Sprach/Medien/Welten: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, FIlm [1 ed.] 9783205212386, 9783205212362

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Sprach/Medien/Welten: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, FIlm [1 ed.]
 9783205212386, 9783205212362

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Sprach/Medien/ Welten Wissen und Geschlecht in

Musik ·•· Theater ·•· Film

Andrea Ellmeier / Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

mdw Gender Wissen Band 8 Eine Reihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl und Doris Ingrisch

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Sprach/Medien/Welten Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film

Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch  : mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Kulturabteilung der Stadt Wien, MA 27

Die Herausgeberinnen haben sich bemüht, alle Inhaber_innen von Bildrechten ausfindig zu machen. Sollten dennoch Urheberrechte verletzt worden sein, werden nach Anmeldung berechtigter Ansprüche diese entgolten werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Lektorat: Mag.a Margret Pachler, Wien Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21238-6

Inhaltsverzeichnis Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl Einleitung Alles neu denken  ? 7

Susanne Hochreiter Begehren lesen Queer Reading und die Kritik an der Norm 23

Karin Wetschanow Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_ortungen Ein Streifzug durch die Welt der Leitfäden zu sprachlicher Gleichbehandlung 45

Annette Jael Lehmann Whatever Genderfluidität in der Fotografie von Catherine Opie und Collier Schorr aus den 1990er Jahren 71

Melanie Unseld Medea auf der Récamière Transformation zwischen Text, Musik und Performanz im Melodram um 1800 83

Annegret Huber Diotimas Metaxy Liebe und Weisheit in Sprachwelten des Musikanalysierens 113

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Inhaltsverzeichnis

Katharina Klement »alles was hörbar ist« Vom Radio der Kindheit bis zu den gegenwärtigen Social Networks – eine Erkundung der medialen Landschaft einer Komponistin 147

Wilbirg Brainin-Donnenberg »I turn over the pictures of my voice in my head« Sprache als Akt der Befreiung in feministischen Avantgardefilmen und Videos von Eija-Liisa Ahtila, VALIE EXPORT, Kerstin Honeit, Sabine Marte und Anne Charlotte Robertson 157

Sandra Bohle Frauenbilder in Filmen Genderspezifika in der filmischen Erzählung 183

Kathrin Resetarits Helden von der Stange Gedanken zur plot-zentrierten Dramaturgie 195

Tamara Metelka Sprachgestaltung – Raum | Bewusstsein Ein Gespräch 213

Vina Yun Feministische Medien Medienaktivismus als »alternativer« Journalismus 223

Autorinnen_ und Herausgeberinnen_ 249

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Einleitung Alles neu denken  ? Aufgrund der von Covid-19 seit Wochen bestehenden Ausnahmesituation lassen sich Überlegungen zu Sprach/Medien/Welten schwer sondieren. Die Situation ist von einer kaum zu fassenden Komplexität sowie von vielen Unsicherheiten geprägt. Wie in Zeiten des Corona-Virus über Sprache, über Medien, wie über Bedeutungen, Einflussnahmen, Ermächtigungen nachdenken, wenn alles von einer Ausnahmesituation bestimmt wird  ? In Österreich – sowie in vielen Ländern – wurden vor einigen Wochen Ausgangsbeschränkungen erlassen, die mittlerweile wieder aufgehoben sind. Alle Menschen werden via Medien ständig daran erinnert, Vorsicht walten zu lassen. Ständig werden Aufforderungen medial transportiert, nicht zu nahe mit anderen Menschen außer den Mitbewohner_innen zusammen zu treffen und nur das Notwendigste außer Haus zu erledigen. Was ist das Allernötigste  ? Kindergärten und Schulen hatten den Betrieb vorübergehend eingestellt. Die Räume der Universitäten wurden geschlossen. Es fanden keine Lehrveranstaltungen, keine Tagungen, Symposien und ähnliches in Präsenz an Universitäten sowie an anderen Institutionen statt. Der Dialog auf Augenhöhe sowie der Austausch von Argumenten, die Diskurse der »universitas« im realen Raum wurden ausgesetzt. Viele Lehrende sowie Forscher_innen arbeiten nach wie vor ausschließlich im Homeoffice und bemühen sich u. a. mittels Videokonferenzen die Lehre bzw. Betreuung der Studierenden aufrechtzuerhalten. Was bedeutet das für uns Lehrende sowie Studierende an den Universitäten  ? Die Relektüre des schmalen Buches von Byung-Chul Han mit dem Titel »Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns« aus dem Jahr 2013 erinnert in Zeiten wie diesen an wichtige Aspekte und Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Einsatz von digitalen Medien. Han bezieht sich in seinen Ausführungen auf das QUBE (question your tube) System, das eine Fernsehanalage mit interaktiver Funktion war und in den USA in den 1970er Jahren entwickelt wurde. Mittels einer Tastatur wurde eine gewisse Auswahl unter mehreren am Bildschirm gezeigten Gegenständen getroffen. Dieses System funktioniert gewissermaßen unmittelbar, weil es mit einem einzigen Finger7

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druck auf eine Taste eine sofortige Information bietet oder eine Ware bestimmt. Han spricht davon, dass der temporale Modus dieses interaktiven Systems das »Sofort« wäre und eine Vorform des Internets darstellt. Im Gegensatz dazu entspricht beispielsweise der Diskurs einer ganz anderen Zeitlichkeit. Ein Diskurs benötige Zeit, auch einen gewissen Raum – aber dazu noch später. (Han 2013, 35f.) Der Medientheoretiker Vilem Flusser, der im Zusammenhang mit dem sogenannten QUBE-System eine Idee einer »entideologisierten Demokratie« entwarf, begreift, so Han, das QUBE-System als ein »reines, engelhaftes Entscheidungssystem«, zumal die Beteiligten per Fingerdruck sofort entscheiden und glauben, damit auch wesentlich gehandelt zu haben. Han kritisiert Flussers Idee einer »entideologisierten Demokratie«, die er in den 1990er Jahren entwickelte, indem er schreibt  : In Flussers Zukunft findet das politische Engagement außerhalb des öffentlichen Raumes im Privaten vor dem Bildschirm statt. […] So bedarf auch das politische Engagement keiner mühsamen Kommunikation und keines anstrengenden, langwierigen Diskurses zum Konsens. Ein Mausklick genügt. Der Privatraum ist selbst die Republik. Die direkte, entideologisierte Dorfdemokratie findet ohne Vermittlung durch ein Parlament statt. Der Mausklick ersetzt den Diskurs. Beteiligung und Betrachtung fallen zusammen. (Han 2013, 40)

Vieles was Han in Bezugnahme auf Flusser formuliert ist in Zeiten der CoronaPandemie erschreckend Wirklichkeit geworden. Obwohl Flusser hinsichtlich technischer Entwicklungen durchaus von einer konstruktiven Möglichkeit der Aneignung ausgeht und sich auch medienkritisch äußerte, muten seine utopischen Ideen einer telematischen Gesellschaft heute nahezu gespenstisch an. Im Moment haben wir streng genommen eine demokratiegefährdende Situation. Die österreichische Regierung schränkte die Funktion des Parlaments aufgrund der Corona-Krise im März 2020 entscheidend ein, indem Maßnahmen im Parlament kaum diskutiert mittels Erlässen verordnet wurden. Die Auseinandersetzungen respektive Debatten über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen wurden nicht geführt. Auch dazu findet sich im Buch von Han aus dem Jahr 2013 in gewisser Weise eine Vorausschau. Han resümiert Flussers Utopie so  : »An die Stelle der Politiker träten dann Experten, die das System jenseits der Ideologie verwalten würden.« (Han 2013, 38) Zurecht weist Han bereits 2013 darauf hin, dass die Politik im herkömmlichen Sinne dadurch überflüssig würde. Auch die agonistische Konfrontation zwischen Kontrahent_innen, wie sie Chantal Mouffe 8

Einleitung

in ihrem lesenswerten Buch »Für einen linken Populismus« einfordert, verliert in diesem Kontext an Bedeutung. Mouffe strich die Wichtigkeit eines »Agonismus« hervor, zumal durch eine agonistische Konfrontation »der Gegner nicht als Feind wahrgenommen wird, den es zu vernichten gilt, sondern als Kontrahent, dessen Existenz als legitim anerkannt wird« (Mouffe 2018, 104). Es ist wohl richtig, wir greifen nahezu permanent auf raue Mengen von digital aufbereiteten Informationen zurück und bedienen das interaktive System des Digitalen im hohen Ausmaß. Sei es, dass ständig Suchmaschinen genützt, Waren per Internet bestellt, Petitionen unterschrieben werden, sei es, dass politische Entscheidungen per Mausklick geliked oder disliked werden. Via Mausklick bzw. Fingerdruck stimmen wir ab, ob etwas gefällt oder nicht, ob wir an Veranstaltungen interessiert sind oder nicht, ob wir Meinungen teilen oder nicht. Die nahezu körperlose Kommunikation – ein einziger Fingerdruck ist ausschlaggebend – ist heutzutage ein wesentlicher Faktor unserer Kommunikation und für jüngere Generationen – die sogenannten Digital Natives – bereits eine Selbstverständlichkeit. Für einige Bereiche der Wirtschaft bzw. Forschung sind Videokonferenzen u. ä. m. unerlässlich und werden seit vielen Jahren sinnvoll eingesetzt. Zu fragen ist dennoch, was die verstärkte Verwendung des Digitalen im Rahmen der Politik bzw. der Bildung an den Universitäten insbesondere in den Sozial-, Kultur-und Geisteswissenschaften verändert  ? Was bedeuten die Maßnahmen im Jahr 2020 inmitten der Corona-Krise  ? Was ist mit dem Diskurs, was mit dem Dialog  ? (vgl. Ingrisch/Mangelsdorf/Dressel 2017, Mangelsdorf/Ingrisch 2020) In ihrem Artikel »Lehre unter besonderen Bedingungen. Leitfaden zur temporären Umstellung der Lehre auf Online-Formate« fordern Medienwissenschafter_innen an der Universität Bochum eine erhöhte Bereitschaft zur Reflexion, zumal es um die Übersetzbarkeit von Inhalten zwischen unterschiedlichen Medien geht. »Der Versuch, Lehrinhalte vom Medium des Sprechens und Diskutierens vor Ort in das Medium etwa einer Konferenzschaltung oder einer kollaborativen schriftlichen Textkommentierung zu übersetzen, verändern diese Inhalte.« (Heinke/Shnayien/Sprenger/Wippich 2020, 1) Außerdem weisen die Autor_innen auf die wissenschaftspolitische Dimension hin, zum Beispiel darauf, dass die momentan zwangsweise temporäre Umstellung auf Online-Formate die Tendenz zur Operationalisierung von Lehre verstärken könnte bis hin zu kostenpflichtigen sogenannten Massive Open Online Courses, die zunehmend angeboten werden. In diesem Zusammenhang gilt es zudem den Aufwand zu bedenken und die medialen Bedingungen, die jeweils einzelne Lehr-Formate erfordern. Die Umsetzung eines guten Online-Kurses benötigt viel Vorbereitung und selbstverständlich auch finanzielle Mittel, die insbesondere die vielen prekär 9

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beschäftigten Lehrenden vor große Herausforderungen stellt resp. die Kluft zwischen gut und schlecht entlohnten Lehrenden in der Academia weiter vergrößert. Grundsätzlich ist zu fragen, wie Lehre mit Hilfe von Online-Formaten weiterzuentwickeln wäre, und zwar ohne die Unübersetzbarkeit von einzelnen Formaten zu vernachlässigen. (Heinke/Shnayien/Sprenger/Wippich 2020, 2) Unter dem Stichwort »Übersetzung« von Inhalten in andere Medien sei hinzugefügt, dass auch unsere Arbeit als Veranstalterinnen sowie Redakteurinnen von mdw Gender Wissen von Übersetzungen geprägt ist. Ausgangspunkt unserer Arbeit ist das Format der Ringvorlesung mit dem Ziel Vorträge mit genderreflektierten Themen im Bereich Musik · Theater · Film an der mdw zu organisieren. Vortragstexte sowie Diskussionen zu den Texten vor Ort werden einige Zeit später zu publizierten Texten in Buchform. Dabei geht durchaus einiges verloren, vor allem die physische Präsenz der Teilnehmer_innen während der Ringvorlesungstagungen, die gemeinsamen argumentativen Denk-Räume, die Beachtung der unterschiedlichen Nuancen beim Sprechen u. v. m. Kurz zusammengefasst bauen wir auf einen Diskurs als eine »durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation« (Han 2013, 31). Oder um Foucault zu bemühen, auf einen Diskurs, der in der Sprache ein aufscheinendes Verständnis von Wirklichkeit (T.G. Wikipedia) schafft. Und – wie oben bereits angedeutet – benötigen wir in diesem Zusammenhang Zeit sowie einen ausreichenden Denk-Raum. Die Vorteile der Buchreihe seien hier allerdings ebenso angeführt. Die Übersetzung der Diskurse in schriftliche Formen bietet abermals eine erneute grundlegende Auseinandersetzung mit den Themen der Tagungen für die Autor_innen genauso wie für uns Redakteurinnen und ermöglicht zudem für die Leser_innen eine hoffentlich inspirierende Lektüre.

Sprach/Medien/Welten Sprach/Medien/Welten ist der Titel des vorliegenden achten Bandes der Reihe mdw Gender Wissen, in dem Beiträge aus den mdw-Gender-Ringvorlesungen Sprach/Welten und Medien/Welten der Jahre 2016 und 2017 dokumentiert sind. Sprach/Medien/Welten, weil Sprache ein Medium ist und Medien/Welten metaphorisch gesprochen vieles mit Sprach/Welten gemein haben  : Neue Medien generieren u. a. neue Welten, so ermöglichte z. B. die neue im Verhältnis zum Film deutlich kostengünstigere Video-Technologie in den 1970er Jahren, dass von Filmförderung und -finanzierung diskriminierte Künstlerinnen das Medium Video als ihr Bildmedium entdeckten und damit begannen Filme zu machen. 10

Einleitung

Parallel dazu wurden im Rahmen der feministischen Filmtheorie umfangreiche Debatten um den sogenannten männlichen Blick (male gaze) im klassischen Hollywoodkino geführt. Es ging vor allem um das spezielle Kino-Vergnügen von und für Frauen und darum theoriegeleitete kritische Positionen zu formulieren, kurzum ein »Gegenkino« zu konstituieren. (Preschl 2008, 11f.) Vieles, was damals theoretisch-reflexiv entwickelt wurde, bildet heute einen wesentlichen Grundstein für weitreichende gendersensible bzw. queer-feministische Auseinandersetzungen und subtile Medienanalysen. In den letzten Jahren machten zudem einige Studien zu Geschlechterverhältnissen im Film und nicht zuletzt die #MeToo-Bewegung durchaus deutlich, dass die Beschäftigung mit Gendergleichstellung, Gendergerechtigkeit sowie queeren Positionen noch lange nicht zu Ende ist. Leitfäden für eine geschlechtergerechte sprachliche Performanz Sprach/Welten sind seit den 1980er Jahren ohne das Adjektiv »geschlechtergerecht« nicht mehr denkbar. Seither gestalten wir alle persönlich wie auch als Institutionenangehörige in einem ungebrochen aktiven Nachdenk- und Aushandlungsprozess die Demokratisierung der massiv männlich orientierten deutschen Sprache mit. Die Sprachwissenschafterin Karin Wetschanow historisiert ­Sprachleitfäden für geschlechtergerechte Sprache und sie war unter den ersten, die selbst bei einem Sprachleitfaden für eine geschlechtergerechtere deutsche Sprache mitgearbeitet hat. (Kargl/Wetschanow/Wodak/Perle 1997) Wetschanow diagnostiziert eine stete im Fluss befindliche Veränderung von Formen der geschlechtergerechten Sprachanwendung. Die Autorin verweist auf eine Vielzahl von geschlechtergerechten Schreibweisen, und das Binnen-I als erster geschlechtergerechter Marker wurde in den analysierten Sprachleitfäden lange neben anderen Formen der geschlechtergerechten Sprache wie dem Schrägstrich, dem Unterstrich (»_« Gender Gap), dem Stern (»*« Asterisk) und der Tilde (»⁓«) gelistet. Gleichwohl kritisierten seit rund einem Jahrzehnt immer mehr Sprecher- und Schreiber_innen die Begrenztheit des Binnen-Is wie auch des Schrägstrichs auf zwei und »nur« zwei Geschlechter, was eine allein binäre Matrix erzeugt. Es sollten, ja müssen doch auch Geschlechtervarianten, die in einer binären Sprachpraxis außen vor bleiben – trans, inter* und nicht-binäre Personen – hinein geholt werden in einen demokratisch-inklusiven Sprachausdruck, hinein in Sprachformen, die eine Pluralität zulassen. Heute sind insbesondere Unterstrich und Sternchen in Gebrauch, um der Vielfalt der Geschlechteridentitäten durch entsprechende 11

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Formulierungsmöglichkeiten gerecht zu werden und so zu einer adäquaten sprachlichen Abbildung von Geschlechtervielfalt beizutragen. Aperçu – geschlechterinklusive Sprache denken, sprechen, schreiben … Karin Wetschanows Beitrag ist ein Wiederabdruck aus dem Jahr 2017, sie präsentiert viele bis dorthin produzierte Sprachleitfäden und deren Argumentationslinien, zeichnet konkrete Schreib- und Sprechformen nach, u. a. dekonstruiert sie den mdw-Leitfaden »Fair in Wort und Bild« (2016), an dem Andrea Ellmeier und Katharina Pfennigstorf federführend beteiligt waren. Deshalb ist es uns an dieser Stelle wichtig, auf die seither weiter intensivierte Dekonstruktion von binären geschlechtergerechten Sprachformen hinzuweisen, was konkrete Auswirkungen auf die Praxis geschlechtergerechter Sprache hat. Was war geschehen  ? Die juristische Anerkennung einer dritten Geschlechteroption durch ein Erkenntnis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs im Juli 2018 war ein Meilenstein in der offiziellen Sichtbarmachung von mehr als zwei Geschlechtern. Gewohnt gewordene, in den Sprachgebrauch übernommene geschlechtergerechte Sprachvarianten befinden sich immer in Bewegung, werden geprüft ob sie den aktuellen Differenzierungswünschen gerecht werden können und so kommt es zu Präzisierungen und Nachjustierungen. Bildungseinrichtungen, allen voran Universitäten als höchste (Aus)Bildungsinstitutionen sowie Fachhochschulen, Pädagogische Hochschulen und Verwaltungen der öffentlichen Hand (Städte, Landesregierungen) formulieren mit der Herausgabe von geschlechtergerechten Sprachleitfäden Möglichkeiten, sich genderreflektiert auszudrücken. Und es ist eine gesellschaftspolitische Verantwortung der Universitäten und Hochschulen diesen durch die Herausgabe solcher Leitfäden nachzukommen. Aktuell geht es darum, Geschlechtervielfalt ganz real durch den Eintrag »divers« – ohne vorhergehende medizinische Untersuchung, die von den Betroffenen erneut traumatisierend wahrgenommen werden könnte – in den universitären OnlineVerwaltungssystemen zu verankern und sprachlich durch die Verwendung von Unterstrich und Sternchen an den Universitäten, Hochschulen und in der öffentlichen Verwaltung umzusetzen. In dem universitätenübergreifenden Projekt »Non Binary Universities. Vademekum zu geschlechtergerecht(er)en Hochschu­ len« (Akademie der bildenden Künste 2019) der Akademie der bildenden Künste Wien wurde die Frage wie denn trans, inter* und nicht-binäre P ­ ersonen an den Universitäten in Raum, Sprache und Bild umfassend und nachhaltig sichtbar gemacht werden können, diskutiert und in verschiedenen Beispielen vorgestellt. Die Ende 2019 erschienenen »Empfehlungen für geschlechterinklu12

Einleitung

siven Sprachgebrauch« der Universität Wien zeigen konkret, wie Bildungsinstitutionen geschlechterinklusiv denken, schreiben, sprechen… können. (vgl. Universität Wien 2019) Und die Unterarbeitsgruppe der Interministeriellen Arbeitsgruppe für Gleichbehandlung veröffentlichte 2020 das Ergebnisdokument »Geschlechtersensibler Sprachgebrauch«, in dem für eine sprachlich gelebte Geschlechtervielfalt in der Kommunikation des öffentlichen Bereichs und der staatsnahen Unternehmen argumentiert wird (vgl. Bundeskanzleramt 2020). Das Rad der Abbildung und gleichzeitiger Herstellung von gelebten Realitäten dreht sich also in der Sprache immer weiter, Sprache ist Experimentierfeld und Ort für neue Sprachfindungen, Prozesse des Sichtbarwerdens all der Geschlechteridentitäten wie sie die westliche Gesellschaft des 21. Jahrhunderts auszeichnet. Geschlechterinklusive und geschlechtersensible Sprache kann queer-feministische Politik und Anliegen gut und nachhaltig vermitteln. Eine Fußnote in der Geschichte des Sichtbarwerdens von Geschlechteridentitäten bleibt es wohl, dass gleichzeitig mit dem Sichtbarwerden von queeren und nicht-binären Geschlechteridentitäten erneute sprachliche Unsichtbarwerdungsprozesse verbunden sind. Interessanterweise kommt es mit dem Auftauchen von Geschlechterviefalt in der deutschen Sprache zu einem Verschwinden des Binnen-Is, dem Zeichen, das seit den 1980ern direkt und deutlich auf die Anwesenheit von als Frauen gelesenen Personen in einer Gruppe, einer Menge, einer Masse hindeutete. Ist dem Begriff Frauen in der nach langen Kämpfen geschlechtergerecht formulierten deutschen Sprache nicht mehr als eine Zeitspanne von rund 40 Jahren Sichtbarkeit zugestanden worden  ? Leben wir heute in einer postmodernen, postfordistischen, postfeministischen Situation, in der Asymmetrien zwischen Frauen und Männern gar nicht anzusprechen notwendig sind  ? Oder sind Bewegungen im Sprachspiel möglich, die Offenheit erzeugen und Sichtbarkeiten sich vervielfachen lassen, ohne die Bemühungen um die Gleichstellung für Frauen_ aufzugeben. Wer entscheidet darüber  ? Wer sitzt z. B. in der Jury  ? Wie lassen sich Aushandlungsprozesse von Sprachmacht gestalten  ? Wo bleibt das Dazwischen, das Sowohl-als-auch  ? Mehrere, unterschiedliche – plural verwendete – geschlechtergerechte Sprachformen spiegeln eine offene Gesellschaft besser wider als es ein allein stellvertretendes abstraktes Zeichen je machen könnte  : Je nach Bewusstsein und eigener Positionierung auch unterschiedliche Zeichen der geschlechtergerechten Sprache zu verwenden, ist Ausdruck einer werte- und haltungsoffenen Gesellschaft, die vieles außer Abschließungen, Rassifizierungen und Vorverurteilungen von »anderen« in einem diskursiven Raum zulassen möchte. Wie werden sich binär formulierte Frauenförderprogramme verändern durch den Anspruch der Zugänglichkeit für Frauen 13

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und nicht-binäre Personen  ? Wie wird sich die deutsche Sprache selbst verändern, wenn die Personalpronomina nicht mehr nur »sie« oder »er«, sondern »dey« oder »sier« heißen. In Schweden gibt es bereits seit 2014 das erfolgreich eingeführte dritte Personalpronomen »hen«. Es bleibt so oder so interessant, welche sprachlichen Form/en der geschlechtergerechten Sprache sich wie zu welcher Zeit zeigen und partiell durchsetzen können  : es ist ein gesellschaftspolitischer Aushandlungsprozess, der unaufhaltsam weitergeht, Gesellschaft abbildet und generiert. … in Musik · Theater · Film Im Folgenden geben wir Einblicke in die weiteren Texte des vorliegenden achten Bandes der Reihe »mdw Gender Wissen«. In einer Publikation über Sprachwelten aus dem Fokus der Gender Studies darf die Frage nach Queer Reading nicht fehlen. Susanne Hochreiter nimmt sich dieses Themas in ihrem Beitrag »Begehren lesen. Queer Reading und die Kritik an der Norm« an. Sie führt einladend und mit vielen Beispielen anhand von Inszenierungen in der Popkultur, in diese Art von Lektüre ein, die eigentlich bereits zum Standardrepertoire gehören könnte. Lesen versteht Susanne Hochreiter in Anlehnung an Judith Butler in einem umfassenden Sinn als »das Erkennen und Verstehen von Zeichen und Zeichenrelationen, als Re/Konstruktion von Bedeutung, als komplexen Vorgang von Sinnkonstitution im Zusammenspiel von Wissen und Begehren.« (Hochreiter in diesem Band, 25) Epistemologisch betrachtet steht damit die Frage danach, wie Verstehen, wie Wissen generiert wird, im Zentrum, was Queer Studies als wissens/wissenschaftskritisches Projekt ausweist. Dieses wird von dem Bemühen um Komplexität und Gerechtigkeit begleitet, das durch den Blick auf das Nicht-Dominante im Erzählen und Re/Präsentieren befördert werden kann. Zwei Künstler_innen, Catherine Opie und Collier Schorr sowie die Frage nach dem künstlerischen Ausdruck in Bezug auf ein non-binäres Geschlechterbild, stehen in Annette Jael Lehmanns Beitrag »Whatever – Genderfluidität in der Fotografie von Catherine Opie und Collier Schorr aus den 1990er Jahren« im Fokus. Bereits vor drei Jahrzehnten wiesen die Fotograf_innen auf den Körper als Medium und Austragungsort gesellschaftlicher Diskurse hin und setzten ihn gezielt in Szene. Sie provozieren, indem sie verweigern, in die Irre führen, Rahmungen sprengen, Dekonstruktionen, Selbst-Produktionen und Selbstermächtigungen thematisieren. Sie bieten visuelle Szenerien im Dazwischen, die anregen, 14

Einleitung

Spielräume auszuloten. Wie sollen, müssen, können Körper gelesen werden  ? Was ist real, was Fakt  ? In diesen Werken wird in vielfacher, kritischer Weise präfiguriert, was Jahrzehnte später unüberschaubare Aktualität gewinnen wird und nun als fixer Bestandteil in performativen Repertoires sozialer Medien, in der Popkultur und in internationalen Vermarktungsstrategien Eingang gefunden hat. Ausgehend von der Frage, was die Kindsmörderin Medea auf der Récamière tue, führt uns Melanie Unseld im gleichnamigen Beitrag zu Fragen nach der Transformation zwischen Text, Musik und Performanz im Melodram um 1800. Im Zentrum des Interesses befinden sich die auf verschiedenen Ebenen stattfindenden Aushandlungsprozesse dieser kunst- und kulturhistorisch wichtigen Schwellenzeit, in deren Zentrum nicht zuletzt die Neu-Ordnung der Geschlechtervorstellungen steht. In welchen Räumen fanden diese die bürgerliche Gesellschaft konstituierenden Prozesse statt  ? Welche Handlungsfelder öffneten sich den Akteur_innen darin  ? Hier tritt der Salon – mit dem symbolisch aufgeladenen Kulminationspunkt der Récamière – als bedeutender Ort weiblicher Wirkmächtigkeit in den Blick. Welche Rolle spielt dabei das Spannungsfeld von Sprache, Klang und Geste  ? Was erzählen die Grenzen respektive die »Freundschaften« dieser Felder zueinander in Bezug auf Bildungsinstitutionen und Wissensproduktion  ? Melanie Unseld nimmt uns nicht nur auf eine Reise in die künstlerischen und sozialen Praktiken um 1800 mit, sie regt auch dazu an, uns mit den aktuellen Wechselspielen von Kunst und Wissenschaft und den Möglichkeiten, daran teilzuhaben, auseinanderzusetzen. Die Musikwissenschafterin Annegret Huber wählte Diotima, die einzige Frau, die in Platons »Symposion« namentlich genannt wird, zur Wegbegleiterin für ihre theoretischen Überlegungen. Diotima wird von Sokrates (sic  !) in Platons »Symposion« als eine ihn beratende Instanz eingeführt, deren physische Anwesenheit beim Gastmahl zwar nicht erwünscht war, deren Verständnis von Eros, Liebe, Schönheit und Gutsein aber von Sokrates referiert wurde. Damit ist Diotima eine Figur im Schatten, ist möglicherweise eine Allegorie, die ja bekanntlich weiblich sein dürfen resp. vielleicht auch sein müssen. Diotima agiert in Platons »Symposion« als Geburtshelferin, durch ihre Fragen erst habe Sokrates Erkenntnis erlangt. Ausgangspunkt des Dialogs zwischen Sokrates und Diotima war, dass Eros immer etwas sei, das entbehrt werde, was zur Frage nach der Göttlichkeit des Eros führte. Der Eros sei nach Diotimas Lehre weder ein Zuwenig an Schönheit/Gutsein, noch müsse er schlecht und hässlich sein  : nach Diotima sei er weder noch, sie nennt es Metaxy, ein »zwischen, Mittleres oder 15

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Zwischendrin« (Huber in diesem Band, 114). Platons Diotima erörtert in einem Fünfstufen-Modell die Sublimierung des direkten sexuellen Begehrens hin zu einer Sehnsucht nach Erkenntnis und Einsicht. Wir kennen dies heute unter dem Begriff »platonische Liebe« und es heißt platonisch, obwohl es Sokrates war, der nicht seine eigenen sondern Diotimas Überlegungen referierte. Annegret Huber plädiert für den Mehrwert von Metaxy als einer Denkfigur des Zwischen, als Mittleres und Mittendrin und zeigt mithilfe der Figur des Chiasma (vgl. Pechriggl 2006) den Mehrwert von Metaxy auch und gerade für die Analyse von Musik. Die feministische Kritik an systemerhaltenden Epistemologien der Musikwissenschaft lasse sich keineswegs auf sogenannte Frauenthemen beschränken, im Gegenteil, erst der kritische Einbezug der musikanalysierenden Person in die eigene Sprecher_innenposition könne hier weiterführen. Huber spricht sich dezidiert gegen rein binär entwickelte Interpretationen und Wertungen aus, gegen ein Entweder-Oder und für einen Dialog, der Unausgesprochenes und Unsagbares miteinschließt, sich durch Schattierungen eines Dazwischen weiterbewegt. Im Beitrag »›alles was hörbar ist‹ Vom Radio der Kindheit bis zu den gegenwärtigen social networks – eine Erkundung der medialen Landschaft einer Komponistin« gestattet uns Katharina Klement, composer-performer, zunächst Einblicke in ihre musikalische Sozialisation, um sich dann den verschiedenen Medien zu widmen, die ihr nun im 21. Jahrhundert für ihr Komponieren zur Verfügung stehen. Wie, so ihre grundlegende Frage, kann Komposition heute definiert werden  ? Den flimmernden Bruchstücken, die ihr vom bewegenden Ereignis der ersten Mondlandung noch deutlich in Erinnerung sind, den stoffbespannten Radioapparaten bis zum Internet, dem digitalen Raum mit ihren jeweils eigenen Wahrnehmungscodes, all den Inspirationen, die für ihre Arbeit von anderen Medien – Sprache, Video, Film – ausgeht, dürfen wir in diesem Beitrag begegnen. Die Bedeutung der Medien für ihre Kompositionen verwebt Katharina Klement mit ihrem Werden als Komponistin und einer Kritik an den Dimensionen musikalischer Machtstrukturen, die Institutionen wie Werke und deren Entstehen prägen. Wilbirg Brainin-Donnenberg beginnt ihren Beitrag über »Sprache als Akt der Befreiung in feministischen Avantgardfilmen und -videos« mit einem Zitat von VALIE EXPORT. »I turn over the pictures of my voice in my head«. Dieser Titel eines Videos (2008) von EXPORT steht symptomatisch für die unterschiedlichen fünf Künstlerinnen_, die Brainin-Donnerberg in einer Art Collage vor16

Einleitung

stellt. Die von ihr ausgewählten Filmemacherinnen_ bzw. Videokünstlerinnen_ arbeiten mit je unterschiedlichen Zugängen und Methoden und brechen mit ihren medialen Artefakten vor allem herkömmliche Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen auf. Die Bandbreite dieser Auswahl reicht von der Pionierin der Medienkunst und des feministischen Aktionismus VALIE EXPORT zur queeren Konzeptkünstlerin Kerstin Honeit, von der Ikone des Super-8 Films Anne Charlotte Robertson zur Video-Sprach-Musik Performerin Sabine Marte und den hyperrealistischen, Hochglanz-Filmen und Installationen von Eija-­ Liisa Ahtilas. Das Besondere an Brainin-Donnenbergs Zugang zu den jeweiligen Künstler_innen ist, dass sie Gedanken, Reflexionen, Bilder und Texte aus den besprochenen Arbeiten zu einer Art Collage zusammenfügte, die in ihrer spannenden Vielfalt auch sinnlich erlebbar ist. Erfreulich auch, dass zu fast allen Arbeiten Links für die Rezeption der angesprochenen Werke im Netz angeführt sind. In ihrem Beitrag bietet Sandra Bohle, Drehbuchautorin und Lehrende an der Filmakademie Wien, einen breitgefächerten Einblick in den Diskurs zum Thema »Geschlechtergerechtigkeit in der filmischen Erzählung«, indem sie sich zunächst auf einige einflussreiche Studien, z. B. des Geena Davis Institutes bezieht. Alle Studien zeigen anhand von konkreten Daten das Ungleichgewicht der Beschäftigungsverhältnisse von Männern und Frauen in der Filmbranche und fordern konkrete Maßnahmen für eine gendergerechtere Umgestaltung der Branche. Zudem bezieht sich Bohle auf einige gängige Dramaturgiemodelle, die auf einer männlichen Welterfahrung, einer männlichen Ordnung und Herrschaft basieren und fügt hinzu  : »Die einfache Umkehrung der Geschlechter innerhalb einer Narration funktioniert nur bedingt.« (Bohle im vorliegenden Band, 187) Bohle fordert in Anlehnung an die französische Schriftstellerin Hélène Cixous, die bereits 1975 davon sprach, dass »unsere Hälfte der Welt neu geschrieben werden muss«, als ersten Schritt mehr schreibende Frauen. Nicht, weil dieser Umstand bereits eine Garantie für mehr Diversität, auch auf der Leinwand, wäre, sondern weil sie es in ihrer Schreibpraxis als (eigene) Herausforderung sieht, sich mit einer Thematik von »weiblicher« Dramaturgie zu befassen. In der Folge spricht Bohle von ihren eigenen Zugängen beim Schreiben zum Beispiel anhand des Kinospielfilms »Maikäfer flieg«, den sie gemeinsam mit Mirjam Unger entwickelte. Statt einer klassischen dramatischen Form wählten sie eine sich steigernde Assoziationskette und gaben dem Film eine episodische Struktur – eine Form, die ein dramatisches Tempo erzeugt wie auch ein emphatisches Eintauchen in die Geschichte ermöglicht. 17

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Die Drehbuchautorin, Dramaturgin und Lehrende Kathrin Resetarits beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Auswirkungen und Limitierungen einer kanonisierten Erzählstruktur im Mainstream-Kino, das auf dem klassischen HollywoodStudiosystem des vorigen Jahrhunderts aufbaut. Resetarits beschreibt diese auch heute noch einflussreiche Erzählstruktur als eine Universalschablone, die mit zahlreichen Klischees und Stereotypen arbeitet. Als eine Hauptursache für die Entstehung dieser kanonisierten Erzählstruktur benennt sie den Warencharakter von Filmen im Zusammenhang mit der Industrialisierung der Filmbranche. In der ›Traumfabrik‹ war Film in erster Linie Ware, und um eine Art Fließbandproduktion zu gewährleisten, war man auf eine allgemein bekannte Erzählschablone angewiesen, um eine Art Fließbandproduktion zu gewährleisten. Das Ziel war ein reibungsloser Ablauf der Produktionsprozesse und das Geringhalten von Risiken – dem ewigen Traum der Händler entsprechend, aus der Kunst eine berechenbare Angelegenheit zu machen und so Erfolgsgarantien zu erhalten. Auch wenn das – meiner Einschätzung nach – in einem Feld, das so entscheidend und so komplex wie das Erzählen ist, nie wirklich gelingen kann. (Resetarits im vorliegenden Band, 196)

Resetarits appelliert vehement an eine vielfältigere, offenere Erzählform und in diesem Kontext daran, Erzählstrukturen zu schaffen, die einzelne Erzählstränge nicht vereinfachen, sondern diese in ihrer Komplexität miteinander gleichwertig korrespondieren lassen. Nicht zuletzt berichtet Resetarits sehr anschaulich von ihrer eigenen Schreibpraxis als Autorin und schildert die Zusammenarbeit im Falle des Films »Licht« (Regie Barbara Albert), für den sie das Drehbuch verfasste. Die Kompromisse, die sie im Laufe der Filmproduktion eingehen musste, zeugen darüber hinaus von dem wichtigen Prozess der Auseinandersetzungen und Ausverhandlungen, die für die Durchsetzung einer »anderen« Erzählform notwendig waren. Das Gespräch, das Claudia Walkensteiner-Preschl mit Tamara Metelka im Rahmen der Gender-Ringvorlesungstagung »Sprach/Welten« führte, widmet sich den künstlerischen Möglichkeiten der Sprachgestaltung am Max Reinhardt Seminar. Metelka, die an diesem Institut Professorin für Sprachgestaltung ist, erläutert in längeren Passagen, was für sie die besonderen Qualitäten sowie Herausforderungen von Sprache auf der Bühne sowie vor der Kamera sind und wie sehr der jeweils unterschiedlich bespielbare Raum die künstlerischen Nuancen der Sprachgestaltung mitbestimmt. Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer Lehre 18

Einleitung

konzentriert sich auf ein hochartifizielles, spezifisches Sprach-und Raumbewusstseins der Studierenden. Mittels spezieller Übungen wird dieses Vermögen über einige Semester hindurch trainiert und angewandt. Während der Tagung wurden einige Übungen dazu gemeinsam mit Studentinnen des Max Reinhardt Seminars vorgestellt, zum Beispiel eine von Adelheid Pillmann entwickelte praktische Übung zur Sensibilisierung dieses Bewusstseins. Vina Yun, Journalistin, Autorin und Aktivistin begibt sich in ihrem Text, der den Sammelband Sprach/Medien/Welten abschließt, auf die historischen Spuren von feministischen Medien. Yun führt die Leser_innen in die Welt der 1980er Jahre zu Zeitschriften wie »Emma« und »Courage«, letztere gab es lediglich drei Jahre lang, erstere ist heute noch in einer Auflage von 25.000 Stück auf dem Markt, was weit über ein Minderheitenprogramm hinausweist. Yun erzählt auch von der 1983 gegründeten Zeitschrift »Frauensolidarität«, die sich dem globalen Nord-Süd-Dialog widmet, und dem feministischen Monatsmagazin »an. schläge«, in dem sie selbst als Redakteurin tätig war bis hin zu den popfeministischen Medien im neuen Jahrtausend, darunter das 2009 gegründete »Missy Magazine«. Ihr Beitrag nennt sich im Untertitel »Medienaktivismus als ›alternativer‹ Journalismus« und meint damit, dass zur Formierung von sozialen Bewegungen – wie es Frauen_bewegungen sind –, eigene Medien unabdingbar notwendig sind. »Alternativer« Journalismus heißt es im Unterschied zum Mainstream-Journalismus. Damit sind aber nicht nur andere, »alternative« Inhalte gemeint, sondern auch vom Mainstream unterschiedene ökonomische Grundlagen und eine meist demokratische Organisation des Produktionsprozesses selbst. Alternative Medien möchten zu einer Gegenöffentlichkeit beitragen, möchten ein Korrektiv von Mainstream-Medien sein und zeigen, dass im Mainstream tatsächlich unendlich viele Fragen offenbleiben, viele notwendige Inhalte gar nicht vorkommen (können, dürfen). Alternative Medienmacher_innen bringen solche Nachrichten. Die Kehrseite ist, dass die meisten alternativen Medien unter prekären Arbeitsbedingungen produzieren (müssen). Schlechte Arbeitsbedingungen gelten als Preis für die Freiheit, schreiben zu können, was gedacht wird und nicht schreiben zu müssen (wie in Mainstream-Medien), wofür gezahlt wird. Die Geschichte der sogenannten kleinen Presseförderung ist u. a. m. eine Geschichte der Förderung der alternativen Medien. Die immer weitergehende Beschneidung der ohnehin geringen Förderungen zeigten sich in der ersten ÖVP-FPÖ-Regierung (2000–2006) und verstärkten sich in der zweiten Regierungskoalition mit der FPÖ (2017–2019), in der jegliche queer-feministische Medien-Infrastruktur nicht nur »ausgehungert«, sondern gestrichen wurde. Eine demokratiefördernde 19

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Medienpolitik schaut anders aus. Es bleibt zu hoffen, dass eine engagierte Grüne Medien­politik im Rahmen der derzeitigen Schwarz-Grünen Koalition sukzessive zu einem grundlegenden Wandel in Richtung Förderung von mehr demokratischer Teilhabe durch mehr Förderung von alternativen queer-feministischen Medien führen wird. Diese Chance lebt, weil dem für die Medienförderung derzeit geltenden quantitativen Maßstab ein qualitativer zur Seite gestellt werden soll. Wir werden sehen, ob sich in dieser Sache etwas bewegen lässt und die intrinsisch motivierten alternativen Medien neu belebt werden können. Ein verdienstvoller historischer Überblick über queer-feministisch-alternative deutschsprachige Medien rundet Yuns Beitrag ab. Alle Beiträge sind in geschlechtergerechter Sprache abgefasst, es stand jeder Autorin_ frei, die für sie passende Form der geschlechtergerechten Sprache zu verwenden. Last but not least möchten wir uns bei den Unterstützerinnen_, die zur Entstehung dieses Bandes beigetragen haben, ganz herzlich bedanken  : zu allererst bei den Autorinnen_ für ihre Geduld und ihre informativen Beiträge wie auch der mdw-Universitätsleitung, vor allem bei Vizerektorin Gerda Müller, die durch eine Förderung die Herstellung des Bandes ermöglichte. Wir danken weiters Margret Pachler für ihr umsichtiges Lektorat, Birgit Huebener für die Recherche der Bildrechte sowie unserer Verlagslektorin im Böhlau-Verlag Ursula Huber wie auch der Verlagsleiterin Waltraud Moritz für ihre Begleitung bei der Entstehung des Bandes und wünschen eine anregende Lektüre.

Literatur Akademie der bildenden Künste Wien, Andrea Braidt (Hg.), Redaktion  : Denise Beer, Ingrid Schacherl (2019), Non Binary Universities. Vademekum zu geschlechtergerecht(er)en Hochschulen. Wien Akademie der bildenden Künste Wien (Hg.) Redaktionsteam  : Elis Eder, Jonah I. Garde, Anna Lena Janowiak, Ruth Orli Moshkovitz, Noah Rieser, Marion Tuswald (2019), trans. inter*. nicht-binär. Lehr- und Lernräume an Hochschulen gestalten. Wien Bundeskanzleramt (Hg.), Autor_innen  : Boka En, Claudia Hillebrand, Tobias Humer, Marija Petričević, Tinou Ponzer, Claudia Rauch, Katta Spiel (2020), Geschlechtersensibler Sprachgebrauch. Ergebnisdokument der Unterarbeitsgruppe der Interministeriellen Arbeitsgruppe für Gleichbehandlung, hg. vom Bundeskanzleramt. Wien Byung-Chul Han (2013), Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin Vilém Flusser (2008), Medienkultur. Frankfurt am Main T.G.=Tanja Gnoser, Diskurs, in  : Wikipedia https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/littheo/ glossar/diskurs.html [28.6.2020] Tanja Gnoser (2019), MachtDaten. Strategien digitaler Verdatung aus Foucault’scher Perspektive, in  :

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Einleitung

Pamela Steen, Frank Liedtke (Hg.), Diskurs der Daten. Qualitative Zugänge zu einem quantitativen Phänomen. Berlin/Boston Christian Heinke, Mary Shnayien, Florian Sprenger, Uwe Wippich (2020), Lehre unter besonderen Bedingungen. Leitfaden zur temporären Umstellung der Lehre auf Online-Formate https://media rep.org/handle/doc/14513 Doris Ingrisch, Marion Mangelsdorf, Gert Dressel (Hg.) (2017), Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst. Bielefeld Maria Kargl, Karin Wetschanow, Ruth Wodak, Néla Perle (1997), Kreatives Formulieren. Anleitungen zu geschlechtergerechtem Sprachgebrauch. Wien : Bundeskanzleramt Abt. VII/1 mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (Hg.), Redaktion  : Andrea Ellmeier, Katharina Pfennigstorf in Kooperation mit Angelika Silberbauer (2016), Fair in Wort und Bild. Ein Leitfaden für die mdw. Wien (Eine für die mdw adaptierte Fassung der Broschüre der Wirtschaftsuniversität Wien »Fair und inklusiv in Sprache und Bild«, Redaktion  : Sonja Lydtin in Kooperation mit dem AKG der WU und Christoph Hofbauer, Wien 2015) Marion Mangelsdorf, Doris Ingrisch (2020), Muße als Voraussetzung einer Dialogkultur quer zur zeitgenössischen Alma Mater  ?  !, in  : Muße. Ein Magazin. 5/2, 50–58 Alice Pechriggl (2006), Chiasmen. Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns, Bielefeld Claudia Preschl (2008), Lachende Körper. Komikerinnen im Film der 1910er Jahre. Wien Universität Wien (Hg.) [2019], Geschlechterinklusiver Sprachgebrauch in der Administration der Universität Wien  : Leitlinie und Empfehlungen zur Umsetzung https://personalwesen.univie. ac.at/fileadmin/user_upload/d_personalwesen/Gleichstellung/Dokumente/Geschlechterinklusi ver_Sprachgebrauch_in_der_Administration_der_Universitaet_Wien.pdf [20.7.2020]

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Susanne Hochreiter

Begehren lesen1 Queer Reading und die Kritik an der Norm

Was ist »Queer Reading«  ? Wie funktioniert es und zu welchem Zweck  ? Ist es eine besondere Lesart für queere Texte oder eine von queeren Leuten  ? Und was bedeutet »queer« überhaupt  ? Selbst im Fachdiskurs werden diese Fragen immer wieder gestellt – und das ist gut so, gilt es doch, sich immer wieder darüber zu verständigen, worauf sich der eigene Blick richtet und mit welchem Interesse dies geschieht. Queer Theory ist inzwischen etwas in die Jahre gekommen und zugleich eine Unbekannte in vielen Disziplinen  : Die Forschung existiert wohl, aber im Verhältnis zum wissenschaftlichen Mainstream bleibt sie eher eine Randerscheinung. Selbst in den Literaturwissenschaften gehört Queer Reading längst nicht zum methodischen Standardrepertoire, und das, obwohl queere Lektüren sehr produktiv sein können, was nicht nur die einflussreichen Arbeiten der bekannten Queer-Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick beweisen. Zum Teil liegt dies daran, dass sich queeres Lesen kaum als eigenständige Methode behaupten kann (oder will) und sich daher gleichsam der »Mehrwert« manchen nicht klar genug erschließt  ; zum Teil liegt die geringe Verbreitung im Mainstream daran, dass queere Theorie mit lesbisch_schwulen Lebensweisen verbunden ist, daher nicht selten als eine Art Minderheitentheorie wahrgenommen wird und im Verdacht steht, »ideologisch« einseitig, also »unwissenschaftlich« oder einfach nutzlos zu sein. Ähnliche Vorwürfe sind gegenüber feministischer Theoriebildung sowie Gender Studies bekannt und gegenüber dem vermeintlich »unideologischen« Mainstream (oder besser »malestream«) nicht leicht zu entkräften.2 Seit Anfang der 1990er Jahre wird Queer Theory im deutschsprachigen Raum im Kontext der feministischen Theorie und Gender Studies differenziert und nutzbringend rezipiert, diskutiert und weiterentwickelt. Während in den meisten geisteswissenschaftlichen Fächern seit den 1990er Jahren queertheoretische Forschungsarbeiten entstanden sind, scheint dieser Zugang für andere Fächer noch wenig erprobt. Das mag mit dem Status der gendertheoretischen Reflexionen im jeweiligen Fach zu tun haben, aber auch damit, ob und wie The23

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orietransfers und -rezeptionswege verlaufen. In der Musikwissenschaft gibt es nicht wenige Forschungsarbeiten sowie Konferenzen und Lehrveranstaltungen zu diesem Thema.3 Auch hier ist zu beobachten  : Da, wo Gender Studies als Forschungsperspektive ernstgenommen werden, findet auch Queer Theory Aufmerksamkeit. Queere Fragestellungen und Themen sind in der Musikwissenschaft wie in anderen Fächern auf verschiedenen Ebenen angesiedelt  : Da geht es um Identitäten von Künstler_innen, um die Bedeutung von Figuren/Stimmen, um Aufführungspraxen genauso wie um musiktheoretische Reflexionen und Analysen konkreter musikalischer Werke. Produktion und Rezeption sind gleichermaßen auf der Agenda queertheoretischer musikologischer Forschung.4 In diesem Aufsatz, der sich als Einführung ins Thema versteht, stelle ich einige Aspekte queerer Theorie vor und versuche (als Literaturwissenschaftlerin), zwei sehr unterschiedliche Beispiele populärer Musik unter queeren Vorzeichen zu beleuchten. Vorausschicken möchte ich zwei Bemerkungen zum Thema Lesen, um zu verdeutlichen, was Lesen mit Erkenntnis zu tun hat. Die Frage nämlich, wer was wie und warum »liest«, lesen – entziffern, erfahren, verstehen – kann, zielt auf nicht weniger als die Bedingungen zur Möglichkeit von Erkenntnis ab. Marlene Streeruwitz formuliert in ihren Tübinger Poetikvorlesungen »Sein. Schein. Erscheinen«  : Literarisches Schreiben und Lesen sind, wie alle Prozesse von Sprachfindung, mögliche Formen des In-sich-Hineinblickens. Sind Schnitte in die sichtbare Oberfläche, um tiefere Schichten freizulegen. Sind Forschungsreisen ins Verborgene. Ins Verhüllte. Mitteilungen über die Geheimnisse und das Verbotene. Sind Sprachen, die das Sprechen der Selbstbefragung möglich machen. Und sie so zur Erscheinung bringen. Im günstigsten Fall führt literarisches Schreiben und Lesen zu Erkenntnis. […]. (Streeruwitz 2009, 9)

Von einem Satz, einem Wort getroffen, »vom Begreifen überfallen« (ebd.)  : nachgerade ein Erkenntnisschock. »Ein solches Lesen entbehrt jeder Beiläufigkeit […]. Es zeugt von Beteiligtheit, ja von Verstrickung, und entfaltet auf diese Weise die Qualität einer vertieften Einsicht, einer existenziellen Erfahrung.« (Melzer 2013) Nicht jedes Lesen ist gleichermaßen erkenntnis-geeignet, folgt man Streeruwitz’ Ausführungen  : Sie meint ein »literarisches« Lesen, das man etwas allgemeiner als eine sehr aufmerksame, genaue, neugierige Lektüre bezeichnen könnte, die willens ist, sich überraschen oder irritieren zu lassen  : queeres Lesen unterstützt eine solche Lektüreweise. 24

Begehren lesen

Als zweite Referenz zitiere ich Judith Butler, die über die Bedeutung des Lesens sagte  : »An active and sensate democracy requires that we learn how to read well, not just texts but images and sounds, to translate across languages, across media, ways of performing, listening, acting, making art and theory.«5 Auch Butler geht es um eine spezifische Qualität des Lesens, um gutes Lesen, das uns sowohl ermöglicht, verschiedenste Informationen, Medien und Kunstwerke zu erkunden, als auch, über Grenzen von Sprachen und Medien hinweg Verstehen zu ermöglichen. Lesen fasse ich nun in diesem weiteren Sinn und über den konkreten Akt des Entzifferns eines geschriebenen Textes hinaus als das Erkennen und Verstehen von Zeichen und Zeichenrelationen, als Re/Konstruktion von Bedeutung, als komplexen Vorgang von Sinnkonstitution im Zusammenspiel von Wissen und Begehren. Queer Reading, als eine Leseweise, die versucht, dominante Erkenntnisordnungen infrage zu stellen, kann als Projekt verstanden werden, VerstehensWege zu eröffnen, die wichtige Erkenntnisse bereithalten und zuweilen einen Erkenntnisschock mit sich bringen können – auch, indem es die Frage nach dem erotischen, sexuellen und einem existenziellen Begehren stellt. Dass und wie diese Frage gestellt wird, ist – wie ich im Folgenden darzulegen versuche – in Bezug auf unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten von Bedeutung.

