohl Phänomenologie als auch Poststrukturalismus zu einem kritischen Verständnis der Erfahrung bei. Eine Rehabilitierung des Erfahrungsbegriffs im Kontext der feministischen Philosophie setzt meiner Meinung nach ein Ernstnehmen der poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung voraus. Doch entgegen der weitverbreiteten Meinung, Poststrukturalismus und Phänomenologie stellten hinsichtlich der Erfahrung zwei unversöhnliche philosophische Ansätze dar, bedeutet das nicht, wie ich versucht habe anzudeuten, auf die Phänomenologie als eine Philosophie der Erfahrung zu verzichten, weil die Phänomenologie dem kritischen Impuls des Poststrukturalismus auf weiten Strecken entgegenkommt. Mit der Einsicht, dass Phänomenologie und Poststrukturalismus gleichermaßen an einem kritischen Begriff von Erfahrung interessiert sind, ist die Hoffnung verknüpft, dass sie zu einer Rehabilitierung des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs auch im Kontext der feministischen Philosophie beiträgt. Eine feministische Phänomenologie könnte dann beispielsweise eine Phänomenologie der geschlechtlichen Erfahrung unter Berücksichtigung der poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung sein. Dort hingegen, wo die diskurstheoretische Analyse der Erfahrung an ihre Grenzen stößt, nämlich die geschlechtliche Erfahrung als geschlechtliche Erfahrung auf den Begriff zu bringen, kann die Phänomenologie als Ergänzung zum Poststrukturalismus genutzt werden.

Anmerkungen 1 Der Beitrag wurde zuletzt veröffentlicht in  : Silvia Stoller, Existenz – Differenz – Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, hg. v. Wolfgang Eßbach u. Bernhard Waldenfels). München 2010, 111–145. In der vorliegenden Fassung sind einige Hervorhebungen der Autorin aus der Fassung des Jahres 2010 rückgängig gemacht worden. Damit soll der für die

42

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

Buchreihe mdw Gender Wissen geltende Lektoratssregel – möglichst wenige Hervorhebungen im Textfluss – nachgekommen werden. Die kursiven Hervorhebungen in den Zitaten sind Originalhervorhebungen.   2 Zur Auffassung der Phänomenologie als einer Philosophie der Erfahrung siehe Waldenfels 1980, 13. Nebst den Studien von Waldenfels zur Erfahrung in der Phänomenologie siehe auch die Studie von László Tengelyi (2007).   3 Zu nennen sind hier vor allem Jacques Derridas Kritik an der Präsenzmetaphysik, Michel Foucaults Hinterfragung des Erfahrungsbegriffs aus diskurstheoretischer Sicht, Louis Althussers Meinung zur Erfahrung im Zusammenhang mit seiner Marxismuskritik oder Jean-François Lyotard.   4 Scott 1992. Eine frühere und längere Version dieses Artikels erschien ein Jahr zuvor unter dem Titel »The Evidence of Experience« in der Zeitschrift »Critical Inquiry« (Scott 1991). Siehe auch Scott 2001. – Im Hintergrund von Scotts poststrukturalistischer Kritik an der Erfahrung steht Michel Foucault, der seinerseits den phänomenologischen Erfahrungsbegriff kritisiert hat. Zu Foucaults Erfahrungsbegriff und seine sich wandelnde Erfahrungskonzeption siehe insbesondere die grundlegende Studie von Gerhard Unterthurner (Unterthurner 2007).   5 Diese Frage scheint mir umso dringlicher, als sich Scotts weithin rezipierte und anerkannte Kritik gar nicht entlang der phänomenologischen Literatur entzündet, deren Kritikpunkte aber immer wieder auch gegen die Phänomenologie gerichtet werden. Dieser Umstand lässt die Vermutung aufkommen, dass die oftmals anzutreffende Skepsis insbesondere in zeitgenössischen Ansätzen des poststrukturalistischen Feminismus gegenüber dem phänomenologischen Erfahrungsbegriff zu einem nicht unbeachtlichen Teil auf Missverständnissen beruht.   6 Für Husserl ist diese Quelle nichts anderes als die »sinnliche Erfahrung« (Ideen 1, Hua III/1, 80). Die Wahrnehmung steht für ihn für einen »Urmodus der Erfahrung« (ebd., 88).   7 Zu Husserls Kritik am Empirismus, insbesondere zu Locke, Hume und Berkeley, siehe Husserls »Erste Philosophie«, Erster Teil (Hua VII). Siehe ferner die Empirismuskritik im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Psychologismus in den »Logischen Untersuchungen« (Hua XVIII) sowie »Ideen I«, Hua III/1, 39–55.   8 Siehe Husserls Analyse der Wahrnehmung in seinen »Analysen zur passiven Synthesis« (Hua XI). Als Kommentar zu diesen Husserl’schen Analysen siehe Buck 1989, 60–82.  9 Siehe Husserls Unterscheidung von »eigentlich Wahrgenommenem« und »eigentlich Nichtwahrgenommenem« in den »Analysen zur passiven Synthesis« (Hua XI, 4). 10 Husserl spricht von einem »Horizont der Verweisung« (ebd.) oder einem ganzen »System von Verweisen« (Hua XI, 4). 11 Siehe dazu Waldenfels 1998, 220 f. 12 Zur Phänomenologie der Zeitlichkeit bei Husserl siehe »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins« (Hua X). Zur Zeitlichkeit bzw. Zeitbewusstsein bei Husserl siehe Bernet/Kern/ Marbach 1989, 96–107. 13 Siehe Bernet/Kern/Marbach 1989, 98. 14 Diese Erweiterung des Erfahrungsbegriffs ist nach Max Müller Kennzeichen des Erfahrungsbegriffs im 20. Jahrhundert im Unterschied zum 19. Jahrhundert (siehe Müller 1971, 223). 15 Genau genommen ist für Husserl die Intentionalität eine »Grundeigenschaft des Bewußtseins« (Logische Untersuchungen, Hua III/1, 303), doch verzichte ich im Folgenden auf die Rede von »Bewusstsein«, weil der Bewusstseinsbegriff philosophiehistorisch zu vorbelastet und semantisch

43

Silvia Stoller

eingeschränkt ist, und nehme die Intentionalität in einem weiten Sinne als Grundeigenschaft jeder Erfahrung. Ähnlich argumentiert Merleau-Ponty in der »Phänomenologie der Wahrnehmung« (Merleau-Ponty 1966, 301, Fn. 25). Dies entspricht der heute gängigen Auffassung von Phänomenologie als einer »Philosophie der Erfahrung« (Waldenfels 1980, 13). Wie Roland D. Laing begreife ich Bewusstsein, aber auch Vorstellung, Fantasie, Erinnerung, Wahrnehmung usw. als »Modalitäten von Erfahrung« (Laing 1969, 14). 16 Es ist das bleibende Verdienst der Phänomenologie, diesen Bereich der lebensweltlichen Doxa im Unterschied zur wissenschaftlichen Episteme philosophisch aufgewertet zu haben (vgl. dazu Waldenfels 1985, 38–40). Im Bereich der feministischen Philosophie ist eine radikale Aufwertung der Doxa noch weit und breit nicht in Sicht. 17 Folglich wird im Unterschied zu Descartes bei Husserl die natürliche Erfahrung der Welt aufrechterhalten. Sie wird nicht wie bei Descartes negiert, sondern lediglich neutralisiert. 18 Auf die unterschiedlichen Formen der Reduktion kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden (siehe hierzu Bernet/Kern/Marbach 1989, 2. Kap.). 19 Darauf hat Husserl selbst hingewiesen. Vgl.: »Die Anführungszeichen sind offenbar bedeutsam, sie drücken jene Vorzeichenänderung, die entsprechende radikale Bedeutungsmodifikation aus. Der Baum schlechthin, das Ding in der Natur, ist nichts weniger als dieses Baumwahrgenommene als solches, das als Wahrnehmungssinn zur Wahrnehmung und unabtrennbar gehört« (Ideen I, Hua III/1, 205). 20 Zum »Erfahrungssinn« als Ergebnis der phänomenologischen Reduktion im Unterschied zum »Erfahrenen« siehe Husserl, Erste Philosophie (1923/24), Zweiter Teil, Hua VIII, 436. 21 Klaus Held betont, dass das Interesse (der PhänomenologInnen) an der Seinsgeltung der Gegenstände »gebrochen« ist (Held 1985, 35), und Merleau-Ponty spricht gleichfalls von einem »Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt« (Merleau-Ponty 1966, 11) als einem notwendigen Anfang des phänomenologischen Philosophierens. Zu Husserls Leitformel »Zu den Sachen selbst  !« und dem möglichen Missverständniss eines Aufrufs zu einem Zurück zur »unmittelbare[n] Gegebenheit der Sachen« siehe Vetter 1997, 48 ff. 22 Vgl. »die phänomenologische Analyse hat den Charakter der Reflexion« (Held 1985, 35). 23 Zum Paradox der Phänomenologie siehe Krisis, Hua VI, 183 f. 24 Siehe vor allem die Schriften »Cartesianische Meditationen« (Hua I, § 37 ff.), »Krisis« (Hua VI) und »Erfahrung und Urteil« (Husserl 1985). Von »genetischer Phänomenologie« spricht Husserl selbst als allgemeine Bezeichnung für die Methode der phänomenologischen Deskription, deren »Keim« er rückblickend betrachtet schon in seinen frühen »Logischen Untersuchungen« angelegt sieht (Husserl 1985, 78). 25 Ich beziehe mich hierbei auf Husserls Krisis-Schrift (Hua VI) sowie auf Husserls 1938 erschienenes Werk »Erfahrung und Urteil« (Husserl 1985, 49). Zur methodischen Rückfrage in der späten Phänomenologie Husserls siehe Ricœur 1978, Waldenfels 1985, 13 ff., Sepp 1997, 16 ff. 26 Zu den unterschiedlichen Konzeptionen von Lebenswelt bei Husserl siehe Waldenfels 1985, 13 ff. 27 Husserl hat hier vor allem die Logik, Mathematik, Geometrie, die Physik, aber auch die experimentelle Psychologie seiner Zeit im Sinn. Heute wird man alle nach streng objektiven Kriterien vorgehenden exakten Wissenschaften in Betracht ziehen müssen und beispielsweise die Informatik, die Genforschung, moderne Reproduktionstechnologien und andere mehr dazuzählen können.

44

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

28 Vgl. Krisis, Hua VI, 125. 29 Vgl.: »Hören wir auf, in unser wissenschaftliches Denken versunken zu sein, werden wir dessen inne, daß wir Wissenschaftler doch Menschen und als das Mitbestände der Lebenswelt sind« (Krisis, Hua VI, 133). 30 Nach Husserl beschränkt sich jedoch die Geschichtlichkeit der Wissenschaften nicht auf die Naturwissenschaft, sondern schließt die Philosophie mit ein. 31 Nicht realistisch scheint hingegen eine künstliche Trennung dieser beiden Wissensbereiche in dem Sinne, dass Doxa und Episteme zwei unabhängig voneinander existierende Wissensbereiche sind. 32 Ich setze »Aktivität« in Anführungszeichen, weil sie nicht mit der Aktivität gängiger Handlungstheorien in eins gesetzt werden kann, insofern die Aktivität hier keinen bewussten oder willkürlichen Handlungsvollzug meint. 33 Vgl.: »Das sich auf den Gegenstand Beziehen ist eine zum eigenen Wesensbestande des [intentionalen] Akterlebnisses gehörige Eigentümlichkeit« (ebd., 413). Ähnlich Heidegger, der die Intentionalität im wortwörtlichen Sinne als ein »Sich-richten-auf« begreift (Heidegger 1994, 37). 34 Diesem Aspekt der Gewaltsamkeit in der Erfahrung bei Merleau-Ponty ist Martin Schnell in seiner Studie über die »Phänomenologie des Politischen« ausführlich nachgegangen (Schnell 1995, 109–121). 35 Diese Gewaltsamkeit der Wahrnehmung oder Erfahrung hat ihr Pendant bei Heidegger, wenn dieser Wahrheit von einem Streit von Lichtung und Verbergung her denkt (siehe Heidegger 1980, 39 ff.). 36 Zur transzendentalen Gewalt siehe Waldenfels 1990, 103–119. 37 Diese Form der Produktivität in der Wahrnehmung bei Merleau-Ponty kann mit Foucaults Produktivität der Macht in Verbindung gebracht werden. 38 In seinen wissenschaftskritischen Vorlesungen an der Sorbonne 1949 bis 1952 wird der intervenierende Zugang des Wissens betont und auf die soziale Sphäre ausgedehnt. Im Bemühen, eine Phänomenologie des Kindes zu formulieren und der Logik der »kindlichen Erfahrung« (Merleau-Ponty 1994, 253) auf die Spur zu kommen, wird nicht nur die Vorstellung von »wahrer Objektivität« zurückgewiesen, sondern auch herausgestellt, dass jede Beobachtung eine »Intervention« darstellt  : »Wenn es sich um Lebewesen handelt – und erst recht um menschliche Wesen –, gibt es keine bloße Beobachtung  : Jede Beobachtung ist bereits eine Intervention« (ebd., 102). 39 Husserl deutet die Möglichkeiten einer »Näherbestimmung« und einer »Andersbestimmung« (Cartesianische Meditationen, Hua I, 83) an. Beides drückt die Möglichkeit einer grundlegenden Veränderbarkeit von Erfahrung aus, was den Unterschied zu einer substanzialistischen Erfahrungskonzeption ausmacht. Kritisiert werden kann aber an Husserl, dass er in seinen phänomenologischen Wahrnehmungsanalysen einseitig an der Erfüllung orientiert ist und die Möglichkeit eines Scheiterns oder gar einer radikalen Unbestimmbarkeit nicht in den Fokus rückt. Dies hat offensichtlich die Kritik Foucaults an der Phänomenologie auf den Plan gerufen, wenn er mit Nietzsche, Bataille und Blanchot die Möglichkeit der Grenzerfahrung, aus der das Subjekt verändert hervorgeht, in den Vordergrund rückt (Foucault 1996, 27). Dass allerdings die Fokussierung auf die Grenzerfahrung gleichwohl auch in ein »Pathos der Grenzerfahrung« um-

45

Silvia Stoller

schlagen und zu einer Nivellierung der Alltagserfahrung führen kann, hat Gerhard Unterthurner gezeigt (Unterthurner 2007, 263). 40 Für Gerhard Gamm ist dieser Aspekt der Unbestimmtheit in der Bestimmtheit nicht nur ein zentraler Gedanke der Husserl’schen Phänomenologie, sondern Wesenszug der modernen Philosophie überhaupt, insofern er sich einer Bestimmungslogik entzieht (Gamm 1994, 19). 41 Der Horizont wird schon bei Husserl begriffen als ein Spielraum von Möglichkeiten, die noch zu realisieren sind (vgl. Husserl 1985, 32 und 105). 42 Während Butler in »Das Unbehagen der Geschlechter« die produktive Wiederholung an bestimmte Formen inszenierter Handlung bindet, nämlich an die Parodie (Butler 1991, 203 ff.), scheint sie in ihrer darauf folgenden Studie »Körper von Gewicht« die Möglichkeit von Veränderung in der Wiederholung auch auf nicht explizit inszenierende Handlungsformen auszudehnen (Butler 1995). 43 Dies kritisiert auch Judith Butler in »Das Unbehagen der Geschlechter«, wobei sie diese Kritik einerseits im Rahmen der sogenannten Repräsentationspolitik (Butler 1991, 15–22), andererseits im Rahmen einer Kritik an der Matriarchatsthese ausformuliert (ebd., 63 ff.). 44 Siehe dazu auch Linda Fisher (Fisher 1997). 45 Dass der phänomenologische Erfahrungsbegriff geschlechtsspezifisch gewendet werden kann, haben beispielsweise die Analysen zum geschlechtsspezifischen Verhalten von Iris Marion Young deutlich gezeigt (siehe Young 1990). 46 Innerhalb der Frauenbewegung stellt der Begriff der Authentizität einen Schlüsselbegriff der 1960er- und 1970er-Jahre dar. Autobiografien und andere Erfahrungsberichte von Frauen galten zu dieser Zeit als authentische Selbstzeugnisse von Frauen innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft und dienten als Medium der Verständigung und des Austauschs zwischen Frauen (siehe Metzler-Lexikon Gender Studies / Geschlechterforschung). 47 Bekanntlich kann bei PatientInnen mit Angststörungen schon allein der Gedanke an eine mögliche Angst, die sogenannte Erwartungsangst, ein Angstgefühl hervorrufen. 48 Diese im Poststrukturalismus oftmals anzutreffende umstandslose Gleichsetzung von Diskurs und Sprache scheint mir vielerorts noch immer zu wenig hinterfragt. Gleichfalls problematisch finde ich die nach wie vor in der poststrukturalistischen Literatur vorherrschende theoretische Unterbestimmung der Begriffe »Sprache« und »Diskurs« selbst, die teils auf eine Nichtberücksichtigung unterschiedlicher Auffassungen von Sprache und Diskurs selbst innerhalb poststrukturalistischer Ansätze zurückgeführt werden kann. 49 Das heißt nicht, dass sich Husserl nicht der Sprache und der Bedeutungsbildung gewidmet hätte. Seine frühen Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis und seine Theorie der Bedeutung und des Ausdrucks lesen sich als Skizze einer Phänomenologie der Sprache (siehe insbesondere Logische Untersuchungen, Hua XIX/1, XIX/2). 50 Ich habe mich ausführlich mit Butlers spezifischer Fragestellung auseinandergesetzt in Stoller 2002. 51 Der Unterscheidung zwischen einer konstituierten und einer konstituierenden Sprache entspricht bei Merleau-Ponty die Unterscheidung zwischen einer gesprochenen (parole parlée) und sprechenden Sprache (parole parlante) (siehe Merleau-Ponty 1966, 232 und Merleau-Ponty 1984, 34, 36 und 107). 52 Zu Butlers Sprachauffassung mit besonderer Berücksichtigung der Derrida’schen Sprachauffassung siehe Vasterling 2001. Während Vasterling Butlers Sprachauffassung im Großen und

46

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

Ganzen teilt, kritisiert sie hingegen, dass die von Butler verteidigte bedeutungsgenerierende Sprachhandlung den Faktor der Intentionalität unberücksichtigt lässt (ebd., 139 f.), und zwar trotz der Tatsache, dass sie die Intentionalität, wie sie von der Phänomenologie verstanden wird, für eine Theorie der Geschlechtsidentität durchaus für bedeutsam erachtet (siehe Butler 1995, 363, Fn. 206). An diesem Punkt ließen sich Poststrukturalismus und Phänomenologie in ein produktives Gespräch miteinander bringen. 53 Nicht selten aber rufen Präfixe wie »vor« oder »ur« im Allgemeinen eine übertriebene, sachlich unbegründete Ablehnung hervor, die manchmal auf eine unzureichende Auseinandersetzung mit den entsprechenden Konzeptionen, u. a. mit denjenigen der klassischen Phänomenologie, zurückzuführen sind. 54 Für eine solche nachweisliche Gleichsetzung von vorprädikativer und vordiskursiver Erfahrung steht beispielsweise Shusterman. Für Shusterman ist die primordiale Erfahrung bei MerleauPonty eine Erfahrung »unterhalb jeder Sprache und aller Begriffe« und deshalb auf einer »nichtdiskursiven Ebene« angesiedelt (Shusterman 2003, 708). Obwohl sich Shusterman in seiner Kritik an Merleau-Ponty auf den amerikanischen Pragmatismus von James und Dewey bezieht, ist seine Gleichsetzung von Vorprädikation und Vordiskursivität derjenigen des Poststrukturalismus nicht unähnlich. 55 Ausführlicher erläutere ich diese These in Stoller 2005. 56 In dieser 1938 in Prag erschienenen Schrift geht es Husserl um die Bestimmung des prädikativen Urteils (gr. apophansis) im Rahmen der formalen Logik und um dessen Fundierung in einer vorprädikativen Evidenz im Sinne einer phänomenologisch orientierten »genetischen Urteilstheorie« (Husserl 1985, 21). Abschnitt I dieser Studie widmet sich ausführlich »Wesen und Struktur der vorprädikativen Erfahrung«, Abschnitt II konzentriert sich auf eine Charakterisierung des »prädikativen Urteils«, und Abschnitt III fragt nach der Konstitution von Allgemeingegenständlichkeiten auf einer höheren Stufe logischer Urteile. 57 Die Rezeptivität ist nach Husserl das ausgezeichnete Merkmal der vorprädikativen Erfahrung im Unterschied zur Spontaneität der prädikativen Erfahrung (siehe z.B. Husserl 1985, 233). Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich das Subjekt der Erfahrung in der vorprädikativen Erfahrung vollkommen passiv verhielte. Um einen Gegenstand in einem Wahrnehmungsfeld als einen so oder so vermeinten Gegenstand wahrnehmen zu können, beispielsweise in der von Husserl sogenannten »beziehenden Betrachtung«, muss auch auf der Stufe der vorprädikativen Erfahrung eine gewisse Aktivität des Wahrnehmungssubjekts gegeben sein, beispielsweise wenn sich sein betrachtendes »Interesse« auf diesen und keinen anderen Gegenstand richtet (vgl. ebd., 175). 58 Butler nennt eine Aussage wie »Es ist ein Mädchen« in vager Anlehnung an Austins Sprechakttheorie eine »performative Äußerung«  ; das, was in dieser performativen Äußerung sprachlich geschieht, bezeichnet sie als »Benennung« (engl. naming) (vgl. Butler 1995, 306  ; engl. 232)  : Etwas wird mit Namen benannt. 59 Untersuchungen zur Entwicklung der Sprache bei Kindern gehen heute davon aus, dass die Sprachentwicklung nicht erst auf der Wortebene, sondern früher einsetzt. So kann die Phase des Lallens zwischen dem sechsten und zwölften Lebensmonat nicht mehr nur als bloße VorSprache bezeichnet werden, sondern als eine Art polymorphe Sprache. Merleau-Ponty hat sich ausführlich in phänomenologischer Perspektive mit dem kindlichen Spracherwerb beschäftigt (siehe Merleau-Ponty 1994, Kap. I).

47

Silvia Stoller

60 Es sind Urteile im weitesten Sinne im Unterschied zu Urteilen der prädikativen Erfahrung, die Husserl als Urteile im engen und eigentlichen Sinne bezeichnet (ebd., 62). 61 So hieße zum Beispiel der Verzicht auf die Erfahrung im Bereich der Geschichtswissenschaft der Verzicht auf die so bedeutsame Oral History, was einen erheblichen Verlust an qualitativer Forschung in der Geschichtswissenschaft bedeuten würde.

Literatur Linda Martín Alcoff (1997), Phänomenologie, Poststrukturalismus und feministische Theorie. Zum Begriff der Erfahrung, in  : Silvia Stoller, Helmuth Vetter (Hg.), Phänomenologie der Geschlechterdifferenz. Wien, 227-248 Rudolf Bernet, Iso Kern, Eduard Marbach (1989), Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Hamburg Günther Buck (1989), Lernen und Erfahrung. Darmstadt Judith Butler (1991), Das Unbehagen der Geschlechter, übers. von Kathrina Menke. Frankfurt a. Main (engl. Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York/London 1990 Judith Butler (1995), Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. von Karin Wördemann. Frankfurt a. Main (engl. Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«. New York/London 1993) Wilhelm Dilthey (1997), Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte, in  : Gesammelte Schriften, Bd. XIX, hg. von Helmut Johach und Frithjof Rodi. Göttingen (2. durchges. Aufl.) Linda Fisher (1997), Phänomenologie und Feminismus, in  : Silvia Stoller, Helmuth Vetter (Hg.), Phänomenologie und Geschlechterdifferenz. Wien, 20–46 Michel Foucault (1996), Der Mensch ist ein Erfahrungstier, übers. von Wilhelm Schmid. Frankfurt a. Main Birgit Frostholm (1978), Leib und Unbewußtes. Freuds Begriff des Unbewußten interpretiert durch den Leib-Begriff Merleau-Pontys. Bonn Gerhard Gamm (1994), Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne. Frankfurt a. Main Elizabeth Grosz (Hg.) (1993), Merleau-Ponty and Irigaray in the Flesh, in  : Thesis Eleven, 36, 37–59 Martin Heidegger (1980), Der Ursprung des Kunstwerkes, in  : ders.: Holzwege. Frankfurt a. Main (6. durchges. Aufl.), 1–72 Martin Heidegger (1986), Sein und Zeit. Tübingen (16. Aufl.) Martin Heidegger (1994), Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hg. von Petra Jaeger. Frankfurt a. Main (3. durchges. Aufl.), Gesamtausgabe, Bd. 20 Klaus Held (1985), Einleitung, in  : Edmund Husserl  : Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I, hg. von Klaus Held. Stuttgart, 5–51 Edmund Husserl, Husserliana, Den Haag 1950 ff. (zit. als Hua) – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, hg. von Karl Schuhmann, Hua III/1

48

Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung

– Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926, hg. von Margot Fleischer, Hua XI – Erste Philosophie, Erster Teil  : Kritische Ideengeschichte, hg. von Rudolf Boehm, Hua VII – Erste Philosophie, Zweiter Teil  : Theorie der phänomenologischen Reduktion, hg. von Rudolf Boehm, Hua VIII – Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. von Stephan Strasser, Hua I – Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins 1893–1917, hg. von Rudolf Boehm, Hua X – Logische Untersuchungen, Erster Band  : Prolegomena zur reinen Logik, hg. von Elmar Holenstein, Hua XVIII – Logische Untersuchungen, Zweiter Band, I. Teil  : Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hg. von Ursula Panzer, Hua XIX/1 – Logische Untersuchen, Zweiter Band, II. Teil  : Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hg. von Ursula Panzer, Hua XIX/2 – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. von Walter Biemel, Hua VI Edmund Husserl (1985), Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. von Ludwig Landgrebe. Hamburg (6. Aufl.) Ronald D. Laing (1969), Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt a. Main Karl-Heinz Lembeck (1994), Einführung in die phänomenologische Philosophie. Darmstadt Maurice Merleau-Ponty (1966), Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von Rudolf Boehm. Berlin (frz. Phénoménologie de la perception. Paris 1945) Maurice Merleau-Ponty (1984), Die Prosa der Welt, hg. von Claude Lefort, übers. von Regula Giuliani. München (frz. La prose du monde. Paris 1969) Maurice Merleau-Ponty (1994), Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949–1952, hg. von Bernhard Waldenfels, übers. von Antje Kapust. München (frz. Merleau-Ponty à la Sorbonne. Résumé de cours 1949–1952. Grenoble 1988) Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung2002. Ansätze  – Personen  – Grundbegriffe, hg. von Renate Kroll. Stuttgart/Weimar Max Müller (1971), Erfahrung und Geschichte. Grundzüge einer Philosophie der Freiheit als transzendentale Erfahrung. Freiburg/München Paul Ricœur (1978), Rückfrage und Reduktion der Idealitäten in Husserls »Krisis« und Marx’ »Deutscher Ideologie«, in  : Phänomenologie und Marxismus, Bd. 3  : Sozialphilosophie, hg. von Bernhard Waldenfels, Jan M. Broekman und Ante Pažanin. Frankfurt a. Main, 207–239 Martin Schnell (1995), Phänomenologie des Politischen. München Joan W. Scott (1991), The Evidence of Experience, in  : Critical Inquiry, 17, 773–797 Joan W. Scott (1992), Experience, in  : Judith Butler, Joan W. Scott (Hg.), Feminists Theorize the Political. New York/London, 22–40 Joan W. Scott (2001), Phantasie und Erfahrung, in  : Feministische Studien, 2, 74–88 Hans Rainer Sepp (1997), Praxis und Theoria. Husserls transzendentalphänomenologische Rekonstruktion des Lebens. Freiburg/München Richard Shusterman (2003), Der schweigende, hinkende Körper der Philosophie, in  : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 51/3, 703–722 Sonia Sikka (2001), The Delightful Other. Portraits of the Feminine in Kierkegaard, Nietzsche, and

49

Silvia Stoller

Levinas, in  : Tina Chanter (Hg.), Feminist Interpretations of Emmanuel Levinas. University Park, Pennsylvania, 96–118 Silvia Stoller (2002), Körper oder Sprache  ?, in  : dies., Eva Waniek (Hg.), Sprache, Körper und Politik. Neue Ergebnisse der feministischen Theorie und Geschlechterforschung, Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 57. Jg., Nr. 3–4, 25–31 Silvia Stoller (2005), Vordiskursivität und Vorprädikation. Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung, in  : Phänomenologie und Postmoderne. (Acta Universitatis Palackianae Olomucensis, Reihe  : Philosophica VI, Univerzita Palackeho v Olomouci). Olomouc, 277–288 László Tengelyi (2007), Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern. Dordrecht Gerhard Unterthurner (2007), Foucaults Archäologie und Kritik der Erfahrung. Wahnsinn – Literatur – Phänomenologie. Wien Veronica Vasterling (2001), Judith Butlers radikaler Konstruktivismus  – Einige kritische Überlegungen, in  : Eva Waniek, Silvia Stoller (Hg.), Verhandlungen des Geschlechts. Zur Konstruktivismusdebatte in der Gender-Theorie. Wien, 136–146 Helmuth Vetter (1997), Phänomenologie und Hermeneutik, in  : Gottfried Magerl et al. (Hg.), »Krise der Moderne« und Renaissance der Geisteswissenschaften. Wien/Köln/Weimar, 44–75 Bernhard Waldenfels (1980), Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt a. Main 1980 Bernhard Waldenfels (1985), In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt a. Main Bernhard Waldenfels (1990), Der Stachel des Fremden. Frankfurt a. Main Bernhard Waldenfels (1992), Einführung in die Phänomenologie. München Bernhard Waldenfels (1993), Husserls Verstrickung in die Erfahrung, in  : Edmund Husserl, Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften, hg. von Bernhard Waldenfels. Frankfurt a. Main, 263–277 Bernhard Waldenfels (1998), Grenzen der Normalisierung. (Studien zur Phänomenologie des Fremden 2). Frankfurt a. Main Iris Marion Young (1990), Throwing like a Girl and other Essays in Feminist Philosophy and Social Theory. Bloomington, Indiana

50

Ashley Hans Scheirl

Ich bin mein_e eigene_r verrückte_r Cyborg-Wissenschaftler_in

Abb. 1 Passfotos

Durch meine Arbeit zieht sich das Bedürfnis, mit dem Selbst, der Sexualität und der Identität zu experimentieren. Die Passfotos auf Abb. 1 sind so zusammengestellt, als ob es um eine Transformation von weiblich nach männlich gehen würde. Das führt allerdings in die Irre. Am Anfang steht ein Foto von mir mit ca. 16 Jahren. Die weiteren Fotos sind chronologisch gereiht bis zum Jahr 1996, in dem ich 40 Jahre alt wurde und begann, Testosteron zu nehmen. Es geht aber bei mir nicht um eine Biographie als Transsexueller, also darum, von A nach B zu gehen, sondern ich definiere mich als »transgender«. Ich habe einige Jahre männliche Hormone zu mir genommen, bleibe aber eigentlich immer dazwischen, pendle sozusagen zwischen den von der Gesellschaft konstruierten zwei geschlechtlichen Möglichkeiten. 51

Ashley Hans Scheirl

Abb. 2 Tagebücher; Abb. 3 »Quim« 1; Abb. 4  : »Quim« 4

Die Identität »transgender« ist eine paradoxe, weil sie bedeutet, in ständiger Veränderung zu sein. Sie verliert das Paradox und wird zu einer lebbaren innerhalb einer internationalen Community, die das Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt. Auf eine solche Community bin ich im Zuge meiner Aufenthalte in den USA und anderen Ländern gestoßen, in denen ich meine Filme gezeigt habe, und in London, wo ich 16 Jahre gelebt habe. Meine kontinuierlichste Praxis ist die des Tagebuchschreibens, das ich seit 1972 verfolge. In diesen Büchern geht es sowohl darum, Wunschbilder und -welten zu entwerfen, die ich dann versuche, in meinem Leben zu verwirklichen, wie auch darum, meine Erlebnisse in der Folge aufzuschreiben. Eine Art kybernetische Feedbackschleife. Die Gestaltung der eigenen Identität kann nur eine Mitgestaltung sein, also eine Zusammenarbeit mit den Menschen, mit denen man sich umgibt  : Identität als soziales Konstrukt. Ich möchte im Folgenden auf die Projekte eingehen, die ich mit meinen Mitstreiter_innen im London der 1990er-Jahre durchgeführt habe. Das umfasst die Mitarbeit an Magazinen, Clubs, Fotografien und Filmen. Hier zwei Beispiele des »Quim Magazins« (»Quim Magazine« 1989, 1992). Quim ist ein veraltetes Wort für Vagina. Der Untertitel lautete »Magazine for Dykes of all Persuations«. Dykes ist eine Bezeichnung für lesbische Frauen, deren spezielle Konnotation sich jenseits des Stereotyps vom sanften Sex bewegt. Meiner fetischistischen Interpretation nach waren dykes Frauen, die von oben bis unten in Leder gekleidet waren, den Schlüsselbund am Gürtel hän52

Ich bin mein_e eigene_r verrückte_r Cyborg-Wissenschaftler_in

Abb. 5a »Good Poetry«, Abbildung aus »Quim« 4 ; Abb. 5b »Fisting«, Illustration für »Quim«; Abb. 6 »D@D@)«

gen hatten und eine maskuline Arbeiterklassen-campness an den Tag legten. Sie experimentierten mit härteren sexuellen Praktiken, Sadomasochismus, Fisten, Blutspielen, Pissen und waren generell polymorph promiskuös. Um den Film »Dandy Dust« zu produzieren, hatte ich ein altes Fabriksgebäude gemietet, das wir nach Warhol die factory nannten. Dort habe ich einmal einen Dada-Abend organisiert. Auf Abb. 6 sieht man Menschen versammelt, mit denen ich an »Dandy Dust« und verschiedenen anderen Projekten gearbeitet habe. Von links nach rechts  : Tina Keane, Londoner Künstlerin, die mich an Video- und Internetprojekten beteiligt hat, und die z. B. auch ein Video über »The Making of Dandy Dust« gemacht hat  ; Johnny de Philo aka Johnny Golding_Sue Golding, Philosophin, derzeit am Royal College of Art in London, die maßgeblich an der Konzeptualisierung von »Dandy Dust« beteiligt war und einen Workshop für Teilnehmer_innen durchgeführt hat  ; Jason Elvis Barker, damals Jewels, Filmemacher. Mit ihm zusammen habe ich den Film »Summer of 1995« realisiert. Er ist auch der Sounddesigner von »Dandy Dust«  ; Lori Steinberg, die den gynäkologischen Stuhl gebaut hat  ; Svar Simpson, Bildhauer, der als Spidercuntboy eine Hauptrolle im Film spielt und einige der Miniaturmodelle hergestellt hat  ; Gianna Cipriani, Director of Cinematography, die auch die digitalen Animationen angefertigt hat. Ganz rechts der Fotograf Del 53

Ashley Hans Scheirl

Abb. 7 »Dirty Old Man«; Abb. 8 Vor Selbstportrait; Abb. 9 Mit Dildos

LaGrace Volcano, früher Della Grace, bekannt durch seine Bildbände »Love Bites«, »The Dragking Book«, »Sublime Mutations« und »Femmes of Power«. Fast alle von ihnen spielten auch eine Rolle in »Dandy Dust«. »Dirty Old Man« ist ein Beispiel meiner Arbeit mit Catherine Opie, einer Künstlerin, die in Los Angeles lebt und mit Fotografie arbeitet. Abb. 7 ist 1995 entstanden. Wir waren gemeinsam einen Schnurrbart kaufen. Ich suchte mir einen grauen aus und so entwarfen wir gemeinsam die Persona »Dirty Old Man«, die ich dann, zurück in London, in die Clubs ausgeführt habe. In Abb. 8 habe ich mich am Set von Dandy Dust vor einem gemalten Selbstportrait stilisiert, mit Stroh und Büchern, die als Requisiten verwendet worden waren. Ich bin immer wieder von verschiedenen Fotograf_innen gefragt worden, ob sie mich ablichten dürfen. In Abb. 9 inszeniere ich mich mit meinen Sextoys. Der Schriftsteller und Fotograf Peter Paul Hartnett hatte den Club Naive gegründet mit Jason und mir als Frontmen. P-P war ein Fan von Drag Kings, also Frauen in Männerkleidern, geworden, nachdem er beim Dreh der Szene »Art Class« für »Dandy Dust« dabeigewesen war. »Art Class« ist eine Szene, die dem Aktzeichnen auf einer Kunstakademie des 19. Jahrhunderts nachempfunden ist, wie es z. B. an der Wiener Akademie stattgefunden hat, an der Frauen ja lange nicht zum Studium zugelassen waren. Da sieht man die Studenten in formeller Kleidung nackte Menschen malen. In meiner Szene sind das vor allem Frauen in Anzügen mit Krawatten und aufgeklebten Schnurrbärten. In der Folge gab es dann noch die Clubs Knave und Geezer. Heute würde man diese Clubs als queer bezeichnen, weil in diesem Begriff die Labels schwul und lesbisch eine Erweiterung erfahren haben und Menschen einbeziehen, die 54

Ich bin mein_e eigene_r verrückte_r Cyborg-Wissenschaftler_in

Abb. 10 Flyer »Naïve« Abb. 11  : »Art Class« Abb. 12  : »Knave« Abb. 13  : Mit Svar

sich z.B. als trans- identifizieren oder als hetero, aber mit ihrem Gender oder ihrer Sexualität experimentieren wollen. Zum Abschluss des ersten Teils meines Beitrags möchte ich kurz auf den Film »Summer of 1995« von Jason Elvis Barker und mir eingehen (London 1995, Super-8, 13 min). Jason und ich hatten uns als Teilnehmer beim DragKing-Wettbewerb kennengelernt. Diese Veranstaltung war ein Programmpunkt im Rahmen des London Gay & Lesbian Filmfestivals zusammen mit ( Judith) Jack Halberstams Vortrag »Female Masculinities«. Wir verliebten uns an Ort und Stelle. Als ich dann im Sommer nach Los Angeles fuhr, um meine Geliebte Catherine Opie zu besuchen, schlug Jason vor, dass wir beide mit unseren Super-8-Filmkameras Aufnahmen machen sollten. Auch verwendeten wir Material der bereits erwähnten dadaistischen Zusammenkunft. Vorbild dieser Art des Filmemachens war z. B. Andy Warhol, der das Genre Home Movie verwendete, um seine erweiterte Familie darzustellen, die nicht auf einer reproduktiven Logik aufgebaut war, sondern auf Freundschaft, Kollaborationen, queerem Sex und Polyamorie.

55

Ashley Hans Scheirl

Abb. 14  : Drag Kings Abb. 15  : Cathy, Standbild aus dem Film »Summer of 1995« Abb. 16  : »T-Zeremonie«, Standbild aus dem Film »Summer of 1995«

Als ich nach London zurückkehrte, war Jason an Windpocken erkrankt. In körnigen Schwarzweißaufnahmen sieht man sie_ihn mit diesen Flecken am Körper. Er_sie und Svar machten spontan eine Nacktperformance für die Kamera, Teekanne und Tasse haltend, die ich inzwischen die »T-Zeremonie« nenne als Verweis auf die zukünftigen Entwicklungen  : Alle drei von uns fingen ein bzw. zwei Jahre später damit an, T(estosteron) zu spritzen. Abschließend möchte ich mithilfe einiger Clips aus »Dandy Dust« auf etwas zu sprechen kommen, das am ehesten mit Cyborg-(De_)Subjektivierungsprozessen umschrieben werden kann. Das Wort Cyborg kommt ursprünglich aus dem US-militärischen Forschungsbereich, wo versucht wurde, Biotech-Lebewesen zu erzeugen, die statt Menschen in den Krieg geschickt werden können. Donna Haraway hat in den 1980er-Jahren das »Cyborg Manifesto« (Haraway 1991) geschrieben, auf das ich mich im Film »Dandy Dust« beziehe. Sie verwendet den Begriff, um Identifizierungsprozesse in Anbetracht von Globalisierung und der beschleunigten Entwicklung neuer Technologien radikal neu zu denken. Als Cyborgs sind wir sehr stark mit der Beziehung zwischen Körper und Körperteil beschäftigt. So z.B. zwischen Körper und technologischer Prothese und in Analogie dazu zwischen dem Individuum und der Gesellschaft in einer 56

Ich bin mein_e eigene_r verrückte_r Cyborg-Wissenschaftler_in

Abb. 17  : Nieren 3075, Standbild aus dem Film »Dandy Dust«; Abb. 18  : Blase 3075, Standbild aus dem Film »Dandy Dust«

durch die elektronisch-digitalen Kommunikationsmedien vernetzten Welt. Wo fängt das Ich an und wo hört es auf  ? In Anbetracht dieser veränderten Vorzeichen versuchte ich in »Dandy Dust«, gängige filmische Darstellungs- und Erzählstrukturen mit verschiedenen Techniken und Tricks aufzubrechen, so z. B. mit der Dimension »Hindurch«, die Raum und Zeit bis zur Unkenntlichkeit invertieren soll. Innen und außen, Groß und Klein, Vordergrund und Hintergrund werden vertauscht und ineinander verkeilt. Beziehungen zwischen den Protagonist_innen werden verkompliziert durch gegenseitiges Beinhalten. Der Spezialeffekt wird zu einem Protagonisten und der Film selbst zu einer Transgender-, Transmedium- und Transgenre-Entität, einem kybernetischen Beziehungsgefüge. Im ersten Clip sieht man Dust, eine der Personae der Hauptprotagonistenmultiplizität, allwissend und gelangweilt im All schweben, als würde sie das Universum von oben herab kontrollieren. Diese Persona Dust ist, wie man am Anfang des Filmes sieht, aus der Vermengung von zerriebenen weißen Knochen der kolonialen Kriegsmaschinerie und Vergewaltigersperma entstanden. Die Idee dahinter ist, dass es um das dekadente weiße Patriarchat geht, das sich hier verflüssigt bzw. zerstäubt. Diese_r Dust schwebt also im All und entdeckt einen neuen Planeten. Ganz verwundert fragt sie_er sich  : »A new planet  ? Where did that grow  ?« Sie_er landet auf dem Planeten und wird sofort von der Einwanderungsbehörde gestoppt. Seine_ihre Bewusstseins-DVD wird aus dem Schädel entnommen. Dust wehrt sich  : »Tourist  ! Tourist  ! Without this I – I …«. »Yes, darling we know, without this you won’t remember having had one.« Dust stolpert halb bewusstlos über die Oberfläche des Planeten, das ein Biotech-Lebewesen mit Genitalien und anderen Organen ist. 57

Ashley Hans Scheirl

Abb. 19  : Cydykes, Standbild aus dem Film »Dandy Dust« Abb. 20  : Blutplanet, Standbild aus dem Film »Dandy Dust«

Sie_er kommt an einer transsexuellen Baustelle vorbei, kann aber nichts aufnehmen. In einem Cyberlabor wird eine neue, leere DVD eingepflanzt, wodurch der Anschluss an den Planeten hergestellt wird. Der Planet hat den Namen 3075. Es herrscht immer das Jahr 3075. In der Blase von 3075 sind die Einwohner_innen über Schläuche mit dem Wirtskörper verbunden, um lebenswichtige Stoffe auszutauschen. Dust wird ein Teil dieser polyorgiastischen Struktur. Nach Äonen von Wiederholungen des Jahres 3075 erscheint der Doppelgänger »Dandy« aus einer anderen Zeit, von einem anderen Planeten. Im nächsten Clip folgen wir Dandy zurück zum »Planeten von Blut und Schwellung«, der sich im Darm des Vaters befindet. Der Himmel über diesem Planeten ist überzogen mit den Blutgefäßen im Darm und das Innere ist gefüllt mit Darmwindungen. Bei seiner Ankunft ist Dandy verrückt geworden. Er benimmt sich völlig daneben auf einer Dinnerparty des Vaters. Bei dieser Szene (Abb. 21 und 22) sieht man sehr gut die Technik der Invertierung des Raumes durch die Verwendung von Miniaturmodellen, die rund um den Monitor aufgebaut sind. Im Monitor laufen die Aktionen der Darsteller_innen ab, die vor schwarzem Hintergrund gedreht wurden, während der Raum in Miniaturversion davor platziert ist. So verwendeten wir z.B. für die Szene, in der es um einen Flirt mit einer Dame geht, im Vordergrund einen roten Strumpfgürtel. Im letzten Clip sieht man Dandy Dust, den Charakter, der aus der Verschmelzung von Dust und Dandy hervorgegangen ist. Er_sie findet sich wieder im Blutkreislauf einer der (ungeborenen) Zwillingsschwestern. Dandy Dust will raus, doch die Schwestern sind im Labor und sehr beschäftigt.

58

Ich bin mein_e eigene_r verrückte_r Cyborg-Wissenschaftler_in

Abb. 21  : Offiziere, Standbild aus dem Film »Dandy Dust« Abb. 22  : Offiziere 2, Standbild aus dem Film »Dandy Dust« Abb. 23  : Zwillinge im Labor, Standbild aus dem Film »Dandy Dust«

Es stellt sich heraus, dass sie den Planeten 3075 durch die parthenogenetische Befruchtung ihrer Eier gezeugt haben. Durch ein Problem in der Atmosphäre konnten sie bis jetzt aber nicht auf dem Planeten leben. Gerade jetzt finden sie die richtige chemische Zusammensetzung. Dandy Dust wird erbrochen und zurück ins schwarze All gespuckt.

Schlussbemerkung Der Film »Dandy Dust« ist selbst ein Cyborg insofern, als der filmische Körper einschließlich der Produktions- und Rezeptionsdynamiken als eine Anhäufung von Konfliktzonen dargestellt wird, eine große Baustelle der Identitätsfindung. Kleines Beispiel  : Die Spielaktionen wurden 1994 gedreht, doch die Vertonung des gesamten Filmes wurde erst 1996 ausgeführt. Einige der Performer_innen hatten inzwischen begonnen, Testosteron einzunehmen, sodass ihre Rollen mit tiefen Stimmen synchronisiert wurden. Z.B. wird aus Spidergirl Spidercuntboy und Supermutter Cyniburg verwechselt ständig die Pronomen. Der Film selbst 59

Ashley Hans Scheirl

Abb. 24  : Spidercuntboy, Standbild aus dem Film »Dandy Dust«

wurde so transgendered  : Er ist sein_e eigene_r verrückte_r Cyborg-Wissenschaftler_in.

Literatur Andrea B. Braidt (Hg.) 1999, Cyborg.Nets/z. Catalogue/Katalog zu Dandy Dust. Wien Donna Haraway (1991), A Cyborg Manifesto  : Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century, in  : dies., Simians, Cyborgs and Women  : The Reinvention of Nature. London Quim 1 (1989), Produced with Contributions and Assistance from  : Maria McMahon, Sophie Moorcock, Katy Worsley, Araba Mercer, Annie Toone, Pom Martin, Louise Hanson Quim 4 (1992), Producers/Editors  : Lulu Belliveau, Sophie Moorcock

Filmografie Dandy Dust, Hans Scheirl, 16 mm, 94 min, GB/A 1998 Summer of 1995 (London 1995), Hans Scheirl, Jason Elvis Barker, Super-8, 13 min, GB 1995

Bildnachweis Abb. 1, 2, 5a, 5b, 11 und Abb. 15–24  : Ashley Hans Scheirl Abb. 3  : Annie Toone Abb. 4  : 6, 8, 12, 13 Del LaGrace Volcano Abb. 7  : Catherine Opie Abb. 9  : Johanna WeberAbb. 10, 14  : Peter Paul Hartnett

60

Janine Schulze-Fellmann

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren Prolog Was sehen wir, wenn wir Körper betrachten, die sich auf der Bühne tanzend bewegen  ? Wo treffen wir uns dabei in unseren Wahrnehmungen und wo und wodurch zerfällt das kollektive Wir dann doch vielleicht in viele einzelne Ichs  ? Sehen wir tatsächlich einfach Körper, die tanzen, oder teilt unsere Wahrnehmung nicht vielmehr mit dem ersten Blick auf das Bühnengeschehen diese Körper ein in bereitgestellte Kategorien unserer alltäglich-gesellschaftlichen, aber auch ästhetischen Differenzierungsstrategien (Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter etc.)  ? Tatsächlich haben wir es beim tanzenden Körper generell mit einer höchst wandelbaren Materialität zu tun. Und dies zum einen in direktem Sinne, bezugnehmend auf die dem Tanz inhärente Flüchtigkeit, und zum anderen im übertragenen Sinne. Denn die Körper der Tanzenden verändern sich nicht nur allein in der Aktion beständig  ; »vielmehr entsteht die Materialität des Körpers überhaupt erst in der Betrachtung, im Wechselspiel zwischen Aktion und Rezeption.« (Schulze 2005, 112) Körperbilder entstehen  – egal, ob auf der Bühne oder im Alltag  – in den Augen der Betrachtenden. Doch jeder Blick und jede körperliche Wahrnehmung ist auch eine kulturelle und vom jeweiligen persönlichen Lebenskontext geprägte Aktion bzw. Reaktion. Auf den Bühnentanz bezogen und von einer rein rezipierenden Seite des Publikums ausgehend, wird die einzelne Wahrnehmung durch vielfältigste Seherfahrungen und ästhetische Vorbildungen geprägt. Hierbei beeinflussen uns unsere eigenen, praktischen Tanzerfahrungen, ein großes bis gar kein tanztheoretisches Fachwissen, aber eben auch eine Fülle an Ordnungsmodellen (Diskursen), die unseren alltäglichen Umgang mit dem Körper, seiner Disziplinierung, seinen gesellschaftlich bis politischen Eingrenzungen und nicht zuletzt seinen geschlechtsspezifischen Zuordnungen bis hin zu Tabus prägen. Unsere Wahrnehmung und somit unsere Erfahrung von Kunst ist mit diesen vielfältigen Mustern untrennbar verwoben, die ihrerseits wiederum selbst Effekte dieser Wahrnehmungsprozesse sind. Die Grenzen zwischen Gezeigtem und Gesehenem verwischen. Was wiederum heißt, dass das, was auf 61

Janine Schulze-Fellmann

der Bühne gezeigt wird, keine stabile Größe ist. Vielmehr materialisieren sich die flüchtigen, tanzenden Körper erst im Wahrnehmungsprozess des GesehenWerdens zu konkreten, benenn- und damit auch kategorisierbaren Körperbildern. Was aber, wenn das Objekt der Betrachtung – hier die tanzenden Männer1 oder die Darstellungen von Männlichkeit auf der Bühne – unseren bisherigen Tanzkunst- und Körpererfahrungen, kurz den uns vertrauten Mustern, nicht mehr entspricht  ? Was, wenn das Sehen durch das Gesehene irritiert, verunsichert bis verstört wird  ? Wie sehen, um nicht die Seite der Tanzschaffenden zu vernachlässigen, Choreografien aus, die Definitionslücken in Bezug auf gesellschaftlich normierte geschlechtsspezifische Zuordnungen aufzeigen und diese somit als instabil ausweisen  ? Anders gefragt  : Inwieweit lassen genderkritische Tanzstücke immer wieder auch einen Blick auf die ›Fallen‹ der Gender-Prägung zu, indem der Stückkontext (Handlung oder Statements der Choreograf_innen) zwar eine Genderkritik behauptet, die Körper aber durch die choreografische Setzung (z.B. durch Gender-unausgewogene Paarkonstellationen oder in der Wahl und Zuteilung gegenderter Tanztechniken oder -schritte) im Status quo gefangen bleiben  ? Wie das Zusammenspiel zwischen Inszenierung und Rezeption, aber auch zwischen tanzgeschichtlichen Entwicklungen, den sich hier abzeichnenden geschlechtsspezifischen Setzungen und innovativen Inszenierungen funktioniert – oder eben auch gestört und irritiert wird –, soll im weiteren Verlauf anhand von repräsentativen Männlichkeitsinszenierungen innerhalb der Tanzgeschichte verdeutlicht werden. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass tanzende Männer im Laufe der europäischen und amerikanischen Bühnentanzgeschichte äußerst ambivalenten Inszenierungs-, aber auch Blick- und Wahrnehmungsmustern ausgesetzt waren und auch heute noch sind.

Men don’t dance  ! Oder  : Mit dem Anfang beginnen Am Anfang war der Bühnentanz und mit ihm der tanzende Mann  : Historisch betrachtet ist das entstehende Ballett eine rein männliche Angelegenheit. Bühnentanz vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hieß Repräsentation, hieß den absolutistischen Herrscher choreografisch ins Zentrum des Interesses rücken, Hierarchien am Hofe sichtbar werden lassen und politische Machtansprüche über die Teilhabe des gesamten Hofes zu festigen (Horn 2004). Vorbild für alle anderen europäischen Höfe war Frankreich, wo der Tanz im 17. Jahrhundert unter der 62

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren

Regentschaft von Ludwig XIV. zunächst eine rein von Männern praktizierte Kunst war (bis Ende des 17. Jahrhunderts wurden in Frankreich nahezu alle Frauenrollen von Männern getanzt – auch vom König selbst). Ludwig XIV. trug entscheidend zur Entwicklung des Balletts als eigenständige akademische Kunst bei (1661 Gründung der Academie Royal de Danse). Zunehmend professionalisierte sich das Bühnenpersonal. Und so stand bald nicht mehr der König selbst mit seinem Hofstaat auf der Bühne, sondern Berufstänzerinnen und -tänzer (Schulze-Fellmann 2016, 360). Mit dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen, die mit politischen Umbrüchen einhergingen  – allen voran durch die Französische Revolution (1789)  – wandelte sich auch der Bühnentanz und sein gesellschaftlicher Status. Die einst höfischen Theater, Instrumentarien der nun öffentlich als dekadent beschimpften aristokratischen Macht, wurden zu privatwirtschaftlichen Vergnügungstempeln, und das Publikum wandelte sich vom Adel hin zum Bürgertum. Mit den 1830er-Jahren schließlich und der ›Geburt‹ des Romantischen Balletts, mit dem Aufkommen des Spitzentanzes, der die Virtuosität der Ballerinen ins Zentrum rückte, und den sich generell wandelnden Körperbildern und Körperwahrnehmungen von Mann und Frau in der bürgerlichen Gesellschaft (und somit auch im Tanz) verbindet die traditionelle europäische Ballettgeschichtsschreibung noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das Verschwinden des tanzenden Mannes und den ›Sieg‹ der tanzenden Frauen. Tatsächlich kam den wenigen tanzenden Männern nur mehr die Rolle zu, die Ballerinen zu unterstützen und selbst zunehmend ›unsichtbar‹ zu werden. Der Tänzer wurde mittels Kritik und vielfältiger Karikaturen sogar zu einem »unpleasent thing« (Burt 1995, 11) und so entwickelte sich die Tradition des en travesti (Schulze 2016, 646–47) mit umgekehrtem Vorzeichen  : Tänzerinnen übernahmen nun auch die Männerrollen. Der gesellschaftliche und machtpolitische Bedeutungsverlust des Tanzes und seine Konnotation als weibliche Kunst fallen somit zusammen. Der britische Tanzwissenschaftler Ramsey Burt erklärt diese künstlerische bis körperliche Verschiebung im Ballett vor dem Hintergrund einer zeitgleich voranschreitenden gesellschaftlichen Negierung des Körpers als Repräsentanz von Männlichkeit.2 Tatsächlich konstruierte spätestens die Aufklärung das männliche Subjekt als ein vom Logos geleitetes, über jeden Widerspruch erhabenes, vernünftiges und kontrolliertes Individuum. Der Körper aber wurde zum Ort unkontrollierter Emotionalität –, die wiederum als weiblich markiert wurde. Der Tanz, die Kunst, die den Körper und seine Ausdrucksmöglichkeiten ins Zentrum des Interesses rückt, lief somit den Männlichkeitskonstruktionen einer aufgeklärten und bürgerlichen Gesellschaft ent63

Janine Schulze-Fellmann

gegen. Der tanzende Mann galt von nun an vor dem Hintergrund einer solchen gesellschaftlichen Ordnung als unmännlich oder sogar als ›weibisch‹. (Schulze 1999, 155). Eine Zurschaustellung des Körpers auf der Tanzbühne implizierte zugleich den begehrenden Blick auf denselben.3 Die vehemente Abneigung dem tanzenden Mann auf der Bühne gegenüber war somit auch Zeichen einer gesellschaftlich wachsenden Homophobie. Der bürgerliche Zuschauer sollte durch den Anblick eines tanzenden männlichen Körpers nicht zu einem homosexuellen Begehren verführt werden, so die Angst um die Stabilität bürgerlicher Moral und Ordnung.

Männlichkeit mittels Tanz verteidigen Erst mit dem beginnenden 20. Jahrhundert finden sich vor allem in den USA erste Ansätze einer Männertanzreform und damit der Versuch den Tanz für Männer wieder zu einem gesellschaftlich anerkannten Beruf werden zu lassen. Ted Shawn (1891–1972) ist wohl die bekannteste Ausnahme dieser Zeit, die von der Regel, nämlich den weiblichen Pionierinnen des Modern Dance, abwich.4 Bis zu seinem Tod wurde er nicht müde, seine Konstruktion tanzender Männlichkeit zu verteidigen. Shawn war seit dem 18. Jahrhundert der erste USamerikanische Mann, der öffentlich tanzend auf der Bühne auftrat, und der erste professionelle Tänzer Amerikas seit Ende des 19. Jahrhunderts (Terry 1976, 11). Nach vielen Jahren der Zusammenarbeit mit seiner sehr viel bekannteren Frau Ruth St. Denis gründete er 1933 seine eigene Kompanie »Ted Shawn and his Men Dancers«. In der Arbeit mit dieser Männer-Kompanie entwickelte er ein Modell tanzender Männlichkeit, das sich vor allem durch die permanente Abgrenzung vom Weiblichen definierte. Mithilfe von Rückverweisen auf das Höfische Ballett sowie auf antike Tanztraditionen, in denen Schwert- und Kriegstänze Männern vorbehalten waren, und unter Verweis auf andere ethnische Gruppen, die die traditionellen Verknüpfungen von Tanz- und Kampfkunst bis ins 20. Jahrhundert pflegten, versuchte Shawn, den Tanz als eine ursprünglich männliche Kunst und als Sport jenseits aller zeitgenössischen und im konservativen Nord-Amerika besonders ausgeprägten Vorwürfe der Effeminiertheit zu etablieren (Schulze 1999, 162). Er kritisierte jede Verwischung geschlechtlicher Unterschiede im Tanz. Sein Konzept von Männlichkeit basiert auf einer Ursprungsvorstellung, die den Mann als Jäger und Sammler definiert. Er ließ seine Tänzer Bewegungen ausführen, die dem Schwingen einer Sense, der Mechanik einer Maschine oder kriegerischen 64

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren

Abb. 1 Filmstill  : Ted Shawn and his Men Dancers, Kinetic Molpai, 1935

Handlungen entsprachen (Shawn 1946,103). Laut Shawn stimmen diese dem Mann zugeschriebenen alltäglichen Bewegungsmöglichkeiten und -beschränkungen mit seinen körperlichen Besonderheiten und somit einem unhintergehbaren biologistischen Prinzip Mann überein. Shawn hielt sein Ziel, den Tanz als gesellschaftlich akzeptiert zu etablieren, nur für erreichbar, indem er sich mit seinen Tanzstücken und seinen theoretischen Schriften über den Tanz innerhalb der herrschenden patriarchalen Machtdiskurse bewegte und diese fortschrieb. Sein im Tanz gezeichnetes Bild des Mannes ist nie ein gesellschaftskritisches oder irritierendes, sondern stets ein den Status quo bestätigendes. Wiederholt betonte Shawn über und für die Medien, dass Tanzen nichts ›sissy‹5-haftes habe, und er agierte strategisch geschickt, um Verdächtigungen der Homosexualität in Bezug auf sich und seine Tänzer vorzubeugen  : »The boys and young men who saw my men dance were deeply impressed, and night after night, football, basketball and other athletic team men crowded backstage fascinated with the performance, and found my men to be ›regular guys‹.« (Shawn 1966, 16) Shawns Zielpublikum waren also heterosexuelle, weiße Männer (regular guys), sie wollte er überzeugen, ihre Akzeptanz musste er gewinnen, um so gesellschaftliche Anerkennung für den Beruf des Tänzers zu erreichen. Alle seine Rückgriffe auf die Antike, auf den Sport, zeugen davon, dass er nicht nur den Tänzer auf der Bühne legitimieren, sondern Tanz selbst und seine Rezeption als eine ureigene männliche Aktivität gewertet wissen wollte. Der Blick auf den tanzenden männlichen Körper (und auch auf den seines Rezipienten) bedurfte einer Neudefinition. Einer Definition, die jegliche erotische Komponente unterdrückte (Neale 1995, 14). Shawn gelang dies in seinen Choreografien, ganz besonders aber in seinen tanztheoretischen Schriften, in denen er jene Männ65

Janine Schulze-Fellmann

lichkeitsbilder und -konzepte bediente und bestätigte, die den amerikanischen Gesellschaftsdiskurs dominierten  : Shawn definierte seine Tänzer als Hochleistungssportler und rief in seinen tänzerischen Darstellungen Bilder kriegerischer Männlichkeit auf. Mit diesen Körperkonzepten rückten gleichzeitig männlich konnotierte Qualitäten wie Disziplin, Verstandeskontrolle und Virilität in den Vordergrund. Shawn irritierte und bestätigte zugleich  : Männer, die miteinander tanzen, waren für seine Zeitgenossen und deren bisherige Tanzerfahrungen eine Irritation per se. Durch die betont sportliche bis kriegerische Körperlichkeit lenkte er jedoch die Wahrnehmung wieder auf das sichere Terrain einer auch im amerikanischen Alltag propagierten Männlichkeit. Vor allem durch seine Texte schob er geschickt seine auf die gesellschaftliche Norm abgestimmten Motive von Männlichkeit in den Vordergrund des rezipierenden Bewusstseins und ließ dahinter fast den Stein des möglichen Anstoßes, das Tanzen selbst, verschwinden. Mittels der Bewegungssprache untermauerte er genau jene Bilder bis Stereotype männlich normierter Körperlichkeit, die er selbst erneut reproduzierte. Shawn bestätigte somit indirekt jene spätestens seit der Aufklärung und dem Romantischen Ballett existierenden Bedenken und Vorurteile gegenüber tanzenden Männern, denen er doch eigentlich entkommen wollte. Aus ästhetischer Perspektive und mit dem Tanz- und Gender-Wissen des 21. Jahrhunderts ist Ted Shawn nicht nur ein früher Pionier des Männertanzes, sondern auch Beispiel für die vielfältigen Verschleierungstaktiken einer kreativen Persönlichkeit seiner Zeit. Die Akribie – fast schon Penetranz –, mit der Shawn heterosexuelle eurozentristische männliche Körpernormen eines Amerikas der 1930er-Jahre zu erfüllen suchte, besonders in seinen Texten, dokumentiert aus heutiger Sicht vor allem den Wunsch nach künstlerischer Anerkennung innerhalb enger gesellschaftlicher Regulierungsmechanismen. Ein Wunsch, der in seinem Fall eine schizophrene Lebensführung von ihm verlangte. Erst 2000, mit Veröffentlichung von Barton Mumaws Biographie »Dancer  : From Denishawn to Jacob’s Pillow and Beyond« (Mumaw/Sherman 2000), ließen sich die Ausmaße der Schneise, die seine öffentliche Darstellung und die gelebte Realität durchzog, erahnen. Mumaw, selbst Tänzer bei den Men Dancers und langjähriger Lebensgefährte von Shawn, beschreibt dort das Leben und Arbeiten der Männer auf der gemeinsamen Farm Jacob’s Pillow. Fast alle Mitglieder der Kompanie waren schwul. Zusammen führten sie einen Alltag, der die Farmarbeit mit dem Tanz und kollektiven Kunst-, Literatur- oder Philosophierezeptionen aller Art durchwirkte (Poulin 1995, 48). Körperliche Reformideen (u.a. Nacktkultur) und alternative Lebenskonzepte wurden erprobt. Ganz bestimmt aber entsprach das Leben und Arbeiten auf der Farm nicht dem Ideal eines 66

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren

konservativen weißen Amerikaners. Doch auch hier sorgte Shawn für ein perfektes Außenbild des Farmlebens  : Regelmäßig lud er zu samstäglichen Lecture Performances bei Kaffee und Kuchen ein, zu denen zunächst überwiegend ein interessiertes weibliches Publikum kam, das immer häufiger auch seine Männer mitbrachte (Schlundt 1967, 47). Dennoch, das oben angeführte Zitat Shawns, in dem er auf seine Tänzer als »typische (heterosexuelle) amerikanische Männer« (regular guys) verweist, steht im Kontrast zur damaligen Realität. In dem 1982 produzierten Dokumentarfilm »The Men Who Danced« unter der Regie von Ron Honsa (Moving Pictures) werden einige der damaligen Tänzer, unter ihnen auch Barton Mumaw, interviewt. Sie erzählen auch von den Pöbeleien bis aggressiven Attacken, denen sie nach ihren Auftritten häufig ausgesetzt waren. Ted Shawns schriftlich fixierte Ideen tanzender Männlichkeit und die behauptete Akzeptanz seiner Inszenierungen, zusammengelesen mit den Erinnerungen seiner Tänzer, zeigen eine deutliche Diskrepanz zwischen künstlerischem Ideal und erfahrener Wirklichkeit. Deutlich wird vor allem die Macht gesellschaftlicher Repressionen und ihr Einfluss auf künstlerische Entwicklungen. Die Farm Jacob’s Pillow, Sinnbild für Shawns eigentliche Persönlichkeit und seine Lebensideale, wird als Parallelwelt erkennbar. Eine Welt, die Akzeptanz nur über die Verleugnung erzielen konnte.6

Irritierte Männlichkeit reflektieren Offensichtlich virulent wird das Thema Männlichkeit im Bühnentanz erst wieder mit dem regelrechten Boom reiner Männer-Stücke Anfang bis Mitte der 1990erJahre.7 Sie reflektieren die und treten in Wechselwirkung mit den Tendenzen der Men’s Studies ihrer Zeit. Sie stehen auch in einem kritischen bis spiegelnden Verhältnis zu Konzepten neuer alter Männlichkeit, wie sie in ebenfalls in dieser Zeit äußerst populären Bücher wie Robert Blys »Eisenhans« (1990) oder Sam Keens »Feuer im Bauch« (1992) zu finden sind  : eine Männlichkeit, die sich vor allem von den seit den 1960er-Jahren von Seiten feministischer Frauen an sie gestellten Forderung nach Veränderung befreien soll. Und, ganz ähnlich, wie sie sich in den Stücken Ted Shawns in den 1930er-Jahren finden lassen, auf männliche Archetypen zurückverweisen will. Die 1990er-Jahre scheinen gekennzeichnet durch eine mit ihren eigenen Bildern in Konflikt stehenden Männlichkeit. Eines der vielleicht populärsten Stücke aus dieser Zeit war und ist »Enter Achilles« von Lloyd Newson (1995). Newson und das DV8 Physical Theatre lassen eine Männergruppe in einem typisch englischen Pub aufeinander treffen. 67

Janine Schulze-Fellmann

Abb. 2 Filmstill »Enter Achilles«, Choreografie  : Lloyd Newson, DV8 Physical Theatre, Filmfassung 1996, Regie  : Clara van Gool

Mit Hilfe einzelner hervorgehobener Figuren arbeitet Newson die Zwanghaftigkeit, die den Ritualen männlicher Kommunikation und Interaktion anhaftet, heraus. Lloyd Newson bemüht sich in seinem Stück um ein psychologisch-realistisches Abbild gesellschaftlicher Strukturen und ihrer inhärenten Entwürfe von Männlichkeit. Er inszeniert das Psychogramm einer Männergruppe, dem er einen Modellcharakter zuweist. Newson bildet ab und dramatisiert, ohne die (Selbst-)Bilder der Männer für hintergehbar zu erklären, ohne die GenderKonventionen zu überschreiten oder zu dekonstruieren. Am Ende bleibt jeder Einzelne gefangen in den Regeln männlicher Verhaltensnormen. Der weitestgehend homogenen Männergruppe setzt Newson den ›Fremden‹ entgegen. Mit ihm tritt auch das Tabu des homosexuellen Begehrens in persona auf. Doch in genau dieser binären Kontraststruktur des Stückes, die dem einzelnen Fremden die Gruppe gegenüberstellt, zeichnet sich eine Inkonsequenz des Stückes ab. Anstatt beide Pole als Konstruktionen zu markieren, stellt es dem Realismus der Gruppe den skurrilen sowohl äußerlich als auch körperlich-tänzerisch schrägen Einzelnen (Superman-Schlafanzug) entgegen. Und so reduziert sich die Rolle des Fremden auf die des exotischen bis komischen (schwulen  ?) Anderen. Der Versuch, dem Publikum den Spiegel der eigenen Vorurteile vorzuhalten, misslingt, weil Newsons ungebrochener Realismus in der Darstellung der heterosexuellen Männer diese als Norm bestätigt. Das Verhalten des einzelnen Fremden scheint in keiner Minute des Stückes als lebbare Alternative auf, vielmehr integriert er sich am Ende des Stückes in die Gruppe – froh darüber, dass ein anderes Opfer des Spottes gefunden wurde. Heterosexuelle bürgerliche Männlichkeit wird hier nicht auf der Ebene der Darstellung der Gruppe und auch nicht über ihre Bewegungsinszenierung irritiert, und auch der Fremde lässt ihre Selbst-Bilder nicht wirklich brüchig werden. Vielmehr 68

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren

erreicht das Stück sein Publikum über einen bestätigenden Wiedererkennungseffekt und auf der Ebene emotionalen Unbehagens. Nicht zuletzt die sich zum Ende des Stückes immer weiter steigernden aggressiven körperlichen Attacken der Tänzer untereinander übertragen die Anspannung der Darsteller, ihre Aggression und Angst unmittelbar auf das Publikum. Das in Frage Stellen der dargestellten Bilder von Männlichkeit wird hier eher über eine innere Abwehr gegenüber dem Gezeigten erzeugt und durch das ungute bis fatale Gefühl, aus diesen gesellschaftlichen Teufelskreisen eng gesteckter und gewaltbereiter Männlichkeit nur schwerlich entkommen zu können.

Männlichkeit irritieren oder Bewegung im Tanz verweigern Mit Beginn des 21. Jahrhunderts scheint die Auseinandersetzung mit Männ­ lichkeit(en) im Tanz erst einmal kein offensives Thema mehr, aber es lassen sich besonders im deutschsprachigen Raum eine Reihe von vor allem männlichen Choreografen ausmachen, die sich weniger durch eine einheitliche Ästhetik auszeichnen als durch eine gemeinsame Haltung dem Tanz und seinen Institutionen gegenüber. Als Oberbegriff für ihre Arbeiten findet die Tanzkritik schnell den Begriff des ›Konzepttanzes‹. Ein umstrittener Begriff, weil er eine Einheit suggeriert, die den unterschiedlichen Arbeiten, die hierunter subsummiert werden, nicht gegeben ist. Der Begriff verweist – in Anlehnung an den in den 1960erJahren in der Bildenden Kunst gesetzten Begriff der conceptual art/Konzeptkunst – vor allem auf Stücke, die sich mit dem theoretischen und diskursiven Potential des Tanzes und seiner Bewegungsästhetik auseinandersetzen. Es geht den Choreografierenden in ihren Arbeiten weniger um die Entwicklung neuer Bewegungsstile als vielmehr um die gesellschaftlichen Prozesse, die sich um den Körper und seine Bewegungssprach(en) entspannen und diese letztendlich konstruieren und prägen. Die Stücke gleichen Versuchsanordnungen, mittels derer Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse zwischen Bühne und Publikum offengelegt oder zumindest hinterfragt werden. Die Konzentration der Stücke liegt eher auf dem Kontext, in dem Tanz heute entsteht, als auf dem Tanz selbst. Die Reihe der Protagonist_innen dieser Ausrichtung betrachtend, wird deutlich, dass es vor allem Männer sind, die sich unter diesem Label einen Namen – und dies weit über die deutschsprachigen Grenzen und sogar Europas hinaus – gemacht haben.8 Allen voran Thomas Lehmen, Martin Nachbar, Jochen Roller oder die französischstämmigen Choreografen Xavier Le Roy und Jérôme Bel. 69

Janine Schulze-Fellmann

Abb. 3 Filmstill  : Martin Nachbar, »Channeling Judson Church«, Solo (2013)

Fast alle haben erst spät mit dem Tanzen begonnen und sind vorrangig in modernen und zeitgenössischen Tanztechniken ausgebildet. Interessant erscheint hier die Kombination von tanzenden Männern und die Verweigerung, innerhalb bisher gegebener Techniken und Präsentationsformen des Tanzes körperlich auf der Bühne zu agieren. Die bewusste Entscheidung, in einem als Tanzstück ausgewiesenen Abend nicht zu tanzen, wurde von der Tanz- und Theaterwissenschaft schon auf vielfältige Art und Weise diskutiert (Siegmund 2007). Niemand jedoch hat diesen Non-Dance bisher als eine Verweigerung gegenüber all den bis dahin zur Verfügung stehenden Bewegungsästhetiken für Männer gelesen. Besonders im Hinblick auf die männlichen Protagonisten des Konzepttanzes scheint eine solche Analyse vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen einer ambivalenten Männertanzgeschichte schlüssig. Mit dieser Verweigerung entziehen die Männer sich und ihre Körper auch einer möglichen stereotypisierenden Wahrnehmung. Sie durchbrechen den ewigen Zirkel des Legitimierungszwanges, dem das Tanzen für Männer seit dem 19. Jahrhundert unterliegt, durch Stillstand. Gleichzeitig rufen sie aber durch die Verweigerung und über die Erwartungshaltung eine Vielzahl von Erinnerungsbildern tanzender Männlichkeit in den Köpfen der Zuschauenden auf. Die verinnerlichten Konventionen, die Tanz- und Körpererfahrungen des Publikums, treffen auf eine Leerstelle und werden als Projektionen spür- und hinterfragbar. 70

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren

Abb. 4 Filmstill  : Fabian Barba, »A Mary Wigman Dance Evening« (2009)

Männlichkeit irritieren oder  : wenn Männer Frauen tanzen Vielleicht muss es somit als konsequente Entwicklung betrachtet werden, dass einige dieser Choreografen in den letzten Jahren immer wieder mit Arbeiten von sich reden machten, die als Ausgangspunkt den Versuch einer Rekonstruktion nehmen. Interessant ist, dass dabei die Männer tanzhistorisch wichtige Tänze oder Stücke von Frauen rekonstruierten.9 Häufig handelt es sich um Solo-Choreografien, die explizit für tanzende Frauenkörper entwickelt wurden. Wenn man die Vorlagen vergleicht und tanzhistorisch einordnet, zeigt sich, dass es häufig Stücke von Choreografinnen sind, deren tänzerisches Erscheinungsbild mit dem Begriff der Androgynie belegt oder deren Tanzen gar von Zeitgenossen als ›männlich‹ bezeichnet wurde (so im Falle von Mary Wigman, die Ted Shawn als Antibeispiel diente (Shawn 1946, 104)). Die Auseinandersetzung mit der Tanzgeschichte und hier vor allem mit ihren großen weiblichen Protagonistinnen wird immer auch als eine künstlerische Selbstreflexion sichtbar und diese häufig auch über schriftliche Äußerungen der jungen männlichen Choreografen transparent gemacht.10 Wenn das Phänomen der sich derzeit häufenden Rekonstruktionen nicht so sehr als ein Versuch betrachtet wird, vergessene Tanzgeschichte wieder lebendig werden zu lassen, sondern vielmehr als ein Trend, als eine aktuelle Form der kreativen und innovativen Arbeit im zeitgenössischen Tanz, lässt sich hier eine spannende Blickverschiebung vollziehen, weg von dem zu rekonstruierenden weiblichen Körperwissen hin zu der Frage nach einem sich innerhalb der Rekonstruktionsbemühungen ereignenden neuen, männlichen Körperbewusstsein. Das bewusste cross-casting und der darüber geschaffene Gender-Transfer führen auf der Ebene der Wahrnehmung – sowohl der Tanzenden/Rekonstruierenden 71

Janine Schulze-Fellmann

als auch der Zuschauenden – zu Irritationen und ermöglichen dadurch einen forschend distanzierten Blick. Die Kategorien von historisch gesetzten genderspezifischen Bewegungszuschreibungen werden durch die zeitgenössisch geschulten (männlichen) Tänzer in Frage gestellt und vielleicht sogar neutralisiert. Die tanzenden Männer wie auch die weiblich markierten Choreografien werden damit aber auch Spiegel einer ambivalenten Männertanzgeschichte und des ihr inhärenten Legitimierungszwangs. Mit der Wahl, die Arbeit berühmter Choreografinnen zu rekonstruieren, versuchen die Choreografen zumindest, sich tänzerisch außerhalb gängiger Wahrnehmungsmuster und außerhalb eines männlichen Tanzhabitus zu bewegen und so für sich selbst neue Bewegungsmuster zu generieren. Ihr zeitweiliges konkretes körperliches Scheitern an der korrekten Ausführung der vorgegebenen Bewegungsabläufe lässt die Tanzenden sich selbst zur Historie ins Verhältnis setzen. Das Sich-fremd-Fühlen der tanzenden Männer in den als weiblich konnotiert bezeichneten Bewegungsästhetiken verweist sowohl auf das Historische dieser Körperbilder als auch auf die die Choreografen selbst prägenden binären Körper- bzw. Geschlechterdiskurse der Gegenwart und der Vergangenheit .

Männlichkeit irritieren oder  : wenn Frauen Männer tanzen, die tanzen Und wie nehmen wir Tanzstücke wahr, in denen Frauen tanzend in Männerdomänen einbrechen  ? Genau dies macht die von den Philippinen stammende Choreografin Eisa Jocson, wenn sie sich mit ihrem Solo »Macho Dancer« (2013) eines philippinischen Unterhaltungsphänomens annimmt. Macho Dancer sind junge Männer, die in Nachtclubs tanzend auftreten, und dies vor einem vor allem männlichen Publikum. Obwohl der tanzende Mann sich hier in eine marginale bis unsichere Position begibt (nämlich die des klassischen Objekt des Begehrens), verkörpert er gleichzeitig über ein spezifisches, kraftvolles, dominierendes bis Raum einnehmendes Bewegungsvokabular das Bild eines physisch starken Subjekts. Jocson konterkariert mittels des cross-casting dieses in sich geschlossene Körperbild. Ihre täuschend echte Imitation des machistischen Gestus, kontrastiert durch ihre physische Erscheinung (bis zum Entblößen ihrer nackten Brüste), verwirrt und verunsichert die Rezeption. Die lasziven und erotischen Teile des Tanzens werden mit bekannten Bildern von selbstbewusst tanzenden Stripperinnen deckungsgleich, nicht aber die betonte Coolness der zitierten stereoty72

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren

Abb. 5 Filmstill  : Eisa Jocson, »Macho Dancer« (2013)

pisierten männlichen Bewegungen. Durch Jocsons cross-casting erscheint gerade der Teil der Choreografie fremd, der gemeinhin im Macho Dancing für die Stabilisierung eines männlichen Erscheinungsbildes sorgt. Beim traditionell männlich besetzten Macho Dancing verhält es sich genau anders herum  : Weniger die männlichen Posen als die Tatsache, dass a) Männer überhaupt tanzen und b) mittels des Tanzens ihre Körper sexuell aufladen und einem bewusst provozierten begehrenden Blick aussetzen, sind hier die befremdlichen Elemente. Was wir bei Jocson auf der Bühne sehen, ist eine Female Masculinity (Halberstam 1998)  : Jocson irritiert nicht zuletzt durch die Perfektion der Imitation und verweist damit gleichzeitig auf den durch und durch konstruktiven Charakter der im Macho Dancing reproduzierten Motive von Männlichkeit. Der tanzende Frauenkörper repräsentiert masculinity und durch-queert diese. Unterschiedliche Wahrnehmungsmuster, geschlechtsspezifische Stereotype und schließlich auch Tanztraditionen und die mit ihnen verbundenen Vorurteile überlagern sich in dem Moment von Darstellung und Rezeption. Bisher handhabbare Ordnungssysteme geraten durch die queere Darstellung Jocsons ins Stottern. Kategorien von Geschlecht und Geschlechtsidentität werden deutlich als von den sie darstellenden Körpern unabhängig gezeigt. Die als männlich konnotierte Bewegungssprache (u. a. die in die Raumweite gehenden Bewegungen, die das Gewicht und das Volumen des Körpers betonen) und die als machistisch wahrgenommenen Gesten (u. a. die zwei ausgestreckten Finger, die in WesternGestus zum Colt erhoben werden) bleiben als solche geschlechtsspezifisch lesund erfahrbar – selbst am nackten weiblichen Körper – und verdeutlichen so, wie stark diese (in diesem Fall männlichen) Körperbilder unsere Seherfahrungen prägen. 73

Janine Schulze-Fellmann

Fazit »Bewegungswissen ist […] Prägung und fußt auf dem bewussten oder auch unbewussten Einprägen von Haltungsmustern und Bewegungsabläufen. Dabei bleibt die Prägung selbst […] unsichtbar und tritt lediglich in Bewegung und Verhalten zu Tage. Ansonsten bleibt sie irgendwo im Innern des Körpers […], unter der Haut liegend, im Dunkeln schlummernd und nicht ohne weiteres einsehbar, jedoch spürbar und in seinen Veräußerungen in Bewegung gelegentlich auch sichtund lesbar.« (Nachbar 2010, 130)

Mit Martin Nachbars Zitat soll am Ende noch einmal aus der tanzpraktischen Perspektive heraus deutlich werden, wie sehr unsere Wahrnehmung, unsere Erfahrung, aber auch unser aktives Erschaffen von Kunst untrennbar mit den uns prägenden Mustern verbunden sind. Kunst erfahren – Tanz erfahren – heißt, sich in ein Wechselspiel zwischen dem Gezeigten und dem Bekannten, dem Erinnerten, dem bereits Geordneten im Kopf – vielleicht aber auch dem noch ›im Dunkeln Schlummernden‹ zu begeben. Und dieses Wechselspiel erst, dieses Zusammenfallen von Repräsentation und Rezeption bringt jene Körperbilder hervor, die wir später erinnern werden. Körper und ihr Erscheinungsbild sind Effekte einer Denkbewegung – und somit eben unaufhörlich in Bewegung. Und genau hierhin liegt die Hoffnung auf Veränderung – auf Verschiebungen, wie Judith Butler dies in ihren Büchern »Gender Trouble« (1990) und »Bodies that Matter« (1993) formuliert hat.

Anmerkungen 1 Begriffe, die auf eine binäre Differenzierung von Geschlecht verweisen, sind in diesem Text niemals als essentielle Kategorie zu verstehen. 2 Ramsey Burt hat mit seinem Buch »The Male Dancer« (1995) die mir bisher einzige bekannte kritisch analytische Monografie zu dieser Thematik vorgelegt. Ich sehe es nach wie vor als das Standardwerk der Männlichkeitsforschung im tanzwissenschaftlichen Kontext im englisch- und deutschsprachigen Bereich. 3 Nicht zuletzt, weil der Tanz mit Beginn des Romantischen Balletts eine deutliche Sexualisierung erfahren hat. Da die Theater privatisiert wurden und nicht mehr von der Gunst eines Herrschers abhängig und Teil einer Herrschaftssymbolik waren, mussten die Opernhäuser zahlende Bürger ansprechen. Nicht selten erkauften diese sich mit ihrer finanziellen Unterstützung der Häuser auch den unschicklichen Zutritt zu den Garderoben der Tänzerinnen. Dank einer seit Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend feministischen Perspektivierung der Tanzgeschichte wissen wir heute um das Elend der schlecht bezahlten Romantischen Ballerinen. Deren gesellschaftlicher

74

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren

Status glich dem einer gehobenen Prostituierten, im besten Fall einer Mätresse (vgl. Weickmann 2002, 209ff.).   4 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichneten sich vor allem weibliche Tanzrevolutionen ab. Die Tänzerinnen der Avantgarde verabschiedeten sich von der Position des rein ausführenden Objekts und wurden zu einem kreativ den Tanz gestaltenden Subjekt. Tatsächlich wurden fast alle zeitgenössischen Tanzinnovationen des 20. Jahrhunderts (vor allem in den USA und in Deutschland) durch Frauen initiiert, angefangen bei den frühen Pionierinnen des amerikanischen Tanzes Isadora Duncan (1877/1878(  ?)–1927), Ruth St. Denis (1879–1968) und Loïe Fuller (1862–1928).   5 Schimpfwort für Jungen oder Männer, über die sich andere lustig machen, weil sie sich mit Dingen beschäftigen, die gemeinhin weiblich konnotiert sind und/oder als Zeichen von Schwäche gewertet werden (vgl. u.a. http://dictionary.cambridge.org/dictionary/english).   6 Die Zeugnisse von Shawns tänzerischem Werk, egal ob Fotografien oder die wenigen Filmaufnahmen, lassen fast immer eine ambivalente Lesart zu. So schwingt sowohl in den Choreografien als auch in den Posen und Perspektivierungen, in denen die Männerkörper inszeniert oder aus denen sie aufgenommen sind, immer auch eine campe Ästhetik mit, die zu einer queeren Lesart des Gesamtwerks einzuladen scheinen. Genauere Analysen stehen hier noch aus.   7 Der große zeitliche Sprung – von den 1930er- in die 1990er-Jahre – soll nicht suggerieren, dass es in den 60 Jahren dazwischen keine wichtigen männlichen Tänzer oder Choreografen gegeben hat oder sich die Rollen für Männer und die Tanztechniken nicht schon früher gewandelt und vielleicht sogar emanzipiert hätten. Vielmehr fand keine nennenswerte Auseinandersetzung damit statt. Erst wieder in den 1990er-Jahren wird die Thematik sowohl auf choreografischer als auch auf tanztheoretischer Ebene virulent.   8 Dennoch sollen auch die Namen einiger sehr erfolgreicher Choreografinnen hier genannt werden, die mit dem Konzepttanz in Verbindung gebracht werden und für die Entwicklungen in Tanz und Performance als wichtig erachtet werden müssen  : Kattrin Deufert, Eszter Salamon, Meg Stuart u.a.   9 Als Beispiele seien hier Martin Nachbars Stück »Urheben Aufheben« (2008) genannt, welches die Rekonstruktion von Dore Hoyers Tanzzyklus »Affectus Humanus« (1962) ins Zentrum rückt, Fabian Barbas »A Mary Wigman Dance Evening« (2009), in dem Barba Tänze von Mary Wigman aus den 1930er-Jahren lebendig werden lässt oder Jochen Rollers Projekt »The Source Code«, welches um die Re-Kreation des letzten Tanzdramas der Wiener Choreografin Gertrud Bodenwieser »Errand into the Maze« aus dem Jahr 1954 kreist. 10 Vgl. hierzu u.a. die Publikation »Are 100 Objects Enough to Represent the Dance. Zur Archivierbarkeit von Tanz«. München 2010, hg. v. Janine Schulze, für die sowohl Fabian Barba als auch Martin Nachbar ebenso wie Jochen Roller, Thomas Lehmen oder Kattrin Deufert und Thomas Plischke eigene Texte zu ihren künstlerischen Arbeiten geschrieben haben.

Literatur Ramsey Burt (1995), The Male Dancer. Bodies, Spectacle, Sexualities. London/New York Judith Halberstam (1998), Female Masculinity. London

75

Janine Schulze-Fellmann

Christian Horn (2004), Der aufgeführte Staat. Zur Theatralität höfischer Repräsentation unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen. Tübingen/Basel Barton Mumaw, Jane Sherman (2000), Dancer. From Denishawn to Jacob’s Pillow and Beyond. Middletown Martin Nachbar (2010), Spu(e)ren/Lesen. Ein Versuch über das Tanzarchiv, in  : Janine Schulze (Hg.), Are 100 Objects Enough to Represent the Dance – Zur Archivierbarkeit von Tanz. München, 122–137 Steve Neale (1995), Masculinity as Spectacle. Reflections on Men and Mainstream Cinema, in  : Steven Cohan, Ina Rae Hark (Hg.), Screening the Male. Exploring Masculinities in Hollywood Cinema. 3. Auflage. London, 9–20 Jari Poulin (1995), Pillow Days – Dancing with Ted Shawn, in  : Dance Magazine, July, 46–48 Ted Shawn (1946), Dancing for Men, in  : ders., Dance We Must. London, 100–108 Ted Shawn (1966), Open Letter  : Reprint of «Dancing for Men”, in  : Dance Magazine, July, 16–17, 76 Christena L. Schlundt (1967), The Professional Appearances of Ted Shawn and his Men Dancers. New York Janine Schulze (1999), Dancing Bodies – Dancing Gender. Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie. Dortmund Janine Schulze (2005), »Du musst Dir ein Bildnis machen« oder Tanzen ist Denken, in  : Johannes Birringer, Josephine Fenger (Hg.), tanz im kopf – dance and cognition. Münster, 112–128 Janine Schulze (2010), Are 100 Objects Enough to Represent the Dance. Zur Archivierbarkeit von Tanz. München Janine Schulze (2016), Travestie, in  : Annette Hartmann, Monika Woitas (Hg.), Das große TanzLexikon. Tanzkulturen, Epochen, Personen, Werke. Laaber, 646–647 Janine Schulze-Fellmann (2016), Tanz, in  : Stefan Horlacher, Bettina Jansen, Wieland Schwanebeck (Hg.), Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 358–369 Gerald Siegmund (2007), Konzept ohne Tanz  ?, in  : Reto Clavadetscher, Claudia Rosiny (Hg.), Zeitgenössischer Tanz. Körper – Konzepte – Kulturen, eine Bestandsaufnahme. Bielefeld, 45–59 Walter Terry (1976), Ted Shawn. Father of American Dance. A Biography. New York Dorion Weickmann (2002), Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580–1870). Frankfurt a. Main/New York

Bildnachweis Abb. 1 Ted Shawn and his Men Dancers, Kinetic Molpai (1935) https://www.youtube.com/ watch?v=sqWjm7BHEkI (16.03.2016) Abb. 2 Lloyd Newson und das DV8 Physical Theatre, Filmfassung 1996, Regie  : Clara van Gool https://www.youtube.com/watch?v=7c9ToyDs3mY (16.03.2016) Abb. 3 Martin Nachbar, Channeling Judson Church, Präsentation im Kontext von »The Live Legacy Project – Correspondance between German Contemporary Dance and Judson Dance Theater Movement«, 10.07.2014, tanzhaus nrw, Düsseldorf, Kamera  : Andrea Keiz Abb. 4 Fabián Barba, Pastorale, in  : A Mary Wigman Dance Evening, Trailer zum festival pano-

76

Männlichkeit(en) im Tanz – Irritieren/Reflektieren

rama, Rio, Teatro Municipal Carlos Gomes, November 2013, https://www.youtube.com/watch? v=McpbGgrY3PU (16.03.2016) Abb. 5 Eisa Jocson, Macho Dancer, ZDF Kultur, TV-Bericht über ImPuls Tanz Wien 2013  ; Video online nicht mehr verfügbar. Vgl. hierzu auch  : https://www.youtube.com/watch?v=_sCkLDprhlw (16.03.2016)

77

Claudia Walkensteiner-Preschl

Denkbewegungen im Dialog Ein Essay über Film-Erfahrung Die Schriftstellerin Siri Hustvedt schreibt in ihrem Buch »Leben, Denken, Schauen« (Hustvedt 2014) über ihr Anliegen, unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze in der Kunst, Literatur sowie Philosophie in einer »Denkbewegung« zu verbinden und ihre gemeinsamen Ideen transparent zu machen  : »Ich glaube, dass ein echter Dialog zwischen den Disziplinen, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, möglich ist und dass unterschiedliche Diskurse durch eine transparente Darstellung von Ideen vereinheitlicht werden können.« (Hustvedt 2014, 10) Die Autorin wählte den Schreibstil eines Essays, weil für sie diese elastische Form, die im 16. Jahrhundert mit Montaigne entstand, von den »Denkbewegungen des Schreibers« bestimmt wird und eine Ich-Perspektive befürwortet. Für Hustvedt stellt diese Form eine philosophische Position dar, die es erlaubt durch Rückgriffe auf subjektive Erfahrungen Probleme besser zu erklären resp. zu erhellen. Mich inspirierte dieses Buch in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist es diese von Hustvedt so genannte Denkbewegung in Verbindung mit einer dezidierten Ich-Perspektive, die mich anregte, eine essayistische Form für den vorliegenden Beitrag zu wählen. Zum anderen stellen sich für mich als Filmwissenschaftlerin an einer künstlerischen Aus-/Bildungsstätte viele Fragen gerade im Dialog mit Vertreter_innen unterschiedlicher Disziplinen. Die Filmakademie Wien ist ein universitärer Ort, der eine einzigartige Synthese des Wissens aus vielen Fachbereichen1 darstellt und von einem spannungsreichen Dialog zwischen wissenschaftlich-theoretischen sowie künstlerisch-praktischen Disziplinen belebt wird. An diesem Institut werden jährlich in etwa 80 kurze bis mittellange Filme produziert und Film wird hier im Sinne einer vielfältigen Kinokultur verstanden. Das heißt, dass neben neuen Filmformaten und Rezeptionsmodi das Filmwahrnehmen im Kino als eine der vielschichtigen Möglichkeiten des intensiven Wahrnehmens, des kritischen Denkens und des Dialogs nach wie vor vermittelt und gelehrt wird. Seit 2012 gibt es neben den künstlerischen Fachbereichen auch den wissenschaftlichen Fachbereich Medien- und Filmwissenschaft. Was durch diesen Fachbereich grundlegend verstärkt wurde, sind die Bemühungen um eine theoriegeleitete Reflexion der vielfältigen Schnittstellen 79

Claudia Walkensteiner-Preschl

medialer Praxen und film-/medientheoretischer Ansätze sowie die Aufforderung, über die komplexen Verbindungslinien zwischen Kunst und Wissenschaft nachzudenken. Seitdem ich als Filmwissenschaftlerin an der Filmakademie Wien forsche, wirke und lehre, bin ich in großem Ausmaß mit einer künstlerischen Praxis konfrontiert, die meine Auseinandersetzungen mit und Fragestellungen über Film/Medien beeinflussten. Es stellen sich viele Fragen nach den Voraussetzungen, über/mit Film/Medien zu denken. Welche Fachsprachen, welche Wissensbegriffe resp. Wissenspraktiken, aber auch welche subjektiven Erfahrungen setzen wir  – Theoretiker_innen wie Künstler_innen  – voraus, wenn wir über/ mit Filme/n theoretisieren, wenn wir über Filme sowie Herstellungs-Praktiken sprechen  ? Welche Wissenshorizonte entstehen, wenn Filme gemeinsam erörtert werden  ? Wie lassen sich komplexe Begriffe und unterschiedliches subjektives Erleben, wie Differenzen bzw. Abstände in Wissenspraktiken und Fachsprachen aushandeln  ? Wie transparent ist die Suche nach einer gemeinsamen Sprache  ? Dazu kommt, dass wir als Theoretiker_innen seit vielen Jahren bei Analysen einzelner Produktionen nicht nur auf filmtheoretische Diskurse sowie kulturhistorische Kontexte Bezug nehmen, sondern ebenso leicht zugängliche »Extra«-Informationen (mittels Internet, sozialen Medien, Bonus-Material auf DVDs, veröffentlichten Drehbüchern, Websites von Filmemacher_innen u.v.m.) miteinbeziehen können. Je mehr von konkreten Details einer Filmproduktion bekannt ist, desto umfassender ist der Rezeptionsprozess bzw. sind die Möglichkeiten vielschichtiger, detaillierter Analysen. Im Grunde beginnt die Rezeption schon bei ersten Informationen über den Herstellungsprozess eines Filmes. Auch die vielschichtigen Marketing-Strategien beeinflussen die Erwartungshaltung und somit auch die Einschätzung im Allgemeinen. Die Wahrnehmung eines Filmes – im besten Fall im Kino – verläuft dann in komplexer Weise und setzt sich mit dem Prozess des kritischen Nachdenkens, des Vergleichens, des Sprechens resp. Schreibens fort. Daraus folgt, dass ich mich als Theoretikerin aufgrund meines spezifischen Erkenntnisinteresses sowie kulturell-sozial bedingten Erfahrungs-Wissens eigentlich prozesshaft mit Filmen kritisch-reflexiv beschäftige. Apropos Erfahrungs-Wissen  : Meine Generation  – in den 1990er-Jahren akademisch sozialisiert  – war lange Zeit bei Analysen noch wesentlich von der Wirkmächtigkeit der großen Leinwand und den ersten Soundsystemen im Kino bestimmt. Damals gab es noch keinen umfassenden Zugang zum Internet und wir tauschten uns vorwiegend bei Symposien beispielsweise im Kino über 80

Denkbewegungen im Dialog

einzelne Filme aus. Die Recherchen erfolgten in Bibliotheken, Archiven und in Gesprächen mit einzelnen Filmemacher_innen. Wir benutzten aufgezeichnete Filme auf VHS-Kassetten, um erste Filmprotokolle zu erstellen und analysierten die Filme dennoch auch im Kontext unserer Kino-Erlebnisse. Feministische Filmtheorie bzw. feministische Filmgeschichtsschreibung wurden für viele Kolleg_innen zentral, explizit körperbezogene Thematiken bestimmten in diesem Zusammenhang u.a. die Rezeption von Filmen. Ein wesentlicher Impuls für eine spezifisch körperbezogene Wahrnehmung von Filmen kam u.a. von der US-amerikanischen Filmwissenschaftlerin Vivian Sobchak, deren Schriften mich sehr beeinflussten, und die ich größtenteils heute noch relevant finde.