Was heißt »queer«  ? Wenn es um die Frage von Definitionen geht, so wird es einer im Feld der Queer Theory nicht leicht gemacht. »Queer« will nicht einfach und schon gar nicht abschließend definiert werden. »Queer« gilt als offenes Projekt, als Prozess. Zugleich gibt es klare Beschreibungen und auch Definitionen des Begriffs ebenso wie des erkenntnistheoretischen und politischen Interesses der Queer Theory. Der Impuls für diese Theoriebildung kommt aus der Lesben- und Schwulenbewegung, aus dem politischen und intellektuellen Kampf um Rechte – um Existenzrechte, Lebens- und Liebensrechte, darum, gesehen und anerkannt zu werden, darum, als lesbische Frau oder schwuler Mann oder als bisexuell lebende Person ohne Angst vor Gewalt, Verfolgung und Repression leben zu können. Diese Emanzipationsbewegung hat sich inzwischen verändert, vervielfältigt, in ihrer Theoriebildung weiterentwickelt und ist dennoch ihrer politischen wie erkenntnistheoretischen Aufgabe, trotz des Erreichten, nicht verlustig gegangen. Heute kämpfen wir u. a. als und mit Transgender- und Intergender-Personen 25

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und reflektieren weiterhin kritisch die Machtverhältnisse auch innerhalb jener losen »community«, die »queer« genannt wird. Als politischer und theoretischer Begriff ist »queer« in den 1990er Jahren nach US-Vorbild in den deutschsprachigen Diskurs aufgenommen worden. Etymologisch betrachtet hat das englische Wort »queer« eine Art Reise beendet. Es wurde im frühen 16. Jahrhundert aus dem Deutschen entlehnt. Seine Bedeutung reichte damals von »sonderbar« und »verdächtig, fragwürdig« bis zu »krank« und »verrückt«. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wird das Wort im Englischen abwertend für »homosexuell« verwendet.6 (vgl. Jagose 2001, 97f.; Genschel 2001, 9) Eine Strategie im Kampf um Entkriminalisierung und gleiche Rechte für Lesben und Schwule war und ist die »Umfunktionierung« (Butler 1995, 295) der Schimpfwörter  : Indem diese positiv ge- und verwendet werden, wird der Beleidigung die Kraft genommen und zugleich selbst bestimmt, welche Bedeutungen diese Begriffe haben können  : So wurde »queer« zu einer Selbstbezeichnung. Im Deutschen werden Wörter wie »lesbisch« und »schwul« als solche positiv konnotierte Begriffe verwendet. Da »queer« als englisches Wort im Deutschen weder beleidigt noch provoziert, fehlt dem »Queer« der Theorie sprachlich der Stachel. So kritisieren auch manche, dass der Begriff mehr verdeckt als benennt. Alternative Vorschläge sind daher etwa »perverse Studien« oder die Beibehaltung von Bezeichnungen wie lesbisch oder schwul.7 »Queer« können wir also zunächst verstehen als Selbst/Bezeichnung von Menschen, die normativen gesellschaftlichen Ordnungen von Heterosexualität und einer rigiden Zweigeschlechter-Ordnung entgegentreten, sie überwinden und verändern möchten. Zugleich verweist der Begriff »queer« auf die Vielfalt gelebter und möglicher Lebensentwürfe, ab- und jenseits normierter Wege  : sei es in Bezug auf Geschlechtsidentität, auf das sexuelle Begehren oder auch die Art und Weise, wie Beziehungen gelebt oder wie »Familie« verstanden wird. Queer bezeichnet schließlich ein Denken und politisches Handeln, das auf die unhinterfragten Voraussetzungen gesellschaftlicher Ordnungen  – wie Heterosexualität – abzielt. Queer übt Kritik an den Regulierungen von Begehren, an Gefühlsnormierungen und Hierarchisierungen von Geschlecht und Sexualität. Mehr noch, es ist ein Projekt, das angetreten ist, die Kritik an der Norm der Heterosexualität als umfassende Herrschaftskritik zu entwickeln, in der es darum geht, auch den Zusammenhang mit Rassismus und klassenbezogener Diskriminierung zu analysieren und Strategien gegen Diskriminierungen zu entwickeln.8 Und schließlich geht es darum, die Logik von Weltmodellen, die wesentlich auf Ausschluss und Abwertung basieren, zu verändern. 26

Begehren lesen

Die Grundstruktur eines solchen Denkens ist jene der Dichotomie, des Entweder-Oder. Jemand ist Mann oder Frau, gut oder böse, jung oder alt, hetero oder schwul usw. Eingeschrieben ist dieser Binarität eine Hierarchie – das eine ist demnach immer besser als das andere. Queer trachtet danach, diese Logik zu überwinden, nicht dem Entweder-Oder und seiner Bewertungen zu entsprechen, sondern versucht das Denken eines »Darüber hinaus«. Gudrun Perko entwickelt dafür das Konzept des »plural-queeren Denkens«, eines Denkens, das imstande ist, das/die/den Andere(n) nicht in Abgrenzung zu einem »Eigenen« zu sehen und zu bewerten (meist  : abzuwerten). So sei die Frage »Ist eine queere Person ein Mann oder eine Frau« nicht durch die Reduzierung auf die Logik »Mann oder Frau« zu beantworten, »sondern nur durch die Transformation dieser Kategorien«  : »Verschiedenste Lebensformen existier(t)en als Immer-Mehr und Etwas-Anderes und Ohne-Grund seit jeher und verdeutlichen […] Pluralität menschlichen Seins.« (Perko 2005, 115) Andreas Kraß betont zudem die Notwendigkeit der Anerkennung des sexuellen Pluralismus, der neben schwuler und lesbischer Sexualität auch Bisexualität, Transsexualität und Sadomasochismus einbezieht. (Kraß 2003, 18) Eine wichtige Aufgabe queeren Denkens ist daher, wie oben angesprochen, zu fragen, wie Wissen überhaupt generiert wird, wie etablierte Wege der Herstellung und Verbreitung von Wissen funktionieren, was gedacht und gesagt werden kann und was nicht  : Wie prägen Geschlechternormen und Sexualitätsordnungen die Bedingungen der Möglichkeit von Denken und Erkenntnis  ? Dabei geht es wesentlich darum, noch nicht Kategorisiertes in Betracht zu ziehen – und als Konsequenz daraus, die Entstehung, Funktion und Relevanz von Kategorien überhaupt zu diskutieren. Und zwar nicht nur im Hinblick auf Geschlechtlichkeit und Sexualitäten, sondern als kritische Analyse der Art und Weise von Wissensproduktion selbst  : Queer Studies sind ein wissenschaftskritisches Projekt, auch deshalb, weil der eigene »Forschungsgegenstand« durch den Charakter grundsätzlicher Unbestimmtheit geprägt ist. ( Jagose 2001, 124) Antke Engel versteht »queer« als einen Ansatz, »der an einer umfassenden Gerechtigkeitsperspektive orientiert ist, der nach dem Zusammenhang von Identitätskonstruktionen und der Ausbildung sozialer Hierarchien fragt und der für die soziale Anerkennung nicht-hierarchischer Verschiedenheit kämpft« (Engel 2013). Für das Denken der Komplexität findet sie den Begriff der »Queerversity«, ein Begriff, der die oft wenig innovativen Diversity-Konzeptionen weiterzuentwickeln trachtet. Queerversity könnte in Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Komplexität des Lesens selbst, als einer gesellschaftlichen Praxis und als Verfahren, Erkenntnis zu gewinnen, ein passendes 27

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Stichwort sein, in dem »queer« im Sinne der Thematisierung abjekter Figuren und Figurationen9, aber auch im Sinne von nicht-dominanten Erzählweisen und Re/Präsentationen von Wirklichkeit den Ausschlag gibt.

Queer Reading Die genannten Dimensionen queeren Diskurses prägen die Entwicklung von »Queer Reading« als erkenntnistheoretischer Praxis. Wenn wir lesen, dann begeben wir uns in ein komplexes Gefüge von Instanzen, Intentionen und Bedeutungen. Dieses veränderliche und je nach Blickwinkel sehr unterschiedliche Gefüge kann stark vereinfacht nach folgendem Modell dargestellt werden. Es spannt sich nach einem triadischen Modell auf zwischen den Instanzen oder Funktionen  : Autor_in – Text – Leser_in oder allgemeiner  : Produzent_in – Werk – Rezipient_in. Wie verhalten sich nun diese Instanzen zueinander  ? Kann jemand einen queeren Text schreiben, einen queeren Song komponieren  ? Oder sollte man einfach sagen, »queer« liegt im Auge der Betrachter_innen oder im Ohr der Hörer_innen  ? Kann ein Text, ein Bild, ein Lied selbst queer sein oder queer werden  ? Wie diese Fragen beantwortet werden, hängt davon ab, welche theoretische Position jemand in Bezug auf die genannten drei Instanzen vertritt  : ob etwa eine Autor_innenintention angenommen wird und wie diese gefasst ist, ob der Text als ein mehr oder weniger eigenständiges Gebilde betrachtet wird, dem ebenfalls eine Intention zugesprochen werden kann10, indem textbezogene Kriterien wie Kohärenz oder Ökonomie in Rechnung gestellt werden, oder ob man die Auffassung vertritt, die Bedeutung eines Artefakts werde wesentlich oder allein durch die Rezipient_innen hergestellt. Auch im Kontext von Queer Theory werden diese Positionen verhandelt. Ein entscheidender Schritt für Queer Reading ist es, die Regeln des Sehens, die – oft einseitige – Vereinbarung, Kunst in spezifischer Weise zu verstehen, infrage zu stellen oder gar aufzukündigen  : Das – aus »ästhetischen Gründen« – gebotene Hinwegsehen beispielsweise über Gewalt, Abwertung und Ausschluss wird nicht mitgetragen. Es gilt daher, Fragen nach den Voraussetzungen und Bedingungen der Entstehung von Kunst zu stellen. Virginia Woolf beispielsweise fragt 1929 in ihrem Essay »A Room of one’s own«, warum Frauen so oft in der Literatur vorkommen, aber als reale Personen kaum ein Recht auf sich selbst haben, warum so wenige Bücher von Frauen geschrieben sind und wie es wohl Shakespeares Schwester ergangen wäre, wenn sie  – gleichermaßen begabt  – versucht hätte, als Schrift28

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stellerin ihr Auskommen zu finden. Frauen fragten weiter  : nach ihren Möglichkeiten zur Autorinnenschaft und ihrer Bedeutung als Leserinnen und danach, wie sie Texte neu, anders schreiben und lesen können. Wo kommen sie, ihre Geschichte, ihre Gefühle, ihr Denken und Tun vor  ? In welcher Sprache können ihre Leben, ihre Geschichte, ihre Erfahrungen als »Frauen« Ausdruck finden  ? Ähnlich suchen, fragen, wünschen schwule, lesbische, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen. Sich in Texten zu finden, etwas über die eigene Existenz zu lesen, über die eigene Geschichte zu erfahren und die Möglichkeiten, die Fantasien, die Utopien, die in Geschichten enthalten sein können, ist für alle Leser_innen von Bedeutung. In keiner Erzählung vorzukommen oder die eigenen Gefühle, das eigene Begehren abgewertet, verkümmert, entstellt dargestellt zu finden, verletzt, erzeugt Zweifel, prägt den Blick auf sich selbst in negativer Weise. Daher gibt es dieses spezifische Interesse an Kunstwerken, an Texten, an Musik  : Welche Geschichte wird in welcher Weise erzählt  ? Wer kommt darin vor  ? Welcher Logik folgt die Komposition, das Narrativ  ? Queer Reading sucht einerseits nach queeren Motiven, Strukturen, Figuren, Geschichten – und ermöglicht damit, etwas über die heteronormative Konstruktion von Texten, aber auch die Konstruktion von Identitäten in und durch Texte zu verstehen. Andererseits werden Subjektpositionen und Geschlechternormen, die narrativ hergestellt werden, kritisch analysiert und danach befragt, wie im Modus des Erzählens Bedeutung, wie Welt erzeugt wird. Die komplexen Beziehungen zwischen Produktion/Werk/Rezeption und die Frage nach der Bedeutung des Werks sind geprägt von Machtverhältnissen. Insofern ist auch nicht gleich, wer etwas produziert und wer etwas rezipiert. Der je individuelle Zugang zu einem Kunstwerk ist gebunden an diese Machtverhältnisse, an Hierarchisierungen – auch im Kunst- und Wissenschaftsbetrieb. Queer Reader* oder Lesen als  : Als Teil einer Gesellschaft lernen wir die Spielregeln, Normen und Codes, wir lernen zu lesen und uns Plätze in den dominanten Narrativen von Fernsehsendungen, Filmen oder Musik/Theater zu verschaffen. Wie wir idealerweise zu fühlen, zu denken, zu hoffen, zu leben haben, legen uns die dort vorhandenen Bilder und Geschichten nahe. Tatsächlich nehmen wir dieses »Soll« sehr deutlich wahr  – und oft genug in einer Differenz zum eigenen Wollen. Aus dieser Spannung zwischen Narrativ und Begehren, zwischen Geschichte und Leser_in können verschiedene Lesestrategien hervorgehen  : eine davon ist, die Geschichte umzudeuten, sich 29

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aktiv in den Text einzuschreiben  – gegen oder zwischen die Erzählung  ; sich etwa als lesbische Leserin mit dem männlichen Helden identifizieren, die Geschichte über ihre Grenzen hinaus weiter- oder umerzählen und ausmalen, was sein könnte. »Lesen als« Frau, als Mann, als queer begehrende Person usw. ist eine viel diskutierte Strategie.11 Das Konzept ist nicht unumstritten  : Heißt »lesen als« nicht, auf spezifische Positionen oder Identitäten zu rekurrieren, die dann wieder als unveränderlich verstanden werden  ? Lassen sich Identifikation und Begehren auf diese Weise überhaupt in Beziehung setzen  ? (Fuss 1999, 23  ; vgl. auch Evans/Gamman 2004, 213) Das Wissen der Leser_innen etwa über bestimmte (queere) Codes und Symbole bedeutet nicht notwendigerweise eine spezifische Identifikation und evoziert ebenso wenig ein gewissermaßen voraussagbares Begehren  : »If we deconstruct the subject we must by implication also deconstruct the subject’s reading/viewing position and, therefore, the text also.« (Evans/Gamman 2004, 215) Ein klassisches, inzwischen auch modifiziertes Modell, das hilft, die Frage der Lesarten im Kampf um Interpretation zu differenzieren, stammt von Stuart Hall. Sein Text »Encoding/Decoding« bezieht sich auf das Fernsehen. Er unterscheidet darin »bevorzugte«, »ausgehandelte« und »oppositionelle« Lesarten. (vgl. Hall 1980) Ein »bevorzugtes« Lesen werde demnach durch die Art und Weise, wie ein Text sein »Material« präsentiert, nahegelegt. Diese Lesart entspricht einer ideologisch dominanten institutionellen bzw. politischen Ordnung. Die »oppositionelle Lesart« lehnt sich dagegen auf und liest den Text gegen den Strich – subversiv. Eine vermittelnde Position stellt die »ausgehandelte Lesart« dar. Diese erkennt die dominante Lesart an, formt sie aber um. Queer Reading ist nicht immer, aber in vielen Fällen eine »oppositionelle Lesart«. Sie verlangt oft keine geringe interpretatorische Anstrengung und oppositionelle »Aneignungen« haben auch ihre Grenzen. (de Lauretis 2003, 102f.) Es fragt sich nämlich  : Ist wirklich da, was nicht explizit da ist  ? Wenn es keine Geständnisse gibt, wenn die Zeichen auf »normal« stehen, wie lässt sich dann eine queere Bedeutungsdimension behaupten  ? Ein solcher Zweifel, eine Unterstellung unredlicher Deutung, entspricht dem Wesen dominanter Ideologien  : »Ideologies tend to disappear from view into the taken-for-granted ›naturalised‹ world of common sense.« (Hall 1997, 161) Was also in dieser Logik nicht sein kann, ist nicht. Ist eine Figur nicht explizit queer markiert, dann ist sie »automatisch« heterosexuell. So erklärt sich der Widerstand gegen oppositionelle Lektüren auch von Seiten der oppositionellen Leser_innen. (Doty 2000, 2  ; Raymond 2002, 100) 30

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Zu verschwinden, unsichtbar zu werden, ist eine Gefahr, die unter den Bedingungen des bevorzugten Lesens in einer heteronormativen Gesellschaft immer gegeben ist. Wenn auch Queerness, wie Alexander Doty betont, keine essenzielle Eigenschaft eines Kunstwerks ist, bedeutet das nicht, dass eine attribuierte Queerness weniger wahr oder real ist als eine zugeschriebene Heterosexualität. (Doty 2000, xif.) Ein einfaches Beispiel soll an dieser Stelle die Ausführungen veranschaulichen. Eine kluge Auseinandersetzung mit der Frage der Anerkennung von Möglichkeiten und mit dem Überschreiten dominanter Kategorien führt Loren Cameron in seinen* Fotoarbeiten. In den auf den ersten Blick konventionell inszenierten Selbstporträts (Cameron 1996)  – oft Schwarzweiß-Akte  – wird ein trainierter, männlich erscheinender Körper in Szene gesetzt, in Posen, die z. T. aus Bodybuilding-Kontexten, z. T. aus der europäischen Kunstgeschichte vertraut erscheinen. Irritationen bieten da nicht nur die jeweils subtil veränderten Körperhaltungen und Blicke der abgebildeten Person, sondern auch die Überlagerung unterschiedlicher Kodierungen wie in der Konfrontation einer »femininen« Pose mit dem trainierten »maskulinen« und tätowierten Körper. Bedeutungsverschiebungen erzeugen auch Gegenstände. Auf dem Coverporträt des Bandes ist es eine Injektionsnadel, die in das Gewebe des Oberschenkels eingeführt ist – ein Hinweis auf eine Hormongabe. Die scheinbar evidente Männlichkeit erweist sich als eine in besonderer Weise hergestellte  ; der Impuls, diese Männlichkeit als »unnatürlich« zu deklarieren, verweist auf unsere unhinterfragten Annahmen von der Natürlichkeit von Körpern und ihrem Begehren  : »[…] für viele Menschen knüpft sich die eigene geschlechtliche Identifikation wie auch die sexuelle Orientierung an spezifische körperliche Geschlechtsmerkmale.« (Hoenes 2009, 48) Solange wir an den Kategorien »weiblich« vs. »männlich« festhalten, werden Personen, die weder der einen noch der anderen Kategorie entsprechen, die nicht »durchgehen« als Mann oder Frau, keine angemessene Form von Anerkennung als Subjekt finden. Was wir sehen können, ist, wie das Beispiel zeigt, auch eine Frage der Kategorien, der Denkmöglichkeiten. Sehen geschieht darüber hinaus nicht bloß durch einen optischen Apparat und einen kategorialen »Filter«, sondern Sehen ist wesentlich auch ein Wunsch  : Ich sehe, was ich sehen möchte  !

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Begehren Was wir sehen, entspricht also auch unserem Wunsch, folgt unserem Begehren  : Wir wollen etwas sehen oder in bestimmter Weise selbst gesehen werden. Wir sehen gern Schönes, wir identifizieren uns mit bestimmten Bildern, Atmosphären. Der trainierte Männerkörper und die Schwarzweiß-Fotografie befriedigen einen Wunsch nach Schönheit, nach spezifischen Formen von Ästhetik. Irritationen in diesem Sehen sind zuweilen nicht angenehm, sind gewissermaßen Zurückweisungen unseres Wunsches und gelten uns beinah als Betrug  : Der schöne Mann ist gar kein Mann  ! Begehren zielt dabei nicht bloß auf das Betrachten, sondern reicht in die Gestaltung des Seins, der Gegenwart. Begehren will erfüllt werden und wirkt daher in unsere Handlungen. Begehren ist nicht allein betrachten, sondern ein Tun. Umso wichtiger ist es für unsere Lektürepraxis, für das Sehen und Erkennen, zu wissen, dass und was wir begehren. Sigmund Freud beschäftigte sich besonders mit unbewussten, oft sexuellen Wünschen und mit dem Traum als Wunscherfüllung. (Freud 1999) Bei Jacques Lacan ist die Rede von Begehren – ebenfalls in einem unbewussten und sexuellen Sinn  : »Das Wesen des Menschen ist Begehren.« (Lacan 1978) Für ihn ist das Begehren ein Produkt der Gesellschaft, das in dialektischer Beziehung zu dem Begehren anderer steht.12 In Bezug auf unser Thema geht es um (homo)erotisches und sexuelles Begehren, das nicht der Norm entspricht, aber es geht auch um einen weiter gefassten Begriff von Begehren, ein Begehren, das produziert, Dinge hervorbringt. Nach Gilles Deleuze richtet sich Begehren nicht auf Abstraktes, nicht auf ein Objekt, das aus dem Zusammenhang gelöst und isoliert ist. Vielmehr betont er, dass man nicht etwas oder jemanden begehrt, sondern ein bestimmtes Ensemble. Deleuze interessiert sich daher für die Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen und wie diese funktionieren müssen, damit Begehren entsteht, damit die Elemente begehrenswert werden. Er bezieht sich beispielsweise auf Marcel Proust, wenn er das auf eine Frau gerichtete Begehren nicht auf die Frau bezogen beschreibt, sondern als das nach einer Landschaft, in welcher die begehrte Frau gleichsam aufgenommen ist. So auch beim Begehren eines bestimmten Objekts, eines Hemdes etwa, geht das Begehren nicht auf das Objekt allein, sondern auf den gesamten Kontext, das gesamte Ensemble  : »Ich begehre innerhalb eines Ensembles.« (Deleuze 2003 [1996]) Das Begehren werde innerhalb eines Kollektivs, einer Vielheit, einer Gruppe produziert und man frage daher nach der Stellung, die jemand und man selbst in Bezug auf die Gruppe, das Kollektiv hat  : außen, an der Seite, innen oder im Zen32

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trum. An dieser Stelle zeigt sich die Verbundenheit des Begehrens mit Macht.13 Die Frage etwa der Zugehörigkeit ist eine, die mit Macht zu tun hat. Eine Positionierung im Zentrum oder am Rand bestimmt, welche Rechte und Ressourcen jemand hat und welche Möglichkeiten zur Partizipation. Der Begehrensbegriff, den Deleuze vorschlägt, hilft, komplexe Bezüge von Macht und Gewalt zu analysieren, aber auch Potenziale zur Veränderung aufzuzeigen, wie Julia Bee ausführt  : Das Begehren ist dabei nicht etwas, was existiert und dann repräsentiert würde, es stellt neue Begehren her, nicht nur technisch, sondern sozial, ökologisch, bildhaft, medial, menschlich und unmenschlich. Begehren existiert dann gleichermaßen ökonomisch als auch politisch und kosmisch/umweltlich und kann der Privatisierung und Entpolitisierung sexueller Gewalt somit multiple Sexualitäten des Politischen entgegensetzen. (Bee 2018, 145)

Antke Engel schließt daher zu Recht, dass Begehren sowohl Macht stabilisieren, Macht aber auch anfechten kann. Neue Verknüpfungen von Begehrenselementen seien möglich, neue Ensembles, solche etwa, in denen Körper abseits einer Norm schön sein können. (Engel 2011) Der Wunsch, die Fantasie, das Begehren  : Unser Wahrnehmen und Denken bewegt sich stark entlang von Bildern, »bildhaft« wird neues Begehren hergestellt, wie Julia Bee sagt, seien es nun beispielsweise Fotografien und Filme, sprachliche Bilder oder Klangbilder. (Becker/Contz/Kusser 2007, 16)

Popkultur  : Queere Inszenierungen und Queere Lektüren Conchita Wurst Was Conchita Wurst zeigt und was ihre Performance gleichermaßen politisch wichtig wie für die traditionelle Geschlechterordnung gefährlich macht, ist, dass ein natürliches Element queer werden und eine queere Geschlechterperformance natürlich werden kann. (Hutfless/Schäfer 2014)

Der Bart ist der Stein des Anstoßes, nämlich jener Vollbart, den Conchita Wurst trägt, jene Kunstfigur und Künstlerin, die beim Eurovision Song Contest (ESC) in Kopenhagen 2014 Österreich siegreich vertreten hat. Nach traditionellem Geschlechterverständnis signalisiert Gesichtsbehaarung Männlichkeit  ; hier wird sie zu einem »queerenden Element im Zuge einer als natürlich empfundenen Weiblichkeits-Show« (ebd.). Deshalb halten Esther Hutfless und Elisabeth Schäfer 33

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Drag-Performances14 als subversive politische Praxis nach wie vor für geeignet, »um Geschlechternormen und -praktiken zu hinterfragen, zu dekonstruieren und um sie als künstliche Konstruktionen zu enthüllen« (ebd.). Mit dem Lied »Rise like a Phoenix« konnte sich Conchita Wurst in Kopenhagen durchsetzen. Dabei sind die Wogen bezüglich ihrer Performance schon nach ihrer Nominierung in Österreich, später auch international, hochgegangen  : Neben positiver Resonanz gab es auch vehemente homo- und transfeindliche Verbalattacken. Nicht nur medial erhielt die Künstlerin viel Aufmerksamkeit, auch in der wissenschaftlichen Forschung gab ihr Auftritt Anlass für zahlreiche Beiträge.15 Der Umstand, dass Conchita eine »Superweiblichkeit mit Bart« kreierte16, hat viele Personen mehr provoziert als Auftritte anderer Drag-Künstler_innen wie etwa Dana International, die bereits 1998 beim Eurovision Song Contest aufgetreten war und den Wettbewerb gewonnen hatte. Die chiastische Struktur von »natürlichen« gegenüber »künstlichen« Elementen, die in der medialen Diskussion zur Irritation wurden, basiert auf der Dichotomie des Denkens. Dass zwei Elemente, die als Gegensatz gelten, nicht nur überkreuzt, sondern miteinander ins Bild gesetzt werden, wird zu Recht als Angriff auf dieses Denken verstanden, hinterfragt doch Wurst auf diese Weise die vermeintliche »Natürlichkeit« der Geschlechter. Der Erfolg von Conchita Wurst beruht jedoch auf mehreren Faktoren  : Mit ihrer freundlichen und humorvollen Art findet sie Zugang zu einem breiten Publikum, das bereitwillig das Medium als Botschaft versteht  : »Love. Respect. Conchita.«17 Der Zugang von Katharina Pewny und Kati Rötger scheint mir für ein Verständnis des Phänomens »Conchita« sehr fruchtbringend. Sie lesen Conchita als eine Figur der Geschlechter-Disidentifikation (Pewny/Rötger 2015) und beziehen sich dabei auf ein Modell des Queer-Theoretikers José Esteban Muñoz. (Muñoz 1999) Sein Konzept der disidentification dient dazu, spezifische Formen performativer und kompositorischer Anerkennung von Bildern, Zeichen, Symbolen und Praxen zu bezeichnen, die aus scheinbar verschiedenen Welten kommen. Muñoz’ zentrales Interesse sind Trans-Künstler_innen, die künstliche Charaktere zwischen trash und Klassik, zwischen Folklore und Avantgarde kreieren. Er entwickelt in seiner Arbeit »a new perspective on minority performance, survival, and activism«  : »Disidentification is also something of a performance in its own right, an attempt to fashion a queer world by working on, with, and against dominant ideology.« (Muñoz 1999, Klappentext) Die Künstler_innen, deren Werk er analysiert, nützen Strategien der Disassoziation, indem sie bestimmte Codes oder Symbole der dominanten Kultur 34

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verwenden, zitieren, neu kontextualisieren und so ihre Bedeutungen verschieben. Diese Videos und Performances erzeugen nicht nur neue Formen von Geschlechter-Performance, sondern fungieren als emanzipatorische Praxen minorisierter Personen  : »Disidentifikation verkehrt das Wertesystem einer bestimmten, sich als homogen verstehenden kulturellen Ordnung, die auf Ausschluss basiert.« (Pewny/Rötger 2015, 188) In Conchita Wursts Auftreten findet Disidentifikation auf verschiedenen Ebenen statt18  : Da ist die fiktive Biografie, in der Kolumbien und Deutschland stellvertretend für den globalen Süden und den globalen Norden miteinander verwoben werden  ; dann der Name, der auf diese Herkunftsgeschichte verweist, aber auch weitere Konnotationen erlaubt  : spanisch »concha« für Muschel bezeichnet auch das weibliche Geschlechtsorgan und deutsch »Wurst« steht für das männliche Glied. Zugleich kommt »Wurst« in der Redewendung »Das ist mir wurst« vor und bedeutet »Das ist mir egal«. Man sollte Conchita aber nicht Gleichgültigkeit oder Resignation unterstellen. Auf ihrer Website heißt es  : Conchita owes her existence to the fact that Tom had been dealing with discrimination all his life. Therefore he created a woman with a beard – a striking statement and catalyst for discussions about terms like »different« and »normal«, as well as a vehicle to bring his message to the entire world in a clear and unmistakable way.19

Insgesamt kann Conchitas superfeminine Erscheinung mit Vollbart als gelungene Disidentifikation betrachtet werden, die interkulturelle und transgeschlechtliche Motive mit politischer Haltung, Selbstironie und Humor verbindet. Auf der musikalischen Ebene erscheint »Rise like a Phoenix« als stimmiger Teil dieser Praxis. Das Lied erzählt die Geschichte einer missachteten Person, die sich nun verwandelt (hat) und jetzt in der und durch die Musik ihren Aufstieg beginnt  : Rise like a phoenix Out of the ashes Seeking rather than vengeance Retribution You were warned Once I’m transformed Once I’m reborn You know I will rise like a phoenix But you’re my flame.20 35

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Musik und Text verbunden mit den Bildern der Performance rufen ein kulturelles Imaginäres auf  : Da ist zunächst der mythische Phönix, der Vogel, der am Ende seines Lebens verbrennt und aus seiner Asche immer wieder neu geboren wird. Ioannis Ziogas sieht sogar eine Verbindung zu Vergils Erzählung über Dido und Aeneas. Er ist überzeugt, dass Conchitas Refrain durchaus auch die Worte der sterbenden Dido sein könnten. (Ziogas 2014) Der Satz »But you are my flame« spiele in gleicher Weise auf die bildliche und wörtliche Bedeutung des Feuers an. Leidenschaft verbrenne Dido ebenso wie die Sprechinstanz in Conchitas Lied. Beide würden zurückkommen, um Vergeltung zu erlangen. Der Akt der Transformation beziehe sich sowohl auf die Überwindung der Grenzen zwischen Leben und Tod, aber auch auf jene zwischen den Geschlechtern  : Reincarnation crosses the boundaries not only between life and death but also between male and female. The rebirth of the phoenix becomes an icon of transsexual transformation and a symbol of liberation from gender norms. Dido’s gendered ambivalence features prominently in the Aeneid. She will be reborn phoenix-like as a male avenger. (ebd.)

Die Komposition erinnert an Pop-Hymnen wie den James-Bond-Erfolgssong »Skyfall« von Adele, 2012  : Die Musik evoziert Atmosphären von Bedrohung und von triumphalem Sieg. Die Musikkritik ist allerdings weniger hymnisch bezüglich des Songs  : Conchita ist nach Christian Schachinger »musikalisch gesehen Schnee von gestern«  : »Sie ist die Grande Dame des aus dem Lied vom Phönix aus der Asche und sonst noch ganz viel Celine Dion und Titanic bestehenden Durchhalteschlagers.« (Schachinger 2015) Damit hat er gewiss nicht Unrecht, übersieht aber dabei den bedeutenden Stellenwert des Schlagers in der schwulen Community, die traditionell Stars wie Zarah Leander ebenso wie Marianne Rosenberg verehrt und einen beträchtlichen Teil der ESC-Fans stellt.21 Ausschlaggebend ist dafür nichts anderes als ein Queer Reading und eine Art der Disidentifikation  : Schwule Männer hören/lesen sich in die heterosexuellen Liebesdramen hinein, die von Schlagersängerinnen besungen werden. Conchita lädt in ihrer Performance zu weiteren Konnotationen ein  : So kursieren Conchita-Wurst-Auferstehungsbildchen ebenso wie Conchita als Kaiserin Elisabeth im berühmten Sisi-Porträt von Franz X. Winterhalter. Die Einschreibung von Conchita in solche Herrschafts- und Heiligenbilder ist einerseits als Parodie dieser Bilder zu verstehen und andererseits als eine neue Besetzung dieser Ikonen, als (ironische) An- und Zuerkennung einer ikonischen Position. 36

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Conchita Wurst ist ein Beispiel für ein aktives »Queering« der dominanten Geschlechter- und Begehrensordnung. Ein Queer Reading analysiert die darin genützten Strategien und ihre Wirkungen. Andreas Gabalier Mit Andreas Gabalier ist ein sehr prominenter Schlagersänger angesprochen, der in vielfacher Hinsicht das genaue Gegenteil von Conchita Wurst ist. Nach seiner Selbstbezeichnung ist Gabalier »Volks-Rock’n’Roller«. Musikalisch bewegt er sich ebenfalls im Schlagerfach, allerdings mit Rock-Einflüssen, singt mehrheitlich Deutsch mit dialektaler Färbung und Englisch in manchen Passagen oder Refrains. Er betont Volkstümlichkeit und Bodenständigkeit, suggeriert Heimatverbundenheit und Tradition. In Interviews und verschiedenen anderen Stellungnahmen wird seine konservative Werthaltung deutlich. Gegenüber queeren Personen gibt er sich nicht nur ablehnend, sondern wähnt sich auch in zynischer Täter-Opfer-Umkehr als Teil einer heterosexuellen Minderheit  : »Man hat’s nicht leicht auf der Welt, wenn man als Manderl noch auf ein Weiberl steht.« (Hörl 2015, Rauscher 2015) Umso interessanter ist ein queerer Blick auf seine heile Weiberl-ManderlWelt in dem Lied »Mountain Man«. Das Lied wurde 2015 auf dem Album »Mountain Man« veröffentlicht. Auch ein Zeichentrick-Video wurde produziert. Andreas Gabalier fliegt darin nach Superheldenmanier durch die Bergwelt und rettet eine rothaarige Dirndlträgerin vor lüstern sabbernden grünen Monstern. Am Schluss ist die Welt so heil, dass sich nicht nur die Dirndln und die Kühe über den »Mountain Man« freuen, sondern sogar die Monster gezähmt sind und alle gemeinsam schunkeln. Der Text des Liedes hat auffällige Wechsel in der Adressierung/Anrufung des »Mountain Man«  : Von dem Besingen des Helden – »Du, du schützt das Edelweiß / Du bist hart wie Gletschereis«  – zur erotisch aufgeladenen Sehnsucht nach dem Helden  : »Oooh, wo bist du  ? / Oooh, wann kommst du  ?« Gabalier inszeniert sich auf der Bildebene (im Video und auf der Bühne) als Superheld und begehrt zugleich auf der Ebene des Liedertextes den Superhelden  : Mountain Man, Mountain Man, Mou Mou Mou Mountain Man safe me, safe me, safe me, because you care Hold me tight, come and love me tonight Be my Mountain Man tonight, ooooh (Gabalier 2015)

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Die Stimme, die sich nach dem Mann sehnt, ist in der heteronormativen Ordnung eine weiblich konnotierte Position. So entstehen aufgrund einer Kollision von Repräsentationsebenen – Stimme, Text und Bild – unfreiwillig queere Elemente. Der heteronormative Superhelden-Song formuliert homoerotisches Begehren. Gabaliers Performance setzt auf normative Zweigeschlechtlichkeit und prononcierte Heterosexualität, die sich stark mit Fiktionen von »Ursprünglichkeit« verknüpft. Darin wird z. B. eine »gute alte Zeit« idealisiert und die vermeintliche Natürlichkeit, die durch moderne Zeiten angegriffen/irritiert sei. Bei ihm und in seiner Musik dürfe alles, dürfe »man«, wieder »normal« sein. Gabaliers Auftritte als »Volks-Rock’n’Roller« verleihen dem konservativen Wertepaket seiner Songtexte und Presse-Statements einen quasi-rebellischen Twist. Er geriert sich als lässig-rockender »Retter« der einfachen, schlichten, natürlichen Normalität, die Homophobie und Sexismus pflegt und sich als benachteiligt, als in die Defensive gedrängt, darstellt. Im Unterschied zu Conchita Wurst stehen bei Gabalier die Zeichen auf »normal«  : Hier macht das Queer Reading deutlich, dass diese »Normalität« ebenso eine Inszenierung ist – eine, die Brüche aufweist.

Resümee An den beiden Beispielen können wir verschiedene Formen von Queer Reading erkennen. Im ersten Beispiel beobachten wir eine Performance, die aktiv Geschlechterrollen infrage stellt  : Die Performance von Weiblichkeit mit Bart lässt Geschlechterbilder implodieren. Ein Queer Reading fragt hier, inwiefern die Performance queer ist, in welcher Weise die heteronormative Geschlechterordnung thematisiert und infrage gestellt wird. Die Analyse bezieht sich darauf, wie das »Queering« passiert und ob dies gelingt, also auch »lesbar« wird. Andreas Gabalier geht in seiner Inszenierung einen anderen Weg, indem er eine natürliche Zweigeschlechtlichkeit inszeniert und behauptet. Seine Performance queer zu lesen, bedeutet hier, die Inszenierung als solche zu verstehen, ihr sozusagen nicht auf den Leim zu gehen. Beim Vergleichen der beiden Fälle ist es wichtig, die Machtfrage zu stellen. Einfach zu konstatieren, hier sind zwei Unterhaltungskünstler_innen, die in verschiedener Weise Performances liefern, um damit Geld zu verdienen, ginge am Problem vorbei. Gabalier verdient Geld mit der Affirmation von Normen und mit einer Figur des Ausschlusses  ; Conchita stellt sich mit einer Drag38

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Performance einem zum Teil homophoben und transfeindlichen Publikum und bietet eine Alternative zum vermeintlich natürlichen »Entweder-Oder«. Conchita Wursts Risiko ist damit in unserer heteronormativ geprägten Gesellschaft ein anderes. Queere Praxis und queere Analyse versuchen sichtbar zu machen, was am wenigsten sichtbar ist  : »dass Heterosexualität als Identität und Institution, als Praxis und als System so beharrlich ist, gerade weil nicht von ihr gesprochen wird, weil sie als unsichtbare, gleichwohl mächtige Textur des Sozialen und insbesondere als mächtige Technologie des Geschlechts operiert.« (Hark 2009, 28)

Anmerkungen 1 Anm. der Herausgeberinnen  : Dieser Text entstand bereits kurz nach dem Vortrag im Rahmen der mdw-Gender Ringveranstaltungstagung »Sprach/Welten« im Sommersemester 2016 und enthält dementsprechend Literatur, die bis zu diesem Zeitpunkt verfügbar war. 2 Sehr harsch und gänzlich undifferenziert fällt etwa die Kritik von Jens Loenhoff aus, der – wohl ohne sich die Mühe genauer Lektüre gemacht zu haben – von der »unfreiwilligen Komik der endlosen Vermehrung selbst der abenteuerlichsten Nischen als ebensolche studies und turns« schreibt, denen »zunehmend Prädikate wie›queer‹.›racis‹,›violence‹ […] vorangestellt werden«. Loehnhoff 2016, 120. 3 Einige Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum  : Rieger 2003  ; Doris Leibetseder 2010  ; Dissertationsprojekte, z.B.: Ina Beyer (Uni Oldenburg)  : Queere Praxen  – Musik und Zines der Queer Punk-Bewegung 1985 bis heute [laufend]  ; . Wesentlich für die Auseinandersetzung mit neuen theoretischen Zugängen sind natürlich wissenschaftliche Konferenzen. Als Beispiel sei genannt  : »Hinter den Spiegeln. Geschlechterrollen und sexuelle Identitäten von Komponist_innen«, 24. April 2015, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zudem gibt es Vortragsreihen, die auch Queere Musikologie reflektieren, wie jene über Musik und Gender an der Universität Hildesheim. Außerdem finden sich queere Themen auch in universitärer Lehre  : (Die Literaturwissenschaftlerin) Maria Katharina Wiedlack hat bspw. an der Universität Wien im Wintersemester 2013 ein Seminar angeboten  : »This is f* political (Skunk Anansie 1996). Popularmusik, Queer-feministischer Widerstand und Queer-Theorie«. In mancher Hinsicht auch für queere Perspektiven wertvoll ist MUGI  : Musikvermittlung und Genderforschung  : Musikerinnen-Lexikon und multimediale Präsentationen, das von Forscherinnen der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg gestaltet wird. Im Internet werden Musiker_innen – ihre Werke und ihre Biografie – in sehr einer anschaulichen Weise vorgestellt. Auch werden Begegnungen, Beziehungen, Begehrensgeschichten unzensiert thematisiert. Beatrix Borchard und Nina Noeske (Hg.), Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2003ff. Online  : http://mugi.hfmthamburg.de/ 4 Als weitere – ungeordnete – Beispiele internationaler Forschung seien genannt  : Hubbs 2004, ein Beispiel für interdisziplinäre Forschung – hier zu Visualität und Musik im Film  : LeBlanc 2006,

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Musik als queer-feministische Praxis diskutieren u. a. Melanie Groß und Gabriele Winkler 2012 und Laura Wösch 2012. 5 Judith Butler anlässlich der Überreichung des Ehrendoktorats durch die McGill University. https://www.brainpickings.org/2013/06/07/judith-butler-mcgill-2013-commencement-address/ 6 In den USA wurde der Begriff als Bezeichnung für homosexuelle Männer bereits 1922 erstmals nachgewiesen. vgl. Cooper 2000, 16. 7 vgl. http://derstandard.at/1302745623057/Nachlese-Die-Perversen-Studien-kommen-nach-Wien 8 vgl. die thematischen Arbeitsfelder des Queer Institutes in Berlin  : http://www.queer-institut.de/ warum-und-wie/themenfelder/ 9 Judith Butler verwendet den Begriff »abject« und erläutert dazu in ihrem Buch »Bodies that Matter«, dass das vergeschlechtlichte Selbst als Apriori zu seinen Handlungen verstanden wird. Durch soziale Sanktionierungen und Tabus wird der Glaube an stabile Identitäten und Geschlechterdifferenzen erzwungen. Ein Effekt solchen Zwangs ist, dass eine undenkbare Domäne hervorgebracht wird, etwas, das nicht artikulierbar ist  : abjekte (verworfene), unlebbare Körper. Auf diese Weise, durch einen Prozess der Abjektion, konstituiert sich das »normale« Subjekt. Butler 1995, 23. 10 vgl. den Begriff Textintention (intentio operis) bei Eco 2004. 11 »Als Frau lesen« ist ein Abschnitt im Kapitel »Der Leser und der Akt des Lesens« in  : Culler 1988.Eine Entgegnung auf Cullers Text ist Robert Scholes’ Beitrag »Reading Like a Man« (Scholes 1987, 218). Er bezieht sich in seiner Argumentation auf Erfahrung, die auch eine körperliche sei und »lesen als Frau« für ihn als Mann schwierig mache. Auch Diana Fuss’ Text »Reading like a Feminist« ist eine Reaktion auf Cullers Argumentation und bezieht Scholes’ Ausführungen ein. Sie weist die Ineinssetzung von »realer Frau« und weiblicher Leseposition zurück. (Fuss 1999, 28f.) 12 http://www.psyalpha.net/biografien/jaques-lacan/begehren-lust-geniessen 13 Eine differenzierte Analyse von Deleuze’ Begriff des Begehrens bietet der Beitrag von Ralf Krause und Marc Rölli 2005. 14 Der Begriff »drag« wird im Englischen für Kleidung mit symbolischer Signifikanz verwendet, bezeichnet aber üblicherweise Kleidung, die geschlechtlich kodiert ist und von einer Person des »anderen« Geschlechts getragen wird. 15 Conchita Wurst, Künstlerin des Monats Juli-August 2014 http://genderforschung.kug.ac.at/en/ centre-for-gender-studies/kuenstlerin-des-monats/komponistinnenkuenstlerinnen/conchitawurst.html 16 Tom Neuwirth »tritt seit März 2019 als zwei getrennte Kunstfiguren ›Conchita‹ und ›WURST‹« auf  : de.wikipedia.org/wiki/Conchita_Wurst 17 Mit diesem Slogan hat Conchita Wurst für sich geworben und zugleich ihre politischen Anliegen zusammengefasst. 18 Ich folge hier der Darstellung von Pewny und Rötger 2015, 192–195. 19 http://conchitawurst.com/index.php?id=3 20 Musik und Text  : Julian Maas, Charlie Mason, Joey Patulka, Alexander Zuckowsky. Verlag KOBALT MUSIC SERVICES AMERICA. 21 Elmar Kraushaars launiger Beitrag in seiner Kolumne »Wahrheit« in der Berliner TAZ sei hier stellvertretend zitiert  : http://www.taz.de/  !5024033/

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Karin Wetschanow

Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_ortungen Ein Streifzug durch die Welt der Leitfäden zu sprachlicher Gleichbehandlung1 Einleitung Seit beinahe 40 Jahren beschäftigen sich sowohl politische Bewegungen als auch wissenschaftliche Arbeiten mit der Frage, welche Rolle Sprache bei der Stabilisierung von bestehenden Geschlechterhierarchien zukommt und wie sie im Weiteren dazu eingesetzt werden kann, Geschlechterverhältnisse zu ändern bzw. die Bedeutsamkeit von Gender als sozialer Ordnungskategorie zu dekonstruieren. Rasch mündete die analytische Kritik an der sogenannten Unsichtbarkeit der Frauen der 1970er und 1980er in eine prospektive Kritik – in die Forderung nach sprachlicher Sichtbarmachung von Frauen und symmetrischen Benennungspraxen. Bereits in den 1980er Jahren werden erste Richtlinien für einen »nichtsexistischen Sprachgebrauch« in Deutschland und Österreich veröffentlicht (Hellinger/Pusch/Trömel-Plötz 1982  ; Wodak/Feistritzer/Moosmüller/Doleschal 1987). Mehr und mehr wurden staatliche Steuerungsmaßnahmen getroffen, die den obligatorischen Gebrauch einer der »sprachlichen Gleichbehandlung« dienenden Schreibweise vorschreiben oder explizit frauenfördernde Maßnahmen vorsehen (für einen detaillierten Überblick der österreichischen Rechtslage siehe Wetschanow/Doleschal 2013). Die Frage, welche sprachlichen Formen diesen Anforderungen gerecht werden und wie diese in konkreten Texten eingesetzt werden können, führte zu Empfehlungen und Richtlinien. Während die Umsetzungspraxis, die kognitive Verarbeitung geschlechtergerecht formulierter Texte (vgl. hierzu den Überblick in Wetschanow/Doleschal 2013) und auch die Akzeptanz (Hofbauer 2015) gegenüber geschlechtergerechtem Sprachgebrauch recht gründlich beforscht wurden, gibt es nur wenige Arbeiten, die sich mit den Richtlinien selbst beschäftigen. So führen etwa Moser/Sato/Chiarini/DmitrowDevold/Kuhn (2011) eine komparative Analyse verschiedensprachiger Richtlinien durch, die im »Initial Training Network  : Language, Cognition and Gender« 45

Karin Wetschanow

eingesetzt werden. Eine Studie zur historischen Entwicklung deutschsprachiger Richtlinien im Laufe der letzten 30 Jahre liegt meines Wissens bisher nicht vor. Eine historisch kontrastive Studie wäre aber gerade deshalb von Interesse, weil sich parallel zum Prozess der Institutionalisierung der feministischen Sprachpolitik auch die Geschlechtertheorie weiterentwickelt hat. (Hornscheidt 2002  ; 2012) Die feministische Sprachpolitik ist ein Kind des sogenannten »Second Wave Feminism« (= zweite Frauenbewegung) (Mills/Mullany 2011), der zwischen einem vorsprachlich vorhandenen biologischen (sex) und einem sprachlich etablierten sozialen Geschlecht (gender) unterscheidet und von einer Unterdrückung einer als homogen konzipierten Gruppe ›der Frauen‹ ausgeht. Entsprechend ist das Augenmerk einer feministisch prospektiven Sprachkritik der Zweiten Frauenbewegung (vgl. zum Kritikbegriff Reisigl 2011, 483–487) noch stark auf die sprachliche Gleichbehandlung ›beider Geschlechter‹ gerichtet. Mit dem »Third Wave Feminism« (Mills/Mullany 2011) rückt die Kritik an der Kategorie ›Geschlecht‹ selbst ins Zentrum  : Die De-Konstruktion von Gender als sozialer Kategorie ist die leitende ›Utopie‹ (zum Utopiebegriff vgl. in diesem Zusammenhang Klinger 1998) dieser Bewegung und so ist erklärtes Ziel einer queer-feministisch prospektiven Sprachkritik der Dritten Frauenbewegung, widerständige Praxen gegen das Zweigeschlechtersystem (Baumgartinger 2008) zu finden. Damit operiert die feministische Sprachpolitik der Zweiten Frauenbewegung zum heutigen Zeitpunkt (2016)2 in einem Spannungsverhältnis zwischen unbekannt und überholt  : Während einerseits immer noch um Anerkennung und Umsetzung gekämpft wird und feministisch-sprachkritische Überlegungen und Vorschläge immer noch nicht allgemein bekannt sind, lässt sich andererseits bereits eine gewisse Tendenz zur Abkehr von Strategien zur sprachlichen Sichtbarmachung von Frauen bemerken, weil sie aus Sicht heutiger Geschlechtertheorien zu einer Reifizierung einer binären Geschlechterordnung beitragen. Dieses Dilemma nimmt der vorliegende Aufsatz als Ausgangspunkt. Er geht der Frage nach, wie sich die Theorieentwicklung konkret auf die Gestaltung und den Inhalt von Leitfäden auswirkt. Am Beispiel Österreichs wird eingangs aufgezeigt, wie rechtliche Regelungen und Institutionalisierungen von Gleichbehandlungseinrichtungen die Entstehung und Verbreitung von Richtlinien beeinflussen. In einem nächsten Schritt werden im deutschsprachigen Raum gewählte Bezeichnungen für die anvisierte Sprachveränderung (z. B.: »geschlechtergerechter Sprachgebrauch«) in ihrer historischen Entwicklung betrachtet und eine erste Systematisierung vorgenommen. Abschließend wird exemplarisch die 2016 publizierte Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien analysiert und an diesem Beispiel aufgezeigt, wie 46

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heutige Leitfäden mit der Entwicklung der Gendertheorien und der Institutionalisierung von Gleichbehandlungsinstrumentarien umgehen. Der vorliegende Artikel versteht sich als eine ideenspendende Reflexion anhand von Material und beansprucht keineswegs den Stellenwert einer systematischen Studie.

Feministische Linguistik goes Gender Mainstreaming Ein erster Streifzug durch meine persönliche Sammlung österreichischer Richtlinien nimmt den Entstehungskontext und die Autor*innenschaft der Broschüren in den Blick. Den wohl relevantesten kontextuellen Hintergrund stellt die Entwicklung der Gleichstellungspolitik in Österreich dar. Mit der umfassenden rechtlichen Festschreibung von Gleichbehandlung bzw. Frauenförderung in öffentlichen Einrichtungen wird auch die feministische Sprachpolitik mehr und mehr etabliert. In vielen öffentlichen Institutionen gibt es mittlerweile Gender Mainstreaming, Frauenreferate und Stabstellen für Gleichstellungspolitik, was zu einer großen Anzahl hauseigener Richtlinien führt. Insbesondere im Bereich der Hochschulen werden aufgrund des im österreichischen Universitätsgesetz 2002 formulierten leitenden Grundsatzes der »Gleichstellung von Frauen und Männern« (§ 2 Z 9) und der geforderten Frauenförderung (§ 3 Z 9) eine große Anzahl an Richtlinien zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch3 verfasst. Mit der zunehmenden Institutionalisierung und Dezentralisierung von Gleichstellungsbelangen geht eine Änderung im Publikationsprozess einher  : Wurden 1987 (Wodak/Feistritzer/Moosmüller/Doleschal) und 1997 (Kargl/ Wetschanow/Wodak/Perle) noch universitär verankerte Forschungsgruppen im Rahmen sprachwissenschaftlicher Forschungsprojekte mit dem Verfassen von Richtlinien betraut, so lassen heutige Angaben zur Autor*innenschaft im Impressum den Schluss zu, dass die Leitfäden vornehmlich von den Beschäftigten in Gender-Mainstreaming-Abteilungen verfasst wurden bzw. werden  : Sowohl auf Landes- als auch auf Universitätsebene scheint es eine Sache der Genderbzw. Frauenreferate, der Arbeitskreise für Gleichbehandlungsfragen oder der Stabstellen für Gender & Diversity geworden zu sein, hauseigene Richtlinien zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch zu verfassen. Manchmal wird dabei auf die Unterstützung durch externe Linguistik- und/oder Genderexpert*innen zurückgegriffen  : So wird im Leitfaden der Akademie der Bildenden Künste (2010) dem Verein Diskursiv der beiden Ex*pertinnen für queer-feministische Linguistik Vlatka Frketić und Persson Perry Baumgartinger für ihre Unterstützung gedankt, und in den Richtlinien des ÖH-Genderreferats der AAU Kla47

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genfurt (2014) wird explizit ein Workshop mit der Linguistin Karin Wetschanow als Grundlage erwähnt. Für die universitären Richtlinien lässt sich auf Basis des unternommenen Streifzugs die Tendenz erahnen, dass insbesondere an den Universitäten nahezu alle Richtlinien innerhalb von Gleichbehandlungseinrichtungen der jeweiligen Universität verfasst wurden. Eine Ausnahme ist der Leitfaden von Fischer/Wolf (2009) »zur Verwendung in Lehrveranstaltungen und in wissenschaftlichen Arbeiten«, der am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien in Eigeninitiative erstellt wurde. Interessanterweise sind es gerade diese Richtlinien, die als eine der ersten den »Gender Gap« und das »Sternchen« als sprachpolitische Strategie im Kampf gegen eine »bipolare Geschlechteraufteilung« (Fischer/ Wolf 2009, 5) erwähnen. Hieraus könnte man die sehr spannende Hypothese ableiten, dass es ein gewisses Maß an Institutionenferne benötigt, damit traditionelle Inhalte um neue Erkenntnisse und Anregungen erweitert werden. Sprachliche Gleichbehandlung, so könnte man den Schluss aus der österreichischen Situation ziehen, wird mit zunehmender Schaffung von Gleichbehandlungsorganen immer mehr eine Angelegenheit institutionalisierter Gleichbehandlungsexpert*innen und immer weniger ein Anliegen der Sprach­ expert*innen  : Geschlechtergerechter Sprachgebrauch wird zu einer GenderMainstreaming-Basiskompetenz und jenseits des linguistisch-akademischen Wissens etabliert. »Geschlechtergerechter Sprachgebrauch goes polity«, könnte man salopp formulieren  : Unter Rückgriff auf die aus dem Englischen stammende Unterscheidung des Feldes der Politik (Rohe 1994) in »polity« (Form, politischer Handlungsrahmen), »policy« (Inhalt des politischen Handelns) und »politics« (Prozess des politischen Handelns) lässt sich konstatieren, dass eine feministische Sprachpolitik der Zweiten Frauenbewegung sich mittlerweile auf der Ebene der »polity« abspielt. Die Umsetzung des rechtlich festgelegten Ziels einer sprachlichen Gleichbehandlung wird in Richtlinien zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch geregelt. Da es die zentrale Funktion eines politischen Handlungsrahmens ist, Stabilität und Orientierung zu bieten, ist es notwendig zu überprüfen, ob es ausreichend politischen Aktionismus in den anderen beiden Politikebenen (policy und politics) gibt und über welche (institutionelle) Macht sie verfügen. Welche Anliegen werden derzeit auf der Ebene der Politics verhandelt und welche Ziele verfolgen sie  ? Zeigen sich bereits Spuren im Bereich der Policy, wo Richtlinien gestaltet und institutionell verankert werden, damit sie vom Bereich des Privaten in den öffentlichen, breitenwirksamen Bereich vordringen  ? Ist ihnen überhaupt daran gelegen, den Bereich der Politics zu verlassen  ? 48

Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_ortungen

Von nicht-sexistischer Sprache zu fairen W_ortungen Ein weiterer augenfälliger Aspekt, der sich bei meinem Streifzug durch die österreichische Landschaft der Richtlinien aufdrängte, ist der Umgang mit der gewählten Bezeichnung für die angestrebte Utopie. Über die Jahrzehnte hinweg ist eine Beeinflussung durch gängige Gendertheorien festzustellen. Entsprechend dem in der Zweiten Frauenbewegung beliebten Kampfbegriff und Stigmawort des ›Sexismus‹ ist in ersten deutschsprachigen Leitfäden von einer Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs und von nicht-sexistischem Sprachgebrauch (Häberlin/ Schmid/Wyss 1992  ; Hellinger/Bierbach 1993) die Rede. Diese ersten Bezeichnungen definieren ihren Gegenstand ex negativo  : Die Negation (= nicht) des kritisierten Status quo (= sexistisch) ist namensspendend und nicht ein zukünftiger, anzustrebender Zustand (= geschlechtssneutraler, geschlechtergerechter Sprachgebrauch etc.). Die Prädikation sexistisch macht zudem deutlich, dass die Kategorie Geschlecht als biologische Kategorie (= sex) gedacht wird. Als zu sehr in der Negation verhaftet wurde dieser Terminus denn auch kritisiert und in den 1990ern vom Terminus geschlechtsneutraler Sprachgebrauch abgelöst (UNESCO 1999). Interessanterweise sind diese Bezeichnungen in Titeln österreichischer Leitfäden nicht zu finden  : Entsprechend dem in der österreichischen Rechtssprache verwendeten Begriff sprachliche Gleichbehandlung heißt der erste sprachliche Leitfaden »Sprachliche Gleichbehandlung von Frau und Mann« (Wodak/ Feistritzer/Moosmüller/Doleschal 1987).4 Bereits die beiden Kollektivsingulare Frau und Mann, die heute so nicht mehr denkbar wären in gendertheoretischen aber auch -praktischen Arbeiten, machen deutlich, von welch kategorischem Verständnis einer Binarität der Geschlechter bei dem Konzept der Gleichbehandlung ausgegangen wurde. Dass Neutralität oder auch Gleichbehandlung nicht das kurzfristige Ziel sein können, sondern dass die momentane Situation teilweise auch eine Bevorzugung der Feminisierung bedeuten müsse, will die Bezeichnung geschlechtergerechter Sprachgebrauch zum Ausdruck bringen. Sie wird in der Broschüre »Kreatives Formulieren. Anleitungen zu geschlechtergerechtem Sprachgebrauch« (Kargl/ Wetschanow/Wodak/Perle 1997, 16) zum ersten Mal eingesetzt und erläutert  : Der Terminus geschlechtergerecht wurde von uns ganz bewußt gewählt. Im Gegensatz zu dem Begriff der sprachlichen Gleichbehandlung etwa steht er für mehr als die gleiche Behandlung von Frauen und Männern. […] Wir fordern daher einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch, was durchaus auch eine zeitweise Bevor-

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zugung des weiblichen Geschlechts bedeuten kann. (Hervorhebung im Original, [Anm. d. Verf.])