Körperbezogene Film-Erfahrung als wissenschaftskritische Position oder »What My Fingers Knew« Mit Vivian Sobchack lässt sich u.a. darüber reflektieren, in welchem Ausmaß ein Rückgriff nicht nur auf subjektive, z. B. gefühlsbetonte, Erfahrungen, sondern ebenso auf ein »leibgebundenes« Erlebnis, auf eine »Fleisch-bezogene« Dimension (Sobchak) Probleme erhellen kann. Ich beziehe mich hier insbesondere auf ihren vielzitierten Aufsatz »What My Fingers Knew. The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh« (Sobchack 2004), der in den 1990er-Jahren nicht zuletzt aufgrund der damals einflussreichen feministischen Positionen zum Thema Embodiment sowie der Cultural Studies stark rezipiert wurde. Sobchack vertrat eine wissenschaftskritische Position innerhalb einer bereits an den nordamerikanischen und europäischen Universitäten etablierten Filmwissenschaft. Sie boykottierte nicht nur den dominanten linguistischen Ansatz, sondern prägte mit ihren Thesen vor allem in Anlehnung an Maurice MerleauPonty eine phänomenologisch orientierte Filmtheorie. Die damals beginnende Debatte über eine subjektive Film-Erfahrung sowie über ein affektives FilmErleben erhielt durch Sobchack eine neue Körper- bzw. »Fleisch-bezogene« Dimension. Sie thematisierte mit klaren Statements ihre eigene körperbezogene Position sowie ihre subjektiven Erfahrungen als Wissenschaftlerin und entwickelte u.a. ein medientheoretisches Konzept einer verkörperten, leiblichen Erfahrung. Eine Erfahrung, die aufgrund einer gegebenen synästhetischen Organisation unseres Wahrnehmungsapparates (also einer multisensorischen Wahrnehmungsfähigkeit) das gesamte Spektrum der Wahrnehmung einbezieht und auch den kognitiven Zugang zur Welt und zu sich nicht ausschließt. 81

Claudia Walkensteiner-Preschl

Sobchack beschreibt in »What My Fingers Knew«, wie der Film »The Piano« ( Jane Campion, Australien, Neuseeland, Frankreich 1993) unabhängig von einer kursierenden Kritik bezüglich »sexual and colonial politics« sie zutiefst berührt sowie ihre körperlichen Sinne aufgewühlt habe. Der Film erfüllte bzw. erstickte sie nahezu nicht nur mit Gefühlen, die ihren Brustkorb und ihren Bauch zusammenfahren ließen, sondern sensibilisierte buchstäblich die Oberfläche der Haut. (Sobchack 2004, 61) Sobchack weist in diesem Aufsatz mehrfach darauf hin, dass Filme im Kino nicht bloß über ein vielbesprochenes distanzierendes Auge gesehen, sondern vielmehr mit dem ganzen Körper, mit allen Erfahrungen und Empfindungen rezipiert werden. Schließlich, so Sobchack, gebe sie ihre Fähigkeiten zu tasten, zu riechen, zu schmecken und so weiter nicht bei der Kinokasse ab oder ließe ihre Sinne im Popcorn verschwinden. (Sobchack 2004, 65) Wie sehr eine körperlich-somatische Ebene grundsätzlich für das Verstehen eines Films ausschlaggebend ist, führt Sobchack mehrfach eindrucksvoll vor, u.a. am Beispiel des Filmanfangs von »The Piano«. Zu Beginn des Films ist auf der Leinwand lediglich eine flimmernde rote Fläche mit sich bewegenden Schatten zu sehen. Erst die nächste Einstellung zeigt im Gegenschuss eine Frau, Ada, in dunkler viktorianischer Kleidung mit einem Schreibboard um den Hals, die ihre Finger gegen ein strahlendes Sonnenlicht hält. Sie lehnt an einem Baum in einem Garten eines ländlichen Herrenhauses. Im Off ist eine weibliche Stimme zu hören, die davon spricht, dass die Stimme, die gehört wird, nicht ihre Sprechstimme sei, jedoch ihre geistige Stimme. Sie habe, seit sie sechs Jahre alt war, nicht gesprochen. Niemand wisse warum, nicht einmal sie selbst. Ohne dass Sobchack genau wusste, wie sie die farbliche rote Fläche und die sich bewegenden Schatten der ersten sehr kurzen Einstellung zuzuordnen hätte, wussten ihre Finger bereits, was dieses Bild zu bedeuten habe. Sobchack  : »my fingers knew what I was looking at«, und das bevor der objektive Gegenschuss zu sehen war. »From the first (although I didn’t consciously know it until the second shot), my fingers comprehend that image, grasped it with a nearly imperceptible tingle of attention and anticipation and, offscreen, ›felt themselves‹ as a potentiality in the subjective and fleshy situation figured onscreen.« (Sobchack 2004, 63)

Grundsätzlich thematisiert Sobchack die Wahrnehmung von Film resp. ein Film-Erlebnis als eine vielfältige Struktur und bezieht vor allem auch subjektive sowie leibliche Erfahrungen der Filmemacher_innen in ihr Denken mit ein. 82

Denkbewegungen im Dialog

Schon bei der Filmherstellung stelle beispielsweise die Kamera für sie gewissermaßen eine wesentliche Erweiterung der leiblichen Erfahrung dar, zumal es mittels Kamera zu einer ›Verlängerung eines Leibes‹, nämlich einer Person mit Kamera komme. Abgesehen davon, dass Filmproduktion aus vielfältigen Prozessen – Drehbuch-Entwicklung, Produktion, Regie, Schnitt, Sound-Design, Postproduktion u.v.m. – besteht, verweist Sobchack hier vor allem auf die verkörperten Wahrnehmungsprozesse bereits während der Herstellung von Filmen, auf die mit einem Leib verbundenen Aktivitäten und damit auf äußerst komplexe Prozesse. Sobchacks in den 1990er-Jahren formuliertes Konzept einer phänomenologisch orientierten Filmwahrnehmung setzte damals einen radikalen Schritt, indem sie als Wissenschaftlerin auf ihre eigenen körperlichen Befindlichkeiten beim Wahrnehmen und Analysieren von Filmen verwies. Eine nicht nur in Bezug auf Gefühle subjektiv orientierte, sondern vielmehr eine körperlichsomatische Film-Erfahrung im Kontext von Theorie rückte dadurch deutlich ins Bewusstsein. In der Folge befassten sich viele Theoretiker_innen mit der Frage nach dem Verhältnis des Films zum Körper des Zuschauers sowie der Zuschauerin2 und eine umfassende Debatte um die Präsenz der Sinne im Kino begann3. Viele dieser theoretischen Ansätze resp. Debatten eignen sich bestens für einen Dialog mit Studierenden an der Filmakademie Wien, zumal diese als Filmemacher_innen ausgebildet werden, aber auch äußerst kompetente Rezepient_innen sind.

Sprechen über Filme mit Studierenden an der Filmakademie Wien. Was kann ich ihnen vermitteln und was lerne ich von ihnen An der Filmakademie Wien studieren junge Menschen, die in erster Linie das künstlerisch-ästhetische Handwerk des Filmemachens lernen, also zu Filmemacher_innen ausgebildet werden. Trotz Schwerpunktsetzung auf künstlerische Produktion sind die Studierenden zum Teil an theoretischen Auseinandersetzungen sowie an politischen Diskursen sehr interessiert. Sie lesen einzelne theoretische Artikel, wollen darüber diskutieren und vor allem nachdenken, was sie für ihre eigene Filmarbeit daraus gewinnen können. Darüber hinaus beschäftigen sie insbesondere Fragen nach der Wirkmächtigkeit von Bildern, nach dem Verhältnis von Bild und Ton, von Bild und Farbe, Bild und Montage und vieles 83

Claudia Walkensteiner-Preschl

mehr. Sie beziehen diese Fragen in erster Linie auf ihre eigenen künstlerischen Positionen. Dementsprechend sind sie äußerst kritisch hinsichtlich einzelner filmtheoretischer Thesen, hinterfragen Begriffe auf Nachvollziehbarkeit resp. Sinnhaftigkeit. Vor allem theoriebezogene Artikel mit Bezug auf einzelne Filme, einzelne Szenen sind für sie wichtig, weil sie diverse Thesen mit einer künstlerischen Praxis in Beziehung setzen und überprüfen wollen. In den Seminaren mit Studierenden4 mache ich oftmals die Erfahrung, dass wir als Theoretiker_innen bei Analysen von Filmen andere Fragen als die Filmstudierenden stellen. Vor allem beim Sprechen über einzelne Filme zeigen sich nicht selten Differenzen zwischen Theoretiker_innen und Künstler_innen. Schon allein deshalb, weil wir oft verschiedene fachspezifische Begrifflichkeiten voraussetzen, beispielsweise wenn es sich um fachspezifisch-technisches Wissen handelt. Im Detail müssen wir immer wieder klären, worüber wie gesprochen wird, und wie wir das jeweils verstehen können oder nicht zu begreifen vermögen. Häufig diskutierte Themen in den Seminaren waren zum Beispiel Körperinszenierungen im Film, Körper-Genres, Body-Politics, Zuschauer_innenPerspektiven sowie Kino als haptisches Erlebnis. Studierende im Fach Kamera beschäftigen sich bei diesen Themen häufig mit speziellen Fragen im Zusammenhang mit ästhetischen Kategorien. Welche Wirkmächtigkeit haben in einer Erzählung einzelne Kameraeinstellungen, spezielle Ausleuchtungen eines Gesichts, Hell-Dunkel-Schattierungen eines Körpers bzw. Farbkontraste im Rahmen der Mise en Scène. Nicht selten interessiert sie darüber hinaus die Spezifika der Visual Effects und ihre Bedeutungskontexte. Dazu kommt, dass zur Diskussion steht, wie die ästhetischen Potenziale einzelner Kameratypen auf der Leinwand auszumachen und zu bewerten sind. Obwohl diese Spezifika meinen konkreten Wahrnehmungshorizont gelegentlich übersteigen, begreife ich die Relevanz der damit verbundenen Bedeutungen einzelner Kameratypen. Was sich durch solche fachspezifisch-technischen Details oftmals besprechen lässt, ist das subtile Wissen über die Mächtigkeit des Materials in Hinblick auf die Atmosphäre eines Bildes sowie die ästhetischen Möglichkeiten einer sensorisch-somatischen Wirkung einer Filmszene. Einen weiteren wesentlichen Diskussionsbeitrag liefern immer wieder Studierende mit Schwerpunkt Regie. Ihre Fragestellungen zielen auf die narrativen Fantasien einer Erzählung, auf poetische Bild- sowie Tongestaltungen, auf das Funktionieren bzw. auf die Glaubwürdigkeit einer Figur, auf schlüssige Erzählstränge, auf diverse Bedeutungskontexte einer Narration. Sie befassen sich mit den Hintergründen einzelner Figuren und nicht selten werden diese mit 84

Denkbewegungen im Dialog

ihren eigenen Erfahrungen als Filmemacher_innen verbunden. Darüber hinaus denken sie über die Voraussetzungen für eine Szene nach, wie sie entwickelt, wie sie aufgelöst worden ist. Dazu kommen die unterschiedlichen Techniken der Schauspieler_innen-Führung, zumal sie wissen, dass gerade die Arbeit mit Schauspieler_innen die Atmosphäre am Set und im Wesentlichen auch die Stimmung einer Szene im Film bestimmt. Außerdem denken sie über die Möglichkeiten der speziellen Bild- wie Sound-Effekte bei der Postproduktion nach, die oftmals schon beim Entwickeln des Drehbuchs einbezogen werden müssen. Welches Setting wird benötigt, um eine Sprache, um ein Denken/Sprechen zwischen unterschiedlichen Disziplinen in produktiver Form zu ermöglichen  ? Welche Ideen sind für Theoretiker_innen sowie für Künstler_innen interessant  ? Viele Analysen eines Films beziehen sich auf das fertige Produkt und häufig auf die Bedingungen des Film-Wahrnehmens im Kino bzw. mittels unterschiedlicher Projektionsmöglichkeiten auf das Film-Erlebnis. Das bedeutet, dass die meisten filmtheoretischen Ansätze von einem nahezu idealtypischen Produkt ausgehen und in diesem Zusammenhang Bedeutungen konstruieren. Die komplexen Verfahrensweisen des Filmemachens, die spezifischen Produktionsbedingtheiten – das Entwickeln eines Drehbuchs, eines Drehplans, die Arbeit mit den Schauspieler_innen etc. – werden kaum bis gar nicht miteinbezogen. Das ist ein Punkt, den Studierende an den filmwissenschaftlichen Filmanalysen häufig kritisieren. Filmtheoretisch orientierte Aufsätze resp. Filmanalysen, so meinen sie, seien in Hinblick auf Schlussfolgerungen von Filmszenen zu idealtypisch. Filmtheoretiker_innen überinterpretieren im positiven wie im negativen Sinn oftmals einzelne Aspekte. Sie gehen von Bedeutungszuschreibungen bzw. -einschreibungen aus, die möglicherweise gar nicht intendiert waren. Dass Filmszenen vielschichtige Bedeutungen haben können, verneinen Studierende nicht, meinen jedoch, dass die Interpretationen der Filmtheoretiker_innen oftmals völlig in eine andere Richtung führen. Insbesondere dann, wenn einzelne Filmszenen verwendet werden, um theoretische Thesen zu untermauern. Aus Sicht der Studierenden ist das zu einseitig. In den Seminaren werden von den Studierenden oftmals Fragen nach der konkreten Inszenierung einer Szene gestellt und wie sich diese am fertigen Film ausmachen ließe. Welche Vorkehrungen einer Szene waren offensichtlich Absicht, was wurde dem Zufall überlassen  ? Wie stark wurde eine Szene im Vorfeld geprobt  ? Welche Freiheiten in der Darstellung der Figuren wurden den Schauspieler_innen wohl überlassen  ? All das sind Fragen, die auch theoretische Überlegungen erweitern, die eine andere Wahrnehmung bzw. Bewertung von Filmen evozieren können. Die The85

Claudia Walkensteiner-Preschl

matik der Interpretation erfordert möglicherweise eine explizite Theoriebildung im Sinne einer Praxis-Theorie-Korrelation, die sich mehr bemüht, diese komplexen Zusammenhänge zu denken. Aus meiner Sicht bieten zahlreiche theoretische Ansätze reichhaltige Potentiale, um sich mit Fragen nach ästhetischen Positionen, z. B. nach einer kritischen Reflexion des Umgangs mit Differenz, nach Herrschaftsstrukturen, Machtverhältnissen, nach Ein-/Ausschlüssen von Minderheiten, Migration, Rassismus u.v.m. zu beschäftigen und am konkreten Material immer wieder dem nachzugehen, was wir – als Theoretiker_innen, Filmemacher_innen etc. – wahrnehmen, warum wir etwas in einem bestimmten Sinne verstehen (sollten) bzw. auch nicht verstehen (können). Ein wesentlicher Aspekt meiner Lehre an der Filmakademie Wien ist, dass die Studierenden nicht nur damit beschäftigt sind, selbst Filme herzustellen, sondern dass sie lernen andere Filme in vielschichtiger Art und Weise einzuschätzen. Sie sind sozusagen nicht nur angehende Filmemacher_innen, sondern werden außerdem zu sehr kompetenten Rezipient_innen. Gleichwohl sind sie in erster Linie Filmemacher_innen. Den Aspekt einer vielfältig kritischen Lektüre möchte ich in der Folge an einem konkreten Filmbeispiel – »Shirin« (Abbas Kiarostami, Iran 2008) – erörtern. Es ist ein Film, der intensiv die Position von Zuschauer_innen thematisiert und Fragen nach der Art und Weise der Manipulation von Seiten der Filmproduktion aufwirft.

Gemeinsame Film-Lektüre Der iranische Filmemacher Abbas Kiarostami (1940–2016), der bereits während seines Kunststudiums in Teheran mit Fotografie und Video experimentierte, gilt heute als einer der innovativsten Regisseure des Weltkinos. Er begab sich stets auf die Suche nach filmischen Möglichkeiten und bezog sich dabei gerne auf Vorbilder wie Robert Bresson. Er liebte das experimentelle Ausloten des Sichtbaren und Nicht-Sichtbaren, das Spiel mit der »Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion, mit der Unsicherheit über das Ende – und die Zeit – der Geschichte« (Rancière 2012, 79). Ab Mitte der 1990er-Jahre liefen seine Filme in europäischen Kinos und im Jahr 1997 erhielt sein Film »Der Geschmack der Kirsche« in Cannes die Goldene Palme. Kiarostamis Filme erfuhren im Westen viel Aufmerksamkeit, zumal – wie Silke von Berswordt-Wallrabe und Oliver Fahle schreiben – sie nicht mehr nur im modernen Sinne selbstreflexiv waren, sondern in einer Zeit der Etablierung des Digitalen auch mit einem Gestus der 86

Denkbewegungen im Dialog

Neuerfindung und Neuausrichtung des Kinematographischen operierten (von Berswordt-Wallrabe/Fahle 2014, 7). Der Film »Shirin« ist ein vielschichtiger Film aus dem Jahr 2008, gedreht auf Digitalvideo im Iran. Er beginnt mit Bildern in der Tradition der altpersischen handgeschriebenen Buchkunst, die wichtige Szenen der Geschichte vom persischen Prinzen Chosrou und der armenischen Prinzessin Shirin darstellen (vgl. Manafi 2012, 304). Es handelt sich dabei um eine im Iran sehr bekannte epische Erzählung aus dem 12. Jahrhundert  : Die Kriegerin Shirin reitet 14 Tage von Armenien nach Persien, um den persischen Prinzen Chosrou zu finden, in den sie sich aufgrund eines gemalten Porträts verliebt hat. Nach einigen Verwicklungen und Verzögerungen heiratet sie ihn und lebt in seinem Land, kehrt allerdings zeitweise in ihr Gebiet zurück, weil sie als Nachfolgerin ihrer verstorbenen Tante dort die Regentschaft übernommen hat. Die Geschichte endet tragisch  : Als der ausschweifende Chosrou ermordet wird, beendet Shirin bei seinem Begräbnis mit einem Dolch ihr Leben, um mit ihm ewig verbunden zu bleiben. Die iranische Literaturwissenschaftlerin Fatemeh Keshavarz schreibt über die Figur Shirin in Nizami Ganjehs Erzählung, dass sie zwar wie eine realistische Frau von nebenan wirke, aber gleichzeitig einem Traum gleichkomme, nämlich eine sinnliche, glanzvolle Frau zu sein, die voller Klugheit und Weisheit sei  : »Her master creator Nizami of Ganjeh […] wanted us to listen carefully to the tragic tale, and shed the ›bitter rosewater‹ of our tears for Shirin, since she was the young rose that weathered best the stormy life he gave all the heroes.« (DVD-Material) Der Film »Shirin« zeigt nach den ersten Einstellungen der Miniaturmalereien (untermalt von einer melodischen Musik) frontal 90 Minuten lang emotionale Frauen, die auf Kinostühlen sitzend der Erzählung Shirins  – mit klagender Stimme am Totenbett ihres Mannes – lauschen und dabei gespannt auf eine Leinwand blicken. Wir, als Filmrezipient_innen, betrachten diese Frauen  – dargestellt von über 100 iranischen Schauspielerinnen  – und sehen ihre schönen, geschminkten und mit dunklen Schals eingehüllten Gesichter in rhythmischer Abfolge in Großaufnahmen. Und wir beobachten ihre feinen emotionalen Regungen in den Gesichtern, ihre Blicke, ihre Augenbrauen, ihre Mundzuckungen. Die Gesten, ausgeführt von Händen mit kunstvollen Ringen und sorgsam lackierten Fingernägel, beschränken sich auf wenige Bewegungen  : Eine Süßigkeit wird zum Mund geführt, ein Schal wird gerichtet, eine Träne auf der Wange weggewischt. Die Frauen zeigen sich von der Erzählung, die aufgrund von Stimmen und Geräuschen für uns als Filmrezipient_innen nur zu 87

Claudia Walkensteiner-Preschl

hören ist (in Farsi mit englischen Untertiteln), 90 Minuten lang in anhaltender Spannung und vom Geschehen zutiefst ergriffen. Bei der ersten Rezeption des Films beschäftigten mich vor allem die zahlreichen leinwandfüllenden Frauengesichter, die mit wenigen Gesichtsregungen und Gesten vielfältige Gefühle auszudrücken vermögen. Immer wieder faszinierten und berührten mich diese Frauen, die ihre Gefühle aufgrund der tragischen Erzählung von Shirin so tiefgründig und offen zeigen. Die emotionale Intensität löste allmählich in mir eine tiefe Traurigkeit aus und konfrontierte mich mit eigenen Erfahrungen. Eine Spezifität des Kinos, die Wirkmächtigkeit der Bilder sowie der epischen Erzählungen, dachte ich. Insbesondere das Gesicht als Affektbild sowie eine subtile Verdoppelung der Adressierung eines Kinopublikums, kam mir in den Sinn. Gleichzeitig beschäftigten mich viele Fragen. Warum zeigt Kiarostami hauptsächlich Frauen als gefühlvolle Zuschauerinnen  ? Welche Bedeutung hat die epische Erzählung von der armenischen Prinzessin für das iranische Publikum heute  ? Was vermittelt sie in der westlichen Kultur  ? Was lässt sich aufgrund der Übersetzung der in Farsi gesprochenen Geschichte in englische Untertitel überhaupt verstehen  ? Einige Studierende konnten bei der gemeinsamen Sichtung im Seminar zwar die präzise Form der Darstellung der Schauspielerinnen schätzen, ließen sich allerdings wenig von der tragischen Geschichte und der damit verbundenen Kultur bezaubern. Auch lösten die Tränen der Schauspielerinnen keine körperlich-somatischen Reaktionen bei ihnen aus. Darüber hinaus waren sie wenig beeindruckt von der Verdoppelung der Adressierung eines Kinopublikums. Sie fanden den Film insgesamt eher langweilig. Vor allem, weil sie aufgrund einer unstimmigen Lichtsetzung sofort eine krasse Manipulation des Regisseurs vermuteten. Außerdem bemerkten sie eine Nichtübereinstimmung der Filmszenen mit der Tonspur. Es waren vor allem die Lichteffekte, die ihnen deutlich werden ließen, dass die Schauspielerinnen nicht wirklich etwas vor ihnen auf einer Leinwand sehen konnten. Die Reflexion des Lichts von der Leinwand in den Zuschauerraum im Film stimmte nicht. Für die Studierenden tauchten sofort Fragen auf, wie der Film hergestellt wurde. Wie wurden diese Szenen manipuliert und was wurde eigentlich den Frauen vorgeführt  ? Die Studierenden fühlten sich gewissermaßen hinters Licht geführt und waren aufgrund der offensichtlichen Unstimmigkeiten nur noch mit technischen Details der Herstellung befasst. Und sie hatten Recht  : Wie ich erst aufgrund eines Making-of des Films, bereitgestellt als Bonus-Material der DVD, erfuhr, zeigte Kiarostami den Schauspielerinnen am Filmset lediglich auf Stangen befestigte kleine Figuren, die 88

Denkbewegungen im Dialog

er vor ihnen hin und her schob. Gleichzeitig forderte er sie auf, an ihre eigenen persönlichen herzergreifenden Erlebnisse zu denken, um eine gewisse Gefühlsintensität zu entwickeln. In der Montage des Films führte er dann einzelne Aufnahmen mit der inszenierten Geschichte von der persischen Prinzessin Shirin zusammen. Wobei die akustisch vermittelte Geschichte nachträglich ohne direkten Zusammenhang mit den Bildern im besten Tonstudio Teherans hergestellt wurde (Manafi 2012, 302). Renommierte iranische Schauspielerinnen sprechen die Dialoge, der aufwändige Soundtrack mit Schritten, Pferdegalopp, Kriegsszenen etc. wurde dramaturgisch wie ein Hörspiel gestaltet. Kiarostami äußerte in einem Gespräch, das er an der Filmakademie Wien mit Studierenden führte,5 zu seiner Idee des Films, dass ihn vor allem die Frage der Manipulation der Zuschauer_innen interessiert hätte. Zum einen bei der Arbeit mit Schauspielerinnen – wie kann er sie dazu bringen, dass sie aufgrund von Imaginationen bzw. Einbildungen bestimmte Gefühlsaudrücke möglichst authentisch wiedergeben. Zum anderen auf der Ebene der Montage. Welche Möglichkeiten besitzt das Medium Film, um zu manipulieren, etwas zu zeigen, das so gar nicht stattgefunden hat.6 Kiarostami sprach sich in vielen Interviews immer wieder gegen den USamerikanischen Mainstream aus, der  – kurz zusammengefasst  – die Rezipient_innen zur Passivität verurteile. Demgegenüber vertrat er die Position, dass es wichtig sei, den Zuschauenden eine aktive Rolle in der Konstruktion eines Films zuzusprechen. In den Worten von Christian Ferencz-Flatz  : »Er plädiert damit für einen Film, der nicht vollständig ist und den Eingriff des Zuschauers benötigt, um fertiggestellt zu werden.« (Ferencz-Flatz 2017, 91) Diese Offenheit ermögliche nicht bloß eine »interpretative Kooperation« (Umberto Eco), sondern erfordere – so Kiarostami – gelegentlich einen gewissen Rollenwechsel  : »Indem der Zuschauer nämlich zum Teilzeit-Filmautor befördert wird, übt der Autor selbst nicht länger vollständige Kontrolle über alle Aspekte seines Films aus, sondern er kommt vielmehr seinerseits wenigstens vorübergehend dazu, auf die Position eines bloßen Zuschauers heruntergestuft zu werden.« (FerenczFlatz 2017, 92) Im Vordergrund der Debatte mit den Studierenden im Seminar standen vor allem Fragen nach der Sinnhaftigkeit der starken Manipulation dieser Inszenierung. Warum setzte Kiarostami diesen Kunstgriff der Täuschung ein  ? Weshalb appellierte er an die Schauspielerinnen mit diesen Mitteln, um eine möglichst authentische Gefühlsskala aufnehmen zu können  ? Hätten nicht gerade Schauspielerinnen tiefe Gefühle vorzuspielen gewusst und wäre damit die Geschichte der Prinzessin Shirin weniger glaubwürdig gewesen  ? Weshalb inszeniert er die 89

Claudia Walkensteiner-Preschl

Reaktionen eines weiblichen Publikums auf diese Weise  ? Welche Haltung des Regisseurs offenbart sich in diesem Kontext  ? Die Möglichkeiten der Manipulation durch Film bzw. die bewusste Inszenierung solcher Manipulationen in Form von Bildern beschäftigen heutzutage Studierende einer Filmakademie in großem Ausmaß. In Zeiten von sogenannten Fake News, von weltweiten medialen Beeinflussungen von Wahlergebnissen und vielem mehr, sind das vor allem Herausforderungen eines politischen Verständnisses von Filmemacher_innen. Was bedeutet es in diesem Kontext auch nur ansatzweise eine Wahrhaftigkeit von Bildern herstellen zu wollen  ? Wie lässt sich Authentizität überhaupt noch begreifen  ? Ist es angesichts von millionenfachen Selfies und Selbstdarstellungen im Internet überhaupt noch sinnvoll von Authentizität zu sprechen  ? Am Ende möchte ich hinzufügen, dass ich die Auseinandersetzungen mit den jungen Filmemacher_innen gerade aufgrund von zahlreichen Möglichkeiten der Reflexion sowie von diversen Rückgriffen auf subjektive Erfahrungen sehr schätze. Dazu kommt, dass die »Abstände« zu ihnen  – aufgrund unterschiedlicher Generation, Sozialisation etc.  – für meine Denkbewegungen besonders bereichernd sind. In seinem Buch »Es gibt keine kulturelle Identität« beschäftigt sich der französische Philosoph Francois Jullien u.a. mit den Begriffen der Differenz und des Abstandes. Er plädiert für den Begriff des Abstandes an Stelle von Differenz, zumal Abstand im Gegensatz zu Differenz seiner Lektüre nach mehr das Gemeinsame betone. Wiewohl beide Begriffe eine Trennung markieren, setze die Differenz nach Jullien allerdings auf eine Unterscheidung, während der Abstand den Blick auf eine Entfernung richte. »Mit dem Abstand verbindet sich kein Zurechtrücken, sondern ein Verrücken« ( Jullien 2017, 37). In diesem Verständnis bemühe ich mich, die Positionen der Studierenden im Sinne einer umfassenden Reflexion zu »verrücken« und meine eigenen offen zu gestalten.

Anmerkungen 1 Die Fachbereiche sind  : Buch und Dramaturgie, Regie, Schnitt, Bildtechnik und Kamera, Produktion und Digital Art – Compositing. 2 Thomas Elsaesser und Malte Hagener handeln ihre vielzitierte Einführung in die Filmtheorie an Hand der Leitfrage »Wie verhält sich der Film zum (Zuschauer-)Körper« ab und zeichnen in sieben Kapiteln die historische Theorieentwicklung von einer okularzentristischen Wahrnehmung zu einem umfangreichen Verständnis eines Zuschauerkörpers nach.

90

Denkbewegungen im Dialog

3 Insbesondere zu nennen sind hier Linda Williams und Laura Marks. Einige Publikationen dazu  : Zechner 2013  ; Tedjasukmana 2014  ; Akervall 2018. 4 Viele Seminare halte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Kerstin Parth, Universitätsassistentin im Fachbereich Medien- und Filmwissenschaft. 5 Abbas Kiarostami war im November 2016 zu Gast an der Filmakademie Wien und hielt einen dreitägigen Workshop. 6 Dennoch zeigt der Film etwas, nämlich Schauspielerinnen, die aufgrund von Erinnerungen echte Emotionen empfunden haben und diese vor der Kamera offenbaren.

Literatur Lisa Akervall (2018), Kinematographische Affekte. Die Transformation der Kinoerfahrung. Paderborn Silke von Berswordt, Oliver Fahle (2014), Abbas Kiarostami. Die Erzeugung von Sichtbarkeit. Marburg Thomas Elsaesser, Malte Hagener (2007), Filmtheorie zur Einführung. Hamburg Christian Ferencz-Flatz (2017), Einfühlung und Spiegelung. Eine phänomenologische Interpretation zu Shirin (2008), in  : Malte Hagener, Ingrid Vendrell Ferran (Hg.), Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie. Bielefeld Siri Hustvedt (2014), Leben, Denken, Schauen. Essays. Hamburg François Jullien (2017), Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin Said Manafi (2012), Abbas Kiarostami. Kino der Poesie und Modernität. Wien Laura Marks (2002), Touch. Sensuous Theory and Multisensory Media. Minneapolis/London Jacques Rancière (2012), Und das Kino geht weiter. Schriften zum Film. Berlin Vivian Sobchack (1992), The Adress of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton Vivian Sobchack (2004), What My Fingers Knew. The Cinestetic Subject, or Vision in the Flesh, in  : dies., Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture. Berkeley Chris Tedjasukmana (2014), Mechanische Verlebendigung. Ästhetische Erfahrung im Kino. Paderborn Linda Williams (1999), Hard Core. Power, Pleasure and the »Frency of the Visible«. Berkeley Anke Zechner (2013), Die Sinne im Kino. Eine Theorie der Filmwahrnehmung. Frankfurt a. Main/ Basel

91

Ramón Reichert

Selfies und Gender Gesichtsbilder sind in der Bildkommunikation der digitalen Vernetzungskultur allgegenwärtig geworden. Ihre zentrale Rolle bei Selbstentwürfen hat nicht nur ein faciales Regime etabliert, sondern auch verschiedene Diskussions- und Reflexionsprozesse in Gang gesetzt, mit denen Strategien und Dominanzverhältnisse geschlechtlicher Identitätskonstruktionen thematisiert werden können. Der mediale, gesellschaftliche und technische Wandel der bildbezogenen Selbstthematisierung hat in unterschiedlichen Feldern der wissenschaftlichen Forschung zur Einsicht geführt, dass Bildhandeln und Bildkommunikation als Ausdruck eines sozialen Handelns im Wandlungsprozess aufgefasst werden kann. Ihre Klammer ist das Sehen, das als sozial und kulturell strukturierter Prozess gleichzeitig Instrument und Effekt geschlechtlicher Macht- und Herrschaftsstrukturen ist. Folglich kann das Sehen als ein Prozess verstanden werden, durch den sich die Beziehungen der Subjekte und Objekte zueinander konstituieren und durch den auch kulturell verbindliche (Körper-)Bilder geschaffen werden. In diesem Sinne können dem Bild und dem Sichtbaren gleichfalls die Wirkmächtigkeit zugestanden werden, soziales Handeln zu konstituieren (vgl. Sachs-Hombach 2003).

Digitale Medienkultur und Selbstthematisierung Zahlreiche Studien sind sich darin einig, dass die hohe Verbreitungsdichte von Smartphone-Technologien und ihrer mobilen Vernetzung mittels Apps dazu geführt hat, dass kommunikative Praktiken der Selbstthematisierung stark an Bedeutung gewinnen konnten (vgl. Grace 2013, 135–162  ; Baldassar 2016, 19– 42). Mit der fortschreitenden Technisierung und Mediatisierung der visuellen Kultur mittels Telekommunikation- und Vernetzungsmedien sind Formen der Bildproduktion von persönlicher Information entstanden, die sich durch einen fließenden Übergang zwischen Medien, technischen Verfahren, sozialen Beziehungen, Diskursen und visuellen Stilen auszeichnen (vgl. Doy 2004  ; Snickars/ Vonderau 2012). Die permanente Konnektivität mittels mobiler Medien und die Möglichkeit der sozialen Annotation mittels Facebook, Twitter, Instagram, Pinterest, Tinder, Snapchat und anderer sozialer Medien eröffnen neuartige Hand93

Ramón Reichert

lungsräume für Selbstmodellierungen, insofern die Selbstbilder immer auch in digitale Gebrauchskontexte – tracking, gamification und surveillance – verwoben sind (vgl. Dijck 2013). Demgemäß kann die Frage aufgeworfen werden, ob und auf welche Weise die digitalen und interaktiven Medien Kulturmuster der spätmodernen Gesellschaft bereitstellen, mit denen sich Subjekte in Kommunikationsprozessen als Handelnde reflektieren und dabei versuchen, sich von sozialen Rollenerwartungen zu distanzieren. Mit der digitalen Vernetzung der Bilder, der niedrigschwelligen Verfügbarkeit eines öffentlich geteilten Bildervorrates und der fortschreitenden Verallgemeinerung der Bildkompetenz haben sich neue Formen sozialer Netze und interaktive Medienöffentlichkeiten gebildet, die zur Entstehung einer breiten Autodidaktisierung der digitalen Bildkultur geführt haben (vgl. Hjorth 2007, 227–238  ; Hjorth/Burgess/Richardson 2012). Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass mit der zunehmenden Verbreitung und der alltäglichen Nutzung von digitalen Kommunikationstechnologien und sozialen Medien neue Mediendispositive entstanden sind, die veränderte Praktiken des kognitiven und affektiven Selbstbezugs eröffnen. Im Kontext der hier skizzierten Thesen distanziert sich die folgende Analyse von der Annahme einer hypostasierten Selbstbezüglichkeit, derzufolge Medien lediglich als Werkzeuge zur Darstellung eines lebensweltlich bereits gegebenen Subjekts betrachtet werden. In Anlehnung an die Forschungsansätze zur autobiografischen Medialität (vgl. Dünne/Moser 2008) kann dem Medium eine konstituierende Bedeutung im Prozess der Subjektkonstitution zugestanden werden und die Frage nach einem sich medial im Aufnehmen, Speichern und Verbreiten konstituierenden Selbstbezug aufgeworfen werden. Eine Identitäts- und Subjektforschung, die den Einfluss des Mediums auf den Vorgang der Subjektivierung als eigenständige Forschungsfrage und als wissenschaftliches Arbeitsfeld ansieht, lenkt den Blick auf das, was in den medialen Analysen der Subjektivität mit den Analysenbegriffen »Dispositiv«, »mediale Reflexivität« (Mersch 2002, 133) oder »Mediatisierung« (Hepp 2013, 190) beschrieben wird. Sie lenkt den Blick auf die Medialität des Mediums und untersucht die Ermöglichung von historischen Erinnerungsorten und sozialen Bildkulturen mittels medialer Anordnungen, Verfahren und Formate (vgl. Nora 1998  ; Galloway 2004). In Anknüpfung von Andreas Hepps Definition der Mediatisierung als Konzept, »um die Wechselbeziehung zwischen medienkommunikativem und soziokulturellem Wandel kritisch zu analysieren« (Hepp 2013, 190) untersuche ich am Beispiel der visuellen Selbstthematisierung auf Online-Plattformen die Relevanz von medienvermittelter Kommunikation für den soziokulturellen Wandel. Die Praktiken der Identitätskonstruktion in Online-Medien (vgl. 94

Selfies und Gender

Vitak 2012) mediatisieren nicht nur individuelle Subjektentwürfe, sondern resemantisieren auch ästhetische Gegenentwürfe. In diesem Sinne firmiert das mediatisierte Gesicht als ein gemeinsamer Schauplatz von Strategien der Subjektivierung und der De-Subjektivierung. Folgt man dieser Sichtweise, dann brechen die Praktiken des defacement möglicherweise nicht immer entschieden mit dem facialen Regime der Registrierung und Identifizierung des Individuums, sondern können das Gesicht als Medium der Ausverhandlung von Subjektivität zusätzlich stabilisieren. Ausgehend von dieser Problemstellung soll hier weder mit dem Begriff defacement noch mit dem erweiterten Begriff der DeMedialisierung eine dichotome Gegenüberstellung zwischen dem Gesicht und seiner Auflösung behauptet werden, sondern vielmehr nach den Ambivalenzen und gemeinsamen Bezügen von Facialisierung und De-Facialisierung gefragt werden.

Selfies und faciales Regime Unter dem weitverbreiteten Schlagwort Selfies können wir Formen der visuellen Selbstthematisierung verstehen, mit denen sich eine Person oder auch mehrere Personen (»Gruppenselfie«) explizit zum Thema der Aufnahme machen. Selfies werden üblicherweise mit einer Digitalkamera oder einem Smartphone von eigener Hand aufgenommen und in den Teilöffentlichkeiten von OnlineNetzwerken des Internets verbreitet. In dieser Engführung können die digitalen Netzwerke immer auch als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteur_innen institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen. Mediatisierte Kommunikation, so Turkle (1995  ; 2012), fordert Individuen zur Selbstthematisierung auf, wobei sie die Herstellung von sozial akzeptierten Selbstbildern in die Spielräume der medialen Infrastrukturen einpassen müssen. Individuen modellieren sich mit diesen partizipativ-vermarktlichten Kulturtechniken als Subjekte und müssen sich mit ihrem veröffentlichten Bild in den Arenen des Social Net bewähren (vgl. Leistert/Röhle 2011, 13). Diese These wird auch von Birgit Richard (2008) gestützt, die sich mit der visuellen Selbstdarstellung insbesondere in Jugendkulturen befasst hat. Mit ihren Selfies rücken sich zwar die Einzelnen ins Bildzentrum, aber als sozial geteilte Bilder müssen sie sich auch bestimmten Rollenerwartungen, Körpernormen und Schönheitsidealen unterordnen. In dieser Hinsicht gehören Selfies zu den kollektiv geteilten Leitbildern der Gegenwartsgesellschaft und können 95

Ramón Reichert

im Bezugsrahmen einer historisch langfristigen Etablierung kommunikativer Institutionen und Normen der Selbstthematisierung verortet werden. Folglich sind es nicht nur die Einzelnen, die sich selbst zum Thema von Kommunikation und damit zum Gegenstand des Wissens machen, sondern sozial habitualisierte Formen der Kommunikation, die das Individuum in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und dadurch zu sich selbst setzen. Dementsprechend fungieren Selfies als gesellschaftlicher Mechanismus zur Normalisierung und Integration von sozialer Kontrolle. Sie verkörpern ein sozial habitualisiertes Verhalten und kulturelle Kodes, mit welchen handelnde Subjekte versuchen, Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit zu lukrieren. Darüber hinaus etabliert das faciale Regime der Selbstdarstellung auch Normen und Werte, sich als geschlechtlich identifizierbares und registrierbares Subjekt zu präsentieren. In diesem Zusammenhang haben sich mittels der digitalen Bildpraktiken weit verbreitete Stilelemente und Interaktionsmerkmale herausgebildet (z. B. das duckface oder das Ganzkörper-Selfie), die geschlechtsspezifische Rollenerwartungen markieren. Die mit den digitalen Aufzeichnungs-, Speicherungs-, Verbreitungs- und Kommunikationsmedien entstandene Möglichkeit, ästhetische Formen der kollektiven Selbstinszenierung massenhaft zu erschließen, kann mit Kaja Silverman als ein digitales Bildrepositorium aufgefasst werden  : Die hier verfolgte These lautet also, dass es Blicke sind, die ganz grundlegend unser Körperbild prägen, und dass jede_r Einzelne an der Produktion und Reproduktion der Blickregime beteiligt ist  : »Der Bildschirm oder das kulturelle Bildrepertoire ist jedem von uns eigen – ganz ähnlich wie die Sprache. Also folgt unsere Wahrnehmung eines anderen Menschen oder eines Objekts zwangsläufig bestimmten Darstellungsparametern, deren Anzahl zwar hoch, aber letztlich doch begrenzt ist. Mit dem Begriff ›Bildschirm‹ bezeichne ich die ganze Bandbreite der zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Darstellungsparameter  ; diejenigen unter ihnen, die sich fast zwangsläufig aufdrängen, nenne ich das ›Vor-Gesehene‹.« (Silverman 1997, 58)

In diesem Sinne haben sich mittels der sozialen Medien sozial relevante Darstellungsparameter herausgebildet, die z.B. die Interaktion mit den Betrachter_innen als ein ›typisch‹ weibliches Verhalten, nämlich das Flirten mit der Kamera, nahelegen. Wenn man das Gesicht als historisches Aufzeichnungs-, Speicher- und Verbreitungsmedium von Erkennungsmerkmalen, Identifizierungsprozeduren und 96

Selfies und Gender

Vermessungstechniken ansieht, dann kann es folgerichtig nicht mehr als unvermittelter Ausdruck von persönlicher Einzigartigkeit und individueller Nähe angesehen werden  : »War für die Anthropologie seit Kant das Gesicht zentrales Erkennungs- und Identifizierungsmerkmal der Welt- und Menschenkenntnis bis hin zu rassistischen und kriminalanthropologischen Aus- und Eingrenzungen, so legitimierten sich diese fotografischen Geometrisierungen, Vermessungen und Normalisierungen des Gesichts trotz der Maskierung durch Natur.« (Käuser 2013, 31)

Wenn das Gesicht folglich als eine historisch produzierte und sozial konstruierte Kommunikationskultur geltend gemacht wird, dann kann es nicht mehr ›unschuldig‹ für eine ahistorische und anthropologisch gültige Konstante einer Face-to-Face-Interaktion einstehen. Die Kulturtheoretiker Ulrich Raulff und Thomas Macho haben demgegenüber eingewandt, dass für diese Annahme sowohl historische als auch ethnologische Beweise fehlen, um eine anthropologische Konstante überzeugend in Aussicht stellen zu können (vgl. Raulff 1984, 46–58  ; Macho 1996, 87–108). In Anlehnung an die hier zitierten Theorien zur facialen Gesellschaft vermag die Präsenz von Gesichtsbildern in der digitalen Gegenwartsgesellschaft auf spezifische Medientechniken zurückgeführt werden, die eine konjunkturelle Entwicklung des Porträts überhaupt erst ermöglicht haben. So kann die Entstehung der facialen Gesellschaft auf die Verbreitung der Massenmedien zurückgeführt werden – von der Rotationspresse des 19. Jahrhunderts bis zu den »Retweet«Ketten als Verbreitungsmechanismus für Selbstbilder. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Geschichte des Gesichts als eine Geschichte seiner medialen Ermöglichung und gesellschaftlichen Kodierung, die sich in den unterschiedlichen Darstellungen des Gesichts widerspiegeln. In diesem Kontext kann die Frage aufgeworfen werden, ob und inwiefern Geschlechternormen ansprechende Selfies (oder Selfies, die versuchen geschlechtliche Zuordnungen zu unterlaufen) die Visibilität des Selbst implizit oder explizit als Schauplatz sozialer Normalisierung oder kultureller Homogenisierung thematisieren. In dieser Perspektivierung würden die »Anti-Selfies« auf sozial habitualisierte Formen der Kommunikation, die das Individuum in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und dadurch zu sich selbst setzen, Bezug nehmen. Die letztlich hier anschließende Frage ist auch, ob und inwiefern den »Anti-Selfies« eine bildkritische oder repräsentationspolitische Dimension inhäriert ist, in welchem Bezug sie zu den institutionellen Rahmenbedingungen 97

Ramón Reichert

des reflexiven Selbst stehen und wie sie mit den technisch-medialen Infrastrukturen der Selbstthematisierung umgehen.

Weiblichkeitsallegorien der »Generation Selfie« Selfies sind Fotos von sich selbst. Sie dienen der Selbstdokumentation und der Automedialisierung und befinden sich daher in einem diametralen Spannungsverhältnis zu sozialen Konventionen, in denen die Einzelnen nicht im Mittelpunkt stehen. Von dieser Spannung profitiert die mediale Skandalisierung der Selfies, die den »Narzissmus« der Selbstdarstellung anprangert und dabei oft private Fotografien ins Licht der Öffentlichkeit zerrt (um sie noch bekannter zu machen). Seit dem sogenannten Selfie-Gate assoziiert die Medienberichterstattung mit dem Selfie immer wieder Narzissmus und versucht, vor allem das jugendkulturelle Bildhandeln verächtlich abzumahnen, es heißt dann, dass das Selfie stellvertretend für eine selbstverliebte Generation stehe, die vor allem über Selbstbilder kommuniziere und nur an sich selbst interessiert sei. In diesem Zusammenhang ist es auffällig, dass die aktuellen Medienberichte den jugendkulturellen Gebrauch von Selfies allgemein als Narzissmus einer ganzen Generation brandmarken und dabei oft Mädchen zeigen, die ihre Handys als Spiegel benutzen. Damit suggerieren sie, dass Selfies genuin einem weiblich konnotierten Gebrauchskontext entstammen, und instrumentalisieren Frauen als allegorische Repräsentationen einer als moralisch verwerflich titulierten Bildpraxis. Sie unterstellen Frauen ein genuin weibliches Genießen an der Selbstdarstellung und bestätigen damit alte Vorurteile und stereotype Ressentiments gegenüber Frauen. Als Bildmotiv von Vanitas-Allegorien etablierten sich seit Jahrhunderten die sogenannten Toiletteszenen, die eine dem zeitgemäßen Schönheitsideal entsprechende Frau vor dem Spiegel zeigten. In seiner moralischen Verwendung wurde der Spiegel in den Allegorien der Sünden stets negativ eingesetzt und konnotierte Unkeuschheit, Eitelkeit und Stolz, die an die Schönheit, Jugendlichkeit und Selbstverliebtheit der Frau gekoppelt waren. Dabei überwog die »selbstgefällige Eigenbetrachtung« die kontemplative Funktion des »Sich-Widerspiegelns«. Durch die Verknüpfung der Vanitas-Allegorie mit dem Spiegelmotiv wurde ein Frauenbild entworfen, in dem sich ein ›eitler‹ Selbstbezug als schöner Schein entlarven sollte. Spiegelszenen kommunizierten stets auch eine normative Vanitas-Idee  : Die in den Spiegel blickende Frau gelangt zu der Er98

Selfies und Gender

kenntnis, dass er als Medium keines ihrer Bilder speichern kann. Diese Versuchsanordnung leitet das Motiv der Vergänglichkeit vom Scheitern ab, ein Bild der Frau herzustellen, das Bestand hat. Die in der Medienberichterstattung über die sogenannte Generation Selfie eingesetzten Stereotypien einer typisch weiblich konnotierten Medienpraxis lagern sich um die Figur der Naiven an und spielen auf die Ikonographie der Vanitas und das vieldeutige Symbol des Spiegels an, wie sie von den schönen Künsten seit der Antike tradiert werden  : »Nicht nur Wissenschaften und Künste, Staats- und Tugendideale, sondern auch Orts-, Raum- oder Zeit-Vorstellungen wurden jahrhundertlang in Körperbildern – und damit zwangsläufig geschlechtsspezifisch – repräsentiert und propagiert. Die ›Ikonologien‹ […] wie sie seit dem 16. Jahrhundert publiziert wurden, haben die Übersetzungscodes von Zeichen und Bedeutung systematisch reguliert und die allegorischen Rätsel lexikalisch verfügbar gemacht. So wurde ein Arsenal von geläufigen Personifikationen zusammengestellt, andere wurden neu geschaffen.« (Schade/Wagner/Weigel 1994, 3)

Die Allegorie als literarisches und visuelles Verfahren ist seit der griechischen und römischen Antike bekannt. Der Begriff Allegorie bedeutet wörtlich Anderssagen (lateinisch alia oratio  ; griechisch allos, anders, und agoreúein, in der Öffentlichkeit sagen) und meint eine »andere« Bedeutungsschicht, die parallel zur wörtlichen Bedeutung existiert. In allgemeiner Hinsicht kann die Allegorie als eine sinnliche oder verstandesmäßige Verbildlichung eines abstrakten Begriffs aufgefasst werden. Allegorische Visualisierungen zielen auf Klarheit, Anschaulichkeit und Plausibilität allgemeiner Vorstellungen und Ideen. Selbst für Hegel, der in seiner Theorie der Ästhetik die Allegorie als eine unzureichende Form der künstlerischen Darstellungsweise betrachtete, bestand ihre Leistung darin, allgemeine abstrakte Zustände oder Eigenschaften als Subjekt darzustellen  : »Ihr […] Geschäft besteht deshalb darin, allgemeine abstrakte Zustände oder Eigenschaften sowohl aus der menschlichen als auch der natürlichen Welt  – Religion, Liebe, Gerechtigkeit, Zwietracht, Ruhm, Krieg, Frieden, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Tod, Fama – zu personifizieren und somit als ein Subjekt aufzufassen.« (Hegel 1986, 388)

Eine motivgeschichtliche Bildanalyse der symbolisch und allegorisch argumentierenden Selbstverhandlungen macht Mechanismen der Übertragung und 99

Ramón Reichert

Überlagerung von Selbst- und Körperbildern sichtbar. Populäre oder popularisierende Diskurse über Selbstdarstellungen im Social Net suchen Anschlusskommunikation an gängige Bildrepertoires, anerkannte Körperbilder und typische Rollenbilder. In »Monuments and Maidens« schreibt Marina Warner über die Repräsentation imaginärer Gemeinschaftlichkeit durch Weiblichkeitsallegorien  : »Die weibliche Gestalt wird tendenziell wahrgenommen als allgemein und universell, mit symbolischen Hintergedanken. Die männliche hingegen als individuell, selbst dann, wenn sie dazu benutzt wird, eine verallgemeinernde Vorstellung zum Ausdruck zu bringen.« (Warner 1989, 35) Der Mediendiskurs über die »Generation Selfie« bedient sich stereotyper Weiblichkeitsallegorien, um die Vorstellung einer homogenen und universellen Gemeinschaft von Jugendlichen zu manifestieren. Die jungen Frauen stehen aber nicht nur stellvertretend für diese Generation, sondern verkörpern sie auch. In diesem Zusammenhang wird oft darauf verwiesen, dass es vor allem junge Mädchen sind, die sich gerne selbst fotografieren und diese Selbstbilder dann in sozialen Netzwerken verbreiten. Damit wird die Sichtbarkeit von jungen Frauen im Netz zur Sache ihrer eigenverantwortlich vorangetriebenen Selbstdarstellung gemacht und letztlich auch naturalisiert, indem ihr Antrieb, sich exhibitionistisch darstellen zu wollen, auf das Phänomen der Selfies übertragen wird. Mit dieser negativ-abwertenden Bildrhetorik wird den jugendlichen Mädchen ein genuin weibliches Genießen ihrer Selbstdarstellung unterstellt und damit einhergehend werden soziale Zwänge, Normen und Erwartungen der Selbstveröffentlichung im Netz ausgeblendet. Sowohl die lebensweltliche Autorisierung individueller Selbstbilder als auch die allegorische Aburteilung der jugendkulturellen Bildpraxis verfehlt das Gesicht als einen privilegierten Ort geschlechtlicher Signifizierungen und Interpretationen. Als umkämpfter Schauplatz sozialer und kultureller Einschreibungen hat das Gesicht jedoch eine Vielzahl von Praktiken der De-Mediatisierung herausgefordert, auf die ich im folgenden Kapitel näher eingehen möchte.