Ohne dass die hier formulierte Definition immer übernommen würde, wird der Begriff »geschlechtergerechter Sprachgebrauch« auch in jüngeren Richtlinien eingesetzt und scheint sich als Überbegriff für alle Arten queer_feministischer Sprachkritik etabliert zu haben. Selbst Versuche, etablierte Strategien der Sichtbarmachung wie die Paarformen und das Binnen-I abzuschaffen, bedienten sich dieses Terminus. So berief sich die vom Austrian Standards Institute geplante ÖNORM »Gendering in der schriftlichen Kommunikation« auf ein unveröffentlichtes Manuskript von Horst Fröhler aus dem Jahre 2011  : In dem Papier mit dem Titel »Zehn Leitsätze für geschlechtergerechtes Formulieren« wird dafür argumentiert, bei »allgemeinen Formulierungen« das generische Maskulinum zu verwenden, da das eine »verallgemeinernde Wortform« sei. Das Beispiel macht deutlich, dass sich der Terminus geschlechtergerechter Sprachgebrauch als allgemeine Begrifflichkeit für Strategien zur sprachlichen Gleichbehandlung durchgesetzt hat  : Die ÖNORM wollte nicht die gesetzlich vorgesehene sprachliche Gleichbehandlung abschaffen, sie wollte umdefinieren, was als »geschlechtergerechter Sprachgebrauch« zu interpretieren ist, und hat das generische Maskulinum in der ersten Version des Entwurfs als geschlechtergerechten Sprachgebrauch empfohlen. Mit der zunehmenden Bedeutung der Gendertheorien und der Einführung des Terminus gender kommen um die Jahrtausendwende die Begriffe gendergerecht, genderfair oder gendersensibel auf. So stellte etwa Claudia Schneider auf der Homepage des Vereins EfEU (www.efeu.or.at) eine »Literaturliste genderfaire Sprache« zur Verfügung (die heute leider nicht mehr abzurufen ist) und veröffentlichte der Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen der Universität Graz 2011 einen Leitfaden zum »Gendergerechten Formulieren«. Abdul-Hussein (2014) gibt auf dem Portal »Erwachsenenbildung.at« einen Überblick über »gendersensible Sprache«.5 Ein Blick in die Einleitung der Onlinerichtlinien von Abdul-Hussein (2014) und in die von ihr angeführten Grundprinzipien macht deutlich, dass mit der gewählten Begrifflichkeit auch eine Änderung der prinzipiellen Zielsetzung einhergeht. Als »Ziele gendersensibler Sprache« wird eine »angemessene [und symmetrische] Darstellung bzw. Beschreibung von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen, transidenten und intersexuellen Personen in ihrer Vielfalt von Geschlechtsidentitäten« angestrebt. Der Terminus gendersensibel wird demnach bewusst eingesetzt, um eine Änderung der Utopie zu markieren  : Angestrebt 50

Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_ortungen

wird nicht mehr die Sichtbarkeit »von Frauen«, sondern eine Sensibilisierung für die Kategorie Gender und die Sichtbarkeit der »realen Vielfalt von Geschlechtsidentitäten« (Abdul-Hussein, 2014). Die Motivation für das Ersetzen des Begriffs gerecht durch sensibel ist, betrachtet man die Bedeutung der beiden Adjektive, in einer intendierten Bedeutungsverschiebung weg von rechtlichen Verordnungen hin zu individueller Achtsamkeit und Verantwortung zu vermuten. Die treibende Überlegung für den Austausch von gerecht und fair ist weniger offenkundig nachvollziehbar  : Beide Wörter thematisieren gleichermaßen die Angemessenheit und die Angepasstheit an geltende Wertmaßstäbe und Gegebenheiten. Der Unterschied liegt in der ersten Bedeutung von »gerecht«, die da lautet  : »dem geltenden Recht entsprechend« bzw. »nach bestehenden Gesetzen handeln oder urteilen« (Duden Online–Wörterbuch). Eine mögliche Motivation für den Ersatz von gerecht durch fair kann demnach in dem Bestreben liegen, Konnotationen von »Rechtsprechung« und eines rechtlichen Anspruchs zu vermeiden und dagegen Kontextgebundenheit und Flexibilität zu betonen  : Was angemessen ist, darüber entscheidet das Individuum bzw. die Gemeinschaft in einer konkreten Situation selbst. Diese Vermutung wird auch im Interview mit den Autorinnen der Broschüre »Fair in Wort und Bild« der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien bestätigt, auf das später ausführlicher eingegangen wird. Auf die Frage, warum sie diese Bezeichnung gewählt haben, gaben sie an, dass »gerecht« von vielen als eher veralteter Begriff, der sich auf die Rechtsprechung beziehe, wahrgenommen und abgelehnt werde, die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien daher den »fairen Umgang« miteinander betonen wollte. Eine grundlegende Veränderung in der Herangehens- und Denkweise kommt in der Bezeichnung gender_diversitätssensibler Sprachgebrauch der Handreichung »Gender_diversitätssensibler Sprachgebrauch. Diskriminierungsfreie Schreib-, Sprech- und Bildsprache« zum Ausdruck, das vom Gender_Diversitäten Netzwerk des IMST6 2014 herausgegeben wurde  : Die Kategorie Gender wird bereits in der Benennung um die Kategorie Diversität erweitert, beide werden mit einem Unterstrich verbunden. Der Unterstrich steht in der Tradition queerer sprachpolitischer Schreibweisen für einen »gap« (Baumgartinger 2007  ; 2008), für einen Raum zwischen zwei Begriffen, der mit unendlich vielen dazwischen liegenden Begrifflichkeiten zu füllen ist. Mit dieser Bezeichnung wird alleine durch die Wahl der Begrifflichkeiten und des Interpunktionszeichens ein starker Bezug zu postmodernen Gendertheorien und queerer Sprachpolitik hergestellt. Zugleich wird die sozialpolitische Dimension der Diskri51

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minierung betont, indem eine diskriminierungsfreie Kommunikation als Ziel definiert wird. Die Begrifflichkeit eines nicht-diskriminierenden Sprachgebrauchs (Voglmayr 2010) rückt in den letzten Jahren, so der Eindruck, immer mehr in den Mittelpunkt. Auch die 2015 von der AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität Berlin herausgegebenen »Anregungen zum antidiskriminierenden Sprachhandeln«, die eng mit Hornscheidts 2008 vorgelegtem Entwurf einer Praxis des »reSignifizierenden Sprachgebrauchs« verbunden sind, lassen sich diesem Bezeichnungsschema zuordnen. Eigen ist diesen Ratgebern, dass Diskriminierung entlang der Genderkategorie nur einen Teilaspekt darstellt  : Während allerdings frühere Richtlinien für einen nicht-diskriminierenden Sprachgebrauch die Ebene sprachlicher Genderdiskriminierung nur am Rande erwähnen (Voglmayr 2010), steht bei den »nicht-heteronormativen« (Motschenbacher 2014) Leitfäden zum antidiskriminierenden Sprachhandeln die Dekonstruktion der Heteronormativität im Zentrum. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass sich hier ein Zusammenhang mit der Ebene der Polity der EU feststellen lässt, denn auch die Antidiskriminierungsnormen der EU weisen diesbezüglich Veränderungen auf  : Das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Nationalität und Geschlecht wurde im Vertrag von Amsterdam um einen Artikel erweitert. Dieser schreibt auch die Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund von Alter, »Rasse«, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung sowie sexueller Ausrichtung vor. Blickt man zurück an den Anfang des Streifzugs durch die Bezeichnungen, so fällt auf, dass sich der Kreis zu schließen scheint  : Operierte die Begrifflichkeit eines »nicht-sexistischen Sprachgebrauchs« ex negativo, so ist auch in der Begrifflichkeit »antidiskriminierendes Sprachhandeln« nicht die Benennung einer neuen utopischen Norm, sondern die Vermeidung des Ungewollten begriffsstiftend. Allerdings – und hierin wird ein wesentlicher Unterschied sichtbar – tragen die AG-Leitlinien den offiziellen Titel »Was tun  ? Sprachhandeln – aber wie  ? W_Ortungen statt Tatenlosigkeit  !« Mit der gewählten Frage-AntwortAbfolge als Titel wird sprachliche Gleichbehandlung als bereits bewusstes Problem indiziert, auf welches die Broschüre eine handlungsanweisende Antwort gibt. Damit wird bereits im Titel sowohl der Handlungs- als auch der Entscheidungsaspekt antidiskriminierenden Sprachhandelns deutlich. Den Begrifflichkeiten, die in Titeln von Richtlinien eingesetzt werden, stehen, so der kursorische Eindruck, in der Öffentlichkeit der gebräuchliche Terminus gegenderte Sprache und das neugeschaffene Verb gendern gegenüber. Obwohl als Titel von Leitlinien nicht belegt, findet sich das Verb gendern in Titeln öffentlicher Vorträge oder Workshops. So bot etwa die Koordinationsstelle für 52

Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_ortungen

Geschlechterstudien, Frauenforschung und Frauenförderung im Rahmen der »Langen Nacht der aufgeschobenen Seminararbeiten« am 30.4.2014 an der Uni Graz einen Workshop mit dem Titel »Mitgemeint und doch daneben. Texte richtig gendern« an, und an der Volkshochschule Urania konnte man den Workshop »Wie funktioniert eigentlich Gendern  ? Gender in Sprache und Realität« (Beuren 2016) besuchen. Veronika Schmidt widmet in der Tageszeitung »Die Presse« am 26.10.2008 einen ganzen Artikel diesem Thema, wenn sie fragt  : »Was heißt denn überhaupt ›gendern‹  ?« Ihre Recherche bestätigt die Kluft zwischen theoretischer Begrifflichkeit und Alltagssprachgebrauch  : Während »gendern« weder im Duden eingetragen sei (2008  !) noch von Genderexpert*innen als sinnvoll erachtet werde, werde der Ausdruck eingesetzt, um das deutsche Wort »vergeschlechtlichen« zu vermeiden. Luise Pusch widmet 2013 unter dem Titel »Das Gendern ist des Müllers Lust. Wie der Feminismus den Duden bereichert« diesem neuen Begriff einen ganzen Artikel. Da mittlerweile die Bedeutung des Verbs gendern im Duden als »das Gender-Mainstreaming (auf etwas) anwenden« definiert wird, bewertet sie diesen ihrer Ansicht nach aus Österreich stammenden, ursprünglich abwertend gemeinten Neologismus als Erfolgsgeschichte feministischer Sprachkritik, die es damit geschafft habe, einen »kurzen, griffigen Ausdruck« hervorzubringen  : Und nun hat der österreichische Genius oder Schlendrian uns diese handliche Abkürzung beschert, die das Reden über das Gender Mainstreaming so nett vereinfacht und damit die Chancen der »Genderei« deutlich erhöht. (Pusch 2013).

Interessant an dieser Wortschöpfung ist, dass die sprachliche Dimension in diesem Begriff keine Rolle mehr spielt, während sie in den gewählten Begrifflichkeiten bisheriger Richtlinien eine nicht unbedeutende Rolle einnahm. Ist zu Beginn der Geschichte deutschsprachiger Richtlinien noch von Sprache (Hellinger/Bierbach 1993), Sprachgebrauch (Guentherodt/Hellinger/Pusch/ Trömel-Plötz 1980  ; Häberlin/Schmid/Wyss 1992  ; Hellinger/Pusch/TrömelPlötz 1982) oder auch Sprachverwendung (Müller/Fuchs 1993) die Rede, verschiebt sich die Tendenz in den 1990ern in Richtung Formulierung (Arbeitskreis fur Gleichbehandlungsfragen der Universität Klagenfurt 2000  ; Fischer/ Wolf 2009  ; Kargl/Wetschanow/Wodak/Perle 1997). Damit wird bereits eine erste handlungsbezogene Perspektive eingenommen  : Nicht mehr das »Sprachsystem« wird als Spiegel einer androzentristischen Struktur und Ort der Veränderung thematisiert, sondern das prozesshafte Verfertigen geschlechtergerechten Sprachgebrauchs und damit die pragmatische Handlungsperspektive 53

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werden betont. Die Betonung der Handlungsebene wird besonders deutlich in der Bezeichnung Sprachhandeln der Berliner Broschüre »Was tun  ? Sprachhandeln – aber wie  ? W_Ortungen statt Tatenlosigkeit  !« (2015). Eng mit den sprechakttheoretischen Überlegungen Judith Butlers (1990  ; 1998) verbunden, wird hier ganz bewusst eine Begrifflichkeit gewählt, die den performativen Handlungscharakter in den Vordergrund rückt. Mit dem Wort Sprachhandlungen wird aber auch ein Stück weit die Fixierung auf das Schriftliche verlassen. So lässt sich dem Cover der Broschüre der AG entnehmen, dass die Anregungen zum antidiskriminierenden Sprachhandeln ein »Nachschlagen, Schreiben_Sprechen_Gebärden, Argumentieren, Inspirieren, Nachdenken, Umsetzen, Lesen_Zuhören« umfassen7. Die Wortschöpfung »W_Ortungen«, in der Unterstrich und Großschreibung im Wort bewusst entgegen herrschender Rechtschreibnormen eingesetzt werden, um inhaltliche Betonungen zum Ausdruck zu bringen, lässt den spielerischen, bewusst experimentellen Zugang der zugrundeliegenden Sprachpolitikauffassung deutlich werden. Ähnlich anspielungsreich wie der Neologismus »W_Ortungen«, der mit dem im Wort gesetzten Unterstrich und der Majuskel »O« mit neuen Bedeutungskonstruktionen spielt 8 , ist der Ausdruck »Wort«, den die Wirtschaftsuniversität Wien und die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien für ihre Broschüren »Fair in Wort und Bild« sowie »Fair und inklusiv in Sprache und Bild. Ein Leitfaden für die WU« wählt. Weniger definierend als vielmehr anspielend wird mit dem reichen Bedeutungsspektrum von Wort gespielt  : Von der »kleinsten selbstständigen sprachlichen Einheit« über »Ausdruck« und »Äußerung« bis hin zu »Text« und »Versprechen« (Duden Online–Wörterbuch) wollen hier sprachliche Ereignisse angedacht sein. Ähnlich weitreichend ist die Interpretationsbreite von Bild, die in diesen beiden Broschüren die zweite behandelte semiotische Dimension darstellt  : Die Bandbreite möglicher angeführter Bedeutungen reicht von »Gemälde« über »Fotografie« bis hin zu »Ansicht« oder »Eindruck«. Die Titel der Richtlinien der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und der Wirtschaftsuniversität Wien (an denen sich die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien explizit orientiert), machen eine neue Tendenz deutlich  : den Einzug lektüreanreizender Titel in die Welt der Leitfäden zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Vergleicht man die erwähnten Titel mit dem eines Leitfadens ähnlichen Inhalts, so wird der Unterschied deutlich  : Im Jahr 2011 etwa publizieren das Dezernat Gender Mainstreaming und die Magistratsabteilung MA 53 der Gemeinde Wien den »Leitfaden für geschlechtergerechtes Formulieren und eine diskriminierungsfreie Bildsprache«. 54

Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_ortungen

Operiert dieser Titel noch mit konkreten Bezeichnungen für eine prospektive feministische Sprachkritik, so ist der Titel der Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien eine Satzellipse und bedient sich allgemein bekannter, kurzer Wörter, die relativ viel Bedeutungsspielraum lassen. Es gibt keine komplizierten Fachbegriffe und auch keine längeren Nominalphrasen, die der Genauigkeit des Ausdrucks geschuldet sind. Mit der Erweiterung um die Bezugnahme auf bildliche Darstellungen ist bereits eine weitere Auffälligkeit angesprochen  : die Ausdifferenzierung sprachlicher Phänomene und die zunehmende Berücksichtigung unterschiedlicher semiotischer Modalitäten in Richtlinien zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch. So versteht sich die bereits erwähnte Handreichung des Gender_Diversitäten Netzwerks des IMST aus dem Jahr 2014 als Anleitung für eine »diskriminierungsfreie Schreib-, Sprech- und Bildsprache« und unterscheidet damit explizit zwischen Schriftlichkeit, Mündlichkeit und visueller Darstellung. Eine der ersten Richtlinien, die neben der verbalen auch die bildliche Ebene im Titel ansprechen, sind die Empfehlungen der Stabsabteilung für Gleichstellungspolitik an der Johannes Kepler Universität Linz. Diese Empfehlungen beschäftigen sich mit der Frage, wie man »Geschlechtergerecht in Sprache und Bild« (2009) kommunizieren kann. Gerade die Erweiterung um den Aspekt bildlicher Darstellungen scheint in den letzten Jahren zum Standard geworden zu sein. Die unten stehende Tabelle 1 versucht einen zusammenfassenden Überblick darüber zu geben, welche Bezeichnungskombinationen in welchen Wellen feministischer Linguistik und Gesellschaftskritik eingesetzt wurden bzw. werden. Typische Titelkonstellationen werden in der Tabelle aufgrund ihrer gewählten Bezeichnung einer der definierten feministischen Strömungen zugeordnet, die im Weiteren näher erläutert werden. Zudem wird zwischen den Kategorien Gender, (erwünschtes) Soziales Verhalten und Sprache differenziert. Die Tabelle (S. 56) macht deutlich, dass mit einer Änderung der Auffassung von Gender auch eine Änderung der Sprachauffassung und der Vorstellung von einem anzustrebenden sozialen Verhalten einhergeht. Richtlinien der 1980er und frühen 1990er etwa stellen das binäre Ordnungsprinzip Geschlecht nicht in Frage. Sex wird als eine biologische und gesellschaftliche Kategorie angenommen, die zu hierarchischen Geschlechterverhältnissen (d. h. Sexismus) führe und in der Sprache »symbolisch reflektiert« (Günthner/Kotthoff 1991) werde. Sprache wird in der Literatur der 1980er und 90er als Medium verstanden, in deren Strukturen sich androzentristische Inhalte und Ideologien widerspiegeln. Die Kritik an der Sprache als sexistisch leitet über zu Modellen eines erwünschten nicht-sexistischen Sprachgebrauchs  : Sprache soll dazu eingesetzt 55

Karin Wetschanow

werden, Sexismus zu vermeiden. Die Bezeichnungspolitik der ersten Phase ist eng mit einem politischen Emanzipationsverständnis verbunden. Entsprechend werden als Ziele dieser frühen feministischen Sprachplanung die Sichtbarkeit von Frauen und die Symmetrie festgelegt. Das Streben nach Gleichbehandlung drückt sich in gewählten Begrifflichkeiten wie geschlechtergerecht, geschlechterneutral oder auch sprachliche Gleichbehandlung aus. Mit dem Terminus gendergerecht wird bereits auf die Theorie der sozialen Konstruktion von Geschlecht eingegangen, in der Zielsetzung und der Sprachauffassung ändert sich noch nichts. Welle

Gender

Soziales Verhalten

Sprache

2. Welle 1980er

indirekt: sex

nicht‐sexistisch

Sprache/ Sprachgebrauch

2. Welle 1980er

von Frau und Mann

Gleichbehandlung

sprachliche

2. Welle 1990er

geschlechter‐

3. Welle 1990er/ 2000er

gender‐

gerecht/ fair

Sprache/ Sprachgebrauch/  Formulieren

3. Welle 1990er/ 2000er

gender‐

sensibel/ bewusst

Sprache/ Sprachgebrauch

3. Welle 2000er/2010er

Diversität

diskriminierungsfrei

Schreib‐Sprech‐Bildsprache

3. Welle 2000er/2010er

Intersektionalität

antidiskriminierend

Sprachhandeln

3. Welle 2016

Geschlecht(ervielfalt)

fair & inklusiv

Wort & Bild

neutral/ gerecht/ fair

Sprache/  Sprachgebrauch/Formulieren

Tabelle 1 Systematisierung der in Titeln verwendeten Ausdrücke

Erst mit der dritten Welle Feministischer Linguistik wird die Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht zentral  : Nicht mehr die Sichtbarmachung von Frauen, sondern vielmehr die Dekonstruktion der Dichotomie der Geschlechterdifferenz ist politisches Ziel. Fixe Identitäten wie »die Frauen« werden als Ausgangspunkt politischen Handelns kritisiert, und gerade das Anzweifeln und Verwerfen solcher Identitäten steht im Mittelpunkt. Von der Dekonstruktion von Identitäten ausgehend, setzen queere Politiken auf die ›VerUneindeutigung‹ von Identitäten und die Suche nach anderen Arten, Sub56

 

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jekt und Körper zu sein, um so bestehende Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse zu verändern. (Ludwig 2012, 16)

In diesem Sinne wird jede Form der Beidnennung als Bestätigung, als Reifizierung und als weitere Zementierung der Geschlechterdichotomie verstanden. Entsprechend steht nicht mehr eine Kritik an einem sexistischen oder die Forderung nach einem »gender-gerechten« Sprachgebrauch im Zentrum queerer Sprachkritik, sondern vielmehr die Kritik an einem »heteronormen Sprachgebrauch« und die Forderung nach einem »antidiskriminierenden Sprachhandeln«. Gemeint ist damit, dass nach einem Sprachhandeln gesucht wird, das Zweigeschlechternormen und andere Normierungen vermeidet bzw. ihnen aktiv entgegenarbeitet. Hier schließt sich der Kreis zu ersten Arbeiten der feministischen Sprachpolitik  : Nicht-sexistische Sprache und antidiskriminierendes Sprachhandeln meinen zwar im Detail unterschiedliche Dinge, stellen aber beide die Bekämpfung von Diskriminierung ins Zentrum ihres Handlungskonzepts. Wie steht es mit 20169 in öffentlichen Institutionen publizierten Richtlinien  ? Was bewegt eine Institution dazu, bei der Unzahl an vorhandenen Richtlinien die Arbeit auf sich zu nehmen und eigene Richtlinien zu verfassen  ? Welche Faktoren sind bei der Auswahl von Vorbildern, an denen sich Richtlinien orientieren, zentral  ? Wie wird innerhalb der Broschüre mit den Schlagwörtern der feministischen Sprachpolitik (geschlechtergerecht, nicht-sexistisch) umgegangen und wie mit denen der queer_feministischen Sprachkritik (reSignifizierend, antidiskriminierend)  ? Folgen offizielle Richtlinien 2016 eher einer feministischen oder einer queer_feministischen Argumentation und Strategiewahl  ? Um diese Fragen ansatzweise beantworten zu können bzw. um vielmehr einen Weg möglicher Forschungsfragen aufzuzeigen, werden im Folgenden der Publikationsprozess und der Inhalt der Broschüre »Fair in Wort und Bild« näher besprochen. Der Leitfaden wurde 2016 am Internationalen Frauentag (8. März) an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien präsentiert und ist damit (zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Aufsatzes) die zuletzt veröffentlichte österreichische Universitätsbroschüre zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch.

»Fair in Wort und Bild« Bevor die Inhalte der Broschüre »Fair in Wort und Bild« näher analysiert bzw. besprochen werden, wird vorab der Frage nachgegangen, was eine Universität 57

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im Jahr 2016 dazu motiviert, eigene Richtlinien zum Umgang mit sprachlicher Gleichbehandlung zu schaffen. Um diese Frage beantworten zu können, wurde mit den beiden Hauptverantwortlichen der Broschüre »Fair in Wort und Bild«, Andrea Ellmeier und Katharina Pfennigstorf, ein Interview geführt, in dem sie einen Einblick in die Entstehungsgeschichte der Broschüre gewähren. Als ausschlaggebenden Anreiz, eigene Richtlinien zu verfassen, werden einerseits die Forderung der Verwaltung nach konkreten Direktiven für die zu wählende Form, andererseits die Unzufriedenheit mit existierenden offiziellen Richtlinien des Ministeriums genannt. Bestehende Richtlinien wurden als unzureichend und wenig befriedigend für die eigene universitäre Sprachpraxis erachtet. Auf der Suche nach passenden Vorbildern überzeugten die Richtlinien der WU durch folgende Kriterien  : Sie würden eine Geschichte erzählen, seien von witzigen Interventionen durchzogen10,verständlich geschrieben, mit gelungenen Illustrationen aufgelockert und sprächen die* Leserin* direkt an. Infoboxen, Tipps für das gendergerechte Formulieren in Englisch und für einen »gender-fairen« Umgang mit Bildsprache werden im Interview als positive und notwendige Erweiterung erwähnt. Der Leitfaden der WU überzeugte so sehr, dass der Plan, eigene Richtlinien zu verfassen, ad acta gelegt und stattdessen die Bewilligung eingeholt wurde, die Richtlinien der WU für die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien zu nutzen und zu adaptieren. Diesem Vorgehen wurde jedoch von Seiten des Rektorats nicht zugestimmt. Der Leitfaden wurde als »unpassend« für die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien empfunden  ; das Alleinstellungskriterium sei nicht erfüllt. Daher wurde ein Team11 mit der Erstellung hauseigener Richtlinien beauftragt. Eine der Aufgaben des Teams war es, die bisher gängige Schreibpraxis zu legitimieren, denn innerhalb der Universität hatten sich unterschiedliche Formen in unterschiedlichen Abteilungen als bevorzugte Varianten etabliert  : So folgte die Personalabteilung der Anordnung, den Unterstrich statt des Binnen-I zu verwenden, während die »Gender Studies mit dem Binnen-I aufgebaut« (Zitat Ellmeier) wurden und auch die Verwaltung diese Form favorisierte. Beide Formen sollten daher in der Broschüre empfohlen werden. Auch bei den Illustrationen wurde Wert auf die Corporate Identity der Universität gelegt  : Die als gelungen empfundenen Grafiken der WU-Broschüre wurden nicht übernommen, die hauseigene Grafikerin der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien wurde mit neuen Illustrationen betraut. Bereits die Entstehungsgeschichte lässt einige interessante Punkte deutlich werden  : (1) Es gibt ein Bestreben nach Einheitlichkeit eingesetzter Strategien innerhalb einer Institution. (2) Es gibt Bedarf nach leitenden, absichernden 58

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Regelungen seitens der Verwaltung. (3) Es gibt unterschiedliche Schreibpraxen in unterschiedlichen Abteilungen, die von individuellen Vorlieben der Leitung und vom Entstehungskontext geprägt sind, auf die Rücksicht genommen wird. (4) Der Unterstrich ist im universitären Alltag vertreten. (5) Beispiele und Themen sollen dem Kontext der Institution entsprechen. (6) Richtlinien sollen witzig und verständlich geschrieben sein. (7) Tipps für relevante andere Sprachen und für eine diskriminierungsfreie Bildsprache sind notwendige Erweiterungen. (8) Richtlinien zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch sind ein Teil der Corporate Identity einer Universität. In einem nächsten Schritt werden Aufbau, dargebotene Inhalte und empfohlene Strategien auf ihre Position innerhalb der Feministischen Linguistik hin untersucht  : Sind diese im Jahr 2016 publizierten Richtlinien eher einer feministischen Sprachpolitik der zweiten Welle Feministischer Linguistik zuzuordnen, oder verschreiben sie sich eher einer »queer_feministischen Sprachpolitik« der dritten Welle  ? Aufbau und Inhalt Die Broschüre »Fair in Wort und Bild« setzt sich eingangs mit bekannten Argumenten12 für und gegen eine »geschlechtergerechte, faire Sprache« auseinander und macht anschließend ihre Position deutlich  : Es wird explizit (und grafisch hervorgehoben) darauf hingewiesen, dass Sprache Realität schaffe, geschlechtergerechte Sprache für Eindeutigkeit sorge, und dass mit der Broschüre »die Forderung des Frauenförderungsplans der mdw« (S. 4) umgesetzt werde. Als »Herangehensweisen« an die Realisierung »geschlechtergerechter Sprache« werden die »Sichtbarkeit der zwei Geschlechter«, die »Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit«, »geschlechtsneutrale Formulierungen« und das »Vermeiden von bestimmten Formulierungen« genannt (S. 8). Zudem werden »weitere Tipps zur Anwendung von geschlechtergerechter Sprache« gegeben (S. 15). Es folgen Anleitungen zur »Gestaltung gendergerechter Inhalte«, zur Aussprache gendergerechter Schreibweisen, zur visuellen Gestaltung und schlussendlich Tipps für eine »gender-fair language in English« (S. 15–21). Eine abschließende Checkliste fasst die Inhalte und Ziele der Broschüre zusammen (S. 22–23). Sieht man sich den Aufbau und die eingesetzte Begrifflichkeit der Broschüre an, so entsteht der Eindruck, dass hier traditionelle Richtlinien um das Element der »Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit«, die Bezugnahme auf gendergerechte Inhalte, die visuelle Gestaltung und um Informationen zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch in Englisch erweitert werden. In Anlehnung an die 59

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Tradition feministischer Sprachpolitik der zweiten Welle Feministischer Linguistik werden »Sichtbarmachung« und »Neutralisierung« als leitende Prinzipien genannt. In den Überschriften der Broschüre wird ausschließlich der Terminus geschlechtergerechte Sprache verwendet, womit eine Verortung in der feministischen Sprachpolitik der 1990er deutlich wird. Auch die Beispiele und Erklärungen sind einer binären Geschlechterarchitektur geschuldet. Gerade in den Tipps zur geschlechtergerechten Gestaltung von Inhalten und bildlichen Darstellungen wird deutlich, dass die Broschüre im Kontext der »Zweigenderung« verfasst wurde, denn hier geht es um »Identifikationsangebote für Frauen und Männer«, die Berücksichtigung weiblicher Leistungen und das Brechen mit stereotypen Geschlechterdarstellungen in Abbildungen. Der »Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit« und ihrer sprachlichen Varianten ist ein eigener Abschnitt gewidmet, der zwischen den Kapiteln »Sichtbarmachung der zwei Geschlechter« und »Geschlechtsneutrale Formulierungen« platziert ist  : Queer-feministische Sprachpolitik wird somit in die Systematik von Richtlinien »integriert«, die den Strategien der zweiten Welle Feministischer Linguistik verpflichtet sind. So ist denn auch in der Broschüre »Fair in Wort und Bild« zu lesen, dass »neben der vollständigen Paarform, dem Binnen-I oder dem Schrägstrich zur Realisierung von geschlechtergerechter Sprache noch andere Sonderzeichen eingesetzt werden«. Es handle sich dabei um Möglichkeiten, »auch jene Personen sprachlich darzustellen, die geschlechtliche Identitäten leben, die über das traditionelle binäre Geschlechtermodell  – weiblich/männlich  – hinausgehen« (S. 10). Unterstrich, Stern und Tilde werden in ihrer Bedeutung näher erläutert und jeweils als »weitere Variante geschlechtergerechter Sprache« bezeichnet. Die zentrale Information, die hiermit an die Leser*innen gerichtet ist, wird in einem anderen Leitfaden, dem der Akademie der bildenden Künste Wien (2010, 1) treffend auf den Punkt gebracht  : »Aus MitarbeiterInnen werden Mitarbeiter_innen«. Gegen die Heteronormativität wird angegangen, indem die Kluft – der »Gap« – zwischen der binären Geschlechteropposition sichtbar gemacht wird. Eine solche Strategie erweitert das feministische Ziel der Sichtbarmachung ›beider‹ Geschlechter um einen sichtbar gemachten Leerraum für ›andere‹ (Baumgartinger 2007). Die 2016 publizierte Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien unterstützt demnach die Sichtbarmachung von Frauen und die Sichtbarkeit einer multiplen Geschlechtlichkeit, schließt sich aber in ihren Strategien nicht einer Forderung nach einem verstörenden und destruierenden Sprachhandeln an, das auf einer »Ent_nennung« des Normalisierten aufbaut. Das zeigt sich zum Beispiel deutlich im Bereich der Personalpronomen  : Während in anti-heteronormativen sprachkritischen Werken den Pronomen hohe Relevanz zukommt, 60

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wird zwar im beigefügten Faltblatt der Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien auf die Artikel und auf die Personalpronomen in Relativsätzen eingegangen, nicht aber auf Possessiv- und Fragepronomen. Wirft man zum Vergleich einen Blick in die 2015 (in der zweiten Auflage) erschienene Broschüre »Was tun  ? Sprachhandeln – aber wie  ? W_Ortungen statt Tatenlosigkeit  !« der AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin (im Folgenden kurz mit »AG-Broschüre« abgekürzt), so findet man dort eine ganze Liste alternativer Pronomen wie z. B. das Personalpronomen »x« und das Fragepronomen »wex  ?« (S. 16). Die Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien präsentiert die Sichtbarmachung der zwei Geschlechter und Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit als beigeordnet, gehen aber nicht explizit auf die Widersprüchlichkeit ein und auch nicht darauf, ob und wie sich die Wahl einer Grundstrategie auswirkt. So wird etwa auf Seite acht der Broschüre die Übereinstimmung von Gender und Genus gefordert, wenn es heißt  : »Bei Frauen ODER Männern  : Geschlechtsspezifische Endungen«. Wie mit diesem Prinzip umgegangen werden soll, wenn dekonstruierende Strategien angewandt werden, dafür gibt es keine Empfehlungen. Wie bezeichne ich etwa konkrete Personen, deren Genderidentität mir bekannt ist  ? Bezeichne ich etwa Luise Pusch als »Autorin« oder als »Autor_in«  ? Bleibt der Unterstrich der generischen Referenz vorbehalten  ? Dass die Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien auf diese Problematik nicht eingeht, liegt in der momentanen Situation feministischer Sprachpolitik begründet und soll aus eben diesem Grunde hier eingehender besprochen werden, nicht um die Leistung der Autorinnen zu mindern, sondern vielmehr um im Gegenteil aufzuzeigen, welchen Beitrag Richtlinien aus der Gender-Mainstreaming-Praxis zur Entwicklung feministischer Sprachpolitik liefern. Die Empfehlungen der Broschüre machen deutlich, dass heutige Richtlinien immer noch der zweiten Welle Feministischer Linguistik eng verbunden sind (Motschenbacher 2014, 244), und spiegeln die Schwierigkeit wider, die Entwicklung der Gendertheorien und gesellschaftlicher Genderdiskurse in sprachliche Anleitungen zu übertragen. Indem die Strategie der Sichtbarmachung der Frauen um das Postulat der Sichtbarkeit der Gendervielfalt erweitert wird, wird gendertheoretischen Diskursen Rechnung getragen und gleichzeitig eine praktikable Brücke gebaut zwischen alten und neuen sprachkritischen Desideraten  : Dort, wo Überlegungen engagierter Graswurzelinitiativen zum verwirrenden Sprachspiel und zur individuellen Verantwortung aufrufen (AGBroschüre 2015  ; Hornscheidt 2008), müssen der Sprachplanung verbundene Werke einen gangbaren und systematischen Weg aufzeigen. 61

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Interessant ist in diesem Zusammenhang, welche Ansicht zum Verhältnis von Sprache und Realität in der Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien anklingt, ist doch die zweiten Welle Feministischer Linguistik eng dem Strukturalismus, eine queere Sichtweise hingegen einer poststrukturalistischen Sichtweise verbunden. Die Richtlinien der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sprechen explizit davon, dass Sprache nicht nur die »außersprachlicher Realität« abbilde, sondern sie auch beeinflusse. Sie heben sich damit von Richtlinien der zweiten Welle Feministischer Linguistik ab, die Sprache primär als »Spiegelbild unserer Gesellschaft« (S. 2) erachten. Eine enge Verknüpfung von sprachlichen Handlungen und Normalisierungsprozessen und die Relevanz indirekter sprachlicher Diskriminierungen durch Verallgemeinerungen und Vereinnahmungen, wie sie in neueren, »dekonstruierenden« Werken (z. B.: AG-Broschüre 2015) postuliert werden, sind nicht zu finden, obwohl die Nähe zu einer konstruktivistischen Auffassung erkennbar ist. An die Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Gesellschaft schließt die mit ihr verbundene sprachpolitische Strategie unmittelbar an. Während die Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ihre Anbindung an staatliche Vorgaben und Frauenförderpläne deutlich zur Sprache bringt (S. 4 und 7), betont die AG-Broschüre die Eigenverantwortung im täglichen sprachlichen Handeln  : Es gibt nicht DIE → empowernde, nicht-dis­kriminierende Sprache, sondern nur immer wie­der neue, kreative Versuche, Wahrnehmungs­gewohnheiten zu irritieren und sprachliche Diskriminierungen wahrzunehmen, herauszu­fordern, zu bemerken, anzusprechen, dagegen anzuschreiben und den eigenen Sprachgebrauch zu verändern. (AG-Broschüre 2015, 13)

Sprachkritik wird hier nicht mehr in eine wissenschaftliche und sprachpolitische Sprachplanung ausgelagert, sondern antidiskriminierende Sprachhandlungen werden im Bereich des alltäglichen politischen Handelns angesiedelt und verweigern sich auch rein theoretisch jeglichen Versuchen, in Regelungen überführt zu werden. Aufbauend auf Hornscheidt (2008) und (obwohl nicht explizit erwähnt  !) auf Baumgartinger (2008, 25) setzt diese Broschüre auf die Strategie der »Verwirrung« und »Umdeutung« konventionalisierter Bedeutungen. Eine Änderung der prinzipiellen politischen Strategien ist hier herauszulesen. Nicht mehr der Bereich der ›polity‹ steht im Zentrum eines politischen Handelns, sondern der Bereich der ›politics‹  : Dem Ziel einer allgemein gültigen und zentral gere62

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gelten feministischen Sprachpolitik der 1980er Jahre steht der Ruf nach einer individuellen Aushandlung im jeweiligen Kontext gegenüber.

Konklusion Der Streifzug durch die Welt der Leitfäden zu sprachlicher Gleichbehandlung hat gezeigt, dass über die Jahrzehnte hinweg Traditionen etabliert wurden, dass aber auch eine Neugier und Offenheit für gesellschaftliche Diskurse besteht. Der kursorische Blick auf die Titelgebung von Richtlinien lässt den Einfluss wechselnder Gendertheorien sichtbar werden. Zudem konnte deutlich gemacht werden, dass feministische Sprachpolitik in den Handlungsrahmen der ›polity‹ vorgedrungen ist. Für die Etablierung innerhalb dieser Politikdimension spricht der Eindruck, dass die Regelung einer sprachlichen Gleichbehandlungspraxis mehr und mehr Aufgabe von Gleichbehandlungsinstitutionen und weniger Aufgabe von feministischen Sprach­ wis­ sen­ schafler*innen wird. Geschlechtergerechte Sprache wird zur GenderMain­streaming-Kompetenz. Dieser Eindruck wird durch die Tatsache bestärkt, dass es vermehrt institutionalisierten Widerstand gegen geschlechtergerechten Sprachgebrauch gibt. Auf diesen Zusammenhang weist auch McRobbie (2009) hin. Sie geht davon aus, dass mit einer zunehmenden Institutionalisierung empfohlene Richtlinien als autoritär und von oben verordnet wahrgenommen und dementsprechend bekämpft werden. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit Österreichs stellt die »Gender-ÖNORM« des Austrian Standards Institute dar, deren Ziel es war, das generische Maskulinum als ›geschlechtergerechte Form‹ durchzusetzen. Die Analyse der Broschüre der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien macht deutlich, dass heutige Richtlinien den Spagat zwischen traditioneller feministischer Sprachpolitik und gelebter, aktueller queerer, poststrukturalistischer Sprachkritik schaffen und zur Weiterentwicklung feministischer Sprachpolitik beitragen. Einerseits tun sie das, indem sie Strategien der dritten Welle mit solchen der zweiten Welle Feministischer Linguistik praktikabel verknüpfen, andererseits tragen sie dazu bei, indem sie vermehrt auf die gendergerechte Gestaltung von Inhalten und visuellen Elementen Bezug nehmen. Die Strategie der »sprachlichen Sichtbarmachung« dient hier als wichtige Schnittstelle  : Die Forderung nach Sichtbarkeit der Frauen wird um die Forderung nach Sichtbarkeit der Vielfalt erweitert. Die gänzlich andere Vorgangsweise einer »Ent_nennung« normalisierter Identitätspositionen scheint 63

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derzeit kein Ziel offizieller Richtlinien zu sein, was der Tatsache geschuldet ist, dass anti-heteronormative Überlegungen ganz bewusst im Handlungsrahmen der ›politics‹ agieren und auf basisdemokratische Aushandlungsprozesse und Durchlässigkeit setzen, was mit einer im Bereich der ›polity‹ angesiedelten allgemeinen sprachpolitischen Regelung schwer vereinbar ist. Während die feministische Sprachpolitik der zweiten Welle Feministischer Linguistik bereits auf eine gewisse Tradition zurückblicken kann und immer mehr in den Bereich der Institutionalisierung vorzurücken scheint, ist parallel eine Politik der diskursiven Auseinandersetzung mit queer_feministischen Inhalten festzustellen, die neue Aspekte und neue Handlungsszenarien einbringt. Zwischen bekannt und überholt, zwischen Veränderung und Kontinuität angesiedelt, haben es heutige Richtlinien nicht leicht, ihren Weg zu finden. Während einerseits die zunehmende Institutionalisierung auf der Ebene der ›polity‹ immer mehr nach Normierungen verlangt, sieht eine (queer-)feministische Linguistik ihre Aufgabe im Bereich der ›politics‹  : Ziel ist es, herrschende Geschlechterdiskurse zu hinterfragen und zu kritisieren und ein Bewusstsein für den Stellenwert von Sprache in diesem Prozess zu schaffen. So steht am Ende die Hoffnung, dass der »Kampf ums Heißen« (Lübbe 1979), der zentrales Element politischen Handelns ist, immer weiter geführt wird und somit feministische Sprachkritik immer noch Politik bleibt und nicht zur bloßen Verordnung gerinnt.

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Sonstige Leitfäden AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin (2015). Was Tun  ? Sprachhandeln – aber wie  ? W_Ortungen statt Tatenlosigkeit!: Anregungen zum – Nachschlagen, Schrei­ben_Sprechen_Gebärden, Argumentieren, Inspirieren, Ausprobieren, Nachdenken, Umsetzen, Lesen_Zuhören – antidiskriminierenden Sprachhandeln. Berlin: Humboldt Universität Horst Fröhler (2011), Zehn Leitsätze für geschlechtergerechtes Formulieren. Unveröffentlichtes Manuskript Ingrid Guentherodt, Marlies Hellinger, Luise Pusch, Senta Trömel-Plötz (1980), Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs, in  : Linguistische Berichte 69, 15–21 Susanna Häberlin, Rachel Schmid, Eva Lia Wyss (1992), Übung macht die Meisterin. Ratschläge für einen nichtsexistischen Sprachgebrauch. München Marlies Hellinger, Luise Pusch, Senat Trömel-Plötz (1982)  : Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs, in  : Magdalene Heuser (Hg.), Frauen – Sprache – Literatur. Fachwissenschaftliche

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Anmerkungen 1 Der vorliegende Text ist ein leicht veränderter Wiederabdruck aus dem Jahr 2017. Vgl. Karin Wetschanow, Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_Ortungen  – Ein Streifzug durch die Welt der Leitfäden zu sprachlicher Gleichbehandlung, in  : Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 90 (2017), 33–59. 2 Mit der Datierung 2016 wird ausgedrückt, dass ich den vorliegenden Text aus der Perspektive des Jahres 2016 schrieb. Wichtige seither erschienene Veröffentlichungen zur Verwendung von geschlechtergerechter Sprache an österreichischen Universitäten werden von den Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes in der Einleitung in einem Aperçu zur geschlechterinklusiven Sprache, das allerdings keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, angeführt. 3 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden im Literaturverzeichnis einige Richtlinien österreichischer Universitäten seit 2000 angeführt. 4 Diese Begrifflichkeit hat auch die Titelgebung der Schweizer Broschüren geprägt (Schweizerische Bundeskanzlei 1991  ; 1996). 5 Auch hier zeigt ein kursorischer Blick über den Tellerrand Österreichs hinaus, dass diese Begrifflichkeit auch in Deutschland gängig ist. So gibt etwa die Leuphana Universität Lüneburg auf ihrem Gender-Diversity-Portal Tipps für eine »gendersensible Sprache«. 6 IMST steht für »Innovationen machen Schulen Top« und ist eine Initiative des BMBF zur Weiterentwicklung des Mathematik-, Naturwissenschafts-, Informatik- und Deutschunterrichts in Österreich.

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7 Der Ausdruck »antidiskriminierendes Sprachhandeln« wird in keinem österreichischen Leitfaden im Titelgefüge gewählt. Weil diese Begrifflichkeit aber eine wichtige Extremposition innerhalb des Spektrums queer_feministischer Positionen im gesamten deutschen Sprachraum und damit einen relevanten Vergleichswert darstellt, soll sie in meiner Typisierung erwähnt werden. 8 So ließe sich etwa vermuten, dass es sich um eine Kontamination aus Wort und Ortung handelt, was die Frage aufwirft, welche Worte wen oder was orten sollen. 9 Vgl. Anm.2. 10 Als Beispiel dafür wird genannt, dass man in der Mitte der Broschüre gefragt wird, ob aufgefallen sei, dass man einen geschlechtergerecht formulierten Text lese. 11 Das Team bestand laut Broschüre aus  : Andrea Ellmeier (Stabstelle für Gleichstellung, Gender & Diversity Policy), Katharina Pfennigstorf (Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft), Angelika Silberbauer (Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen) und der Grafikerin Dorit Soltiz. Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Rektorin Ulrike Sych und die Vizerektorin für Organisationsentwicklung, Gender & Diversity Gerda Müller. 12 Als da sind  : (1) Die Sprache werde verunstaltet und die Lesbarkeit leide. (2) Frauen seien im generischen Maskulinum mitgemeint. (3) Sprache konstruiere Wirklichkeit. (4) Es gebe wichtigere Probleme.

Literatur Persson Baumgartinger (2008), Lieb[schtean] Les[schtean], [schtean] du das gerade liest … Von Emanzipation und Pathologisierung, Ermächtigung und Sprachveränderungen, in  : liminalis  – Die Zeitschrift für geschlechtliche Emanzipation und Widerstand 2, 24–39 Daniela Beuren (2016), Wie funktioniert eigentlich Gendern  ? Gender in Sprache und Realität. Workshop gehalten am 4. Mai an der Volkshochschule Urania Wien Judtih Butler (1990)  : Gender trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York Judith Butler (1998)  : Haß spricht zur Politik des Performativen. Aus dem Englischen von Kathrina Menke u. Markus Krist. Berlin Fair. Duden Online-Wörterbuch  : http://www.duden.de/rechtschreibung/fair. [zuletzt eingesehen am  : 30.6.2020] Gerecht. Duden Online-Wörterbuch  : http://www.duden.de/suchen/dudenonline/gerecht. [zuletzt eingesehen am  : 30.6.2020] Susanne Günthner, Helga Kotthoff (Hg.) (1991), Von fremden Stimmen  : weibliches und männliches Sprechen im Kulturvergleich. Frankfurt am Main Christoph Hofbauer (2015), Attitudes towards gender-fair language and discrimination  : empirical findings, theoretical reflections, practical recommendations. Konferenzbeitrag am Symposium »Gender_Language_Politics«, 22./23. Oktober 2015, Vienna Antje Hornscheidt (2002), Die Nicht-Rezeption poststrukturalistischer Gender- und Sprachtheorien der Feministischen Linguistik im deutschsprachigen Raum, in  : Tamara Faschingbauer (Hg.), Neuere Ergebnisse der empirischen Genderforschung. Hildesheim, 5–53 Antje Hornscheidt (2008), Gender resignifiziert. Schwedische (Aus)Handlungen in und um Sprache. Berlin

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Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_ortungen

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Annette Jael Lehmann

Whatever Genderfluidität in der Fotografie von Catherine Opie und Collier Schorr aus den 1990er Jahren

In aktuellen Werbevideos wie Hari Nefs Werbefilm »Agender« für die britische Kaufhauskette Selfridges wird im Format eines Kunstvideos mit Tänzer*innen, Performer*innen und Models das Thema Agender inszeniert und durchgespielt. (Haynes, Cherry 2015) Der Begriff Agender wird nahtlos in die Werbung für Kleidungsstile und Marken transferiert, wobei dieser Film zugleich ein gutes Beispiel für das Phänomen der Verschiebung einer sozial-politischen Agenda in den völlig aufgelösten Bereich zwischen High und Low Culture darstellt. Agender ist ein schillernder Begriff, der sich gegenüber Bezeichnungen wie genderblanck, gendervoid, genderfree, non-gendered in den letzten Jahren fast ebenso etabliert hat wie die noch häufigeren Begriffe non-binary, genderqueer oder genderfluid. Musiker*innen, Film- und Popstars oder prominente Models wie Cara Delevingne, Tommy Dorfman, Angel Haze oder Ruby Rose verweigern gegenwärtig häufig binäre Geschlechtszuschreibungen und entsprechende Labels geschlechtlicher und sexueller Identität. Seit wann existieren und woher stammen diese visuellen und performativen Repertoires, Strategien und Inszenierungen von Agender, Genderfluidität bzw. non-binären Geschlechterbildern, Identitäten und Rollen  ? Die US-amerikanischen Fotograf*innen Collier Schorr und Catherine Opie konzentrierten sich seit Mitte der 1990er Jahre in ihren Arbeiten auf visuelle Konstruktionen von Geschlechterbildern, die sich der Zuweisung einer eindeutigen Identität weitestgehend verweigern. Ihre Fotografien erweisen sich dahingehend performativ, dass sie nicht allein die Prozesse der Dekonstruktion geschlechtlicher Identitäten sichtbar machen, sondern sie auch erst ermöglichen und konstituieren. Charakteristisch für die Konzeption von Schorr und Opie ist eine genau geplante szenische Ausgestaltung (mise-en-scène) ihrer Arbeiten, die oftmals Cross-Dressing und Drag einschließt. Die Fotografin Catherine Opie gibt zu ihrer Arbeit »Self-Portrait« (1993) einen lapidaren Kommentar  : »It says a lot of different things. One of them is that I have my back to you.« (zit. nach Halberstam 1997, 183) Die Unsichtbar71

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keit des Gesichts und die Rückenansicht lassen auf eine radikale Inversion der Porträt-Tradition bzw. auf eine Art Anti-Porträt schließen, das diese Fotografie bereitstellt. Sie zeugt in mehrfacher Hinsicht von einer Umkehrung der gewohnten Blickrichtung und einem Neu-Arrangement ihrer visuellen Elemente. Gerade das, was dieses Selbst-Porträt auf dem Rücken zeigt, mag mehr enthüllen als ein Blick, der sich aus dem Porträt auf die Betrachter*innen richtete. Cuttings, die Ritzungen in die Haut und die Zeichnung, die sich als dünne Blutspur auf dem Rücken abzeichnen, geben wie ein Graffiti Auskunft über eine lesbische Beziehungskonstellation. Zwei Strichfiguren in Röcken halten sich an den Händen und stehen vor einem Haus, neben dem eine Wolke und eine Sonne teilweise geritzt sind. Diese an eine Kinderzeichnung erinnernde Ritzung setzt ein abstraktes Zeichen und ist zugleich eine – wenn auch anders als Tätowierungen – temporäre, körpereigene Markierung, die später als Dauerspur undeutliche Narben hinterlassen kann. Ihrer Prägung auf die Oberfläche der Haut liegt ein durchaus gewaltsamer Akt zugrunde  ; sie erzeugt eine recht unzweifelhafte sexuelle Identitätszuschreibung und steht als eine Körperbeschriftung auf dem Rücken als pars pro toto ihrer personalen Identität. Die Haut wird als Einschreibefläche und zugleich als Matrix des geschlechtlichen Körpers exponiert. Beide sind in gewisser Weise Piktogramme, die geschlechtliche Markierungen und ihre Wunden tragen. Zwei visuelle Ebenen verschränken sich dabei in dieser Fotografie  : das Körper-Bild als Einzeichnung auf dem Rücken und die Gesamtaufnahme der Porträtierten. Die geschlossene Hülle des Körpers wird geöffnet, um ihn zum Träger einer Botschaft zu machen, die auf der fotografischen Oberfläche reflektiert wird. Die hier gezeigte Szene erinnert auch an den Schmerz solcher vielfach unwiderruflichen Markierungen und Zuschreibungen. Die Schmerzhaftigkeit dieser Einzeichnung, dieser Ritzung, die auf rituelle Praktiken aller Art anspielt, verweist nicht zuletzt darauf, dass vor allem der Körper ein Austragungsort sexueller Praktiken und Medium sozialer Identität ist. Es wird deutlich, dass der Körper dabei sowohl als Bild als auch als formbares Material für veränderte Repräsentationsweisen eingesetzt und infolgedessen grundlegend verändert werden kann. Catherine Opies Arbeiten setzen sich nicht nur mit der Konstruktion von Gender auseinander, in der die Haut und der Körper als Einschreibefläche für Zeichen und Kodierungen dienen, sie widmet sich auch den verschiedenen Formen der Technologies of Gender, so wie sie in den Transgender Communities praktiziert werden. (ebd., 182–186) Hierbei handelt es sich um verschiedene Strategien der Transformation, oftmals der gezielten hormonellen und chirurgischen Eingriffe, die die verschiedenen Spielarten von Cross-Dressing und 72

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Drag überschreiten und einer Geschlechtsangleichung dienen. In der Serie »Being and Having« (1991) porträtiert Opie einige Mitglieder der Lesben- und Transgenderszene sowie der sado-masochistischen Szene. (ebd., 104–105) Eine Reihe dieser Porträts zeigt Gesichter mit Bärten vor einem gelben Hintergrund, wobei jede Frontalaufnahme das Gesicht so nah wie möglich heranholt und den Rahmen des Bildes sprengt, weil Teile des aufgenommenen Kopfes abgeschnitten werden. An dieser Stelle wird ersichtlich, dass Opie auch auf die konventionellen und ideologischen Rahmungen von Porträts anspielt und in der Wahl ihrer formalen Mittel eine kritische Distanzierung andeutet. Ihre Aufnahmen überschreiten die vorgegebenen Maße. In die Rahmen der Fotografien sind silberne Namenschilder geschraubt, die Titel wie »Chief«, »Jake«, »Papa Bear« oder »Chicken« tragen. Diese ›Label‹ geben über eine Namengebung Auskunft, die der in den jeweiligen Szenen veränderten Persona entsprechen. Trotz der angedeuteten Typisierungen verweigern die Porträts eine binäre geschlechtliche Zuordnung. Sie halten eine Ambiguität aufrecht, indem die Betrachter*innen keine eindeutigen Identitätszuschreibungen vornehmen können, die zwischen lesbischen oder transsexuellen Personen, zwischen Drag Kings oder Trans-Man unterscheiden. Judith Halberstam kommentiert diese Unbestimmbarkeit oder Vieldeutigkeit folgendermaßen  : Opies models become in her portraits far more than the signifiers of outlaw status. Whether we are confronted with the hormonally and surgically altered bodies of transgender men or the tattooed and pierced and scarred skin of the butch dyke, we look at bodies that display layered and multiple identities, adding a gender dimension unassimilable within the boundaries of »men« or »women«. (Halberstam 1997, 184)

Diesem Befund fügt das Porträt von »Angela Hans Scheirl« (1992) eine glamourhafte Dimension hinzu, dessen Wirkung aus dem Zusammenspiel zwischen der Farbigkeit der Aufnahme und den Posen der Porträtierten entsteht. Die hochglänzende und stark reflektierende fotografische Oberfläche ist aus der Werbe- und Modefotografie bekannt. Der Hintergrund der Fotografie füllt den gesamten Raum, in dem Wand und Boden ununterscheidbar werden, mit einem gesättigten Dunkelrot. Angela Hans Scheirl sitzt mit breit gespreizten Beinen auf einem Drahtstuhl und hält ihre*seine linke Hand auf den Oberschenkel gestützt. Sie*er trägt eine Krawatte und einen Männeranzug, dessen Hosenbeine weit hochgezogen sind und den Blick auf weiße Socken lenken. Die Ausrichtung auf dieses Detail, dem durchaus die Funktion eines punctum (Roland Barthes) 73

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zukommen kann, liefert einen leicht ironischen Kommentar zur ansonsten perfekten Kopie der männlichen Posen und des maskulinen Habitus’, den das Porträt entwirft. Das hier gezeigte Cross-Dressing kann als Prozess einer sekundären Mimesis verstanden werden, eignet sich das Modell doch ein Männlichkeitsbild an, das seinerseits auf performativen Akten gründet. Die Fotografie reproduziert eine Reproduktion bzw. leistet ihre pastichehafte Aneignung und stellt den ebenso imitativen wie kontingenten Charakter der Erzeugung von Geschlechterbildern heraus. Das selbstbewusste Posieren von Scheirl findet hier erneut sein Pendant in dem Blick, den der*die Porträtierte offensiv auf die Kamera und die potentiellen Betrachter*innen richtet. Opie sagt dazu  : »I mean they’re always going to be stared at, but I try to make the portraits stare back. The photographs stare back, or they stare through you. They are very royal. I say that my friends are like my royal family.« (Ferguson 2000, 44) Die Rede von der »royal family« spielt auf den Kult-Status an, den das Self-fashioning in und außerhalb der Subkulturen erlangt hat. Diese Aussage akzentuiert zugleich einen Subjekt- und nicht Objektstatus, den jedes Modell besitzt, und konnotiert neben der Möglichkeit einer voyeuristischen Betrachtung auch die eines Selbstentwurfes, den das Bild vermittelt. Die Reversibilität der Blicke aus der und auf die Fotografie affirmiert die in den Porträts angelegten Traditions- und Tabu-Brüche, mit denen sich die Porträtierten identifizieren. Sie werden so präsentiert, wie sie sich selbst den Betrachter*innen zur Schau stellen möchten. Dennoch handelt es sich um ein stilisiertes Porträt, das in die Nähe der Arbeiten von Robert Mapplethorpe oder auch Annie Leibovitz rückt, da es dadurch individualisierend verfährt, indem es gegebene Konventionen der stilisierenden Porträttradition – etwa konventionelle Posen – aufgreift, jedoch dabei reformuliert. Auch Opie wiederholt die Elemente der Stilisierung, die ansonsten der normierenden Kraft geschlechtsspezifischer Schönheitsideale zu eigen sind. Sie überträgt die priviligierenden und idealisierenden Präsentationsmechnismen auf marginalisierte und bisweilen abjekte Geschlechterbilder. Opie bleibt zugleich einem komplexen dokumentarischen Anspruch verpflichtet, den sie durchaus in Beziehung zu einer Reihe von historischen Vorläufern zu setzen versucht. In einem Interview gibt sie Auskunft über ihre Position  : Russel Ferguson  : On the one level your standardised portrait formats evoke early twentieth-century photography – social survey photographs like August Sander – but because you don’t have the environmental clues in the backround, it’s much more iconic presentation. Your portraits all have brightly coloured backrounds, for example. 74

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Cathrine Opie  : To photograph the people in their environments would have been too much like documentary for me. I was thinking about Hans Holbein and the way that he used colour behind his subjects. Formally it can bring out all these different shapes within the body, to make it pop. It is a way to take the people out of their environments and isolate them, because the art is really what they’re doing with their bodies. It’s also to make the focus really on the person. And then the body of work as a whole brings it back to documentary by the way that it’s kind of narrowed down, and by the repetition within different formats of the portraits. (ebd., 45)

Opie dokumentiert – im prominenten Unterschied etwa zu Nan Goldin – nicht die Umgebung der Porträtierten, sondern versetzt sie in einen völlig isolierten Raum, ein Studio, das allenfalls einen kulissenhaften Hintergrund bereitstellt, aber keine direkte Auskunft über einen sozialen Zusammenhang vermittelt. Die ausgeblendete Dimension des sozialen Kontexts rückt die porträtierte Person ins Zentrum des Blickfeldes, deren dominanter Anspruch auf Präsenz jedoch nicht der dokumentarischen Intention der Arbeiten widerspricht. Hier wird die Selbstermächtigung sexuell und geschlechtlich Marginalisierter vorgeführt. Opie ästhetisiert ihrerseits die mit der geschlechtlichen und sexuellen Persona verbundene Selbst-Produktion, die von den Porträtierten bewusst als alltäglicher und zugleich künstlerischer Akt vollzogen wird. Catherine Opies Fotografien re-präsentieren die Porträtierten. Sie geben die performative Realisierung der geschlechtlichen Identität einer Person wieder, die selbst ein Bild von sich entworfen und (mit-)inszeniert hat, welche für ihn*sie gegenläufig zu den dominanten Normen Verbindlichkeit besitzt. Opie hält allein der jeweils für die Porträtierten relevanten Dekonstruktion ihrer Geschlechtsidentität gewissermaßen einen Spiegel vor. Gerade der hier offen gehaltene Prozess der geschlechtlichen Selbstkonstitution ermöglicht Identifikationsprozesse, bei denen den entstehenden Bildern eine neuartige Spiegelfunktion zukommt. Sie korrigiert eine negative Spiegelerfahrung, die in konventionellen Porträts angelegt ist. Craig Owens bemerkt zur herkömmlichen Analogie von Spiegel und Fotografie  : »Der Spiegel vollzieht sowohl die Identifikation mit dem Anderen als auch die spiegelhafte Enteignung, die das Subjekt als solches zugleich instituiert und dekonstituiert.« (Owens 2000, 71) In dieser These klingt das Wissen um Lacans Analyse der Genese von Subjektpositionen an. Lacan spricht von der Bestimmung des Ich durch einen imaginierten Blick eines überpersonalen, also symbolisch-sozialen Anderen, das im eigenen Spiegelbild vermittelt wird und dies durchkreuzt. Verkürzt gesagt bedeutet dies, dass ein ›Ich‹ sich nicht in seinem Spiegelbild wiederkennt, 75

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weil es sich mit den Augen der anderen zu identifizieren versucht. Die Beispiele demonstrieren in gewisser Weise die invertierte Funktionsweise des symbolischen Spiegels im Lacanschen Sinne, indem sie nicht mehr die ursprüngliche Verfehlungserfahrung des Selbst vorführen, sondern sie in gewisser Weise korrigieren und alternativen Subjektpositionen Sichtbarkeit verleihen. Für Collier Schorr ist die Adoleszenz als Übergangsstadium bzw. die liminale Phase von besonderem Interesse, da die Geschlechtsmerkmale und die sexuellen Orientierungen erst allmählich ausgebildet werden und oftmals noch nicht eindeutig fixierbar erscheinen. Schorrs Fotografien mit den Titeln »The Pupil« (1995), »Girlfriends Bathing«, Durlangen (1995) oder »Brown Bathrobe« (1995) zeigen Teenager, die gemeinsam oder allein auf einem Bett liegen, ihre Freizeit am Pool und auf einer Wiese verbringen.1 Diese fotografischen Arbeiten von Schorr besitzen zunächst dokumentarischen Charakter  ; sie können als Schnappschüsse aus der Welt der Jugendlichen gelten, die einer alltäglichen Situation entstammen. In den Posen und Gesten der meist liegenden Jugendlichen schwingen auch (homo-)erotische Konnotationen mit  ; ihre Körperhaltungen und Blickrichtungen verraten ein erwachendes Begehren. Die Ansicht des eigenen Körpers ebenso wie der Blick auf den anderen Körper erscheinen noch verhalten oder auf ein scheinbar unwichtiges Detail fixiert zu sein. In den Vordergrund rücken bei einigen Mädchen androgyne oder knabenhafte Gesichtszüge und Körperformen. Dabei werden die Jugendlichen nie nackt, aber häufig in Unterwäsche gezeigt, wobei der weißen, noch eher kindlich wirkenden Bekleidung eine besondere Rolle zukommt. Eines der Mädchen trägt etwa in »The Pupil« anstelle eines BH ein weißes Stück Stoff, das ihren Brustansatz eher zurückschnürt als hervorzuheben versucht. Kündigt sich darin das Spiel mit oder die gewünschte Unterdrückung von Geschlechtsmerkmalen an  ? Oder wird bloß die prinzipielle Offenheit der Entwicklung in die eine oder andere Richtung akzentuiert  ? Schorr bietet visuelle Szenarios an, die sich nicht von einem stabilen Blickpunkt aus interpretieren lassen. Sie entwirft Spielräume, in denen die Entwicklungsrichtungen ebenso wie die Beziehungskonstellationen offengehalten werden. Gleichwohl favorisiert die Fotografin dabei lesbische Annäherungen und maskuline Körperbilder, vorzugsweise in militärischen Uniformen. Die Porträts »Swedish Soldier« (Poster, 1997), »Thomas on Watch« (Braces,1997) und das Porträt »Soldier« (Winchester.270, Model 70w/Weaver K-3 Tilden Mount,1998)2 haben junge Männer in Armee-Uniformen zu ihrem Gegenstand. »Swedish Soldier« zeigt ein Gesicht in der Frontalansicht, dessen blaue Augen vom Kontrast des dunklen Helms und der Tarnuniform hervor76

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gehoben werden. Auch die Gesichtszüge von »Thomas on Watch« können unzweifelhaft als die eines jungen Mannes identifiziert werden. Die dokumentarische Qualität der soldatischen Porträts legt eine spezifische Sichtweise auf die Fotografien nahe, die sie als Zeugnisse einer so vorgefundenen Realität ausweisen. »Schorr’s photographs allow an endless amount of staring – at men, or more precisely, at what appears to be, what becomes, male.« (Hainley 1998, 98) In diesem Sinn zeigt »Soldier« einen jungen Soldaten im »Boot Camp«, mit seiner engen Uniform, seinen kurzgeschorenen Haaren und dem Namensschild »Newman«. Die Fotografie »Soldier« ist jedoch kein Porträt eines jungen Mannes in einer Kaserne. Es ist vielmehr das erste Bild einer pornographischen Serie für das Magazin »Honcho«, in dem eine ›biologische‹ Frau den Part eines schwulen Soldaten spielt. Erst diese zusätzliche Information verändert grundlegend die Sichtweise auf die Fotografien aus dem militärischen Milieu. Die Arbeiten haben zwar viel mit dem konventionellen Bild von jungen Soldaten gemeinsam, aber nichts mit dem Realitätsstatus der Situation zu tun, die sich abgespielt hat. Schorrs Porträts sind Resultat einer von der Fotografin inszenierten und arrangierten Szene, in der Modelle posieren und Situationen nachgespielt werden. Darauf weisen jedoch erst Interviews und Kommentare zu Schorrs Arbeiten hin, in denen auch deutlich wird, dass die Mehrzahl ihrer Modelle weiblichen Geschlechts sind, auch wenn dies nicht für jede Aufnahme präzisiert wird. Erst infolge dieser Informationen wird es möglich, dieses scheinbar paradoxe Sujet von Schorrs Arbeiten auf eine Formel zu bringen  : Boys are Girls, Becoming – Newman. Schorr verfolgt in ihren Fotografien eine gezielte Illusionsbildung  : Die Bildrealität wird so konstruiert, dass die Betrachter*innen ohne entsprechende Informationen nicht erkennen können, ob es sich um ein in Szene gesetztes Bild oder ein ›Abbild‹ einer vorgängigen Realität handelt. Vielfach wird das angedeutete Spiel mit geschlechtlichen Identitätszuweisungen erst im Rahmen von kontextuellen Informationen aufgelöst, die die Fotografien begleiten. Ohne einen entsprechenden Diskurs über die Bildentstehung oder den Kontext einer Serie, der schließlich zum integralen Bestandteil des Bilderlesens bei Schorr wird, erzielen diese Porträts einen Effekt, der zutreffend als »Passing« beschrieben wird  : Passing, as used in the context of both race and gender, describes a situation of intelligibility in which the perception of the race or gender of the passing subject is actually a misreading. To pass effectively, a subject is (mis) read as »real«. In the case of a passing female, as genuinely male. Race and gender passing require stable 77

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legible markers so that the passing subject can acquire, master, and perform the appearance and nuances of the appropriated race or gender. Passing is a question of public (and sometimes private) legibility and requires a spectator in order to legitimate the pass. Passing is performative in the sense that it relies on a spectator for validity and requires the construction of a visible, intelligible appropriation inscribed on the body counter to the predetermined racialized body or the biologically sexed body of the subject. (Maltz 1998, 277–278)

»Passing« impliziert also die effektive und kalkulierte (Fehl-)Leistung der Betrachter*innen, die einem Cross-Dressing oder einer Drag-Performance den Eindruck des Realen, Dokumentarischen und Unmittelbaren abgewinnen. Schorrs Fotografien bieten potentiell all das an, was die Realitätserfahrung hergeben könnte, bestätigen aber nichts als ›real‹ im Sinne einer faktisch nachweisbaren Wirklichkeit. Die Fotografin spielt mit der möglicherweise vorhandenen Erwartung der Betrachter*innen, dass die Fotografie ein Dokument einer Wirklichkeit sei, die als ›natürlicherweise‹ gegeben hypostasiert wird. Daher ist es häufig nicht binär zu entscheiden, welche ›anatomischen‹ und ›biologischen‹ Fakten der jeweiligen Person innerhalb und außerhalb der Aufnahmen zugrunde gelegt werden können. Schorr versteht dies als eine subtile Erotik einer irisierenden, grenzauflösenden Wahrnehmung, die am Beispiel der Arbeit »Soldier« (1998) besonders deutlich wird. Der referenzielle Rahmen und der Inszenierungscharakter ihrer Fotografien wird erst dann in den Horizont der Betrachtung einbezogen, wenn sich der rein visuelle Eindruck des Bildes durch Angaben zu seinem Kontext öffnet und verschiebt. Dass Schorrs Alltagsszenen von Jugendlichen und die soldatischen Porträts durchaus »informelle Porträts« und nicht gestellte Szenen sein könnten, lässt auf eine weitere Strategie schließen, die ihren Arbeiten zugrunde liegt. Die Bilder verteidigen trotz ihres inszenierten Charakters einen dokumentarischen Anspruch, jedoch einen solchen, der die subjektive Herkunft und den konstruktiven Charakter jeder ›Realitätsabbildung‹ behauptet. Die Imagination stellt bei Schorr ein gleichwertiges und ebenso verbindliches Wirklichkeitsmodell bereit. In diesem Inszenierungsmodell ist nicht nur die Verringerung des Abstands zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit angelegt, sondern es suggeriert auch die täuschende Ähnlichkeit bzw. Ununterscheidbarkeit zwischen beiden Ebenen. Diese Auflösung von eindeutigen oder fixen geschlechtlichen Zuordnungen und Visualisierungen ist im Kern auch die Definition von Genderfluidität, die zwei Jahrzehnte später in einigen Bereichen der Populärkultur Verbreitung findet. Genderfluidität wird insbesondere in einer fotografischen Arbeit von 78

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Schorr präfiguriert, in der erneut der Illusionscharakter von Wirklichkeitsbildern hervorgehoben wird. Die Realität, die als natürlicherweise gegeben hypostasiert wird, ist in Wahrheit das Resultat einer vielschichtigen Konstruktion. Collier Schorrs »Self-Portrait as Bait« (1994) zeigt einen Jungen mit leichtem Oberlippenbart, geschminkten Lippen und freiem Oberkörper, der bis zu den Hüften in einer Frontalaufnahme zu sehen ist. Hat Collier Schorr tatsächlich für diese Fotografie selbst posiert  ? Allein der Altersunterschied, der zwischen dem Jugendlichen und der Fotografin besteht, lässt dies nicht als sehr wahrscheinlich erscheinen. Der Fotografie liegt erneut eine spezifische Konzeption zugrunde. Ausgangspunkt ist bei Schorr auch hier die Imagination einer möglichen Identität, die im Medium der Fotografie einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit erlangt. Denn das Modell, das in Schorrs »Self-Portrait as Bait« (1994) posiert, ist tatsächlich nicht Collier Schorr. Es handelt sich nicht um das Porträt ihres eigenen Körpers, sondern um ein von Schorr zum Selbst-Porträt erklärtes Bild eines männlichen Teenagers, der mit den Spuren von Make up im Gesicht auch die Züge einer weiblichen Maskerade andeutet. Der Vorgang der visuellen Identifikation beglaubigt und erzeugt gleichermaßen, in welcher Weise Schorr sich zu zeigen wünscht. In Schorr’s work there is only the masquerade of another’s body, the surface of another’s skin, the stripped-down uncanny of everyday appearance. It would be easier to think that this is not what the self is – another – and that, strangely, this difference is not what makes anyone like anyone else. (Hainley 1998, 98)

Der oder die Andere wird zum Bild des Eigenen. Die Schaulust, die von den Bildern evoziert wird, richtet sich auf die Entdeckung eines möglichen Selbst, das sich auf der imaginären Ebene zwischen der Realität und der Fotografie formiert. Schorr spricht davon, dass ihre eigene autoerotische Erfahrung dabei zwischen »a desire to be and a desire to have« (ebd.) changiere. Schorrs Genderbilder entwerfen ein Spektrum von Möglichkeiten der Identifikation abseits binärer und essentialistischer Versionen. Individuelle geschlechtliche und womöglich auch sexuelle Identifikationen erscheinen grundsätzlich als transitorische und auch ephemere Praktiken, deren offene Prozessualität im Medium der Fotografie eine vorübergehende Fixierung erfährt. Das Spezifikum der Fotografien von Collier Schorr und Catherine Opie aus den 1990er Jahren besteht darin, dass sie eine implizite identitätspolitische Strategie verfolgen, die auch in den aktuellen Diskursen und Praktiken von nichtbinären Identitäten bzw. in den genderfluiden Positionen in populärkulturellen 79

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und kommerziellen Kontexten wiederzufinden sind. Sie verliehen allerdings in und aus subkulturellen Kontexten nicht eindeutig fixierbaren geschlechtlichen Identitäten – die in der Regel aus der hegemonialen visuellen kulturellen Matrix ausgeschlossen waren – Sichtbarkeit, ohne ein monolithisches Identitätsmodell zu perpetuieren. Die fotografischen Arbeiten von Schorr und Opie konzentrierten sich in den 1990er Jahren auf normativ entlastete und epistemisch erweiterte Identifikationsmöglichkeiten und Selbstbestimmungsversuche von Gender und Sexualitäten, die im Rahmen einer künstlerischen und subkulturellen Szene und ihren normativ ohnehin offeneren Strukturen bereits in der 1990er Jahren parallel zur Etablierung der dekonstruktiven Gendertheorien und den queeren Emanzipationsbewegungen verliefen. Es handelt sich also um transitorische non-binäre Identitätsbilder, die keine irreversible Verfestigung oder Stabilisierung suggerieren, sondern eine subjektiv affirmierte und fluide Genderkonfiguration zeigen. Strategisch und ästhetisch haben Catherine Opie und Collier Schorr dabei ein visuelles und performatives Repertoire in ihren fotografischen Arbeiten entwickelt, das sich einige Jahrzehnte später in den sozialen Medien und in der Populärkultur, vor allem in der Musik- und Modebranche, konventionell und kommerziell etablieren konnte. Im Jahr 2014 veröffentlichte die selbsterklärte genderfluide Star-Schauspieler*in Ruby Rose auf Youtube ein fünfminütiges ikonisches Video unter dem Titel »Break Free« mit der Beschreibung »a short film about gender roles, Trans, and what it is like to have an identity that deviates from the status quo.« (Video Rose 2014) Dieses Video wurde aktuell über 50 Millionen Mal bei Youtube gesichtet und erlangte Kultstatus in den Social-Media Communities. Vielleicht lässt sich das erotisch-suggestive Video »Break Free« vor diesem Hintergrund auch aus der Perspektive einer anderen Fragestellung betrachten  : »How can we understand identification and identity differently or displace the concept in such a way that we are not trapped by the narcissistic illusion of perpetual self-production  ?« (Roof 1996, 155)

Anmerkungen 1 Aufgrund von urheberrechtlichen Gründen können keine Abbildungen gezeigt werden. Die hier untersuchten Arbeiten finden sich in Townsend 1998, 36–37 2 Die Photographien sind in Hainley, 1998, 96–99 abgedruckt.

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Literatur Russel Ferguson im Interview mit Catherine Opie (2000), in  : Catherine Opie, The Photographer’s Gallery London. London Bruce Hainley (1998), »Like a Man«, in  : Artforum International, Vol. 37, No 3, November, 96–99 Judith Halberstam (1997), »The Art of Gender. Bathrooms, Butches, and the Aesthetics of Female Masculinity«, in  : Nancy Spector, Jennifer Blessing (Hg.), Rrose is a Rrose is a Rrose. Gender Performance in Photography. New York, 177–189 Robin Maltz (1998), Real Butch  : The performance/performativity of male impersonation, drag kings, passing as male, and stone butch realness, in  : Journal of Gender Studies, Vol. 7, No 3, 277–278 Craig Owens (2000) [1978], »Fotografie En Abyme«, in  : Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie IV 1980–1995. München, 64–80 Judith Roof (1996), Come As You Are. Sexuality and Narrative. New York, 155 Chris Townsend (1998), Vile Bodies. Photography and the Crisis of Looking. München-New York

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Melanie Unseld

Medea auf der Récamière Transformation zwischen Text, Musik und Performanz im Melodram um 1800

»Gestern Abend waren wir bey der Meiners«, schrieb die in Göttingen lebende Charlotte Michaelis im November 1785 an ihre Schwester Caroline Böhmer, erst spielte Louise die Ariadne und ich deklamirte, und dan spielte die Paradis Medea und ich deklamirte diese auch – und nicht schlecht, den es war das lezte, was mir Meyer lehrte … viele sahßen einige Zeit auf der Erde um uns eine Wiese vorzustellen – die Par. war die Nachtigall – Auf einmal fieng die Par. ein Lied an zu spielen und zu singen, das mich immer auf eine Stunde Närrisch macht – wie ich das hörte, sprang ich auf, lief zu ihr – Louise mir nach – und nun fieng sie an zu lachen […]. (E. Schmidt 1913, 135)1

Wenige Zeilen – ein ganzes Setting  : Einige Frauen, freundschaftlich verbunden, trafen sich im Winter 1785 in einem Göttinger Wohnhaus zu einer musikalischen Soirée. Anwesend waren im Professorenhaus neben der Gastgeberin zwei Professorentöchter, Charlotte und Luise Michaelis, weitere ungenannte (möglicherweise vorwiegend weibliche)2 Gäste, sowie eine durchreisende Musikerin, die aus Wien stammende Pianistin und Komponistin Maria Theresia Paradis.3 Offenbar befand sich ein Tasteninstrument im Hause, die jungen Frauen spielten, rezitierten, sangen und lauschten in wechselnden Rollen zwei Melodramen von Georg Anton Benda, »Ariadne auf Naxos« und »Medea« sowie einigen Liedern. So knapp die Hinweise sind, sie lenken den Blick brennspiegelartig auf ein weitverbreitetes musikalisches Phänomen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, das Melodram.4 Vor allem aber geben die Schilderungen jenes Göttinger Raumes  – wenn auch nur skizzenhaft  – Einblicke in Details musikalischer Praktiken rund um die Gattung Melodram, insbesondere was das Spannungsfeld Text, Musik und Performanz anbelangt. Dieses nur in wenigen Bruchstücken überlieferte Spannungsfeld erhält dann deutlichere Konturen, wenn die in diesem Setting mehr oder weniger verborgenen Gender-Dyna83

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miken wahrgenommen werden  : im (vielleicht sogar mehrheitlich) von Frauen frequentierten Raum, in dem die Melodramen über antike Frauenfiguren zur Aufführung gelangten, im Ereignis einer bühnenlosen, Natur imitierenden Aufführungssituation, in den die Antike rezipierenden Sujets und in der Frage einer Gattung an der Grenze zwischen Rezitation, Musik und Gebärde, die von weiblichen Mitgliedern eines gebildeten, bürgerlichen Hauses vorgetragen, gehört, kommentiert und kommuniziert wurde. Pointiert ließe sich fragen  : Wie kam die antike Kindsmörderin Medea5 in einen von jungen Frauen frequentierten Salon  ? Was macht Medea auf der Récamière  ? Die folgenden Überlegungen gehen der Frage nach, welche Transformationen in diesem Göttinger Setting zu beobachten sind. Transformationen werden hierbei verstanden als Veränderungs- bzw. Aushandlungsprozesse, wobei sich im konkreten Fall mehrere Prozesse zu überkreuzen scheinen  : das Wechselver­ hältnis von (öffentlicher) Bühne und (teilöffentlichem) Haus, von Sprache und Musik, hier kondensiert in einer Gattung à la mode, dem Melodram, und nicht zuletzt entlang einer von Frauen praktizierten und rezipierten Antike-Rezeption, eingewoben in Prozesse bürgerlicher Identitätsfindung. Alle sich hier bündelnden Transformationen sind dabei unmittelbar mit der Aushandlung von Geschlechtervorstellungen verbunden, was ihnen vor dem Hintergrund der Geschlechterdebatte um 1800 eine besondere Dynamik verleiht. Bevor jene Transformationen genauer betrachtet werden, ist es notwendig, die Situation, von der die junge Frau, die 19jährige Charlotte Michaelis, schreibt, genauer zu erfassen  : Sie war zusammen mit ihrer jüngeren Schwester, der 15jährigen Luise Michaelis, bei »der Meiners« eingeladen. Vermutlich handelte es sich um Christina Magdalena Eleonora Meiners, Tochter eines Göttinger Professors (Gottfried Achenwall) und Ehefrau6 des ebenfalls an der Göttinger Universität lehrenden Professors für Weltweisheit Christoph Meiners. Die an dieser musikalischen Abendunterhaltung Beteiligten waren Mitglieder der Göttinger Professorenfamilien mehrerer Generationen, mithin Teil einer netzwerkartig strukturierten Wissensgesellschaft, als deren Knotenpunkte Dorinda Outram Wissenschaftlerfamilien beschreibt. Outram, die sich für ihre Studie zu Wissenschaftlerfamilien auf einen ›weiten‹ Familienbegriff stützt, regt dabei zum neuerlichen Nachdenken über weibliche Teilhabe an dieser Wissenschaftscommunity  : Viele dieser Orte, wenn auch nicht alle, waren in den Händen von Frauen. Dennoch stellt sich die Frage, wie stark wir die Tatsache betonen sollten, daß die Salons von Männern der Wissenschaft auf die Mitarbeit von Ehefrauen und Töchtern ange84

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wiesen waren. Sollten wir nicht vielleicht eher den Charakter dieser Institutionen als Orte der sozialen Transformation betonen, die sowohl für die Wissenschaft als auch für den Absolutismus bezeichnend waren  ? (Outram 2003, 78)7

Auch die Göttinger Wissensgesellschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war einerseits durch Institutionen wie der Universität bestimmt,8 andererseits aber durch über- und außerinstitutionelle Kommunikationswege, die zur Auswahl, Verarbeitung und Wahrnehmung von Wissen geführt haben. Es ist mithin sinnvoll, auch hier die Wissensproduktion in ihrem Ereignischarakter und entlang ihrer Transformationsprozesse wahrzunehmen. (vgl. z. B. Gierl 2013) Zu diesem Ereignischarakter gehörten in Göttingen auch die Akademischen Winter-Conzerte, die Johann Nikolaus Forkel veranstaltete, und die eine »eigentlich akademische Einrichtung« waren, die sich aber »für eine breitere städtisch-bürgerliche Öffentlichkeit öffnete«, deren »Kern der Zuhörerschaft wohl aus universitären Kreisen« stammte, mithin »Professoren nebst Ehefrauen und Töchter« (Hervorhebung M. U.; Fischer 2015, insbes. 179–226, 187), und es gehörten auch solche Abendgesellschaften wie die bei der Professorengattin Meiners dazu, bei denen (künstlerische) Erfahrungen und vor Ort zirkulierendes Wissen (über Kunst, Rezitation, Antike etc.) zusammenfanden. Auch die als »Universitätsmamsellen« bezeichneten jungen Frauen nahmen daran teil, etwa die Michaelis-Töchter, die durch die familiäre und gesellschaftliche Nähe zu Akteuren der Universität und der Wissensgesellschaft in Göttingen hochgebildet waren – wenngleich ohne akademisch-institutionelle Verankerung  – und oft literarisch versiert, nicht selten als Schriftstellerinnen, Übersetzerinnen etc. tätig waren (vgl. u. a. Kleßmann 2008). Zu der von Charlotte Michaelis geschilderten Abendgesellschaft gehörte – auch dies Kennzeichen eines regen Netzwerkes – eine durchreisende Musikerin, die aus Wien stammende Pianistin und Komponistin Maria Theresia Paradis, mit der zusammen (nicht zum ersten Mal9) musiziert wurde. Unumwunden und ohne Ansehen vorhandener oder nicht vorhandener Professionalität wurden im Salon »der Meiners« die Rollen von Zuhörenden und Aufführenden gewechselt, und es war der Briefschreiberin sichtlich ein Anliegen zu betonen, dass sie die Rezitation bei dem Schriftsteller und Bühnendramatiker und als Schauspieler auftretenden Bibliothekar Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer erlernt habe. Damit erkennbar wird der Anspruch an das Niveau der Darbietung, wobei für das pianistische Können der 15jährigen Luise Michaelis spricht, dass sie die »Ariadne« aus dem offenbar vorliegenden Klavierauszug10 zu begleiten verstand. Nach den Melodramen folgte die Darbietung von (nicht näher bezeichneten) 85

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Liedern durch Maria Theresia Paradis. Melodramen- und Liedvortrag schlossen unmittelbar aneinander an, wenngleich mit wechselnder Besetzung  : Nun sang Paradis, möglicherweise auch an diesem Abend »nicht schön, aber mit ausdruck, die nur die haben können, denen sonst ein Sin fehlt […].« (E. Schmidt 1913, 134)11 Dass die blinde Musikerin »nicht schön« sang, schien die Briefschreiberin keinesfalls zu stören, zumal sie den besonderen Ausdruck positiv hervorhob und diesen zugleich durch die Blindheit der Musikerin erklärte. Sie betonte damit, dass sie den musikalischen Vortrag nicht nach ästhetischem Maß, wohl aber nach der geweckten Empfindung betrachtete.12 Die gemeinsame, abendfüllende musikalisch-literarische Kunstausübung bedurfte keiner Bühne, im Gegenteil  : Man saß – gewissermaßen anti-konzertant und quasi-pastoral (»viele sahßen einige Zeit auf der Erde um uns eine Wiese vorzustellen«) – auf dem Boden um die Aufführenden herum, Charlotte Michaelis sprang gar vor Rührung auf und lief auf die Musikerin Paradis zu, eine auch imaginär denkbare Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum war auf diese Weise gänzlich durchbrochen. Nicht unwesentlich dabei, dass dieses Durchbrechen als emotional motiviert beschrieben wird  : aus Rührung aufgrund der Musikdarbietung. Das zur Aufführung Gelangte war ebenso aktuell wie bekannt (auch die Briefschreiberin konnte sich darauf verlassen, dass die Kurzfassung der Titel ausreichten, um der Schwester eindeutig mitzuteilen, was aufgeführt wurde)  : zwei Melodramen von Georg Anton Benda, mit Texten von Johann Christian Brandes (»Ariadne auf Naxos«) und Friedrich Wilhelm Gotter (»Medea«). Beide Melodramen waren zunächst für renommierte Schauspielerinnen der Zeit geschrieben worden  : Charlotte Brandes (»Ariadne«) und Friederike Sophie Seyler (»Medea«), beide 1775 uraufgeführt (»Ariadne« in Gotha, »Medea« in Leipzig), beide kurze Zeit später im Erstdruck erschienen (1778). Das Entstehungsumfeld beider Melodramen waren demnach die angesehenen Theatertruppen der Zeit, die im mittel- und norddeutschen Raum sehr erfolgreich tätig waren, und die Melodramen gehörten – wie zahlreiche Rezensionen zeigen – zu den Paradestücken der beiden Theater-Prinzipalinnen.13 Zugleich verbreitete sich gerade auch die »Medea« rasch, gehörte direkt nach der Uraufführung zu den erfolgreichsten Stücken im deutschsprachigen Raum. Dazu trug bei, dass sie sich nicht nur auf den (Schauspiel)Bühnen großer Beliebtheit erfreute, sondern – nach dem Druck der Klavierfassung 1778 – auch in anderen Aufführungskontexten, die man in aller vorläufigen Allgemeinheit als nicht-theatrale Räume zusammenfassen kann  : in Konzertsälen, Schulen, Wohnstuben, Salons etc. Dabei ist die zeitgenössische Popularität der »Me86

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dea« durchaus mit Johann Wolfgang von Goethes »Werther« oder den Arbeiten von Daniel Nikolaus Chodowiecki vergleichbar  – was heute möglicherweise erstaunt, denn »Werther« und Chodowieckis Arbeiten sind für uns geradezu emblematisch mit der Sattelzeit verbunden, während die »Medea« nach etwa 1820 ins Vergessen fiel. Umso lohnender der Blick auf den immensen zeitgenössischen Erfolg der »Medea«. Dieser lässt sich u. a daran erkennen, dass das Melodram mehrfach als Element intertextuellen Spiels auftaucht, so auch in der Erzählung »Leben, Thaten und Meinungen eines deutschen Schauspielers«, abgedruckt in der »Litteraturund Theaterzeitung« von 1780/81. Hier steht »Medea« selbstverständlich neben Goethes »Werther«  : Ein Friseur kommt, im »Dreyachteltakt« und im »blauen Werther-Rock mit gelbe[m] Unterkleide«, zu einem (zukünftigen) Theatertruppenleiter, dem Ich-Erzähler, um ihm die Haare zu frisieren. Schon von weitem hört der Friseur seinen Kunden »Medea« singen  : Er hatte in dem Zeitraum von drey Gassen, die sein Weg zu mir betrug, auf die Einkleidung eines Lieblingsprojekts studirt, an dem er zu spinnen begann, als ich […] am Fenster stand, und den Marsch aus der Medea pfiff. ›Hören Sie, meynen Sie, fing er an, ich sehe, Sie sind ganz bestürzt, aber (singend mit allen möglichen Detonnanzen) Hoff und Liebe  ! Lieb‹ und Hoffnung,/Trotzen jedem Ungemach  !14

Im weiteren Verlauf der Erzählung findet nach dem Brand des Theaters der (schmachvolle) Auszug der Theatertruppe aus einer Stadt statt  ; die gesamte Theatertruppe macht sich auf den Weg, die Frauen im Bauernwagen, die Männer zu Fuß, man fürchtet um die Reputation  : Wir empfanden nur zu sehr […] daß wir auf unsern Marsch eine ebenso erbärmliche Rolle spielten, als der triumphalische Aufzug des Jasons und der Creusa, wenn einer von meinen herumwandernden Collegen zum Besten der Frau Prinzipalin oder der Lieblingsaktrice, die Medea prostituiren läßt  : als daß wir unsern Feinden in ** die laute, hämische Lache darüber hätten gönnen sollen.« (Litteratur- und Theater-Zeitung 1781, 499)

Solcherart intertextuellen Spiels lässt erkennen, dass »Medea« untrüglich zu eben jenen geläufigen und erfolgreichen Stücken gehörte, die »in den Fundus stehender Redewendungen Eingang fanden und zur Charakterisierung der in ihnen beschriebenen sozialen Stände benutzt wurden. (Urchueguia 2015, 161) 87

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Weitere Hinweise auf die weite Verbreitung liefern zahlreiche Drucke (auch Nachdrucke) und Kopistenabschriften (Schmidt 2013), ebenso die zahlreichen Aufführungsrezensionen in den Theaterblättern der Zeit, bei denen der Eindruck entsteht, dass es sich kaum eine Schauspielerin von Rang nehmen ließ, mit der Paraderolle der Medea herausragende Momente der Bühnenkarriere (Debüts, Bühnenabschiede etc.) zu markieren. Auch Aufführungszahlen belegen die Popularität  : »Der allgemeine Beyfall, den diese Werke [d. s. Bendas »Ariadne« und »Medea«] bey Kennern und Nichtkennern gefunden, die unzähligen wiederholten Vorstellungen dieser Stücke auf allen deutschen Theatern, und daß das Publikum noch immer nicht satt daran werden kann, ist der sicherste Beweis, daß es Werke des Genies, des Meisters sind.« (»Kurze Nachrichten«, 129) Einen Hinweis auf die Popularität und auch deren Gründe geben schließlich auch die ausführlichen »Recensionen praktischer Werke« aus Johann Nikolaus Forkels »Musikalisch-kritischer Bibliothek« (1779), in denen der Erfolg der »Medea« und der »Ariadne« unmittelbar mit der Spezifik der Gattung Melodram verbunden wird, da dieses sich aufgrund des »freundschaftlichen« Verhältnisses von Sprache und Musik für Vermittlung besonders eigne  : »Diese beyden Stücke sind unter den Freunden der Musik gewiß schon viel zu bekannt, als daß wir durch diese Anzeige zu ihrer Bekanntwerdung erst noch etwas beytragen könnten.« Später hebt er noch den »innern Werth« der Melodramen hervor und »die gewaltigen Wirkungen, die sie auf dem Theater hervorbringen«, und zwar explizit für »Kenner sowohl als Nichtkenner«. (Forkel 1779, 250)15 Die Quellen sprechen mithin dafür, dass »Medea« ein wichtiges RepertoireStück für Schauspielerinnen war, sich dabei als Publikumsmagnet erwies, von »Kennern und Nicht-Kennern« besonders geschätzt wurde und zugleich so bekannt war, dass intertextuelle Anspielungen verstanden und Bearbeitungen für außertheatrale Räume erfolgreich, d.h. absatzreich verlegt wurden. Die Göttinger Abendgesellschaft partizipierte damit an aktueller Schauspielkunst im Gewand einer als hoch innovativ wahrgenommenen Gattung und darüber hinaus an einer Antike-Rezeption, in deren Zentrum dramatische Frauenfiguren standen. Die Transformation des Theatralen in den halb- oder nichtöffentlichen Raum fand dabei ohne erkennbare Irritation statt, im Gegenteil, die emotionale Anteilnahme, von der Charlotte Michaelis brieflich berichtete, spricht für eine gelingende Transformation von der öffentlichen Bühne in den Raum einer literarisch-musikalisch gebildeten Göttinger Abendgesellschaft.

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Raum als Kategorie Über Raum als soziale Kategorie nachzudenken, heißt über die konkreten Räume hinauszugehen zu denjenigen, die sich in diesen Räumen bewegen, in ihnen agieren. (vgl. Löw 2001)16 Das Konzept, Raum als soziale Kategorie zu verstehen, wurde und wird in der (auch musikwissenschaftlichen) Genderforschung seit längerem fruchtbar gemacht, zumal mit diesem Blickwinkel auch andere Kategorien – wie etwa die Kategorie »Gattung« – durchlässiger bzw. dekonstruierbar, in ihrer Gemachtheit erkennbar werden. Fruchtbar meint in diesem Zusammenhang, dass der Blick auf Raum als soziale Kategorie es ermöglicht, historische Situationen genauer beschreiben zu können, auch im Hinblick auf die Frage, wer sich in diesen Räumen bewegt, oder auch, wer keinen Zugang zu ihnen erhält, wer sie (womit, wodurch) gestaltet, wer sie (möglicherweise) auch verändert.17 Für den Fall der Aufführung der »Medea« im Göttinger Haus des Universitätsprofessors Meiners scheint dieser Ansatz ebenfalls ergiebig  : Nicht nur, um die musikalischen Aktivitäten der »Universitätsmamsells« in einem Göttinger Salon genauer analysieren zu können, sondern – weit darüber hinaus –, um das ›Phänomen Medea‹ besser zu verstehen. Richtet man den Blick auf die Kategorie Raum, so betritt zunächst Mad. Seyler als Urheberin des Melodrams den Raum der Akteure  : Für ihre Bühnenauftritte wurden der Komponist Benda und der Textdichter Gotter engagiert. Auch lassen sich mit diesem Blick die Gründe für die enorme Popularität der »Medea« (und ihr schnelles Sich-überlebt-haben) besser beschreiben, denn das Melodram kann auf diese Weise als Transformationsmedium zwischen Räumen betrachtet werden, in denen um 1800 zentrale Themen verhandelt wurden – bürgerliche Identität und Geschlecht. Skizziert man dieses Konzept entlang der bei »Medea« relevanten Räume – Theater, Bildungsinstitution und Salon –, gilt es, Folgendes in aller Kürze festzuhalten  : Das Theater war für Frauen ein wichtiges und reales Handlungsfeld  : Selbstverständlich befanden sich in den Theater- und Operntruppen jener Zeit Frauen, eine Erwerbstätigkeit der weiblichen Familienmitglieder war in den Theater- und Musikerfamilien selbstverständlich (vgl. dazu Unseld 2018), selbstverständlich auch eine Integration in den alltäglichen Theaterbetrieb. Frauen waren als Schauspielerinnen, aber auch als Theaterprinzipalinnen, Autorinnen und Regisseurinnen tätig – damit bildete die Bühne einen Raum, in dem diese Tätigkeiten nicht nur geduldet, sondern auch anerkannt, ja öffentlich verhandelt wurden. Damit sei nicht in Abrede gestellt, dass diese am Theater tätigen Frauen einer permanenten moralischen Fragilität anheimgestellt waren, sie beständig auch um ihre moralische Integrität ringen mussten. Doch gilt 89

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es hier zunächst, die Möglichkeitsräume am Beispiel der Mad. Seyler genauer zu betrachten. Friederike Sophie Hensel, später  : Seyler18, war als Schauspielerin ungemein erfolgreich. Gotthold Ephraim Lessing bezeichnete sie in seiner »Hamburgischen Dramaturgie« als »eine von den besten Aktricen, welche das deutsche Theater jemals gehabt hat«19 – wobei ihre Darstellung von Melodramen ein besonders großes Echo fand und gerade auch die für sie geschriebene »Medea« lange Zeit ihr ›Markenzeichen‹ blieb. Sie trat darüber hinaus aber auch als Dramatikerin in Erscheinung  ; ihre Stücke (darunter  : »Familie auf dem Lande«, 1770  ; »Hüon und Amande«, 1789, 1792 auch unter dem Titel »Oberon« mit Musik von Paul Wranitzky) wurden im gesamten deutschsprachigen Raum mit enorm großer Resonanz bei Publikum wie Presse aufgeführt. (Fleig 1999, 30–33) Darüber hinaus war sie 1767 Gründungsmitglied des Hamburger Nationaltheaters. Sie agierte mithin rege und mit großer öffentlicher Resonanz als Schauspielerin, Autorin und Prinzipalin. Die Bühne als Handlungsspielraum für Frauen, den Mad. Seyler in vielen Facetten zu nutzen verstand, war freilich insofern exzeptionell, als sich insbesondere Akteure der Zeit um 1800 grundlegende Gedanken zum Ausschluss von Frauen aus Beruf und Öffentlichkeit machten, wobei man explizit spezifizieren muss  : Dieses Modell betraf bürgerliche Frauen, denn für Frauen aus den unteren Schichten stand die Exklusion von Arbeit, Berufstätigkeit (und damit Öffentlichkeit im Sinne des bürgerlichen Familienmodells) nicht zur Debatte.20 Es waren Akteure der Aufklärung und Restauration, die in großer Einstimmigkeit ein duales, heteronormes Geschlechtermodell diskutierten, das insbesondere für bürgerliche Frauen die Handlungsspielräume ins »Innere« kehrte, in den familialen Bereich. Wendet man den Blick hin zu Bildungsinstitutionen, so ist auch hier eine entsprechende Geschlechterdynamik zu erkennen. Die Aufklärung mit ihrem Bildungsideal adressierte idealiter alle, allerdings zumeist entlang einer geschlechterpolaren Binnendifferenzierung, mit der Konsequenz, dass Bildungsinhalte wie auch -institutionen geschlechtlich markiert und daher meist nach Geschlecht getrennt waren. Betrachtet man Universität als sozialen Ort, wird allerdings rasch klar, dass die Praktiken von Wissensproduktion und -tradierung keineswegs an den Mauern der Universitätsgebäude Halt machten. Gerade das Beispiel der Universitätsstadt Göttingen21, von dem anlässlich der »Medea«Rezeption im Haus eines Universitätsprofessors ausgegangen wird, zeigt, dass die Professoren nicht nur Studenten als Kostzöglinge bewirteten und nicht nur zu Hause Vorlesungen hielten, sondern dass sich die Praktiken der Wissensvermittlung mit den Praktiken der Geselligkeit vielfach überschnitten. Dies macht 90

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erklärlich, warum die Töchter dieser Familien an den Praktiken der Wissensvermittlung bedingt teilhaben konnten, auch wenn sie die Hörsäle der Universitäten nicht betreten durften. Der Begriff, der für die Töchter der Professorenfamilien in Göttingen geprägt wurde (»Universitätsmamsell«), beschreibt diese Handlungsspielräume und weist zugleich auf ein grundsätzliches Problem hin  : junge, intelligente, hochgebildete Frauen, die aber mit ihrem Wissen keinerlei berufliche, gar akademische Perspektive verbinden durften  – es sei denn, sie nahmen buchstäblich das Heft selbst in die Hand, wie dies u. a. Caroline Michaelis (Böhmer/Schlegel/Schelling), Meta Forkel-Liebeskind, Therese Huber oder Dorothea Schlözer taten, die sich Handlungsräume erarbeiteten. Damit wird deutlich, dass mit Blick auf die realen Handlungsspielräume von Frauen Differenzierung nottut, betrachtet man universitäre Bildungsoptionen innerhalb und außerhalb des Ortes Universität  ; zugleich wird erkennbar, dass jene literarisch-musische Abendgesellschaft möglicherweise treffender als künstlerischer Wissensort beschrieben werden kann, als Ort, an dem künstlerische Praxis und Gelehrsamkeit zusammentreffen und der von Frauen initiiert, bespielt und kommentiert wird. Der Salon »der Meiners« kann damit als Raum wahrgenommen werden, in dem künstlerische und soziale Praktiken im Zentrum standen, in denen um 1800 Wissen, Kultur, Bildung und Gelehrsamkeit entwickelt und diskutiert, oral weitergegeben und erlebt, ggf. auch verschriftlicht/materialisiert wurden. Damit sei dieser Salon nicht der Bildungsinstitution Universität gleich – und damit in Abrede gestellt, dass institutionelle Behinderungen weiblicher Bildung existierten. Ebenso sei nicht negiert, dass insbesondere die Aufklärung durch ihre heteronorme Geschlechtermatrix klare Unterscheidungen im Bildungskanon für Mädchen und Jungen traf, dass insbesondere auch die Entwicklung von Bildungsinstitutionen und Curricula sich an Bildungslebensläufen von Jungen bzw. jungen Männern orientierte und dass der Ausschluss von Frauen erhebliche Auswirkungen auf die Praktiken von Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit hatte. Nicht aus den Augen aber sollte verloren werden, dass diese Praktiken nicht ausschließlich an Institutionen gebunden waren und dass selbst Männer, die sich öffentlich zu einer heteronormen Geschlechtermatrix in Sachen Erziehung/Bildung äußerten, nicht selten wider ihre öffentlichen Bekundungen verfuhren, wenn sie zu Hause ihre klugen Töchter reden, an Gesprächen teilhaben ließen, mit ihnen diskutierten, ihnen Zugang zu Bibliotheken, privaten Gelehrtengesprächen etc. ermöglichten. So plädiert auch Siegrid Westphal zu Recht dafür, bei der Frage nach Bildungsmöglichkeiten von und für Frauen stärker auf »Orte und Räume« zu achten, die »nicht dem Institutionalisierungsparadigma unterworfen [sind].« (Westphal 2010, 63) Als 91

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ein solcher Ort jenseits des Institutionalisierungsparadigmas wäre damit auch jene Abendversammlung im Professorenhaus Meiners zu verstehen, mithin als Geselligkeit mit intellektuellen und künstlerischen Handlungsspielräumen im Kontext von Antike-Rezeption und einem Kunst- und Bildungsdiskurs. Steht die Göttinger »Medea«-Aufführung also im Zwischenraum zwischen Bühne und Bildungsinstitution, ist mit dem dritten Raum vollends ein Raum ›ohne Wände‹ gemeint  : der Salon. Der Begriff, ob der schillernden Vielfalt seiner Realisationsformen kaum definitorisch eingrenzbar, eignet sich insbesondere dort, wo die Perspektive der Transformation in den Blick genommen wird, die in diesem sozialen Raum ermöglicht werden konnte. Denn Salons waren (zumeist von Frauen initiierte) Räume der Durchlässigkeit von Themen und (Personen-)Konstellationen, die insbesondere dem kulturellen, intellektuellen, politischen, gesellschaftlichen oder anders konturierten Austausch dienten. Gerade aufgrund ihres nicht- oder vielmehr über-institutionellen Charakters bildeten sie besonders weitgreifende Handlungsräume für Frauen. Salons als Transformationsräume in diesem Sinne zu betrachten, sei knapp an einem Bild erläutert, das François-Louis Dejuinne 1824 malte, »Juliette Récamier dans son salon« (Abb. 1)22, und auf dem der Maler jene Transformationen, wie sie der Salon (in diesem Fall von Madame Récamière) initiierte und ermöglichte, sichtbar werden lässt.23 Im Zentrum von Raum und Bild  : die Recamière, jenes Möbelstück, das hochgradig symbolisch aufgeladen die Aspekte Salon, Kommunikation, Transgression, Sprache/Musik, Antike-Rezeption und Klassizität, Rationalität und Affekt, Kunst und Natur, Nationaldiskurs und Historismus, nicht zuletzt Handlungsspielräume für Frauen und den Geschlechterdiskurs um 1800 bündelt. Auf Dejuinnes Gemälde werden (Gegensatz)Paare in einen dialogisierenden Zusammenhang gestellt und sichtbar gemacht, indem sie oppositionell platziert werden (innen/außen, rechts/links, oben/unten)  : Wissenschaft/Literalität (Bücher) und Kunst (Bild, Musikinstrument) befinden sich links bzw. rechts einer senkrechten Bildachse, wobei die dargestellte Person (paratextuell als Juliette Récamier ausgewiesen) als lesend, mithin der Literalität zugewandt, abgebildet wird. Ihr Konterpart ist das Gemälde, das auf der rechten Seite zu sehen ist, »Corinne au Cap Misène« von Francois Gérard, das die gemeinschaftliche Antike-Rezeption, die Frage weiblicher Handlungsspielräume (Corinne, die als Dichterin ihre Handlungsspielräume und Freiheiten sucht, ist die Titelfigur eines Romans von Germaine de Staël) und Kunst zum Gegenstand hat. Das Gemälde von Gérard, der im Übrigen Juliette Récamier bereits 1802 porträtiert hatte, war auf Initiative August von Preußens entstanden24 und konnte auf De92

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Abb. 1 François-Louis Dejuinne (1786–1844), Juliette Récamier dans son salon, sur le site de la Réunion des musées nationaux, 1824

juinnis Gemälde auch für den intensiven persönlichen Austausch – und damit nicht nur als Konterpart, sondern auch als Spiegelfigur zur lesenden Madame Récamier verstanden werden.

Transformation im Raum Wenn hier verschiedene Räume in den Blick genommen werden – Bühne, Bildungsinstitution, Salon –, in denen das Melodram »Medea« aufgeführt wurde, fällt auf, dass es in all diesen möglichen Räumen immer wieder anders zur Aufführung gelangte. »Medea« konnte sich offenbar gerade in ihren performativen Möglichkeiten den spezifischen Bedingungen der sozialen Räume, den Funktionen, beteiligten Akteurinnen und Anlässen anpassen. Das Melodram, das insbesondere für die Rezitatorin größere Freiheiten der Interpretation bot, war dabei eine besonders probate Gattung, gerade weil es Ideen von Transformation ermöglichte, und die konkrete Titelrolle, eine hoch emotionale, grenzgängeri93

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sche antike Frauenfigur, anhand der das Experiment am offenen Herzen des Geschlechterdiskurses durchgeführt werden konnte, bot ein Experimentierfeld zur Rezitation im Kontext empfindsamer Kunstausübung. Ein Beispiel, dass eben an »Medea« jene Durchlässigkeit von Räumen erprobt werden konnte, ist übrigens Johann Nikolaus Forkels »Medea«-Aufführung in Göttingen, mit der er eine neuartige Konzertform versuchen wollte  : Zu Beginn des Jahres 1784 fand eine explizit als Konzert betitelte Veranstaltung statt, die die Bendasche »Medea« von der Theaterbühne auf die Konzertbühne holen sollte. Forkels Ehefrau Meta25 übernahm dabei bezeichnenderweise die Rolle der Medea. Die »Litteratur- und Theaterzeitung« berichtete über dieses Konzert  : Aus Göttingen vom 21sten März 1784. Vor einiger Zeit wurde auf dem hiesigen Konzert von Hrn. Musikdirektor Forkel ein Versuch gemacht, ohne theatralischen Pomp, Deklamation mit Musik in einem Konzert zu verbinden. Er wählte beide berühmte Duodramen, Ariadne auf Naxos und Medea, ließ sie mit vollständiger Musik aufführen, und den Text dabei mit gehöriger Deklamation herlesen. Erstere deklamirte Hr. Böhmer, der Sohn des hiesigen Hrn. Geh. Justizraths, sehr richtig, und erwarb sich Beifall  : der aber freilich bei der Medea grösser seyn mußte, wo Mad. Forkel beinahe ein Meisterstück von Deklamation ablegte. Nichts als die nöthige Unterstützung von Mienenspiel und Theater  – das dazu beitragen muß, sich eine wirkliche Medea zu ertäuschen – fehlte, um ganz die Empfindungen hervorzubringen, die jedes Werk von Männern wie Gotter und Benda schaffen muß. Die Stellen rückkehrender Zärtlichkeit und Liebe, die Erinnerungen an genoßne Freuden häuslichen Glücks, drückte Mad. Forkel mit vieler Kunst und Gefühl aus  : man sah’s, daß Leidenschaft oft bei ihr in Bewegung kam, daß sie oft glaubte, auf der Bühne zu seyn, denn bei den Stellen der Rache und Wuth wurde sie oft so laut, und hatte Mühe, ihr Mienenspiel zu dämpfen, wie man es freilich in einem Konzerte nicht billigen konnte. Noch weniger gefiel das, daß sie auch Jason, die Gouvernante, und die Kinder mit abwechselnder Stimme deklamirte. Machen Sie diese Nachricht bekannt, vielleicht erweckt sie neue Ideen, um Konzertvergnügen zu erhöhen. (Litteratur- und Theaterzeitung 1784,10f.)