Defacement als Medienkritik  ? Der Gesichtskult hat immer auch Figuren der Auflösung des Gesichts herausgefordert, die oft als Negation des Gegenständlichen, des Persönlichen und des Individuellen gesehen wurden. Insbesondere im 20. Jahrhundert haben Bildende Kunst, Fotografie und Film die ästhetische Dekonstruktion der Selbstinszenie100

Selfies und Gender

rung als Kritik am Gesicht als soziale Einschreibe- und Projektionsfläche forciert  : »Zwar lässt sich der Begriff der Auflösung, wenn man ihn eindeutig auf sein Vermögen zur Abschaffung, zur Endigung, zur Aufhebung des facialen Schemas liest, als eine Kritik des Gesichts und seiner Bedeutungsgenerierung verstehen, im Zuge dessen es zum Ausweis des Humanen, in der Affektlehre und Anthropologie zur Bühne der Emotionen, in der Kriminalbiologie des 19. Jahrhunderts gar zum Tatort und in der Forensik zum Beweismittel wurde.« (Körte/Weiss 2013, 6)

Die zahlreichen Versuche, das Gesicht aufzulösen und zum Verschwinden zu bringen, haben aber immer auch akzeptiert, dass dem Gesicht die Schlüsselrolle zukommt, um das Individuelle, das Persönliche und das Charakteristische zu verhandeln. Auch die unterschiedlichen Positionen des Anti-Porträts haben dem Gesicht die Rolle als privilegierter Bedeutungsträger für die ästhetischen Formen der Selbstinszenierung (self-staging) zugestanden  : »Als Metonymie des Menschen gilt das Gesicht in der Regel als ein natürlicher Ausdruck der Persönlichkeit und als Schlüssel zu seiner Person. In seiner bezeugenden Funktion garantiert es Identität und Unverwechselbarkeit, ist ein Kommunikationsträger, Aufmerksamkeitslenker, eine Art Übersetzer an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen, ein Interpret und Erzähler, kurz  : Das Gesicht ist das Konkreteste und Individuellste, das selbst in der größten Abstraktion und Reduktion auf sein Allgemeinstes als solches erkennbar bleibt.« (ebd., 5)

Die Problematisierung der facialen Selbstthematisierung möchte ich exemplarisch entlang der sogenannten Sellotape-Selfies verhandeln. Mit dem vielbeachteten Genre der Sellotape-Selfies hat sich eine gegenkulturelle Bildpraxis des overacting im Feld der digitalen Selbstdarstellung herausgebildet. Mit der Herstellung von Sellotape-Selfies verschiebt sich die Darstellung des weiblichen Gesichts vom Klischee der schönen Oberfläche in etwas Monströses und Provokantes. Sellotape-Selfies verwandeln das weibliche Gesicht in einen dreidimensionalen Körper, der äußerlich abschreckend die Betrachter_innen herausfordert und in Bezug zur herkömmlichen Gender-Identität nicht mehr berechenbar ist. Das Sellotape-Selfie kann als ein ästhetisches Verfahren angesehen werden, das weniger mit dem Entzug, sondern mit der Überschreitung von Gesichtlichkeit arbeitet. Das Gesicht wird als ein umstrittener Kampfplatz von Bedeutungen angesehen und das Sellotape-Selfie versteht sich daher als eine Intervention in 101

Ramón Reichert

einen gesellschaftlichen Prozess der Kodierung von Geschlechternormen. Somit operiert diese Gegendarstellung ihrem Selbstverständnis nach mit einem offensiv in Szene gesetzten Inszenierungs- und Wahrnehmungseffekt, mit dem der vorab definierte Rahmen von geschlechtlicher Repräsentation in Frage gestellt werden soll. Die Figur der Entkleidung vermag in diesem Zusammenhang zu bedeuten, dass das Tesaband weniger als eine zusätzliche Maskierung zu verstehen ist, sondern als ein Verfahren der Demaskierung, die dazu dient, das natürliche Gesicht nicht als eine ursprüngliche Nacktheit, sondern selbst als eine Maske zu deuten. In diesem Sinne firmiert das Gesicht immer schon als eine »Ikone eines signifikanten Zeichenregimes« (Deleuze/Guattari 1997, 234), das von den Künstler_ innen entstellt und ins Monströse übersetzt werden muss, um auf das Gemachte des scheinbar ›natürlichen‹ Gesichtsausdrucks hinzuweisen. Deleuze und Guattari begreifen das Gesicht nicht als Ausdruck von Natürlichkeit, Individualität und Persönlichkeit, sondern als etwas Konstruiertes, Hergestelltes, Künstliches. Das Gesicht ist für sie ein Medium, mit dem Macht ausgeübt werden kann (ebd., 241). Zentrales Momentum dieser künstlerischen Praxis ist weniger die moralische Empörung über die Hässlichkeit des Dargestellten. Sellotape-Selfies experimentieren mit den – oft ›der‹ Frau zugeschriebenen – Mangelfiguren von Selbstvergewisserung, Identifizierung und Narzissmus  : »A monster is a species for which we do not have a name. [However], as soon as one perceives a monster in a monster, one begins to domesticate it.« (Derrida 1995, 386) Vor diesem Hintergrund erscheint mir das kritische Potenzial, das sich im Begriff »Auflösung« an krisenhafter Semantik des Gesichts verbirgt, ebenso relevant wie die Mehrdeutigkeiten von »Auflösung« in einem anwendungsbezogenen Sinne. Daher stehen in diesem Zusammenhang die Prozesse und Erscheinungsweisen im Vordergrund, an denen sich wahrnehmungsästhetische und mediendispositive Dimensionen von »Gesichtern in Auflösung« ausdifferenzieren lassen. Hierbei impliziert »Auflösung« als ein die Ästhetik, Aisthesis und Medialität gleichermaßen betreffendes Moment ein ganzes Bündel an Techniken und berührt als ein relationaler Begriff mediale boundary objects wie die Inszenierung von Schärfe und Unschärfe, Nähe und Tiefe, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Auflösung hat demnach nicht nur mit dem Verschwinden des Gesichts zu tun, sondern auch mit alternativen Techniken seiner Sichtbarmachung. Die De-Mediatisierung des Gesichts besitzt zahlreiche Abstufungen und kann keinesfalls pauschal mit der Verweigerung, Auslöschung und Aufhebung des Gesichts gleichgesetzt werden. Vielmehr operieren die Strategien des defacements mit einer Vielzahl von Verschiebungen und Überlagerungen, die einen anderen Blick auf das Gemachte des Gesichts (und der Geschlechtsiden102

Selfies und Gender

tität) ermöglichen. In dieser Hinsicht verweist die Auflösung auf bestimmte Techniken, ein Bild herzustellen, oder ein Bild auf eine andere Art und Weise zu gestalten, um den alternativen Gestaltungs- und Wahrnehmungsweisen von Subjektivität Ausdruck zu verleihen. In diesem Zusammenhang kreisen die Sellotape-Selfies immer noch um die ikonische Grundierung des klassischen Porträts und basieren  – trotz der Selbstinszenierungen entstellter Monströsität – auf einer visuellen Ähnlichkeit zwischen dem Dargestellten und dem Bild.

Medienpraktiken der Anonymisierung Praktiken der Anonymisierung sind auf Online-Plattformen weitverbreitet und konfrontieren den physiognomischen Code von Geschlechtlichkeit mit seinem Entzug, seiner Absenz oder seinem Verschwinden. Ich möchte am folgenden Beispiel aufzeigen, dass die visuellen Strategien zur Auflösung von Selbstdarstellung immer auch in einem Spannungsfeld zwischen Entziehung und Beziehung, zwischen Re-Anonymisierung und De-Anonymisierung oszillieren. Mit dem Verweis auf die Model-Castingshow »Germanys Next Top Model« verweist der visuelle Platzhalter »Ich habe heute leider kein Foto für dich« auf die Selektionsmechanismen visueller Selbstdarstellungen. Relevant erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass die Bildlosigkeit im Social Web, die versucht, den Nutzer_innen wenigstens indirekt ein Minimum an Substanz, Privatheit und Intransparenz zu verschaffen, nicht mit einer radikalen Entpersönlichung gleichgesetzt werden kann, insofern anonymisierende Praktiken immer auch kommunikative Adressierungen enthalten, die sich unter anderem auch den Bildern selbst inhärieren. Auch anonymisierende Bilder, die das Gesicht als Handlungsformation von geschlechtlicher Identifizierung, Beurteilung und Bewertung thematisieren, partizipieren an einem kollektiven Bildervorrat und beziehen sich auf gemeinsam geteilte Aushandlungsprozesse, Kontroversen und Grenzziehungen. In diesem Sinne können sie als Grenzobjekte oder als Schwellenobjekte, als boundary objects im Sinne von Susan L. Star und James R. Griesemer, verstanden werden (vgl. Star/Griesemer 1989, 387–420). Der Begriff boundary object bezeichnet die Modalität, wie ein Handlungsbezug zwischen heterogenen technischen und sozialen Praktiken, Gruppen und Interessen möglich wird  : »Boundary objects are one way that the tension between divergent viewpoints may be managed. […] The tension is itself collective, historical, and partially institutionalized« (Bowker/Star 1999, 292). Bei Grenzobjekten handelt es sich um Objekte, die in lokalen Anwendungen konkret und 103

Ramón Reichert

zweckgerichtet verwendet werden, aber zugleich in einer umfassenderen Zirkulation zur Verfügung stehen, ohne dabei ihre Identität zu verlieren. Die auf Online-Plattformen verbreiteten Bildformen der subjektiven Auflösung und Anonymisierung erweisen sich insofern erstens als boundary objects, als sie von Akteur_innen ausgehandelt werden  ; und sie erweisen sich zweitens als Medien, weil sie selbst wieder als fundierende Bedingung für Vernetzungen und Kooperationen wirksam werden, insofern ihre fortwährende Stabilisierung gelingt. In diesem Sinne bilden diese Grenzobjekte wichtige Ausverhandlungszonen, in denen Stereotype, Normen und Werte geschlechtlicher Identitätskonstruktion thematisiert und mit anderen geteilt werden können. Grenzobjekte sind solche Objekte, die in einer lokalen Anwendung präzisiert und zweckgerichtet verwendet werden, aber zugleich in einer umfassenderen Zirkulation zur Verfügung stehen, ohne ihre Identität dabei zu verlieren. In diesem Sinne kann etwa gefragt werden, inwiefern Praktiken der De-Mediatisierung Grenzobjekte hervorbringen, die von unterschiedlichen sozialen Gruppen als Bruch oder als Wahlmöglichkeit akzeptiert werden können. »Ich habe heute leider kein Foto für dich« kann als ein bereits ausverhandelter Durchgangspunkt beschrieben werden, den unterschiedliche soziale Gruppierungen als einen gemeinsamen Gedächtnisraum teilen. Damit verleiht die schriftliche Inskription »Ich habe heute leider kein Foto für dich« dem visuellen Selbstentzug eine stabilisierende Funktion, die sozial geteilt und kommuniziert werden kann, weil sie anschlussfähig an einen symbolischen Vorrat ist, der letztlich auf die Popularisierung eines bestimmten Fernsehformates verweist und kollektiv als Ironiesignal dechiffriert werden kann. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass DeMediatisierungen nicht zwangsläufig den Oppositionen von Online/Offline oder Virtualität/Realität folgen, sondern unterschiedliche trading zones (Galison 2004, 42) durchlaufen, in denen sich unterschiedliche Medien überlagern und cross- und transmediale Netzwerke knüpfen. In diesem Zusammenhang können wir uns von der Annahme einer hypostasierten Selbstbezüglichkeit distanzieren, die Medien lediglich als Werkzeuge zur Darstellung eines lebensweltlich bereits gegebenen Subjekts betrachtet. Eine andere Spielart der anonymisierenden De-Mediatisierung versucht die mediale Genese der Subjektwerdung, d. h. das Subjekt der Zirkulation und den Ort der Subjektwerdung, zu reflektieren. Es handelt sich hier mit Michel Serres um ein Quasi-Objekt (Serres 1982, 146ff.), das ein Subjekt in dem Moment markiert, in dem dieses etwas tut und mit ihm, dem Quasi-Objekt, beschäftigt ist. Nicht das Subjekt weist in dieser Beziehung dem Quasi-Objekt eine bestimmte Rolle zu, sondern umgekehrt  : Das Quasi-Objekt setzt das Subjekt 104

Selfies und Gender

in Bezug auf eine bestimmte Rolle und fordert von ihm einen bestimmten Handlungsvollzug  ; man könnte es auch Formautorität nennen oder eine Art Autorität, die in das Technische, in den technischen Vollzug, verlagert ist. SichWidersetzen kann in diesem Sinne auch heißen, sich der Aufforderung, sich selbst zu thematisieren, zu entschlagen und die Aushandlungszone weder mit Grenzobjekten zu besetzen, auf die sich soziale Gruppen geeinigt haben, um Fragen der Identität und des Selbst zu verhandeln, noch die Aushandlungszone mit Formen der visuellen Selbstthematisierung zu füllen. Diese Formen der radikalen De-Mediatisierung können als ein grundsätzliches »Sich-Widersetzen« gegen die Verfahren der geschlechtlichen Identifizierung auf Online-Plattformen und sozialen Netzwerkseiten verstanden werden.

Fazit Die von mir untersuchten Beispiele der Auflösung visueller Kulturmuster von Selbstthematisierungen oszillieren zwischen De- und Remediatisierungen. Sie sind darauf angelegt, einerseits mit bestimmten Konventionen und Konstellationen der Selbstdarstellung zu brechen, um andererseits anschlussfähige boundary objects aufzubauen. Diese boundary objects der De-Mediatisierung können für heterogene Interessensgruppen anschlussfähig sein und eine niedrige Eintrittsschwelle für unterschiedliche Kommunikations- und Handlungszusammenhänge bilden. Die hier exemplarisch untersuchten Fallbeispiele facialer Geschlechtskonstruktion setzen sich alle mit den digitalen Inhalten der OnlinePlattformen auseinander. Dabei blenden sie mehr oder weniger das Medium, d.h. den Computer als Rechenmedium, aus. In diesem Sinne sind die von mir thematisierten Beispiele der visuellen De-Mediatisierung in erster Linie als sozial vermittelte Formen bildkritischer Selbstthematisierung zu verstehen. Mit dem von Nick Monfort (2004) und Matthew Kirschenbaum (2008) geprägten Begriff screen essentialism könnten sie auch als Figuren der De-Materialisierung angesehen werden, indem mit ihnen die technisch-mediale Infrastruktur der Datenverarbeitung nicht thematisiert wird. Letztlich bleibt – so erkenntnisreich und subversiv die Dekonstruktion von Gesichtsbildern auch sein mag – eine schwerwiegende kritische Frage bestehen, wenn in Betracht gezogen wird, dass ästhetisierende Praktiken der Gesichtsauflösung zwar den Ort der gesichtlichen Repräsentation als Schauplatz von Erkennungs- und Identifizierungsprozeduren reflektieren, aber das mediale Dispositiv zur Herstellung von facialer Semantisierung nicht grundlegend verändern können. 105

Ramón Reichert

Literatur Loretta Baldassar (2016), Mobilities and Communication Technologies  : Transforming Care in Family Life. Family Life in an Age of Migration and Mobility. London, 19–42 Geoffrey C. Bowker, Susan Leigh Stark (1999), Sorting Things Out. Classification and its Consequences. Cambridge Ernst Cassirer (1994 [1910]), Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Darmstadt Gilles Deleuze, Félix Guattari (1997), 1000 Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin Jacques Derrida (1995), Point ..: Interviews, 1974–1994. Stanford José van Dijck (2013), The Culture of Connectivity  : A Critical History of Social Media. Oxford Gen Doy (2004), Picturing the Self  : Changing Views of the Subject in Visual Culture. New York Jörg Dünne, Christian Moser (2008), Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien. München Susanne Foellmer (2015), Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz. Bielefeld Peter Galison (2004), Heterogene Wissenschaft  : Subkulturen und Trading Zones in der modernen Physik, in  : Jörg Strübing, Ingo Schulz-Schaeffer, Martin Meister, Jochen Gläser (Hg.), Kooperation im Niemandsland. Neue Perspektiven auf Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik. Berlin, 27–57 Alexander Galloway (2004), Protocol. How Control Exists after Decentralization. Cambridge Helen Grace (2013), iPhone Girl  : Assembly, Assemblages and Affect in the Life of an Image, in  : Public Space, Media Space 1/2013, 135–162 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1986), Vorlesungen über die Ästhetik I (Gesammelte Werke 13). Frankfurt a. Main Larissa Hjorth (2007), Snapshots of Almost Contact  : the Rise of Camera Phone Practices and a Case Study in Seoul, Korea, in  : Continuum 21/2, 227–238 Larissa Hjorth, Jean Burgess, Ingrid Richardson (Hg.) (2012), Studying Mobile Media  : Cultural Technologies, Mobile Communication, and the iPhone. New York Andreas Käuser (2013), Maskierung – Über die Auflösung des Gesichts in Texten und Medien, in  : Mona Körte, Judith Elisabeth Weiss (Hg.), Gesichtsauflösungen (Reihe ZfL-Interjekte). Berlin, 30–37 Matthew G. Kirschenbaum (2008), Mechanisms  : New Media and the Forensic Imagination. Cambridge/Mass. Alexander Kluge (2012), Geklebte Miene, in  : Monopol 2/2012, 28–32 Mona Körte, Judith Elisabeth Weiss (2013), Einleitung, in  : Mona Körte, Judith Elisabeth Weiss (Hg.), Gesichtsauflösungen (Reihe ZfL-Interjekte). Berlin, 4–12 Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.) (2011), Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld Thomas Macho (1996), Vision und Visage. Überlegungen zu einer Faszinationsgeschichte der Medien, in  : Wolfgang Müller-Funk, Hans-Ulrich Reck (Hg.), Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien. Wien, 87–108 Dieter Mersch (2002), Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München

106

Selfies und Gender

Pierre Nora (2005), Erinnerungsorte Frankreichs. München Nick Montfort (2004), The Early Materiality and Workings of Electronic Literature, MLA Convention in Philadelphia, http://nickm.com/writing/essays/continuous_paper_mla.html (15.11.2015) Ulrich Raulff (1984), Image oder Das öffentliche Gesicht, in  : Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.), Das Schwinden der Sinne. Frankfurt a. Main, 46–58 Birgit Richard (2008), Art 2.0  : Kunst aus der YouTube  ! Bildguerilla und Medienmeister, in  : Birgit Richard, Alexander Ruhl (Hg.), Konsumguerilla. Widerstand gegen Massenkultur  ? Frankfurt a. Main/New York, 225–246 Klaus Sachs-Hombach (2003), Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Semantik bildhafter Darstellungsformen. Köln Sigrid Schade, Monika Wagner, Sigrid Weigel (Hg.) (1994), Allegorien und Geschlechterdifferenz. (Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte). Köln/Weimar Gunnar Schmidt (2013), »Das bin ich nicht.« Gesichtsexperimente in der Medienkunst, in  : Mona Körte, Judith Elisabeth Weiss (Hg.), Gesichtsauflösungen (Reihe ZfL-Interjekte). Berlin, 97–107 Michel Serres (1982), Genèse. Paris Kaja Silverman (1997), Dem Blickregime begegnen, in  : Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin, 58–71 Pelle Snickars, Patrick Vonderau (Hg.) (2012), Moving Data  : The iPhone and the Future of Media. New York Susan Leigh Star, James R. Griesemer (1989), »Translations« and Boundary Objects  : Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–39, in  : Social Studies of Science 19/3, 387–420 Sherry Turkle (1995), Life on the Screen  : Identity in the Age of the Internet. New York Sherry Turkle (2012), Alone Together. New York Jessica Vitak (2012), The Impact of Context Collapse and Privacy on Social Network Site Disclosures, in  : Journal of Broadcasting and Electronic Media 56/4, 451–470 Marina Warner (1989), In weiblicher Gestalt. Die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen. Reinbek b. Hamburg

107

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

Ist die (Musik-)Therapie weiblich  ? Genderaspekte im therapeutischen Kontext1

»Since our clients are either men or women and we therapists are either men or women, work around gender (and all the intersecting dimensions of race, class, sexual orientation, etc.) becomes not the work of some music therapists  ; it becomes an ethical imperative for all music therapists.« (Curtis 2013)

Musiktherapie als künstlerische Therapie und Erfahrungswissenschaft Was ist Musiktherapie  ? Die Britin Mary Priestley, neben u.a. Juliette Alvin, Aleks Pontvik, Paul Nordoff und Clive Robbins eine der Pionier_innen der europäischen Musiktherapie, hat es einmal so formuliert  : »Musiktherapie bedeutet Entdeckungen und Wunder, Ärger und Freude – es geht dabei jedoch immer um Musik und Menschen. Für mich ist sie mein Leben und ich liebe dieses Leben. […] Sie ist eine Kunst, und als solche eine sehr persönliche und kreative Arbeitsweise.« (Priestley 1982, 1). Was diese Definition deutlich macht, ist, dass es in der Musiktherapie um Beziehungen geht – um Beziehungen zwischen Menschen und um Beziehungen zwischen Mensch und Musik. Dabei geht es um Emotionen und existentielle Themen. Und es handelt sich um eine Kunst – der etwas aus der Mode gekommene Begriff der »Heilkunst« scheint hier durchaus angebracht. Somit gehört die Musiktherapie zu den Künstlerischen Therapien, denen gemeinsam ist, dass sie auf »drei fundamentalen Bereichen« gründen (Petersen 2002, 17 f.)  : – der therapeutischen Beziehung (zwischen Therapeut_in und Patient_in) – dem therapeutischen Prozess – dem ästhetischen Medium Die therapeutische Beziehung und der therapeutische Prozess sind natürlich Bestandteil jedes psychotherapeutischen Verfahrens. Worin besteht das Besondere 109

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

der Künstlerischen Therapien – abgesehen davon, dass ein ästhetisches Medium (Klang, Bewegung, Farbe …) zum Einsatz kommt  ? Die Tanztherapeutin Marianne Eberhard-Kaechele und der Musiktherapeut David Aldridge haben das Zusammenspiel dieser Bereiche als ein »Alleinstellungsmerkmal« identifiziert  : »Das Spezifische der Künstlerischen Therapien liegt in der künstlerisch-therapeutischen Nutzung der nonverbalen, prozeduralen Kommunikation und in der personenzentrierten Anwendung künstlerischer Medien und Prozesse innerhalb einer therapeutischen Beziehung. Der schöpferische Prozess oder das Werk tritt als dritte Instanz in eine triadische Interaktion mit dem Patienten und dem Therapeuten ein, woraus die fachspezifische Befunderhebung, Diagnostik und Intervention generiert werden.« (Aldridge/Eberhard-Kaechele 2011, 195)

Zur Situation der Musiktherapie in Österreich Die Musiktherapie gehört in Österreich zur Gruppe der Gesundheitsberufe und ist gesetzlich geregelt. Mit dem Musiktherapiegesetz (MuthG)2 nimmt Österreich in Europa und auch weltweit eine Vorreiterrolle ein, da in vielen anderen Ländern der Beruf der Musiktherapeutin, des Musiktherapeuten nicht gesetzlich geschützt ist. Laut Musiktherapiegesetzt (MuthG) wird Musiktherapie wie folgt definiert  : Die Musiktherapie ist eine eigenständige, wissenschaftlichkünstlerisch-kreative und ausdrucksfördernde Therapieform. Sie umfasst die bewusste und geplante Behandlung von Menschen, insbesondere mit emotional, somatisch, intellektuell oder sozial bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, durch den Einsatz musikalischer Mittel in einer therapeutischen Beziehung zwischen einem_einer oder mehreren Behandelten und einem_einer oder mehreren Behandelnden mit dem Ziel 1. Symptomen vorzubeugen, diese zu mildern oder zu beseitigen oder 2. behandlungsbedürftige Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern oder 3. die Entwicklung, Reifung und Gesundheit der Behandelten zu fördern und zu erhalten oder wiederherzustellen. In Österreich gibt es derzeit drei musiktherapeutische Ausbildungsstätten  : Neben dem Diplom- und Doktoratsstudium an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien existieren ein Bachelor- und Masterstudium an der FH IMC Krems sowie ein interuniversitärer Lehrgang in Graz. Es besteht eine enge Kooperation zwischen den Ausbildungen, deren Leiter_innen sich im Rah110

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

Abb. 1 Verteilung musiktherapeutischer Beschäftigungsverhältnisse in Österreich nach Arbeitsgebieten (aus  : Phan Quoc/Riedl/Smetana/Stegemann im Druck)

men der »Österreichischen Musiktherapie-Ausbildungsleiter_innen Konferenz« (ÖMAK) regelmäßig treffen und austauschen. Musiktherapie kommt heute in vielen Bereichen bei unterschiedlichen Klient_innen-/Patient_innen- und Altersgruppen zum Einsatz  : Das Indikationsspektrum reicht von der Neonatologie (der Behandlung von Frühgeborenen) bis zur Hospizarbeit (der Begleitung von Sterbenden). Traditionell immer noch das größte Arbeitsfeld stellt die Musiktherapie in der Behandlung psychischer Erkrankungen dar, wie Abbildung 1 verdeutlicht  : Dies betrifft in erster Linie die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Psychiatrie und die Psychosomatik.

Musiktherapie an der mdw – begründet von einer Frau, geprägt von einem Mann Das heutige Diplomstudium Musiktherapie an der mdw ist mit seiner nun sechzigjährigen Geschichte die älteste akademische Musiktherapie-Ausbildung in Europa.3 Die »Wiener Schule der Musiktherapie«4 wird dabei in der Regel mit 111

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

dem Namen Alfred Schmölz in Verbindung gebracht, der die MusiktherapieAusbildung 22 Jahre lang leitete und wie kein anderer prägte (vgl. Stegemann/ Fitzthum 2014). Wenig bekannt ist indes, dass der damalige »Sonderlehrgang für Musikheilkunde« von einer Frau ins Leben gerufen und bis 1970 auch geleitet wurde  : der Musikerin Editha Koffer-Ullrich (1904–1990) (vgl. Feichter 2017)5. Editha Koffer-Ullrich hatte in den 1920er-Jahren ihr Geigenstudium mit Auszeichnung an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst abgeschlossen und später – während eines mehrjährigen Afrika-Aufenthaltes – angefangen, sich für die Rolle von Musik in traditionellen Heilungsritualen zu interessieren. Auch aus den USA, wo Musiktherapie nach dem Zweiten Weltkrieg bereits zur klinischen Behandlung von posttraumatischen Störungen bei Veteranen eingesetzt wurde, nahm sie Ideen mit, die schließlich in der Gründung der »Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Musikheilkunde« (1958) mündeten. In diesem Zusammenhang formulierte Koffer-Ullrich auch ihre Vision einer akademischen Musiktherapie-Ausbildung an der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst  : »Wien, mit Medizin und Musik durch alte Tradition aufs engste verbunden, ist berufen, dazu einen besonderen Beitrag zu leisten. Zum Vorteil der leidenden Menschen sollen in unserer Heimatstadt beide Disziplinen in Theorie und Praxis, im Krankenhaus und in der Forschung zusammenwirken.« (Koffer-Ullrich 1958, in Mössler 2008, 19) Wie Elena Fitzthum (2003) im Rahmen ihrer historischen Forschungen zu den Wurzeln der europäischen Musiktherapie dargelegt hat, handelt es sich auch bei der Karriere von Koffer-Ullrich nicht um einen Einzel- oder Sonderfall. Viele Protagonistinnen, die die Anfänge der Rhythmik und die Musiktherapie im deutschsprachigen Raum geprägt haben, stammten wie Koffer-Ullrich aus gutbürgerlichen Verhältnissen, waren sehr gut ausgebildet – v.a. Musikerinnen und Pädagoginnen – und von der Geisteshaltung der Reformbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beeinflusst  : »Eine bewusste Abkehr von erstarrten Lebens- und Umgangsformen vereinte ab nun die Reformer_innen, egal, ob es um die Suche nach neuen Wegen in der Kunst ging, ob man mit tradierten Formen zwischenmenschlicher Beziehungen brechen wollte oder ob die Sehnsucht nach einer neuen Qualität des Seins die Motivation bildete.« (Fitzthum 2003, 21)

Diese historischen Zusammenhänge wie auch die dominante patriarchale gesellschaftliche Grundstruktur sind für das Verständnis der Entstehung und der 112

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

Abb. 2 Historisch-biographische Entwicklungslinien der Wiener Musiktherapie

weiteren Entwicklung der Professionalisierung der Wiener Musiktherapie von großer Bedeutung (siehe Abbildung 2).

Musiktherapie – ein »Frauenberuf«  ? In einer Fragebogenerhebung zur Situation der Musiktherapie in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie (Stegemann et al. 2008) wurden Musiktherapeut_innen u.a. zu ihrem persönlichen und beruflichen Hintergrund und zu ihrer Arbeitssituation befragt. Die zentralen Ergebnisse dieser Untersuchung haben wir – in etwas pointierter Form – folgendermaßen zusammengefasst (vgl. auch Abbildung 3)  : »der ›durchschnittliche Musiktherapeut‹ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist weiblich, 41 Jahre alt, spielt Klavier als Hauptinstrument und hat einen Diplom-Abschluss an einer Fachhochschule absolviert. Die therapeutische Arbeit 113

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

Abb. 3 Der »durchschnittliche« Musiktherapeut ist weiblich … (Idee  : Thomas Stegemann, Zeichnung  : Christine Mauch 2007)

ist tiefenpsychologisch/analytisch ausgerichtet und wird überwiegend als aktive Musiktherapie im erlebniszentrierten Einzelsetting durchgeführt. Die Musiktherapeutin befindet sich in einer Festanstellung (BAT IVb) und verfügt – bei überdurchschnittlicher Arbeitszufriedenheit – über eine Berufserfahrung von mehr als zehn Jahren« (Stegemann et al. 2008, 261).

Auch der überwiegende Anteil der Teilnehmer_innen der Befragung waren Frauen (56 %). Bei einem großen internationalen Musiktherapie-Kongress, der im Juli 2016 in Wien stattfand (www.emtc2016.at), lag das Verhältnis der Teilnehmer_innen bei ca. 75  :25 zugunsten der Frauen. Der Überhang von Frauen in der Musiktherapie ist typisch für den musiktherapeutischen Beruf, wie auch die Zahlen aus Österreich widerspiegeln. Hier beträgt das Verhältnis von Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten laut Musiktherapeut_innen-Liste 78 % zu 22 % – d.h. von 413 eingetragenen Musiktherapeut_innen in Österreich sind 324 weiblichen und 89 männlichen Geschlechts (Stand Mitte April 2019  ; http:// musiktherapie.ehealth.gv.at/). Aus den Ergebnissen der jüngsten Berufsgruppenumfrage aus dem Jahr 2018 lässt sich erkennen, dass Männer besonders in den 114

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

Abb. 4 Alters- und Geschlechtsstruktur bei österreichischen Musiktherapeut_innen (aus  : Phan Quoc/Riedl/Smetana/Stegemann im Druck)

Altersgruppen zwischen 30 und 49 Jahren deutlich unterrepräsentiert sind (siehe Abbildung 4). Dass diese Tendenzen nicht nur für die deutschsprachigen Länder zutreffen, belegen Untersuchungen beispielsweise aus Nordamerika. In einer groß angelegten Umfrage aus dem Jahr 2013 von Sandra Curtis kommt die Autorin zu dem Schluss  : »Present-day men and women respondents’ experiences reflect more commonalities, differing only in that the men are older, more educated, more often in academic settings, and higher paid.« (Curtis 2013, 386)

Zu Genderaspekten in der Musiktherapie Nach obiger Einleitung mit einem kurzen Portrait des Berufsbildes Musiktherapie und einem Abriss zur Geschichte der Wiener Musiktherapie-Ausbildung an 115

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

der mdw sowie der berufspolitischen Situation sollen im Weiteren einige zentrale Fragen zu Genderaspekten in der Musiktherapie behandelt werden. An erster Stelle steht die Frage, wie es zu einem Überwiegen von Frauen in sozialen, psychosozialen und medizinischen Berufen kommt. Ein erhöhter Frauenanteil zeigt sich nicht nur im Arbeitsfeld Musiktherapie, sondern generell in sozialen, psychosozialen und medizinischen Berufen. Selbst die Medizin – seit ihrer Akademisierung im 19. Jahrhundert ein eher männlich geprägtes Berufsfeld – »wird weiblich«, wie im März 2016 das Deutsche Ärzteblatt vor dem Hintergrund von über 60% weiblichen Medizinstudierenden konstatierte. Mögliche Gründe für diesen seit den 1970er-Jahren so signifikant verstärkten Andrang von jungen Frauen an die Universitäten lassen sich historisch gesehen mit Forderungen nach besserer und höherer Bildung für Mädchen und Frauen in der ersten und zweiten Welle der Frauenbewegung beantworten  : In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich liberal-bürgerliche wie auch sozialistische Frauenorganisationen intensiv mit der Rolle von Frauen in der Gesellschaft. Im Vordergrund standen der Kampf um Wahlrecht, Gleichberechtigung und Anerkennung (vgl. Frey Steffen 2006  ; vgl. Haug 2008) und in weiterer Folge das Streben nach mehr Individualität (vgl. Butler 1991). Frauen begannen damals, sich – auch öffentlich – mit der eigenen Identität und dem sozialen Umfeld auseinanderzusetzen. Dabei kamen insbesondere soziale und selbstreflexive Qualitäten zum Tragen. Die Tatsache, dass diese Eigenschaften im sozialen, psychosozialen und medizinischen Bereich einen wichtigen Stellenwert einnehmen, kann mit als Erklärung dienen, warum in diesen Bereichen der Frauenanteil aktuell so hoch ist. Die jedoch (damals) vorherrschende patriarchale Grundstruktur sowie die unzureichenden Möglichkeiten, als Frau einen akademischen Zugang zu erlangen, hatten zur Folge, dass jene Kompetenzen, die Frauen im Zuge der ersten Welle der Frauenbewegung entwickelten bzw. für sich entdeckten, erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Praxis umgesetzt und weiter entfaltet werden konnten. Zum anderen ist die Kategorie Geschlecht wesentlich sozial konstruiert. Bereits Simone de Beauvoir meinte  : »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es« (2008 [frz. Orig. 1948], 334). Die Wurzeln für männlich und weiblich konnotiertes Verhalten liegen demnach bereits in der sozial-kulturellen Umgebung jedes Säuglings. Es kann davon ausgegangen werden, dass Kinder von klein auf lernen, wie sie sich als Mädchen und Buben bzw. später als Frauen und Männer zu verhalten haben. Aus einer Reihe von Forschungsergebnissen geht z.B. hervor, dass in der Interaktion mit kleinen Mädchen häufiger deren emotionales Befinden thematisiert wird als mit Jungen (vgl. Maccoby 2000). Bi116

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

schof-Köhler (2004) beschreibt in »Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede«, dass Mädchen auch kulturübergreifend verstärkt zu hilfsbereitem – sozialen – Handeln erzogen werden. So ist es naheliegend, dass sich Mädchen in Folge verstärkt für Sozial- und Gesundheitsberufe interessieren, da dies noch immer den vom sozialen Umfeld weitergetragenen traditionellen Rollenbildern von Frauen entspricht. Es ist aber nicht naheliegend, dass diese Berufe ein so deutlich geringeres Lohnniveau aufweisen als etwa technische Berufe. Dafür zeichnet vor allem ein von Menschen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft hergestelltes, auf Ungleichheit abzielendes gesellschaftliches Bewertungssystem verantwortlich. Solche sozioökonomischen Komponenten dürfen bei der Untersuchung von Genderaspekten im Kontext der Berufswahl als Musiktherapeut_in nicht außer Acht gelassen werden. Mit der Zeit haben sich die Bilder von Frauen in der Gesellschaft insofern verändert, als diese nicht mehr ausschließlich die Aufgabe als Mutter und Hausfrau zum Inhalt haben, und auch in politischen Kämpfen forderten Frauen Zugang zu höherem Wissen und mehr Selbstbestimmung. Dennoch scheint der Wunsch nach einer Familie, einhergehend mit der Notwendigkeit, Familie und Karriere verbinden zu können, derzeit groß zu sein. Mit einem Teilzeitjob,6 der tendenziell in sozialen Berufen leichter zu bewerkstelligen ist als z.B. in der Privatwirtschaft, erscheinen diese Vorstellungen leichter umsetzbar. Da es außerdem im Sozial- und Gesundheitsbereich kaum Aufstiegschancen gibt und die Bezahlung im Gegensatz zu anderen – insbesondere technischen – Berufssparten weiterhin oftmals geringer ist, scheinen die sozialen, psychosozialen und medizinischen Berufe für Männer weniger attraktiv zu sein. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Auswirkungen die zunehmende Präsenz von Frauen bzw. das zunehmende Fehlen von Männern auf therapeutische Prozesse hat. Welche gesellschaftlichen Wertvorstellungen spiegeln sich hier wider, welche Vorbilder werden kreiert bzw. drohen verloren zu gehen  ? In der Musiktherapie zeigt sich nicht nur auf der Seite der Therapeut_innen ein erhöhter Anteil von Frauen, sondern auch auf der Seite der Patient_innen. Die in der Diplomarbeit »Musiktherapie aus der Genderperspektive. Der Einfluss der Geschlechtsidentitäten von Therapeut_innen und Patient_innen auf den musiktherapeutischen Prozess« (Reiter 2015) interviewten Musiktherapeut_innen begründen dies mit einem stärkeren Gesundheitsbewusstsein von Frauen und der Meinung, dass sich Frauen aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation dem emotionalen Bereich näher fühlen und dadurch einen leichteren Zugang zum musiktherapeutischen Setting finden, als Männer es in der Regel 117

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

tun. Bei Männern zeichnete sich – so die interviewten Musiktherapeut_innen – eine weitaus höhere Hemmschwelle ab, therapeutische Angebote zu nutzen, da dies als Zeichen von Schwäche, als »unmännlich, als weiblich« interpretiert werden könnte. Auch das kann wieder als ein Beispiel dafür verstanden werden, dass die Geschlechterzugehörigkeit keine feststehende, sondern eine täglich neu hergestellte ist (vgl. Butler 1991). Ein Interviewpartner bestätigte die dichotome Lesart der Musiktherapie, wenn er meinte  : »Musiktherapie spricht etwas an, was zumindest von unseren Prägungen her etwas Weibliches ist, was die ganze Emotionalität, die Kreativität, die Wahrnehmung nach innen anbelangt« (Reiter 2015, 54). So steht der Begriff »Frauenberuf« also nicht nur für ein aufgrund gesellschaftlich-kultureller Produktions- und Reproduktionsverhältnisse frauendominiertes Arbeitsfeld, sondern auch für ein Therapieangebot, das in der Praxis tendenziell mehr Frauen als Männer anspricht (vgl. Reiter 2015). Jedoch kann sich die Arbeitsweise im therapeutischen Setting unabhängig von den Geschlechtsidentitäten der Therapeut_innen verschieden gestalten. Sowohl Therapeuten als auch Therapeutinnen können für ihre Patient_innen Vorbilder sein, festgefahrene Muster verändern und neue, unerwartete Impulse geben. Sie können rational, strukturiert und konfrontativ arbeiten oder aber auch verstärkt die emotionalen Komponenten hervorheben, den freien und offenen verbalen und musikalischen Ausdruck der Gefühle anregen und unterstützen. Geschlechterrollen, von Männern ebenso wie von Frauen, können somit aufgeweicht und erweitert werden. Grundsätzlich arbeiten Musiktherapeut_innen sowohl in geschlechtshomogenen als auch in geschlechtsheterogenen Settings7 und sind somit gefordert, eine flexible Haltung einzunehmen, um eine tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen, um empathisch zu sein und um auf die individuellen Bedürfnisse der Patient_innen eingehen zu können. In Anlehnung an das Androgyniekonzept von Sandra Bem aus den 1980er-Jahren wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch ein unterschiedliches Maß an weiblichen und männlichen Anteilen in sich trägt. Bei allgemein sowohl hohen weiblichen als auch männlichen Selbstzuschreibungen wird von einem androgynen Typus gesprochen, dem nach Dorothee Alfermann (1996) ein breiteres und somit auch flexibleres Spektrum von Handlungsalternativen zur Verfügung steht. So sind auch in manchen Therapiesequenzen einmal die mit dem einen Geschlecht konnotierten menschlichen Qualitäten gefragt, dann wieder andere. Kritisch zu betrachten sei dabei, nach welchen Kriterien diverse Charaktereigenschaften der Kategorie »weiblich« bzw. »männlich« zugeordnet werden. 118

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

So beschreibt es auch die Musiktherapeutin Scheytt-Hölzer  : »Ich kann auf eine solche oder eine andere Art Frau sein, eine mütterliche, eine forsche, eine zurückhaltende. Darüber ›entscheide‹ nicht ich allein. Auch die Erwartung der Patientin an die Therapeutin wird an dieser Stelle wirksam.« (Scheytt-Hölzer/ Hegi 2002, 4) Trotz der flexiblen Haltung der Musiktherapeut_innen können aufgrund der jeweiligen Geschlechterkonstellation und der möglicherweise daraus resultierenden Genderkonflikte bestimmte Themen oder besonders körpernahe Inhalte nicht bzw. schwer bearbeitet werden (vgl. Schigl 2012). An dieser Stelle wird es als besonders wichtig erachtet, zu überlegen, in welcher Geschlechterkonstellation musiktherapeutisch gearbeitet wird bzw. diese Thematik im Therapieprozess entsprechend zu reflektieren. Reichel und Hintenberger (2013) haben gendersensible Themen in der Therapie zusammengetragen  : – Fragen der Sexualität und des Begehrens (mit allen Varianten ihrer Normungen, Schwierigkeiten, Erfüllungen, besonders sexuelle Grenzüberschreitungen und Traumatisierungen)  ; – Fragen des Selbstwerts, der Scham in Bezug auf Schönheit und (erotische) Attraktivität für Patient_in und deren Geschlechtspartner_in  ; – Themen der sexuellen Orientierung  ; – Probleme mit Fruchtbarkeit und Reproduktion, Erkrankungen der Geschlechtsorgane  ; – Probleme in Paarbeziehungen wie Trennung, Treue/Untreue, (vergebliche) Werbung, psychische und physische Gewalt im sozialen Nahraum  ; – Problemkonstellationen hinsichtlich der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wie Pflege von Angehörigen, Kindererziehung, Hausarbeit, berufliche Karriere, Teilzeit- oder Vollzeitarbeit  ; Einheiraten in bestimmte Milieus etc.; – Umgang mit Selbstbehauptung, Konkurrenz, Macht und Aggression, Täter_ in oder Opfer sein. In der Auseinandersetzung mit Genderaspekten in der Musiktherapie wird abschließend untersucht, wie es um die Thematisierung bzw. Erforschung von Genderaspekten in der Musiktherapie steht. Bei der Suche nach genderspezifischen Aspekten in der musiktherapeutischen Literatur zeigt sich ein großer Nachholbedarf. Eine der wenigen Musiktherapeut_innen, die sich intensiv damit auseinandersetzt, ist Susan Hadley, die sich viel mit feministischen Ansätzen in der Musiktherapie beschäftigt und auch das Standardwerk »Feminist Perspectives in Music Therapy« (2006) herausgegeben hat. Sie vertritt die Meinung, dass das 119

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

Genderbewusstsein in der Forschung und auch in der Praxis noch unzureichend vorhanden ist. In einem Kapitel im »Oxford Handbook of Music Therapy« ( Jane Edwards 2016) geben Susan Hadley und Nicole Hahna einen sehr aufschlussreichen historischen Überblick über die Anfänge der »feminist informed music therapy«. Als eine der ersten Musiktherapeutinnen, die sich wissenschaftlich mit der Thematik beschäftigt hat, wird Michelle Ann Heineman (1982) erwähnt, die sich u. a. mit den Gründen für die Unterrepräsentation von Frauen in führenden Positionen in der Musiktherapie auseinandergesetzt hat. Als eine weitere frühe Protagonistin wird Sue Baines zitiert, die in ihrer Masterarbeit (1992) schreibt  : »[…] feminist framing assist in building a more ethically sensitive practice that involves itself in the personal problems of the client as well as the social problems that often cause, exacerbate, or reinforce the oppression, disempowerment, and individual pain of the client.« (Baines 1992, 2) Basierend auf den Prinzipien der feministischen Therapie (vor dem Hintergrund der dritten Welle der Frauenbewegung) hat – wiederum etwa 10 Jahre später – Sandra Curtis (2000) ein spezifisches Behandlungsmodell zum »Empowerment« und zur Förderung des Selbstbewusstseins von Frauen entwickelt, die von ihren männlichen Partnern/Ehemännern missbraucht worden sind. In diesem Ansatz werden u.a. Songwriting und Liedtextanalysen angewendet, um Themen wie Autonomie, Unabhängigkeit, Unterdrückung und Geschlechterrollen aufzugreifen und die Frauen in ihrem Erleben, ihrer Selbstständigkeit und ihrer Handlungsfähigkeit zu unterstützen. In einer späteren Arbeit (2006) hebt Curtis Grundsätze aus der feministischen Therapie hervor, die auch für die feministisch orientierte Musiktherapie relevant sind. Es geht dabei darum, dass a) diverse Körper-, Lebens- und Beziehungserfahrungen der Frauen in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext verstanden werden, b) eine betont antihierarchische und egalitäre therapeutische Beziehung angestrebt wird, um das Machtgefälle möglichst gering zu halten und c) Frauen besonders in der Konstellation Therapeutin/Patientin eine gute weibliche Identität entwickeln, da sie sich nicht im Vergleich zu Männern wahrnehmen, sondern sich aufeinander beziehen und sich wertschätzend und stützend begegnen können (vgl. Schigl 2010). Während besonders im angloamerikanischen und skandinavischen Raum zunehmend gender-bezogene Themen in der Musiktherapie bearbeitet werden – beispielsweise in einer neueren Publikation zu Genderaspekten der E-Gitarre in der Musiktherapie (Halstead/Rolvsjord 2017)  – ist im deutschsprachigen Bereich das Thema wenig präsent. Von Margit Bürger (2004) gibt es eine Dip120

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

lomarbeit mit dem Titel »Geschlechterthemen in der Musiktherapie«, in der sie eine umfassende Literaturrecherche zu dieser Thematik durchgeführt hat. Gitta Strehlow (2010) hat in ihrer Dissertation verschiedene Interaktionsmuster mit Patientinnen, die an einer Borderline-Störung leiden, herausgearbeitet. Des Weiteren gibt es einen Beitrag von Luisa Künzel und Susanne Metzner (2011) in der »Musiktherapeutischen Umschau«  : Mithilfe einer Datenbankrecherche gehen sie der Frage nach, inwieweit Gender-Aspekte in den musiktherapeutischen Behandlungen von Mädchen im Zeitraum von 1990–2009 berücksichtigt wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass sich in den herangezogenen Quellen kaum geschlechterspezifische Einstellungen, Wahrnehmungen oder auch Interpretationsmuster erkennen lassen. Ebenso wird aber auch vermerkt, dass weder offen noch verdeckt pejorative weibliche Geschlechtsstereotype zum Ausdruck gebracht wurden. Darüber hinaus wurde in der Schweiz eine Masterarbeit von Oliver Posch mit dem Titel »Gendermusiktherapie mit Knaben« publiziert (2014). In einem Pilot-Projekt an einer heil- und sozialpädagogisch ausgerichteten Tagesschule wurde die »Rollenflexibilität von Jungs« untersucht. Durch die musiktherapeutische Arbeit  – Trommeln, freie Improvisation, Rollenspiele zu Archetypen etc. – konnte eine Differenzierung von Rollenbildern sowie ein respektvolleres Miteinander erzielt werden. In der Diplomarbeit der Wiener Absolventin Ruth Perfler werden mittels qualitativer Inhaltsanalyse gendersensible Aspekte in Falldarstellungen zu Musiktherapie mit Betroffenen sexualisierter Gewalt untersucht (Perfler 2017). In den Ergebnissen zeigt sich, dass sich die Musiktherapeut_innen auf verschiedenen Ebenen mit dem Thema Geschlecht beschäftigen, z.B. bei Überlegungen zum Setting, im praktisch-musiktherapeutischen Vorgehen oder in den von den Patient_innen eingebrachten Themen. Darüber hinaus beeinflussen die Geschlechtsidentitäten der am Therapieprozess Beteiligten bestimmte Phänomene in der musiktherapeutischen Beziehung (z.B. Übertragungsgeschehen). Musik – als künstlerisches Medium in der Therapie – kann nach Perfler (2017) eine hilfreiche Funktion einnehmen, indem Musik z.B. Verbindung zu eigenen Erfahrungen schafft, »Machtgefälle« in der Therapie durch Musik als »CoTherapeutin« ausgeglichen werden können und Musik auch Erfahrungen von Ermächtigung und Selbstbestimmung ermöglichen kann. Auf internationalen Musiktherapie-Tagungen der letzten Jahre tauchen »Gender-« bzw. »Queer-Themen« vermehrt auf  : Beim Musiktherapie-Weltkongress 2014 in Krems referierte Sandra Curtis über ihre musiktherapeutische Arbeit mit missbrauchten Frauen. An gleicher Stelle sprachen Uri Aronoff und 121

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

Avi Gilboa über die musiktherapeutische Arbeit mit Homosexuellen im Coming-out-Prozess. Bei der Tagung »Gender auf der Agenda« in Berlin (2013) lieferte Werner Rosen einen Beitrag zum therapeutischen Umgang mit Intersexualität. Ein ganzer Vormittag mit drei Vorträgen war dem Thema Homosexualität beim 10. Europäischen Musiktherapiekongress im Sommer 2016 in Wien gewidmet  : Benjamin Leske referierte zur Bedeutung eines homosexuellen Chores für seine Mitglieder in Melbourne  ; Judy Antebi und Avi Gilboa berichteten unter dem Titel »Composing out«, welche Rolle Musik und Komponieren für schwule und lesbische Musiker_innen im Zusammenhang mit ihrer sexuellen Identitätsfindung spielte  ; Uri Aronoff stellte seine musiktherapeutische Arbeit mit einer Gruppe homosexueller Männer in Tel Aviv vor. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Thematisierung und Erforschung von Gender- und Queerthemen über die letzten Jahrzehnte zugenommen hat, dass es aber letztlich eine relativ kleine Gruppe von Musiktherapeut_innen ist, die zu dieser Thematik forscht und publiziert.