Knapp zwei Jahre später fand die Aufführung der »Medea« dann in Göttingen im Meinerschen Haus statt. Auch hier vollzogen sich verschiedene Transformationen des Ortes, des künstlerischen Gegenstands, seiner Aufführung sowie der sozialen Dimension  : von der (Konzert)Bühne in den Salon, von dem szenischgestischen (das der Rezensent bei Meta Forkel als zu theatral kritisiert hatte) zu einem rezitierten Vortrag, von einer Orchesterfassung zu einer für Tasten­ 94

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instrument reduzierten Fassung – wobei die Quelle keine Auskunft darüber gibt, ob Luise Michaelis von den Notentext variierenden Empfehlungen Forkels Gebrauch gemacht hat26, von der professionellen Aufführung zu einer semi-professionellen Aufführung, von der Öffentlichkeit des theatralen Raumes (und seiner intensiven öffentlichen Aushandlung) zu einer geladenen Gesellschaft. Anders gesagt  : In der Momentaufnahme, die die Briefstelle von Charlotte Michaelis gibt, ist eine hohe Transformationsdynamik zu erkennen, eine Fluidität der Räume, der Gattungen, damit ein gleichsam experimentelles Aushandlungsfeld.

Raumwirkung mit und ohne Bühne Dass »Medea« – den Quellen zufolge rege und mit großer Wirkung – auch jenseits des Theaters aufgeführt wurde, ist insofern besonders hervorhebenswert, als diesem Melodram eine stark theatrale Raumwirkung eingeschrieben ist. So wird mehrfach das Spiel hinter der Bühne (oder im Bühnenhintergrund) eingesetzt, etwa bei der Ankunft von Jason und Kreusa, die durch ein Fernorchester angekündigt wird (Marsch, »Man hört von ferne die Musik des Aufzugs.« Klavierauszug [KA], 11). Laut Regieanweisung ist kurz darauf der Wagen im Bühnenhintergrund zu sehen  : »Jason und Kreusa in einem von Sclaven gezogenen Wagen mit ihrem Gefolge. Der Zug geht hinten über das Theater.« (KA, 12  ; Hervorhebung  : M. U.) Diese ›Mitwirkung‹ des Raumes – nicht unerheblich für die Transformation des Melodrams von der Bühne in den Salon und bezeichnenderweise auch zentraler Gegenstand des intertextuellen Spiels in der Erzählung »Leben, Thaten und Meinungen eines deutschen Schauspielers« – wird vor allem auch in der Mordszene eingesetzt. Medea verlässt dafür die Bühne, das Theaterpublikum ist, was die Darstellung des Kindsmordes anbelangt, auf seine eigene Imagination verwiesen  : »Das ganze Theater wird Nacht, und ein schreckliches Ungewitter läßt sich hören. / Sie stürzt mit gezücktem Dolch in den Pallast, und das Ungewitter dauert einige Zeit fort.« (KA, 27) Das Orchester übernimmt für 36 Takte (Allegro furioso) die Funktion, das grausame, aber für das Publikum unsichtbare Geschehen miterlebbar zu machen. Medea kommt nach dem Allegro furioso als Kindsmörderin zurück auf die Bühne  : »Medea erscheint athemlos, betäubt, bleich und mit zerrißenem Haar am Eingang«. (KA, 28) Diese dezidiert theatral gedachte Raumwirkung, die vor allem durch den Einsatz der Musik (Fernorchester und rein instrumentale Begleitung des zentralen Handlungsmoments) hervorgerufen wird, konnte in konzertanten wie in Salon-Aufführungen der »Medea« nicht unmittelbar umgesetzt werden. Doch dies sprach anscheinend nicht 95

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gegen eine Aufführung jenseits der Bühne, man verließ sich offenbar (und den Quellen zufolge  : erfolgreich) auf die Imagination der Raumwirkung. Die Nonchalance, mit der dieser Schritt von der realen zur imaginären Raumwirkung getan wurde, macht es notwendig, darüber zu reflektieren, welche Komponenten die glückenden Transformationen von Bühne zu Salon ermöglichten. Zunächst stellt sich dabei die Frage, wie das Verhältnis Musik/Theater und Bühne/Nicht-Bühne um 1800 zu verstehen ist. Cristina Urchueguía hebt zum Verhältnis Musik/Theater in ihrer Studie über das deutsche komische Singspiel zwischen 1760 und 1790 Wesentliches hervor  : Wenn man über deutsches Musiktheater in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spricht, so spricht man über Theater. Nicht, daß es dem deutschsprachigen Musiktheater an Alleinstellungsmerkmalen fehlte, doch sind die Verbindungen zum Sprechtheater so dicht, die Schnittmengen so groß, daß es sowohl in ästhetischer als auch in pragmatischer Hinsicht nicht sinnvoll oder gar möglich erscheint, das Musiktheater als vom Theater isoliertes Phänomen zu betrachten. Diese Voraussetzung ist nicht nur hinreichend, sie ist für die Betrachtung des Singspiels notwendig und wird auch durch den logischen Umkehrschluß bestätigt  : Deutschsprachiges Theater läßt sich im 18. Jahrhundert nur unter Berücksichtigung des Musiktheaters verstehen. (Urchueguía 2015, 15)

Dieser ebenso wichtige wie grundsätzliche Hinweis ist mit Blick auf andere musik/theatrale Formen der Zeit nicht nur zu bestärken, sondern insofern noch auszuweiten, als auch die Grenzen zwischen Bühne/Nicht-Bühne als fluide zu denken sind. Die Meinersche Abendgesellschaft etwa inszeniert in einem nichttheatralen Raum das Setting einer pastoralen Szenerie für die Aufführung des Bühnenstücks »Medea«. Hier sind bereits fluide Grenzen von Bühne/NichtBühne zu beobachten, und zieht man die weiteren heterogenen Aufführungsorte der »Medea« in Betracht, ist das Melodram für Beobachtungen zu Transformationen und der Fluidität der Grenzen von Gattungen und Räumen ein durchaus passendes Anschauungsobjekt. Warum sich das Theatrale der »Medea« überzeugend in einen bühnenlosen Raum übertragen ließ, ist nicht zuletzt eine Frage an das Performative. Und hier spielt die Anforderung an die Rezitatorin/Schauspielerin eine gewichtige Rolle, die insbesondere während der rein instrumentalen Passagen in einer »Reihe ineinander übergehender pantomimischer Figuren« (Ost 2002, 45) zu agieren hatte. Denn jene Abschnitte, in denen die Stimme pausiert, konnten und sollten die Darsteller_innen nicht nur für ihre Auf- und Abgänge nutzen, sondern explizit 96

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gestisch-mimisch agieren, in so genannten Attitüden verharren. Nicht in der Dynamik von Bewegung, sondern insbesondere in derartigen Posen sollte die Darstellung von Affekten gelingen. Aufgabe des Textes und der Musik war es daher auch, eine kontinuierliche Aneinanderreihung solcher Attitüden zu ermöglichen  : Das Melodram schildert nicht Begebenheiten, sondern die Begebenheit ist nur das Mittel, welches dem Dichter dazu behülflich ist, die Affekten selbst darzustellen. […] Die Obligenheit des Komponisten ist also hier, die Affekten der handelnden Personen selbst, durch das Mittel, was er in Händen hat, hervorzubringen. (Koch 1802, Sp. 945f.)

Insbesondere am Beispiel der »Medea«-Interpretation verschiedener Schauspielerinnen wurden in deutschsprachigen Theaterzeitungen Fragen der Gestik und des Ausdrucks diskutiert. Ifflands Essay »Ueber körperliche Beredsamkeit« geht auf die »Medea«-Interpretation von Mad. Seyler ebenso ein, wie die Attitüden von Lady Hamilton oder Henriette Hendel-Schütz selbstverständlich die »Medea« inkludierten. Gegenstand dieses Theaterdiskurses – vom Ballett über das Schauspiel bis zur Pantomime, den tableaux vivantes und den Attitüden – war die Frage von Künstlichkeit/Natürlichkeit bzw. der »eloquentia corporis« oder – anschaulicher formuliert – von »Schnirkels« und »Hauptbegrif[fen]«, wie es Joseph Franz von Goez 1783 in seinem »Versuch einer zalreichen Folge Leidenschaftlicher Entwürfe für empfindsame Kunst- und Schauspiel-Freunde« diskutierte. Ausgehandelt wurden hier mögliche Formen körperlicher Darstellungen von Emotionen, wobei die Abbildungen – Goez’ »Versuch« war mit 160 Kupferstichen reichlich illustriert, mithin eine Graphic Novel der Bürgerschen Ballade avant la lettre – nicht nur einen Eindruck von der Ausdifferenzierungswut darstellbarer Emotionen vermitteln, sondern auch die unmittelbare Nähe von Ballade und Melodram auf der Ebene der Performanz belegen, eine Nähe, die sich übrigens auch auf dem Titelblatt manifestiert, auf dem – in einer Art Überkreuzung der Gattungen – die Ballade als »Melodram« bezeichnet wird. Mögliche Grenzen von darstellender, akustischer, sprachlicher und visueller Kunst waren für Goez damit nicht nur inexistent, sondern deren Auflösung geradezu Programm. Hinzu kamen anthropologische, philosophische, (in aller Vorsicht so benannt auch) psychologische und pädagogische Dimensionen.27 Eine weitere für »Medea« bezeichnende Spur des Performativen führt zur Attitüde. In dieser um 1800 vielfach genutzten Kunstform (vgl. u. a. Holmström 1967  ; Miller 1972  ; Hoff/Meise 1987) fanden Elemente von Natürlichkeit, einer an den antiken Darstellungen orientierte ›Verkörperung‹ durch eine junge 97

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Abb. 2–9 Joseph Franz von Goez, acht (von 160) Abbildungen aus den Darstellungen zu einzelnen Versen von Bürgers Ballade »Lenardo und Blandine«, aus  : Joseph Franz von Goez, Versuch Einer Zalreichen Folge Leidenschaftlicher Entwürfe Für Empfindsame Kunst- Und Schauspiel-Freunde. Augsburg 1783

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Frau, nochmals auf besondere Weise zusammen. Ein ebenso bekanntes wie vieldiskutiertes Beispiel dafür sind die Attitüden der Lady Hamilton (vgl. Meierhofer 1999), die zahllose Zeitgenossen, darunter auch Johann Wolfgang von Goethe, faszinierten  : Der Ritter Hamilton […] hat nun nach so langer Kunstliebhaberei, nach so langem Naturstudium den Gipfel aller Natur- und Kunstfreude in einem schönen Mädchen gefunden. Er hat sie bei sich, eine Engländerin von etwa zwanzig Jahren. Sie ist sehr schön und wohl gebaut. Er hat ihr ein griechisch Gewand machen lassen, das sie trefflich kleidet, dazu löst sie ihre Haare auf, nimmt ein paar Schals und macht eine Abwechslung von Stellungen, Gebärden, Mienen etc., daß man zuletzt wirklich meint, man träume. Man schaut, was so viele tausend Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz fertig in Bewegung und überraschender Abwechslung. Stehend, knieend, sitzend, liegend, ernst, traurig, neckisch, ausschweifend, bußfertig, lockend, drohend, ängstlich etc., eins folgt aufs andere und aus dem andern. Sie weiß zu jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu wechseln, und macht sich hundert Arten von Kopfputz mit denselben Tüchern. Der alte Ritter hält das Licht dazu und hat mit ganzer Seele sich diesem Gegenstand ergeben. Er findet in ihr alle Antiken, alle schönen Profile der sizilianischen Münzen, ja des Belvederschen Apoll selbst. (Goethe 2002, 209)

An Goethes Beschreibung der Hamiltonschen Attitüden lässt sich – neben anderem – das Aushandeln mehrerer Grenzen (bzw. Nicht-Grenzen) erkennen. Das Erlebnis fand nicht auf dem Theater statt, sondern im Haus von Lord William Hamilton, gleichwohl wurden die Attitüden theatral inszeniert  : Der Lord ist (durchaus mehrdeutig) Beleuchter der Szene. Auch die Grenze von Natur/Kultur und, daran unmittelbar anschließend, Frau/Künstler wird von Goethe aufgerufen und im Moment der Attitüden als nichtig (respektive  : aufgelöst) wahrgenommen, nicht zuletzt auch die Grenzen von Realität und Traum, Wahrnehmung und Imagination u. a. m. Eine mögliche Detailanalyse jener Grenzziehungen und ‑überschreitungen steht hier nicht im Zentrum, gleichwohl aber die wichtige Beobachtung, dass entlang der Attitüden-Kunst, vorgeführt von einer jungen Frau, die Wahrnehmung und Überschreitung von Grenzen stattfanden. Diese Beobachtung lässt sich unmittelbar mit den experimentell ausgehandelten Transformationen des »Medea«-Melodrams in Verbindung bringen, zumal mit Henriette HendelSchütz, einer Benda-Schülerin, die mit »Medea« große Erfolge als Schauspielerin feierte, eine dezidierte Weiterentwicklung der Hamiltonschen Attitüden-Kunst in den Blick zu nehmen wäre. Hendel-Schütz griff die performative Idee der At99

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titüde auf und entwickelte sie im Sinne einer Schauspiel-Schule weiter, 1809 erschienen in Frankfurt am Main die »Pantomimische[n] Stellungen von Henriette Hendel-Schütz« mit Zeichnungen von Joseph Nicolaus Peroux, die eine Reihe von Attitüden abbildeten. Unverkennbar orientierte sich die Attitüden-Kunst an antiken Vorbil­ dern, vor allem auch an der mit dem Namen Johann Joachim Winckelmann verbundenen Idee, in der Nachahmung der Antike den »guten Geschmack«28 zu bilden. Für diese Nachahmung aber war nach Winckelmann die Beschreibung antiker Kunstwerke notwendig, und eben Abb. 10 Friedrich Rehberg, Niobé, Attitüde der diese Beschreibungen waren vielreLady Hamilton, Zeichnung, 1791 zipierte Einsichtnahmen in das, was sich als Antike neu entdecken ließ. Denn Winckelmann war davon überzeugt, dass in der griechischen Kunst ein überzeitliches Ideal zu erkennen sei, das vor allem auf dem Wechselverhältnis von äußerlicher Sichtbarkeit (»Oberfläche«) und innerer Gestimmtheit (»Seele«) basiert  : Das allgemein vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibet, die Oberfläche mag noch so wüthen, eben so zeiget der Ausdruk in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesezte Seele. (Winckelmann 1963, 30 f.)

Dass eine derartige Sicht auf antike Kunstwerke eine darstellerische Umsetzung der Idee der »edlen Einfalt und […] stille[n] Größe« nach sich zog, lässt sich nicht nur in der Winckelmann-Rezeption deutscher Dramatiker aus dem Umkreis von Lessing, Schiller und Goethe nachvollziehen, sondern auch in den aristokratischen wie bürgerlichen Salons der Zeit. Hier wurden die Attitüden, insbesondere das Nachstellen antiker, biblischer oder mythischer Figuren, zu einer 100

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vielgeschätzten Beschäftigung, vor allem, weil damit das Selbstverständnis der im Salon zusammengefundenen Gruppe eindrücklich bekräftigt werden konnte, wie Manuel Frey dies anhand der Attitüdenpraxis in aristokratischen Salons aufzeigt, und weil – insbesondere in zunehmendem Maße in bürgerlichen Kontexten – die Attitüden »als Medium zur Verbreitung bürgerlicher Tugendmuster in privaten und öffentlichen Räumen« verwendet werden konnten.29 Vor dem Hintergrund eines den »guten Geschmack« bildenden, von Winckelmann geprägten Antike-Ideals und einer Verständigung über bürgerliche Tugendmuster ist denn auch der Einsatz der »Medea« – immerhin einer Kindsmörderin, und auf Kindsmord stand Ende des 18. Jahrhunderts weithin noch die Todesstrafe30 – in der Bildung nachvollziehbar, ein Einsatz, der u. a. 1781 aus Güstrow belegt ist. Von hier berichtete die »Litteratur- und Theaterzeitung«, dass man nach dem Entzug der Concession an die bisher dort aktive Schauspieltruppe zu deren Schadloshaltung […] theils Concerte, theils Schauspiele, von Kindern aus der Stadt, gegeben [hatte]. Mit letzern wurde den 12. Mai des vorigen Jahres der Anfang gemacht, an welchem Tage Präsentiert das Gewehr und Medea aufgeführt wurde. Medea war die zweite Demoiselle Dorothea Mester […]. Ein Mädchen von acht Jahren  : voll Geist und Feuer, und begabet mit einem vortreflichen Genie. Es ist und bleibt mir selbst ein Räthsel, wie diese kleine Schülerin Thaliens ohne die geringste Kenntniß dessen, was die Kunst fordert, ihre Rollen so richtig spielet. (Litteratur- und Theater-Zeitung 1781, 560)

Ein achtjähriges Mädchen, das nicht aus einer Schauspielerfamilie stammte (hier wäre das Alter für einen Bühnenauftritt weniger erstaunlich gewesen), sondern aus der Stadtbevölkerung, trat – ›natürlich‹ begabt – als Schauspielerin auf. Dass diese Rollen-Wahl (Medea) für ein junges Mädchen keine Verwunderung hervorruft (wie aus pädagogischer Sicht heute vielleicht anzunehmen wäre), vermittelt den Eindruck, dass es nicht um Identifikation, sondern um Bildung des »guten Geschmacks« im Sinne Winckelmanns geht. Dass dies auch vom Initiator und Regisseur dieses Kinder-Schauspiels so intendiert war, wird durch seine Gründung des »Theater-Institut[s]« belegt, dessen Ziel nach Johann Carl-Christian Fischer es war, die »kleinen Akteurs« zum »Ideale menschlicher Güte«31 hinzuführen. Wenn auf diese Weise die Aufführungen des Melodrams »Medea« im Kontext der Antike-Rezeption zum einen als Bildungsprogramm aufscheinen, und wenn zum anderen die Attitüden-Kunst im Melodram zu einem besonderen, sprachlosen Ausdrucksmittel wird, ist noch einmal auf Sprache – differenziert in geschriebene und gesprochene – zurückzukommen. Die Antike-Rezeption 101

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um 1800 misst den antiken Sprachen eine besondere Bedeutung zu, insbesondere für die akademische Wissenskultur. Da Frauen aber kaum die Möglichkeit hatten, Latein, Griechisch, Hebräisch etc. zu erlernen, war diese originalsprachbasierte, schriftsprachliche Antike-Rezeption hochgradig geschlechtersegregierend. »Die Neuhumanisten hielten, wie die meisten Zeitgenossen, die alten Sprachen für exklusiv männliche Sprachen«, betont Rebecca Habermas in ihrer Studie »Frauen und Männer des Bürgertums«, »was wiederum damit zusammenhing, daß die toten Sprachen Gelehrtensprachen waren und weibliche Gelehrsamkeit mit dem beginnenden 19. Jahrhundert weitgehend als Contradictio in adiecto galt.« (Habermas 2000, 237) Dadurch waren Frauen von der akademischen Antike-Rezeption weitgehend abgeschnitten, auch wenn, wie oben dargelegt, andere Partizipationsmöglichkeiten an Praktiken der Wissenskultur zuweilen möglich waren. Wollten Frauen antike Texte lesen, spielten daher zum einen Übersetzungen von originalsprachlichen Texten eine herausragende Rolle, zum anderen aber vor allem auch das Gesprochene, mithin rezitierte, szenisch/ halbszenisch aufgeführte Texte. Diese freilich bedurften jener Räume, in denen – durchaus experimentell und so auch transformatorisch – Gesprochenes, im weiteren Sinne  : Kommunikation, zentral war (Bühne, Salons, Geselligkeiten etc.). Habermas’ Studie zeigt dabei anschaulich, dass und wie vielfältig diese oralen Praktiken der Wissenskultur gepflegt wurden. Der Fokus auf eine so konturierte oral-performative Antike-Rezeption stellt freilich noch einmal die Frage an die (gesprochene) Sprache neu, an die Ästhetik des Gesprochenen, was Rezitation, Performanz, Gestik und schließlich auch Musik inkludiert, – eine Frage, die bezeichnenderweise auch für die zeitgenössische Definition des Melodrams von erheblicher Bedeutung ist  : [Melodrama] bezeichnet im allgemeinen Sinne des Wortes jedes musikalische Schauspiel  ; man ist aber gewohnt[,] darunter nur insbesondere diejenige Art des Schauspiels zu verstehen, bey welchem die Deklamation durch Instrumentalmusik unterbrochen wird, oder wobey die Musik bald in größern bald in kleinern Massen, und in unbestimmten Formen zwischen die Perioden und Redesätze eingeschoben wird, um die Empfindungen, die durch die Deklamation ausgedrückt werden sollen, zu verstärken. (Koch 1802, Sp. 945)

Die Begeisterung für die Bendaschen Melodramen lag den Quellen zufolge auch darin, dass er diese gattungstypische Verbindung von Musik und gesprochenem Text besonders überzeugend umzusetzen wusste. Er führte die Stimme zwischen oder über der Musik, wobei er effektreich sowohl den Zusammenklang von Sprech102

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stimme und Instrumentalmusik als auch die Isolation beider Klangebenen einsetzte. Gesprochene Sprache und Instrumentalmusik reagieren auf eine Art und Weise aufeinander, dass diese Bezugnahme unter Zeitgenossen Verwunderung hervorrief. So bemerkte Wolfgang Amadé Mozart etwa zu Bendas Musik-Sprach-Bezug  : Mich hat noch niemal etwas so surprenirt  ! – denn, ich bildete mir immer ein so was würde keinen Effect machen  ! – sie wissen wohl, daß da nicht gesungen, sondern Declamirt wird – und die Musique wie ein obligirtes Recitativ ist – bisweilen wird auch unter der Musik gesprochen, welches alsdann die herrlichste wirckung thut  ; was ich gesehen war Medea von Benda – er hat noch eine gemacht, Ariadne auf Naxos, beyde wahrhaft – fürtreflich. (Mozart 1962, 506)

Und Christian Friedrich Daniel Schubart hob hervor, dass »die Würde der Deklamation« durch Bendas Idee des Melodrams auf den äußersten Gipfel erhoben [worden sei]. Jedes Zeichen der Bewunderung, Ausrufung, Frage, jedes Comma, jeder Ruhepunct, jeder Strich des Denkens oder der Erwartung, jedes aufbrausende oder sinkende Gefühl des Declamators, jede kaum merkliche Verflössung der Rede wird durch diese Art der Tonkunst ausgedrückt. Zuweilen stürzt auch die musikalische Begleitung in die Rede selber, aber nicht sie zu ersäufen, sondern sie auf ihren Fluthen zu tragen. (Schubart 1806, 113)

Und auch Forkel sah das Besondere von Bendas Melodramen wie auch den Grund für deren Popularität in der »Freundschaft« von Musik und Poesie im Melodram. Forkel betonte, dass die Frage des Primats zwischen Poesie und Musik in Bendas »Medea« vollendet aufgehoben sei in einer »Freundschaft«, die beide Kunstformen gleichberechtigt nebeneinanderstelle  : »In dieser neuen Gattung«, so Forkel, wird Poesie nicht so zum Vortheil der Musik gebraucht,  – wird nicht so genau mit ihr vereinigt, daß sie sich in ihr verlieren könnte  ; sondern beyde Künste gehen freundschaftlich mit einander, jede ihrer eigenen Natur gemäß, einem und ebendemselben Ziel entgegen. Wenn hier die Rede oder Poesie eine Empfindung zu erregen sucht, so thut sie es ganz allein  ; und nur dann, wenn sie Ruhepunkte macht, oder in vorzüglich starken Affekt ausbricht, kömmt ihr die Musik als eine Freundinn zu Hülfe, um sie entweder zu unterstützen, oder den Affekt während der Ruhepunkte zu unterhalten, und zum weitern Ausbruche vorzubereiten. (Forkel 1779, 252) 103

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Vom prima la musica ist diese Nähe der hörbaren Künste – Musik und gesprochene/rezitierte Sprache – denkbar weit entfernt. Die Attitüden-Kunst, der scheinbar fließende Übergang von Natürlichkeit und Schauspiel, die wechselnden Konzepte von Raum und Theatralität, nicht zuletzt das innige Verhältnis von Sprache und Musik  – in »Medea« bündeln sich Hinweise, dass die Antike-Rezeption der Sattelzeit gerade auch dort besonders virulent war, wo Kunst und Wissen performativ ausgelotet wurden. Die Experimentierfelder weisen dabei fluide Grenzen auf  : zwischen Räumen, Theatralität, Gattungen, Geste. Gesprochene Sprache aber als nicht- oder vorwissenschaftliches Feld verband sich mit Rezitation als mögliches Handlungsfeld für Frauen (nicht nur auf der Theaterbühne). Die weibliche Konnotierung war zugleich vereinbar mit der Diskussion um eine neue »eloquentia corporis«, die vor allem entlang von Frauenfiguren – besonders jene in emotionalen Extremzuständen wie Ariadne, Medea, Lenore etc. – erprobt wurde. Wofür aber stand dann  – insbesondere im Zusammenhang mit den Handlungsspielräumen für (junge, hochgebildete) Frauen – die Antike  ? Und wie lässt sich das (Wechsel-) Verhältnis von Wissenschaft und Kunst bestimmen und die weibliche Teilhabe daran, ein Themenfeld, das um 1800 entlang einer heteronormen Geschlechtermatrix neu verhandelt wurde und in dem Melodramen und ihre von Transformationen geprägten Aufführungssituationen eine zentrale Rolle spielten  ? Die Medea auf der Récamière zeigt beispielhaft, dass gerade in der Fluidität der ›Zwischenräume‹ Erfahrungen von Kunst und Wissensproduktion gesucht wurden, nicht zuletzt, weil diese ›Zwischenräume‹ als Aufführungsorte offenbar auch die Erprobung von Affektdarstellungen in Sprach(klang) und Geste ermöglichte, eine Erprobung, die performative Übergänge aufsuchte und damit Grenzen verschob  : Rezitation mit und ohne performative Anteile, Sprache als Sprachklang und die Übergänge von Sprache – Sprechen – Interpretation – Improvisation – Gesang, nicht zuletzt Musik und Sprache in einer neuartigen Verbindung.

Anmerkungen 1 Der erwähnte Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer war zu dieser Zeit, vermittelt über Christian Gottlob Heyne, Bibliothekar in Göttingen, und galt in Göttingen als ein in modernen Sprachen versierter Übersetzer, Schriftsteller und Bühnenakteur  : »Im Göttingischen Zeughaus hat er sich selbst an Rollen wie den Hamlet gewagt.« (ebd. 673). 2 Dass die Quelle nur Frauen als Teilnehmerinnen der Abendgesellschaft nennt, spricht nicht grundsätzlich gegen eine mögliche gemischtgeschlechtliche Zusammensetzung der Abendun-

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terhaltung, zumal Katharina Hottmann zu Recht hervorhebt, dass insbesondere Geselligkeiten, die (gemeinsames) Singen inkludierten, trotz aller geschlechterdifferierender Normierungen um 1800 einen guten Anlass für geschlechtergemischte Zusammenkünfte boten. Hottmann betont im Zusammenhang mit Gesangspraktiken (auch) in mitteldeutschen Professorenfamilien, dass »normative Texte in der Sattelzeit zwar die Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit trennten und den Geschlechtern als differente Räume zuwiesen, dass aber in der Lebenspraxis nicht nur diese diskursiven Präskriptionen unterlaufen wurden, sondern auch konträre Tendenzen auszumachen sind, die »[…] das Ideal geschlechtergemischter Geselligkeiten einschlossen.« (Hottmann 2013, 50). Wenngleich der Brief Charlotte Michaelis’ damit die Frage der Zusammensetzung der Abendgesellschaft offen lässt, ist zugleich hervorzuheben, dass die Schreiberin keinen Zweifel daran lässt, dass als musikalisch Handelnde die (jungen) Frauen der Gemeinschaft auftraten. 3 Die Göttinger Begegnung mit Bendas Melodramen sowie die Begegnung mit Gottfried August Bürger in Göttingen veranlassten Paradis später zur Vertonung der Bürgerschen Ballade »Lenore« als Melodram. Vgl. hier u. a. Fürst 2005 und Unseld 2011 sowie dies. 2017. 4 Aus der Literatur zum Melodram sei mit Blick auf die folgenden Überlegungen insbesondere hervorgehoben  : Fischer-Lichte/Schönert 1999 (hierin insbesondere die Aufsätze von Ulrike Zeuch, Sabine Henze-Döhring sowie von Siegfried Bushuven/Michael Huesmann)  ; Kühn 2001 (zu Bendas Melodramen siehe hier insb. 123–140)  ; Vogel 2013 sowie im selben Band Schmidt 2013 (hier auch weiterführende Literatur). 5 Zur Figur der Medea im Musiktheater vgl. Herr 2000. Herr analysiert vergleichend Furor-Szenen und -Arien verschiedener Medea-Opern, sich dabei auch mit der Affektenlehre und deren Übertragung in den musiktheatralen Bereich auseinandersetzend. 6 Laut NDB war sie allerdings erst seit 1799 mit Meiners verheiratet. Vgl. NDB/Heinz https:// www.deutsche-biographie.de/pnd1033760552.html [15.09.2020]. 7 Outram 2003, 78. Was Dorinda Outram über die Wissenschaftler-Haushaltsnetzwerke am Beispiel der Familie Cuvier aufgezeigt hat, ließe sich sinnvoll auch auf zahlreiche andere Wissenschaftlerfamilien der Zeit um 1800 im europäischen Kontext übertragen. 8 Wobei geisteswissenschaftliche Disziplinen hier noch keineswegs selbstverständlich als zu den etablierten Institutionen zu rechnen wären, das Historische Institut der Universität Göttingen etwa wurde 1764 gegründet und die Grenzziehungen zwischen akademischen und außerakademischen Wissenspraktiken waren keineswegs fest etabliert. Vgl. dazu u. a. Gierl 2014. 9 Im gleichen Brief berichtet die Briefschreiberin von einem Vormittag, den sie und die Schwester bei Maria Theresia Paradis verbracht habe. 10 Zum Klavierauszug vgl. auch die ausführliche, die Aufführungspraxis besonders in den Blick nehmende Rezension von Johann Nikolaus Forkel 1779. 11 Die Beschreibung von Paradis’ Gesang bezieht sich auf eine Begegnung Charlotte Michaelis’ mit ihr einige Tage zuvor. 12 Von einer ähnlichen, mehr Rührung als Kunstgenuss evozierenden Situation anlässlich einer singenden, geselligen Runde im Hause einer Jenaer Professorenfamilie berichtet Georg Friedrich Schumacher  : »Ich war gewiß nicht der Einzige, der mit Thränen im Auge die Stelle verließ. Ach, was ist alle Musik gegen die Menschenstimmen  ! und was sind unsre itzige Künsteleien in Sätzen und Trillern um Staunen zu erregen, gegen die hohe Einfachheit einer solchen das Herz

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treffenden Melodie  !« Vgl. hierzu sowie weitere Beispiele empfindsamer Lied-Erlebnisse Hottmann 2013. 13 Siehe u. a. in der »Litteratur- und Theaterzeitung« von 1781  : »Den 27. März und 1. April hatten wir das Glük, Mad. Seiler als Medea zu bewundern  : jeder der diese grosse Schauspielerin gesehn, weis, daß sie diese Rolle meisterhaft spielt.« (Litteratur- und Theater-Zeitung 1781, 239) Und  : »Hamburg. […] Madam Seyler ist nun engagirt, und hat bereits den 17. vorigen Monats mit der Medea debütirt.« (ebd.,524). 14 Litteratur- und Theater-Zeitung 1780, 259. Der Doppelvers stammt aus Friedrich Wilhelm Gotters »Romeo und Julia«, dort (recte)  : »Hoff und liebe  ! Lieb’ und Hoffnung,/Trotzen jedem Ungemach  !« – vertont ebenso von Benda. 15 Forkel 1779, 250. Forkel scheint die Aufführbarkeit Bendascher Werke auch als Praktiker geschätzt zu haben  : Axel Fischer, der die Aufführungsfrequenzen einzelner Komponisten in Forkels Akademischen Winter-Concerten rekonstruiert hat, setzt Benda mit 17 % Anteil am Repertoire an die Stelle der meistgespielten Komponisten, gefolgt von Haydn, Graun, Forkel, Händel u. a.: »Der nach Anzahl der Werke meistgespielte Komponist […] Benda ist in seiner ganzen Vielseitigkeit als Sinfoniker wie als Singspiel- bzw. Melodramenkomponist vertreten«, Fischer A. 2015, 192. 16 Einen Überblick über den ›spatial turn‹ gibt Bachmann-Medick 2007. Für eine Bezugnahme der Genderforschung auf die Raumsoziologie siehe auch Hausen 1992  ; einen Einblick in musikwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Raum bzw. [in] »musikbezogene Raum­ analyse[n]« (inkl. weiterführender Literatur) gibt Noeske 2009. Zu Raum und Gender in der Musikwissenschaft vgl. außerdem den Forschungsschwerpunkt »Orte der Musik« am Forschungszentrum Musik und Gender (HMTM Hannover) unter der Leitung von Susanne RodeBreymann  : Rode-Breymann 2007, 2009 und Rode-Breymann/Tumat 2013. 17 Wie stark sich damit die Wahrnehmung musikhistorischer Zusammenhänge verändern kann, verrät ein Blick in die jüngere Opernforschung, deren Ergebnisse nicht nur historische Sachverhalte ungemein differenzieren helfen, sondern die auch in der Lage ist, Dynamiken und Veränderungsprozesse nachvollziehbar werden zu lassen, und – last but not least – Frauen als Akteurinnen, als kulturell Handelnde, selbstverständlich in den Blick zu bekommen. 18 Biographische Daten finden sich in der NDB https://www.deutsche-biographie.de/pnd11672096 4.html#ndbcontent [15.09.2020]. 19 Lessing begründet dieses Urteil interessanterweise mit ihrer Deklamationskunst  : »Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation  ; ein falscher Accent wird ihr schwerlich entwischen  ; sie weiß den verworrensten, holprichsten, dunkelsten Vers, mit einer Leichtigkeit, mit einer Präcision zu sagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichste Erklärung, den vollständigsten Commentar erhält. Sie verbindet damit nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr glücklichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurtheilung zeuget.« Lessing 1767, 30f. 20 Einen Einblick in die Debatte gibt Lange 1992. 21 Ähnliches ist freilich auch für andere (Universitäts)Städte belegbar, vgl. dazu u. a. die Studie von Habermas 2000 sowie Schmotz 2012. 22 Dieses Bild des Salons der Juliette Récamier ist möglicherweise weniger bekannt als das Porträt, das Jacques-Louis David 1800 von der Salonière malte, ist mit diesem aber intertextuell verbunden.

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23 Die folgenden Überlegungen seien dabei nicht als Bildanalyse missverstanden, sondern greifen das Konzept des »zu sehen Gebens« auf, das Sigrid Schade und Silke Wenk vorgestellt haben. Danach ist das Betrachten von Bildern nicht als »Auslesen« misszuverstehen, sondern als Praktik des Verstehens, was unter welchen Prämissen und für wen zu sehen (und auch nicht zu sehen) gegeben wird. (Schade/Wenk 2011). Vgl. dazu auch Unseld, im Druck. 24 »Désirant conserver le souvenir de Mme de Staël par les arts, autant qu’il restera dans la littérature par ses ouvrages, j’avais cru que le plus sûr moyen serait de vous demander de faire pour moi un tableau dont le sujet serait tiré de Corinne. L’amitié que Mme de Staël m’a témoignée dans des temps malheureux, m’engage surtout à lui donner cette preuve de reconnaissance. Mme de Récamier ayant bien voulu se charger de cette commission par attachement pour Mme de Staël, parce qu’elle attache le plus grand prix à tout ce qui peut honorer sa mémoire, j’apprends avec le plus grand plaisir que vous voulez bien vous charger de cet ouvrage et […] vous témoignant ma reconnaissance pour cette complaisance, je soumettrai à votre jugement s’il ne serait pas avantageux de représenter Corinne sous les traits embellis de Mme de Staël et de choisir le moment de son triomphe au Capitole, ou celui où elle se trouve au cap Misène, sans vouloir cependant en rien vous gêner dans la composition de cet ouvrage.« August von Preußen in einem Brief an den Maler, 6. April 1819  ; siehe Gérard 1867, 340. 25 Forkel heiratete 1781 die sechzehnjährige Margaretha Sophie Dorothea Wedekind, die seit 1778 seine Schülerin gewesen war. Die Ehe zerbrach und wurde 1794 aufgelöst. Vgl. Fischer 2015, 227–249. Im gleichen Jahr dieser »Medea«-Aufführung, 1784, erschien Meta Forkels Roman »Maria« anonym in Leipzig. Vgl dazu auch Gerig 2008, 120–157. 26 Forkel befand den Klavierauszug (der nicht von Benda selbst stammte) als nicht gelungen und gab ausführlich konkrete Verbesserungshinweise, allerdings nicht die »Medea«, sondern die »Ariadne« betreffend. Vgl. Forkel 1779, 261-285. 27 Einen Eindruck von diesem umfassenden Ansatz gibt das Vorwort, in dem Goetz schreibt  : »Meine Absicht war keinesweges ein leidenschaftliches Gestikulations-Sistem zu liefern, noch vielweniger zu behaupten, daß meine Ideen in jedermanns Sistem passen müßten. […] Ich schrieb nichts als Bruchstücke von Erklärungen, welche sich auf Erfahrungen bezihen, die ich bei philosophisch-anatomisch- und phisiognomischen Betrachtungen sammelte, mit andern verglich, und durch eine Folge leidenschaftlicher Bilder dem Kunst- und Leidenschaft-Forscher zur Beurteilung, und wie ich wünschte, auch zum Nuzen vorzulegen beflissen war.« Goe[t]z 1783, 7. Vgl. dazu auch Rentsch 2009  ; Betzwieser 2011. 28 Der Begriff taucht gleich zu Beginn von Winckelmanns »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« (1755) auf, seinen Ursprung dabei klar in der griechischen Antike verortend  : »Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden.« Winckelmann 1965, 7. 29 Vgl. dazu Frey 1998, 401. Für die Schauspielkunst als Sozialisationsinstanz betont Friedemann Kreuder – sich dabei auf Peter Heßelmann beziehend – ähnliches, dass nämlich »die Mehrzahl der Zuschauer, insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, weniger ins Theater ging, um ein bestimmtes Stück zu sehen, als vielmehr der schauspielerischen Darstellung wegen. Denn in dieser Hinsicht bot die zeitgenössische Bühne den Zuschauern die Möglichkeit, durch das Studium allgemein anerkannter Verhaltensstandards die Voraussetzung für soziale Akzeptanz sowie beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen. Anhand der Bühnenfiguren

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konnten Verhaltensmuster beobachtet, überprüft und internalisiert werden, die dann im gesellschaftlichen Umgang in die Praxis umzusetzen waren.« Kreuder 2010, 55. 30 Vgl. zum Kindsmord in der Literatur  : Gerig 2008, insb. 30–48. 31 Titel des Schauspiels »für Kinder und Erwachsene«. Vgl. dazu das Vorwort des 1781 erschienenen Kinder-Schauspiels des gleichen Autors, in dem er von diesem »Theater-Institut« in Güstrow berichtet  : Fischer 1781, 2.

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Bildnachweis Abb. 1 François-Louis Dejuinne (1786–1844), Juliette Récamier dans son salon, sur le site de la Réunion des musées nationaux, 1824, Louvre Museum/Public domain. Quelle  : https://commons. wikimedia.org/wiki/File  :Juliette_R%C3%A9camier_(1777-1849)_C.jpg [24.6.2020] Abb. 2–9 Joseph Franz von Goez, Lenardo und Blandine. Ein Melodram nach Bürger in 160 Leidenschaftlichen Entwürfen, in  : Versuch Einer Zalreichen Folge Leidenschaftlicher Entwürfe Für Empfindsame Kunst- Und Schauspiel-Freunde, Augsburg 1783. Quelle  : Bayerische Staatsbibliothek München, ESlg/4 Art. 43, fol., http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00065526/ image_287 [24.6.2020] Abb. 10 XII Niobé aus  : Attitüden der Lady Hamilton. Nach dem Leben gezeichnet von Friedrich Rehberg, Professor der Königlichen Akademie der schönen Künste in Berlin. In zwölf Blättern lithographirt von H. Dragendorf und herausgegeben von Auguste Perl, München 1840. Quelle  : Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Klassik Stiftung Weimar, https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/926229184/32/LOG_0015/ [24.6.2020]

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Annegret Huber

Diotimas Metaxy Liebe und Weisheit in Sprachwelten des Musikanalysierens […] die Weisheit gehört zu dem Schönsten, Eros aber ist Liebe zu dem Schönen, so daß Eros notwendig ein Philosoph ist. Als Philosoph aber befindet er sich zwischen dem Weisen und dem Unwissenden. (Platon 2012, 85) Diotima von Mantineia zugeschrieben (416 v. Chr.)

Diotima von Mantineia findet sich als einzige Frau in Platons Symposion. Nicht, dass sie dabei gewesen wäre  : Es ist Sokrates, der seinem Schüler Platon, dem Gastgeber Agathon und den anderen männlichen Gästen von seinem Gespräch mit der Priesterin berichtet  ; sein Beitrag gilt als Höhepunkt des von Platon überlieferten Berichts über das Gastmahl. Wiewohl es Sokrates ist, der Diotimas Verständnis von Eros, Liebe, Schönheit und Gutsein referiert, kennen wir das, wovon er spricht, als Ideal der platonischen Liebe. Allerdings ist das, was heute darunter verstanden wird – eine Liebe ohne Sexualität – eine so starke Verkürzung der ursprünglichen Denkfigur, dass man schon von einer Verkehrung sprechen muss. Sokrates nimmt in seinem Bericht die Position dessen ein, der von Diotima in einer Weise befragt wird, durch die er selbst zu Erkenntnis kommen und sich die Denkweise Diotimas aneignen kann. Ausgangspunkt ihres Dialogs ist die Einsicht, dass Eros immer die Liebe zu etwas sei, dessen man entbehre. (Platon 2012, LVIII) Daraus ergibt sich zwischen Diotima und Sokrates die Frage nach der Göttlichkeit von Eros  : Befände er sich tatsächlich in einem Stand göttlicher Unvergänglichkeit und Vollkommenheit, dann müsste er sich weder um die Teilhabe an Unvergänglichkeit durch die Zeugung von Nachkommen bemühen noch sich dabei nach der Schönheit (anderer) verzehren. Dem Guten, das aus dem Begehren der Schönheit entsteht, kommt dabei ein ähnlicher Stellenwert zu wie dem Schönen als Ziel des Bestrebens. Wenn Eros also einen Mangel an Schönheit/Gutsein auszugleichen hat, muss dann daraus geschlossen werden, dass er hässlich/schlecht sei  ? Gemäß Diotimas Lehre ist er weder das eine noch das andere, »sondern etwas zwischen diesen beiden«. (Platon 2012, 79) Ebenso steht er mit seinem körperlichen Zeugungsbedürfnis (Platon 2012, 95) 113

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»zwischen Gott und Sterblichem« (Platon 2012, 81)  ; er sei daher ein daimon , was in der Antike noch keinen negativen Beigeschmack wie später in christlichen Religionen hatte, sondern zunächst als Synonym von theós zu sehen ist, das aber bei Gegenüberstellungen den daimon als den geringeren theós erscheinen lässt. (Liddell/Scott/Jones/McKenzie 1940) Um diese Situation noch weiter zu verdeutlichen, verwendet Diotima verschiedentlich das Wort metaxy  – wörtlich  : ›zwischen‹, ›Mittleres‹ oder ›Zwischendrin‹ – mit einigen speziellen Implikationen, die später noch genauer erörtert werden müssen. Diotima entwickelt in ihrer anschließenden Rede ein stufenweise aufsteigendes Modell der Persönlichkeitsentwicklung, bei dem der Liebe zur Schönheit eine richtungsweisende Funktion zukommt (Platon 2012, 105)  : Richtet sich die Liebe auf der untersten Stufe zunächst auf die Physis einzelner, verändern sich mit jeder höheren Stufe auch die Strategien zur Teilhabe an Schönheit und zur Erzeugung von Gutem. So verflüchtigt sich die sexuelle Komponente – wo nicht auf der zweiten Stufe der Liebe zu schönen Körpern insgesamt – spätestens im dritten Stadium, in dem die spirituelle und moralische Schönheit von Seelen fokussiert wird. Diese sind es auch, die in vierter Instanz ›Lebensweisen‹ (auch im Sinne von Gesetzen und Institutionen) ermöglichen, an denen nicht nur die ihnen innewohnende Schönheit zu bewundern ist, sondern auch das moralisch Gute, das sie begünstigen. Bevor auf der sechsten und letzten Stufe die »Schönheit selbst« und das Gute als das der Liebe Würdige erkannt und erstrebt werden können, kommen mit der Liebe zu Weisheit und der Schönheit von Erkenntnis die Philosoph_innen selbst mit ihrem Streben nach Überwindung der Unwissenheit ins Spiel. Insgesamt zeigt sich in diesem Stufenmodell die Sublimierung sexuellen Verlangens zur Sehnsucht nach philosophischer Erkenntnis und Einsicht (Westacott 2019). Die physischen Kinder normaler Sterblicher werden dabei mit ›Werken‹ als den geistigen Kindern von Philosoph_innen gleichgesetzt. Auf jeder Stufe bildet ein Metaxy zwischen zwei ungleichen Polen den spannungsvollen Rahmen, in dem ›liebendes‹ Verhalten zu einer Verbesserung in Richtung des ›höheren‹ Pols führen soll. (Iordanoglou/Persson 2009, 26f.) Dieser ›Übergang‹ wird an anderer Stelle auch mit dem Zwischenzustand der Mania in Verbindung gebracht, die wie ein Metaxy wirkt und »eine neue Perspektive, nämlich die der Theorie, eröffnet«. (Pechriggl 2006, 72) Einer der wichtigsten Aspekte des Metaxy ist die Vermeidung der alleinigen Zugehörigkeit zu einem der Pole und damit die Überwindung binärer Oppositionen sowie die Betonung des ›Zwischen‹ oder des dazwischenliegenden ›Mittleren‹ als einem Dritten sowie den darin ›da-zwischen‹ Agierenden 114

Diotimas Metaxy

wie beispielsweise Dämonen (wie Eros), Priesterinnen (wie Diotima) oder Philosophen (wie Sokrates). Abgesehen davon, dass das von Diotima und Sokrates verhandelte ›Zwischen‹ durch eine Art Sprachspiel zur Welt kommt – was sehr gut zur gestellten Aufgabe passt, über Sprachwelten zu schreiben –, ergeben sich mit dem Metaxy neue Fragestellungen zur Epistemologie des Musikanalysierens. Ausgangspunkt für diesen Beitrag ist daher die im Eingangszitat beschriebene Situation, in der die Liebe zur Weisheit als schönstes und höchstes Ziel dazu führt, dass Unwissenheit vermindert wird – im vorliegenden Beitrag durch das musikanalytische Philosophieren.

Zum Mehrwert von Metaxy als Denkfigur Metaxy blieb über 2000 Jahre als Konzept unerschlossen, was sich daran ablesen lässt, dass es erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts Eingang in philosophische Wörterbücher fand. Um 1939 arbeitete es die Philosophin Simone Weil in recht deutlicher Anspielung auf Diotimas Stufenmodell in ihren religiösen Mystizismus ein. (Rozelle-Stones, Davis 2018) Bei anderen wie etwa dem Psychologen und Technikphilosophen Gilbert Simondon (Simondon 2016 [1953]) oder dem Linguisten und Anthropologen Charles Voegelin (Braach 2003) hingegen fungiert der Rückgriff auf das Metaxy eher wie ein Vehikel, durch das ihr Denken über Individuation bzw. Geschichte, Bewusstsein und Theologie geschärft wurde. Jüngere Ansätze, das Metaxy zu operationalisieren, knüpfen demgegenüber häufiger an Implikationen an, die auf die Begriffsverwendung bei Aristoteles rekurrieren. Dort gehen mit dem Metaxy Überlegungen zur Ästhetik von Sinneswahrnehmung und der Intelligibilität von Sinnesgegenständen (Mahr 2004, 25) einher, wobei das ›Mittlere‹ ein Mentales oder auch Materiales (Alloa 2012, 19ff.) zwischen Wahrgenommenem und Vorgestelltem (Mahr 2004, 41) sein kann. Unter diesen Voraussetzungen liegt es nahe, die Überbrückung dieses Abstandes in Kategorien der Medienphilosophie zu durchdenken, ist doch auch das Medium nichts anderes als ein ›vermittelnd Mittleres‹ (Hagen 2008, 23) – zumal bei Aristoteles das substantivierte Metaxy häufig zusammen mit der Präposition dia verwendet wird, was eine Nähe zum Sinnlich-Stofflichen des Diaphanen begründet (Mahr 2004, 50). Aus Gründen, die im Folgenden nachvollziehbar werden, sollen in diesem Beitrag allerdings Aspekte des meta bevorzugt behandelt werden, welche »die Überschreitung einer Grenze implizier[en]« (Mersch 2010, 115

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200) und weniger – wie etwa dia – die »Verwandlung von etwas in etwas ›durch‹ etwas anderes« (Mersch 2010, 201) suggerieren. Präziser tritt die Besonderheit des Metaxy hervor, wenn man es wie Alice Pechriggl mit der Figur des Chiasma zusammendenkt, das auf der »überkreuzten Verknüpfung von zuerst vertikal entgegen gesetzten und horizontal korrespondierenden oder identifizierten Begriffspaaren« beruht, bei der »vier Extreme zweier Hälften in einer geometrisch oder semantisch möglichen aber formallogisch problematischen Konstellation miteinander in Beziehung gesetzt« werden. (Pechriggl 2006, 9) Zur Erläuterung verwendet sie die Begriffspaare Selbst-Anderes und Eigenes-Fremdes, die sich nach Art eines Chiasmus’ kreuzweise gegenüberstehen.

Abb. 1 Visualisierung der Figur Chiasma | Metaxy nach Alice Pechriggl

Nach Pechriggl können die postulierten Gegensätze zwischen Selbst und Fremdem aufgehoben oder zumindest relativiert werden, was die Perspektive auf das Eigene im Anderen bzw. das Fremde im Selbst eröffnet. Es geht also um ein Begriffsmobile, dessen Mischungen und Verknüpfungen je nach Modus, Zusammenhang und Art der Begriffspaare variieren können. (Pechriggl 2006, 9f.)

Das Besondere des Metaxy ist also nicht zuletzt seine Dynamik, die ein ›DaZwischen‹ überhaupt erst hervorbringt, in welchen Relationen von mehr als zwei Bezugsgrößen sowie mehr oder minder ›feste‹ Grenzen vielfältig verhandelt werden können. An Diotimas Beschreibung des Metaxy als einem Handlungsraum des Strebens von Philosoph_innen ist bemerkenswert, dass sie als Gegenpol der 116

Diotimas Metaxy

Unwissenheit nicht Wissen oder Erkenntnis nennt, sondern die Weisheit. Es wäre einfach, wenn Weisheit umstandslos mit Wissen/Erkenntnis gleichgesetzt werden könnte. Dies sieht Diotima differenzierter  : Sie beschreibt das Metaxy mit Formulierungen, die an die philosophische Definition von Wissen erinnern, gemäß der es sich bei Wissen um zu rechtfertigende Überzeugungen handelt. Denn – so Diotima – zwischen Weisheit und Unwissenheit liege das »richtige Meinen, auch ohne davon Rechenschaft geben zu können«, und sie erläutert Sokrates, dass ›Meinen‹ »weder Erkennen ist (denn wie könnte etwas Grundloses Erkenntnis sein) noch Unwissenheit (denn wie könnte etwas, das das Sein trifft, Unwissenheit sein)  ? Es ist also die richtige Meinung offenbar so etwas zwischen Einsicht und Unwissenheit.« (Platon 2012, 79) Dies könnte die Vorstellung eines Metaxy erwecken, aus dem sich zwischen Nicht-Wissen, Meinen, Erkennen und Weisheit eine Skala von graduell unterschiedlichen ›Überzeugungen‹ ergibt, deren Position im Metaxy von Art und Umfang ihrer Rechtfertigung abhängt. Interessant ist im Weiteren, dass Philosoph_innen offenbar aufhören würden solche zu sein, wenn sie – wie etwa Götter und Göttinnen – den höchsten Stand von Weisheit erreicht hätten  : »Von den Göttern philosophiert keiner oder begehrt, weise zu werden  ; er ist es nämlich schon, wie auch sonst niemand, der weise ist, philosophiert.« In umgekehrter Weise gilt dies auch für Unwissende, denn [e]bensowenig philosophieren die Unwissenden, noch begehren sie, weise zu werden. Denn eben dies ist ja das Schlimme an der Unwissenheit, daß sie, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, sich selbst doch zu genügen meint. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt. (Platon 2012, 85)

Daraus darf also geschlossen werden, dass ein Minimum an Einsicht in die eigene Unwissenheit das Minimum darstellt, um philosophieren zu können, und dass es womöglich gar nicht erwünscht sein könnte, das höchste Stadium an Weisheit zu erreichen, weil dann der Anlass für das Philosophieren nicht mehr gegeben wäre. Was aber ist Weisheit  ? In westlicher Tradition wird dabei das Verhältnis mehrerer Komponenten diskutiert, die zusammenwirken müssen, damit von Weisheit gesprochen werden kann. Zentral ist dabei zwar sehr wohl das Wissen, über das Weise verfügen sollten, allerdings immer in Relation zu den Prämissen der Epistemologie seines Entstehens, zur Vernunft bzw. dem Denkvermögen der 117

Annegret Huber

Philosophierenden und zu ihrem Habitus. (Ryan 2018) Zumeist wird Wissen ›an sich‹ von anderen Wissensformen (z. B. spezialisiertem Fachwissen, Faktenwissen etc.) unterschieden, deren ›Rang‹ unterschiedlich bewertet wird  ; darüber hinaus herrscht auch Einigkeit, dass die Weisheitsstrebenden unterscheiden können sollten, was wichtig ist und was nicht. Allerdings bleibt umstritten, was genau eine weise Person wissen können sollte und ob ein bestimmtes Verhalten, Handeln oder eine besondere Lebensweise Voraussetzung für Weisheit ist. (Ryan 2018) Generell könnte man Weisheit so definieren  : Ausgangspunkt für das Streben nach Weisheit ist die Fähigkeit zu unterscheiden, was man weiß und was man nicht weiß, womit die Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Weisheit einhergeht  ; als »vollendetes Wissen« ergibt sich Weisheit durch »geistige Vervollkommnung, die ein Mensch durch Studium und Lebenserfahrung erlangen kann.« (Burkard 1999b, 654) In dieser Kurzdefinition ist das oben erläuterte Denken von Diotima/Sokrates erkennbar, bei dem das Streben nach Einsicht im Metaxy durch eine gewisse spannungsvolle Dynamik gekennzeichnet ist. Aristoteles dagegen kann man dahingehend verstehen, dass man Wissen ›besitzen‹ könne und sich Weisheit als ein Streben nach Einsicht sehr wohl »mit einer gewissen Lebensführung« verbinden müsse. (Burkard 1999b, 654) Ein weiteres wichtiges Merkmal im Vergleich mit den Philosophien vor Aristoteles ist, dass dieser das Wissen auf bestimmte Beweisverfahren gründet, während vorher – besonders bei Platon – der erkennenden Seele eine Teilhabe an den ›Ideen‹ und damit an der Entstehung von Wissen und Erkenntnis eingeräumt wurde. (Neuser 1999, 664) Als zwei weitere Kriterien für Weisheit gelten, insbesondere in Ansehung der Person des Sokrates, die epistemische Bescheidenheit und epistemische Genauigkeit. (Ryan 2018) Erläutert wird dies am Beispiel folgender Begebenheit  : Von Sokrates wird berichtet, dass das Orakel von Delphi über ihn gesagt habe, es sei niemand weiser als er. Dem konnte er keinen Glauben schenken, da er sich bewusst war, »weder im Großen noch im Kleinen weise zu sein.« (Platon 2019, 21) Gleichzeitig musste er jedoch davon ausgehen, dass ihn die Gottheit durch das Orakel nicht angelogen hätte. Schließlich entschloss er sich, der Sache auf den Grund zu gehen, und suchte Personen unterschiedlicher Berufsgruppen auf, die er für weiser hielt als sich selbst. Allerdings musste er bald feststellen, dass so mancher sich nur einbildete, »etwas zu wissen, obwohl das gar nicht der Fall ist.« (Weisheit ist also durchaus mit Wissen konnotiert.) Sokrates kam schließlich zu der Einschätzung, dass er selbst immerhin »um eine Kleinigkeit weiser zu sein [schien] als [die Befragten], da [er selbst] nicht glaube zu wissen, was [er] nicht weiß.« (Platon 2019, 22) Es ist daher möglicherweise weniger 118

Diotimas Metaxy

Sokrates’ epistemologische Bescheidenheit, die seine Verwunderung über die Aussage des Orakels erregte, als vielmehr die Konsequenz aus Diotimas Metaxy zwischen Weisheit und Unwissenheit, demgemäß es für Philosoph_innen, die dieses bleiben wollen, kaum wünschenswert sein kann, ultimative Weisheit zu erlangen und damit die Einsicht in das Bewusstsein um die Beschränktheit des eigenen Erkenntnisvermögens zu verlieren. Der Mehrwert von Metaxy zeigt sich hier schon bei der Lektüre philosophischer Sekundärliteratur etwa in der Erörterung des Unterschieds zwischen dem aristotelischen und platonischen Wissens-/ Weisheitsbegriff  : So wird Sokrates’ Ablehnung seiner Attribuierung von Weisheit durch das Orakel im (durchaus achtenswerten) Artikel der Stanford Encyclopedia of Philosophy zwar sehr wohl herangezogen um »wisdom as epistemic humility« und »wisdom as epistemic accuracy« zu diskutieren. Allerdings wird dabei Sokrates fast unterstellt, er würde damit kokettieren, dass er den Spruch des Orakels nur scheinbar nicht für sich akzeptiert. Dem liegt jedoch sichtlich die Vorstellung zugrunde, dass Weisheit wirklich erreicht und Wissen besessen werden könne (wie Aristoteles vorschlägt). Wenn hingegen die Denkfigur des Metaxy im Sinne Diotimas schlüssig zu Ende gedacht worden wäre, hätte der einfache Grund hervortreten können, warum Sokrates die Attribuierung von Weisheit an sich selbst nicht zulässt  : Wenn er sie angenommen hätte, hätte er aufgehört ein Philosoph zu sein.