Ergebnisse einer Diplomarbeit zu Genderaspekten in der Musiktherapie Nach der obigen Literaturübersicht, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, jedoch den Nachholbedarf sehr deutlich werden lässt, sollen im Folgenden ausführlicher die Ergebnisse der Diplomarbeit von Raphaela Reiter referiert werden. Der Titel der Arbeit, mit der die Autorin 2015 ihr Musiktherapiestudium an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien abgeschlossen hat, lautet  : »Musiktherapie aus der Genderperspektive. Der Einfluss der Geschlechtsidentitäten von Therapeut_innen und Patient_innen auf den musiktherapeutischen Prozess«. Dazu wurden im empirischen Teil Interviews mit je zwei weiblichen und männlichen Musiktherapeut_innen, die im psychiatrischen bzw. psychosomatischen Erwachsenenbereich im Einzelsetting arbeiten, durchgeführt. Die Interviews wurden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Dazu wurde ein Kategoriensystem erstellt. Dieses bestand einerseits aus Kategorien, die allgemeine, unspezifische Themen behandelten und bereits im Interviewleitfaden angelegt waren, andererseits aus acht spezifischen Phänomenen, die anhand der transkribierten Interviews herausgearbeitet werden konnten. 122

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

Die in weiterer Folge dargestellten Ergebnisse können aufgrund der kleinen Stichprobe nur als Tendenz gesehen werden. Für eine noch differenziertere und verallgemeinerbare Darstellung wäre eine weitere Auseinandersetzung mit der Thematik einschließlich einer höheren Stichprobe erforderlich. Dennoch wurde versucht, Parallelen, Überlappungen und Differenzen in den Aussagen der Befragten zusammenzufassen und auf die Fragestellungen hin auszuwerten. Aus Sicht der Therapeut_innen wird der Begriff Geschlechtsidentität auf drei Ebenen beschrieben  : auf einer biologischen, auf einer sozialen und einer individuellen. In Bezug auf das biologische Geschlecht wird vor allem auf das morphologische Geschlecht hingewiesen. Auf der sozialen Ebene kommt dem sozio-kulturellen Umfeld besondere Relevanz zu, da es dafür verantwortlich ist, in welcher Form Geschlechterstereotypien zugeschrieben werden und in welchem Ausmaß dies getan wird. Die individuelle Ebene ist geprägt durch das Entwickeln, Erleben und Wahrnehmen der eigenen Geschlechtlichkeit. Diverse geschlechtsspezifische Annahmen, die genannt wurden, machen sich auch in der therapeutischen Haltung bemerkbar. So ist es zwar das Ziel der Therapeut_innen, die Patient_innen vorrangig als Menschen und nicht als Frauen und/oder Männer zu betrachten, die Geschlechtsidentitäten der Patient_innen beeinflussen jedoch die therapeutische Haltung auf einer meist subtilen bzw. unbewussten Ebene. Beim Versuch, sich näher mit dieser subtilen Ebene auseinanderzusetzen, um mehr Bewusstsein und Klarheit für diverse musiktherapeutische Interaktionen und Prozesse zu gewinnen, konnten acht Phänomene herausgearbeitet werden, die in verschiedenen Geschlechterkonstellationen auf verbaler, musikalischer und/oder atmosphärischer Ebene gehäuft auftreten. Mit dem Wissen um diese geschlechtsspezifischen Phänomene können Therapeut_innen Handlungsweisen, Stimmungen und auftauchende Themen besser verstehen und ggf. entsprechend intervenieren. 1. Das Gefühl der Verbundenheit  : Dieses Phänomen taucht verstärkt in geschlechtshomogenen Settings auf und zeigt sich vor allem auf verbaler und atmosphärischer Ebene. Eine wichtige Komponente ist dabei das Verständnis, das Therapeut_innen ihren Patient_innen aufgrund oft ähnlicher geschlechtsspezifischer Vorerfahrungen oder Einstellungen entgegenbringen (können). Therapeut_innen können in solchen Situationen eine Vorbildfunktion übernehmen. Ebenso kann dieses scheinbar Gemeinsame aber auch dazu führen, dass sich Patient_innen mit ihren Therapeut_innen verbünden wollen und sich als Kollektiv sehen. Für Therapeut_innen ist es in Folge schwieriger, neue Impulse oder Denkanstöße einzubringen, die eventuell bislang nicht den jeweiligen Ge123

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

schlechterrollen der Patient_innen entsprochen haben. Eine wichtige Aufgabe der Therapeut_innen ist es in diesen Fällen, stets die Individualität aller Beteiligten trotz gleichen Geschlechts deutlich zu machen. 2. Nähe-Distanz  : Wo eine Verbundenheit spürbar ist, kann auch Nähe entstehen. Diese Nähe wird vor allem im weiblichen geschlechtshomogenen Setting auf musikalischer und verbaler Ebene hörbar. Eine bestimmte Form der Distanz hingegen wird in geschlechtsheterogenen Settings beschrieben, insofern, als Therapeut_innen in diesen Settings vorweg eine gewisse Distanz herstellen bzw. im weiteren Therapieverlauf wahren, um mögliche Missverständnisse oder etwaige Übergriffe vermeiden zu können. Dies wird einerseits in Form einer räumlichen Distanz erkennbar, andererseits anhand musikalischer Spielweisen, die oftmals eine klare Struktur und Abgrenzung aufweisen. Da Nähe und Distanz als Bipolaritäten fungieren, bedarf es bei einem Ungleichgewicht bestimmter Interventionen vonseiten der Therapeut_innen, die einen Ausgleich  – mit teilweise konfrontativer Wirkung – ermöglichen. Nur so kann eine tragfähige therapeutische Beziehung entstehen bzw. bestehen bleiben. 3. Geschlechterspannung  : Diese Spannung wird verstärkt in beiden geschlechtsheterogenen Settings aufgrund der biologischen bzw. sozial konstruierten Unterschiede zwischen Therapeuten und Patientinnen bzw. Therapeutinnen und Patienten auf der atmosphärischen Ebene spürbar. In diesem Spannungsverhältnis sind Therapeut_innen gefordert, sehr wach und aufmerksam zu sein. Mit dem dazugehörigen Wissen über geschlechtsspezifische Unterschiede können so auftauchende Spannungen besser wahrgenommen und genutzt werden. 4. Sexualität  : Hier handelt es sich einerseits um das Verbalisieren von sexuellen Themen, das verstärkt in geschlechtshomogenen Settings auftaucht. Dabei ist es wichtig, dass Therapeut_innen den Patient_innen einen vertrauensvollen, geschützten Rahmen anbieten, um dieses Verbalisieren zu ermöglichen. Andererseits wird eine sexuelle Spannung beschrieben, die auf atmosphärischer Ebene vor allem in geschlechtsheterogenen Settings auftaucht, vorausgesetzt es handelt sich dabei um Personen mit heterosexueller Orientierung. Diese Spannung wird bis zu einem gewissen Grad als eine »natürliche Dynamik« zwischen Frauen und Männern gesehen. Nimmt diese jedoch ein Ausmaß an, das nicht mehr der therapeutischen Rollenaufteilung der Beteiligten entspricht und auch nicht auf musikalischer Ebene bearbeitet werden kann, muss das Phänomen angesprochen werden. Ein gutes Reflektieren und Einordnen der eigenen Gefühle der Therapeut_innen ist dabei sehr wichtig. 5. Macht-Ohnmacht  : Traditionsgeprägt spielt das Thema Macht vorwiegend in der Arbeit mit Patienten eine Rolle und zeigt sich vor allem in Form von 124

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

musikalischen Konkurrenzsituationen. Im Gegensatz dazu ist auf musikalischer Ebene in der Arbeit mit Frauen das Thema Ohnmacht präsenter. Patientinnen werden in ihrem scheinbaren Gefühl der Ohnmacht zunächst gestützt und ermutigt. In weiterer Folge werden musiktherapeutische Techniken wie Spiegeln, Provozieren und Konfrontieren sowohl bei Patienten als auch Patientinnen angewendet, um ihnen aus den (möglicherweise) festgefahrenen Mustern ihrer Geschlechterstereotypien zu verhelfen. In der Arbeit mit Patientinnen geht es oft darum, selbstständig handeln zu können und Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. So kann z.B. in einer Improvisation die STOP-Regel als Interventionstechnik eingebracht werden, um Patientinnen das Gefühl von Selbstkontrolle und (Rück-)Erlangung von Handlungskompetenz zu vermitteln (Sonntag/Jücher 2007). 6. Kontaktgestaltung  : In der Arbeit mit Patienten zeigt sich – aufgrund von nach wie vor dominierenden bipolaren Geschlechterstereotypien  – die Kontaktgestaltung auf einer vorwiegend kognitiv-rationalen Ebene und wird somit vor allem im Verbalen deutlich. So werden in diesen Settings verstärkt strukturierte und direktive Vorgehensweisen eingesetzt, um den Wechsel von der kognitiven und verbalen hin zur emotionalen Ebene zu erleichtern. In der Arbeit mit Patientinnen hingegen ist es tendenziell rascher möglich, einen Kontakt auf musikalischer Ebene aufzubauen. Dabei wird ein leichterer Zugang zum emotionalen Bereich gefunden. Diesbezüglich darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass jede Kontaktgestaltung abseits der jeweiligen Geschlechtsidentitäten von den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen der Patient_innen und den unterschiedlichen ihnen zugeschriebenen Diagnosen beeinflusst wird. 7. Musikalischer Ausdruck  : Auch wenn davon ausgegangen wird, dass Patient_innen ihren individuellen musikalischen Ausdruck haben, so wird dennoch eine Neigung dahingehend beschrieben, im männlichen geschlechtshomogenen Setting verstärkt mit Rhythmus und Struktur zu arbeiten. Patienten geht es oftmals darum, etwas darzustellen, präsent zu sein. Als mögliche Ursache wird dafür die genetische und körperliche Ausstattung eines Mannes genannt. Bei Patientinnen hingegen wird diese Prägung mehr auf der klanglichen Ebene deutlich, dort wo Struktur weniger eine Rolle spielt, wo es um einen bunten und gefühlvollen Ausdruck geht. Therapeut_innen begegnen ihren Patient_innen daher auch oftmals auf der entsprechenden Ebene, wenn sie musiktherapeutische Angebote setzen. 8. Übertragungsphänomene  : Wenn auch nicht explizit beschrieben, kann davon ausgegangen werden, dass verschiedene Übertragungsphänomene auf allen Ebenen und in jeder Geschlechterkonstellation auftauchen können. Einen Ein125

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

flussfaktor für ein solches Auftauchen stellt dabei wohl die Geschlechtsidentität der Therapeutin bzw. des Therapeuten dar. Im Zuge der Interviews wurde deutlich, dass es interaktive Unterschiede in den verschiedenen Geschlechterkonstellationen gibt und gendersensible und -kompetente Ansätze in den Denk- und Handelsmustern der Therapeut_innen erkennbar sind, wenn es darum geht, Gründe für bestimmte Verhaltensweisen zu suchen und Möglichkeiten zu finden, wie tradierte Geschlechterrollen aufgeweicht werden können. Eine Musiktherapeutin meinte zu diesem Thema  : »Ich kann es gar nicht in Worte fassen, weil so viel passiert im Moment und dann schon wieder vorbei ist und viel Atmosphäre bleibt.« Es zeigt sich jedoch auch die teilweise weiter bestehende heteronormative Denkweise der interviewten Musiktherapeut_innen und es wird deutlich, wie schwer es ist, diese abzulegen bzw. zu verändern. Daher scheint es besonders wichtig, das eigene Bewusstsein, die eigene Sensibilität immer wieder zu schulen und darauf zu achten, welche Auswirkungen die Begegnung von Frauen und/oder Männern auf die jeweilige musiktherapeutische Interaktion haben kann.

Konklusion und Ausblick Es zeichnet sich immer wieder ab, dass die Musiktherapie viele menschliche Qualitäten beinhaltet, die tendenziell weiblich konnotiert sind, eher Frauen zugeschrieben werden. Daher könnte die Frage »Ist die (Musik)-Therapie weiblich  ?« grundsätzlich mit »ja« beantwortet werden, wenn damit gemeint ist, dass mehr Frauen diesen Beruf ausüben. Die Musiktherapie wird zudem im Sinne von traditionell-bipolaren Geschlechterstereotypien oft als »weiblich« angesehen, was aber nicht heißt, dass die Therapie weiblich ist, sondern dass sie als »weiblich« empfunden wird, weil mehr Frauen als Männer in diesem Bereich tätig sind. Klar festgestellt werden kann, dass in jedem musiktherapeutischen Setting unterschiedliche Geschlechterkonstellationen vorkommen, verschiedene Persönlichkeiten aufeinander treffen, die unterschiedliche Dynamiken entstehen lassen können. Ein wesentlicher Einflussfaktor ist die Haltung der Therapeut_innen und diese kann, unabhängig davon, ob es sich dabei um Therapeuten oder Therapeutinnen handelt, empathisch, distanziert, strukturiert oder fürsorglich sein, sie wird weder »weiblich« noch »männlich« sein, weil Therapeut_innen daran arbeiten, dass sich ihre Patient_innen als individuelle, selbständige Personen mit persönlichen Zielen wahrnehmen lernen, die mit traditionellen Geschlechterrollenerwartungen überein stimmen können, aber nicht müssen. 126

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

Gendersensibilität und Genderkompetenz sind besonders wichtig im therapeutischen Setting, um gewisse Inhalte und Dynamiken, die mit den Geschlechtsidentitäten der Therapeut_innen und Patient_innen zu tun haben, besser verstehen und adäquat darauf reagieren zu können. Das Zitat von Sandra Curtis (2013), das wir diesem Beitrag vorangestellt haben, sagt zum einen etwas ganz Wichtiges und Zentrales aus, indem es »feminist informed music therapy« aus der »Feministinnen-Ecke« herausholt und die Relevanz – sie spricht mehr noch vom »ethischen Imperativ« – für jede Musiktherapeutin und jeden Musiktherapeuten betont. Gleichzeitig manifestiert sich in diesem Zitat ein dichotomes Denken (Frau – Mann), das zumindest fragwürdig und vor dem Hintergrund der Queer Studies überholt erscheint. Die ethische Dimension kommt auch zum Tragen, wenn man die vom Bundesministerium für Gesundheit und Frauen herausgegebene Ethik- und Berufsrichtlinie für Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten8 ernst nimmt, in der es unter 5.2. »Grundsätze zur musiktherapeutischen Beziehung« heißt  : »Musiktherapeutinnen/Musiktherapeuten verpflichten sich, in der therapeutischen Beziehung zu behandelten Personen mit dem besonderen Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis verantwortungsvoll umzugehen. […] Sie enthalten sich jeglicher Diskriminierung von Patientinnen/Patienten und Klientinnen/Klienten.« Etwas pointiert oder provokant könnte man sagen  : Die Diskriminierung geht dort los (oder eben weiter), wo die Theorien und Ansätze, die sich die Abschaffung von Diskriminierung zum Ziel gesetzt haben, nicht oder kaum rezipiert werden. Das bedeutet natürlich auch, dass diesem Thema in der musiktherapeutischen Ausbildung und Forschung mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Dies ist ansatzweise geschehen – z.B. durch Diplomarbeiten mit diesem Fokus, durch Vorträge im Rahmen der Musiktherapeutischen Ringvorlesung oder aber auch durch die Verankerung von Gender Studies im Studienplan des Doktoratsstudiums  – aber es gibt sicherlich noch »Luft nach oben«, wie selbstkritisch angemerkt werden muss. Um zur Frage aus dem Titel zurückzukommen  : Die Musiktherapie ist nicht weiblich – ebenso wenig wie es die Musiktherapie gibt. Es gibt eine große Vielfalt von musiktherapeutischen Ansätzen und Herangehensweisen und die Musiktherapeut_innen täten gut daran, diese Vielfalt zu pflegen und zu kultivieren und sich mit ihrem kreativen Potenzial einer Festlegung und Vereinnahmung – egal von welcher Seite – zu entziehen.

127

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

Anmerkungen 1 Wir danken Julia Fent und Monika Smetana für die kritische Durchsicht einer früheren Fassung des Manuskripts und hilfreiche Anregungen. Elena Fitzthum sei gedankt für Anregungen und Ergänzungen zur Abbildung 2. 2 Bundesgesetz über die berufsmäßige Ausübung der Musiktherapie (Musiktherapiegesetz  – MuthG) https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe  ?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesn ummer=20005868. 3 Auf eine ähnlich lange Tradition können nur die Niederlande (Middeloo, 1965) und England (London, 1968) verweisen  ; erst in den 1970er-Jahren kamen dann weitere Ausbildungen u.a. in Deutschland dazu (siehe Schmid 2014). 4 Der Begriff »Wiener Schule der Musiktherapie« bezeichnet in erster Linie eine Ausbildungstradition, die sich vor dem Hintergrund eines humanistischen Menschenbildes verbunden mit einem tiefenpsychologischen Ansatz aus der klinischen musiktherapeutischen Arbeit heraus entwickelt hat. Die freie Improvisation mit ihrem dialogischen Potenzial stellt das Kernstück der Methodenlehre der Wiener Schule dar (Stegemann 2014, 130). 5 Anna Feichter hat 2017 ihre Diplomarbeit zum Leben und Nachlass von Editha Koffer-Ullrich geschrieben. vgl. Feichter 2017. 6 Es liegen derzeit keine gesicherten Daten zur Häufigkeit von Teilzeitjobs bei Musiktherapeut_ innen vor  ; allerdings ist nach eigener Einschätzung die Beschäftigung auf einer 100%-Stelle in der Musiktherapie eher die Ausnahme als die Regel. 7 Geschlechtshomogenes Setting bezeichnet eine Therapiesituation, in der die Protagonist_innen  – Therapeut_in bzw. Klient_in  – gleichen Geschlechts sind  ; bei unterschiedlichem Geschlecht spricht man von geschlechtsheterogenem Setting. 8 Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, Ethikrichtlinie, Stand der Information 2018, https://www.boep.or.at/download/5bc5b77c3c15c81742000007/ Ethikrichtlinien.pdf.

Literatur Dorothee Alfermann (1996), Geschlechterrollen und geschlechtstypisches Verhalten. Stuttgart Uri Aronoff, Avi Gilboa (2014), The Roles Music Plays For Homosexual In The Coming Out Process. Vortrag beim Musiktherapie-Weltkongress. Krems Simone de Beauvoir (2008 [1948]), Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Erstes Buch. Fakten und Mythen (9. Aufl.). Reinbek b. Hamburg Doris Bischof-Köhler (2006), Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede (3. Aufl.). Stuttgart Judith Butler (1991 [1990]) (übers. aus dem Amerik. v. Kathrina Menke), Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. Main Margit Bürger (2004), Geschlechterthemen in der Musiktherapie. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Hochschule Magdeburg-Stendal

128

Ist die (Musik-)Therapie weiblich?

Sandra Curtis (2013), Women’s Issues and Music Therapists. A Look Forward, in  : The Arts in Psychotherapy, 40(4), 386–393 Sandra Curtis (2013), Sorry It Has Taken So Long. Contiuning Feminist Dialogues in Music Therapy, in  : Voices. A World Forum for Music Therapy 13(1), https://voices.no/index.php/voices/ article/view/2090 (22.07.2019) Sandra Curtis (2014), Music Therapy for Women Survivors of Violence. Vortrag beim Musiktherapie-Weltkongress. Krems Marianne Eberhard-Kaechele, David Aldridge (2011), Das Spezifische der Künstlerischen Therapien, in  : Musiktherapeutische Umschau 32, 193–205 Anna Feichter (2017), Editha Koffer-Ullrich, die Frau, die die österreichische Musiktherapie institutionalisierte. Eine Spurensuche. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Elena Fitzthum (2003), Von den Reformbewegungen zur Musiktherapie  : Die Brückenfunktion der Vally Weigl. (Wiener Beiträge zur Musiktherapie, hg. v. Elena Fitzthum, Dorothea Oberegelsbacher, Dorothee Storz, Bd. 5). Wien Therese Frey Steffen (2006), Gender. Leipzig Susan Hadley (2006), Introduction. Embracing Feminism  : An Overview, in  : Susan Hadley (Hg.), Feminist Perspectives in Music Therapy. Gilsum, 1–35 Frigga Haug (2008), Sozialistischer Feminismus. Eine Verbindung im Streit, in  : Ruth Becker, Beate Kortendick (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 2. erw. u. akt. Aufl. Wiesbaden, 52–58 Thomas Jüchter, Judith Sonntag (2007), Methoden der Musiktherapie mit traumatisierten Menschen, in  : Hanns-Günter Wolf (Hg.), Musiktherapie und Trauma (Beiträge zur Musiktherapie, Bd. 10). Wiesbaden, 89–98 Luisa Künzel, Susanne Metzner (2011), Mädchen in der Kindermusiktherapie, in  : Musiktherapeutische Umschau, 32/1, 22–39 Eleanor Maccoby (2000), Psychologie der Geschlechter. Sexuelle Identität in den verschiedenen Lebensphasen. Stuttgart Susanne Metzner (2007), Von Klippe zu Klippe geworfen jahrelang ins Ungewisse hinab, in  : dies. (Hg.), Nachhall. Musiktherapeutische Fallstudien. Gießen, 83–112 Karin Mössler (2008), Wiener Schule der Musiktherapie  : Von den Pionieren zur Dritten Generation (Wiener Beiträge zur Musiktherapie, hg. von Elena Fitzthum, Dorothea Oberegelsbacher, Dorothee Storz, Bd. 8). Wien Ruth Maria Perfler (2017), Musiktherapie mit Betroffenen sexualisierter Gewalt. Eine qualitative Inhaltsanalyse zu gendersensiblen Aspekten in musiktherapeutischen Falldarstellungen. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Peter Petersen (2002), Künstlerische Therapien  – Vorreiter einer zukünftigen Heilkunde, in  : ders., Forschungsmethoden Künstlerischer Therapien. Stuttgart, 13–29 Eva Phan Quoc, Hannah Riedl, Monika Smetana, Thomas Stegemann, Musiktherapie in Österreich. Ergebnisse einer Fragebogenerhebung zur beruflichen Situation von Musiktherapeut.innen (im Druck). Mary Priestley (1982), Musiktherapeutische Erfahrungen. Stuttgart René Reichel, Gerhard Hintenberger (2013), Die Praxis der Integrativen Therapie. Österreichische Perspektiven. Wien

129

Thomas Stegemann · Raphaela Reiter

Raphaela Reiter (2015), Musiktherapie aus der Genderperspektive. Der Einfluss der Geschlechtsidentitäten von Therapeut_innen und Patient_innen auf den musiktherapeutischen Prozess. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Werner Knut Rosen (2013), Intersexualität als Paradigma  – Leben mit Mehrgeschlechtlichkeit. Vortrag bei der Fachtagung »Gender auf der Agenda – im musik- und psychotherapeutischen Alltag«. Berlin Johanna Schmid (2014), Music Therapy Training Courses in Europe. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Nicola Scheytt-Hölzer, Fritz Hegi (2002), Der Therapeut als Mann und Mutter – die Therapeutin als Frau und Vater. Geschlechterneutrales parenting in der Musiktherapie, in  : Dorothee von Moreau, Andreas Wölfl (Hg.), Zur Idee des therapeutischen Nachnährens  – was kann Musiktherapie leisten  ? Beiträge der 10. Musiktherapie-Tagung. Wiesbaden Brigitte Schigl (2012), Psychotherapie und Gender. Konzepte. Forschung. Praxis. Wiesbaden Thomas Stegemann, Elena Fitzthum (Hg.) (2014), Festschrift. 55 Jahre Musiktherapie-Ausbildung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Wien Thomas Stegemann, Marion Hitzeler, Monica Lisa Blotevogel (2012), Künstlerische Therapien mit Kindern und Jugendlichen. München Thomas Stegemann, Christine Mauch, Vera Stein, Georg Romer (2008), Zur Situation der Musiktherapie in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 36(4), 255–263 Gitta Strehlow (2010), Töne an der Grenze. Interaktionsmuster in der musiktherapeutischen Begegnung mit Borderline-Patientinnen, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Dissertation. Hochschule für Musik und Theater Hamburg

130

Elisabeth Augustin

Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende1 In den 1980er-Jahren sind kunstschaffende Frauen begeistert für den Feminismus auf die Straße gegangen, haben die feministische Literatur verschlungen und sich nach einem frauenbetonten – Frauen noch ohne Sternchen-Theater – gesehnt. Vieles hat sich in den vergangenen 30 Jahren verändert, der etablierte Begriff der Frauenliteratur wird inzwischen lieber vermieden – »Frauenliteratur  ? Was soll das sein  ?«, sagt die Autorin Meg Wolitzer, und  : »Ja, ich schreibe viel über Frauenleben. Und ich will trotzdem Männer als Leser  !« Am Theater haben wir uns Frauen in den männerdominierten Positionen gewünscht, mehr Literatur mit guten Rollen für Frauen und mehr weiblichen Aspekt generell. Da ist einiges geschehen inzwischen  ; ich persönlich hatte zeitweise drei Direktorinnen  : am Burgtheater, wo ich spiele, Karin Bergmann, am Max Reinhardt Seminar, wo ich unterrichtete, Tamara Metelka und am Kosmos Theater, wo ich inszenierte, Barbara Klein. Alle drei Betriebe laufen sehr gut, es wird nie geschrien und die Arbeitsatmosphäre ist unhektisch. Die Arbeit machte Spaß … fast könnte man meinen, der Feminismus habe sich erübrigt. »Kommen wir in high heels zurück gestöckelt  ?«, fragt sich Marlene Streeruwitz und ruft neuerlich zum Kampf auf  : »… nach Erlangung einer gewissen Freiheit durch die Familienrechts- und Scheidungsreform 1975, nach der die Gleichberechtigung gesetzlich verankert war und Frauen ihr Lebensmodell wählen konnten, gibt es dennoch eine Frauenarmut in Österreich als Restergebnis des Familienmodells aus dem 19. Jahrhundert, diese Armut wird strukturell hergestellt, die Arbeitskraft der Frau in der Familie ist nach wie vor privatisiert. Die endgültige Überwindung des 19. Jahrhunderts muss immer noch erkämpft werden. Doch der Postfeminismus scheitert an der Schere zwischen den privilegierten und weniger privilegierten Frauen. Es ist noch viel zu tun.« Andrea Ellmeier (AE)  : Wie ist es zu dieser Frauengruppe am Burgtheater in den 1970er-Jahren gekommen und warum hat sich die Gruppe dann 1981 wieder aufgelöst  ? Elisabeth Augustin (EA)  : Die »Frauen des Burgtheaters« habe ich 131

Elisabeth Augustin

damals gegründet, weil ich in die Ensemble-Vertretung gewählt wurde und die einzige Frau darin war. Das fand ich irgendwie ungerecht, weil es doch sehr viele Schauspielerinnen am Burgtheater gab und diese nicht entsprechend repräsentiert waren in der Ensemble-Vertretung. Dann habe ich vorgeschlagen, zusätzlich zu den Ensemble-Versammlungen eine Frauen-des-Burgtheaters-Versammlung zu starten, um den Frauen die Möglichkeit zu geben sich zu artikulieren, zu sagen, was ihnen fehlt, was sie wünschen und überhaupt einmal anzufangen, über ihre Situation nachzudenken. Da wollten die männlichen Ensemblevertreter nicht mitmachen, hatten aber nichts dagegen, dass ich es allein mache. Ich wusste nicht, ob meine Idee bei den Damen auf Begeisterung stoßen würde, aber es waren immer unglaublich viele Frauen da. Wir haben zweieinhalb Jahre lang sehr intensiv Programm gemacht  : Wir haben uns getroffen, gesprochen, Gäste eingeladen. Das war immer im Oktogon im Burgtheater im zweiten Pausenfoyer. Die Gäste befragt, sie erzählen lassen und auch außerhalb des Hauses Aktivitäten gemacht, hauptsächlich Lesungen. Die Frauenhäuser sind damals gegründet worden, Johanna Dohnal war einmal bei uns, wir sind in Frauengefängnisse gegangen, haben Lesungen an zahlreichen verschiedenen Orten gemacht  : SeniorInnen besucht und so weiter. Haben Regisseure (Horst Zankl) und Regisseurinnen (Susanne Zanke), Journalistinnen, Politikerinnen (Johanna Dohnal), Autorinnen (Ruth Aspöck, Elfriede Hammerl) eingeladen und sie übers Theater befragt. Wir haben schöne Stunden miteinander verlebt und viel übereinander erfahren. Von den Kolleginnen waren gekommen  : Paula Wessely, Erika Pluhar, Eva Zilcher, Dorothea Neff, Gusti Wolf, Hilde Wagener, Lotte Tobisch, Hella Ferstl, Gertraud Jesserer, Sylvia Lukan, Berta Kammer, Marika Adam, Else Ludwig, Helma Gautier, Ulli Fessl, Lotte Ledl, Lena Stolze, Brigitta Furgler, Josefine Platt, Susi Nicoletti, Inge Konradi, Ulrike Beimpold, Dunja Sowinetz, Eva Susanne Knoche, Gabi Schuchter, Gertraud Helmer und ich und einmal als Gast Hortense Raky. Margit Scheiner und Jenny Kennezy waren Assistentinnen, Dramaturgin gab es damals keine. Aufgehört haben die wöchentlichen Treffen dadurch, dass ich irgendwie das Gefühl hatte, es hat sich jetzt erschöpft. Wir haben alles gemacht und alles gesagt. Es haben alle kapiert  : Wir wollen mehr Stücke für Frauen, mehr Rollen, mehr in den Gremien und Führungspositionen vertreten sein. Ich habe dann angefangen mich für Regie zu interessieren. Beides geht zeitlich nicht. AE  : Und dass das dann eine andere Kollegin weitergeführt hätte  ? EAU  : Das ist versucht worden, aber es hat sich dann bald aufgelöst. (Augustin im Gespräch 2015, 8-9)

132

Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende

»Winter 1979. Eine Welle des Feminismus hatte Wien erreicht. Nicht nur in Deutschland, wo Alice Schwarzer in ihrer Zeitschrift »Emma« zum Widerstand gegen männliche Machtstrukturen aufrief, sondern auch in Wien gab es Demonstrationen unter dem Motto »Die Herrschaft der Schwänze hat ihre Grenze«. Sie zogen am Burgtheater vorbei und viele Mitglieder des Hohen Hauses dachten damals »Hoppla, da weht ein neuer Wind  !«, – so auch ich. Kaum eine der Schauspielerinnen war radikal genug, um sich den Demonstrationen anzuschließen, und der Wind, der durch das Burgtheater fegte, war kein Hurrikan. Aber er hatte genügend Treibkraft, dass sich Elisabeth Augustin, damals ein Jungstar am Haus, für das neue Gedankengut begeistern ließ. Als einzige Frau in der Ensemblevertretung war sie die Organisatorin und Initiatorin einer Frauengruppe innerhalb des Burgtheaters, die sich »Frauen des Burgtheaters« nannte. Es war unter anderem ihre Idee, einen Abend mit Texten der großen feministischen Autorinnen wie Ingeborg Bachmann, Christine Busta, Friederike Mayröcker … zu gestalten, vorgetragen von allen »Frauen des Burgtheaters«. Zum ersten Mal gab es keine Rollenbesetzung im stillen Dramaturgen- (damals ausschließlich Männer  !) Kämmerlein, sondern wir besetzten uns selbst. Der damalige Burgtheater Direktor Achim Benning stellte einen Vormittag lang die Bühne des Akademietheaters zur Verfügung. In der Besetzungsliste dieser einzigartigen Vorstellung fehlte kein einziger weiblicher Star des Burgtheaters. Neben Erika Pluhar, Elisabeth Orth, Judith Holzmeister und Gusti Wolf las auch Paula Wessely. Aber nicht nur das. Angeregt und ermutigt durch diesen eigenen Abend, sprudelten plötzlich Gedanken, Erfahrungen und Geschichten aus den Federn der Schauspielerinnen. Ich selbst schrieb zu der Zeit bereits mit Erfolg feministische Geschichten für Magazine und Zeitungen und las meine Hit-Story »Marillenknödel« im Akademietheater, bei einer weiteren Veranstaltung, die Elisabeth Augustin infolge des großen Erfolges der ersten zustande brachte  : eine Matinee mit selbstgeschriebenen Texten, unter Mitwirkung (fast) aller Schauspielerinnen. Es war für mich etwas ganz Besonderes, mit meinen eigenen Worten auf die Bretter zu treten, die mir damals noch die Welt bedeuteten. Danke, Elisabeth Augustin, für dieses einzigartige Erlebnis  ! Der Winter 1979 war zum Frühling geworden. (Evie Sullivan, 2016)

Im Theater sehen wir uns nach wie vor dem Problem gegenüber, dass die klassische Literatur mit der Frauenquote nicht vereinbar ist. Es gibt hier nicht mehr Frauenrollen als früher. Es gibt aber sehr viele ganz hervorragende Schauspielerinnen, denen durch den Mangel an Rollen ein Konkurrenzverhalten aufgezwungen wird, das sie als Feministinnen eigentlich ablehnen. Das heutige kreative 133

Elisabeth Augustin

Schreiben fordert die Autorin eher auf, endlich politische Themen aufzugreifen (diese Männerdomäne sollten sich die Schreiberinnen wirklich erobern  !), als an die benachteiligten Schauspielerinnen zu denken. Durch Jahrhunderte ist man daran gewöhnt, dass viele Frauen wenige Frauenrollen zu spielen bekommen. Wie sollen sie da jemals die gleiche Gage verlangen wie ihre männlichen Kollegen  ? Hier klafft ein großer Bedarf auf  ! Elisabeth Orth widmete mir anlässlich des Dramatikerinnen-Wettbewerbs, den ich 2014 im Kosmos Theater ins Leben rufen durfte, folgendes Statement  : »Das Theater ist gefräßig, hat ständig Hunger nach guten Texten. Dramatischen  ! Dementsprechend unterernährt fühlen sich Schauspielerinnen, besonders alte und alt gewordene, was das Rollenangebot betrifft. Wir geben aber die Hoffnung nicht auf. Schreibende Frauen für darstellende Frauen  : ein Aufruf  !« »Interessanterweise hat mich einmal eine Journalistin gefragt, warum ich denn nicht Regie studiert hätte. War ich total erstaunt, weil ich mit dieser Frage nicht gerechnet hatte und zugeben musste, dass mich das immer schon sehr interessiert hat oder hätte, aber ich habe mir das seinerzeit nicht zugetraut. Das war auch zu meiner Zeit so, dass es eine Regiehörerin gab und die war die große Ausnahme. Ansonsten waren nur männliche Regiehörer. Also man hat schon irgendwie gedacht, Regie studieren nur Männer. Deswegen bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich das auch studieren könnte. Selbstverständlich studiere ich wenn dann Schauspiel. Also zuerst war ich Schauspielerin, habe aber immer mit einem Auge den Regisseuren auf die Finger geschaut. Das hat mich sehr fasziniert, zu schauen, wie entsteht ein Stück, wie macht das der Regisseur, wie arbeitet er, wie entwickelt man etwas. Das hat mich von Anfang an sehr fasziniert. Und dann habe ich die Durststrecken, die es im Leben einer Schauspielerin immer naturgemäß gibt, dazu genützt, Projekte zu machen. Diese Durststrecken entstehen dadurch, dass es von der klassischen Literatur her ungefähr 70% männliche und 30% weibliche Rollen gibt. Ausnahmen gibt es wenige.« (Augustin im Gespräch 2015, 1)

Es gibt heute mehr Direktorinnen als früher und langsam auch Dramaturginnen im Theaterbetrieb, endlich  ! Das heißt, dass die Frauen im Theater denken und entscheiden  ! Es stellt sich heraus, dass Frauen nicht nur für den Posten der Dramaturgie-Assistentin sehr geeignet sind, sondern auch für den der Dramaturgin. Sie sollten sich das mehr und mehr zutrauen. Dann wird automatisch mehr Gerechtigkeit einkehren und auch der weibliche Aspekt nicht zu kurz kommen. 134

Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende

Frauen networken in hohen Positionen mehr als sie delegieren, und sie schanzen sich keine Nebengeschäfte zu, die sie dann für alle unerreichbar machen würden. Das schafft ein angenehmes, transparentes Arbeitsklima. »Wie viele gutaussehende Frauen unser Ensemble hat, die der deutschen Sprache mächtig sind, sich ausdrücken können  ! Die Feminismus-Keule hat damals keine geschwungen, zumindest meiner Erinnerung nach. Auch unseren damaligen Direktor hatte die Runde einmal zu Besuch. Und als uns dieser – freundlich – unterstellte, dass wohl die wenigsten von uns aus weltverbesserischen Gründen den Beruf ergriffen hätten, gab’s erfreulichen und bestimmten Widerspruch. (Kammerschaupielerin Elisabeth Orth 2016) »Durch die Gespräche in der Frauengruppe des Burgtheaters, die Elisabeth Agustin gegründet hat, haben wir damals ein weibliches Bewusstsein entwickelt, erweitert, unser Selbstbewusstsein wurde gestärkt, wir wurden mutiger durch Solidarität mit den Kolleginnen. Für mich persönlich hat das bedeutet, neue Wege zu gehen, ich habe angefangen, Regie zu führen bei Emmi Werner in der Drachengasse, andere Theater folgten, und ich habe eine Reihe von Hörspielen für den ORF inszeniert.« (Gabriele Buch 2016) »Toll, was Du alles treibst, Elisabeth  ! Aber Du warst ja schon immer unser intellektuelles Vorzeige-Wesen. Ja, ich erinnere mich noch mit Freuden an deine ›Erfindung‹, die uns enger zusammengeführt hat und bewiesen hat, dass auch Frauen produktive Ideen haben können und zusammenarbeiten wollen, statt misstrauisch die Konkurrenz zu beobachten. Ich glaube, dass es ohne diese, deine Vorarbeit heute nicht so viele Regisseurinnen und Theaterdirektorinnen gäbe.« (Ulli Fessl 2016)

Ein Betrieb ist ein lebendes Gebilde, das sich ständig verändert und idealerweise immer weiterentwickelt. Das sollte die leitende Person immer mitbekommen und genau in der Mitte stehen. Sie sollte alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Auge haben, an sie glauben, ihre Entwicklungen fördern, Chancen vergeben, Trends erkennen, vorausschauen, Weichen stellen und Ereignisse vorbereiten. In der Regie ist die Frau heute endlich Mensch geworden  : ich kann nicht mehr erkennen, ob eine Inszenierung von einem Mann oder von einer Frau gemacht wurde. Mehr und mehr Frauen ergreifen diesen Beruf mit großer Verantwortungsbelastung. 135

Elisabeth Augustin

Abschließend möchte ich noch sagen, was damals meine Motive für die Gründung der Gruppe »Frauen am Burgtheater« waren, die selbst heute noch aktuell sind  : dass die Frauen die Möglichkeit bekommen, ihre Wünsche zu artikulieren. Diese muss man zu Forderungen umartikulieren  ! Wir haben durch Worte, aber hauptsächlich durch Taten in der Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht. Manche dieser gesetzten Samen haben wohl ihre Reifezeit gebraucht. Es gibt mittlerweile auch Dramaturginnen am Theater, gerne werden sie aber noch im Theater für Kinder eingesetzt. Wenn ich zurückblicke, fällt mir auf, dass ein Kampf für eine Sache dann gelingt, wenn er gerecht ist und wenn nicht lockergelassen wird – der stete Tropfen höhlt den Stein. Die Frauen sollen Gerechtigkeit in der Aufgabenteilung verlangen, sollen sich aber auch selber etwas zutrauen und die Besten werden. Es sieht so aus, als wären sie bereits auf dem Weg dazu. Ich weiß sehr wenig über Männergremien, wo eine Hand die andere wäscht. Dagegen bin ich, das ist Protektionswirtschaft. Ich bin für Transparenz, für öffentliche Ausschreibungen, für Gerechtigkeit, dass man über alles reden kann, dass man fragen kann und dass man Antworten auf seine Fragen bekommt. Gleiches Recht für alle. (Augustin im Gespräch 2015, 14–15)

Es gibt am deutschsprachigen Theater immer einen Trend, der von den Regisseurinnen bestens erkannt und wiedergegeben wird. Ich hoffe, dass sich die Frauen auch zutrauen, selber Neues zu kreieren und so ihren eigenen Trend zu schaffen. In der Zukunft sollte es nicht nur darum gehen, im bestehenden Trend zu reüssieren, sondern auch darum, sich die Freiheit zu nehmen, auch mal scheitern zu dürfen. Nur so kann sich Neues finden  ! Einen Aufruf zu hinterlassen, eine Aussage, die mir wichtig ist, darauf kommt es an  ! Und das ist  : Die Literatur ist ungerecht, die Frauen haben in der Gesellschaft mehr zu sagen und auch zu tun und sie kommen zu wenig vor in der Literatur. Barbara Klein (Leiterin des Kosmos Theaters 1999–2018, Anm. E.A.) sagt, dass schreibende Frauen immer noch die Tendenz haben, sich selber in so ein FrauenEck zu stellen. Sie sollten doch einfach ganz frei über alle Themen schreiben. »Mutterland«2 haben wir thematisch so weit gesteckt wie möglich  : Nachdenken über die eigene Mutter, über die eigene Mutterschaft, oder auch bloß, die Mutter der eigenen Idee zu sein. »Mutterland« war die Produktion, für die ich am längsten gearbeitet habe, nämlich ein Jahr, die wenige BesucherInnen hatte, und die ich am meisten geliebt habe. (Augustin im Gespräch 2015, 13-14)

136

Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende

In den Schauspielschulen machen immer mehr Creative-Writing-Klassen auf. Das ist wunderbar  ! In der Schule können Stücke geschrieben, inszeniert und gespielt werden. Warum denn nicht einmal diese ewige Monolog-Sucherei aufgeben und einfach in die Creative-Writing-Klasse gehen und sich einen Monolog schreiben lassen, quasi »maßgeschneidert«, in dem jede ihre und jeder seine Qualitäten bestens zeigen kann  ! Die Quelle der Schauspielkunst sind Kreativität und Phantasie. Als Lehrende müssen wir in das Talent der Studierenden eintauchen und dort diese Quelle aufspüren und zum Sprudeln bringen. Zusätzlich habe ich einen Experten gefunden, der mir sehr gute psychologische Hintergrundinformationen geliefert hat für die generelle Einstellung zum Unterrichten. Das ist ein Japaner, er heißt Tsunesaburo Makiguchi und hat 1871–1944 gelebt. Ihn finde ich deshalb so interessant, weil er ursprünglich Geografie-Professor gewesen ist und dann später Ethik und Philosophie dazugenommen hat. Er war ein leidenschaftlicher Pädagoge. Ihm war stark aufgefallen, dass die Mädchen in der Erziehung benachteiligt sind, und er hat als einer der Ersten in seinem Land verlangt, dass den Mädchen dieselbe Bildung zukommt wie den Knaben. Er hat zunächst einen Mädchenfernkurs gegründet und dann eine Schule für Mädchen und so weiter und hat die Gleichberechtigung von Mädchen in der Erziehung in Japan eingeleitet. Das fand ich schon einmal beachtlich. Durch die Hinzunahme von ethischen und philosophischen Fragestellungen entfaltete er eine Erziehungstheorie, aus der ich einige seiner Leitsätze für meine Lehrtätigkeit übernommen habe. Er sagt zum Beispiel  : »Das Glück fällt dem Menschen nicht in den Schoß. Es ist von jedem selbst aus eigener Kraft zu erringen, indem er aus seiner eigenen Weisheit heraus Werte schafft.« Das hat er um 1900 gesagt. Er war der Meinung, dass der Schüler oder die Studentin bereits das Potential in sich hat und die Lehrenden ihnen nicht ihr eigenes Wissen draufstülpen sollen, sondern sie lehren, ihr Potential zu öffnen. Das finde ich ganz wesentlich, das begeistert mich. Weiters hat er gesagt  : »Lehrende sollen sich stets bemühen, ihr Studium zu vertiefen und ihr eigenes Wissen weiter zu entwickeln und zu verbessern.« (Augustin im Gespräch 2015, 3)

Wir holen sie nicht nur dort ab, wo sie gerade sind, sondern wir holen aus ihnen das heraus, was in ihnen steckt. Solange das geschieht, wird es am Theater wunderbare Darstellerinnen und Darsteller geben, wird das Theater leben und spannend sein. 137

Elisabeth Augustin

Der Sinn der Erziehung liegt nicht in der Vermittlung von Wissen, sondern darin, den Schülern und Schülerinnen Methoden beizubringen, eigenständig zu lernen, ihnen den Schlüssel zu geben um selbst die Schatzkammer des Wissens zu öffnen. […] das, was in einem steckt, öffnen, finden, verwenden und für sich nutzen zu können. Ich finde, es sollten aus einer Schauspielschule nicht Schablonenschauspieler_innen herauskommen, sondern jede und jeder sollte ihren oder seinen Diamanten, der in jedem Menschen drinsteckt, entdecken, ihn hervorholen und entwickeln und später verwenden. Es können nicht alle am Ende dasselbe werden. Sondern die eine wird vielleicht Dramaturgin, der andere Regisseur, die Dritte Sprecherin, der andere strebt zu einem Staatstheater, die Fünfte wiederum möchte politisches Theater machen und in freien Gruppen arbeiten. Ganz verschiedene Dinge, deshalb geht es dann nach der Schauspielschule ganz oft diametral auseinander. (Augustin im Gespräch, 2015, 4)

Welche Perspektiven kann man den Studierenden mitgeben  ? Es gibt keine Sicherheiten mehr, ganz so, als gäbe es keine großen Bühnen mehr. Dadurch gehen gewachsene Ensembles, die den Stil eines Hauses prägen und durch Generationen eine eigene Tradition, einen speziellen Spielstil und eine besondere Qualität präsentieren und dann weitervererben, verloren. Mit der Abschaffung der Unkündbarkeit sind auch gewachsene Ensembles abgeschafft. Wen soll die Gewerkschaft vertreten  ? Schauspieler_innen, die kommen und gehen  ? Erübrigt sich die Schauspielergewerkschaft in Zukunft  ? Wie sollen wir Beziehungen auf der Bühne darstellen, wenn wir nicht einmal im Theater selbst Beziehungen entwickeln, Geschichten erzählen können, die so beliebten Anekdoten  ; wenn wir nicht gemeinsam lachen, weinen, Geburten feiern, Verstorbene ehren, Reden halten und uns gegenseitig Preise verleihen können  ? Weswegen werden Menschen in Zukunft ins Theater gehen  ? Wegen Schauspieler_innen, die man nicht kennt  ? Wegen Bühnenbildern  ? Wegen Regieeinfällen  ? Ja, wegen der Stoffe, Themen, Utopien, Visionen – schön und gut, aber von wem und wie gespielt  ? Ich finde, der Schauspieler, die Schauspielerin muss im Mittelpunkt stehen. Der Schauspieler, die Schauspielerin hat in den letzten 50 Jahren an Priorität verloren. Ich plädiere für eine Renaissance der Schauspieler_innen  ! Noch ein Wort zu den großen Konkurrenten des Theaters  : Internet, Film und Medien. Diese Sparten fließen ja in das Theater ein. In diesem erweiterten Feld wird es weiterhin den Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums geben. In diesem Kampf wird es immer mehr notwendig sein, die speziellen Vor138

Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende

lieben des Publikums herauszufinden einerseits, und das Publikum mit Neuem zu überraschen andererseits. In diesem Sinne ist es härter geworden, für das Theater zu arbeiten. Es gibt mehr Konkurrenz als früher. Zum Ausgleich ist es, dank der medialen Vernetzungsmöglichkeiten leichter geworden, gute PR zu machen, was andererseits wieder gleichermaßen von allen genützt wird. Umso wichtiger ist das Live-Ereignis am Abend. Das Publikum liebt einzelne Schauspieler_innen und es genießt, unbewusst oder bewusst, ein gutes Ensemble. Eine starke Ensembleleistung kann in den Bann ziehen, berühren und begeistern. Es gehört zu einer professionellen Ausbildung mehr denn je dazu, die Ensembleleistung zu trainieren. Das ist schwierig, weil der Künstler oder die Künstlerin sehr auf sich selbst fokussiert leben und arbeiten muss, ähnlich wie Musiker_innen mit ihren Instrumenten, und gleichzeitig muss er oder sie sich ständig mit KollegInnen im Ensemble arrangieren und gemeinsam entwickeln. Ich liebe ein Theater, in dem Schauspielerin A mit ihrem Spiel verursacht, worauf Schauspieler B antwortet und diese Antwort wiederum eine Wirkung bei Schauspielerin A hervorruft. Der Regisseur Peter Wood sagte einmal  : »You get so much money not to know what you say next.« Das Zitat würde ich gern erweitern durch  : »You get so much money not to know what your partner will answer.« Wenn ich so spielen kann oder spielen sehe, geht es mir so wie als Kind, wenn ich zu meiner Großmutter kam, und sie fragte, ob sie mir helfen würde, eine kleine Puppenbühne zu bauen  : Sie ließ kommentarlos alles stehen und liegen, was sie gerade tat, und begann Nägel und Schrauben zu suchen.