Emergenz von Sprachwelten des Musikanalysierens Aber auch im Hinblick auf das Musikanalysieren schärft das Metaxy-Denken den Blick für epistemologische Probleme um Sprachwelten in/um Musik. Es wird dabei nicht darum gehen, alle nur auffindbaren ›Abstände‹ zum Metaxy zu erklären  ; es soll vielmehr ergründet werden, in welchen Situationen es überhaupt anwendbar ist und welche neuen Perspektiven sich aus der Erprobung der Denkfigur des Metaxy ergeben könnten. Um den vorliegenden Beitrag nicht ins Uferlose zu verlängern und ihn sinnvoll zu fokussieren, stehen hier Analyseansätze im Mittelpunkt, die von der Annahme der Sprachähnlichkeit von Musik ausgehen. Insgesamt bieten sich dabei drei Ansatzpunkte an  : a) Da kaum eine Musikanalyse ohne sprachliche Erläuterungen auskommt, liegt die Frage am nächsten, welche ›Welten‹ sich generell aus dem musikanalytischen ›Be-Sprechen‹ von Musik ergeben. b) Will man nun Musik als eine Art Sprache untersuchen und zu diesem Zweck geeignete Analysemethoden entwickeln, ist zunächst zu fragen, 119

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was genau jenes Sprachähnliche ausmacht, das überhaupt mit Mitteln der Strukturanalyse greifbar werden könnte und damit mehr sein kann als die Anwendung einer Metapher. c) Wenn sich philosophierend Musikanalysierende – ebenso wie andere Philosoph_innen, Daimon_innen und Priester_innen – im Metaxy hin und her bewegen können (Roy 2018, 160), wäre zu überlegen, ob dieses auch als ›Milieu‹ gedacht werden könnte, in dem das soziale Geschlecht der Musikanalysierenden für die Bedingungen ihrer Praktiken relevant ist. Drei Kriterien für ein Metaxy im Sinne Diotimas’/Sokrates’ werden aus dem oben Erörterten zur Untersuchung herangezogen  : 1. Das Metaxy ist als dynamisches ›Zwischen‹ zu verstehen, das sich zwar aus dem Vorhandensein von zwei ›Markierungen‹ ergibt, das aber gleichwohl binäre Oppositionen vermeiden und mehrdimensionale Relationen ermöglichen soll. 2. Im Metaxy manifestieren sich unterschiedliche Grade von Nicht-Wissen, Meinen, Erkennen – vielleicht nicht unbedingt in skalarer Folge angelegt, aber doch hinreichend profiliert. 3. Zu den ›Spielregeln‹ im Metaxy gehört auch, dass weder die eine noch die andere maximale oder minimale ›Markierung‹ des ›Spielraums‹ erreicht werden kann  ; wenn dieser Fall eintreten würde, endete die Dynamik und damit das Metaxy. Sprachstile des Musikanalysierens Wenn wir nun davon ausgehen wollen, dass das Musikanalysieren ein produktiver Akt ist, weil es eine Analyse hervorbringt, lässt sich diese Praktik auch mit den Worten Diotimas beschreiben  : »Du weißt doch [erklärt sie Sokrates, Anm. d. Verf.in], daß die Poiesis etwas Vielfältiges ist. Denn die Ursache dafür, daß irgendetwas aus dem Nichtsein in das Sein tritt, ist immer eine Poiesis, so daß auch alle Tätigkeiten im Bereich der gesamten Künste Poiesis sind, und die Meister darin alle Poeten.« (Platon 2012, 89) Liebe eignet sich nach Diotima als Oberbegriff für alle Arten des Er-Zeugens, die zu ihren Bedingungen des Strebens im Metaxy zu beobachten sind  : »Wir nehmen nämlich von der Liebe nur eine bestimmte Art heraus und nennen sie, indem wir ihr den Namen des Ganzen beilegen, Liebe  ; für die anderen Arten aber gebrauchen wir andere Namen.« (Platon 2012, 89) Dem Musikanalysieren wohnt demnach ein ebenso poietisches Potenzial inne wie anderen Praktiken des ›liebenden‹ (Er‑)Strebens, sofern die Analysierenden ihr mit »einer bestimmten Art nachgehen und sie mit Eifer betreiben«  ; nur sie »erhalten den Namen des Ganzen  : Liebe, lieben und Liebhaber.« (Platon 2012, 91) Davon ausgehend sollen anhand der folgenden Beispiele 120

Diotimas Metaxy

Aspekte der Produktivität musikanalytischer Akte, der Involviertheit der Analysierenden sowie medialer Abstände und Transfers erörtert werden. Das Hervorbringen musikanalytisch fundierter Sprachwelten wird innerhalb des Fachbereichs zuweilen kritisch kommentiert. Hans Keller (1919–1985)  – ein britisch-österreichischer Musikkritiker und -wissenschaftler – entwickelte etwa eine Methode, die ganz auf Sprache verzichtete  : »The ultimate aim of the present method of analysis is to get at the heart of the music by dispensing with verbal accounts altogether.« (Keller 1956, zit. n. Garnham/Woodhouse 2018, 199) Ausgehend von der Annahme, dass  – wie im Bereich der Literaturwissenschaft – eine Analyse sich derselben Sprache bedienen müsse, wie sie dem Analysegegenstand eigen ist, setzte Keller seine Analysen in Töne. Seine nonverbalen »Funktionsanalysen« wurden etwa in Rundfunksendungen ­zwischen den Sätzen der analysierten Streichquartette oder Klaviersonaten gespielt. Durch die Auskomposition seiner analytischen Beobachtungen beabsichtigte er, Kompositionselemente hervorzuheben, die seiner Ansicht nach trotz vordergründiger Kontraste die kompositorische Einheit eines Satzes begründeten. Er setzte darauf, dass seine Analysen allen Hörern und Hörerinnen unmittelbar verständlich sein würden  – und zwar buchstäblich allen  : nicht nur jenen, die über eine einschlägige Vorbildung verfügten und das musikanalytische Vokabular beherrschten. Damit verbindet er aber nicht nur einen musikvermittelnden Impuls, sondern ganz dezidiert eine Kritik an der damaligen Praxis des »musical criticism« in England, der nicht mit der journalistischen Tätigkeit eines Musikkritikers verwechselt werden darf  : In der Encyclopaedia Britannica wird kurz und bündig definiert, es handle sich dabei um einen »branch of philosophical aesthetics concerned with making judgements about composition or performance or both.« (Walker 1998) Schon daraus erschließt sich, dass Beschreibungen von Werkstrukturen herangezogen werden könnten/müssten, um Werturteile zu begründen. Ob es sich aber bei jeder Narrativisierung eines Notentextes auch wirklich um eine Analyse handelte, stellte Keller jedoch in Frage. Er hielt diese für reine Beschreibungen, die die Wahrnehmungen von Hörern und Hörerinnen lediglich verdoppelten  : Tautology is the greatest insult to the dignity of human thought. Yet most so-called »analytical« writings about music, from the humble programme-noter who has absolutely nothing up his record-sleeve to the great [Sir Donald] Tovey1 who may or may not have withheld a lot, boil down to mere tautological description. I maintain that if you want to open your mouth or your typewriter in order to enlarge upon music, you must have a special excuse. Mere »sensitivity«, receptivity and literacy 121

Annegret Huber

will not do, for it will merely land you in describing the musical listener’s own perception of the music, as distinct from promoting his understanding – whereupon, to be sure, he will consider you »an excellent critic«. (Keller 1956, zit. n. Garnham/ Woodhouse 2018, 199)

Bezeichnenderweise scheint Keller davon auszugehen, dass es nur eine mögliche Wahrnehmung geben könne, die intersubjektiv geteilt und beschrieben werden kann. In seiner Forderung, dass ein Be-Sprechen von Musikstrukturen nicht nur deskriptiv sein, sondern ein besseres Verständnis fördern soll, könnte eine Entsprechung zu Diotimas Unterscheidung zwischen dem »richtige[n] Meinen, auch ohne davon Rechenschaft geben zu können« (Platon 2012, 79), und begründetem Erkennen gesehen werden. Kellers Vermeidung eines Medienwechsels zwischen Objekt- und Analysesprache ist allerdings zweischneidig  : Ohne verbale Erläuterungen werfen seine komponierten Analysen mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermögen. (vgl. Huber 2009, 281) Seine Frage jedoch, ab wann eine Werkwürdigung wirklich verdient, Analyse genannt zu werden, stellt sich auch heute noch bei musikwissenschaftlichen Publikationen jedes Mal erneut, wenn eine Komponist_innen-Monographie mit dem Untertitel »Leben und Werk« erscheint. Drei weitere Beispiele für die Problematik musikanalytischer Sprachwelten finden sich unter dem Titel »Analytical fictions« in einem mehrfach abgedruckten und in andere Sprachen übersetzten Artikel der nordamerikanischen Musiktheoretikerin Marion A. Guck. Sie analysiert darin drei strukturanalytische Arbeiten von nordamerikanischen Kollegen, die höchstwahrscheinlich Hans Kellers Erwartungen an eine ›analysis proper‹ erfüllen oder sogar übertreffen würden. Die Auswahl dieser Analysen muss vor dem Hintergrund gelesen werden, dass es in Nordamerika zwei musikwissenschaftliche Standesvertretungen gibt, die sich deutlich in ihrem methodischen Zugriff unterscheiden. »Musicologists laboured at getting the texts right  ; theorists explained why one note must (or must not) follow another.« (Cook 1999, 32) Den Musiktheoretiker_ innen werden hier den Musikhistoriker_innen (d. h. »musicologists«, inkl. Philolog_innen, die Musikmanuskripte als »Texte« erschließen) gegenübergestellt. Die musikalische Hermeneutik liegt als eine Theorie des Musik-›Verstehens‹ gewissermaßen wie ein Krisengebiet dazwischen  : Mögen sich die Ziele des forschenden Umgangs mit Musikstrukturen ähneln, kritisieren Musiktheoretiker_innen an hermeneutischen Analysen, dass diese im (nordamerikanischen) musiktheoretischen Sinn methodisch zu wenig fundiert und daher nicht viel mehr als ›musico-logy‹ (im Sinne von ›words about music‹) seien. Die große 122

Diotimas Metaxy

Frage, die sich damit verbindet, ist die nach Objektivität und Angemessenheit strukturanalytischer Verfahrensweisen  : »More recently, music scholars as well as humanists generally have responded to the prestige that the sciences have achieved by trying to formalize and ›objectify‹ their ideas.« (Guck 1994, 217f.) Wenn wir in Diotimas Bahnen denken, stellt sich die Frage, in welcher Weise muß man [ein Ziel wie Objektivität] dann verfolgen, und welches Tun ist es, bei dem Eifer und Anstrengung zu zeigen Liebe [oder Analyse] genannt werden könnte  ? Was ist das für eine Betätigung  ? […] Es ist dies nämlich ein Erzeugen im Schönen, sowohl dem Körper als auch der Seele nach. (Platon 2012, 91/93)

»Ein Erzeugen im Schönen […] der Seele nach«  : So hätte vermutlich nicht jeder der Autoren der von Marion Guck ausgewählten Texte seine Arbeiten beschrieben. Insbesondere Allen D. Forte2 pflegt einen sprachlichen Stil, der an einen Bericht erinnert, in dem allein technische Eigenschaften fokussiert werden. (Guck 1994, 222) Guck beschreibt Fortes ›Story‹ als eine, in der der Komponist/Ingenieur bestimmte Handlungen vornimmt, um Elemente miteinander zu verbinden, um ein Musikartefakt herzustellen. Später unternimmt der Analytiker/Archäologe an den physischen Merkmalen der Komposition eine minutiöse Untersuchung, um daraus auf die Kompositionsmethode zu schließen. Forte schreibt sich auf diese Weise die Funktion eines ›Entdeckers‹ zu. (Guck 1994, 223) Für solch einen technischen Bericht eignen sich konstative Sprechakte wie »is made up of«, »consists of« und »contains«, bei denen das Ich des Analytikers als grammatikalisches Subjekt im Satzbau vermieden wird  ; der Gestus der Analyse wirkt dadurch sachlich distanziert. Trotzdem widerspricht Guck der Vorstellung, dass dadurch Objektivität entstehen könnte  ; sie zeigt vielmehr, dass nicht nur in dieser, sondern in praktisch jeder Analyse musiktheoretische Terminologie und verbindende Beschreibungssprache in fast unauflöslicher Weise miteinander verwoben sind. Dadurch tritt nicht zuletzt die persönliche Involviertheit der Autor_innen mit der analysierten Musik zutage, wodurch sich die Vorstellungen, die sich Leser_innen von den technisch beschriebenen Strukturen machen, mit diesen vermischen. Dies gilt für Allen D. Fortes Analyse von Brahms’ Alt-Rhapsodie3 ebenso wie für die Analysen von Carl E. Schachter4 (vom ersten Satz der zweiten Symphonie von Brahms5) und Edward T. Cone6 (von Schuberts Moment musical in As-Dur, op. 94/67)  : Bei Forte ist die Analyse gewissermaßen die Stellvertreterin ihres Autors, denn nicht dieser, sondern die Analyse (als grammati123

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kalisches Subjekt) »interpretiert«, »präsentiert« und »diskutiert«. (Guck 1994, 221) Auch Carl Schachter führt mit der Wortwahl seiner Reduktionsanalyse nach Heinrich Schenker über das standardisiert Methodische des analytischen Verfahrens hinaus, indem er Musik als einen Prozess menschlicher Gefühle untersucht. Dadurch verschwimmt die Grenze zwischen dem Musikstück und dem_der imaginären Hörer_in, zu dem der Autor schließlich selbst wird. (Guck 1994, 225) Obwohl hier mit der Anwendung des Schenkerischen Verfahrens der Anspruch an methodische Solidität ebenso wie bei Forte eingelöst werden will, kann an diesem Beispiel beobachtet werden, wie sich ein »Erzeugen im Schönen […] der Seele nach« abspielt. Mehr aber noch beim explizit hermeneutischen Ansatz von Edward T. Cone  ; er geht davon aus, dass Musik die Gedanken des Komponisten, wo nicht gar seine Person abbildet  : Cone erzählt gewissermaßen den ›Inhalt‹ des Stücks wie eine Geschichte und wird dabei fast zu Schubert selbst  – allerdings in der Gestalt des analysierten Stücks. (Guck 1994, 220) Cone geht dabei so weit, dass er Schubert angesichts eines bemerkenswerten harmonischen Sachverhalts unterstellt, es äußere sich darin eine Art schlechten Gewissens in Erinnerung an die Umstände, unter denen sich Schubert eine Syphilis-Erkrankung zugezogen haben dürfte. (Guck 1994, 220) Guck weist insgesamt überzeugend nach, dass sich an der Sprachstruktur jeder Analyse zeigen lässt, wie sich Autor_innen als wahrnehmende Individuen im Hinblick auf das analysierte Werk positionieren, »because language conveying a personal involvement with musical works pervades, indeed shapes, even the most technically oriented musical prose.« (Guck 1994, 218) Wenn wir noch einmal auf die Forderung von Hans Keller zurückblicken, nach der sich eine narrative Beschreibung musikalischer ›Vorgänge‹ von einer auf musikanalytische Befunde gegründeten Analyse im engeren Sinn unterscheiden müsse, aus der sich im Kontext des vorliegenden Beitrags schließlich eine vorläufige Unterscheidung von (unbegründetem) Meinen und (gerechtfertigtem) Erkennen ergab, gibt es keinen Anlass für Kritik an den drei von Marion Guck gewählten Beispielen  : Es wird ausführlichst mit Musikstrukturen argumentiert  ; daran, dass es sich beim Vorgestellten um die gerechtfertigte Erkenntnis der Autoren selbst handelt, kann kein Zweifel bestehen. Daran ändert sich auch nichts, wenn die eine oder andere Rechtfertigung für andere nicht immer nachvollziehbar ist. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass die Erkenntnisse der drei Autoren nicht als universelles oder allgemeingültiges ›Wissen‹ betrachtet werden können. Überhaupt stellt sich die grundsätzliche Frage, welches Ziel durch eine Analyse erreicht werden soll  : Wenn etwa mit einer Analyse insinuiert wird, sie sei 124

Diotimas Metaxy

ein Bericht über eine ›Ent-Deckung‹ einer Gegebenheit im wörtlichsten Sinn (also nicht ihre Untersuchung), muss dann nicht davon ausgegangen werden, dass dieselbe Entdeckung kein zweites Mal von jemand anderem gemacht werden muss  ? (Die Mathematikerin Emmy Noether etwa musste das nach ihr benannte Theorem auch nur einmal entdecken, damit es zur Grundlage für die moderne Elementarteilchenphysik werden konnte.) Im Bereich der Musikanalyse wäre solch ein Streben nach Entdeckungen eines, das mit der Vorstellung eines ein für alle Mal gültigen (Musik‑)Wissens einhergeht, welches den erreichbaren Endpunkt eines Erkenntnisprozesses markieren und damit ein Metaxy verunmöglichen würde. Angesichts der Vielfalt musikanalytischer Methoden, der Mannigfaltigkeit, mit der sie von unterschiedlichen Musikanalytiker_innen praktiziert werden, und den teilweise einander widersprechenden Ergebnissen (man denke nur an Debatten wie jene um den Tristan-Akkord), ist es jedoch sinnvoller, danach zu fragen, welche Arten des Musikwissens überhaupt möglich sind und welche davon durch strukturanalytische Untersuchungen erzeugt werden können. Erst wenn eingekreist werden kann, was unter ›Weisheit‹ (in Relation zu Wissen oder Erkenntnis) als einem Ziel von Musikanalysierenden verstanden werden könnte, und was alles an ›Unwissenheit‹ über die einzelnen Untersuchungsgegenstände und ihre Ontologie sowie die strukturanalytische Methodik und Epistemologie des Musikanalysierens zusammenkommen kann, wird absehbar sein, wo und in welcher Weise sich ›Zwischen‹-Räume nach Art eines Metaxy entfalten.8 Musik/-Stile als ›Sprache‹ Anders als Hans Keller, der seine Analyse-›Sprache‹ der Objektsprache anpasst, versuchte man – umgekehrt – in der Musikwissenschaft Musik als Ton-›Sprache‹ mit Methoden zu analysieren, die sich Anleihen aus diversen sprachbezogenen Disziplinen verdanken. Joseph Haydns vielzitiertes Bonmot »Meine Sprache verstehet man durch die ganze Welt«, hilft hier allerdings als Rechtfertigung nicht weiter  : Es ist nicht notwendigerweise als metaphorische Aussage über seine Kompositionsästhetik zu werten (obwohl sie durchaus so verstanden wurde), denn damit konterte er den Vorhalt Mozarts – der den 60-Jährigen von einer Konzertreise nach London abhalten wollte –, dass Haydn »keine Erziehung für die große Welt« gehabt habe und zu wenig Sprachen spreche. (Dies 1810, 75) Im gegebenen Kontext darf Haydn durchaus so verstanden werden, dass er darauf hinweist, dass man in London seine auch ohne verbale Beigaben verständliche Musik hören und weniger mit ihm konversieren wolle. Ein veritabler Bilder125

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sprung hingegen findet sich etwa in der Terminologie von Heinrich Christoph Koch9, dem Autor des »Versuchs einer Anleitung zur Composition« (1782– 1793)  : Er verwendet Begriffe aus der Grammatik natürlicher Sprachen (wie Satz und Periode), um motivisch-thematische Taktgruppen zu benennen und damit zum Ausdruck zu bringen, dass Instrumentalmusik ebenso ausdrucksvoll ist wie Vokalmusik. Des Weiteren nimmt er Interpunktionszeichen als Analogon, um die Schlusswirksamkeit der sogenannten »Endigungsformeln« dieser Abschnitte zu differenzieren  : So schließt z. B. der Punct den [sic] Perioden der Rede wie die Cadenz den Perioden der Melodie, und der Absatz und Einschnitt unterscheidet die melodischen Theile des Perioden eben so, wie das Semicolon und Komma die kleinern Theile des Perioden der Rede. Und diese Aehnlichkeit ist es besonders, die mich veranlaßte, den Ausdruck Interpunction bey der Unterscheidung der melodischen Theile zu brauchen. (Koch 1787, 345)

Koch spricht jedoch stets von Ähnlichkeiten  ; es bleibt immer klar, dass für ihn Musik nicht per se Sprache ›ist‹, sondern dass er die Begrifflichkeiten der Sprachgrammatik als Metaphern verwendet. Außerdem spricht Koch als Kompositionslehrer  : Auch wenn er analytisch vorgeht, um sein Lehrziel zu vermitteln, darf nie außer Acht gelassen werden, dass er damit zum Komponieren anregen, jedoch keine analytische Methode bereitstellen wollte. Was aber bedeutet es, wenn man Musik im wörtlichsten Sinn als Sprache analysieren möchte  ? Eine recht allgemeine10 Definition von Sprache lenkt das Augenmerk darauf, dass es sich um ein »[1] System von [2] Zeichen mit [3] feststehender Bedeutung [handelt], das der [4] Kommunikation dient« (dwds 2020). Implizit wird damit die Semiotik mit ihren drei Teilbereichen angesprochen  : Die Semiotik [2] als übergeordnete Disziplin, die sich mit den Eigenschaften von Zeichen aller Art beschäftigt, die Semantik [3], die die Bedeutung von Zeichen untersucht, die Pragmatik [4], die sich der Frage des Zeichengebrauchs von Sender_innen und Empfänger_innen von Zeichen zum Zwecke der Kommunikation widmet, und schließlich die Syntax [1], die die Kombination von Zeichen zu einem System von Zeichenfolgen ins Visier nimmt. Diese vier Bereiche bedingen sich gegenseitig, sodass es immer zu Überschneidungen kommt. Legt man nun das Kriterium der »feststehenden Bedeutung« als Maßstab für Musikzeichen zugrunde, wird sofort deutlich, dass es hier problematisch werden kann  : Musik kann unter bestimmten Voraussetzungen Bedeutung gewinnen – wenn sich etwa gewisse ›Gewohnheiten‹ ausbilden, wenn bestimmte 126

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Inhalte vertonter Texte mit Musik ›ausgestattet‹ werden (z. B. mit einer chromatisch absteigenden Basslinie als Lamento-Bass in Trauergesängen), wenn Satzbezeichnungen mit bestimmten Musikstrukturen einher gehen (z. B. die Polonaise, die nur mit einem charakteristischen Tanzrhythmus gedacht werden kann) oder wenn Instrumentalmusik natürliche Geräusche nachahmt (z. B. ein Paukenwirbel den Donner oder ein Erdbeben). Problematisch wird es aber, wenn Instrumentalmusik, die solche oder ähnliche Merkmale nicht aufweist, so analysiert wird, als ob ihr sprachliche Bedeutung inhärent wäre. Dies würde voraussetzen, dass Komponistinnen_Komponisten eine Art Code mit unmissverständlichem Informationswert absichtsvoll verwendet hätten, um in den Musikstrukturen eine ›Bedeutung‹ festzuhalten, die von den Musikanalysierenden entschlüsselt werden könnte. Beides kann jedoch historisch nicht belegt werden  : weder die Kenntnis von Komponist_innen um solche Codes noch ihre Absicht, sie zu verwenden. Dass zu Lebzeiten bestimmter Tonsetzer_innen Ästhetiken11 entstanden sind, die heute herangezogen werden, um einschlägige Analysemethoden (wie etwa die im angelsächsischen Sprachraum recht wirkmächtige Topic Theory12) zu rechtfertigen, reicht ebenso wenig als Begründung hin, wie die nicht abzustreitende Tatsache, dass sie die stilistischen Idiome ihrer Zeit kannten und innerhalb dieses Rahmens komponierten. Stil kann weder Zeichen noch Code sein. (vgl. Stefanovic 2010) Historisch überprüfbar ist hingegen, zu welchen Konsequenzen es führt, wenn die Möglichkeit zur eindeutigen Repräsentation von ›Information‹ zum Kriterium wird, das den Rang einer Kunstform im Vergleich mit anderen bestimmt  : So musste Hegel aus eben diesem Grund zur Auffassung gelangen, dass die Musik nach der Dichtkunst die zweite unter den poetischen Künsten sei. (Barry 2010 [1987], 176) Wenn sich Schopenhauer hingegen die Musik als erste unter den Künsten vorstellen kann, dann gelingt ihm das nur, weil er die Musik aus dieser Vergleichssituation ausklammert und ihr eine eigene Metaphysik zuweist. (Barry 2010 [1987], 137) So hat es für die Methodik der Strukturanalyse durchaus Konsequenzen, wenn der Musik zu wenig oder ein universaler Informationswert zugemessen wird. Dabei wurde gegen die Prämisse, dass die Bedeutung eines Zeichens in ihm selbst liegt, nicht erst seit den poststrukturalistischen Debatten des 20. Jahrhunderts der Einwand erhoben, dass Zeichen erst durch Interpretationen und Konventionen ihrer Verwender_ innen Bedeutung zugeschrieben wird. Solch eine Kritik findet sich bereits im 18. Jahrhundert in England, wo Sprachphilosophen darauf basierende Sprachtheorien wie die von John Locke kritisierten bzw. Dichter wie Laurence Sterne in Romanen ad absurdum führten. (Rauter 1970, 108) Eine entsprechende Fi127

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gur entwickelte Adolph Bernhard Marx13 in den 1820er Jahren mit der »dichterischen Pause« für den Bereich der Musik  ; sie qualifiziert und fordert ganz genau jenen Interpretationsspielraum ein, der Hörer_innen Zuschreibungen an Kunstwerke ermöglichen soll. (vgl. Huber [2020a] im Druck) Diese Beispiele sollen lediglich andeuten, wie vielfältig Musikzeichen definiert und verwendet werden können, was wiederum Eingang in die Epistemologie des Musikanalysierens finden sollte. Andernfalls wird das Analysieren zu einem »Spurenlesen« nach den Kriterien Sybille Krämers, die davon ausgeht, dass Spuren nicht einfach ›da‹ sind, sondern erst zu Spuren werden, wenn sie als solche behandelt werden  : »Spuren entstehen durch die im aktualen Kontext des Spurenlesers verwurzelte und mit der erzählenden Herstellung kausaler Abhängigkeiten kompatible Interpretationsarbeit.« (Krämer 2008, 282) Sie beschreibt damit einen produktiven Akt der Bedeutungszuschreibung, der jedoch unabhängig von den Absichten von Urheber_innen der Spur abläuft  : »Der Spurenleser verhält sich als Adressat von etwas, dessen unfreiwilligen Absender er allererst zu rekonstruieren hat.« (ebd.) Schließlich stellt sich auch zu diesem Punkt die Frage nach dem Metaxy  : Auf der fünften Ebene ihres Stufenmodells beschreibt Diotima, wie man die nach dem Schönen und Guten Strebenden nach den »Lebensweisen […] zu den Wissenschaften führen [müsse], damit [diese] auch die Schönheit der Wissenschaften« sehen würden, wo sie sich »auf das weite Meer des Schönen begeben und es betrachten [könnten], damit [diese] viele schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge[n] in unerschöpflichem philosophischem Streben.« (Platon 2012, 103) Dies könnte durchaus jene Zuschreibungsprozesse umfassen, die sich aus den skizzierten Analysepraktiken ergeben, welche die Metapher, dass Musik eine Tonsprache sei, beim Wort nehmen. Allerdings kommt Diotima hier in ihrer Rede nicht mehr auf das zurück, was sie vorher im Dialog mit Sokrates wohl aus didaktischen Gründen noch betont hatte  : dass das Begehren, weise zu werden, einen Ausgangspunkt brauche – nämlich die Einsicht in die eigene Unwissenheit, denn wer »nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt.« (Platon 2012, 85) Wenn man also einräumen würde, dass ein Analyseprojekt vielleicht nicht am Point Zero der eingestandenen Unwissenheit beginnen muss, wäre es dennoch zweckmäßig, sich darüber Gedanken zu machen, welche Aussagen über Musik als einer zeichenhaften Sprache überhaupt möglich sind, wie ihr Wahrheitsgehalt beurteilt werden kann, ob strukturanalytische Argumentationen überhaupt zur Rechtfertigung des Gesagten geeignet sind und welcher Erkenntniswert damit einhergeht. An der semiotischen Unbestimmtheit von Musikzeichen (ohne ihre kritisch zu hinter128

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fragenden historischen wie systematischen Kontexte) ändert sich nichts durch die vermeintlich größere Bestimmtheit sprachanaloger musikanalytischer Mittel. Gender und Performativität des Musikanalysierens Insgesamt zeigt sich in der Zusammenschau der beiden vorigen Punkte, dass ein epistemologisches Metaxy des Musikanalysierens ebenso nicht entstehen kann, wenn Erkenntnisziele zu absolut definiert werden, wie wenn die Einsicht in Modi des Nicht-Wissen- oder Nicht-Sagen-Könnens fehlt. Entscheidungsträger_innen über diese Rahmenbedingungen sind jedoch die Musikanalysierenden selbst, die sich auf ihrer Suche nach musikanalytischer Erkenntnis im daimonischen ›Zwischen‹ bewegen. Ähnlich wie Priester_innen und Seher_innen, die durch »Besprechungen« und andere zauberische Handlungen zwischen Göttlichem und Sterblichem agieren (vgl. Platon 2012, 83), vermitteln auch sie anderen mehr oder weniger Kundigen ihre Erkenntnis über Musik. Dadurch wird das Metaxy zum sozialen ›Milieu‹, wobei nicht nur die Performativität von musikanalytischen Sprech- (oder auch Schreib-)handlungen zum Gegenstand einer Meta-Analyse werden muss, sondern ebenso die (u. a. Gender-)Performanz der Analysierenden. Im Jahr, bevor Marion A. Guck die oben besprochenen fiktionalen Sprachwelten dreier Analysen mit den Sprechhaltungen ihrer Autoren in Verbindung brachte, folgte ihr Kollege Fred Everett Maus einem vergleichbaren Gedankengang, den er aber mit Genderfragen verknüpfte  : I have come to believe that the distanced, technical, nonexperiential modes that prevail in recent professional theory and analysis constitute a style [!] of discourse that fits comfortably with a masculine self-image, and that many theorists write as they do because they want to project such a self-image, to themselves (their first readers) and to other readers. (Maus 1993, 266)

Er bezieht sich damit auf die nordamerikanische »mainstream music theory«, die wesentlich charakterisiert ist durch die Arbeiten der von Marion A. Guck exemplarisch herausgestellten Vertreter der Pitch Class Set Analyse im Gefolge von Allen D. Forte und dem einflussreichsten Vertreter der Schenker Analyse Carl Schachter. (Maus 1993, 267) Maus beobachtet, dass sich innerhalb der Fachdiskurse hierarchische Strukturen ausgebildet hatten, die von einer erkennbaren Stilistik geprägt waren  : In Abgrenzung vom männlich konnotierten Denkstil der »mainstream music theory« entwickelte sich ein zweiter, der Impulse aus feministischer Kritik erhalten hatte. (Maus 1993, 267f.) Marginalisierungen kritischer 129

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Beiträge sieht Maus weniger durch das soziale Geschlecht der Diskursierenden begründet (da die Kritik von Frauen wie von Männern ausging), sondern mit der neuen argumentativen Weise, Sprachwelten hervorzubringen, die mit ›weiblichen‹ Fragen assoziiert wurde. (Maus 1993, 267f.) Mehr als ein Vierteljahrhundert später hingegen sind heute oberflächlich kaum noch Marginalisierungen sichtbar, wenn etwa dezidiert Aufsatzsammlungen publiziert werden, durch die eine »kritische Masse« an Analysen der Musik von Komponistinnen erzeugt werden soll (Parsons/Ravenscroft 2016 und 2019) oder Musiktheorielehrer_innen im Internet Unterrichtsbeispiele aus Kompositionen von Frauen bereitstellen, durch welche die Inhalte musiktheoretischer Lehre ebenso gut veranschaulicht werden können wie durch die seit Jahrhunderten in der Lehre erprobten von männlichen Komponisten. (Murdock/Parsell 2017‑ ongoing) Dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass manche Fragen, die eigentlich gestellt werden müssten, kaum artikuliert werden oder – falls doch – kaum im Fachdiskurs aufgegriffen werden. Mit besonders drastischen Worten wiesen die Autorinnen des Beitrags »Teaching Silence in the Twenty-First Century  : Where are the Missing Women Composers  ?« (Prevost, Francis 2018, bezeichnenderweise erschienen in The Oxford Handbook of Music Censorship) auf eine Lücke in musikgeschichtlicher Lehre hin. Doch auch wenn über Komponistinnen in Fachzeitschriften berichtet oder in wissenschaftlichen Projekten geforscht wird, werden häufig – wie etwa gerade am Beispiel zeitgenössischer Komponistinnen deutlich werdend  – in eigentlich wohlwollend gemeinten Komponistinnenportraits Geschlechterklischees perpetuiert und »die Figur der Komponistin diskursiv so konstruiert, dass sie nur als Kontrastfolie ex negativo zur Figur des Komponisten funktioniert.« (Treydte 2017, 18) Umgekehrt geraten derartige Genderdiskurse in Schieflage zur tatsächlichen Situation der Komponistinnen im gegenwärtigen Konzertbetrieb  : Die musikwissenschaftliche Genderforschung, die nicht zuletzt durch den Willen zur gesellschaftlichen Veränderung motiviert war und ist, muss ihren »politischen Stachel« verlieren, wenn von ihren Narrativen kein emanzipatorischer Impetus ausgeht. (Holzer 2019, 286) Ein Sammelband, der die Frage von Gender und Neuer Musik erstmals systematisch angehen und aus intersektionaler Perspektive Ein- und Ausschlussmechanismen diskutieren wird, soll im August dieses Jahres erscheinen. (Grund/Noeske [2020] im Druck) Eine besondere Funktion besitzen vor diesem Hintergrund strukturanalytische Praktiken, ist es doch die Musik, die überhaupt der Anlass ist, um über ihre Urheber_innen zu schreiben  : Wie kann sichergestellt werden, dass das an der Musik ›westlicher männlicher Heroen‹ geschärfte musikanalytische Instrumentarium seine inhärente Ästhetik nicht auch der Musik von Komponistinnen 130

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einschreibt  ? (Huber 2008, passim) Wie kann der Forderung Nachdruck verliehen werden, dass strukturanalytische Argumentationen als Mittel der Evidenz in Kompositionsgeschichtsschreibung oder Musiker_innenbiographik einer fast noch stringenteren Epistemologie bedürfen als im überschaubaren Bereich musikanalytischer Methodik  ? Wie kann das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass das Herstellen von kausalen, konditionalen, modalen oder transitiven Relationen (Zembylas 2019) durch wissenschaftlich Forschende ein Akt der Sinnstiftung ist, der reflektiert gehört, damit nicht das musikanalytische ›Bezeugen‹ kompositorischer Fertigkeit zur hermeneutischen ›Bevormundung‹ der Komponistinnen_Komponisten durch die Analysierenden wird  ? (Huber [2020b] im Druck)

Ungewordene Sprachwelten Im Lichte des bis hierher Ausgeführten gibt das Metaxy in der Figur des Chiasmas von Alice Pechriggl Anlass, nicht nur Bedingungen des analytischen Sprechens über Musik, sondern auch das Unterlassen von Sprechhandlungen zu thematisieren. Dreiecksrelationen wie in semiotischen Zeichentheorien wie etwa bei Charles Sanders Peirce zwischen Signifikant, Objekt und Interpretant oder auch – wie bereits erörtert – zwischen Analysierenden, Analysegegenständen und den Sprachwelten des Musikanalysierens gehen in der Regel davon aus, dass im Umgang mit Zeichenhaftem stets etwas zu äußern ist  : Drei einfache Zweierrelationen wie a) die Beziehungen zwischen Analysierenden und Analysegegenstand durch ihre Wahrnehmungen von diesem und b) zwischen Analysierenden und den von ihnen hervorgebrachten Analysen sowie c) zwischen Musikstrukturen und den Abstraktionen in der Analyse umschließen gewissermaßen mögliche Sprachwelten des Musikanalysierens.

Abb. 2 Dreiecksrelation Subjekt | Objekt | Sprachwelt

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Abb. 3  : Anwendung der Figur Chiasma | Metaxy nach Alice Pechriggl

Wenn jedoch zu diesen drei Komponenten eine vierte gesucht werden soll, um zwei distinkte Begriffspaare zu erhalten, die – wie von Pechriggl vorgeschlagen – »horizontal korrespondierend« und »vertikal entgegen« gesetzt werden können, müssten zunächst die Analysierenden mit dem Analysegegenstand in Verbindung gebracht werden, denn dieser ist überhaupt erst der Anlass für ihr Analysieren. Vertikal muss der analysierten Musik ihre Analyse in einem stets zu diskutierenden Verhältnis gegenüberstehen. Auf korrespondierender Ebene kann dem, was durch eine Analyse ausgesprochen wird, das als viertes Element zur Seite treten, was unsagbar ist oder unausgesprochen bleiben soll. Dabei bleibt die Relation Analysierende/Analyse (wie vorher in der Dreieckskonstellation) auch in der Kreuzstellung erhalten – allerdings in einem Verhältnis, das jeweils im Einzelfall erprobt werden muss  : Neben Opposition oder Korrespondenz könnten sich auch andere mehr oder weniger spannungsreiche Relationen ergeben. Die im Chiasma neu hinzukommenden ›ungewordenen‹ Sprachwelten werfen jedoch einen ganzen Katalog von Fragen auf, wie diese nicht zur Welt kommen konnten. Die Gründe, warum strukturanalytische Sachverhalte nicht benannt werden, können vielfältig sein  : Zum einen kann dies auf epistemologische Stringenz zurückgeführt werden, wonach etwas aus den bis dato ausgeführten Gründen nicht gesagt werden kann. Dann handelte es sich um ein bewusstes Unterlassen von Äußerungen – wie etwa im Fall von Hans Keller – im Sinne einer intentionalen, wenngleich negativen Sprechhandlung. Eine um (natur-) wissenschaftliche Exaktheit und Objektivität bemühte Musikwissenschaft wiederum möchte vielleicht zu manchen Aspekten gar nichts sagen, um die angestrebten wissenschaftlichen Ideale nicht zu kompromittieren – wie etwa Allen D. Forte, dessen Sprachwelt verrät, dass er sich an epistemischen Werten 132

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orientiert, die kontextuelle Werte14 (wie moralische, soziale, politische, kulturelle) auszuklammern versuchen (Reiss/Sprenger 2017), obwohl diese für den Wissenschaftsbetrieb sehr wohl relevant sind – man denke nur an Ethikkommissionen, die über die Zulässigkeit bestimmter Forschungsprojekte befinden müssen. Zum anderen könnten aber auch Sprech-/Schreibhandlungen unterbleiben, weil sie den Sprecher_innen bzw. Schreiber_innen bei aller Berechtigtheit als nicht opportun erscheinen  – eben weil sie fürchten müssen, dass sie (wie nicht nur von Fred Maus beobachtet) marginalisiert oder aus dem Diskurs ausgeschlossen werden könnten. Genau das ist seit den 1990er Jahren der Forschungsbereich von feministischen Sozialepistemolog_innen in Nordamerika (Grasswick 2018)  : Ebenso wie in der Sozialepistemologie untersuchen sie (in Abgrenzung von Epistemologien einzelner forschender Individuen) die Bedingungen, unter denen Forschende Erkenntnisziele mit Hilfe oder aber auch »im [mehr oder weniger kritischen] Angesicht« eines Kollektivs15 erreichen können (Goldman/O’Connor 2019)  ; allerdings kommt mit den feministischen Anliegen – wie zu erwarten – auch die Frage nach dem Faktor Gender hinzu und damit nach Möglichkeiten zur Teilhabe am Fachdiskurs sowie die Frage nach Hierarchien und Machtausübung in Wissenskollektiven und Institutionen. Demgemäß ist eine Gemeinschaft von Forschenden nur dann objektiv (!) und dazu berechtigt, ihre Forschungsergebnisse als Wissen zu bezeichnen, wenn sie von der Gleichheit der intellektuellen Autorität ihrer Mitglieder ausgeht  ; nur dies und die gleichberechtigte Möglichkeit zur Teilhabe am Diskurs sichert die Validität von Theorien durch ihre demokratische Legitimation im Wege des wissenschaftlichen Diskurses. Zudem muss vorausgesetzt werden können, dass Kritizismen (auch und gerade von Minderheiten) ernstgenommen werden, sodass gegebenenfalls Paradigmen der Forschung neu gefasst werden können. Dazu bedarf es öffentlicher Austragungsforen und Transparenz, was die öffentlich auszuverhandelnden Standards der Evaluation betrifft. (Reiss/Sprenger 2017) Diese Punkte umreißen die Forderung nach einem Transformative Criticism nach Helen  E.  Longino16 (wobei ein philosophischer Kritizismus17 keinesfalls mit dem oben erwähnten »musical criticism« verwechselt werden darf ). Mit diesem Anspruch sind die Vertreter_innen der feministischen Sozialepistemologie mittlerweile in der Mitte der philosophischen Debatten um Objektivität und Wissenschaftlichkeit von Forschung angelangt, was sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass die Nennung von Longinos Transformative Criticism im Stichwortartikel »Scientific Objectivity« der Stanford Encyclopedia of Philosophy ohne das Attribut feministisch auskommt. (Reiss/Sprenger 2017) 133

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Aus der Perspektive der feministischen Wissenschaftsphilosophie ergeben sich dieselben Kritikpunkte, die den Beobachtungen von Fred Maus im nordamerikanischen musiktheoretischen Diskurs der 1980er und 1990er Jahre (s. o.) entsprechen  : Bestimmte Argumentationsstile sind  – ungeachtet der Forschungsfrage  – ›weiblich‹ konnotiert und werden im Mainstream marginalisiert  ; die epistemische Autorität der so Argumentierenden wird in Frage gestellt. (Anderson 2020) Wie solche Ausschlussmechanismen funktionieren können, hat jüngst Andrea Hamp (2017) am Beispiel einer soziologischen Theoriedebatte untersucht. In Anknüpfung an Bourdieus Theorie des symbolischen Kapitals extrahiert sie aus dem Fachdiskurs Argumentationsstrategien, denen ein »praktischer Sinn« – so der Titel ihrer Studie – innewohnt  : So beobachtet sie etwa, dass kritikwürdige Punkte paradoxerweise dadurch vor Einwänden geschützt werden können, dass ›diskutierend nicht diskutiert‹ wird, d. h. die scheinbar kritische Diskussion so geführt wird, dass die Diskussion »zur Sache« durch eine ersetzt wird, warum nicht »zur Sache« diskutiert werden kann. (Hamp 2017, 338) Dies ist häufig zu beobachten, wenn etwa redundant allein schon über die Voraussetzungen einer Frage diskutiert wird, sodass schließlich die eigentliche Frage verwässert, verzögert, marginalisiert oder überhaupt nicht erörtert wird. Andere »Sinnformen« weisen demgegenüber sogar eine merkliche Aggressivität18 auf, wenn kritische Positionen öffentlich getadelt, abgewertet/zurückgewiesen, diffamiert und oder gar bedroht/konfrontiert werden, um sie schließlich aus dem Diskurs zu verdrängen und durch weniger kritische zu ersetzen. (Hamp 2017, 339) Auf dieser sehr subtilen, scheinbar rein fachimmanenten Ebene werden mit den abgewehrten Standpunkten auch deren Verteidiger_innen aus dem Diskurs ausgegrenzt. Diese Sinnformen verdichten sich zu Argumentationspraxen, die sich im scheinbar neutralen wissenschaftlichen Diskurs zu Logiken der Ermöglichung oder Verhinderung zusammenschließen. Das in Longinos Transformative Criticism entworfene Ideal einer tatsächlich objektiven, weil nichtdiskriminierenden Forschungspraxis auf breiter Basis aller Forschenden zeigt auch hier, wie viel noch erreicht werden muss. Solange es also noch notwendig ist, Handbücher über epistemische Ungerechtigkeit (Fricker 2007) herauszugeben, über Epistemologien der (kalkulierten) Ignoranz (Alcoff 2007) zu forschen, Begriffe wie »prekäres Wissen« zu prägen und als Gegenstand ideengeschichtlicher Forschung zu erschließen (Mulsow 2012), müssen auch Nachwuchs-Musiktheoretiker_innen damit rechnen, dass solch ein »praktischer Sinn« ebenso den für die Musikanalyse relevanten Fachdiskursen innewohnt, der letztlich über (Un-)Möglichkeiten zur 134

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Teilhabe daran und damit über Karrieren entscheidet. Im Bereich der ungewordenen Sprachwelten ist es naturgemäß schwer, Untersuchbares aufzuspüren oder Fachvertreter_innen zu finden, die sich zu nachträglich sanktionierten oder vorsorglich unterlassenen Sprechhandlungen äußern würden. Wer aber im persönlichen Umfeld verfolgt, welche Dissertationsprojekte kritische Fragen an ehemals kritische Fachdiskurse versprachen und (trotz wirtschaftlich vorteilhafter Arbeitssituation) schließlich ungeschrieben bleiben19 oder welche (eben wegen ihrer konsequent unbequemen Erkenntniskritik) höchst angesehenen Genderforscherinnen sich bis zu ihrem Ruhestand von einem unsicheren (durchaus ausbildungsentsprechenden) Beschäftigungsverhältnis zum anderen hangeln müssen, wird auch nicht überrascht sein, wenn 2019 noch (oder wieder  ?) das Vortragsproposal einer Nachwuchswissenschaftlerin mit folgender Begründung abgelehnt werden kann  : »But trotting out the tired categories such as gender as a criterion for examination [of a certain piece of music] does not advance the case  ; indeed it weakens it.«20 Lebenspraktische Konsequenzen wissenschaftlichen Tuns. Von einer Dunkelziffer ist auszugehen. Diotimas Sprachwelt um die Daimonik ihres Metaxy schließlich kann zwar nicht gerade als ›ungeworden‹ bezeichnet werden  ; die Bedingungen ihres Werdens waren und sind jedoch bis in unsere Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Debatten, die nicht unabhängig von Diotimas sozialem Geschlecht verstanden werden können  : Ebenso wenig wie Sokrates hinterließ sie Schriften aus eigener Feder  ; was sie und Sokrates gesagt haben sollen, überlieferten andere. Immerhin starb Sokrates einen so spektakulären Tod, über den in nicht nur einer Quelle so ausführlich berichtet wurde, dass kein Zweifel an seiner tatsächlichen Existenz besteht. Anders Diotima  : Über sie wurde zunächst bis ins 15. Jahrhundert wie über eine historische Persönlichkeit berichtet  ; erst als der Florentiner Philosoph Marsilio Ficino (1433–1499) es für unvorstellbar hielt, dass eine Frau Sokrates belehrt haben könnte, stand im Raum, dass es sich bei Diotima um eine fiktive Figur gehandelt haben könnte. (Waithe, 1987, 106) Wenn wir aber davon ausgehen dürfen, dass Platon das, was sein Lehrer Sokrates gesagt hatte, so getreu wie möglich überliefert hat, ist bemerkenswert, dass er Sokrates’ durch Diotima gewonnenen Standpunkt zu Eros sogar zweimal mitteilte  : einmal um zu zeigen, wie Sokrates im Dialog mit Agathon diesen ebenso davon überzeugte, und unmittelbar anschließend ein zweites Mal  – gewissermaßen als Quellenangabe –, um darzutun, wie Diotima ihn in gleicher Weise zum selben Thema befragte. »Es scheint mir nun am einfachsten zu sein, es so darzulegen, wie es die Fremde damals darlegte, indem sie mich befragte.« (Platon 2012, 79) 135

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Abb. 4 Diotima, Eros und Sokrates21, aus  : Otto Jahn, Platonis symposium, in usum scholarum, Bonn 1875, 128

Es ist dieser Abschnitt, in dem Sokrates Diotimas Praxis der Befragung erläutert, die gemeinhin ihm selbst zugeschrieben wird  : Aus ihr entsteht eine Sprachwelt, die im Dialog (ganz bildhaft) Erkenntnis ans Licht bringt, wenn Diotima  – einer Hebamme gleich  – Sokrates keine »fertige[n] Kenntnisse übermittel[t], sondern ihn durch geeignete Fragen auf den Weg der eigenen Erkenntnis bring[t].« (Burkard 1999a, 343) Genau genommen wird bei Platon Diotimas Metaxy sogar ein drittes Mal ausgeführt  : Nach ihrem Dialog mit Sokrates lässt er sie noch einmal monologisch ihre Einsicht in das Wesen des Eros und sein daimonisches Streben im Metaxy zusammenfassen. Zumindest an Platons Autorintention der dreifachen Mitteilung kann daher also kein Zweifel bestehen  : Er nimmt weder Sokrates’ Standpunkt für sich selbst in Anspruch, noch schmälert er Sokrates’ Verweis auf Diotima als dessen ›Quelle‹. Dessen ungeachtet wird in der wissenschaftlichen 136

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Literatur Diotimas Autorität als mögliche Erzeugerin einer Sprachwelt relativiert – anschaulich nachzuvollziehen in Diskursen darüber, ob Diotima eine fiktionale oder historische Figur war, ob ihr Name als Beiname für eine andere Frau (etwa Perikles’ Gefährtin Aspasia) zu verstehen ist oder ob auf Darstellungen wie der hier wiedergegebenen sie selbst oder eine andere Frauenpersönlichkeit (Aphrodite etwa) zu sehen sein soll.