»… signalisieren, dass man sich in die Theaterwelt hineinzustürzen gewillt ist« Gedanken über meine Begleiterinnen – Lehrerinnen, Regisseurinnen und Direktorinnen 3 Meine erste große Lehrerin am Gebiet des Theaters war meine Gymnasiallehrerin Ingeborg Zembsch in der Fichtnergasse im 13. Wiener Gemeindebezirk, wo ich das neusprachliche Gymnasium besucht habe. Im Rahmen des Deutschunterrichts hat sie mein Schauspieltalent erkannt und auch in verschiedenen Schulaufführungen eingesetzt. Bis zum heutigen Tag besucht sie meine Premieren und meine eigenen Inszenierungen, sie ist jetzt Ende 80. 139

Elisabeth Augustin

In den Ballettklassen der Staatsoper und später an der Akademie für Musik und darstellende Kunst, die ich neben der Schule besuchte, hatte ich fast ausschließlich weibliche Lehrkräfte. Mir wurde mehrfach darstellerisches Talent attestiert, jedoch wurde mir wegen meiner Körpergröße jede Berufschance abgesprochen. Eines Tages wagte ich die Aufnahmeprüfung für das Max Reinhardt Seminar, die ich auf Anhieb bestand. Meine wichtigste Lehrerin im Rollenunterricht war Cornelia Oberkogler. Ich studierte bei ihr unter anderem die Clara in »Maria Magdalena« von Friedrich Hebbel. Sie öffnete mir den Einstieg in meine Gefühlswelt und kritisierte mich nie. Ich habe heute noch ihr Lob im Ohr. Ich weiß nicht, wie sie es schaffte, bei so vielen Studierenden immer noch so erstaunt sein zu können über das, was sie sah. So als wäre sie selbst gar keine Schauspielerin, sondern eine Zuschauerin, die beim Entdecken eines Talents dabeisein darf. Diese Bescheidenheit trug ihr den Ruf einer wahrhaft großen Lehrerin ein und machte sie unvergesslich. Sie war es auch, die mich für eine Hauptrolle in einem kleinen, aber renommierten Theater vorschlug, obwohl es damals streng verboten war, während der Ausbildungszeit außerhalb der Schule aufzutreten. Es handelte sich um die Rolle der Hete in Friedrich Wolfs Anklagestück »Cyankali« unter der Regie von Rudolf Jusits im Theater der Courage. Die Direktorin war Stella Kadmon, Dramaturgin und guter Geist des Hauses war Emmy Werner. Ich erhielt für diese Rolle nicht nur die besten Kritiken meines Lebens, sondern auch den Kainz-Medaillen-Förderungspreis. Das mag dazu beigetragen haben, dass ich am Max Reinhardt Seminar verbleiben durfte. Susi Nicoletti förderte mich dann in anderer Weise. Bei ihr musste man schon ein selbständiges Auftreten haben und signalisieren, dass man sich in die Theaterwelt hineinzustürzen gewillt ist. Das hatte ich bereits getan und wurde erst nicht, aber dann doch unterstützt. Es gab ein Vorsingen für ein Musical, das im Seminar aufgeführt werden sollte. Ich war zu diesem Vorsingen von ihr nicht eingeladen worden, da ich zu dem Zeitpunkt in der Oberkogler-Klasse war. Ich hatte aber ein Lied einstudiert und kannte den Lehrer, der bei dem Vorsingen auch korrepetierte. Ich wartete einfach ab, dass jemand aus dem Vorsprechzimmer herauskam und ging dann wie bestellt hinein. Der Regisseur wusste nicht, dass ich nicht auf der Liste stand und begrüßte mich selbstverständlich als die nächste Kandidatin. Susi Nicoletti sagte nichts und ich sang. Sofort wurde ich als die Russin in »Stop the World« besetzt. In dieser Inszenierung sah mich Achim Benning, der mich zwei Jahre später ans Burgtheater engagierte. Auch dabei gab es eine Frau, der ich eigentlich dieses Engagement verdanke, Annemarie Düringer. Ich hatte nämlich von Kollegen gehört, dass es ein Wahnsinn sei, ans Burgtheater zu gehen. Es hieß, man 140

Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende

könne sich gleich lebendig begraben lassen, weil man dort nichts zu spielen bekäme. Das sagte ich Achim Benning und sagte ihm ab. Daraufhin bat er Annemarie Düringer, mich anzurufen. Ich war erstaunt, von einer so berühmten Schauspielerin bei mir zuhause in meiner winzigen Garconniere in Graz, wo ich am Schauspielhaus mein Anfängerinnenjahr absolvierte, angerufen zu werden. Sie überredete mich, es mit dem Burgtheater-Engagement zu versuchen und versprach, dass ich große Rollen zu spielen bekommen würde. Also sagte ich zu. Gleich im ersten Jahr spielte ich in »Travesties« von Tom Stoppard die Gwendolin im Akademietheater als Partnerin von Michael Heltau. Natürlich hatte ich noch Anfängerinnensymptome. Ich stellte mich zu begriffsstutzig an, war gekränkt über die ständige Kritik und hatte Komplexe, weil ich mich zu dick fühlte. Wieder griff Annemarie Düringer ein. Sie schleppte mich heimlich nach der Probe in einen Probenraum und erklärte mir, was der Regisseur wollte und spielte es mir vor. Wenn sie es mir zeigte, konnte ich es sofort. Der Regisseur war sichtlich erleichtert über meine sprunghafte Entwicklung. Das Stück wurde ein großer Erfolg und wurde mehrere Spielzeiten lang gespielt. Aus diesem Muster lernte ich. Später geschah es noch oft, dass ich nicht verstand, was ein Regisseur von mir wollte oder mich voller Scham vor den anderen Kollegen fühlte oder mich über mich selber ärgerte, dass ich nicht gleich umsetzen konnte, was verlangt war. Dann war es immer gut, eine erfahrene Kollegin anzurufen und sie um eine »Übersetzung« zu bitten. Umgekehrt habe ich das selber stets gerne mit jüngeren Kolleginnen getan, wenn sie es brauchten oder wollten. Es ist oft ein Problem der Sprache. Was tun, wenn einem gesagt wird  : »Sag es doch direkt« oder  : »Was ist los mit dir  ?« oder  : »so nicht  !« Da man in jungen Jahren fast ausschließlich Rollen mit erotischer Ausstrahlung zu spielen hat, empfindet man als junge Frau alles, was ein männlicher Regisseur zu kritisieren hat, als Verletzung. Auch später, wenn die erotische Ausstrahlung einer Rolle nicht im Vordergrund steht, ist es gut, diese nicht zu verlieren. Frauen gehen damit naturgemäß anders um. Sehr selten durfte ich eine Frau als Regisseurin haben. Als Erste ist Angelika Hurwicz zu nennen (vgl. Roessler 2013). Bei ihr durfte ich Marianne von Palen in »Der Snob« von Sternheim spielen. Ich konnte beobachten, dass es zwischen ihr und dem Darsteller des Snobs öfter Verwicklungen in Diskussionen über sprachliche Definitionen gab. Ich erlebte das Ganze umgekehrt und als Unbeteiligte. Ich selbst hatte niemals ein Problem mit Angelika Hurwicz, im Gegenteil. Noch bevor sie ausgeredet hatte, hatte ich bereits verstanden, was sie meinte. Es war eine meiner schönsten Arbeiten. 141

Elisabeth Augustin

Zwei Mal spielte ich bei Christina Paulhofer »Claras Verhältnisse« von Dea Loher und »Frühlingserwachen« von Wedekind. Einmal bei Ruth Berghaus in »Penthesilea«, einmal bei Christiane Pohle »Die versunkene Kathedrale« von Gert Jonke. Einmal durfte ich auch mit Andrea Breth arbeiten, die eine Inszenierung eines erkrankten Regisseurs zu Ende führte. In der Off-Szene arbeitete ich mit Meret Barz in »Begierde und Fahrerlaubnis« in der Broadway Piano Bar von Elfriede Jelinek, mit Susanne Zanke in einem Buch von mir »Es fing ein Knab ein Vögelein. Die Frauen um Goethe« für den ORF. Mit Heide Pils drehte ich »Machtspiele« für einen TV-Film, mehrmals arbeitete ich mit Beverly Blankenship für die Festspiele Reichenau und mit Maria Happel machte ich »Orchester und Zwischentöne« von Anouilh/ Studlar im Burgtheater Casino. Das waren allesamt interessante Arbeiten, die sich durch nichts von denen mit männlichen Regisseuren unterschieden, außer durch diesen einen Punkt der sprachlichen Verständigung. Im Jahr 2012 bekam ich von der Intendantin des Kosmos Theaters Barbara Klein das Angebot, eine Inszenierung zu machen. Es entstand »Sehr geehrter Zuschauerraum, Liesl Karlstadt und die anderen Frauenzimmer im Hause Valentin«. Die Aufführung wurde wegen des großen Erfolges für die nächste Spielzeit wiederaufgenommen. Nach Stella Kadmon erlebte ich nach so langer Zeit wieder eine Frau als Intendantin. Die gemeinsame Sprache und ein großes Vertrauen von beiden Seiten, eine wunderbare Basis für eine Zusammenarbeit. Ich bekam weitere Angebote zu Folgeinszenierungen. Es folgten bei Barbara Klein  : »Undine geht an Land« 2013, eine Montage von Undine-Stoffen und »Mutterland«, die neun Siegerinnen-Kurzstücke des ersten Dramatikerinnen-Wettbewerbs 2014/15 am Kosmos Theater.

Anmerkungen 1 Im Folgenden werden drei verschiedene Texte, die sich gegenseitig ergänzen und weitersprechen, verwendet. Die Grundlage bildet ein Aufsatz von Elisabeth Augustin, dessen Titel zugleich der Titel des Artikels ist. Rechtsbündig beigestellt sind E-Mail-Antworten von Kolleginnen aus der Zeit der Gruppe »Frauen des Burgtheaters«. Linksbündig angeordnet sind Textstellen aus dem Interview mit Elisabeth Augustin, das Andrea Ellmeier (A.E.) im Rahmen der mdw-GenderRingvorlesung mit ihr geführt hat. Den Abschluss bildet wieder ein von Elisabeth Augustin geschriebener Text über ihre Lehrerinnen, Regisseurinnen und Direktorinnen, den sie bei der Ringvorlesung vorgetragen hat [Anm. A.E.]. 2 MUTTERLAND (2015) Regie  : Elisabeth Augustin | Bühne  : Nanna Neudeck | Kostüm  : Lena

142

Über die Stellung von Frauen am Theater und mich – Schauspielerin, Regisseurin, Lehrende

Winkler-Hermaden | Regieassistenz  : Miriam Schedl | Dramaturgiehospitanz  : Valerie Melichar | Bühnenbild-Kostümhospitanz  : Camilla Schön. März–April 2015 im Kosmos Theater Wien. Es spielten  : Imke Büchel, Sylvia Haider, Katharina Haudum, Julian Schneider und Johannes Terne. 2014 hatte das Kosmos Theater auf Initiative von Elisabeth Augustin einen Dramatikerinnen-Wettbewerb zum Thema »Mutterland« ins Leben gerufen, um zeitgenössischen Dramatikerinnen eine Basis zu bieten, ihre künstlerischen Arbeiten in den Mittelpunkt zu stellen und als Theaterabend auf die Bühne zu bringen. Neun von einer Jury ausgewählte Kurzstücke wurden zu einer abendfüllenden Uraufführung zusammengefasst und geben den Blick frei auf das vielschichtige dramatische Mutterland in Österreich lebender Autorinnen  : March Höld (B), Nadine Kegele (V ), Katharina Köller (B), Scarlett Mangelberger (W), Elisabeth Mundt (NÖ), Julia Ransmayr (OÖ), Bernadette Schiefer (NÖ), Andrea Stift (St), Claudia Tondl (W). 3 Augustin im Gespräch, 2015, 9–12.

Literatur Elisabeth Augustin im Gespräch mit Andrea Ellmeier, mdw-Gender-Ringvorlesungstagung »Kunst/Erfahrung. Wissen und Geschlecht in Musik*Theater*Kunst« am 08.05.2015 Gabriele Buch (2016), Burgschauspielerin, Regisseurin über »Frauen des Burgtheaters« in den späten 1970er-Jahren. E-Mail an Elisabeth Augustin Ulli Fessl (2016), Burgschauspielerin, über »Frauen des Burgtheaters« in den späten 1970er-Jahren, E-Mail an Elisabeth Augustin Soka Gakkai International-Deutschland e.V. (Hg.), Tsunesaburo Makiguchi. Der Begründer der Soka Erziehung. Mörfelden-Walldorf 2013 Christina Haberlik (2010), Regie-Frauen  : ein Männerberuf in Frauenhand. Leipzig Elisabeth Orth (2016), Burgschauspielerin, über Oktogon, »Frauen des Burgtheaters« in den späten 1970er-Jahren. E-Mail an Elisabeth Augustin vom 02.06.2016 Peter Roessler (2013), Das Wissen der Meisterinnen. Pionierinnen und Antipodinnen heutigen Theaters. Mit einem besonderen Augenmerk auf Angelika Hurwicz, in  : Rato und Intuition. Musik • Theater • Film, hg. v. Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (mdw Gender Wissen Bd. 4). Wien/Köln/Weimar, 131–158 Evie Sullivan, vormals Evi Knoche (2016), Burgschauspielerin, arbeitet seit 1982 als Journalistin in Los Angeles. E-Mail an Elisabeth Augustin

143

Elfriede Reissig

»L’art pour la réalité«1 Zur musikalischen Sozialisation und subjektiven Erfahrungswelt im österreichischen Musikbetrieb

»Das eigene Leben ist ein unaufschiebbares Projekt.« (Marina Garcés)

Die folgenden in narrativer Form gestalteten Überlegungen zur musikalischen Sozialisation als »intersubjektiver kultureller Lebenswelt« (Engelhardt 2011, 39) sowie zur Praxis und den Erfahrungen einer in Österreich aufgewachsenen Musikerin sollen diesen Weg so anschaulich wie möglich nachzeichnen, denn  : »[i]m Erzählen wird das Wissen über die Welt vermittelt, werden individuelle und kollektive Erfahrungen bewahrt und weitergegeben, werden existentielle Lebensprobleme und deren Lösungen behandelt, werden Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart hineingeholt, erfolgen Sinnsuche und Sinngebung, werden Phantasie- und Traumwelten, Angst- und Hoffnungswelten entworfen und das NichtErfahrbare erfahrbar gemacht.« (ebd. 39)

Die Darstellungen umfassen Erfahrungen mit Musik in Kindheit und Jugend in der Familie und außerfamiliären Bildungsstätten. Des Weiteren gebe ich Einblicke in die künstlerische Praxis als Instrumentalistin, zum Karriereverlauf bis hin zu gegenwärtigen kreativen Tätigkeitsfeldern als Musikerin und Musikwissenschaftlerin in Österreich. Dazu erläutere ich die Entstehung eines bis heute bestehenden Netzwerks von Musikerinnen und Künstlerinnen meines Umfeldes sowie den anregenden künstlerischen Austausch und die Kooperationen mit Kolleginnen aus der österreichischen Musikszene. Beispiele aus meiner beruflichen Praxis als Dirigentin, Sängerin und Wissenschaftlerin sollen das Bild vervollständigen und, so hoffe ich, lebendig veranschaulichen.

145

Elfriede Reissig

Musikalische Sozialisation Sonosphäre der Kindheit Was ist nun unter dem »dynamischen Prozess« (Hurrelmann 2018, 14) der »Sozialisation« allgemein im Kontext der Sozialtheorien zu verstehen  ? Der deutsche Sozial- und Bildungsforscher Klaus Hurrelmann definiert dazu  : »Im Kern bezeichnet Sozialisation also die Persönlichkeitsentwicklung als eine ständige Interaktion zwischen individueller Entwicklung und den umgebenden sozialen Strukturen, wobei diese Interaktionserfahrungen aktiv und produktiv verarbeitet und sowohl mit den inneren körperlichen und psychischen als auch mit den äußeren sozialen und physischen Gegebenheiten permanent austariert werden.« (Hurrelmann 2018, 15)

Im Kontext der vorliegenden Themenstellung steht die musikalische Sozialisation des Individuums im Fokus der Betrachtungen. Sie ist ein »Prozess der Aneignung musikalischer Einstellungen […] im Sinne eines musikalischen Grundverhaltens, das Verhaltensweisen gegenüber Musik produziert und koordiniert« (Abel-Struth 1974, 62). Dabei spielt die primäre Prägungsphase des familiären Umfeldes eine zentrale Rolle  : »Die Familie erweist sich als die eigentliche Kausal-oder Bedingungsvariable für das [Erlernen eines Instrumentes] und musikalischen Erfolg, sie ist der sprichwörtlich ‚goldene Schlüssel‘, der viele oder gar alle Türen öffnen hilft.« (Bastian 1991, 88) Die große Bedeutung meiner Herkunftsfamilie für meine musikalische Sozialisation wird im Folgenden beispielhaft vorgestellt. In einer in der Nähe der Landeshauptstadt Graz gelegenen kleinen Landgemeinde im südlichen Bundesland Steiermark wuchs ich in den 1960er- und 1970er-Jahren auf. Das Engagement meiner musik- und kunstbegabten Eltern für uns drei Kinder Elfriede, Judith und Dieter war groß. Neben der Förderung durch Musikschulen war Musik ein selbstverständlicher Teil des Alltags und prägte die Umgebung unseres Hauses, in dem Musikinstrumente (Flöten, Klavier, Volksmusikinstrumente u.a.m.) und Malutensilien stets in unmittelbarer Reichweite lagen. Mein Vater Karl Moschitz (1939–1995) war Mitglied eines Chores in seinem Heimatort in Kärnten im »Grenzland«, bevor es ihn, er war Berufssoldat, in die Steiermark zog. Er hatte eine gute Stimme, ein gutes Gehör und beschäftigte sich mit bildender Kunst. Meine Großmutter väterlicherseits, Franziska Moschitz (1915–1997) war eine gefragte Heimatdichterin, die oft eingeladen wurde, Gedichte und Geschichten zu rezitieren oder durch ein künstlerisches Programm zu führen. 146

»L’art pour la réalité«

Kindheit am Land in einer kleinen Gemeinde in der Nähe der Landeshauptstadt Graz bedeutete in meinem Fall vor allem Raum für Bewegung, Phantasie, Neugier, Entdeckung und war geprägt von Klängen der Natur in Wiese und Feld wie auch der Stille des angrenzenden Waldes, den Geräuschen der Tiere unserer kleinen Landwirtschaft und der analogen Sonosphäre unseres Gasthauses und seiner Gäste  : Gläserklingen, Fässerrollen, Küchengeräusche, das Lachen der Gäste, das dumpfe Klopfen der Hände beim Kartenspiel, die MusicBoxen, die im Gastraum aufgestellt waren und mit ihren magischen Armen kleine Platten auf die Plattenteller legten. Das Kreisen der Plattenhalter, bis die richtige »Single« nach Auswahl eines Gastes gefunden war und Schlager, Operetten oder Volksmusik erklangen. Im Gastraum oder im oberen Stockwerk variierte die Lautstärke, einmal klar und direkt, dann wieder fern und diffus – jedoch war der Klang noch immer wahrnehmbar. Und es gab das Singen und Musizieren mit meiner Mutter seit früher Kindheit an, die den Gesang und die Wahrnehmung der ästhetischen Klangäußerung des Menschen als Teil von Erziehung untrennbar miteinander verband. Später, ab dem Alter von fünf Jahren, meldete meine Mutter mich in der nicht weit entfernten Musikschule2 zum Musikunterricht an. Die Fächer waren Kinderchor, Flöte und Klavier. Unterricht und Üben erlebte ich die Jahre hindurch ganz ohne Zwang, ja »spielerisch«. Wenn meine Mutter mich und meine Schwester aus der Musikschule abholte, sangen wir ihr im Auto die neu erlernten Lieder vor und genossen die Rolle als kindliche »Vermittlerinnen« der Mutter neue Chorliteratur beizubringen. Aufregend waren die Chorkonzerte, bei welchen meine chorerfahrene Mutter mitsang. Einmal durften wir – es war meine erste Erfahrung mit Bühnenluft  – zur szenischen Aufführung des Singspiels »Das Dreimäderlhaus«3 von Heinrich Berté hinter die Bühne, und ich höre heute noch das Rauschen der Kleider und Unterröcke der Sängerinnen, ihr Umhereilen vor dem nächsten Auftritt auf dem Holzboden des alten Gemeindesaals. Die Lieder der Romantik, vor allem jene Schuberts, gehörten bereits zu unserem Kinderliederschatz. Mit ihrer schönen Stimme sang Mutter uns mit Mozart, Schubert und Brahms allabendlich in den Schlaf. Die Melodien und ihre Kadenzen, die wir bald nachsangen, haben sich tief in unser Hören und den Umgang mit der musikalischen Form der abendländischen Musik eingeprägt. Das Gasthaus meiner Mutter lag an der damaligen GastarbeiterInnenroute zwischen Bruck an der Mur und Graz, was für uns bedeutete, an einem Ort der Begegnung aufzuwachsen. Gäste waren uns vertrauter Umgang. Auf unserem Parkplatz oder im Garten breiteten Familien aus der Türkei, aus Griechenland 147

Elfriede Reissig

und den Ländern Ex-Jugoslawiens ihre Picknickdecken aus und aßen gemeinsam. Trotz der Funktion als Wirtin erlaubte meine Mutter dies stets, wenn es gewünscht wurde. Die Kinder dieser Familien waren unsere ersten SpielgefährtInnen – eine zentrale Erfahrung. Angst vor Menschen anderer Länder war uns daher von Kindheit an gänzlich unbekannt. Die Menschen der Umgebung schätzten die gute Küche des Gasthauses und im alten holzvertäfelten Gastraum wurde viel gesungen, getanzt und musiziert. »Die Universität der Volksmusik« nennen die MusikethnologInnen daher auch Wirtshäuser. Dazu stand eine der ersten Musicboxen an der Wand gleich beim Eingang der Gaststube und die Musik aus diesen frühen Geräten gehörte ebenso zur Klangkulisse meiner Kindheit  : Schlager, Operetten, Strauss-Walzer, Chöre, Oberkrainerklänge (ja, auch das  !) u.v.m. Auch die Live-Musikszenerie der Marschmusik im öffentlichen Raum bei Veranstaltungen des Ortes, die Kirchenorgel und der Messgesang gehörten manchmal dazu und beeindruckten mich mehr als die Inhalte einer Predigt. Als Kind ging meine Mutter mit steirischer Harmonika und/oder Akkordeon schwer beladen einmal wöchentlich zu einem Instrumentallehrer des Ortes. Als Erwachsene und mit einem hervorragenden Gehör ausgestattet, spielte sie auf der steirischen Harmonika Volksmusik nach, aber ebenso jene Schlager, die auf den kleinen schwarzen Singles im lamellenförmigen Rad der glänzenden RockOla-Musikbox gepresst waren, von den Liedern aus dem Musical »My Fair Lady« bis zur Operette »Der Zigeunerbaron«. Später erlernte sie noch die Zither. Dieses Nachspielen und Improvisieren nach Gehör beherrschte sie in einer Exaktheit der Harmonien, Rhythmen und formalen Anlagen der Musik, die mir, die ich als Kind zuhörte, die Dimensionen der musikalischen Begriffe »Klavierauszug«, »Particell« oder die exakte Uminstrumentierung eines z.B. kammermusikalischen Musikstücks für ein Solo-Instrument bereits in früher Kindheit erschloss. Die Spannungsbögen innerhalb der Funktionsharmonik mit ihren Konsonanzen und Dissonanzen, die typischen Kadenzen, die der abendländischen Musik ab 1600 ihr musikalisch-kompositorisches Gepräge gaben, übten wir Kinder leicht und spielerisch früh über das Hören ein, und die Rezeption dieser Klangwelt ermöglichte uns das Zusammenspiel in diversen Volksmusikgruppen und Formationen bis heute in großer Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus wurde uns damit das tiefe Verstehen der Musik des Barock, der Klassik und Romantik sowie ihrer Rhythmen durch die Tänze und ihre Harmonien in die Wiege gelegt. Die mikrotonalen Schwingungen der steirischen Harmonika, wie auch des Akkordeons, die mit ihren sogenannten »Zungen« den Klang erzeugen, rezi148

»L’art pour la réalité«

Abb. 1 Judith Moschitz (Hackbrett), Bertha Moschitz (1939–1991, Steirische Harmonika) und Klaus Rieger (Kontrabass), 1986

pierte ich schon als Kind und nahm so die mikrotonale Klangwelt in mein Wahrnehmungsspektrum auf. Aber ebenso ließ jegliches Geräusch, ein weit entfernter Zug, ein Rauschen, ein hoher feiner metallischer Klang, mich mein kindliches Tun unterbrechen und ich begann aufmerksam hinzuhören und forderte meine Umgebung mit den Worten »Hörst du  ?  ?« auf – und alle mussten lauschen, bis auch sie es hörten …

Schule und Ausbildung Die Musikausübung als Kind und Jugendliche, die auch für meine Schwester (Hackbrett) und meinen Bruder (Klarinette) dazugehörte, die selbstverständliche musikalische Praxis in der Familie als Ensemble, mit der wir viele Aufritte im Inund Ausland absolvierten, vielleicht dazu die Isoliertheit am Land ließen mich nicht an eine spätere Berufswahl als Musikerin denken. 149

Elfriede Reissig

Was nach der Schulpflicht vielmehr folgte, war der Besuch einer land- und hauswirtschaftlichen Fachschule in den Jahren 1981–83. Wie kam es dazu  ? Meine Mutter war mit der damaligen Direktorin befreundet und kam mit ihr über eine der Exposituren dieser zwei- bzw. einjährigen Bildungseinrichtung für die »ländliche weibliche Bevölkerung«, die in der ehemaligen Volksschule unseres Ortes beheimatet war, in Kontakt. In dieser Direktorinnenwohnung durfte ich mich ein Jahr lang Woche für Woche auf den Klavierunterricht vorbereiten, als ich noch kein eigenes Instrument hatte. Steirische Harmonika, die ich von meiner Mutter zu spielen gelernt hatte, spielte ich mit sechs Jahren schon recht gut. Die beiden Frauen verstanden sich gut und als diese Freundin meiner Mutter die Leitung des aus dem 11. Jahrhundert stammenden Schlosses St. Martin in Graz übernahm, setzten meine Schwester und ich eine Tradition fort, denn auch unsere Mutter hatte diesen Schultyp absolviert. Allen Schulen bzw. Internaten, standen Direktorinnen vor.4 Der Lehrerin und Leiterin des Schulchores waren offensichtlich meine musikalische Begabung wie auch meine Führungsqualitäten aufgefallen. Dieser Lehrerin verdanke ich, dass ich in ihrer Abwesenheit an den Wochenenden, wenn sie keinen Dienst hatte, den 60-köpfigen Mädchenchor leiten und mit diesem Chorkollektiv proben durfte, als Kirchenmusikerin Orgel spielte und die sonntäglichen Messe dirigierte. Mit knapp 16 Jahren hatte ich temporär die künstlerische Leitung dieses Oberstimmenchors übernommen und leitete Aufführungen im Rahmen öffentlicher Konzerte. Sogenannte Schlagbilder waren mir damals noch fremd, es war ein sehr intuitives Dirigieren, das aber auch funktionierte. Gleichzeitig trainierte ich bei all diesen Beschäftigungen mein ‚relatives Gehör‘ in einer Perfektion ohne Stimmgabel, dass es bis heute nahezu an ein absolutes Gehör heranreicht. Mit dem Eintritt in die »Höhere Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe« in der Grazer Schrödingerstraße und nach bestandener Aufnahmeprüfung am Landeskonservatorium setzte ich meine schulische und musikalische Ausbildung fort. Was allerdings in meiner Ausbildung am »Kons« aus welchen Gründen auch immer nicht geschah, war der Besuch des musiktheoretischen Unterrichts. Ich sang zwar im Chor, geleitet vom Dirigenten des Grazer Konzertchores, doch sonst gab es keine Berührungspunkte mit vertiefendem musiktheoretischem Unterricht oder Gehörbildung. Kommunikation mit KollegInnen gab es als Pianistin wenig. Vielleicht lag es daran, dass PianistInnen im Grunde ein sehr einsames MusikerInnendasein führen  : Wir üben und spielen allein, werden am Solo-Instrument allein unterrichtet und sind bei einem Konzert auf der Bühne weitgehend allein. Erst viel später, im Rahmen des Aufnah150

»L’art pour la réalité«

Abb. 2 Meine Schwester und ich an den Schwegelpfeiffen in unserer Gaststube an einem freien Wochenende während unserer Internatszeit, 1982

meverfahrens an der Kunstuniversität, holte ich in kürzester Zeit die für die Aufnahmeprüfung verlangte Musiktheorie nach. Wichtige Erfahrungen im Ensemblespiel und in der Volksmusik gehörten jedoch weiterhin dazu. Musik war nach wie vor in unserer Familie eines unserer wichtigsten Lebensmittel, machte uns allen Spaß und Freude  : ich auf der Gitarre, die ich mir selbst beigebracht hatte, sowie der »Sekundgeige« als Begleitinstrument (Terzen jeweils auf den ‚schwachen‘ Taktzeiten im 2⁄4, 3/4 usw.), meine Mutter auf der steirischen Harmonika, meine Schwester am diatonischen oder chromatischen Hackbrett. Mit befreundeten Kontrabassisten, Klarinettisten und Geigern wurde das Ensemble immer wieder klanglich erweitert. Dazu war auch der mehrstimmige Gesang von uns zwei Schwestern mit unserer Mutter, wie wir es von klein auf gewohnt waren, ein wichtiger Teil der volksmusikalischen Praxis mit Instrumentalbegleitung. Auch waren wir gefragte TanzmusikantInnen im erweiterten Ensemble mit Instrumenten wie Bassgeige, Klarinette und Geigen. Was mir von Anfang an nicht behagte, waren die oft strenge hierarchische »Ordnung« und das Weitertragen und damit Manifestieren starrer Rollenbilder in der Volksmusik- und 151

Elfriede Reissig

Abb. 3 Unsere Band  : Judith Moschitz (Hackbrett), Herbert Striedinger (Steirische Harmonika), Helmut Wulz (Klarinette), Elfriede Moschitz, heute Reissig (Gitarre), und Bertha Moschitz (Steirische Harmonika), 1988

Abb. 4 Volksmusiktrio Elfriede Moschitz, heute Reissig, mit den Geschwistern Stefan und Marlies Heckel im Schloss Plankenwarth/Graz, 1994

152

»L’art pour la réalité«

-tanzszene. (Allerdings erinnere ich mich, dass ich als 10-Jährige den ersten Kindervolkstanzkurs absolvierte und, weil es zu wenige Buben dorthin zog, die Rolle des Tänzers übernahm – in Lederhose  !) Wir gingen mehr oder weniger bewusst auf Distanz und wählten aus überlieferten Volksmusiktraditionen sängerisch und instrumental das für uns Passende aus. Die leidige Inszenierung von Unterwürfigkeit bei den Frauen im Volkstanz fand ich altbacken und restaurativ. Zwar spielten wir oft zum Tanz auf und ich absolvierte eine Ausbildung zur (Volks-)Tanzleiterin, meine Praxis war jedoch eher eine widerständige. Mein tänzerisches Ausscheren und das meines Tanzpartners stießen auf wenig Begeisterung, wenn nicht nur ich mich – wie vorgeschrieben – unter dem Arm des Tanzpartners drehte, sondern auch der Tanzpartner sich unter dem der Frau. Uns war es egal und wir hatten großen Spaß im Aufbrechen und dem Spiel damit.

Schicksal, Brüche und Umwege, die bekanntlich im besten Sinne »die Ortskenntnis erhöhen« Wie Bildungs- und Ausbildungswege sich gestalten, hängt auch von den Lebensumständen, der familiären Situation und wohl auch dem Geschlecht ab. Tiefgreifende Darstellungen zu meiner Biographie, meiner Wahrnehmung von Karriere und meinen subjektiven Erfahrungen als Künstlerin in Österreich – die auch von langjähriger Krankheit und dem frühen Tod meiner Eltern geprägt waren – würde den vorgegebenen Rahmen dieses Beitrags sprengen. Dennoch sollen diese Lebensumstände in aller Kürze in die vorliegenden Darstellungen integriert werden, gehören sie doch als wichtige Komponenten zu meinen Erfahrungen mit nicht unbedeutenden Konsequenzen auf die künstlerische Karriere dazu. Ich hege grundsätzlich Zweifel an einem engen Konnotationsraum des Karrierebegriffs (frz. carrière – Rennwagen). Ohne nennenswerte Zäsuren seinen_ ihren Bildungsweg verfolgen zu können, im Alter von 18 oder 19 Jahren ein Studium zu beginnen, dieses in der vorgeschriebenen Zeit erfolgreich zu absolvieren und nach Beendigung ins Berufsleben einzusteigen, gilt als optimaler Verlauf bei Männern und Frauen am Weg zum späteren Beruf. Im Kontext einer Universitätskarriere ist dazu noch unabdingbar, in Kontakt mit MentorInnen zu sein, die den wissenschaftlichen Nachwuchs in seiner universitären Karriere fördern und begleiten. So zumindest der übereinstimmende Konsens in diversen Förderprogrammen für weibliche Universitätsabsolvierende.5 Geht man_ 153

Elfriede Reissig

frau andere Wege, erzeugt dies großen Druck und schafft gänzlich andere Voraussetzungen für eine Karriere. Durch das Krankwerden meiner Eltern ab dem Jahr 1986 änderte sich mein Alltag schlagartig. Ich übernahm alle familiären Aufgaben als pflegende Angehörige und älteste Tochter. Dazu gehörten unter anderem auch die Weiterführung des Betriebes und die Versorgung der jüngeren Geschwister, bis sie in ihren Berufen gefestigt waren. Die eigene Ausbildung mit dem Ziel zu maturieren, den Musikunterricht und die Chorpraxis wollte ich trotz aller Umstände nicht vernachlässigen und so widmete ich jede freie Minute dem Lernen und Üben. Nach mehreren auf allen Ebenen fordernden Jahren starb meine Mutter im Alter von 54 Jahren. Mein ebenfalls kranker Vater verstarb wenige Jahre später. Die Folgen dieser Situation wirkten sich maßgeblich auf meine erste Studienwahl aus  : das Fach Ethnologie Europaea. Ich wählte es nicht nur, weil es mich interessierte, sondern – ganz pragmatisch – weil die Abwesenheit bei den Lehrveranstaltungen nicht gleich den Verlust eines Studienplatzes zur Folge hatte und ich flexibel war, wenn zu Hause meine Hilfe und Unterstützung gebraucht wurde. Die weiteren Konsequenzen dieses für mich selbstverständlichen »Einspringens« in der Familie für meinen weiteren Lebensweg waren vorprogrammiert  : weit verzögerter Beginn der Berufslaufbahn, das Musikstudium konnte ich erst mit 26 Jahren beginnen, damit verzögerter Start ins Berufsleben, verzögertes Einkommen, weniger materielle Ressourcen, Auswirkungen auf die eigene Familienplanung sowie in Summe weniger Pensionsjahre – auch dies ist eine Realität. Jede, die und jeder, der eine solche Herausforderung zu tragen hat, weiß, dass dies innerhalb der Familie gerne – ob bewusst oder unbewusst – geleistet und gegeben wird, um das Familiensystem zu erhalten und den Alltag für alle so positiv wie möglich zu gestalten. Wie sehr mich die Situation, das ständige Überschreiten der eigenen Grenzen und Kraftreserven, damals noch ohne Unterstützungsprogramme für pflegende Angehörige wie heute, überfordert hat, wurde mir erst nach dem Tod der Eltern, und damit auch dem Ende dieses Durchhalten-Müssens, bewusst. Darauf reagierte ich bestmöglich, indem ich mir neue Lernmuster aneignete (ein wahrer Lernprozess  !) und in Kontakt mit den eigenen Grenzen bin, wie jede_r diese Lernerfahrung macht, der_die mit zum Beispiel Burnout-Symptomen zu kämpfen hat. Daher bin ich dankbar für diese Empirien des Umgangs mit existentiellen Erfahrungen wie Krise, Krankheit und Tod. Die sozialen und emotionalen Kompetenzen und Potentiale, also Soft Skills, die dadurch hervortreten und letztlich auch ein Stück Weisheit, die den Blick aufs Leben schärfen und bereichert haben, betrachte ich als menschlichen Reichtum. Nicht zuletzt auch 154

»L’art pour la réalité«

auf Grund dieser Kompetenzen ließ ich mich zur Mediatorin ausbilden, um Menschen in konflikthaften Situationen lösungsorientiert zu begleiten.

Dirigentin, Sängerin, Ensemblemitglied Ich leitete bereits seit 1989 einen gemischten vierstimmigen Chor in der Nachbargemeinde und sammelte erste Erfahrungen in der Chorpraxis als jugendliche Chorleiterin. Als Sängerin und Ensemblemitglied des vom Dirigenten Franz Herzog professionell geleiteten Kammerchors Vocal Forum Graz boten sich mir darüber hinaus Möglichkeiten, mein musikalisches Repertoire auszuweiten, reiche Konzert-, Auftritts- und Tourneeerfahrungen zu sammeln und meine Stimme in der wöchentlichen Chorprobe professionell auszubilden. Die Zugehörigkeit zu diesem Kreis einmal in der Woche und die fröhlichen, offenen Begegnungen halfen mir in dieser Zeit nach dem Tod meiner Mutter (1991) ganz besonders. Langsam erfuhr ich durch die SängerInnen des Chores, unter denen ProfimusikerInnen waren, welche Möglichkeiten einer musikalisch-künstlerischen Berufslaufbahn es überhaupt gab. Auf eigene Initiative nutzte ich zahlreiche ChorleiterInnenkurse zur Weiterbildung und meine Begeisterung für das Dirigieren, wie auch dafür, »die Führung zu haben«, wuchs. Als Volkskundestudentin immer auf der Suche nach Betätigungsfeldern und Einkommensmöglichkeiten, arbeitete ich stundenweise für einige Jahre während meines Studiums auch im Steirischen Chorverband, der Dachorganisation der steirischen Chöre in Graz, gestaltete Ausstellungen und organisierte das Notenarchiv neu. Die Verbindung und das Netzwerk zur Universität für Musik und darstellende Kunst Graz wurden langsam dichter. Bis ich eines Tages beschloss, zur Aufnahmeprüfung für das Studium Musikleitung/Chordirigieren anzutreten. Ein Musikleitungsstudium war eines jener künstlerischen Studienzweige, bei denen das Alter weniger im Vordergrund stand. Für nahezu alle anderen künstlerischen Studienrichtungen, z.B. dem Gesangsstudium, war ich mit 26 Jahren, so wurde mir kommuniziert, »zu alt«. Nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung an der Grazer Kunstuniversität war ich Teil der Musikstudierenden, und dies in einem bis heute eindeutig männlich dominierten Fach  : Im Jahr 2015 lag der prozentuelle Anteil von Frauen im Dirigierstudium bei 39 Prozent (vgl. KUG 2015). Bisher sind wir weit von 50 % Frauenanteil an nationalen und internationalen Dirigierpulten entfernt. Doch die Situation ändert sich zum Glück, sowohl national als auch international. 155

Elfriede Reissig

Mit Beginn des Musikstudiums hatte ich einen neuen KollegInnenkreis. Aus diesem Kreis wurden die damals noch studierenden Pianistinnen Anneliese Schneider aus dem salzburgischen Pongau und die spätere Komponistin Elisabeth Harnik (Graz) zu engen Freundinnen. Diese fast geschwisterlichen Frauenfreundschaften bestehen bis heute. In der Hochschulpolitik der Kunstuniversität engagierte ich mich für die Leitung des ersten »Frauenreferats« der Österreichischen HochschülerInnenschaft der KUG (Kunstuniversität Graz) und setzte mich in dieser Funktion für die Belange der weiblichen Studierenden ein, regte in der Bibliothek die Kategorie »Frau und Musik« an, die bisher noch nicht ausgewiesen war, und trieb den Ankauf relevanter Literatur weiter an, organisierte Kurse in Selbstverteidigung für weibliche Studierende sowie Einladungen zu offenen studentischen Zusammentreffen für den künstlerisch-wissenschaftlichen Austausch. Zur Finanzierung meines Studiums organisierte ich privaten Klavierunterricht und leitete A-cappella-Chöre. Manchmal stand ich bis zu drei Ensembles gleichzeitig vor, das bedeutete Probenarbeit an mindestens drei Abenden pro Woche und eine noch intensivere Probendichte kurz vor Konzerten. Darüber hinaus übernahm ich Kirchendienste mit Orgelspiel. Eine Erkrankung bedeutete für mich den Entgang des Honorars und damit Existenzsorgen – eine langjährige Begleiterscheinung des künstlerischen Berufs  !

Netzwerk und die Entstehung künstlerischer Kooperationen Alle Möglichkeiten meines kreativen Potentials nützend, hatte ich die Idee zur Gründung des Frauenduos Marand’Anna. Gemeinsam mit der Pianistin, Klavierpädagogin und Cellistin Anneliese Schneider, die ebenfalls mit der tradierten alpenländischen Musik vertraut und aufgewachsen war, beschäftigte ich mich eingehend mit Volksliedern aus verschiedenen Ländern Europas, die wohl nur durch weibliche Urheberinnen entstanden sein konnten, so eng wie sie mit dem Leben und Alltag von Frauen in Geschichte und Gegenwart verwoben waren. Wir interpretierten sie und begleiteten uns auf unseren Instrumenten, arrangierten das ein oder andere Stück und hatten große Freude dabei. Neben all unseren musikalischen Ressourcen – und derer gab es viele  : steirische Harmonika, Cello, Gitarre und zweistimmiger Gesang –, erweiterte Elisabeth Harnik, damals noch im Klavierstudium, als Gästin und Sängerin das Frauenduett zum Trio. Wir waren österreichweit gefragt und regten mancherorts zum Nachdenken und zur Reflexion an. In einem irischen Lied ging es zum Beispiel um die Tragik des Verheiratet-Werdens eines Mädchens mit einem um viele Jahre älteren Mann. 156

»L’art pour la réalité«

Abb. 5 Das Duo Marand’ Anna. Als Logo wählten wir ein Foto von zwei Tanten von Anneliese Schneider aus dem salzburgischen Pongau

Abb. 6 Das Duo Marand’ Anna, Anneliese Schneider (Cello), Elfriede Moschitz (Gitarre) bei der Eröffnung der Institution »Kinderdrehscheibe« in der Brandhofgasse/Graz, 1995

157

Elfriede Reissig

In einem Lied aus Frankreich, in dem die Hoffnung besungen wird, dass die schwere Arbeit am Feld endlich vorübergeht, gibt es trotz Heirat, Schwangerschaft und Alter kein Ende der körperlichen Belastungen. Doch auch über Fröhliches erzählt dieses Liedgut, über das Schicksal vergangenen und dann doch nicht so vergangenen Frauenlebens und -liebens  : »A Buttn voll Kinder und an rotzigen Mann …«.

Lesefeminismus Einen bedeutenden Aspekt dieses Netzwerks freundschaftlich verbundener Frauen bildete der Austausch über die damals verfügbare feministische Literatur. Über diesen Anfang der 1990er-Jahre praktizierten »Lesefeminismus«, wie ich ihn bezeichnen würde, standen wir in intensivem gegenseitigen Literaturaustausch über feministische und manchmal auch mythofeministische Bücher namhafter Autorinnen und Feministinnen wie Gerda Lerner (1920–2013), Heide Göttner-Abendroth (*1941), der evangelischen Theologin Jutta Voss (*1942), Barbara Walker (*1930), weiters Angelika Aliti (*1946) und der bayrischen Autorin und Reiseschriftstellerin Luisa Francia (*1949). Die deutschen Übersetzungen einer der ersten FamilientherapeutInnen Virginia Satir (1916–1988) und der amerikanischen Frauenrechtlerin und Psychotherapeutin Anne Wilson Schaef (*1939) beeindruckten uns tief in ihrer Konsequenz und Direktheit, Verstrickung und Abhängigkeit von der Familie bis zu politischen Systemen deutlich anzusprechen. Die Beschäftigung mit diesen Werken, die wir Frauen derselben Generation lasen, bedeutete eine neue und spannende Erfahrungswelt, in die wir eintauchten, die uns weiter zur Selbstbestimmung voranbrachte, bestärkte und in unsere künstlerische Auseinandersetzung – vom Klang bis zu Bildern – mit diesen Themen hineinwirkte. Die österreichische Komponistin, Freundin und damals Studienkollegin Johanna Doderer empfahl mir zum Beispiel das Buch »Die Wolfsfrau« von Carola Pinkola Estés mit seinen überlieferten und transformativen Mythen und Märchen und ihrer höchst aufschlussreichen psychoanalytischen Deutung nach Carl G. Jung. Durch Johanna lernte ich die Werke der feministischen Autorin mit griechischen Wurzeln, der Schauspielerin, Dramatikerin und Psychotherapeutin Angelika Aliti kennen, sie waren sich auch persönlich begegnet  : »… sie ist jedoch sehr radikal  !«, gab Johanna mir damals zu verstehen, als sie mir Alitis Bücher gab, »Die wilde Frau« und »Die Sucht unsterblich zu sein«. »Warum der Mensch den Tod fürchtet und darüber das Leben versäumt« aus dem Jahr 158

»L’art pour la réalité«

1991 ist eines jener Werke, die aktueller nicht sein könnten. Jahre später wollte ich Kontakt zu Angelika Aliti für eine Podiumsdiskussion aufnehmen und fand in meinen Recherchen heraus, dass sie von Hamburg aus in die Südsteiermark gezogen war, wo sie bis heute lebt und arbeitet – wir sind bis jetzt befreundet. Eine wichtige Frau aus unserem Netzwerk ist auch die steirische Malerin Marianne Gschier, die mich in vielen Aufbrüchen und konflikthaften Lebenssituationen nach dem Tod meiner Eltern bestärkte und durch ihre eigenen Erfahrungen und psychologischen Kompetenzen maßgeblich unterstützte. Durch sie wuchs nicht zuletzt auch das Bewusstsein über die enge Verbindung zwischen Musik und bildender Kunst stetig. Besonders in den Forschungen zu Giacinto Scelsi (1905–1988) und seinen Zugängen zu Spiritualität und seiner Perzeption des kosmischen Klangs für seine Improvisationen waren unsere Gespräche stets existentiell und bereichernd.