Conclusio Die Musik gehört zu dem Unbeschreiblichsten, das Musikanalysieren aber ist das Beschreiben des Unbeschreiblichen, so dass Musikanalysierende notwendig philosophierende Sprachweltenerzeuger_innen sind. Als Sprachwelten erzeugende Philosoph_innen aber befinden sie sich zwischen Konstruktivismus und Positivismus (Diotima von Mantineia – musikanalytisch abgewandelt [2020 n.Chr.]) Wenn wir uns also fragen, wie Diotimas Metaxy-Denken Sprachwelten des Musikanalysierens inspirieren könnte, wären folgende Impulse denkbar  : • Generell müssten Analyseprojekte bewusst fragenorientiert (und weniger auf ein ultimatives Erkenntnisziel gerichtet) durchgeführt werden  : Analytisch erbrachte Befunde sollten nicht als endgültige Ergebnisse vorgestellt werden, sondern als vorläufige Produkte eines Erkenntnisprozesses, der von einer oder mehreren Fragen ausgegangen ist, deren Sinnhaftigkeit sich im Verlauf der Durchführung erst erweisen muss. Wenn Fragen offen bleiben und neu formuliert werden müssen, ist das ebenso wie die Gründe dafür ein nennenswerter Befund. Ein Ergebnis ist nicht ohne die Modi seiner Erzeugung zu denken. • Das Fragenstellen ist als eine Praktik zu denken, die daraufhin untersucht werden können muss, wie sie durchgeführt wird. Dazu gehört eine Art ›Kom­patibilitätsprüfung‹  : Welche Fragen können überhaupt an einen Ana­ ly­segegenstand gerichtet werden  ? Oder umgekehrt formuliert  : Ist ein ins Auge gefasster Analysegegenstand für eine besondere Art der Fragestellung geeignet  ? Darüber hinaus entspringen Fragen häufig mehr oder weniger entfernten Theoriegebäuden anderer Disziplinen (vgl. oben die Beispiele aus Feministischer Theorie oder Semiotik)  : Lassen sich Konzepte umstandslos auf musikstrukturanalytische Verfahren übertragen  ? In welcher Weise könnten 137

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sie neu konzipiert werden, damit eine Adaption sinnvoll wird  ? Was ist schlichtweg inkompatibel  ? Dies alles muss Teil eines generellen Kritizismus sein, durch den geklärt wird, was wahrnehmende Individuen überhaupt von Musik ›wissen‹ und darüber sagen können, um damit ihre Erkenntnis zu rechtfertigen und dadurch erst zum Wissen werden zu lassen. Äußerliches Anzeichen dafür wäre etwa, dass Aussagen über vermeintliche Eigenschaften des analysierten Objekts mit Aussagen über die eigene Wahrnehmung des analysierenden Subjekts verwechselt werden. (Huber 2019, 227) • Die daraus erwachsenden Sprachwelten müssen dementsprechend gestaltet werden   : Konstative Sprechakte sollten vermieden werden, wenn sich mit ihnen kein Sachverhalt verbindet, der eindeutig als wahr oder falsch beurteilt werden kann (Huber 2019, 236)  ; sie sollten durch performative Sprechakte ersetzt werden, die auf ihre Angemessenheit hin untersucht werden können. Ebenso müssen Argumentationen in sich schlüssig sein, wobei Kontextualisierungen der analytischen Ergebnisse als untersuchbare Relationen gedacht werden müssen. (Zembylas 2019) • Den forschenden Individuen muss bewusst sein, dass sie eine epistemische Funktion im Erkenntnisprozess besitzen  : Ihre Ich-Aussagen dürfen nicht als ›unwissenschaftlich‹ abqualifiziert werden, wenn sie damit Auskunft über die Bedingungen ihrer Wahrnehmung geben. Fragen stellen wir uns nicht nur selbst, sondern auch für- und aneinander im Wissenskollektiv  ; es handelt sich dabei also um eine soziale Praxis. Wissenschaftliche Werte sind demgemäß nicht pauschal in »kognitive« (mutmaßlich ein undifferenziertes Ideal von ›Objektivität‹ gewährleistende) und »kontextuelle« (Wissenschaftlichkeit möglicherweise kompromittierende) zu scheiden. Bei ihnen handelt es sich vielmehr variable ›Sets‹ von Standards der Theoriebewertung, die  – nach Thomas S. Kuhn – von Zeit zu Zeit im Wissenskollektiv neu ausverhandelt werden. (Reiss/Sprenger 2017) • Die mäeutische Methode des Befragens ist auch in musikanalytischer Lehre nützlich, wenn Lehrende keine Fragen formulieren, die vereinfachende Antworten provozieren, die lediglich als richtig oder falsch beurteilt werden können, sondern Analyseaufgaben stellen, die das Fragen, Begründen und Argumentieren fördern – wenn zum ›Wissen was‹ das ›Wissen wie‹ tritt. In einer Hinsicht sollten wir uns jedoch Diotima nicht als Beispiel nehmen  : Als Priesterin vermittelt sie zwischen höherstehenden Gottheiten und den ihnen untergebenen Menschen. In einer gleichberechtigt partizipatorischen Wissensgesellschaft darf es solche Hierarchien nicht geben. 138

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Anmerkungen 1 Sir Donald Tovey (1875–1940), war ein englischer Musikgelehrter, Komponist und Pianist. Er verfasste eine stattliche Anzahl an Einführungen zu Konzertprogrammen, die später zu einem Sammelband »Essays in Musical Analysis« (London 1935–39) zusammengefasst wurden. Tovey schreibt – auch in seinen Artikeln für die Encylopaedia Brittanica – stets gestützt auf musikanalytische Beobachtungen, was ihm so große Anerkennung eingetragen hatte, dass sein Name in einschlägigen wissenschaftlichen Lexikonartikeln zur Musikanalyse genannt wird. Seine pointierte Schreibweise gilt als beispielhaft für die antidogmatische britische Haltung des analytischen Schreibens seiner Zeit (vgl. Tilmouth 2001). 2 Allen D. Forte (1926–2014) war einer der einflussreichsten nordamerikanischen Musiktheoretiker des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Buch »The Structure of Atonal Music« (1973) legte er den Grundstein dafür, dass die sogenannte Pitch-Class Set Analysis in die akademische Lehre eingeführt werden konnte. Unter Pitch-Class Set Analysis wird eine musikmathematische Methode verstanden, bei der die zwölf Töne der gleichstufig unterteilten Oktave durch Ziffern ersetzt (0=c, 1=cis, 2=d etc.) und ihre Relationen zu einander in Kategorien der Mengenlehre untersucht werden. Dadurch werden atonale Tonkonstellationen analysierbar, die nicht mit dur/ moll-tonalen Systemen zu erfassen sind. 3 Guck analysiert Fortes Artikel »Motive and Rhythmic Contour in the Alto Rhapsody«, in  : Journal of Music Theory 27 (1983), 255–271. 4 Carl E. Schachter (*1932) ist ein nordamerikanischer Musiktheoretiker und gilt als der einflussreichste Schenkeranalytiker nach Heinrich Schenker (1868–1935) selbst. Schenker war ein österreichischer Musiktheoretiker und Komponist, der in Wien wirkte und dort auch starb. Zahlreiche Schüler Heinrich Schenkers waren jüdischer Abstammung und wanderten während der nationalsozialistischen Herrschaft nach Nordamerika aus, wo sie weitreichend zur Verbreitung der Methode ihres Lehrers beitrugen. Schenkers Methode wird auch als Reduktionsanalyse bezeichnet  : Reduziert wird dabei die Gesamtheit der Töne einer Komposition mit dem Ziel, einen sogenannten Ursatz zu extrahieren, durch den auch großräumig harmonische Zusammenhänge herausgearbeitet werden können. Schenker entwickelte zu diesem Zweck eine besondere, aus Notenschrift abgeleitete Schreibweise – die sogenannten Graphen –, durch welche die schrittweise Reduktion vom Vordergrund der Komposition zum Hintergrund des Ursatzes visualisiert werden kann. (Beispiele finden sich im Internet nach einfacher Google Suche zuhauf.) Trotz ihrer Anschaulichkeit brauchen diese Graphen erläuternde Sprachwelten. 5 Guck analysiert Schachters Artikel »The First Movement of Brahms’s Second Symphony  : The First Theme and its Consequences«, in  : Music Analysis 2 (1983), 55–68. 6 Edward  T.  Cone (1917–2004) war ein nordamerikanischer Musikwissenschaftler, Musiktheoretiker und Komponist. Als sein wichtigstes Buch gilt »The Composer’s Voice« (1974), in welchem er davon ausgeht, dass Musik eine Sprache und eine Komposition eine symbolische Äußerung sei, auf die das Bewusstsein des Komponisten projiziert wird und aus der gleichsam seine Stimme spricht. 7 Guck analysiert Cones Artikel »Schubert’s Promissory Note  : An Exercise in Musical Hermeneutics«, in  : 19th-Century Music 5/3 (1982), 233–241. 8 Dass solch eine Untersuchung im gegebenen Umfang eines Artikels nicht geleistet werden kann, versteht sich von selbst.

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9 Heinrich Christoph Koch (1749–1816) war ein thüringischer Musiker, Musiktheoretiker und Komponist. Sein dreibändiger »Versuch einer Anleitung zur Composition« (1782, 1787, 1793) bietet Einblicke in die kompositorische Praxis gewissermaßen ›von innen heraus‹ und ist für heutige wissenschaftliche Analysen von Kompositionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts sehr nützlich. 10 Definitionen von »Sprache« diverser Wissenschaftsdisziplinen thematisieren mit ihren Definitionen schon gleich jene Fragen mit, die sich jeweils disziplinenspezifisch ergeben  ; in diesem Beitrag wird jene Definition herangezogen, die auf die meisten Kontexte übertragbar ist. 11 Von solch einer Diskrepanz geht die heute vielfach auf Musik des 17. und 18. Jahrhunderts angewandte Figurenlehre aus. Sie ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts und beruht auf fehlerhaften Quellenwürdigungen. Besonders anschaulich kann dies am Beispiel des sogenannten »passus duriusculus« ausgeführt werden, der als Sachverhalt in akademischer Lehre unserer Zeit gekannt werden muss  : Sein Erfinder, Christoph Bernhard (1627/28–1692), verwendete ihn einmalig in einem Manuskript, um satztechnische Besonderheiten über einem chromatisch absteigenden Bassgang zu erläutern. Für die Lehre des 20./21. Jahrhunderts blieb(en) jedoch nur der chromatische Bassgang, nicht die satztechnischen Besonderheiten übrig. Danach greift Bernhard den Begriff nicht wieder auf  ; in anderen zeitgenössischen Quellen wird er nicht verwendet. Ins Licht der Öffentlichkeit tritt der »passus duriusculus« erst, als sein Traktat 1926 zum ersten Mal veröffentlicht wird, um eben zum analytischen Werkzeug der frisch erfundenen musikwissenschaftlichen Figurenlehre zu werden (vgl. Janina Klassen (2001), Musica Poetica und Musikalische Figurenlehre  : Ein produktives Mißverständnis, in  : Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz. Berlin. 73–83). 12 Im »Oxford Handbook of Topic Theory« (2014) werden »topics« definiert als »musical styles and genres taken out of their proper context [!] and used in another one« (Mirka 2014, 2). Die Topic Theory entwickelte sich im angelsächsischen Raum im Gefolge von Leonard G. Ratner (1916– 2011) durch Raymond Monelle (1937–2010), Wye J. Allanbrook (1943–2010), Robert S. Hatten (*1952), Kofi V. Agawu (*1956). (Diese Topic Theory darf weder mit Theorien musikalischer Topoi im deutschen Sprachraum noch mit musikmathematisch inspirierten Topos-Theorien verwechselt werden.) In Danuta Mirkas Vorwort des »Oxford Handbooks« wird betont, dass darin weniger der Stand der Forschung zusammengefasst wird, als vielmehr Standards für zukünftige Forschung etabliert werden. So liest sich das Vorwort von Danuta Mirka zunächst wie eine Auflistung all dessen, was vorher berechtigterweise an Kritik vorgebracht worden war – dass nämlich der Begriff »topic« keine Grundlage in Musiktheorie, Ästhetik oder sonstigem Musikschrifttum des achtzehnten Jahrhunderts hätte. Dem wird dadurch begegnet, dass Ratners Konzeption von »topics« mit der Vorstellung des musikalischen Charakters nach Johann Georg Sulzer (1720–1769) in Verbindung gebracht wird, wodurch »topics« ein semiotisch verwertbarer Status verliehen werden soll. Davon ausgehend wird der Kreis mit der barocken Affektenlehre und den rhetorischen loci topici bei Johann David Heinichen (1683–1729) und Johann Mattheson (1681–1764) geschlossen (Mirka 2014, 1). Unabhängig davon, ob man dieser Aneinanderreihung folgen will oder nicht, bleibt problematisch, dass »meaning and expression« nur im Doppelpack zu bekommen sind  : Die angeblich verifizierbare Bedeutung eines »topics« wird durch dieses selbst ausgedrückt  ; der Beweis, dass die Bedeutung eines rein musikalischen Zeichens (d. h. ohne sprachliche oder andere Beigaben) in ihm selbst liegt, und dass die ›Bedeutung‹, die

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ein_e Komponist_in mit ihm verknüpft, dieselbe ist, wie sie Musikanalysierende entschlüsselt haben wollen, ist noch nie schlüssig (!) gelungen. 13 Adolph Bernhard Marx (1795–1866) war ein deutscher Musikwissenschaftler, Musiktheoretiker und Komponist, dessen »Lehre von der musikalischen Komposition« (1837–1847) bis in unsere Zeit die meist rezipierte im deutschsprachigen (und mit Einschränkungen auch im angelsächsischen) Raum werden sollte. Allerdings diente sie dabei weniger als Kompositionslehre, sondern als ›Steinbruch‹ für lehrbare Konzepte der akademischen Formenlehre und -analyse. Dabei kam es aber zu einigen Sinnverschiebungen, so dass Marx’ Absichten in heutiger Lehre nicht immer erkennbar geblieben sind (vgl. Huber [2020c] im Druck). Vieles in seiner Kompositionslehre verdankt sich seiner Bewunderung für das Werk Ludwig van Beethovens. Sein für die Theorie musikalischer Zeichen interessantestes Buch ist »Über Malerei in der Tonkunst. Ein Maigruß an die Kunstphilosophen« (1828). 14 Das Ideal der Wertfreiheit in der Wissenschaft ist paradoxerweise an sich schon ein Wert. Es beruht darauf, dass epistemische (oder  : kognitive) und kontextuelle Werte voneinander unterschieden werden können. Epistemische Werte gelten in der Regel als positiv, weil sie wissenschaftliche Objektivität sicherstellen sollen  ; kontextuelle Werte wie persönliche Überzeugungen werden indes von manchen Forschenden als Bedrohung für wissenschaftliche Objektivität gesehen (Reiss/Sprenger 2017). Denkt man diesen Gedanken jedoch zu Ende, entpuppt sich das Ideal der Wertfreiheit als Utopie, wenn schon allein die scheinbar ›neutrale‹ Entscheidung für oder gegen einen Untersuchungsgegenstand ein Werturteil über seine Relevanz ist. 15 Vgl. auch Michael Brady, Miranda Fricker (Hg.) (2016), The epistemic life of groups. Essays in the epistemology of collectives. Oxford. 16 Helen E. Longino (*1944) ist eine nordamerikanische Philosophin, Wissenschaftstheoretikerin und Lehrstuhlinhaberin an der Stanford University. Als Wissenschaftstheoretikerin verbindet sie Anliegen der Wissenssoziologie mit denen der analytischen Philosophie im Bereich der Epistemologie. Schon in ihren ersten Arbeiten begleiten Genderfragen ihr sozialepistemologisches Denken. Für ein Netzwerk von vielen Gleichgesinnten bildet ihre Arbeit die Grundlage für die feministische Sozialepistemologie  ; davon ausgehend drang sie so tief in die allgemeinen Grundlagen wissenschaftlicher Epistemologie ein, dass sie sich schon den Vorwurf gefallen lassen musste, dass ihre Arbeit nichts mehr mit feministischen Anliegen zu tun hätte. Besonders zu nennen ist »Science as Social Knowledge  : Values and Objectivity in Scientific Inquiry« (1990) und »The fate of Knowledge« (2002). Eine Zusammenschau findet sich hier  : Helen E. Longino, The Social Dimensions of Scientific Knowledge, in  : Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy https://plato.stanford.edu/archives/sum2019/entries/scientific-knowledge-social/ [1.5.2020]. 17 Ein philosophischer Kritizismus ist ein »von Kant eingeführtes wissenschaftlich-philosophisches Verfahren, vor der Aufstellung eines philosophischen oder ideologischen Systems die Möglichkeit, Gültigkeit und Gesetzmäßigkeit sowie die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens zu kennzeichnen«. https://www.duden.de/rechtschreibung/Kritizismus [1.5.2020]. 18 Ein musikwissenschaftliches Beispiel für den »praktischen Sinn« eines Fachdiskurses  – zwar ohne Genderaspekt, dafür aber von bemerkenswerter Aggressivität  – war (unabhängig davon, wer nun musikwissenschaftlicherseits mehr oder weniger Recht hat) die Art und Weise, wie das deutschsprachige Imperium zurückschlug, nachdem Boris von Haken 2009 auf Lücken in der Biographie von Hans Heinrich Eggebrecht (1919–1999)  – einem der ›Gründerväter‹ der

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deutschsprachigen Nachkriegsmusikwissenschaft – hingewiesen hatte, die die Frage aufwarfen, inwiefern dieser 1941 in Kriegsverbrechen verwickelt gewesen sein könnte (vgl. https://www. zeit.de/2013/29/hans-heinrich-eggebrecht-feldgendarmerie-aufarbeitung/ [30.40.2020] und Anne C. Shreffler, Boris von Haken, Christopher Browning (2012), Musicology, Biography, and National Socialism  : The Case of Hans Heinrich Eggebrecht, in  : German Studies Review 35/2, 289–318). 19 In Dokumentationen von Dissertant_innen-Symposia kann nachgelesen werden, welche vielversprechenden Vorträge Abstracts geblieben und nicht zur Dissertation ausgereift sind (vgl. Juri Giannini, Katharina Bleier, Michael Gerzabek, Annegret Huber (Hg.) (2014), Auf/be/zu/ ein/schreiben. Praktiken des Wissens und der Kunst (Kongressbericht über das Internationale kulturwissenschaftliche Symposion für DissertantInnen, 23. – 26. März 2011, an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien). Wien). 20 Zitiert nach einem anonymen Gutachten, mit dem das Proposal für den Vortrag einer Nachwuchswissenschaftlerin abgelehnt wurde. Im Proposal war die Weiterentwicklung einer Fragestellung angekündigt worden, die bereits ein Jahr vorher die Peer Review einer der größten internationalen musikwissenschaftlichen Standesvertretungen durchlaufen hatte und daraufhin zum Vortrag akzeptiert worden war. Neben der im hier zitierten Gutachten und dort explizit kritisierten Genderthematik (historische Rezeption einer Komposition eines ›Großmeisters‹ durch Pianistinnen) wird im Forschungsprojekt der Dissertantin auch diskutiert, warum eben jenes fokussierte Werk in der musikanalytischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts so eklatant unerforscht geblieben ist. Dieser viel wichtigere Aspekt wurde als Ablehnungsgrund nicht einmal artikuliert, obwohl das Desideratum der Untersuchung der Komposition als solcher im Gutachten durchaus anerkannt worden war. 21 Die abgebildete Vignette findet sich in einer lateinisch kommentierten wissenschaftlichen Ausgabe von Platons Symposium aus dem 19. Jahrhundert (Otto Jahn, Platonis symposium, in usum scholarum, Bonn 1875). Sie geht auf ein Bronzerelief zurück, das eine Truhe aus der Casa dei Capitelli Figurati in Pompeji (VII  4,57) schmückte und in den 1830er Jahren entdeckt worden war. Der Herausgeber, Otto Jahn (1813–1869), war nicht nur Philologe, sondern auch Archäologe und als solcher der erste, der das Bronzerelief nach seiner Entdeckung beschrieb, interpretierte und zu der Auffassung gelangte, dass es sich um Diotima, Eros und Sokrates handeln musste (vgl. Otto Jahn (1841), Socrate et Diôtime. Bas-Relief de Bronze, in  : Annales de l’Institut Archéologique XIII/3–4, 272–296).

Literaturverzeichnis Linda Martín Alcoff (2007), Epistemologies of Ignorance  : Three Types, in  : Shannon Sullivan, Nancy Tuana (Hg.), Race and Epistemologies of Ignorance. Albany, 39–57 Emmanuel Alloa (2012), Metaxy oder  : Warum es keine immateriellen Medien gibt, in  : Gertrud Koch, Kirsten Maar, Fiona McGovern (Hg.), Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien. München, 13–34 Elizabeth Anderson (2020), Feminist Epistemology and Philosophy of Science, in  : Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy

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Annegret Huber

Bildnachweis Abb. 1 Visualisierung der Figur Chiasma | Metaxy nach Alice Pechriggl. Quelle  : Eigene Darstellung Abb. 2 Dreiecksrelation Subjekt | Objekt | Sprachwelt. Quelle  : Eigene Darstellung Abb. 3 Anwendung der Figur Chiasma | Metaxy nach Alice Pechriggl. Quelle  : Eigene Darstellung Abb. 4 Diotima, Eros und Sokrates, aus  : Otto Jahn, Platonis symposium, in usum scholarum, Bonn 1875, 128. Quelle  : https://books.google.at/books?id=NlkTAAAAYAAJ&pg=PA55&dq=Plato nis+symposium+in+usum+scholarum&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwi25tnOr6nqAhXu0aYKH V2sAfUQ6AEwAnoECAIQAg#v=onepage&q=Platonis%20symposium%20in%20usum%20 scholarum&f=false (digitalisiert  : 21. Dez. 2007) [30.6.2020]

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Katharina Klement

»alles was hörbar ist« Vom Radio der Kindheit bis zu den gegenwärtigen Social Networks – eine Erkundung der medialen Landschaft einer Komponistin Mit welchen Medien wachsen wir auf, wie werden wir durch sie geprägt und sozialisiert  ? Wie verändert sich unsere (Musik-)Wahrnehmung durch unterschiedliche Medien  ? Wird durch das Aufkommen der elektroakustischen Musik der Begriff von Komposition neu definiert, das Medium Schrift neu bewertet oder gar ad absurdum geführt  ? Mit und in welchen Medien arbeitet eine Komponistin im jungen 21. Jahrhundert  ? Eines der ersten medialen Großereignisse meiner Kindheit war sicherlich die Mondlandung. In jedem Haushalt, in dem sich ein Fernseher befand, scharten sich Menschen aller Altersgruppen bis spät in die Nacht hinein, die Arbeit wurde liegen gelassen, alle waren gebannt und verfolgten die kaum fassbare Sensation. Millionen von Menschen haben dieses Ereignis durch das Medium TV wahrgenommen und so in der Erinnerung gespeichert. Ich könnte natürlich sagen, dass es Bilder oder Klänge sind, an die ich mich erinnere, aber es sind vielmehr flimmernde Bruchstücke, die in meinem Kopf durch das Medium Fernsehen abgespeichert sind. Ganz im Sinne der Aussage von Marshall McLuhan – »the medium is the message« – bleiben darin Fernsehen und Mondlandung untrennbar miteinander verbunden, bleibt das reale Ereignis virtuell in der Television abgebildet. Jedes neue Medium verändert politisch, gesellschaftlich und ganz individuell, so wie wir es beispielsweise in den 1990ern mit dem Internet erlebten. Mit dem Aufkommen der Smartphones und anderer ständig »intelligenter« werdenden Maschinen werden wir täglich neu herausgefordert, diese zu bedienen bzw. uns bedienen zu lassen. Damit einher geht die Geschichte einer Veränderung unserer Sinneswahrnehmungen und damit unserer Verortung in der Welt. In meiner medialen Sozialisation spielte das Radio eine große Rolle  : Vormittags wurden ab und zu Hörspiele für Kinder gesendet – vor dem stoffbespannten Apparat mit zwei großen beigen Knöpfen lauschte ich den Erzählstimmen 147

Katharina Klement

und projizierte alle meine Phantasien in diese Kiste hinein. Ich habe mit diesem Medium das Imaginieren, das Vorstellen und letztlich das konzentrierte Zuhören ohne gekoppelte Bilder gelernt. Eben das ist eine der Hauptanforderungen in der sogenannten akusmatischen Musik für Lautsprecher, in der die klangerzeugenden Mittel nicht sichtbar sind, in der es um das »reduzierte« Hören abseits von Bedeutungen, um Klänge ohne Ursachen geht. Wenn Pierre Schaeffer, einer der Pioniere dieses Genres, in den 1960ern sagt, Das Tonbandgerät hat vor allem die Tugend des Vorhangs von Pythagoras  : wenn es neue zu beobachtbare Phänomene schafft, dann vor allem neue Wahrnehmungsbedingungen […]. Wir entdecken, dass vieles von dem, was wir zu hören glaubten, in Wirklichkeit nur zu sehen war und durch den Kontext erklärt wurde. (Schaeffer 1966, 98 und 93. Übersetzung durch die Autorin)

dann führt er uns auf die Fährte des abstrakten Hörens. So wie Pythagoras seine Schüler hinter einem Vorhang unterrichtete, um sie zum unabgelenkten Zuhören zu erziehen, wird bei einem Konzert für Lautsprecher der Bezugspunkt von Gespieltem und Gehörtem hinfällig, wird der Klang von seiner physischen Quelle befreit und öffnet neue Kontexte. Was als ungeheure Befreiung anmutet, manifestiert sich heute im öffentlichen Raum ganz anders. Lautsprecher sind mittlerweile in allen Winkeln unserer Innen- und Außenräume vorhanden, vom Kaufhaus bis zur Toilettenanlage wird »Muzak« tapeziert. Portable »Booms« sind in der entlegensten Landschaft anzutreffen, dienen aber meist dem traditionellen Zweck einer dokumentarischen Reproduktion von instrumental gedachter und arrangierter Musik, in der es die Rückbezüglichkeit von Ausführenden gibt. Die Hifi-Stereoanlage im Außenraum ist zum populären Spielzeug geworden. Dass die Musik im elek­tro­ akustischen Medium ähnlich wie die Filmkunst durch die Illusion einer Projektion von Wirklichkeit aber ganz anders mit Realität umgehen kann, wird in Konzerten spürbar, die Lautsprecher als Instrumente begreifen, in denen wir als Zuhörende gefordert sind, ungewohnte Botschaften zu dekodieren, freigelassen in ihrem musikalischen Kontext. Was denn nun eine klangliche Realität sei, wird in diesem Zusammenhang in den 1960ern u. a. von Luc Ferrari hinterfragt, der das Konzept eines »diapositive sonore« entwickelt, also unbearbeitete Außenaufnahmen als Musikstücke präsentiert, auch um sich weg von einer elitären Zuhörerschaft hin zu einem Massenpublikum zu wenden. Eine gescheiterte Utopie, wie sich herausstellte  : Obwohl die Masse mit Umgebungsklängen vertraut ist, will sie (im Radio) lieber 148

»alles was hörbar ist«

mit vertrauter und vorhersehbarer bis normierter Meterware gespeist werden. Das Radio ist ein machtvolles Medium, welches sich für Propaganda ebenso wie für Bildungszwecke eignet. Es hat im Laufe der Jahre eigenständige neue Formate wie Hörspiel, Feature, Radiokunst hervorgebracht. Dass es spätestens seit den 1950er Jahren auch als Musikinstrument verwendet wurde, bezeugen Arbeiten wie John Cage’s »water music« von 1952 oder Aufnahmen des Improvisationskollektivs »AMM« aus den 1960ern. Neben der Zufälligkeit des eben Gesendeten wird auch das medial transferierte und damit transponierte Geschehen in eine Live-Performance integriert. Die sekundäre Oralität – eine fremde Stimme, eine irgendwo aufgenommene Musik, ein von weither geholter Ort  – eingespeist und übertragen im Medium Radio verbindet sich mit der primären Oralität des Live-Konzerts. In der zeitgenössischen Szene der elektronischen und improvisierten Musik gibt es eine Reihe von MusikerInnen, die mit der Unvorhersehbarkeit und dem Eigenrauschen dieses Mediums arbeiten und es als Klangerzeuger integrieren. Die Klangkünstlerin und Komponistin Angélica Castelló stellt aus Radioapparaten, Kassettenrekordern, Kabeln und mehr oder weniger funktionierenden elektronischen Kleinteilen Installationen zusammen, die sie »Elektroaltar« nennt. Aus der Intimität einer medialen Atmosphäre von rauschenden und blinkenden Geräten entsteht ein eigenwilliger sakraler Raum. Als ich Anfang der 1990er begann, mit Tonbandmaschinen zu arbeiten, mit diesem analogen Medium Schnitte zu setzen lernte, Schleifen zu kleben, Klangschichten übereinander zu lagern, erlebte ich erstmals das unmittelbare Arbeiten am Klangmaterial. Wie eine bildende Künstlerin konnte ich im Studio so lange feilen, bis mich das Resultat überzeugte. Mein erstes kurzes Tonbandstück »Neun Nonnen« hielt ich schließlich als Spule in Händen und es half, mich damit als Komponistin zu definieren. Die Frage nach Interpretation und konzertanter Praxis, damals wie auch heute noch stark von männlichen Netzwerken bestimmt, stellte sich völlig neu. Mein Umgang mit und Zugang zum Klang revolutionierte sich. Elektronische Klanggeneratoren, Instrumentalklänge oder field recordings wurden vermischt, »alles, was hörbar ist« wurde meine Definition für Musik bzw. für das musikalische Material. Ein Notenschriftbild, das kodifizierte Speichermedium der (abendländischen) Musik schlechthin, wurde mit der elektronischen Musik größtenteils obsolet, grafische Skizzen oder Notizen sind meist ausreichend. Die analogen und digitalen Medien, Tonband und Computer, haben das Arbeiten am unmittelbar Hörbaren und damit die orale Tradition wieder neu befeuert. Eine Partitur wird in der mitteleuropäischen Kultur aber immer noch mit Komposition gleichgesetzt. Ist nun das, was nicht niedergeschrieben ist, keine Komposition  ? 149

Katharina Klement

Die österreichische Urheberrechtsgesellschaft, in deren Kommissionen fast zu 100 Prozent Männer sitzen, bewertet alle Werke ohne Schriftbild meist mit der niedrigsten Stufe, es fehlen ihr für »nur« Hörbares offenbar Bewertungsparameter. Das zeugt von Missverstehen und einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Genre der elektroakustischen Komposition, egal ob »fixed media«, Live-Elektronik oder Klanginstallation. In dieselbe Kerbe schlägt die Diskussion rund um die Improvisation. Auch in diesem Medium gibt es kaum ein Schriftbild. Es ist die ursprünglichste musikalische Disziplin mit einem nicht selten so virtuosen und komplexen Zusammenhang, wie ihn eine Komposition kaum erreichen kann. Dennoch wird eine Improvisation oftmals geringer als eine Komposition bewertet. In meiner Praxis kommunizieren beide Bereiche wie offene Gefäße miteinander. Was sich in einer Improvisation ereignet, kann ich immer wieder in Kompositionen übertragen und umgekehrt. Das passiert niemals 1  : 1, es muss jedes Mal modifiziert und angepasst werden, es wird aber immer eine Haltung oder ein Merkmal fortgesetzt. In meinen Arbeiten gibt es immer wieder Querverbindungen zu anderen Medien, vor allem zu Sprache, Text und Video bzw. Film. Aus diesen Medien schöpfe ich einerseits Inspiration, andererseits leite ich daraus Inhalt und Form ab. Im Projekt »Verführung« von 2017 (Aufführung Festival Wien Modern) in Zusammenarbeit mit Marlene Streeruwitz ging es um ein paralleles Entwickeln von Musik und Text, um eine Gleichwertigkeit beider Medien. Sowohl assoziativ als auch strukturell wurde Text in Musik übertragen, vice versa reagierte die Autorin auf Klänge und Kompositionen. Im Programmtext schreibt sie  : Verführen. Das ist ein formaler Akt. Mit dem Präfix »ver« wird das Führen in sein Gegenteil verwandelt. […] Polyphonie wird wörtlich genommen. Material und Arbeitsweise in Musik und Sprache unterliegen keiner Führung. Freundliche Gegenseitigkeit und nicht Überwältigungswille war das Präfix unserer Zusammenarbeit. (Streeruwitz 2017, 207)

In meiner Arbeit »blanks« aus dem Jahr 2013 (Aufführung Festival musikprotokoll Graz) erarbeitete die Videokünstlerin Doris Schmid zu meinem Ensemblestück (drei Instrumente plus Elektronik) ein Video, das unmittelbar in den Bühnenraum der ausführenden MusikerInnen projiziert wurde, diese schienen wie AkteurInnen in das Bildmedium integriert. Inhaltlich arbeitete die Künstlerin mit überlagerten Bild-Sequenzen, in denen Gefilmtes projiziert und erneut gefilmt wurde, im Zentrum stand die Auseinandersetzung mit dem Widerspruch der Sichtbarkeit von Leerstellen, die auch musikalisch thematisiert wurden. 150

»alles was hörbar ist«

Abb.1 Skizze zum letzten Teil des Stücks »Verführung« (2017)

Abb. 2 »blanks« (2013) Shizuyo Oka, Bassklarinette  ; Katharina Klement, Elektronik  ; Christian Dierstein, Perkussion  ; nicht im Bild, aber Teil der Besetzung  : Klaus Steffes-Holländer, Klavier

Der Werdegang einer Komponistin wird wesentlich durch ihr Umfeld und ihre Tradition bestimmt, dem Bewusstsein, auf wessen »Schultern« sie steht. Ich hatte bis in die Mitte meiner 20er Jahre noch nie etwas von einer Komponistin gehört, die mir ein »role model« hätte sein können. Es wurde mir oft vermittelt, dass eine Frau kein wirklich kreatives Potential habe, und ich hatte dieses unterdrückende Vorurteil beinahe verinnerlicht. Glücklicherweise habe ich immer wieder 151

Katharina Klement

Menschen getroffen – Frauen wie Männer –, die mir diesbezüglich Horizonte eröffnet und mich in meinem schöpferischen Tun ermutigt haben. Die Absenz von Vorbildern hatte aber auch etwas Positives und Befreiendes, ich musste mich auf niemanden berufen, startete von meiner Warte aus in völliges Neuland. Dass Frauen im Medium unserer Kunst- und Kulturgeschichte fast völlig fehlen, ist dem Narrativ einer patriarchalen Gesellschaft zuzuschreiben. Vor allem im Bereich der Komposition hat es besonders lange gedauert, dass Frauen Eingang gewährt wurde. Langsam tauchen sie allerorten auf den kleinen bis großen Konzertbühnen auf. Auch in Publikationen und Büchern sind sie nicht mehr zu übersehen, vermehrt gibt es Nachschlagewerke und Plattformen, die ihnen gewidmet sind. In meiner Lehrtätigkeit bedeutet es ungleich viel mehr Aufwand, Recherche und Widerstand, nicht den gängigen Kanon einer männlich dominierten Geschichte der neuen und zeitgenössischen Musik zu übernehmen. Geschichtsschreibung ist per se nie abgeschlossen. Sie muss sich durch die Linse des »Jetzt« immer wieder neu finden, ähnlich der musikalischen Interpretation eines längst geschriebenen Stücks. Im sich schnell verändernden Medium des Internets gibt es mittlerweile neben Wikipedia-Einträgen eine stetig wachsende Anzahl an Plattformen, Blogs und Datenbanken, die ein neues Selbstverständnis eines internationalen Kollektivs von Klangkünstlerinnen, Performerinnen oder DJanes schaffen, um den Begriff der Komponistin etwas aufzufächern. Eine kleine Auswahl an diesbezüglich relevanten Webseiten sei hier aufgelistet  : many many women1 Eine offene Plattform für Komponistinnen, in der man selbst eintragen und ergänzen kann. ubu.com2 Archiv von Texten und Musikstücken, Dateien über schwer zugängliches Material  ; Bücher der Kunst, Literatur, elektronischen Musik. Zahlreiche Komponistinnen der elektronischen Musik wie beispielsweise Daphne Oram, Laurie Spiegel, Annea Lockwood sind vertreten. the vinyl factory3 Namen und Werke von Pionierinnen in der elektroakustischen Musik 152

»alles was hörbar ist«

Mit den Social Media haben wir gelernt, einfach und schnell Aussagen und Ereignisse publik zu machen – egal ob real, virtuell, erfunden oder recherchiert – mit Daumen rauf oder runter sind sie auch schnell kommentiert. Facebook, Twitter und Co haben unsere Wahrnehmung verändert, die digitale, virtuelle und reale Welt stehen zunehmend in Konkurrenz zueinander. Menschen, versunken in ihr Smartphone und abgetaucht im digitalen Orbit, prägen unseren Alltag. Mitten in der Corona-Krise, die uns in die Online-Virtualität zwingt, in der mehr Konzerte denn je gestreamt werden, und Peter Weibel von der ersten »Ferngesellschaft der Menschheitsgeschichte« spricht, wird unsere Vereinzelung und das Bedürfnis nach Austausch spürbar. Aber kein Medium kann ein Live-Konzert ersetzen, diese Aura kann nach wie vor nur durch physisches Anwesendsein und sinnliches Wahrnehmen entstehen. Unsere Sinne sind immer noch analog und Sinnlichkeit bleibt ein menschliches Grundbedürfnis. Seit Soundcloud, Youtube, Vimeo, Bandcamp, Spotify und andere Plattformen Veröffentlichungen und Downloads anbieten, scheint der physische Tonträger ausgedient zu haben. Das wirkt sich auch maßgeblich auf die formale Gestaltung von Musikstücken vor allem im Pop-Bereich aus  : Ihre Länge beträgt durchschnittlich nur mehr zwei Minuten, die wichtigste Aussage muss gleich zu Beginn stehen. Das Internet hat die allgemeine Aufmerksamkeitsspanne deutlich gesenkt. Entgegen dieser Tendenz erlebt das Medium Vinyl seit Jahren wieder einen Aufschwung, hat die LP doch haptisch und akustisch nichts von ihrer Qualität eingebüßt, entspricht sie viel mehr der Sehnsucht nach einem sinnlichen Reiz, den eine Abfrage auf unseren Harddisks mit mehreren Terabyte Fassungsvermögen nicht zu bieten vermag. Die digitalen elektronischen Mittel, die längst ein Zerstäuben der musikalischen Materie in den granularen Millisekunden-Bereich ermöglichen, haben meinen Zu- und Umgang mit der klanglichen Materie nochmals völlig neu definiert. Sie ermöglichen eine zeitliche wie spektrale Introspektion und Transformationen in einem noch nicht dagewesenen Ausmaß. Filterungen, Verdichtungen oder physikalische Klangmodelle lassen MusikerInnen mittlerweile wie in einem chemischen Labor experimentieren. Die Suche nach haptischer analoger Steuerung dieser digitalen Programme bringt immer wieder neue hybride Instrumente wie z. B. Schlagzeug-Module hervor, die ein Mikrofon, eine Schaltung mit Auslöser (»Trigger«) und vorgespeicherte Schlagzeugklänge mit dem LiveSpiel kombinieren. Eine herausragende Arbeit dazu wurde von dem in Graz lebenden Musiker Josef Klammer 2003–2009 entwickelt. In »Toysrus 3.0« wurde mittels einer sogenannten latenten Partitur ein Software-Instrument entworfen, welches zahlreiche akustische Parameter und Gestiken des Schlagzeugspiels er153

Katharina Klement

Abb. 3 Skizze zu »lichte Sicht« für Streichorchester (2014)

fasst und zur Echtzeit-Modulation soeben angespielter Perkussionsinstrumente führt. Erst durch das Anspielen des Schlagzeugs wird die Komposition hörbar, der bzw. die MusikerIn bleibt als »Human Interface« die letzte kompositorische Instanz. Dass traditionelle Instrumente mit diversen elektronischen »Devices« erweitert und mittels Mikrofonierung in den elektroakustischen Raum geholt werden, ist ebenfalls eine gängige Praxis geworden. Parallel dazu gibt es die Entwicklung, elektronische Klangmorphologien auf Instrumente zu übertragen. In meinem Stück »lichte Sicht« für Streichorchester (2014) versuchte ich beispielsweise mit den Instrumenten Spektren und Texturen von elektronischen generierten Klängen nachzubilden, die im Zuge einer Klanginstallation einige Jahre zuvor entstanden. Solche und ähnliche der Elektronik abgelauschten Ideen verändern wiederum die instrumentalen Spieltechniken maßgeblich. Unsere guten alten Instrumente aus der Barockzeit oder Romantik scheinen immer noch nicht ausgedient zu haben, sie bekommen zunehmend einen neuen digitalen Imprint, einen Abdruck durch und innerhalb dieses Mediums. Unser »Zappen«, das kurze Verweilen in einem Stream oder Sender mit oftmaligem Springen zum nächsten Programm bzw. das Surfen im Internet hin154

»alles was hörbar ist«

terlässt ebenso Spuren im kompositorischen Umgang mit Zeit und Material. Sprünge und harte, schnelle Schnitte, sowohl Wiederholungen als auch »Found footage« und Sampling sind musikalische Techniken geworden. In diesem Zusammenhang möchte ich die junge Komponistin Mirela Ivićevič erwähnen, die ihre Werke als »Sonic Fictions« bezeichnet. In diesen geht es vor allem um eine Rekontextualisierung von bekanntem Material – aus Splittern einer bereits vorhandenen Realität wird eine neue geschaffen. In einem Interview des MICA (Music Information Center Austria) vom Juli 2019 sagt sie  : »Ich gestalte neue Verhältnisse, um alte zu hinterfragen, anders wahrzunehmen und zu verstehen. So gesehen ist es ja wie im Film, man schafft einen Traum, einen Trug. Der Trug hat jedoch das Potenzial, etwas Wahres auszudrücken.« (Ivićevič 2019) Die neue Zusammenstellung und Verwertung von Bekanntem öffnet neue Einsichten und relativiert gewohnte und tradierte Realitäten. Aufgespannt in meinem Dreigestirn zwischen Komposition, Improvisation und Elektronik greifen die medialen Veränderungen in meine Arbeit ständig ein, fordern mich täglich heraus. Vielleicht ist das »Geräusch«, das Edgard Varèse4 am Beginn des vorigen Jahrhunderts in die Musik hineinreklamiert hatte, heutzutage das »Rauschen« der analogen und digitalen Medien, das sich in diese einschreibt und in denen es sich Gehör verschafft.

Anmerkungen 1 https://manymanywomen.wordpress.com/ 2 http://www.ubu.com 3 https://thevinylfactory.com/features/the-pioneering-women-of-electronic-music-an-interactive-timeline/ 4 »Ich wurde eine Art teuflischer Parsifal, nicht auf der Suche nach dem heiligen Gral, sondern nach der Bombe, die das musikalische Universum sprengen könnte, um alle Klänge durch die Trümmer hereinzulassen, die man – bis heute – Geräusche genannt hat.« Varèse 1983, 3.

Literatur Luc Ferrari, Presque Rien° 1, ou le lever du jour au bord de la mer (1967–1970) Miriela Ivićevič (2019), »Neue Musik ist kein Genre […], es ist eine Denkart.« Mica-Interview vom 10. Juli 2019. https://www.musicaustria.at/neue-musik-ist-kein-genre-es-ist-eine-denkartmirela-ivicevic-im-mica-interview/ Marshall McLuhan (1964), Understanding Media. The Extensions of Man. New York

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Katharina Klement

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Angeführte Werke »blanks« (2013) für B-Klarinette & Bassklarinette, Klavier, Perkussion, Elektronik, Video. UA Festival musikprotokoll Graz, Oktober 2013. Mitglieder des ensemble recherche  : Shizuyo Oka, Klarinetten  ; Klaus Steffes-Holländer, Klavier  ; Christian Dierstein, Perkussion  ; Katharina Klement, Elektronik  ; Doris Schmid, Video »lichte Sicht« für Streichorchester (2014) UA April 2014 durch das Wiener Kammerorchester, Mozartsaal/Wiener Konzerthaus »Verführung« (2017) Text/Lesung  : Marlene Streeruwitz, Komposition/Klavier/Elektronik  : Katharina Klement. Ein Auftragswerk von Wiener Konzerthaus und Festival Wien Modern, aufgeführt im November 2017 im Berio-Saal des Wiener Konzerthauses. Claudia Wiesinger, Tontechnik  ; Maria Doblhofer, Lichttechnik

Bildnachweis Abb. 1 Foto  : Katharina Klement Abb. 2 Foto  : Doris Schmid Abb. 3 Foto  : Katharina Klement

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Wilbirg Brainin-Donnenberg

»I turn over the pictures of my voice in my head«1 Sprache als Akt der Befreiung in feministischen Avantgardefilmen und Videos von Eija-Liisa Ahtila, VALIE EXPORT, Kerstin Honeit, Sabine Marte und Anne Charlotte Robertson Eine Stimme haben, eine Stimme geben, die Stimme erheben, die Stimme versagt, die Stimme versagen, Stimme wird Sprache. Sprache als Werkzeug der Unterdrückung, Sprache als Werkzeug der Befreiung. Eine Sprache finden, Worte finden, Worte für Wahn finden, Aussprechen, um die Dämonen zu verjagen. Sprach Stakkato, Sprech Stakkato, Wortschwall, Redeschwall, Redekur. Ein großes, weites Thema … Die Sprache als Akt der Befreiung in feministischen Avantgardefilmen und Videos … Neben der speziellen Filmsprache im Avantgardefilm, die bewusst mit den herkömmlichen Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen konfrontiert, kommt gerade im feministischen Avantgardefilm der Sprache, dem Sprechen als Akt der Befreiung, eine besondere Bedeutung zu. Ausgewählte fünf Werke stehen exemplarisch für unterschiedliche künstlerische Zugänge und Methoden. Die Bandbreite reicht von der Pionierin der Medienkunst und des feministischen Aktionismus VALIE EXPORT bis zur queeren Konzeptkünstlerin Kerstin Honeit, von der Ikone des Super-8-Films Anne Charlotte Robertson bis zur Video-Sprach-Musik-Performerin Sabine 157

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Marte und den hyperrealistischen Hochglanz-Filmen und Installationen EijaLiisa Ahtilas. Da es um Stimme und die eigene Sprache geht, wird so oft wie möglich die Filmkünstlerin selbst zu Wort kommen  – die Beschreibung ihrer Arbeit auch meistens in ihren eigenen Worten erfolgen. Der Text ist eine Collage aus Gedanken und Reflexionen, Bildern und Texten aus den besprochenen Filmen und Videos, um diese in ihrer spannenden Vielfalt erlebbar zu machen. Für alle Arbeiten außer »Apologies« von Anne Charlotte Robertson gibt es links zu den Werken, so ist die direkte Rezeption möglich. Abgesehen vom Medium Sprache spielte das gewählte filmische Medium in der Geschichte des Avantgardefilms und Videos schon immer eine große Rolle. Der Bogen spannt sich von Super-8 bis zum digitalen File. Super-8 und 16mm war in den 1970er und 1980er Jahren vor allem auch für Frauen ein Format, mit dem sie ohne großen finanziellen Aufwand und ohne großes Team selbst die Kamera nehmen konnten, auch im Sinn der Selbstermächtigung. Dabei entstanden weltweit während der Zweiten Frauenbewegung der 70er Jahre sehr wegweisende Arbeiten von Frauen – Tagebuchfilme und auch Arbeiten, die sich sehr explizit mit Sexualität auseinandersetzten  – wie etwa die Arbeit »Fuses« der kürzlich verstorbenen Carolee Schneemann. VALIE EXPORT begann in dieser Zeit erste Filme zu machen – Super-8-Filme, 16mm –, aber auch Expanded Cinema (»Tapp und Tastkino«) und wurde zu einer internationalen Pionierin der Medienkunst. Ihre Videoarbeit »I turn over the pictures of my voice in my head«, die erstmals 2007 auf der Biennale di Venezia als Performance zu sehen war und diesem Artikel den Titel gab, wird hier angeführt. Anne Charlotte Robertson, deren Arbeit »Apologies« im Folgenden eingehend behandelt wird, wurde zu einer Ikone des Super-8-Films – für sie bedeutete das Medium Super-8 die direkteste Form des Tagebuchfilms, ihr berühmtestes Werk ist »Five Years Diary«. Im Anschluss an Super-8 und 16mm war Video in den 1980er und 1990er Jahren das wichtigste Medium, das es Frauen ermöglichte, ihre Arbeiten ohne hohe Produktionskosten zu realisieren, zu schneiden und zu vertreiben. Heute sind mit den digitalen Medien und Handyfilmen die Barrieren noch einmal niedriger geworden. Aber es gibt auch Künstlerinnen* wie Eija-Liisa Ahtila, die für ihre Arbeit bewusst Medien wählen, die sonst nur im Spielfilm oder in der Werbung verwendet werden, experimentelle Arbeiten auf 35mm drehen, mit Special Effects anreichern, um damit ein Statement zu setzen, auch eines der Aneignung. 158

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Es gibt eine Fülle an Avantgardefilmen, die ohne Dialog, ohne Sprache arbeiten, teilweise aus Verweigerung dem traditionellen Film gegenüber, aber auch, um größere Assoziations-Spielräume beim filmischen Erleben zu ermöglichen. Wenn Sprache verwendet wird, dann hat dies oft mit Sprache, Sprechen als Affirmation, als Deklamation, als Performance zu tun. Der Akt des Sprechens als körperliche Manifestation, und eben auch als Akt der Befreiung, der Selbst­ ermächtigung. Gleichzeitig passt Sprache als befreiender Akt gut zu dem oft dekonstruktiven Bestreben im Avantgardefilm, zum Aufbrechen von Normen und Strukturen. Die Sprache als das Symbolische einer patriarchalen Kultur – dies manifestiert sich auf vielen Ebenen und gegen diese gibt es Formen des Widerstands. Exemplarisch für Sprache als Akt der Befreiung in feministischen Filmen und Videos stehen fünf Arbeiten von (Film)Künstlerinnen* aus Österreich, Deutschland, Finnland und den USA, die zwischen 1983 und 2016 entstanden sind und unterschiedliche Medien und Blickwinkel, Spielarten und ästhetische Mittel für ihre Bearbeitungen wählten.

Die Stimme wird Sprache Reflexion über den Akt des Sprechens – VALIE EXPORT, »I turn over the pictures of my voice in my head« (2008) »Die widerspenstige Stimme, die gespaltene Stimme. Die Stimme ist Suture, die Stimme ist Naht, die Stimme ist Schnitt, die Stimme ist Riss, die Stimme ist meine Identität, sie ist nicht Körper oder Geist, sie ist nicht Sprache oder Bild, sie ist Zeichen, sie ist Zeichen der Bilder, sie ist ein Zeichen der Sinnlichkeit. Sie ist ein Zeichen der Symbole, sie ist Grenze. Sie spricht den ›gespaltenen Körper‹, sie ist in der Kleidung des Körpers ­verborgen, sie ist immer woanders. Der Lebensatem ist ihre Quelle. Die Stimme gleitet aus mir heraus, sie verlässt mich, sie entfernt sich von mir, sie geht ihre eigenen Wege, sie verrät mich, sie wird zur Verräterin, ich liebe sie und ich hasse sie, ich werde sprechlos wenn ich sie verliere, sie ist Verlust, sie ist Lust, wenn ich sie höre. 159

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Abb.1 VALIE EXPORT, Performance »The voice as performance, act and body«, La Biennale di Venezia 2007

Ich nähere mich meiner Stimme, sie entfernt sich jedoch, Erkundigung, Wahrnehmung, Strukturen der Sprache. Ich nehme meine Stimme wahr, ich erkenne sie, sie ist Erkenntnis. Sie ist ephemer, die Spur der Stimme gräbt sich in die Ereignisse der Zukunft, sie gräbt sich in die Denkbahnen der lautlosen Wahrnehmungen, wenn ich ­spreche, dann handle ich. […] Mein Körper ist die gespaltene Stimme, meine Stimme ist der gespaltene Körper. Wenn ich meinen Körper fühle, meine Gefühle sich verkörpern, schreie ich. Ich schreie so lange, so laut, so schrill bis die Stimme bricht, und meine innere Stimme, eine Stimme, die nicht zum Schweigen gebracht werden kann, mit mir und aus mir spricht, – zu dieser Stimme ich meine große Liebe entwickelt habe, sie liegt im ­chemischen Bad der Hörbar-Machung, des Auditiven. […]« (Beginn und Auszüge aus VALIE EXPORT, »The voice as performance, act and body«, 2007) Programmatisch am Anfang der fünf vorgestellten künstlerischen Arbeiten steht VALIE EXPORT, international herausragende Künstlerin und Pionierin der M ­ edienkunst und des feministischen Aktionismus. Bereits in der legendären Expanded Cinema Aktion »Tapp und Tastkino« adressiert VALIE EXPORT das ­Publikum direkt, begreift es als konstituierendes Element ihrer Kunst und berührt dabei zentrale feministische Fragestellungen zu Voyeurismus und Geschlechterpolitik. In ihren Arbeiten stehen vor allem der Körper und der kriti160

»I turn over the pictures of my voice in my head«

Abb. 2, 3 VALIE EXPORT, »I turn over the pictures of my voice in my head«, 2008

sche Umgang mit den Medien im Zentrum. Immer wieder findet sich die Erweiterung von Körpergrenzen durch Expansion – etwa mit umgeschnallter Kamera in Beziehung zum (architektonischen) Außenraum – oder durch Introspektion zu anatomischen Körper-Innenbildern wie in »I turn over the pictures of my voice in my head«. Ihre unbeirrbare Kontinuität und Kreativität seit den 1970er Jahren zeigt VALIE EXPORT in der Erweiterung ihres Kunstbegriffs (zum elektronischen und gesellschaftspolitischen Raum) und die Nutzbarmachung, sogar Einverleibung (im Falle einer medizinisch-bildgebenden Maschine) neuer Technologien. So wirkt VALIE EXPORT, die ihren Körper in vielfältiger Form in den Kunstprozess einbezogen hat, in den frühen 1970er Jahren Selbstverletzungen und körperliche Grenzsituationen vorführte, heute noch radikal und herausfordernd. VALIE EXPORTs Film »I turn over the pictures of my voice in my head« (2008) entstand aus der Performance »The Voice as Performance, Act and Body« (2007). Bei der Biennale in Venedig 2007 habe ich mit einem Laryngoskop die Aufnahmen meiner Glottis gezeigt, meine Stimmritze beim Sprechen meines Textes visuell dargestellt, den Beginn der Stimme. Das Laryngoskop zeigt das Innere des Körpers, bringt ein inneres Bild des Körpers nach außen – das Bild vom Anfang der Stimmbildung, wenn der Atem aus dem Brustkorb dringt und sich die Glottis öffnet und schließt, bevor überhaupt die Laute durch die Architektur des Mundes geformt werden. Das ist eine sehr anstrengende, und sicherlich grenzgängige Performance. (EXPORT 2007)

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Elfriede Jelinek verfasste einen Essay zum Film. Sie veröffentlichte den Text »Ungeduldetes, ungeduldiges Sichverschließen (ach, Stimme  !)« zu ­VALIE ­E XPORTs Performancefilm »I turn over the pictures of my voice in my head« (2008) auf ihrer Homepage. Jelinek setzt sich in ihrem Essay mit der Stimme und der Stimmerzeugung auseinander. Sie schreibt über die Anstrengungen der Stimmerzeugung und über das Zur-Sprache-Finden von Frauen  : In VALIE EXPORTs Video wird das Innerste nach Außen gestülpt. Das kann es nicht von allein, das muß erzwungen werden. Die Stimme muß aus einem nach außen hin zur Schau gestellten Kehlkopf kommen. Dazu wird ein Gerät verwendet. Was für eine Anstrengung, die Stimme dann herauszulassen  ! Die Anstrengung gilt ja meist Dingen und Geschöpfen, die nicht herausgelassen werden sollen. Wilden Tieren  ? Die Stimme ist das wilde Tier, das nicht nach außen dringen soll, aber hier gilt die Anstrengung dem Ausbruch. Dem Ausbrechen des Stimm-Vulkans. Diese Stimme ist nicht stumm. Diese Stimme soll mit einem Gerät zurückgehalten werden, damit sie studiert werden kann, damit die Stimmbänder bei der Arbeit beobachtet werden können, aber da erzwingt sie sich plötzlich den Ausgang in eine sich nicht öffnenwollende Offenheit  ! Das Außen ist doch da, bitte, Stimme, komm  ! Sie kann ja immer kommen, aber nur durch dieses kleine Gerät, das die Stimm-Schamlippen entblößt, umtost von Speichel, von Säften, die das einzige Repräsentationsmittel der Frau sind, etwas Flüssiges, das man sonst kaum je zu sehen kriegt (umso neugieriger ist man drauf  ! Man möchte sofort hineinschauen. Bitte – können Sie haben  !), durch dieses Laryngoskop bekommt die Stimme ihr Bewußtsein und kann zu wesentlichen Aussagen gelangen, indem sie sie  : sagt. Der Kehlkopf ist das Hervorkommen, eigentlich das Hervorkommenlassen, ja, dazu ist er da, er läßt das heraus, was eingesperrt werden sollte, die Stimme, in einer Sprache, die jemand, irgendjemand verstehen muß, ja, muß  !, sonst ist sie keine Sprache, und dann ist die Stimme zu nichts nütze, also nur heraus, Sprache  ! Aus dem ständigen Sichverschließen  : heraus und hinaus  ! […] ( Jelinek 2008)

Begleitet von Elfriede Jelineks Gedanken und VALIE EXPORTs Reflexionen zu ihrer eigenen Arbeit stehen wir also am Anfang der (weiblichen) Sprache (im Film), wir beginnen bei der Körperlichkeit der Stimme. Diese Stimme wird (sich) Worte finden müssen, um etwas zu sagen. Worte einer Sprache, die als Regel-­Werk bereits (außerhalb des Körperlichen) existiert. Regeln, die zu befolgen sind, um verstanden zu werden. Das Ringen um diesen »Verstand« ist die Fortsetzung der Stimm-Bildung, es ist die Sprachermächtigung, die Widerstände überwinden muss, um gehört zu werden. 162

»I turn over the pictures of my voice in my head«

Sprache, Sprechen als befreiende Redekur-Performance Anne Charlotte Robertson, »Apologies« (1983–1990) »You want an apology  ? I’m sorry. Life is not that long, I’m sorry. This film is called apologies, I’m sorry. Oh dear, I guess I spelled that wrong, I’m sorry. That’s better. Jesus, I hope that is in focus, I’m sorry if it’s not. I’m sorry. Interlude – directly into the camera I’m sorry I have a nervous breakdown in the last scene And I take off my clothes, which is ridiculous. I’m sorry I’m ridiculous. Anne Charlotte Robertson smoking and drinking coffee I’d just like to apologize for all the people who died from lung cancer, To all the people who quit smoking To all the people who can’t drink coffee And to all the people in all my films who did not want to be there. Please forgive me, I’m very sorry