Musikalische Prägung und die Folgen für die künstlerischästhetische Praxis Wie wird eine Volksmusikantin zur Neue-Musik-Forscherin und Interpretin  ? Von frühester Kindheit mit Klängen umgeben aufzuwachsen, selbst zu musizieren und die Umgebung vor allem sehend und hörend wahrzunehmen, neugierig zu sein und nicht zu »bewerten« können Voraussetzungen gewesen sein. Offenheit zu üben und unvoreingenommen Neues auszuprobieren gehörten dazu. Im Lebensprozess gelernt und erfahren zu haben, dass es so etwas wie Sicherheit nicht gibt, mag eine Hilfe sein, dass man Konstrukte von Sicherheit erst gar nicht bildet und als aufrechterhaltenswert betrachtet. Kunst und Kultur dienen oft dem Aufrechterhalten der Illusion von »Sicherheit«. Menschen sehnen sich verständlicherweise nach Sicherheit und Gewissheit. Das Genre »Schlager« lebt ganz gut davon. Auf der Suche nach Bestätigung der eigenen Ästhetik, mit dem Risiko der Stagnation, das mag für Menschen passen, die sich aus welchen Gründen auch immer und vielleicht aus berechtigtem Selbstschutz dem Neuen verschließen und dies womöglich mit dem Preis des Stillstands bezahlen. Ich denke KünstlerInnen können und wollen sich dies nicht leisten. Gegenwartskunst und -musik spiegeln gegenwärtige sozio-kulturelle kollektive Mechanismen wider, die im abstrakten (unbewussten Denk-)Raum einer Gesellschaft verortet sind, damit schwer greifbar werden und einen konstruktiven, aktiven und gestalterischen Umgang damit vermeiden, verzögern und/oder verhindern. Die zeitgenössische Kunst bietet die Möglichkeit, diese abstrakten 159

Elfriede Reissig

kollektiven Vorgänge in Gestalt von Musik (kompositorischen Werken), bildender Kunst (Bilder), Film und Tanz aus der Abstraktion herauszulösen und in den sicht-, hör- und begreifbaren Raum zu transportieren und ihnen eine Gestalt zu geben. Dann erst sind Strategien zur kreativen und lösungsorientierten Auseinandersetzung möglich. Dies ist die meiner Meinung nach zentrale Aufgabe der zeitgenössischen Kunst  : der kreative Umgang mit dem, was uns bewegt und dessen Transformation und Integration noch ausständig ist. Dazu will sie Anreiz geben und ermutigen. In der Rezeption zeitgenössischer Musik machen Hörende Erfahrung mit Stille, der Mikrotonalität, Geräuschen, dem Klangraum digitaler Klänge wie sie die elektronische Musik generiert und die zu Unvertrautem einladen. Wie können gelungene Begegnungen in der Musikvermittlung zeitgenössischer Musik stattfinden  ? Als Dirigentin, Kuratorin von Konzertformaten und Leiterin der IGNM Steiermark (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) ist die Vermittlung zeitgenössischer Musik für die breitere Rezeption eines meiner Aufgaben. Nachvollziehen zu können, wie schwierig manchmal die Überwindung vertrauter Klanggewohnheiten ist, ist für mich der Schlüssel, wie diese Annäherung gelingen kann. Meine erste Begegnung mit der Musik Karlheinz Stockhausens, wie überhaupt der Musik des 20. Jahrhunderts, hatte ich im Alter von 17 Jahren. Im Rahmen eines Europa-Symposions (1984) war ein Musikwissenschaftler eingeladen worden, über das Thema »Musik der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts« zu referieren und die wichtigsten Werke und Komponisten – ‚natürlich‘ ausschließlich ihrer männlichen Vertreter – vorzustellen. Am Beginn des Vortrags stand das Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts  : Stockhausens »Jünglinge im Feuerofen«, eines der ersten Werke für elektronische Musik. Nach der theoretischen Vorstellung folgte die erste Hörprobe in der Länge des Werks. Ich war derart fasziniert und begeistert, ja im besten Sinne elektrisiert von diesen Klängen, die erst akustisch (Knabenchor), dann sich immer mehr in elektronische Klänge transformierend, sich auch von Sprache, Harmonie und Melodie in einer Zartheit und Behutsamkeit entfernten, dass sich mir ab diesem Moment die Klangwelt des 20. Jahrhunderts erschloss und die dadurch möglichen Dimensionen von Freiheit und Unabhängigkeit jenseits von Harmonie, Melodie und Form radikal und nachhaltig manifestierten. Wie gelangen nun Menschen, denen diese Erfahrungen und Begegnungen fehlen, dazu, zeitgenössische Musik zu rezipieren und zu verstehen  ? Ob die Tiefendimension der Musik Franz Schuberts, die in ihrer Verstörung an vielen Stellen seines Werks größer ist als bei so mancher Neuer Musik, erfasst und 160

»L’art pour la réalité«

verstanden werden, wage ich zu bezweifeln. Fehlt die Rezeption von Werken der Dodekaphonie Schönbergs, Bergs und Weberns oder ist das späte Werk Debussys gänzlich unvertraut, könnte dies die Kluft definieren, die den Sprung in die Musik und Klangwelt des 20. Jahrhundert so unüberwindbar macht. »John Cage mit Brahmsohren zu hören ist schwierig  !«, sagte mein Professor für Chordirigieren Rupert Huber. Mit Konzerten und Veranstaltungen, auch interdisziplinär gemeinsam mit den Wissenschaften, Film, Medien, Tanz und Literatur, möchte ich zur Rezeption der zeitgenössischen Musik beitragen. Zur Disposition steht dabei auch mit dem ganzen Körper zu »hören«, die Erwartungshaltung einmal ganz aufzugeben – dies kann Möglichkeiten eröffnen. An die Stelle von »Erwartung« (= die Illusion der Kontrolle über die Zukunft) treten dann womöglich Neugier und Freiheit  ! Selbstverständlich ist für mich, besonders als Sprecherin der IGNM, die Ausgewogenheit der Auswahl zwischen Werken von männlichen* und weiblichen* KomponistInnen und KlangschöpferInnen im Konzertprogramm herzustellen. Dies stellt keine Schwierigkeit dar, es ist im Gegenteil mühelos und leicht – weil es eine Entscheidung ist  ! Als Beispiel sei ein Konzert der IGNM am 11. Dezember 2015 mit thematischem Bezug zu/m »einatmen.ausatmen – Atem und Klang« an dieser Stelle angeführt  : Elisabeth Harnik Charlotte Seither Olga Neuwirth Charlotte Seither Giacinto Scelsi Vinko Globokar Gerd Noack

A Leave (2012) für Frauenstimme und Flöte Herzform, Krater (2001) für Akkordeon NOVA/Minreaud (1998) für Sopran und Zuspielband The long distance from zero to one (2010) für Stimme Pwyll (1984) für Flöte Dialog über Luft (1994) für Akkordeon DAL RAJASTAN für Stimme, Flöte und zwei Akkordeons, UA

Mehrere Kooperationen mit dem Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten und dem Zentrum für Genderforschung der KUG spielen bei der Umsetzung und Verwirklichung (Finanzierung  !) künstlerischer Ideen eine wichtige Rolle. Als Teile meines Netzwerkes stellen sie gegenwärtig und für die Planungen in Zukunft eine wichtige Basis dar.

161

Elfriede Reissig

Kinder und Neue Musik Die Erfahrungen aus der Arbeit mit Kindern empfand ich stets als Bereicherung. Sei es die Interpretation von Werken zeitgenössischer Komponisten, zum Beispiel die Aufführung von »Rojanji« von John Cage mit 20 Kindern der Musikschule Gratkorn, sei es der kreative Umgang mit Klängen und Geräuschen zur Schaffung eines neuen Klangwerks im Rahmen der Initiative Klangnetze Österreich, bei der in der Zusammenarbeit mit einer Klasse einer Unterstufe das Werk »Pow-Wow« entstand, sind unvergessliche Erlebnisse. Die Unvoreingenommenheit, mit der Kinder diese Musik rezipieren, begeistert und spielerisch sogar selbst Werke entstehen lassen können – dieser Umgang mit Klang und Geräusch ist beispielhaft, auch für Erwachsene  ! Für zwei Semester unterrichtete ich an einer Montessori-Volksschule ein Eltern-Kinder-Singen, wo in kleinen Gruppen diverses von mir ausgewähltes Liedgut geübt und gesungen wurde. Neben den Liedern, die ich selbst als Kind von meiner Mutter gelernt hatte, wählte ich Volkslieder des alpenländischen Raums und darüber hinaus. Den Text eines alten überlieferten Wortspieles und Sprachscherzes musste ich jedoch abändern. Es handelte sich um das Lied »Im Himml, da fang i mir a Maus« – mit der Verszeile »Der Maus, der ziag i ab das Fell«. Denn  : Einer Maus wird heute nicht mehr das Fell abgezogen, nicht einmal im Lied. Die angstvollen Augen der Kinder und Erwachsenen, die anschließend zu mir kamen mit der Bitte dieses Lied nicht mehr zu singen, habe ich zur Kenntnis nehmen müssen. Es wäre interessant, welche Erfahrungen PädagogInnen in der sogenannten musikalischen Früherziehung mit diesem Liedgut haben.

Musikwissenschaft und Lehre Von 2001 bis 2006 unterrichtete ich Musiktheorie und Gehörbildung am Institut für Musikologie in Graz. Am Anfang meiner Lehrtätigkeit hatte ich idealerweise ca. 20 Studierende in meiner Klasse und verdiente ein angemessenes Gehalt. Nach der großen Universitätsreform allerdings verdreifachte sich die Studierendenzahl und das Gehalt wurde um 50 % gekürzt. Kunstuniversität und Universität beschlossen in den weiteren Jahren, die Musikologie »zusammenzulegen«, den Theorieunterricht übernehmen seitdem die Kollegen der Kunstuniversität. Als Dirigentin des Universitätschores der Karl-Franzens Universität seit dem Jahr 1999 waren die zahlreichen Tourneen, die wir organisierten – Guate162

»L’art pour la réalité«

Abb. 7 Konzert mit dem Universitätschor der Karl-Franzens Universität Graz im Dom von Mexiko City mit einem Johann-Sebastian-Bach-Programm, 2002

mala, Mexico City, Schweden –, spannende Ziele, künstlerisch erfolgreich und ein Gewinn. Im Jahr 2003 entschied ich mich, am Institut für Musikästhetik und Musiktheorie eine Dissertation (Reissig 2014) über ein Werk des italienischen Komponisten Luigi Nono (1924–1990) zu verfassen, denn die Tools der Wissenschaft hatte ich ja nach wie vor zur Verfügung. So verließ ich ab Mai 2003 Österreich, um am Archivio Luigi Nono ALN in Venedig mit meiner Forschungstätigkeit zu beginnen. Mich auf diese Weise musikwissenschaftlich mit dem 20. Jahrhundert auseinanderzusetzten, erschien mir äußerst lohnenswert und vertiefte auch meine künstlerische Arbeit. Es folgte also eine intensive Arbeitsphase im Sommer 2003 und ich hatte das Glück, eine Wohnung einer Bekannten auf der Giudecca, ganz in der Nähe des Archivs und meiner neuen Forschungsstätte, zu bewohnen – allein und minimal in den täglichen Aufwendungen. Solch ein Leben war mir vertraut, allerdings hatte ich nun den Rahmen gewechselt und ein Leben in Venedig ist natürlich ein Privileg. Ich lernte Nuria Schönberg-Nono kennen, die Tochter Arnold Schönbergs und Witwe Luigi Nonos. Die Atmosphäre in den Räumen eines 163

Elfriede Reissig

Abb. 8 Vor dem Eingang zum Archivio Luigi Nono auf der Giudecca/Venedig, 2003

alten Palazzos direkt am Giudecca-Kanal, im Blick das smaragdgrüne Meer, die zartrosa gefärbten Häuser auf Zattere gegenüber, die Abendsonne, die nur am Morgen und am Abend die fondamenta erleuchtete und den Tag über ein Leben im angenehmen Schatten erlaubte, sind mit nichts zu vergleichen. Zwar ohne Anstellung, doch nie ohne Arbeit freischaffend, widmete ich mich voll und ganz der Fertigstellung meiner Dissertation und schloss sie im April 2007 mit Auszeichnung ab. Ideen für künstlerische Projekte und zu ihrer Verwirklichung hatte ich stets zur Hand. Dabei lagen Planung, finanzielle Akquirierung, künstlerische Umsetzung bis hin zur Bewerbung meiner künstlerischen Initiativen in meinen Händen und ein Delegieren war kaum möglich. So künstlerisch erfüllend diese Projekte ohne institutionelle Verankerung waren, finanziell boten sie keine stabile und schon gar keine langfristige Grundlage. Dies alles änderte sich mit meiner Anstellung an der Kunstuniversität Graz im Rahmen eines FWF-Forschungsprojektes. Ich stand gerade vor meiner Abreise zur ArchitekturBiennale2008 nach Venedig, wo ich nach einer Einladung Vorträge und Workshops zu architektonischen Konzepten in Nonos Musik halten sollte. Solche Aufträge für Vorträge taten sich immer wieder auf, doch dies 164

»L’art pour la réalité«

allein war einfach zu wenig. Sofort nach meiner Rückkehr machte ich mich an die Arbeit. Die Projektidee kam von mir und mit Federico Celestini, heute Vorstand des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Innsbruck, als Projektleiter wurde das zweijährige Forschungsprojekt »Giacinto Scelsi und Österreich« (2010–12) genehmigt. Beheimatet war es am Institut für Musikästhetik der KUG. Seit dem Jahr 2010 rückte die Musik vorerst etwas mehr in den Hintergrund, das Forschungsprojekt erforderte höchste Konzentration und zahlreiche damit verbundene Forschungsreisen nach Graz, Rom und Paris waren Teil der Recherchen zu Scelsi. Die Forschungsaufenthalte in Rom genoss ich sehr, meinen Weg »in die Arbeit«, der mich über das Kapitol vorbei am Forum Romanum und schließlich in das Archiv der Fondazione Isabella Scelsi führte (Isabella war Scelsis Schwester, ihr war nach seinem Wunsch diese Stiftung gewidmet), beschrieb ich in einem Essay für das »musikprotokoll« 2015 (Reissig 2015). Scelsis Musik, vielmehr seine Klangwelt im Kosmos der Mikrotonalität, seine Klangwelt zwischen »Orient und Okzident«, sein Werk zwischen Komposition und Improvisation, erschließt sich für ein breiteres Publikum erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Die Wissens- und Kenntniserweiterung über dieses außergewöhnliche Werk des 20. Jahrhunderts ist bedeutend für alle, die sein Werk erforschen und interpretieren wollen.

Initiativen Mein Netzwerk aus FreundInnen aus Musik, Wissenschaft, der bildenden Kunst, der Pädagogik, Frauen im Kulturmanagement und an den Universitäten sowie freischaffenden KünstlerInnen war und ist stark und tragfähig. Mit Elisabeth Harnik gründete ich 2012 den Verein »Welt.Raum.Prenning Verein für Wissenschaft, Kunst und Holistik«, in dessen Rahmen wir Konzerte, Lesungen und Vorträge zu den von uns ausgewählten Jahresthemen »Klang und Sprache«, »Der Klang des Widerstands« oder »Verbundenheit und Empathie« konzipierten und veranstalteten. Diesem Ort in Prenning bei Graz kam im Zweiten Weltkrieg eine bedeutende Rolle im Widerstand zu, und mit unseren kritischen Programmen wollen wir den Auftrag des Ortes ein Stück miterfüllen, ganz im Sinne der neuen Besitzer- bzw. Unternehmerfamilie des alten Hauses und seiner Umgebung, die uns bis heute Infrastruktur und Raum gerne zur Verfügung stellen. Wir unterstützen uns in beruflicher Hinsicht im Hineinnehmen und »auf die Bühne Bringen« spannender Projekte in unseren Veranstaltungen oder musizieren ge165

Elfriede Reissig

meinsam. Wir versuchen stets zu reflektieren und geben uns wertvolle, konstruktive Unterstützung in der Außensicht – Feedback, das uns stets weiterbringt.

Vielseitig schöpferisch – schöpferisch vielseitig Vielseitigkeit ist in einer Welt, in der Professionalisierung und das ExpertInnentum so hoch bewertet werden, eher verdächtig. Doch ich bewerte sie hoch, bedeutet Vielseitigkeit doch, das eigene Potential voll ausschöpfen zu wollen und zu können. War es in meinem Fall der spielerische Umgang mit Klängen in der Kindheit, so folgte die Befreiung und Erweiterung meiner musikalischen Ästhetik durch die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Musik nicht zuletzt auch durch die Begegnung mit den Werken und Persönlichkeiten wunderbarer KollegInnen der Studienrichtung Komposition. Das Erlernen der Tools für das kompositorische Handwerk – »arte« verweist ja auf die mittelalterliche Bedeutung des Wortes Kunst im Sinne handwerklicher Fertigkeiten – durch die intensiven Theoriefächer, die auch als »künstlerische Hauptfächer« bewertet wurden  : Kontrapunkt (Georg Friedrich Haas), Harmonielehre (Bernhard Lang) und Formenlehre (Claudia Zenck) führten mich unweigerlich und erst einmal über das Handwerk zum eigenen Komponieren und Klangschöpferinnentum.

Komponieren Ich erhielt auch Kompositionsaufträge, die ich als Interpretin, Sängerin, Organistin und Dirigentin solistisch bzw. im von mir gegründeten Ensemble Chiaroscuro uraufführte. Von Kompositionsstudierenden wusste ich, dass einige unter ihnen ganz bewusst das Fach Dirigieren studieren. Da sagte zum Beispiel eine Kollegin aus China einmal zu mir  : »Weißt du, ich möchte meine eigenen Werke aufführen können.« Die Aufführbarkeit ist immer ein Thema beim Komponieren. Ein Werk dirigieren zu können, ist unter anderem eine wichtige Orientierung im Kompositionsprozess, und ich nahm diese Herausforderungen gerne an. Einen Kompositionsauftrag erhielt ich im Jahr 2000 vom Grazer Kunstverein Rhizom anlässlich der Veranstaltungsreihe »inspirationès/atemzüge«. Ich sollte dabei eine raumgreifende Musik schaffen und drei Räume mit meinen Kompositionen »bespielen«. »RÛAḥ« nach dem hebräischen Wort für »Wind«, »Atem« und »Geist«6 betitelte ich mein Werk für Flöte solo, Vokalensemble 166

»L’art pour la réalité«

Abb. 9 CD-Produktion RÛAH, frie moschitz (Komposition) und groupe ensuite, 1998

und Live-Electronic. Bei der formalen Konzeption noch unsicher, holte ich den Rat von Elisabeth Harnik ein, die damals Kompositionsstudentin bei Beat Furrer war. Sie sollte einen Werkteil mitgestalten. Bei unserem Gespräch sagte sie dann plötzlich  : »Du weißt ja ganz genau, was du machen willst  !« Das ermutigte mich sehr und die Produktion gelang ganz wunderbar  ! Die VeranstalterInnen arbeiteten sehr professionell und produzierten im Rahmen der Reihe eine sehr feine CD meines Opus 1. Dazu gründete ich mein erstes A-cappella-Vokalensemble groupe ensuite und dirigierte die Uraufführung des ca. 50-minütigen Werks. InterpretInnen waren viele meiner KollegInnen von der Kunstuniversität Graz und wir genossen diese Aufführung sehr. Im September 2009 lud mich die steirische Malerin Edith Temmel zur Teilnahme an der KünstlerInnenklausur für bildende Kunst der styrianARTfoundation ein, die seit mehreren Jahren alljährlich im Stift Rein bei Graz über drei Wochen durchgeführt wird, initiiert von den Edith Temmel und der Grazer Mäzenin und Kunstförderin Margarethe Roth. Mit mir war zum ersten Mal eine Musikerin unter den bisher ausschließlich aus der bildenden Kunst eingeladenen TeilnehmerInnen. National und international bedeutende Beiträge zur zeitgenössischen bildenden Kunst entstanden auf Anregung der beiden Frauen 167

Elfriede Reissig

im Rahmen dieser Klausurwochen während der Sommermonate. »CRIAS« war der Werktitel unseres in Co-Kreativität mit dem Sound-Designer Stephan Roth entstandenen Werks. Uraufgeführt wurde es von uns live auf der barocken Orgel gespielt und mit der elektronischen Klangumformung durch Stephan, übertragen für das Publikum in den Innenhof direkt neben der Basilika. Die Menschen saßen im Gras und auf den hölzernen von der Sonne angestrahlten Plattformen am Boden und lauschten den Klängen aus dem Inneren des Kirchenraums.

Das Berufsbild Dirigieren und Gender Ein Teil meiner Tätigkeit als Dirigentin, den ich als sehr bereichernd empfand, ist, mit Chören Werke einzustudieren, deren Aufführung dann von einem Dirigenten geleitet wurde. Im Herbst/Winter des Jahres 1999 erhielt ich von der Oper Graz den Auftrag, die Chöre aus Gustav Mahlers 8. Symphonie für eine Produktion mit dem Symphonischen Orchester Graz einzustudieren. Gemeinsam mit dem Chordirigenten der Oper übernahm ich die herausfordernde Aufgabe, mehr als 300 SängerInnen aus mehreren Nationen stimmlich und klanglich zur 8. Symphonie, auch »Symphonie der Tausend« genannt, zu vereinen. Dirigent des riesigen Chor-Orchesterwerks war Milan Horvat (1919–2014). Horvat war zu dieser Zeit Chefdirigent des Grazer Symphonischen Orchesters (1997– 2000) und leitete im Jahr 1999 die Klasse für Orchesterdirigieren der damals noch als »Hochschule für Musik und darstellende Kunst« bezeichneten Ausbildungsstätte, heute Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (KUG). Ein weiteres Werk studierte ich auf Einladung der österreichischen Komponistin Johanna Doderer ein. Im September 2006 wurde ihre zeitgenössische Oper »Strom«, die auf dem ekstatischen Dionysos-Mythos basiert, in einem der Säle des Wiener Museumsquartiers uraufgeführt. Dirigent war Ulf Schirmer. Die Aufgabe, dieses Werk mit den Musizierenden einzustudieren, bedeutete für mich spannende Wochen. Einige Male pendelte ich morgens von der Steiermark nach Wien zu den Proben und am selben Tag zurück, dann wieder verbrachte ich während der Probentage einige Nächte im polnischen Kulturinstitut im Ersten Wiener Bezirk. Ich war ganz Kulturnomadin und freute mich sehr über den großen Erfolg, den Johanna mit ihrer wunderbaren Oper hatte. Die Situation in einem Opernhaus oder Theater kann auch anders gelagert sein, sodass sich Produktionen ergeben, die, meist vertraglich festgelegt, ein gewisses Pensum an Dirigaten ermöglichen. Als freischaffende Musikerin war ich 168

»L’art pour la réalité«

Abb. 10 Dirigentin des Chores von Burgau/Südoststeiermark, Konzert im Innenhof des Schlosses Burgau mit Brahms’ Zigeunerliedern für Chor und Klavier ( Jadranka Cvitkovit), 2006

jedoch sehr glücklich über diese wenigen, aber doch reichen Erfahrungen, mit großen Dirigenten zusammenzuarbeiten. In Österreich ist die Zahl an Laienchören und damit das Betätigungsfeld für ChordirigentInnen zwar groß, es gibt jedoch – anders als in Deutschland – keine soziale Absicherung für diese Tätigkeit. Ich hatte ja bereits viel Erfahrung und gut ausgebildete DirigentInnen sind für Laienchöre nur ein Vorteil. »Mit Laienchören professionell arbeiten« war meine Maxime und so nahm ich diese Arbeit sehr ernst und sah es als meine Aufgabe an, einem Chor mein Gepräge und eine gute Wahrnehmung, wie professionelles Arbeiten funktioniert, zu geben. Denn dann stimmt auch das Gemeinschaftliche, das ja immer sehr hervorgehoben wird. Es gilt  : Ein gutes Konzert macht eine gute Stimmung im Chor. Es war mir möglich, dies zu vermitteln, die SängerInnen »beim Ehrgeiz« zu packen und alle freuten sich über die künstlerischen Erfolge, die erreicht und möglich wurden. 169

Elfriede Reissig

Abb. 11 Weihnachtsoratorium im Saal des Schlosses Burgau, 2005

In der österreichischen Chorlandschaft ist dieser Bereich weitgehend von Frauen besetzt  : das Leiten von Chören, die Tätigkeit im Laienbereich, das pädagogische Wirken und als Profi das Repertoire eines Chores, soweit es möglich ist, zu erweitern und die Stimmen dazu (aus-)zu bilden. An den österreichischen Universitäten gibt es jedoch bis zum Jahr 2019, keine einzige ordentliche Hochschulprofessorin für Chordirigieren. Auch während unserer Ausbildung wurden wir ausschließlich von Professoren betreut. Darstellungen und Analysen zum historischen Hintergrund dieser Tatsache würden den Rahmen dieses Textes sprengen (vgl. ÖMZ 2015). Manches ist schon passiert, doch viel mehr muss in den Gremien der Universitäten mit noch mehr Nachdruck konsequent weiterverfolgt werden. Unterstützung erhalten diese Anliegen durch Institutionen wie die vom Universitätsgesetz vorgeschriebenen Koordinationsstellen (UG § 19 (2) 19) und Arbeitskreise für Gleichbehandlung (UG § 42) bzw. die universitären Statistiken zur Situation in den künstlerischen Hauptfächern (vgl. z.B. KUG 2015).

170

»L’art pour la réalité«

Ensemble Chiaroscuro, Ltg. E. Reissig Im Jahr 2004, ein Jahr nachdem ich mit meinen wissenschaftlichen Studien am Archivio Luigi Nono begonnen hatte, entschloss ich mich, ein weiteres VokalEnsemble zu gründen. Der Schwerpunkt sollte wieder auf der zeitgenössischen Vokalkomposition liegen, das Ensemble im besten Fall aus ProfisängerInnen aller vier Gesangsregister Sopran, Alt, Tenor, Bass bestehen. Anlässlich des 80. Geburtstages von Luigi Nono präsentierte ich im Oktober 2004 mein erstes Konzert im Großen Minoritensaal in Graz mit Werken von Luigi Nono (sein Liebeslied, er komponierte es für Nuria 1956), Morton Feldman, Olivier Messiaen, György Kurtag und der Uraufführung des Werks »3. Elegie Rainer Maria Rilkes« des österreichischen Komponisten Klaus Ager, der dieses Werk mir gewidmet hat. Mit sehr viel Elan und Leidenschaft führten das Ensemble und ich in den folgenden Jahren zahlreiche Uraufführungen von Werken nationaler und internationaler KomponistInnen auf, es machte uns allen große Freude, diese Werke von der Partitur zu lebendiger Musik hörbar werden lassen. Die Aufführungsorte waren oft ungewöhnlich, so erklang zum Beispiel eine Uraufführung des griechischen Komponisten Alexis Porfiriadis, ein Schüler Gerd Kührs, im Grazer Schwimmbad »Bad zur Sonne« und SchauspielstudentInnen der KUG übernahmen die Rezitationen seiner sehr starken, kritischen Texte. Doch nicht nur zeitgenössische Musik wurde von uns interpretiert. Die Klangästhetik der sogenannten Alten Musik in ihrer Klarheit und Transparenz des Klangs und der Intervalle liegt ja eng bei jener der zeitgenössischen, denn sie fordert äußerste Präzision der Intervalle und der Intonation. Als Solistin und Chorsängerin hatte ich die Werke von Palestrina, Gesualdo, Monteverdi, Heinrich Schütz, der Komponisten der Grazer und Salzburger Hofkapellen wie auch Johann Sebastian Bachs Werk kennen und lieben gelernt. Während der Sommermonate besuchte ich Kurse für Sologesang bei hervorragenden Interpreten Alter Musik wie Colin Mason oder Kai Wessel. So gehörten die Epochen der Renaissance und des Barock ganz selbstverständlich zu meinem Repertoire und einer der Höhepunkte mit dem Ensemble waren die beiden Aufführungen des Requiems in f-moll von Ignaz Franz Biber, davor die herrlichen sechs- bis achtstimmigen Motetten Claudio Monteverdis. Als Aufführungsorte wählte ich die Krypta der Herz-Jesu-Kirche in Graz  : ganz mystisch und fein die Akustik, eindringlich auch der Zeitraum der Konzerte, um Allerseelen/Allerheiligen im November 2007. In einer zweiten Aufführung gastierten wir im Dom zu Eisenstadt. Zusammen mit dem Barock-Ensemble von Dario Luisi, der am Landes171

Elfriede Reissig

Abb. 12 Elfriede Reissig mit dem griechischen Komponisten Alexis Porfiriadis bei der Erarbeitung eines zur Uraufführung gelangenden Werks im Grazer Hallenbad »Bad zur Sonne«

konservatorium in Graz lehrt und zu den wichtigen Interpreten Alter Musik zählt, gelangen zwei wunderbare Konzerte. Organisation, Proben, Werbung, manchmal sogar Instrumententransport (das Orgelpositiv  !) und Aufführung lagen in meinen Händen – höchst intensive Wochen und Monate, denn die Planungen müssen mindestens ein halbes Jahr vorher stattfinden. Durch die Dissertation war eine Unterbrechung des künstlerischen Tuns, zumindest was die Konzerttätigkeiten mit dem Ensemble betraf, notwendig geworden. In so einer Situation ist wohl jede Musikerin und jeder Musiker aufgefordert, die musikalische Praxis kurzfristig an die zweite Stelle zu stellen und die Angst zu überwinden, dass sie sich ganz entfernen könnte  ! Ich begann damals schon mit meiner Vortragstätigkeit und erkannte, dass auch dieser Tätigkeitsbereich mir Freude macht und für eine Positionierung als Musikwissenschaftlerin zunehmend wichtig wurde. Mit Werken von Elisabeth Harnik, Gerd Kühr, Beat Furrer und weiteren bedeutenden KomponistInnen der Grazer Schule, die mir sehr am Herzen lag, wie der Wiener Komponistin Elfi Aichinger bestritten wir zwei spannende Konzerte in den hohen Räumen des Essl-Museums in Klosterneuburg im Januar 2009 anlässlich eines Symposions für Elfriede Jelinek sowie einer Sen172

»L’art pour la réalité«

dung mit Irene Suchy »Musik im Diskurs« für den Radiosender Ö1. Besonders schön war für mich immer das »Herauslösen« von SängerInnen aus dem Ensemble, alle waren ja Profis und als solche boten sie großartige Interpretationen von zeitgenössischen Werken für Solo-Stimme, die ins Performative reichten. Diese Freiheit besonders bei der Improvisation, die ja ein wichtiges Merkmal der zeitgenössischen Musik darstellt, und der verantwortungsvolle Umgang mit frei notierter Musik ab 1950 ist eine der Herausforderungen zeitgenössischer Interpretation und Praxis. Einer der Höhepunkte war, als Ensemble eingeladen zu werden, den 200. Todestag von Josef Haydn in der Bergkirche zu Eisenstadt (in der Haydn begraben ist) mitzugestalten. Weitere InterpretInnen und Mitwirkende bei diesem vielschichtigen Konzert waren der burgenländische Komponist Gerhard Kramer, Olga Neuwirth, der Trompeter und Komponist Franz Hautzinger und als Sprecher der Schauspieler Erwin Steinhauer. Er rezitierte u.a. aus einem ärztlichen Bericht zu den letzten Tagen Haydns. Der ORF übertrug das Konzert live um Mitternacht. Von Erwin Steinhauer erhielt ich einige Tage später eine hinreißende E-Mail. Er hatte mich ja, selbst auf der Bühne sitzend, als Dirigentin »von vorne« gesehen und gab mir ein so positives Feedback zu meinem Ausdruck in Gesicht und Händen, er schrieb, dass diese Sprache ihn sehr fasziniert und tief berührt habe. In meiner künstlerischen Entwicklung wichtig waren mir immer – trotz intensiver Arbeit an gleich drei Publikationen zu Nono und Scelsi (2010–2015) – die Uraufführungen von Werken Elisabeth Harniks. Sie arbeitete damals an mehreren Fassungen ihres als Kammeroper konzipierten Werks »KUGELSTEIN« für Chor und Kammerensemble. Später kamen Kinderchor dazu sowie SopranSoli im Dialog mit der Librettistin, der steirischen Autorin Olga Flor, die während der Aufführung als »Erzählerin« ihre eigenen Texte rezitierte. Es geht bei dieser Kammeroper um die römische Ausgrabungsstätte bei Peggau in der Steiermark, die in ArchäologInnenkreisen sehr bekannt ist und von Interessierten besichtigt werden kann. Dieser Ort – Prenning – war ein neuralgischer Punkt in der Geschichte, denn das Murtal verengt sich an dieser Stelle derart, dass nichts dem römischen Späher, am höchsten Plateau des Kugelsteins positioniert, entging. Keiner kam an dieser Stelle ungesehen vorbei, niemand hätte ungebeten die Stelle den Fluss entlang passieren können. Heute führt am Fuße des Berges die Schnellstraße nach Bruck/Mur, links und rechts umgeben von schroffen, steil abfallenden Felswänden, die auch für geübte KlettererInnen eine Herausforderung darstellen. Bei schlechtem Wetter ist die Sicht auf der Straße erschwert und die 173

Elfriede Reissig

Abb. 13 Aufführung von »Kugelstein« in der Kartause Mauerbach bei Wien, 2013. Anlässlich der Inauguration des neuen Leiters Bernhard Hebert

Umgebung wird dunkel und abweisend, das Wasser der Mur hüllt alles in aufsteigenden Nebel und verkehrstechnisch ist diese kurze Strecke bei Schlechtwetter nach wie vor gefährlich. Genau in dieser Stimmung setzt die Szene der Erzählerin ein, sie fährt mit dem Auto, nachts, ein dumpfer Knall, ein Ruck, was war das  ?  ?  ? Vorzeit, Geschichte und Gegenwart verschmelzen zu einem Augenblick, – die Wände zwischen den Zeiten sind dünn  ! Wenden wir uns dem Heute zu  : Ein altes Schloss, vielmehr das einzige Rokokoschlösschen der Steiermark, steht im Ort Deutschfeistritz, in der Nähe des Kugelsteins. Die Besitzer Bernhard Hebert und seine Frau Ulla Steinklauber, sie zählen zu den führenden ArchäologInnen in Österreich, waren für Elisabeth wertvolle Informationsquellen zu den Ausgrabungsstätten sowie der Terminologie der Archäologie. Teile aus der Kammeroper führten wir auf Wunsch des uns herzlich verbundenen Archäologen Bernhard Hebert aus Deutschfeistritz in der Kartause Mauerbach bei Wien auf. Anlass war seine Inauguration zum Leiter der Abteilung Archäologie des österreichischen Bundesdenkmalamtes. 174

»L’art pour la réalité«

Abb. 14 Bernhard Hebert, Leiter der Abteilung für Archäologie des Bundesdenkmalamtes, Ulla Steinklauber (Landesmuseum Joanneum) und Elfriede Reissig nach der Aufführung von »KUGELSTEIN« in der Kartause Mauerbach bei Wien, 2013

Schlussbemerkung Die eigene Musikausübung und künstlerische Praxis in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, um zu Bewusstseinsbildung und Wissenszuwachs sowie Reflexion über den Klang der Gegenwart – und manchmal auch der Vergangenheit – beizutragen, darin sehe ich mein Hauptanliegen. In Kontakt mit schöpferisch tätigen Frauen und Männern der nationalen und internationalen Kulturszene ist dies möglich und bringt wiederum anderen, die Musik- und Klangschöpfungen von uns InterpretInnen, KomponistInnen, ImprovisationskünstlerInnen rezipieren, eine subjektive und kollektive Bereicherung ihres Erfahrungsschatzes. Bei einem Konzert im Rahmen eines österreichischen Avant-Garde-Musikfestivals lernte ich eine argentinische Dirigentin kennen, die mit ihrem Kammermusikensemble in Salzburg gastierte und mit 75 Jahren souverän als Dirigentin zeitgenössische argentinische Musik interpretierte. Dies ist mein Bild und meine Vision für die ferne Zukunft, so sah ich mich im Spiegel  : als alte Frau und tätige, aktive Künstlerin. Reich an Erfahrungen, vertrauensvoll und wissend  : »Das eigene Leben ist ein unaufschiebbares Projekt  !« 175

Elfriede Reissig

Anmerkungen 1 Das Zitat stammt vom slowenischen Komponisten Vinko Globokar (*1934) und ist seinen Lebensschilderungen im Band »Einatmen.Ausatmen« (1994) entnommen. Er zitierte es nochmals in einem Gespräch mit mir am Ort seiner Jugend in Žužemberk/Slowenien im Jahr 2017. 2 Die Entfernung von Musikschulen zu ihrem Wohnort ist nicht unwesentlich für Kinder und Jugendliche. 3 Zentrale Figur der Operette ist der Komponist Franz Schubert, dessen Musik Berté in leicht bearbeiteter Form seiner Partitur zugrunde legte. Das Libretto verfassten Alfred Maria Willner und Heinz Reichert basierend auf dem Roman »Schwammerl« von Rudolf Hans Bartsch. Das romantische Werk wurde am 15.01.1916, mitten im Ersten Weltkrieg, im Raimund Theater in Wien uraufgeführt. 4 Vgl. Barbara Stelzl-Marx, Katherina Bergmann-Pfleger, Eva-Maria Streit, Bildungshaus Schloss St. Martin  : begegnen – bilden – begeistern  : 100 Jahre (Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung, Sonderband 22), Graz 2019. 5 Karriereprogramm 2019 für Wissenschaftlerinnen – Kompetenzen, Strategien und Netzwerke https://koordination-gender.uni-graz.at/de/gleichstellung/karriereprogramm-2019 (11.07.2019). 6 http://de.wikipedia.org/wiko/Ruach (11.04.2016).

 Literatur Lidia Bramani (2000), Commedia Dell’Arte in Musica, in  : Sabine Borris (Hg.), Das Lächeln der Euterpe. Musik ist Spaß auf Erden. Programmzyklus, Berliner Symphonisches Orchester. Berlin Michael, von Engelhardt (2011), Narration, Biographie, Identität, in  : Olaf Hartung, Ivo Steininger, Thorsten Fuchs (Hg.), Lernen und Erzählen interdisziplinär. Wiesbaden, 39–60 Marina Garcés (2006), zitiert nach Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Moving Towards A Common  : Materialität, Aporia und Politiken des Affekts. Keynote bei der 5. Jahrestagung der Fachgesellschaft Geschlechterstudien/Gender Studies Association (FG), Bewegung/en am 13.02.2015 an der Universität Bielefeld. Persönliche Mitschrift Vinko Globokar (1994), Einatmen. Ausatmen, hg. von Ekkehard Jost und Werner Klüppelholz. Hofheim Klaus Hurrelmann, Dieter Ulrich (Hg.) (1998), Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim et al. https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialisation (09.05.2019) KUG (2015), Gender und Diversity an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (KUG). Bericht 2015  : Daten, Kennzahlen, Fakten. Heterogenität der Studierenden und AbsolventInnen, Lehre aus diversitätssensibler Perspektive, Diversität des künstlerisch-wissenschaftlichen und des allgemeinen Personals. Im Auftrag von Vizerektorin Barbara Boisits, erstellt und hg. vom Qualitätsmanagement der KUG https://www.kug.ac.at/fileadmin/media/planev_44/ Dokumente/Downloads/berichte_zahlen_fakten/Gender_Diversity_Bericht_2016_OnlineVersion.pdf (07.05.2019) Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) (2015), Die Dirigentin. Geschlechterkampf im Orchestergraben, 70/3

176

»L’art pour la réalité«

Elfriede Reissig (2014), Luigi Nono  : Das atmende Klarsein. Text – Musik – Struktur. Saarbrücken Elfriede Reissig (2015), Chemin du coeur – Am Weg zu Giacinto Scelsi, in  : Programmschrift zum musikprotokoll 2015. Graz, 26–27

Bildnachweis Abb. 1–14 Privat

177

Elisabeth Harnik

Die wichtigsten Dinge am Wegrand Erfahrungsbericht einer Nomadin zwischen notierter und improvisierter Musik 1

Der Nautilus ist ein Nomade, der auf seinen weiten Reisen die Ozeane erkundet. Von jedem erforschten Ort sammelt er Partikel, um die Kammern seiner Schale zu bauen. Diese Schale ist somit eine Sammlung seiner Entdeckungen. Er bewohnt immer die letzte, jüngste Kammer, ist jedoch weiterhin mit den früheren Kammern verbunden, um den Auf- und Abtrieb im Wasser zu regulieren. Ich sehe durchaus Parallelen zwischen dieser Beschreibung und meiner künstlerischen Arbeit als Komponistin und Improvisationsmusikerin. »Neues« zu gewinnen innerhalb der jeweiligen Rahmenbedingungen und die eigenen Grenzen dabei zu erweitern, ist mir stets ein Motor für beide Disziplinen. Als ausgebildete Pianistin und erfahrene Improvisationsmusikerin haben meine Hände ein reichhaltiges Repertoire an Bewegungsformen erworben, das durch regelmäßige Praxis und Reflexion weiter verfeinert, erweitert oder auch revidiert wird. Es ließe sich wie eine Art Ritual beschreiben  : Aus einem Zustand wacher Neugierde, in der manche Entscheidungen bewusst in der Schwebe gehalten werden, lasse ich mich von der Erwartung auf das Kommende leiten – ein aufmerksames Vorgreifen darauf, dass etwas, das mir selber noch fremd ist, geschehen kann. So kann sich unter dem Spielen plötzlich etwas spontan ereignen, das neu ist in dem bisherigen Kontext. Hand und Ohr »lokalisieren« das Ereignis und »antizipieren« das Fremde geradezu. Mit Engagement und Risikobereitschaft greife ich es dann auf und folge dem nach. Beim Komponieren mit Papier und Bleistift arbeite ich seit einiger Zeit vermehrt mit Mustern, die ich in Form einer klanglichen Grundanordnung formuliere, welche in der Folge auf unterschiedliche Filterungen reagiert. Für die Filterungen, welche die Klang- und Bewegungsmuster präsentieren oder ausblenden, verwende ich meist strenge Regelwerke wie Zellulare Automaten. Das beinahe automatisierte Ausführen der Regeln ermöglicht mir das intuitive Reagieren auf die entstehende Klanglichkeit. Oft ergeben sich für mich unerwar179

Elisabeth Harnik

tete musikalische Situationen, die den Verlauf einer Komposition maßgeblich ändern können, oder es lösen sich Klangqualitäten vom anfänglich formulierten Muster ab, die zu Beginn des Kompositionsprozesses noch nicht feststanden. Es handelt sich um einen integrativen Prozess, bei dem das »Vergessen« des Regelwerks eine nicht unwichtige Rolle spielt, da sonst kein Wandel, keine Transformation möglich wäre. Der Moment des plötzlichen »Vergessens«, um einem intuitiven Einfall zu folgen, zeigt sich in meiner Arbeitsweise oft als »Einschub«, der nachträglich in die Komposition eingearbeitet wird – manchmal auch rückwirkend. Dabei ist der treibende Motor das Improvisieren von Lösungen die sowohl dem Regelwerk als auch der intuitiven Eingebung gerecht werden. Komponieren und Improvisieren sehe ich als ein Wechselspiel von Kalkuliertem und Unvorhergesehenem  : ein Reflektieren über entstandenes Klangvokabular, sei es durch vorgefasste oder spontane Interventionen, und ein Nachspüren einer unbewussten inneren Struktur. Mein künstlerischer Werdegang begann in meiner Kindheit. Auf eigenen Wunsch erhielt ich ab dem fünften Lebensjahr Musik- und Tanzunterricht. Im Tanzsaal sah ich erstmals einen Konzertflügel. Der Klang und die Art ihn zu spielen zogen mich in seinen Bann. Sofort war ein Klavier mein sehnlichster Wunsch und ich wollte nichts mehr, als das Klavierspiel zu erlernen. Dieser Wunsch wurde vorerst nicht erhört. Auch die Musikpädagogik der 1970erJahre war nicht auf meiner Seite, da die Blockflöte als das beste Einstiegsinstrument schlechthin galt. Doch zeichnete sich mein Charakter bereits durch eine gewisse Hartnäckigkeit und Ausdauer aus und nach jahrelangem Absolvieren des Blockflötenunterrichts wurde zu meinem 10. Geburtstag ein Pianino gekauft. Seitdem begleitet mich das Klavier. Ein Elternhaus, das großen Wert auf musikalische Bildung legte, und eine musische Schulform begünstigten meine künstlerische Entwicklung. Wenngleich ich keiner Musikerfamilie entstamme, haben mir meine Eltern doch stets vorgelebt, dass alles im Leben möglich ist, was natürlich nicht hieß, dass sie auch »alles« für erstrebenswert hielten. Nach der Matura schien ein musikpädagogisches Studium vorgezeichnet. Alle »begabteren« Klavierschülerinnen wurden damals bei Interesse für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule vorbereitet. Ich fühlte mich nicht gerade zur Pädagogin berufen, mir waren aber keine anderen Optionen bekannt, um mein Interesse am Instrument weiterzuverfolgen. Ich hatte keinerlei künstlerische Vorbilder oder Rollenmodelle und ich hatte zu dieser Zeit noch nie einen zeitgenössischen Komponisten geschweige denn eine Komponistin zu Gesicht bekommen. Auch wurde ich im Rahmen meiner musikalischen Ausbildung kein einziges Mal dazu ermuntert, eigen180

Die wichtigsten Dinge am Wegrand

schöpferisch tätig zu werden. Ich erinnere mich an den Besuch von Konzerten mit meiner Schulklasse im Rahmen des »Musikprotokolls«, aber zum Beruf der Komponistin konnte ich in meiner damaligen Erfahrungswelt schlichtweg keine Bezüge herstellen. Seit meiner Kindheit sammelte ich Bühnenerfahrung und erfuhr Kunst ausschließlich als Interpretin. Kunsterziehung passierte eher im Zeichenunterricht  – meine Lehrerin in der Oberstufe beispielsweise war eine anerkannte bildende Künstlerin  – oder etwa in der Theatergruppe einer engagierten Deutschlehrerin. Während meines Musikpädagogik-Studiums (Lehramt Musikerziehung, Instrumental- und Gesangspädagogik) an der damaligen Musikhochschule in Graz erhielt ich wichtige Anregungen in angebotenen Freifächern oder Kursen jenseits des vorgeschriebenen Studienplans oder etwa im Rahmen der Studienwochen in Seggauberg – eine Vorliebe, die ich schon in der Schulzeit entwickelt hatte. Ich lernte körperorientierte Techniken wie Feldenkrais und Alexander Technik kennen und hatte erste Berührungen mit Jazz und Improvisation. Angeregt von einem Workshop mit Ward Swingle (Swingle Singers) beispielsweise gründete ich mit Studienkolleg_innen das Doppelquartett Octunity und sammelte weitere Bühnenerfahrung als Sängerin. Mein Wunsch, klassischen Gesang als Zweitinstrument zu studieren, scheiterte an der Aufnahmeprüfung. Im Nachhinein betrachtet war dies ein Glück, denn ich wendete mich stärker dem Jazz und Jazz-Gesang zu und bildete mich bei Ines Reiger, Sheila Jordan und Jay Clayton im Bereich der Vokalimprovisation weiter. Mein Drang nach eigenschöpferischem Ausdruck wurde immer größer und ich erkannte sehr bald, dass meine eigentlichen Stärken – sowohl als Pianistin als auch als Sängerin – außerhalb der Interpretation klassischer Musik lagen. Während einer Mitwirkung als Statistin in Haubenstock-Ramatis »Amerika« begegnete ich dem Schweizer Komponisten Beat Furrer, der die österreichische Erstaufführung der Oper in Graz dirigierte. Ich hatte damals keine Ahnung, dass er einige Jahre später mein Kompositionslehrer werden würde  ! Meine beginnenden Ausflüge in die Welt der Improvisation wurden von meiner Klavierprofessorin Hertha Weber nie verurteilt oder gar verhindert. Das rechne ich ihr noch heute sehr hoch an. Ich erhielt eine exzellente klassische Klavierausbildung und schloss das Studium mit Auszeichnung ab. Nun stand es mir frei, die angeeigneten Kompetenzen auf meine Art anzuwenden. Meine Technik hat sich seitdem zwar stark verändert, aber man hört zeitweise auch heute noch – beim Anschlag am Klavier etwa –, was meinen Rückhalt bildet. Meinen ureigenen Zugang zum Instrument – die freie Improvisation – fand ich erst durch die Begegnung mit der französischen Kontrabassistin und Kom181

Elisabeth Harnik

ponistin Joëlle Léandre, deren musikalischen Weg von der Klassik hin zur Improvisation ich teile. Wie sie entwickelte ich eine Nähe zum Jazz und erkannte zugleich, dass es nicht »meine« Musik war, obwohl sie mir näher lag als die klassische Aufführungspraxis. Joëlle Léandre entdeckte die Neue Musik und profilierte sich als Interpretin, bevor sie in den Kreisen der improvisierten Musik Fuß fasste. Sie war etwa Mitglied in Pierre Boulez’ Ensemble Intercontemporain, wirkte an zahlreichen Aufführungen mit und widmete sich – vor allem als Solistin – den zeitgenössischen Klängen. Ich interessierte mich auch für die zeitgenössische Klaviermusik, nahm beispielsweise an den Tagen der Zeitgenössischen Klaviermusik in Wien teil, sah mich jedoch nie als Interpretin Neuer Musik. Léandre, geboren 1951, erhielt 1976 ein Stipendium an der Universität von Buffalo, lernte während ihres USA-Aufenthalts die innovativsten Kunstfiguren der Zeit kennen und entwickelte sich schnell zu einer fixen Größe in der Improvisationsszene. Ihr herausragendes interpretatorisches Können zeigt sich auch daran, dass unter vielen Komponist_innen so außergewöhnliche Musiker_ innen wie John Cage, Giacinto Scelsi und Betsy Jolas für sie komponierten. Anfang der 1980er-Jahre schloss sich Léandre der European Women Improvising Group an, die aus der Feminist Improvising Group (FIG) hervorgegangen war, und Anfang der 1990er-Jahre gründete sie mit der britischen Vokalistin Maggie Nicols, die 1977 die Feminist Improvising Group mitbegründet hatte, und der Schweizer Pianistin Irène Schweizer, die ab 1979 zur FIG gehörte, das legendäre Trio Les Diaboliques. In den 1990er-Jahren durfte ich Léandre erstmals persönlich erleben. Ich nahm zweimal an ihrem Kurs »Musiques plurielles« im Frauenkulturzentrum La Filanda in Italien teil. Die aus der Schweiz stammende Perkussionistin Regula Wagner leitete damals das Zentrum. Sie wurde bald danach eine langjährige musikalische Partnerin in meinen Anfängen als Improvisatorin. Der Kurs in La Filanda wurde für Musikerinnen ausgeschrieben. Ich erinnere mich noch heute an den »Leitspruch« der rebellischen Kursleiterin Léandre, den sie uns jungen Frauen eindringlich weitergab  : »Take the risk and surprise yourself  !« Als freiberufliche Bassistin am Rand des Kulturbetriebs müsse man kämpfen. Auch heute noch kann ich in der erfahrenen Musikerin ihren Kampfgeist spüren, obwohl sie längst international etabliert ist. Der Besuch ihrer Kurse hat mich sowohl als Musikerin als auch als Frau in einem männerdominierten Berufsfeld gestärkt. Fakt ist, dass Instrumentalistinnen im Bereich des Jazz und der improvisierten Musik bis heute deutlich unterrepräsentiert sind. Pionierinnen wie Joëlle Léandre, Maggie Nicols oder Irène Schweizer wa182

Die wichtigsten Dinge am Wegrand

Abb. 1 Joëlle Léandre, Duokonzert mit Elisabeth Harnik in St. Johann/Tirol (Österreich), 2016

Abb. 2 Joëlle Léandre und Elisabeth Harnik, Konzert in Niederstetten (Deutschland), 2016

183

Elisabeth Harnik

ren und sind für mich wichtige Rollenmodelle. Ich konnte und kann bis heute anknüpfen. Im Jahr 2008 lud ich Léandre ein, mit mir und dem französischen Turntable-Spieler EricM auf dem Nickelsdorfer Konfrontationen-Festival aufzutreten. Seit 2016 arbeite ich mit Léandre im Duo. Ich lernte und lerne von ihren Erfahrungen und Einschätzungen als Improvisationsmusikerin, die seit 40 Jahren »on the road« lebt und genau weiß, was es bedeutet, als Frau in einem männerorientierten Berufsfeld zu wirken. Aber zurück zu meiner Biografie  : Nach dem Klavierstudium arbeitete ich vorerst als Sängerin und Pianistin in verschiedenen Bereichen der improvisierten Musik. Ich nahm an zahlreichen nationalen und internationalen Kursen teil und erhielt weitere wichtige Impulse durch meine Beschäftigung mit dem Repertoire der zeitgenössischen Musik. Ich vertiefte mich in die Thematik der freien Improvisation und spielte in der Grazer Frauenband Wibsch’ma, die für einige Jahre zu einem meiner wichtigsten Experimentierfelder wurde. Initiiert wurde das Frauenbandprojekt von der Grazer Vokalistin und Jazzsängerin Annette Giesriegl und der Salzburger Pianistin und Cellistin Anneliese Schneider. Ich selbst hatte 1996 gerade mein klassisches Klavierstudium abgeschlossen und kannte Anneliese Schneider bereits vom Studium (wir waren in derselben Klavierklasse). Mit der Perkussionistin Jagoda Marković (meine ehemalige Musiklehrerin  !) war das Quartett komplett. Ich schrieb meine ersten Kompositionen für die Band. Seit dieser Zeit verstehe ich mich als Komponistin. Ich hatte davor nur eine einzige Komposition während meines Studiums im Fach Tonsatz geschrieben. Der Umstand, dass Kompositionen für die Band benötigt wurden, genügte, und ich komponierte wie selbstverständlich. Durch meine jahrelange Praxis des Improvisierens hatte ich mich bereits intensiv als eigenschöpferische Musikerin erfahren und der Schritt, die eigenen Ideen zu verschriftlichen, war ganz natürlich. Im Grunde genommen waren dies meine ersten »Auftragskompositionen«. Meine Bandkolleginnen haben mich stets darin bestärkt, mein kompositorisches Potential weiter zu verfolgen. Die Kompositionen dieser Zeit wurden den Quartett-Mitgliedern »auf den Leib geschrieben«. Sie hatten durchwegs Improvisationsteile, welche mal solistisch, mal im Kollektiv realisiert wurden. Im Laufe der Jahre wurden die ausgeschriebenen Anteile meiner Kompositionen experimentierfreudiger und die Improvisationsteile mündeten verstärkt in freie Improvisationen. Ein Umstand, der bald die Möglichkeiten der Band zu stark ausreizte. Nach zwei Tonträgereinspielungen und zahlreichen Konzerten trennten sich 184

Die wichtigsten Dinge am Wegrand

unsere Wege als Band. Giesriegl und Schneider sind jedoch bis zum heutigen Tag Weggefährtinnen – sowohl persönlich als auch künstlerisch – geblieben. Nach der Bandtätigkeit widmete ich mich weiterhin der freien Improvisation und meiner neuen Liebe, der Komposition. Ich hatte mich bisher eher als Komponistin im Sinne des Jazz verstanden. Die ausnotierten Teile fungierten als Rahmen für die Improvisationsteile, welche ein unverzichtbarer Bestandteil der Kompositionen waren. Die Bewertungskommission der AKM (Autoren, Komponisten und Musikverleger Verwertungsgesllschaft) stufte damals viele meiner Kompositionen aus der Bandzeit als »weder E-Musik noch U-Musik« ein. Über die Jahre zeichnete sich jedoch für mich der Wunsch ab, das Komponieren weiter zu verfeinern, um mein künstlerisches Wirkungsfeld auch in die Gefilde der zeitgenössischen notierten Musik zu erweitern. Ich hatte damals bereits Kontakt zu einigen Grazer Komponist_innen und zog erstmals ein Kompositionsstudium in Erwägung, fühlte mich aber noch sehr stark der Improvisationsszene zugehörig. Während meiner »Lehr- und Wanderjahre« unterstützten mich immer wieder Weggefährt_innen – vor allem Frauen – mit ihrem Rat, ihrem Wissen oder ihrer bloßen Präsenz bei meinen Konzerten. Auf Empfehlung einer meiner ersten musikalischen Partnerinnen Regula Wagner beispielsweise wurde ich auf die amerikanische Komponistin und Akkordeonistin Pauline Oliveros aufmerksam. Durch den Besuch eines ihrer Deep Listening Workshops in Berlin im Herbst 2000 erhielt ich weitere wesentliche Impulse. Die Beschäftigung mit ihrem Werdegang und ihren Schriften stärkte mich sehr in meinem Entschluss, den Beruf der Komponistin zu ergreifen. Pauline Oliveros (1932–2016) bewegte sich in ihrer künstlerischen Arbeit wie ich zwischen den Feldern Komposition und Improvisation. Sie war eine Pionierin der Elektronischen Musik und eine führende Figur in der Zeitgenössischen Musik als Komponistin, Interpretin, Pädagogin und Autorin. Als Komponistin wandte sie sich im Laufe ihres Lebens von der westlich-traditionellen Komponier- und Aufführungspraxis ab und erschuf Partituren, die aus verbalen Anweisungen auf Basis der lebenslangen Praxis des »Deep Listening«  – des konzentrierten Zuhörens – bestehen. Dieses aufmerksame Lauschen bedeutete für Oliveros, in jedem Augenblick absolut alles auf jede nur erdenkliche Art zu (er)hören – egal ob beim Komponieren, beim Improvisieren oder im täglichen Leben. In gewissem Sinne ist der Ansatz des »Deep Listening« ein Weiterdenken von John Cages »4’33”«. Oliveros beschreibt in der Einleitung ihres Buchs »Deep Listening. A Composer’s Sound Practice« die Praxis des Deep Listening wie folgt  : 185

Elisabeth Harnik

Abb. 3 Pauline Oliveros

»Deep Listening is a practice that is intended to heighten and expand consciousness of sound in as many dimensions of awareness and attentional dynamics as humanly possible. The source for Deep Listening as a practice comes from my background and experience as a composer of concert music, as a performer and improviser. Deep Listening comes from noticing my listening or listening to my listening and discerning the effects on my bodymind continuum, from listening to others, to art and to life. […] Deep Listening is a form of meditation. Attention is directed to the interplay of sounds and silences or the sound/silence continuum. Sound is not limited to musical or speaking sounds, but is inclusive of all perceptible vibrations (sonic formations). The relationship of all perceptible sounds is important. The practice is intended to expand consciousness to the whole space/time continuum of sound/silences. Deep Listening is a process that extends the listener to this continuum as well as to focus instantaneously on a single sound (engagement to targeted detail) or sequences of sound/silence. In order to acquire the discipline and control that meditation develops, relaxation as well as concentration is essential. The practice of Deep Listening is intended 186

Die wichtigsten Dinge am Wegrand

to facilitate creativity in art and life through this form of meditation. Creativity means the formation of new patterns, exceeding the limitations and boundaries of old patterns, or using old patterns in new ways.« (Oliveros 2005, xxiii–xxv)

1985 gründete sie die Pauline Oliveros Foundation mit der Mission, kreative Innovation jenseits aller Grenzen und Fähigkeiten zu fördern, »im Streben nach einem erweiterten Bewusstsein für die Welt der Klänge und die Klänge der Welt«. Mit Deep Listening Workshops und Deep Listening Retreats gab sie ihr Wissen auf der ganzen Welt weiter. Aus der Pauline Oliveros Foundation wurde das Deep Listening Institute, heute das Center for Deep Listening at Rensselaer, das ein Ausbildungsprogramm für das Deep Listening Certificate anbietet, welches die Teilnehmer_innen befähigt, selbst Deep Listening Workshops abzuhalten. Nach meiner Teilnahme am Deep Listening Workshop mit Oliveros in Berlin entschied ich mich endgültig zum Kompositionsstudium (ich war damals bereits in meinem 30. Lebensjahr  !) an der Grazer Kunstuniversität bei Beat Furrer. Ich erinnere mich noch sehr gut an meine ersten Unterrichtsstunden. Inspiriert von Oliveros’ Kompositionsweise legte ich eine verbale Partitur vor. Schon bald wurde klar, dass das Studium an einer mitteleuropäischen Ausbildungsstätte nicht dazu angelegt war, mich im Verfassen von Textkompositionen zu unterrichten. Womit ich mich jedoch intensiv befassen sollte, war etwas, worüber ich mir beim Improvisieren nie Gedanken zu machen brauchte  : die schriftliche Fixierung von Klängen. Nach dem Kompositionsstudium wurde neben meiner Tätigkeit als Improvisationsmusikerin das Komponieren bald zum zweiten Standbein meiner künstlerischen Tätigkeit. Dabei war mir das Kompositionsstudium strukturell gesehen eine große Hilfe, da ich Zugang zu diversen Kompositionsprojekten und Plattformen erhielt, die Aufführungen meiner Werke ermöglichten. Konsequentes Komponieren und kontinuierliche Vernetzungsarbeit führten schließlich zu Kompositionsaufträgen außerhalb des Universitätskreises. Bis heute bewege ich mich in der jeweiligen Aufführungspraxis zwischen zwei Extrempositionen. Als Improvisatorin arbeite ich überwiegend in frei improvisierten Zusammenhängen ohne jegliche Vorabsprachen. Meine Kompositionen wiederum sind vornehmlich konventionell notiert und fast immer durchkomponiert. »In ihrer kompositorischen Arbeit setzt Harnik selten am Beginn eines Stückes an, sie bewegt sich gerne sprunghaft auf der Zeitlinie, wobei Strukturen eines späteren Abschnittes oftmals auf vorangehende Teile zurückwirken. Strukturell arbeitet 187

Elisabeth Harnik

Harnik gerne mit vielschichtigen rhythmischen und melodischen Mustern, die in unterschiedlicher Weise kombiniert und ausgelesen werden. […] In den Kompositionen Harniks kommt es oft zu einer erfrischenden Reibung zwischen selbst auferlegten Regeln und deren Abwandlung, auch Brechung, durch intuitive Entscheidungen – die Regel eröffnet einen Diskursbereich, der durch die musikalische Intuition sowohl bewertet und verarbeitet als auch vollkommen neu gestaltet werden kann. In ihren aktuellen Arbeiten ist ein wichtiger Brennpunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung die Suche nach Verfahren, um einer Komposition mehr Beweglichkeit und Elastizität zu geben, ohne dabei die Präzision der konventionellen Notation zu verlieren. In einem ihrer neueren Stücke, ›grafting‹ (veredeln, aufsetzen, anreichern …), werden Arbeitsweisen aus anderen Aufführungsformen (beispielsweise ein Dirigierzeichen aus der Praxis der Improvisationsorchester) in die Komposition übertragen. Der Wechsel des Anwendungsbereichs führt zu Abwandlungen und Anpassungen innerhalb der Kompositionsarbeit. Das eingepflanzte Verfahren fungiert als ›Mittler‹, um flexible Zonen in einem konventionellen Notentext zu generieren. ›re-framing II (inside the frame is what we’re leaving out)‹ für Streichquartett ist wiederum als ›elastische Form‹ komponiert. Die Aufeinanderfolge der Formteile ist bestimmt. Innerhalb der Abschnitte jedoch bestehen Wahlmöglichkeiten für die einzelnen SpielerInnen. Die Ausführenden können zwischen verschiedenen Lesearten changieren. Abhängig von der gewählten Leseart wird die zeitliche Gestaltung rhythmisch-melodischer Muster beeinflusst. Dadurch wird der Zeitrahmen immer wieder umgedeutet und das Werk erhält eine Biegsamkeit innerhalb der festgelegten Struktur.« (Harnik/Rutz/Nierhaus 2015, 11)

Die Möglichkeit sich beim Schreiben frei auf der Zeitebene zu bewegen, bereits Geschriebenes durch neue Erkenntnisse nachträglich zu verändern – Zukünftiges wieder in den Anfang einfließen zu lassen –, liefert einen ganz anderen Zugang als die lineare Zeitstruktur einer Improvisation. Andererseits liegt die Herausforderung beim Improvisieren gerade im Schillern des Augenblicks, da eben keine nachträgliche Korrektur möglich ist. Wesentlich ist der Aspekt des Hörens, der mich in einen Zustand von subtiler Gegenwärtigkeit überführt. Das Gehörte – Träger von Informationen und Beziehungen – setzt sich zusammen aus einer plötzlichen, unmittelbaren Sinneswahrnehmung, gedankenvollen Anlehnungen an alte Erfahrungen und intuitiven Vermutungen. In meiner Arbeit als Improvisationsmusikerin treffe ich auf Musiker_innen mit unterschiedlichen musikalischen Hintergründen. Meine persönliche Äs188

Die wichtigsten Dinge am Wegrand

thetik beruht auf einem Repertoire, das ich über die vielen Jahre meiner improvisatorischen und kompositorischen Tätigkeit angesammelt habe. Sie ist zum einen geprägt von meiner kulturellen Herkunft und Bildung. Andererseits haben internationale und interkulturelle Zusammenarbeiten mit Performer_innen aus unterschiedlichen musikalischen Genres (zeitgenössische Musik, Jazz, Elektronische Musik, Rockmusik, indische Musik …) meinen Umgang mit meinen ästhetischen Vorlieben wesentlich beeinflusst. Die Improvisierte Musik ist eine Kunstsparte, die schon immer von unterschiedlichen Herangehensweisen und Positionen geprägt war. Ich würde meine Ästhetik als Improvisatorin am ehesten als »integrativ« bezeichnen. Meine »mitteleuropäische Prägung« lässt sich zwar nicht verleugnen – trotzdem stelle ich gerade in meiner Praxis als Improvisationsmusikerin fest, dass ich durch den Austausch mit Musiker_innen anderer Kulturen oder anderer Genres immer wieder dazu angehalten werde, über die oft unbewusst übernommenen Konzepte westlicher Kunstmusik nachzudenken, was zur Folge hat, dass ich pluralistische Standpunkte in der Ästhetik meiner Improvisationen zulasse – wobei es natürlich Grenzen gibt. Improvisieren ereignet sich meist als kollaborativer Akt. Das setzt meiner Meinung nach voraus, sich auf »fremde« Ästhetiken einzulassen bzw. auch die Bereitschaft, die Grenzen der eigenen Vorlieben zu verlassen. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass in der Gruppenimprovisation der Gruppenklang bzw. die Momentform über der Ästhetik der einzelnen Mitglieder steht. In einer Kollektivimprovisation wechseln verschiedene Arten der Informationsverarbeitung. Getrenntes oder aufeinander folgendes lineares Klangvokabular – mit oder ohne vorgefasstes System – werden kombiniert mit nichtlinearen, gerade erklingenden, vorgestellten oder erinnerten Informationen. Beim herkömmlichen Komponieren bzw. in der Soloimprovisation fehlt natürlich die Dimension des Kollektivs, wie sie in der Gruppenimprovisation von eminenter Bedeutung ist. Ich allein bin Urheberin meiner Handlungen. Trotzdem ist es mir sowohl beim Komponieren als auch im Solospiel oft möglich, eine multiperspektivische Sichtweise einzunehmen, bei der eine Pluralität von Diskursen simultan ablaufen kann, deren einzelne Schichten sich nach Belieben gegenseitig ins Wort fallen kann bzw. in den Vorder- oder Hintergrund rücken können. Seit Anbeginn meiner Tätigkeit als Improvisationsmusikerin widme ich mich immer wieder dem Solospiel, das eine Sonderform der Improvisation darstellt. Die anspornende Herausforderung bei der Soloimprovisation liegt in 189

Elisabeth Harnik

der Möglichkeit, sich bewusst mit der eigenen Materialverwendung auseinanderzusetzen. Ohne Interventionen von außen vertiefe ich mich in einen inneren Dialog und kann dabei die eigene Spielweise weiter erforschen. Neben der technischen und konzeptuellen Erkundung des Instruments basiert eine Solo-Improvisation auf der Integration bestimmter Elemente in Echtzeit mit der Option, neues Material ins Spiel zu bringen. Diese spontanen Lenkungen sind nur möglich, weil die Bewegungsmuster soweit automatisiert sind, dass sie die Ressourcen an Aufmerksamkeit freigeben, die ich brauche, um sie durchzuführen. Das jeweilige Instrument, auf dem ich spiele, ist hierbei nicht unwesentlich, da sich die Instrumente in ihrer Bauart sehr unterscheiden können und beispielsweise den Gebrauch bekannten Materials irritieren. Reagiert das Instrument nicht erwartungsgemäß, birgt die Irritation bereits das Potential für das spontane Finden von Lösungen. Im Laufe einer Improvisation kann ich außerdem auf zwei unterschiedliche Weisen auf die augenblickliche Situation reagieren, die nach der Professorin für Philosophie an der New Yorker Columbia University Lydia Goehr als »Improvisation Extempore und Improvisation Impromptu« bezeichnet werden können. Die »Improvisation Extempore« bezeichnet ein vertrautes Konzept aus dem musikalischen Alltag, nämlich Musik aus dem Moment heraus zu gestalten und weiterzuentwickeln. Dem gegenüber steht der Ansatz der »Improvisation Impromptu«, die am Beispiel des täglichen Lebens aus einem Bruch, einem Problem, einem Notfall entsteht und eine sofortige Handlung notwendig macht – wir müssen sofort etwas tun und nicht von diesem Punkt aus etwas entfalten. Um in der Soloimprovisation Raum für die »Improvisation Impromptu« zu schaffen, provoziere ich oft unvorhergesehene Störungen, indem ich riskante Präparationen oder Materialien verwende, die nie 100%ig kontrollierbar sind, z.B. aufziehbares Spielzeug, fallende Gegenstände und Ähnliches mehr. Über die Jahre habe ich mir aktiv ein nationales und internationales Netzwerk aus Musiker_innen, Veranstalter_innen und Kooperationspartner_innen aufgebaut, das mich in meiner Arbeit unterstützt. Nützlich hierbei waren mir die Weiterbildungsangebote der Koordinationsstelle für Geschlechterstudien an der Karl-Franzens-Universität Graz. Diese waren zwar vornehmlich auf Wissenschaftlerinnen zugeschnitten (z.B. Netzwerken auf Konferenzen), doch konnte ich die Inhalte problemlos auf die Kunst- und Kulturwelt übertragen. Es gab natürlich auch künstlerische Visionen, für die ich keinen Veranstalter gewinnen konnte. Deshalb begann ich vor einigen Jahren, selbst Konzerte zu veranstalten. Heute bin ich im Vorstand von einigen Kunst- und Kulturverei190

Die wichtigsten Dinge am Wegrand

Abb. 4 Elisabeth Harnik, Konzert mit dem Plasmic-Quartett beim Chilli Jazz Festival in Heiligenkreuz im Lafnitztal (Österreich), 2013

191

Elisabeth Harnik

nen, denen ich meine Zeit und meine Ideen widme, soweit es meine Konzerttätigkeit zulässt. Die Beweggründe für meine Vorstandstätigkeit in der IG Kultur Steiermark sind in meinen persönlichen Erfahrungen mit der steirischen Kulturpolitik zu suchen. Ich musste die Kürzungen im Kulturbereich der vergangenen Jahre schmerzlich erleben – als Komponistin, Musikerin, Kunstvermittlerin und Veranstalterin. Für die letzte Publikation der IG Kultur Steiermark habe ich den Beitrag »Vermögen_Kunst_Vermittlung« (Harnik 2014) zu aktuellen Kunstprojekten an österreichischen Schulen verfasst, in dem ich an Hand von zwei innovativen Schulprojekten, in denen ich selbst als Künstlerin tätig war, aufzeige, wie sich die vielfältigen Kompetenzen junger Menschen auf dem Gebiet der künstlerischen Arbeit unter Anleitung entwickeln können. Direkter Auslöser war u.a., dass das langjährige steirische Kunstvermittlungsprojekt »konfrontationen«, im Rahmen dessen Schüler_innen gemeinsam mit Kunstschaffenden neue Ideen entwickelten und Performances erarbeiteten, im Jahre 2013 nicht durchgeführt werden konnte, da die Subvention von Seiten der öffentlichen Hand nicht in ausreichendem Maße gewährt wurde. Der Förderbeirat der Kulturabteilung des Landes Steiermark konnte sich zu keiner positiven Empfehlung entschließen, da sich das Gremium nach Prüfung der vorgelegten Unterlagen für das angesprochene Projekt als nicht zuständig erachtete. Ähnliche Absagen und Kürzungen erfuhren sämtliche freie Kulturinitiativen in Graz und der Steiermark sowie auch die Vereine, in denen ich tätig bin. Auch in Bezug auf meine Kompositionsförderungen – die fast einzige Einnahmequelle für diesen Berufsstand  – war ein drastischer Einbruch festzustellen. Demzufolge war kulturpolitische Arbeit die einzige Möglichkeit, Einfluss auf diese Entwicklung zu nehmen. Als Künstlerin sehe ich mich sowohl als Teamplayerin als auch als Solistin. Das schließt sich für mich keineswegs aus. Wie in einer Kollektivimprovisation ist es manchmal notwendig, im Team zu spielen und ein andermal wichtig, einen Alleingang zu wagen. Als Improvisationsmusikerin kollaboriere ich mit Musiker_innen weltweit. Einige dieser Zusammenarbeiten sind kurz, andere wiederum haben Bestand und zeichnen sich durch gegenseitige Unterstützung und Loyalität aus. Ein Beispiel dafür ist das österreichisch-britische Barcode Quartet mit Annette Giesriegl, Alison Blunt und Josef Klammer. Mit diesen Musiker_innen verbinden mich zahlreiche Kooperationen, auch außerhalb der genannten Formation. Eine weitere langjährige Zusammenarbeit beruht auf meinen musikalischen Verbindungen zur Chicagoer Free-Szene. Großer Fürsprecher meiner Arbeit 192

Die wichtigsten Dinge am Wegrand

Abb. 5 Elisabeth Harnik, Ken Vandermark, Konzert mit dem Trio DEK in Ljubljana (Slowenien), 2014

und musikalischer Partner ist beispielsweise der renommierte Saxophonist Ken Vandermark. Gegenseitige Wertschätzung bildet ebenso die Basis für zahlreiche Zusammenarbeiten mit Interpret_innen meiner Werke. Werkaufführungen durch den Akkordeonisten Krassimir Šterev, die Blockflötistin Hemma Geitzenauer, die Stimmperformerin Gina Mattiello, die Geigerin Annelie Gahl oder die Grazer Dirigentin und Musikwissenschaftlerin Elfriede Reissig sind Beispiele für eine nachhaltige Beziehung zwischen Komponistin und Interpret_in bzw. Komponistin und Musikwissenschaftlerin. Das Akkordeon-Stück »tender buttons« habe ich beispielsweise für Krassimir Šterev komponiert. Šterev ist zudem im Besitz eines Viertelton-Akkordeons und ich habe dieses seltene Instrument in einigen Kompositionen eingesetzt. »cirrus« wurde für die von der Blockflötistin Hemma Geitzenauer entwickelte Feedbackflöte komponiert, »Solo for Gertrude« nach Texten von Gertrude Stein habe ich für die Schauspielerin und Stimmperformerin Gina Mattiello geschrieben und für Annelie Gahl entstand die Komposition »circle of understanding« für Violine. Elfriede Reissigs Voka193

Elisabeth Harnik

lensemble Chiaroscuro wiederum interpretierte einige meiner Vokalwerke und die Komposition »selket« wurde für das Ensemble komponiert. Dieselbe Qualität erlebe ich auch in meiner langjährigen Kooperation mit dem oberösterreichischen Komponisten und Konzertveranstalter Bernd Preinfalk. Viele Neukompositionen der letzten Jahre entstanden für das von Preinfalk und dem Komponisten Peter Androsch veranstaltete und jährlich stattfindende Festival »Landgänge« in Freistadt. Spannende interdisziplinäre Zusammenarbeiten waren zum Beispiel das Musiktheater »KUGELSTEIN«, das in enger Kooperation mit der Grazer Autorin Olga Flor entstand, oder etwa auch die Werkkooperation »PERFORMANZ« für Klavier, Skulptur und Video (Auftragswerk E_MAY 2012, Uraufführung im Rahmen von Wien Modern) mit dem in New York und der Steiermark lebenden bildenden Künstler Hannes Priesch. Meine Tätigkeit als Veranstalterin begünstigt das Zustandekommen neuer Kooperationen und festigt vorhandene Beziehungen. Sie stellt für mich als Künstlerin in Zeiten der Einsparungsmaßnahmen im Kulturbereich eine überlebenswichtige Strategie dar. Mein Engagement, sei es als Künstlerin oder Veranstalterin, dient vor allem der Freien Szene. In ihr existieren die letzten künstlerischen Freiräume, um zweckfrei Neues zu gewinnen. Betrachte ich meinen künstlerischen Werdegang, so fällt mir auf, dass erlebte Situationen, menschliche Begegnungen, existenzielle Erfahrungen und daraus gewonnene intuitive Erkenntnisse wichtige Wegweiser waren, die mich auf meiner Reise zwischen notierter und improvisierter Musik begleiteten. Meine Erfahrungen als Improvisationsmusikerin beeinflussen mein Komponieren und wie ich darüber denke. Meine Erfahrungen als Komponistin wirken sich aus auf meine Klavierimprovisationen und wie ich darüber denke. Beim Navigieren zwischen zwei unterschiedlichen Aufführungspraktiken bzw. zwei verschiedenen Konzepten der Hervorbringung von Musik erlebe ich auch meine Kunst jeweils anders. Verbindend und zugleich Basis für alle meine künstlerischen Wirkungsbereiche ist mein aktives Hören. Dies führt mich zurück zu Pauline Oliveros, deren Ansatz des Deep Listening mich bis heute bewegt. Nach zahlreichen musikalischen Ausbildungen, Kompositionsstudien, internationalen Konzertauftritten und Werkaufführungen hatte sich das zentrale Werkzeug meines Berufsstands, das Hören, für mein Empfinden viel zu wenig erweitert. So nahm ich 2015 an einem Deep Listening Retreat in der Arktis unter der Anleitung von Pauline Oliveros, Heloise Gold und Ione teil. Heloise Gold ist Choreografin, Tänzerin und Performancekünstlerin, T’ai-Chi-/ 194

Die wichtigsten Dinge am Wegrand

Abb. 6 Elisabeth Harnik, Gams/ Frohn­leiten (Österreich), 2012

Qi-Gong-Lehrerin und Mitbegründerin des Projekts »Art from the Streets« für obdachlose Künstler_innen. Ione ist Autorin und Dichterin, Regisseurin, Klangkünstlerin, Traumtherapeutin und seit 2001 künstlerische Leiterin des Deep Listening Instituts. Die Erfahrungen, die ich machen durfte, waren so intensiv, dass ich mich sofort entschloss, am Deep Listening Certificate Programm (Center for Deep Listening at Rensselaer in Troy, New York) teilzunehmen, um die Praxis zu vertiefen und in meinen künstlerischen wie persönlichen Alltag zu integrieren. Am 24. November 2016 – kurz vor meinem Abschluss des Deep Listening Certificate Programms – verstarb Pauline Oliveros im Alter von 84 Jahren. Ich bin zutiefst dankbar über die persönlichen Begegnungen, die ich mit ihr erleben durfte. Ich sehe meine Beschäftigung mit ihrem visionären Werk und meine persönlichen Erfahrungen des ganzheitlichen Zugangs in der Praxis des Deep Listening (neben Hörmeditationen sind Körperarbeit und Traumarbeit Teil des Programms) als großartige Ergänzungen zu meinen bisherigen Befähigungen. 195

Elisabeth Harnik

Der Nautilus ist ein Nomade, der auf seinen weiten Reisen die Ozeane erkundet. Von jedem erforschten Ort sammelt er Partikel, um die Kammern seiner Schale zu bauen. Diese Schale ist somit eine Sammlung seiner Entdeckungen. Er bewohnt immer die letzte, jüngste Kammer, ist jedoch weiterhin mit den früheren Kammern verbunden, um den Auf- und Abtrieb im Wasser zu regulieren.

Anmerkung 1 Der Titel »Die wichtigsten Dinge am Wegrand« stammt von mir, wurde zuerst schriftlich von Andreas Fellinger als Titel für sein Interview mit mir 2012 verwendet. Der folgende Text beruht in Teilen auf dem Beitrag von Harnik/Rutz/Nierhaus 2015.

Literatur Lydia Goehr (2013/2016), Improvising Impromptu, Or, What to Do with a Broken String, in  : George E. Lewis, Benjamin Piekut, The Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies, Volume 1. Oxford, 458–480, https://dx.doi.org/10.1093/oxfordhb/9780195370935.001.0001 (14.07.2019) Andreas Fellinger (2012), Die wichtigsten Dinge am Wegrand. Interview mit Elisabeth Harnik, in  : freiStil, Magazin für Musik und Umgebung, Ausgabe #41, 4–6 Elisabeth Harnik (2014), Vermögen_Kunst_Vermittlung, in  : Es gibt viel zu tun. Für eine Demokratisierung der Kulturpoliktik im 21. Jahrhundert, hg. v. IG Kultur Steiermark. Graz, 113–117 Elisabeth Harnik, Hanns Holger Rutz, Gerhard Nierhaus (2015), Improvisational Re-assemblies, in  : Gerhard Nierhaus, Patterns of Intuition. Musical Creativity in the Light of Algorithmic Composition. Wien, 9–32 Pauline Oliveros (2005), Deep Listening. A Composer´s Sound Practice (Deep Listening Publications). New York

Bildnachweis Abb. 1 Werner Krepper Abb. 2 Bernd Scholkemper Abb. 3 Pieter Kers Abb. 4 Simon Attila Abb. 5 Petra Cvelbar Abb. 6 Beba Fink

196

Autor_innen und Herausgeberinnen Elisabeth Augustin, geboren in Wien, nach der Matura Schauspielstudium am Max Reinhardt Seminar, Abschluss mit Auszeichnung, nebenbei seit dem 6. Lebensjahr Ballett- und Tanzausbildung an der Wiener Staatsoper und an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien. Ein Jahr Studium der Choreographie ebendort bei Rosalia Chladek. Ein Jahr am Schauspielhaus Graz, danach Engagement ans Burgtheater durch Burgtheaterdirektor Achim Benning. Zwischenzeitlich zwei Jahre an den Münchner Kammerspielen. Mehrere Rollen im Fernsehen, z.B. Maria Theresia unter Axel Corti. Gründerin der »Frauen des Burgtheaters«, eines Forums für alle Schauspielerinnen und Mitarbeiterinnen des Burgtheaters mit regelmäßigen Treffen und Aktivitäten von 1978 bis 1981. In der Folge Regietätigkeit am Burgtheater, Kosmos Theater und anderen Spielstätten. Zuletzt »Über d Häusa« im Burgtheater Vestibül. Von 2014 bis 2018 Dozentin am Max Reinhardt Seminar im Fach Rollenstudium, Gründerin und Intendantin der Kulturtage Schloss Pöggstall. Website www.kulturtageschlosspoeggstall.at Andrea Ellmeier, Mag.a Dr.in, Historikerin, Leiterin der Koordinationsstelle

Gleichstellung, Gender Studies und Diversität der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, war vorher Koordinatorin der Plattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck. Vortragstätigkeit. Seit 2017 im Board von genderplattform.at, einem Zusammenschluss der §19 (2)7-Stellen an österreichischen Universitäten. Arbeitete und publizierte über Konsumgeschichte und Gender, europäische Kultur- und Medienpolitiken, Creative Industries, Kultur und Beschäftigung. Aktuelle Forschungsinteressen  : Geschlechterdemokratie, faire Sprache, Arbeitsverhältnisse im Kunst- und Kulturbereich  ; gegenderte Geschichtsschreibung von Musik und darstellenden Künsten. Veröffentlichungen  : Co-Herausgeberin der bisher erschienenen Bände der Reihe »mdw Gender Wissen« im Böhlau Verlag Wien, zuletzt KörperDenken. Wissen und Geschlecht in Musik•Theater•Film (mdw Gender Wissen Bd. 6), Wien 2016 (mit Doris Ingrisch und Claudia Walkensteiner-Preschl). Kontakt  : ellmeier-a@ mdw.ac.at Website www.mdw.ac.at/gender 197

Autor_innen und Herausgeberinnen

Elisabeth Harnik, 1970 in Graz geboren, studierte zunächst klassisches Klavier

an der damaligen Musikhochschule Graz. Später folgte das Kompositionsstudium bei Beat Furrer an der heutigen Kunstuniversität Graz. Ihre kompositorischen Aktivitäten führten und führen zu Aufträgen und Aufführungen ihrer Werke in Österreich und darüber hinaus, etwa beim Komponistenforum Mittersill, Festival 4020 Linz, E_May Festival Wien, Musikprotokoll, bei den Klangspuren Schwaz, bei Wien Modern, beim Transart Festival Bozen, im Rahmen der Münchner Opern-Festspiele, des Wiener Mozartjahrs, des Haydn Jahrs, der Tage Neuer Musik Graz, der Landgänge Freistadt, des EarFests Duisburg, des Soundings Festivals London, des Moving Sounds Festivals New York oder am Grazer Opernhaus. Als Improvisationsmusikerin ist sie seit 1996 solo und in Ensembles mit exponierten Vertreter_innen des zeitgenössischen Jazz weltweit auf Festivals zu hören (Ulrichsberger Kaleidophon, Nickelsdorfer Konfrontationen, Artacts St. Johann, Music Unlimited Wels, Beethoven Fest Bonn, Comprovise Köln, A L’ARME  ! Berlin, Jazz & More Sibiu, Alpenglow London, All Ears Oslo, Audio Art Pula, Krakow Jazz Autumn, Umbrella Music Chicago, Okka Fest, Musicacoustica Beijing, SoundOut Canberra, Jazz na Fábrica São Paulo u.a.). CD-Veröffentlichungen dokumentieren ihre kompositorische und pianistische Tätigkeit und sie erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen. Zuletzt war sie Preisträgerin des SKE Publicity Awards. Website elisabeth-harnik.at Doris Ingrisch, Univ. Doz.in Dr.in, Institut für Kulturmanagement und Gender

Studies (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte  : Cultural sowie Gender Studies, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaft, Kunst und Gender sowie qualitative und experimentelle Methoden. Veröffentlichungen u. a.: Wissenschaft, Kunst und Gender. Denkräume in Bewegung. Bielefeld 2012  ; Don’t Mind the Gap  ! Ein grenzüberschreitendes Zwiegespräch (mit Susanne Valerie Granzer). Bielefeld 2014  ; Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst. Bielefeld 2017 (Hg. zusammen mit Marion Mangelsdorf und Gert Dressel)  ; Gender – Kultur – Management. Relatedness in und zwischen Wissenschaft und Kunst. Transdisziplinäre Erkundungen. Bielefeld 2017 (Hg. zusammen mit Franz-Otto Hofecker und Beate Flath). Kontakt  : [email protected] Website www.mdw.ac.at/ikm Ramón Reichert, Dr. phil. habil., European Project Researcher an der Univer-

sity of Lancaster. Studienleiter und Koordinator der postgradualen Masterstudiengänge »Data Studies« und »Cross Media« an der Donau-Universität Krems. 198

Autor_innen und Herausgeberinnen

Lehrt an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen und an der Freien Universität in Berlin im Seminar Filmwissenschaft. Er ist als Expert Evaluator im Bereich »Digitale Medienkultur« im Auftrag der Europäischen Kommission, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) tätig. Seit 2014 ist er leitender Herausgeber der internationalen Fachzeitschrift »Digital Culture & Society«. Veröffentlichungen u. a.: Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung. Bielefeld 2013  ; Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie. Bielefeld 2014  ; Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur. Bielefeld (im Erscheinen). Elfriede Reissig, Mag.a art, Dr.in phil., Studium der Musikleitung/Chordirigie-

ren an der Kunstuniversität Graz bei Rupert Huber (Chefdirigent des SWRChores) und Karl-Ernst Hoffmann sowie Gesang bei Karl-Ernst Hoffmann. Dissertation mit Auszeichnung über Luigi Nonos Werk »Das atmende Klarsein. Text – Musik – Struktur« am Institut für Musikästhetik der Kunstuniversität Graz, damit verbunden waren mehrere Forschungsaufenthalte am Archivio Luigi Nono in Venedig. Die Monographie ist 2014 im Pfau-Verlag, Saarbrücken, erschienen. Gründung des A-cappella-Ensembles CHIAROSCURO für zeitgenössische Chormusik, rege Konzerttätigkeit. Forschungsschwerpunkte  : Ästhetik und Analyse in der zeitgenössischen Musik, transdisziplinäre Forschung und Gender Studies in New Music. Projektmitarbeiterin im FWF-Forschungsprojekt »Giacinto Scelsi und Österreich« (2010–12), Forschungstätigkeit in Rom an der Fondazione Isabella Scelsi, Organisatorin des internationalen Scelsi-Symposions 2012 »Giacinto Scelsi heute  : ästhetische Dimension und kompositorischer Prozess«. Künstlerische und wissenschaftliche Lehrtätigkeit an der Kunstuniversität Graz, Musikologie, sowie am Institut 1, Komposition, Musiktheorie und Dirigieren, dem IEM und dem Institut für Musikwissenschaft der Universität Innsbruck. Vortragstätigkeit an internationalen Universitäten (Lund/Schweden, Ljubljana, London, Oxford)  ; Autorin zahlreicher Beiträge (Österreichische Musikzeitschrift, Die Tonkunst, MusikTexte u.v.m.). Raphaela Reiter, Mag.a, absolvierte die Bundbildungsanstalt (BBA) für Sozial-

pädagogik in St. Pölten, anschließend Tätigkeit als Sozialpädagogin im Kinderund Jugendwohlfahrtsbereich bzw. Hort. Diplomstudium Musiktherapie an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, wo sie auch ihre Diplomarbeit »Der Einfluss der Geschlechtsidentitäten von TheraupeutInnen und PatientInnen auf den (musik-)therapeutischen Prozess« verfasste, Abschluss 2015. 199

Autor_innen und Herausgeberinnen

Seither als Musiktherapeutin tätig. Von 2015 bis 2017 war sie auf der Kinderund Jugendpsychiatrie Hinterbrühl beschäftigt. In den Jahren 2017 bis 2018 arbeitete sie im Krankenhaus Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie und ist seit Oktober 2018 als Musiktherapeutin beim Verein Verantwortung und Kompetenz für besondere Kinder und Jugendliche (VKKJ) in Amstetten angestellt. Kontakt  : [email protected] Janine Schulze-Fellmann, Dr., geboren 1969 in Bielefeld. Studium und Promo-

tion am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, Universität Gießen. 1995 bis 1997 Doktorandin im Graduiertenkolleg »Geschlechterdifferenz und Literatur« an der Ludwig Maximilian Universität München. 1997 Promotion an der Universität Gießen, Thema  : »Dancing Bodies Dancing Gender – Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie«. 1998 bis 2000 Postdoktorandin des Graduiertenkollegs »Theater als Paradigma der Moderne« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 1998 Dozentin für Tanzwissenschaft und Tanzgeschichte, u.a. FU Berlin, Universität Leipzig, Universität Mainz, Palucca Schule Dresden, Universität Bern. In den Jahren 2000–2011 Geschäftsführerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Tanzarchiv Leipzig e.V. Seit WS 2012/13 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft und im Studienbüro der Fakultät Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften an der Universität Leipzig. Thomas Stegemann, Univ.-Prof. Dr. med. Dr. sc. mus. Seit 2011 Professor für

Musiktherapie (Diplom-Musiktherapeut) und Leiter des Instituts für Musiktherapie an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie Paar- und Familientherapeut (BvPPF). Seit Ende 2015 stellvertretender Dekan für wissenschaftliche Studien der mdw. Seit 2017 Gesamtkoordination für das Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung (WZMF). Internationale Lehr- und Vortragstätigkeit. Werdegang  : Gitarrenstudium in Los Angeles, Medizinstudium in Mainz und Kiel. AiP an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen. Aufbaustudium Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater, Hamburg. In den Jahren 2002–2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf  ; 2008–2010 leitender Oberarzt. Forschungsschwerpunkte  : Musiktherapie und Neurobiologie  ; Musiktherapie im Kindes- und Jugendalter  ; Familien-Musiktherapie  ; Ethik in der Musiktherapie. Veröffentlichungen (u.a.)  : Was MusiktherapeutInnen über das Gehirn 200

Autor_innen und Herausgeberinnen

wissen sollten. Neurobiologie für die Praxis. München 2018  ; Kurzlehrbuch Musiktherapie Teil I. Wiener Ringvorlesung Musiktherapie – Grundlagen und Anwendungsfelder (2. Aufl.). Wien 2018 (Hg. zusammen mit Elisabeth Fitzthum)  ; Künstlerische Therapien mit Kindern und Jugendlichen. München 2012 (zusammen mit Marion Hitzeler und Monica Lisa Blotevogel). Kontakt  : stegemann@ mdw.ac.at Website www.thomasstegemann.at Silvia Stoller ist Universitätsdozentin am Institut für Philosophie der Univer-

sität Wien und Lehrbeauftragte am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen im Bereich der feministischen Philosophie und Gender Studies, der Masculinity Studies, der Phänomenologie und französischen Gegenwartsphilosophie sowie der philosophischen Anthropologie (Schmerz, Liebe, Alter, Lachen). Letzte Veröffentlichung  : Mann – Männer – Männlichkeiten. Interdisziplinäre Beiträge aus den Masculinity Studies. Wien 2018 (Hg. zusammen mit Susanne Hochreiter). Derzeit arbeitet sie an einem Buchmanuskript zur Philosophie des Lachens. Claudia Walkensteiner-Preschl, Univ.-Prof. in Dr.in, Professorin für Medien-

und Filmwissenschaft am Institut für Film und Fernsehen, Filmakademie Wien, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). 2010 Habilitation an der Universität Frankfurt am Main. In den Jahren 2007–2011 Vizerektorin für Lehre und Frauenförderung der mdw. 2013–2019 Leiterin der Filmakademie Wien. Seit 2010 Mitherausgeberin der Buchreihe »Wissen und Geschlecht in Musik*Theater*Film« (Böhlau Verlag). Veröffentlichungen  : Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der 1910er-Jahre. Wien 2008  ; Die Schlager der Groteske, in  : Karola Gramann, Eric de Kuyper, Sabine Nessel, Heide Schlüpmann, Michael Wedel (Hg.), Sprache der Liebe. Asta Nielsen, ihre Filme, ihr Kino 1910–1933. Wien 2009  ; Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino. Nachempfunden an Douglas Sirks Universal-Filmen, in  : Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in Musik*Theater*Film. Wien 2012  ; Capturing Intimacy. Inszenierung intimer Momente im Film (mit Kerstin Parth), in  : Doris Ingrisch, Marion Mangelsdorf, Gert Dressel (Hg.), Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst, Bielefeld 2017  ; Subversive Komik und Film  : die Kunst des Fallens, in  : Christian Schenkermayr (Hg.), Komik und Subversion. Ideologiekritische Strategien. Wien 2019  ; Kontakt  : walkensteiner-preschl@ mdw.ac.at 201

MDW GENDER WISSEN herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl, Doris Ingrisch

Band 4: Andrea Ellmeier | Doris Ingrisch | Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Ratio und Intuition

Band 3: Andrea Ellmeier | Claudia Walkensteiner-Preschl | Doris Ingrisch (Hg.)

Wissen/s/kulturen in Musik, Theater, Film

Kultur der Gefühle

2013. 171 Seiten, 45 s/w-Abb., Paperback € 30,00 D | € 31,00 A ISBN 978-3-205-78905-5

Wissen und Geschlecht in Musik - Theater - Film

Ratio und Intuition – Gegensätze oder nicht? Wie die Ratio für die Wissenschaften, so ist die Intuition für die Künste häufig eine zentrale Form der Wissensgenerierung.

2012. 166 Seiten, Paperback € 30,00 D | € 31,00 A ISBN 978-3-205-78783-9 Band 3 der Reihe reflektiert den Ausdruck von und den Umgang mit Gefühlen in Musik, Theater und Film unter besonderer Berücksichtigung der Gender-Perspektive.

Preisstand 1.1.2019

MDW GENDER WISSEN herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl, Doris Ingrisch

Band 6: Andrea Ellmeier | Doris Ingrisch | Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Band 5: Andrea Ellmeier | Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Körper/Denken

SpielRäume

Wissen und Geschlecht in Musik - Theater - Film

Wissen und Geschlecht in Musik - Theater - Film

2015. 150 Seiten, Französische Broschur € 28,00 D | € 29,00 A ISBN 978-3-205-79628-2

2014. 197 Seiten mit zahlr. s/w-Abb., Paperback € 30,00 D | € 31,00 A ISBN 978-3-205-79520-9

Band 6 fragt danach wie Körper in Musik - Theater - Film gedacht, repräsentiert und wahrgenommen werden. Welche Identitäten entstehen, was bildet sich ab, was versteckt sich? Mit welchen Körperagencies sind wir konfrontiert, was erzählen sie, welche Formen von Materialität werden sichtbar?

Diskutiert wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln, aus wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen, wie zentral und doch meist unbewusst traditionelle Genderkonstellationen konkreten wie auch metaphorischen (Kultur/Kunst-)Räumen eingeschrieben sind. Die Texte sind interdisziplinäre Beiträge zu aktuellen Debatten über Gender und Räume.

Preisstand 1.1.2019