Abb. 4 Anne Charlotte Robertson, „Apologies“, USA 1983–1990

Interlude – directly into the camera I’m sorry I apologize too much

Anne Charlotte Robertson on the balcony smoking and drinking coffee  : I just want to apologize to the people who lent me this camera, we have so few cameras To the people who could not get a camera today, because I borrowed this camera and returned it late again. 163

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And I apologize to my mother, who was always apologizing to my father, for having been born a woman and marrying him Directly into the camera I’d like to apologize to you for having to watch this film And I’d like to apologize to the soul who got ­reincarnated as a camera I’m sorry camera for having to watch me Interlude – directly into the camera I’m sorry I’m not more active politically Is exposing social behavior such as apologies – ­political  ? In the bathroom, sitting on the toilet I’d like to apologize, I’d really like to apologize, I’d like to apologize I’m sorry, I’m sorry, I’m sorry. I’m sorry for locking you out of the bathroom Interlude – directly into the camera I have been apologizing for myself all my life and I’m sorry for apologizing

Abb. 5 Anne Charlotte Robertson, »Apologies«, USA 1983–1990

In Bed I’m sorry for staying in bed all day and avoiding doing anything with my sister or my brother in law, or my mother, or my brother or my sister in law, or my niece Anne Charlotte Robertson fixing the light I apologize, if there is not enough light or if there is too much light I hope it is not out of focus […]« (Anfang des Textes »Apologies« von Anne Charlotte Robertson 1983–1990. Transkription WBD) 164

»I turn over the pictures of my voice in my head«

Eine Sammlung von Entschuldigungen, gemacht, um Schuldgefühle abzubauen und um Angstneurosen zu therapieren. Außerdem wird ein exhibitionistischer Nervenzusammenbruch dokumentiert – dies ist keine Komödie. Als Folge der siebenjährigen Arbeit an diesem Film bin ich heute sehr vorsichtig, wenn ich mich entschuldigen will. Der Ursprung des Films liegt in einer Aufgabe, die uns Erika Beckmann am Massachusetts College of Art, Performance und Film gestellt hat  : Filme dieselbe Aktivität an drei Schauplätzen und verwende jeweils dieselben Utensilien. Meine Aktivität  : Entschuldigungen, meine Utensilien  : Zigaretten und Kaffee. Die Schauplätze haben sich vermehrt, meine Entschuldigungen habe ich notiert und gefilmt, viele Jahre hindurch. Mein Versuch  : Verhindere, dass die Leute im Publikum über die Entschuldigungen lachen. Etwas zu bedauern ist nicht lustig. Ein starres Gesicht, eine eingefrorene Stimme, das ist nicht zynisch, das ist weil die Schuld sich durch und durch meiner bemächtigt. (Robertson 1998, 62)

Der Appell »heraus hinaus« in Elfriede Jelineks Text zu EXPORTs »I turn over the pictures of my voice in my head« wird hier ins Extrem getrieben  : Das weiblich konnotierte Entschuldigen, die Selbstanklage, die Selbstabwertung führt zu einem (befreienden) Redeschwall, zu einer Redekur. Anne Charlotte Robertsons Motto war  : »A film a day keeps the doctor away«. Heute ist Anne Charlotte Robertson (1949–2012) eine Ikone des Super-8-Tagebuch-Films, eine Filmkünstlerin, die ihr Medium vielschichtig einsetzte und es als Performance-Künstlerin auch noch ständig anreicherte. Sie beschäftigte sich auf mehrfachen Ebenen mit ihrer eigenen Reflexion, die ihren Ausgang dort nimmt, wo die Künstlerin sich selbst filmt, und damit endet, dass sie schließlich das Ergebnis und deren Präsentation selbst wieder kommentiert und aufzeichnet. Als ihr wichtigstes Werk gilt das 38-stündige »Five Year Diary«, eine Sammlung von 84 Filmrollen, die wesentlich mehr als 5 Jahre umfasst und eine dichte Bild-und-Ton-Montage aus Selbstportraits, obsessiven Detailaufnahmen und Stimmungsbildern in beeindruckender Bildsprache darstellt. Sie filmt sich bei trivialen Haushaltstätigkeiten, filmt sich auch nackt, beobachtet den schlafenden Geliebten und analysiert akribisch ihre Mülltonne. Ihr lebenslanger Kampf gegen die heftigen manischdepressiven Krankheitsschübe, die sie immer wieder zu stationären Aufenthalten zwingen, wird durch dieses »Diary« unterstützt. Ihre exzessive, fast rituell anmutende künstlerische Arbeit ist ihr Weg, um sich zwischendurch immer wieder ohne Medikamente zu stabilisieren, kurze Glücksmomente festzuhalten, sich oft auch gegen ein totalitäres Gesundheitssystem aufzulehnen, am Leben zu hängen 165

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Abb. 6 Anne Charlotte Robertson »Apologies«, USA 1983–1990

und dann wieder in Verzweiflung und Ohnmacht abzustürzen  : das »Five Year Diary« als Methode, um ihr entgleitendes Leben mit ihrer Kamera »festzuhalten«. Der gesamte künstlerische Prozess lag in ihrer Hand, sie performte, filmte, kommentierte, schnitt, vertonte, vertrieb ihre Filme selbst, sie übernahm die Gestaltung der Räume, wo ihr jeweiliger Film gezeigt wurde. Trotz des sehr persönlichen, sehr autobiographischen Charakters ihres Werkes gelang es ihr, das Publikum – wie Christine Noll Brinckmann ausführt –, zu adressieren, zu erreichen, zu faszinieren  : In dieser intensiven Verarbeitung und Überhöhung erfahren die Aufzeichnungen eine ästhetische Verdichtung, werden zu Werken der Kunst und damit zu einer Lebensaufgabe. Denn nur, weil Robertson sich als Künstlerin ernst nimmt und weiß, dass sie über den privaten Rahmen hinaus für eine Öffentlichkeit arbeitet, kann die Selbsttherapie gelingen. Dieser Verschränkung entspringt auch der kommunikative Charakter des Werkes, dem die Konfrontation mit einem Du oder einem Publikum eingeschrieben ist, obwohl es zunächst und zutiefst eine Auseinandersetzung mit den Facetten und wechselnden Bewusstseinslagen des eigenen Ich darstellt. Robertson nimmt das Publikum mit hinein in dieses analytische Dokumentieren und Ringen des Selbst, erwartet und vertraut dabei auf Empathie und kathartische Wirkung auch bei anderen. (Brinkmann 1999, 55)

Worte, Worte sprudeln aus Robertsons Filmen heraus, Worte, »die um Verständnis bitten«, die uns verstehen lassen wollen. Eine Schuld soll abgetragen werden, um den Verstand nicht zu verlieren – dort, wo keine Medikamente und keine stationären Aufenthalte mehr helfen können. Die Sprache wird zerlegt in ihre Einzelteile, in Worte, Wortkaskaden. Ihre Filmvorführungen werden manchmal 166

»I turn over the pictures of my voice in my head«

noch gesondert von Robertson live kommentiert, zusätzlich zur Tonspur spricht sie zum Publikum, um noch deutlicher zu werden, um durch die Flut der Worte einen klaren Verstand bei sich und beim Publikum zu schaffen. Als aktuelle Ergänzung Gedanken der Sängerin Taylor Swift über den völlig unnötigen Reflex des Sich-Entschuldigens in dem Dokumentarfilm »Miss Americana« von Lana Wilson. Taylor Swift wehrt sich im Gespräch, nachdem sie für ihren Song »You need to calm down« den MTV Video Music Award 2019 gewonnen hat, zunächst gegen (männliche) Zuschreibungen, von denen wir uns befreien müssen, und wird sich am Ende der Absurdität des Sich-Entschuldigens bewusst  : »I’m trying to be as educated as possible on how to respect people And how to deprogram the misogyny in my own brain. Toss it out, reject it, and resist it. Like there is no such thing as a slut. There is no such thing as a bitch. There is no such thing as someone who’s bossy, there’s just a boss. We don’t want to be condemned for being multifaceted. Sorry that was a real soap box. Interviewer – No Oh my God, it— Why did I say sorry  ? (grunts, chuckles) You’re just— Interviewer – No, it’s… because we are trained to say sorry. Yeah, we legitimately are. We’re, like (whispering) Sorry, was I loud in my own house that I bought With the songs that I wrote About my own life  ?« (Taylor Swift, Interviewausschnitt aus Lana Wilson, »Miss Americana«, Dokumentarfilm. USA 2020, Transkription WBD)

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Wahnworte und Wahnbilder finden Eija-Liisa Ahtila, »Rakkaus on aarra / Love is a Treasure« (2002) »Then suddenly like a picture in front of me I saw my own room from when I was a child. I woke up, it was night and my dad was standing there in the dark and came into my bed. From then on I don’t remember anything, but later on I have started to get sort of feelings. Totally irrelevant ones, like I just want to forgive everyone. Then in my head I hear that children’s song, but the words are different  ; ›the bear cub gets sick, let’s snake care of him, let’s rub our teddy bear friend with medicine.‹ Passenger on the bridge running into her  : Sorry. Are you hurt  ? Iines No. Now Iines starts crawling on all fours over the bridge My feet won’t do what I tell them. I daren’t go across. I can hear my father in my own steps. What would he like me to do  ? Who says what I’m supposed to be like here  ? Ida is my three-year-old daughter. I have to collect her at four thirty They’re already waiting there. 168

»I turn over the pictures of my voice in my head«

Abb. 7, 8 Eija-Liisa Ahtila, Single Channel Installation »The Bridge«, aus »Love is a Treasure«, FIN 2002

Shoelaces being tied, coats being put on. They’re at the gate, looking to see if mummy is coming – if mummy is coming now. In my other life there has always been a room that is dark. So dark that it has never been seen – an unused space. The walls of the room broke and the dark started moving. And the switch turns the darkness on. That’s why I don’t turn the lights off. And I don’t close my eyes either, because I can’t face that dark and stay alive, and I haven’t slept all week. I can’t go into our bedroom, that door is closed for the moment. Lights on, music on, TV on, eyes open. If I close them, there is straight away someone else in the room.« (Dialogliste, Auszug aus »The Bridge«, Teil 3 des Films »Rakkaus on aarra / Love is a Treasure« von Eija-Liisa Ahtila) 169

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Abb. 9 Eija-Liisa Ahtila, Single Channel Installation »The Bridge«, aus »Love is a Treasure«, FIN 2002

Ein Beispiel einer Sprach(nicht)findung ist dieser eindringliche Voice-over-Monolog. »The Bridge« ist der dritte Teil des Films »Rakkaus on aarra / Love is a Treasure« und auch eine Single-Channel-Video-Installation, wie in den Illustrationen sichtbar. Die Arbeit handelt von einem Nervenzusammenbruch und der Erfahrung einer Psychose und basiert auf Interviews, die Eija-Liisa Ahtila mit psychotischen Frauen geführt hat. Die Geschichte selbst und der Dialog sind erfunden. Im Video sieht man eine Mutter an einem sonnigen Tag eine belebte Straße entlanggehen. Direkt in die Kamera sprechend, erzählt sie von ihrem Nervenzusammenbruch und ihrem intensiven Verlangen zu vergeben. Als sie zu einer Brücke kommt, stößt sie mit einem Mann zusammen und stürzt zu Boden. Ereignisse der Gegenwart lösen tief verborgene Erinnerungen aus und vergessene Ereignisse aus der Kindheit kommen an die Oberfläche. Überwältigt von Erinnerungen und Angst gerät der mentale Zustand der Frau völlig aus den Fugen. Sie fürchtet sich davor, einzuschlafen oder auch nur die Augen zu schließen, sie bleibt Nacht für Nacht wach. Sie kann nicht mehr länger stehen, sie beginnt sich auf allen Vieren über die Brücke zu bewegen. Dabei ist ihr klar, dass derartige Handlungen – wie eine Brücke kriechend zu überwinden – sehr unangemessen sind. 170

»I turn over the pictures of my voice in my head«

Diese Episode ist eine von fünf aus Eija-Liisa Ahtilas Film »Rakkaus on aarra / Love is a Treasure«. Die finnische Film- und Videokünstlerin setzt in fünf Episoden über Frauen mit Psychosen die Welt der Ordnung und der Unordnung – »the other dimensions« – zueinander in Beziehung. Eine Frau sucht unter dem Bett Schutz vor Killern, die vom Korridor aus eindringen könnten, eine zweite unterstützt die Landung Außerirdischer, die dritte Protagonistin kann nur auf allen Vieren über eine Brücke kriechen – zu bedrohlich sind Bilder aus ihrer Vergangenheit. Wut und Zorn verwandeln sich bei einer vierten Frau in mächtige Windstöße, die ihre ganze Wohnung zerstören. In der letzten Episode usurpieren von außen kommende Geräusche das gesamte Haus, das schließlich abgedunkelt wird und sich nur so in die Vorstellungswelt der fünften Frau fügen kann. Die Studien stellen eine Welt infrage, in der wir, die anderen, scheinbar ohne Probleme leben. Es gehen Bedrohungen von dieser Welt aus, gegen die sich die Frauen schützen wollen. Jede der fünf Figuren findet dabei einen Weg, mit der Angst umzugehen. Eija-Liisa Athila untersucht mit modernsten technischen Hilfsmitteln, wie die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verwischen können. Die Verbindung dieser einzelnen Geschichten geschieht durch die Schauspielerinnen, die in allen Geschichten dieselben sind, und durch eine durchgängige, sorgfältig eingesetzte Filmsprache. Diese erscheint manchmal medizinischen Dokumentationen entlehnt und manchmal könnte sie direkt aus Horrorfilmen kommen. Auf diese Weise kommt Eija-Liisa Athila der klinischen Beschreibung von psychotischen Erfahrungen sehr nahe. »This sort of absurd combination of fantasy and realism is characteristic of psychotic experiences.« (Ahtila 2002/2020) Seit Beginn der 1990er Jahre tritt die finnische Künstlerin mit Film- und Videoarbeiten auf, die mit Mitteln des Experimentalfilms bewegte Bilder in Szene setzen. Die dramatische Erzählung ist ihr Medium, dabei gehen bewegtes Bild und gesprochene Sprache eine explizite Verbindung ein. Die gesprochene finnische Sprache unterlegt sie in ihren filmischen Arbeiten überdies mit englischen Untertiteln, sodass neben der gesprochenen Sprache jeweils auch Text als sichtbarer Bestandteil einbezogen wird. Eija-Liisa Ahtilas Erzählungen handeln meist von alltäglichen Situationen, in die jedoch existentielle psychologische Phänomene integriert sind. Generationenkonflikte, Paarbeziehungen, sexuelle Erfahrung und Pubertät, aber auch psychotische Zustände werden in den szenischen Darstellungen thematisiert. Sie sucht bewusst die Nähe zu filmischen Phänomenen der Massenkultur, deren vertrautes Vokabular sie aufbricht. Ihren Filmen gehen intensive Recherchen und gezielte Interviews voraus. Sie arbeitet mit hyperrealistischen Bildern in brillantem Licht und gesteigerten Farben und 171

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Abb. 10–12 Eija-Liisa Ahtila, »Love is a Treasure«, FIN 2002, Episode 1  : Underworld  ; Episode 4  : The Wind  ; Episode 5  : The House

spielt dabei mit Werbeästhetik, bricht jedoch deren Schein durch die Gedanken und Gefühle ihrer zumeist weiblichen Figuren in poetischen Monologen und Blicken, die als parallele Bühnen ihrer Seelenlage fungieren. So bildet das Alltägliche den Ausgangspunkt für Reisen in unerwartete Territorien des Ichs.

Ausbrechen aus dem Symbolischem der patriarchalen Kultur als Psychothriller-Poetry-Slam Sabine Marte, »B-Star, untötbar  !« (2009) »Schwer zu sagen, was da war Sie kam herein redete ohne Unterlass er notierte hatte keine Fragen Sie ist quer durch den Film gegangen hat völlig von der Rolle gelassen ist durch die Projektion geschossen bis zum kompletten Zusammenbruch 172

»I turn over the pictures of my voice in my head«

Abb. 13–15 Sabine Marte, »B-Star, untötbar  !«, AT 2009

Wir sahen sie auf der Straße sie hatte erbrochen umgeben von Hunden die an ihr rochen zuvor sie kam herein eine ganz Versponnene mit Weitwinkelblick den Mund immer in Bewegung selbst wenn sie nicht spricht ihr Atem faulig/ pelzig/heiss ein minzfarbener Häkelpullover unter den Achseln kein Schweiß 173

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Abb. 16–18 Sabine Marte »B-Star, untötbar  !«, AT 2009

ihre Augen ein gekippter See ekelerregend sie nippt am Tee sie nippt am Tee endlich sitzt sie da ihr gegenüber ein Beamter sie wird aussagen bis alles, aber auch wirklich alles von ihr auf dem Papier ist dann hat sie ausgesagt und geht zusammenbrechen geht zusammenbrechen 174

»I turn over the pictures of my voice in my head«

auf der Straße der Sieger schließlich ist sie ja durchgebrochen von der Leinwand in die Szene durch die Projektion auf die Straße hat auf die Fiktion vergessen und in den Film gekotzt bis alles – aber auch wirklich – alles draußen war sodaß sie sterben konnte ohne sich nass zu machen« (Text »B-Star, untötbar  !«, Sabine Marte 2009) »Metasplatter« nennt Sabine Marte ihren Umgang mit Sprache, Stimme, Repräsentation und Wahrnehmung, die Trennung von Sprache und Körper oder das Geisterhafte der Filmbilder. Schon 1999 hat die Film-, Sprach-, Musik- und Performance-Künstlerin eine Videoarbeit mit dem Vorsatz »Ich möchte gerne einmal einen Horrorfilm machen« überschrieben. Mit »B-Star, untötbar  !« (2009) ist ihr Vorhaben gelungen. Ein Frauen*körper, überbelichtet, und ein akustisches Chaos aus Geräuschen und Stimmen ordnen sich – scheinbar – und das starr in die Kamera gerichtete Gesicht der Künstlerin wird erkennbarer, während auf der Akustikebene die Inhalte der Tonquellen unterscheidbar werden. Die Augen im unbeweglichen Gesicht der Protagonistin invertieren den Blick der Kamera, der Soundtrack liefert einen Rap zu einem Zusammenbruch einer Frau, Auslöser war möglicherweise ein sogenannter »Vorfall«. Die Couch, auf der die Protagonistin sitzt, bewegt sich. Eine wilde Reise, ja Jagd, quer über einen Dachboden beginnt, rückwärts beschleunigt dieses Sofa, immer und immer wieder, gruselig, atemlos, wie die Stakkato-Sprache der Protagonistin, die erzählt. Ist es ein Polizeibericht, von dem sie spricht  ? Weder ist die Ursache dieser bedrohlichen, foltergleichen Situation des rasenden Möbels auszumachen, noch scheint eine Auflösung der Qual in Sicht. Die Augen der Frau bleiben weiterhin unbeweglich, unerbittlich, konfrontativ. Das physisch schmerzhafte Schleudertrauma ist nur ein Aspekt der Dekonstruktion vieler Komponenten eines Horrorfilms. Ein leerer Dachboden, eine wehrlose, starre Frau, unsichtbarer Gewalt ausgesetzt, nicht zuletzt auch die 175

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rätselhaft schaurige Tonspur und die endlose Wiederholung des Foltervorgangs, Repetition als Merkmal eines selbstrepetitiven Genres. Der Dachboden als Paraphrase für einen Raum, für eine Gesellschaft, in der Machtverhältnisse gegeben sind. Der filmische Apparatus wird Gleichnis. Die Subjekt-Objekt-Beziehung wird aufgebrochen und demaskiert die patriarchalen Strukturen unserer Wahrnehmung der genrekonformen Filmsprache und der natürlichen Sprache.

Sprachermächtigung und Synchronisierungs-Normierung – Kerstin Honeit, »ich muss mit ihnen sprechen« (2015/2016) »Ich muss mit Ihnen sprechen Ich werde keinen Ton mehr rausbringen können. Kein Wort, was ich sage Das sagt alles Ich sag dir was Wissen Sie wie man hier sagt Was hab ich gesagt Darf ich das alleine klären und mit den beiden sprechen  ? Darüber sprechen wir lieber heute Abend noch einmal Und was bitte wollen sie damit sagen  ? Unter uns gesagt Du hast so eine Art Schock und weißt nicht was du sagst Sag mir, was das bedeutet Ich höre die Stimme Was faselst Du für einen Unsinn Du würdest Dich wundern, über was wir alles sprechen Ich sage Ihnen Sprechen wir nicht mehr darüber Jetzt hör mal, ich muss dir mal was sagen Und um Missverständnisse zu vermeiden Was ich Euch jetzt erzähle, wird nichts an der Lage ändern Kann ich Ihnen noch was erzählen  ? Kannst Du mir sagen, wozu das gut ist  ? Das wäre also jetzt der Moment, in dem ich sagen sollte Sprich Kind 176

»I turn over the pictures of my voice in my head«

Abb. 19 Ausstellungsansicht  : »ich muss mit ihnen sprechen« (Kerstin Honeit, DE 2018), Teil der Gruppenausstellung Throwing Gestures 2018 Berlin

Ich möchte meine Geschichte zu Ende erzählen, falls du nichts dagegen hast  ? Was soll ich da noch sagen« (Text »ich muss mit ihnen sprechen« Kerstin Honeit 2015/16. Transkription WBD) In der Found-Footage-Collage »ich muss mit ihnen sprechen« (2015/2016) reflektiert die Medienkünstlerin Kerstin Honeit Sprachermächtigung und gleichzeitig Normierung in von immer derselben Synchronsprecherin gedubbten Sätzen verschiedener schwarzer Schauspielerinnen in Spielfilmen und Serien. Die Miniatur »ich muss mit ihnen sprechen« ist ein stetiger Prozess des Stimme Anhebens und Vorbereitens auf das Sprechen und stellt dabei den Sprechakt und die Ermächtigung an sich kritisch in Frage. Sie untersucht die Repräsentation von People of Color im deutschen Mainstream-Film und Fernsehen vor dem Hintergrund einer Recherche zur Politik der Filmstimmen-Synchronisation. Ausgangspunkt ist die »weiße« deutsche Sprecherin, die Whoopi Goldberg sowie über dreißig andere afroamerikanische Schauspielerinnen synchronisiert – unabhängig von ihrem Alter und anderen Charakteristiken. Dies ist eine gängige Praxis in der 177

Wilbirg Brainin-Donnenberg

Abb. 20 Ausstellungsansicht  : »ich muss mit ihnen sprechen« (Kerstin Honeit, DE 2018), Teil der Gruppenausstellung Throwing Gestures 2018 Berlin

Politik der deutschen Filmsynchronisation, wo einige wenige (»weiße«) Stimmen angeblich ähnliche, US-amerikanische Schauspielertypen darstellen. Auf diese Weise werden bereits konstruierte Stereotypen weiter verfestigt und durch die Auswahl von Stimmen verstärkt. (Honeit [2018])

Wenn es stille, meist namenlose »Staffage-Frauen« waren, die sich – wenn überhaupt – mit einer ebensolchen Freundin über einen Mann unterhalten haben, dann sind es mittlerweile zunehmend Sprechrollen geworden, die weibliche Figuren in Film und Fernsehen an Bedeutung gewinnen lassen (siehe Bechdeltest2). Daraus ergibt sich die zentrale Forderung, dass diese Stimmen mit Sorgfalt und möglichst viel Authenzität – also auch durch vielfältige und kulturell vergleichbare Stimmen – zu synchronisieren sind. Nach Jahren der Schweigsamkeit ist diese (tatsächliche) Sprachermächtigung zu fördern, statt sie durch Normierung weiterhin der Nebensächlichkeit zuzuführen. Wenn nicht nur keine Simplifizierungen hinsichtlich weiblicher Stimmen vorgenommen werden sollen (nicht  : eine einzige Stimme für 30 Schauspielerinnen), sondern darüber hinaus auch weitere Anforderungen an Diversität zu berücksichtigen sind (ethnische Her178

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kunft, sexuelle Orientierung, sozialer Hintergrund, nationale Identität), dann wird augenscheinlich, welch ungeheures Schadenspotenzial hier vor uns liegt. Wenn dieser kulturpolitischen Bedrohung entgegengehalten wird, dass es sich ohnehin nur um Unterhaltungsindustrieprodukte handelt, dann sei daran erinnert, wie sehr die bundesdeutschen Synchronisierbetriebe die österreichische Sprache verarmen ließen. Kinder verlernen ihre autochtone Sprache, Migrant*innen benützen die Sprachmuster einer deutschen Synchronisieranstalt statt die ihrer Deutschkurse. Von tendenziösen politischen und gesellschaftspolitischen Inhalten abgesehen, erscheint in Anbetracht des rasant ansteigenden Volumens der Streamingangebote eine sorgfältige Beobachtung und Evaluierung des Sprachwildwuchses in unserem täglichen Konsum von Fiction und Nonfiction von Bedeutung. Ausbrechen aus den Normen, Ausbrechen aus den patriarchalen Strukturen, Ausbrechen aus den Film-Figuren-Projektionen, Ausbrechen aus den filmischen Konventionen »[…] wenn ich spreche, dann handle ich.« (EXPORT 2008) »[…] also nur heraus, Sprache  ! Aus dem ständigen Sichverschließen  : heraus und hinaus  !« ( Jelinek 2008) Sprache ermächtigt Frauen, ihren Platz in der Gesellschaft hörbar zu fordern und einzunehmen. Im Avantgardefilm genauso wie auch mehr und mehr im Mainstream. Der Sprach-Fluss wird nicht mehr versiegen.

Anmerkungen 1 Titel eines Videos von VALIE EXPORT (2008) 2 Den Bechdel-Test oder Bechdel-Wallace-Test machte 1985 die amerikanische Cartoon-Zeichnerin und Autorin  Alison Bechdel  in ihrem Comic »Dykes to Watch Out For« bekannt. Er ist kein wissenschaftlicher Test, wird jedoch herangezogen, um Stereotypisierungen weiblicher Figuren in Spielfilmen wahrzunehmen und zu beurteilen. Drei Fragen werden gestellt  : »Gibt es mindestens zwei Frauenrollen [, die einen Namen haben]  ? Sprechen sie miteinander  ? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann  ?« https://de.wikipedia.org/wiki/Bechdel-Test

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Wilbirg Brainin-Donnenberg

Textquellen/Literatur Eija-Liisa Ahtila [2020], Webseite der Künstlerin  : https://crystaleye.fi/eija-liisa_ahtila/films/loveis-a-treasure [20.7.2020] Christine Noll Brinckmann (1999), »Dringlichkeit des Privaten. Kundgabe und Selbsttherapie in den Filmen Anne Charlotte Robertsons«, in  : Cinema, Heft 44 («Das Private»), 54–64 VALIE EXPORT (2007) zu »The Voice as Performance, Act and Body« https://www.sixpackfilm. com/de/catalogue/2419/ [20.7.2020] Kerstin Honeit [2018], »ich muss mit ihnen sprechen«. Kurztext zur gleichnamigen Installation, Video, 30 Karten auf 6 Aluminiumleisten, 1  :35 min, HD Farbe, Ton, 2015/2016, in  : Throwing Gestures. Ausstellung. https://gesture-media-politics.de/workshop/ausstellung-throwing-gestures/ [20.7.2020] Elfriede Jelinek (2008), Ungeduldetes, ungeduldiges Sichverschließen (ach, Stimme  !). Zu Valie ­Exports Performancefilm »I turn over the pictures of my voice in my head, 2008«. https://www. elfriedejelinek.com/fvaliest.htm [20.7.2020] Anne Charlotte Robertson zu »Apologies« (1998), in  : Wilbirg Donnenberg, Astrid Ofner, Andreas Ungerböck (Hg.), Frauen und Wahnsinn im Film. Katalog zu Filmschau und Symposion. Wien Taylor Swift (2020), in  : Lana Wilson, »Miss Americana«, Dokumentarfilm, USA.

Filme/Videos Eija-Liisa Ahtila (2002), »Love is a Treasure«, FIN 2002 (Restauration 2020)  ; 35mm, Farbe, 57 min., FINOFmeU. https://werkleitz.de/en/love-is-a-treasure. Kontakt  : crystal eye, http://crystaleye.fi VALIE EXPORT (2007), »The Voice as Performance, Act and Body« AT 2007, PAL, 11’34’’. Verleih  : Sixpack Film https://www.sixpackfilm.com/de/catalogue/2419/ VALIE EXPORT (2008), »I turn over the pictures of my voice in my head« AT 2008, PAL, 11’30’’. Verleih  : Sixpack Film. https://www.sixpackfilm.com/de/catalogue/1765/ Kerstin Honeit (2015/16), »ich muss mit ihnen sprechen« (DE 2015/2016), 1  :35 min, HD colour. https://vimeo.com/140417675. Kontakt  : Kerstin Honeit, http://kerstinhoneit.com Sabine Marte (2009), »B-star untötbar  !«, AT 2009, Farbe, 7’ https://www.youtube.com/watch? v=THVpQy8yWlg Musik-Performance mit englischem Text. https://www.youtube.com/watch? v=g8Tqa_MipVA&list=PLXUcdwj-ElaHqHGbraodV69RWWJ5H0GI-&index=4. Verleih  : Six­pack Film www.sixpackfilm.com Anne Charlotte Robertson (1983–1990), »Apologies«, USA 1983-90, super 8, Farbe, 17 min. Kontakt  : Harvard Film Archive. https://harvardfilmarchive.org/collections/anne-charlotte-robert son-collection

Bildnachweis Abb. 1 VALIE EXPORT Performance The voice as performance, act and body. La Biennale di Venezia 2007, Courtesy of VALIE EXPORT and sixpackfilm

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Abb. 2–3 VALIE EXPORT, I turn over the pictures of my voice in my head 2008. Courtesy of VALIE EXPORT and sixpackfilm Abb. 4–6 Anne Charlotte Robertson, Apologies 1983–1990. Courtesy of Anne Charlotte Robertson Collection, Harvard Film Archive, Harvard College Library Abb. 7–12 Eija-Liisa Ahtila, Apologies 1983–1990. Courtesy of the Artist and Marian Goodman Gallery (c) Crystal Eye Abb. 13–18 Sabine Marte, B-star untötbar  ! 2009. Courtesy of the Artist. www.sabinemarte.klingt.org Abb. 19 und 20 Kerstin Honeit, ich muss mit ihnen sprechen 2015/2016, in der Ausstellung Throwing Gestures. Berlin 2018. Fotos  : Torsten Schmitt Fotografie | Berlin www.fotosch.de

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Frauenbilder in Filmen Genderspezifika in der filmischen Erzählung Der Diskurs zum Thema »Geschlechtergerechtigkeit in der filmischen Erzählung« hat seit einigen Jahren Hochkonjunktur. Kritisiert werden gesellschaftliche Herrschafts- und Machtverhältnisse, geschlechtliche Normierungen und soziale Ungleichheit, die häufig in Filmerzählungen fortgeführt und fixiert werden. Warum aber gibt es so wenig geschlechterdifferente Zugänge in der filmischen Narration  ? Die erste, sich aufdrängende Erklärung findet sich im Ungleichgewicht bei der Filmherstellung  : Frauen und andere benachteiligte Gruppen sind weltweit in geringem Prozentsatz am filmischen Schaffen beteiligt. Das Bild, das von Frauen gezeichnet wird, ist vorrangig vom Blick der Männer geprägt. Bevor ich anhand meiner eigenen Schreiberfahrung den inneren und äußeren Widerständen in Bezug auf Gendersensibilität nachspüre, sollen konkrete Zahlen das Ausmaß des Missverhältnisses vor und hinter der Kamera dokumentieren.

Belege und Zahlen Eine Studie des Geena Davis Institute On Gender and Media, »Gender Bias without Borders« (Smith/Choueiti/Pieper [2014]), bei der 120 populäre Spielfilme aus 11 Ländern ausgewertet wurden, kam zum Ergebnis, dass nur 20 % Drehbuchautorinnen und 7 % Regisseurinnen unter den Filmschaffenden der untersuchten Filme zu finden waren. Laut Österreichischem Film Gender Report 2012–2016 sieht das Verhältnis hierzulande etwas besser aus  : 29 % Drehbuchautorinnen und 26 % Regisseurinnen stehen 71 % Drehbuchautoren und 74 % Regisseuren gegenüber. Beide Studien belegen außerdem, dass Filme unter weiblicher Regie oder mit Drehbuchautorinnen signifikant mehr Frauen- oder Mädchencharaktere aufweisen. Eine aktuellere Studie aus dem Jahr 2020 von Martha M. Lauzen, die 100 amerikanische Spielfilme mit Top-Einspielergebnissen aus dem Jahr 2019 untersuchte, weist ebenfalls nach, dass bei jenen Filmen, bei denen mindestens eine Regisseurin oder eine Drehbuchautorin beteiligt war, der Anteil der weiblichen Filmfiguren signifikant ansteigt. Filme mit weiblicher 183

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Beteiligung bei der Filmherstellung weisen 42 % weibliche Hauptfiguren und 58 % Protagonistinnen auf. (vgl. Lauzen 2020, 6–7) Über Frauen wird also deutlich weniger erzählt als über Männer. Aber die Anzahl der Frauenfiguren sagt noch nichts über die Art der Darstellung von Frauen in Filmen aus. Kommen Frauen in Filmen vor, dann ist die Charakterisierung häufig in geschlechtlichen Normierungen verhaftet. Auch diese Tatsache wurde in der jüngeren Vergangenheit in vielen Studien belegt.1 Der Bechdel-Wallace-Test2, 1985 von der amerikanischen Cartoon-Zeichnerin Alison Bechtel in einem Cartoon eingeführt, testet die Stereotypisierung von Frauenfiguren in Spielfilmen. Er besteht aus drei einfachen Fragen  : Gibt es im Film mindestens zwei weibliche Figuren mit Namen  ? Sprechen diese beiden Figuren miteinander  ? Unterhalten sie sich über etwas anderes als über einen Mann  ? Der Test sagt zwar nichts darüber aus, wie eine Filmfigur gezeichnet ist, aber er vermittelt durchaus ein Bild von der Wertigkeit der Frauenfiguren innerhalb der Narration. Von den österreichischen Kinospielfilmen im Zeitraum von 2012–2016 bestehen 53 % den Bechdel-Wallace-Test für weibliche Filmfiguren. Es gibt also in 53 % der österreichischen Spielfilme dieser Zeit immerhin mindestens zwei weibliche Figuren mit Namen, die miteinander sprechen und sich nicht nur über Männer unterhalten. Im Österreichischen Film Gender Report wird dieser Test auch bei männlichen Filmfiguren angewandt. Männliche Filmfiguren sind differenzierter gezeichnet. In 85 % der untersuchten Kinofilme gibt es mindestens zwei männliche Filmfiguren mit Namen, die miteinander nicht nur über Frauen sprechen. (Flicker/Vogelmann 2018, 78) Laut der oben genannten Studie des Geena Davis Institute On Gender and Media, bei der 5799 sprechende Charaktere evaluiert wurden, ist Sexualisierung von Frauenfiguren weltweit Standard. Weibliche Teenager werden genauso häufig sexualisiert wie junge erwachsene Frauen im Alter von 21 bis 39 Jahren. Ab 40 besitzen Frauen in filmischen Erzählungen meistens keine Sexualität mehr. Frauen und Mädchen werden doppelt so oft wie Männer und Buben beim Ausziehen gezeigt, sie treten doppelt so oft fast oder ganz nackt auf, sie sind signifikant dünner und sogar fünfmal so oft »attraktiv« besetzt wie männliche Schauspieler. Frauenfiguren werden nur in 22,5 % der untersuchten Filme als berufstätig dargestellt, in hohen Berufspositionen selten bis gar nicht. (Smith/Choueiti/Pieper 2014). In österreichischen Kinospielfilmen 2012–2016 wurde über die Attraktivität weiblicher Figuren dreimal häufiger gesprochen als über die Attraktivität männlicher Figuren. »Bei 2/3 (68) der 100 untersuchten österreichischen Kinospielfilme im Zeitraum 2012–2016 kamen 353 Szenen mit sexualisierter Gewalt vor. 70 % der Aktionen sexualisierter Gewalt wurden 184

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von männlichen und 30 % von weiblichen Filmfiguren verübt.« (Flicker/Vogelmann 2018, 126) Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Das Frauenbild in Filmen scheint sich aus Träumen und Ängsten der Männer zu speisen. Hélène Cixous forderte bereits 1975, dass »unsere Hälfte der Welt neu geschrieben werden muss. […] Es ist unerlässlich, dass die Frau sich auf und in den Text bringt – so wie auf die Welt, und in die Geschichte –, aus ihrer eigenen Bewegung heraus.« (Cixous 1975, 39) Cixous vertritt die Auffassung, dass Schreiben bis heute auf viel weitverbreitetere, repressivere Weise als man ahnt oder sich eingesteht, von einer typisch männlichen libidinös kulturellen  – und demzufolge politischen  – Ökonomie gesteuert worden ist. […] von einem Ort aus, der undifferenziert alle Anzeichen für Gegensätzlichkeit (und nicht für die Unterschiedlichkeiten) zwischen den Geschlechtern mitgetragen hat und wo die Frau nie zu ihrem Wort gekommen ist. (ebd. 43)

Mehr Frauen zu Wort kommen zu lassen, ist ein erster Schritt, um mehr Diversität abzubilden, auch auf der Leinwand. Allerdings  : Frausein allein ist noch keine Garantie für das Ende von Stereotypisierung und Klischee  ! Mit welchen Schwierigkeiten hat eine ›sich schreibende‹ Frau zu tun  ? Auf der Basis meiner persönlichen Erfahrungen als Drehbuchautorin versuche ich eine Annäherung an die Frage, warum sich diese festgefahrenen Frauenbilder so schwer verändern lassen, mit welchen inneren und äußeren Widerständen es eine schreibende Frau zu tun hat.

Dominierende Dramaturgiemodelle Der Wunsch nach Kalkulierbarkeit des Erfolgs von Filmen hat eine eigene Branche, die der Drehbuchliteratur und Dramaturgie, entstehen lassen. Dramaturgiemodelle werden wie Kochrezepte verstanden, Geschichten werden oft hineingezwungen in Schablonen, die nicht immer passend sind. Es existiert gewissermaßen ein blindes Vertrauen in das sogenannte klassische Drama eines Helden, der in einen Konflikt gezwungen wird, den es zu bewältigen gilt. Die zielorientierte Handlung wird als Kausalitätskette verstanden, am Ende soll die 185

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Geschichte abgeschlossen sein. Das Publikum muss sich mit der Hauptfigur identifizieren können, das zählt zu einem Hauptkriterium für Erfolg. In der Literatur über das Drehbuch wird an einer Tradition festgehalten, die von der Poetik Aristoteles direkt nach Hollywood führt. Bücher, die sich mit anderen Modellen beschäftigen, die sich auf andere Traditionen berufen, sind kaum zu finden. Mit der Vorherrschaft des Rationalen und  – wie ich meine  – der eher der männlichen Welterfahrung zuordenbaren Strukturmodelle landet auch das Denken in Schablonen und Schemata, wie wir es in gängigen MainstreamFilmen der Gegenwart fast ausschließlich vorgeführt bekommen. Im europäischen Film dominieren diese Dogmen zwar nicht annähernd so stark wie im US-amerikanischen Film, aber die Schablonen haben trotzdem weite Verbreitung gefunden, auch in den Köpfen von Entscheidungsträger*innen oder Jurymitgliedern. Sie kommen oft zur Anwendung, um Begründungen von Förderentscheidungen zu formulieren, um Argumente für oder gegen einen Stoff anzuführen, um Orientierung bei der Bewertung von Inhalten zu erlangen. Ein bedeutender Lehrmeister aller Heldenreisen ist jedenfalls der Mythenforscher Joseph Campbell. Seine Forschungen haben auf simplifizierende Art Eingang in Dramaturgiemodelle gefunden. Die Reise des Helden wird Handlung vieler Geschichten, die Etappen dieser Reise heißen beispielsweise »Ruf des Abenteuers«, »Eindringen in die geheimste Höhle«, »Begegnung mit dem Mentor«, »Auferstehung« oder »Rückkehr mit dem Elixier«. (vgl. Campbell 2011) Die Psychoanalytikerin Maureen Murdock befasst sich in ihrem Buch »Der Weg der Heldin« mit der weiblichen Heldenreise. Nach Murdock befinden sich viele Frauen im Kontext Heldenreise in einer Krise, deren Ursache die Nachahmung des Modells der männlichen Heldenreise ist, das jedoch dem Frau-Sein nicht gerecht wird. Murdock wollte verstehen, in welcher Beziehung die Reise der Frau zur Reise des Helden steht und fragte Joseph Campbell. Zu ihrer Überraschung antwortete er, dass Frauen diese Reise nicht zu unternehmen bräuchten  : Die gesamte mythologische Tradition besagt, dass Frauen bereits da sind. Sie muss nur erkennen, dass sie der Ort ist, wohin die Leute streben. Erkennt die Frau ihr wunderbares Wesen, dann verstrickt sie sich nicht in die Vorstellung, pseudomännlich zu sein. (Murdock 1994, 12)

Campbells Antwort ist verstörend. Welche Frau will der Ort sein, wohin die Leute streben  ? Sie [die Frauen] wollen keine Wiederverkörperung der geduldig wartenden, endlos webenden und endlos das Gewebte wieder auftrennenden Penelope sein. 186

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Sie wollen nicht die Mägde einer vorherrschenden männlichen Kultur sein, den männlichen Göttern dienend. Und sie wollen auch nicht den Rat fundamentalistischer Prediger befolgen und an den heimischen Herd zurückkehren. Sie brauchen ein neues Modell, das das Verständnis von dem, wer und was eine Frau ist, in sich birgt. (ebd., 12) Die gängigen Dramaturgiemodelle basieren auf einer männlichen Welterfahrung, einer männlichen Ordnung und Herrschaft. Die einfache Umkehrung der Geschlechter innerhalb einer Narration funktioniert nur bedingt. Natürlich kann man auch eine Frau auf eine Heldinnenreise schicken, Abenteuer erleben lassen, Ziele erreichen, scheitern oder siegen lassen. Meiner Schreiberfahrung nach eignen sich tatsächlich sehr wenige Geschichten über Frauen zur Heldinnenreise im campbellschen Sinn.

»Maikäfer flieg« und »Der Lauf der Dinge« Bei unserem Kinospielfilm »Maikäfer flieg«, einer Adaption von Christine Nöstlingers gleichnamigem Roman (Nöstlinger 1996), haben Mirjam Unger und ich versucht, anstatt einer klassischen dramatischen Form eine sich steigernde Assoziationskette herzustellen. Der Film hat eine episodische Struktur, die trotzdem dramatisches Tempo erzeugen soll und ein Eintauchen in die Geschichte ermöglicht. Obwohl wir am Ende des Finanzierungsmarathons die gläserne Decke für Filme von Frauen mit dem Gesamtbudget von 3,4 Millionen sprengen konnten, gab es bis zur geschlossenen Finanzierung einige Rückschläge, die immer mit dem Zweifel an unserer gewählten Struktur und mit dem Zweifel an der Hauptfigur zu tun hatten. Kann man mit einer episodischen, nicht zielorientierten Geschichte, die noch dazu ein kleines Mädchen als Hauptfigur hat, genügend Publikum generieren  ? Gibt es Identifikationspotenzial mit einem Kind in der Hauptrolle  ? Wir definierten »Maikäfer flieg« als Familienfilm, einem Genre, das in Österreich kaum vorkommt und damit auch nicht berechenbar ist. Bis zum Kinostart mussten wir dagegen ankämpfen, dass der Film als reiner Kinderfilm in eine falsche Nische gestellt wird. Die Freigabe ab 12 Jahren kam unseren Bemühungen diesbezüglich entgegen. Unser Verleih sah diese Altersfreigabe als großen Rückschlag, war nun die Vermarktung als Kinderfilm nicht mehr möglich. Viele (Männer) glaubten gleich gar nicht mehr an die Vermarktbarkeit des Filmes. Das Gegenteil war der Fall. Trotz reduzierter Unterstützung aufgrund mangelnden Vertrauens in den Film erreichten wir im Jahr 2016 einen Platz unter den österreichischen Top10-Filmen in Bezug auf Kinopublikumszahlen. 187

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Abb. 1 Dreharbeit zu Maikäfer flieg (A 2016) Regie  : Miriam Unger, Drehbuch  : Sandra Bohle, Miriam Unger. Hier im Bild  : Kamerafrau Eva Testor und Hauptdarstellerin Zita Gaier

(Teuschel/Kandl/Josef 2017, 39) Bei der Erstausstrahlung im Fernsehen sahen 699.000 Personen unseren Film, eine selten erreichte Quote für einen österreichischen Kinospielfilm. (Teuschel, Kandl/Josef 2018, 53) Aber auch Frauen selbst tragen dazu bei, bestehende Stereotypen zu festigen, indem sie unhinterfragt bestehende Bilder nachzeichnen. Einige Kognitionswissenschaftler*innen liefern dazu Hinweise  : Rund 80 % unseres Denkens sind uns nicht bewusst. Alles Denken ist physisch. Die Form unseres Denkens hängt von der physischen Beschaffenheit unserer Gehirne ab. Unsere Erfahrungen in der Welt bestimmen die Beschaffenheit unserer Gehirne. Bei der Geburt haben wir eine riesige Menge zufälliger neuronaler Verbindungen. Nur etwa die Hälfte bleibt bestehen. Unsere Erfahrungen entscheiden, welche Verbindungen bestehen bleiben und welche geschwächt werden. Je häufiger Synapsen benutzt werden, desto stärker werden sie. Menschen begreifen die Welt unterschiedlich, weil unsere Gehirne unterschiedlich geformt sind. Sprache wird demnach nicht buchstäblich begriffen. Unser Gehirn aktiviert beim Begreifen einzelner Worte ganz automatisch eine Vielfalt angegliederter Ideen, die in Zusammenhang mit unserem individuellen Weltwissen stehen. (Lakoff/ Wehling 2008) 188

Frauenbilder in Filmen

Abb. 2 Zita Gaier als Christine in Maikäfer flieg (A 2016), Regie  : Miriam Unger, Drehbuch  : Sandra Bohle, Miriam Unger

In einer frühen Fassung des Drehbuchs von »Maikäfer flieg« kam möglicherweise eine unbewusste Assoziationskette zum Ausdruck, eine Art blinder Fleck in Bezug auf Klischees. Frau von Braun in »Maikäfer flieg« ist eine Figur, die mit ihren Kindern in der Villa lebt, die von einem russischen Major samt seiner Entourage besetzt wird. In Christine Nöstlingers Roman erfährt man, dass der Major in ihrem Zimmer gewohnt hat. Die elfjährige Christine beobachtet, wie der Major Frau von Braun an den Hintern greift. Es gibt eine Szene, wo alle Kinder vor dem Zimmer der Frau von Braun sitzen und mit Iwan, einem Soldaten, Russisch lernen. Die Tür geht auf, der Major kommt heraus und Christine beobachtet Frau von Braun, wie sie sich die Haare richtet. Auch der Sohn von Frau von Braun versteht, was da los ist, und läuft wütend davon. Beim Auszug der Russen sieht Christine Frau von Braun in der Küche weinen. Aufgrund ihrer Beobachtungen schlussfolgert sie, dass die beiden verliebt sein müssen. Der Roman behält konsequent die Perspektive des Kindes bei, von der Innensicht der anderen Figuren erfährt man nichts. Im Film ist das nicht möglich, jede Figur wird zu einem eigenständigen Charakter geformt. Im Fall von Frau von Braun, die ja nur eine Nebenfigur darstellt, blieben wir scheinbar bei der Buchvorlage. Sie verliebt sich in den schönen Major, gibt sich ihm hin und weint beim Abschied. In ersten 189

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Fassungen des Drehbuchs gab es keine »Eroberungsszene« der Frau von Braun. Am liebsten hätten wir nur die Sexgeräusche gezeigt, wenn die Kinder mit Iwan Russisch lernen. Das funktionierte nicht, weil nicht zu verstehen war, woher und von wem sie kommen. Also mussten wir kurz ins Zimmer hineinschauen und schrieben eine gewöhnliche Sexszene dazu. Uns ist beim Schreiben tatsächlich das Klischee dieser Sequenz zunächst nicht aufgefallen. Die Art, wie eine Frau in solchen Situationen seit jeher dargestellt wird, muss sich auch in meinem Hirn in den Synapsen fest verankert haben. Mein normalerweise gendersensibler Schreibinstinkt enttarnte diese Reproduktion eines Klischees vorerst nicht, vielleicht auch deshalb, weil uns die Figur der Frau von Braun zu wenig interessierte. Erst in einer späteren Fassung stellten wir die Frage nach den Motiven von Frau von Braun. So entstand dann statt der schwachen, willfährigen Figur eine Frau von Braun, die selbstbestimmt und berechnend gezeichnet wurde. Sie ergreift die Initiative, verführt den – in der Hierarchie ganz oben stehenden – Major und schützt sich damit selbst und auch die anderen vor Übergriffen. Frau von Braun hat durch diesen minimalen und unwesentlich erscheinenden Eingriff, der Veränderung ihres Habitus, ein komplett anderes Profil erhalten. Ihre Figur bekam mehr Tiefe, Wahrhaftigkeit und Realistik. Pierre Bourdieus Habituskonzept liefert ein weiteres Erklärungsmodell zur Frage nach der Ursache von festgefahrenen und schwer als erlernt zu durchschauenden Verhaltensweisen. In Bourdieus Ansatz erzeugen die für eine Gruppe charakteristischen (›objektiven‹) Existenzbedingungen bestimmte Dispositionen (Habitus), die wie eine Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkmatrix für neue Erfahrungen funktionieren und damit die Tendenz haben, sich zu reproduzieren, auch wenn die (neue) Umgebung von jener abweicht, an die diese habituellen Strukturen objektiv angepasst wurden. Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen gehören dabei zu jenen, die besonders tief eingeprägt sind. (vgl. Bourdieu 1976 [1972], insb. 164ff.) Die Wiener Psychotherapeutin Eva Novotny sagte in einem Vortrag mit dem Titel »Eigensinn-Courage-Humor, Strategien und Werkzeuge für individuelle und strukturelle Veränderungen zur Gleichstellung von Frauen in der Filmbranche«  : Das Produkt der Inkorporation gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse im Habitus der Frauen wird ihnen schließlich als Natur zugeschrieben, ja sie schreiben es sich selbst als Wesen zu. Das Konzept des Habitus lässt uns also auch verstehen, wie Frauen dazu kommen, so oft in Komplizenschaft zu männlicher Dominanz zu geraten. Es erklärt die hartnäckige Übernahme immer wieder derselben, manch190

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mal nachlässig übertünchten, gesellschaftlichen Rollen der Reproduktion und Zuarbeit. (Novotny 2011, 4–5)

Ein weiteres Beispiel aus meiner Schreibpraxis zeigt, wie schwer es ist, »andere« Frauenfiguren durchzusetzen. Bei dem demnächst erscheinenden Kinospielfilm »Der Lauf der Dinge«, den Ulrike Kofler mit mir und Marie Kreutzer (Kofler 2020) geschrieben hat, geht es um die Verzweiflung einer kinderlosen Frau. Kurz zum Inhalt des Films  : Alice und Niklas gönnen sich ein paar Tage Urlaub in einem Ferienressort in Sardinien. Die beiden haben mehr zu bewältigen als nur ein wenig Loslösung von ihrem stressigen Alltag in Wien  : ihren unerfüllten Kinderwunsch, der nach der siebenten erfolglosen In-Vitro-Fertilisation nun wohl als Realität anerkannt werden muss. Die jahrelange Prozedur, ein Kind in die Welt setzen zu wollen, hat nicht nur Alice körperlich und seelisch zugesetzt, sie hat auch ihre Beziehung als Paar auf eine harte Probe gestellt. Im Urlaub, so nehmen sie sich fest vor, soll sich endlich wieder Glück und Seelenheil einstellen. Unglücklicherweise bezieht eine fünfköpfige Familie aus Tirol das direkt angrenzende Ferienhaus und inszeniert dort lautstark ihren Familienurlaub. Besonders Alice kann den Anblick eines scheinbar makellosen Familienglücks einfach nicht ertragen, so sehr sie auch versucht, sich davon abzulenken. Stück für Stück kommt die unbearbeitete und auch unausgesprochene Trauer zum Vorschein, die Fassade ihrer Beziehung beginnt zu bröckeln. Zu allem Überfluss suchen die Tiroler auch noch unbekümmert Kontakt zu den beiden und treiben – ohne es zu bemerken – die Krise von Alice und Niklas voran. Alice ist die Hauptfigur. In der Zeichnung spröde, mit einer latenten Wut und einem unausgesprochenen Unglück. Sie kapselt ihren Schmerz in sich ein, zeigt ihn nicht. Kinderlosigkeit ist oftmals schambesetzt. Wir haben versucht, ein Frauenbild zu kreieren, das wir selbst noch nie in Filmen gesehen haben. Wir zeichneten sie neben ihrem Schmerz auch zielstrebig, karrierebewusst, kompetitiv, ehrgeizig. Alice will sich nicht abfinden mit ihrem Schicksal, sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund, ist streitlustig und auch aggressiv, nicht vordergründig sympathisch und schon gar nicht harmoniesüchtig. Das Drehbuch wurde wiederholt von Entscheidungsträger*innen in Förderinstitutionen abgelehnt. Die Begründung bezog sich immer auf die Kritik an unserer Hauptfigur  : Die Frau sei zu kalt. Man könne sich nicht empathisch mit ihr verbinden, sie habe ein zu kleines Problem, man verstünde nicht, warum Niklas an ihr festhalte. Sie sei unsympathisch, hart, egoistisch, es geschähe ihr schon recht. Die sogenannte Identifikation mit der Hauptfigur entsteht aber nicht dadurch, dass man sich in die Figur hineindenkt. Es geht vielmehr um Empathie 191

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mit der Hauptfigur, die Rezipient*innen in die Handlung einsteigen lassen. Rezipient*innen empfinden aber nicht Empathie aufgrund der Charakterzeichnung, sondern aufgrund des Konfliktes einer Figur. Nicht die Sympathie für eine Figur entscheidet, ob Empathie gelingt, sie ist dem Konflikt in Bezug auf Identifikation weit untergeordnet. Eine Figur muss nicht makellos oder sympathisch sein, damit sie hauptfigurentauglich ist. Ich habe jedenfalls noch nie erlebt, dass eine männliche Hauptfigur aufgrund von Charakterzeichnung abgelehnt wurde. Männerfiguren sind freier und vielgestaltiger akzeptiert in ihrem Habitus. Harte Schale, weicher Kern gilt für Mann, aber nicht für Frau. Aggressives Verhalten wird bei Männern eher als Stärke interpretiert und nicht sofort abgelehnt. Von unserer Alice wurde geschlechtsspezifisches Verhalten eingefordert, ohne dass sich die Juror*innen diverser Fördereinrichtungen dessen bewusst waren. So sind Frauen nicht. Das heißt aber in Wahrheit  : So haben sie nicht zu sein. Alices Art und ihr Verhalten sind nicht vorgesehen in unserem Bild von Weiblichkeit. Um die Finanzierung zu sichern, mussten wir Alice verändern. Ihr Charakter ist nun begreifbarer. Wir haben sie zugänglicher gezeichnet, nicht mehr ganz so spröde, ihr Schmerz, ihr Abgrund wird früher spürbar und verständlich. Wir haben sie auch tapferer gemacht, mit dem großen Wunsch, ihr Problem zu lösen, mit mehr Bemühen um Niklas, mit mehr Großzügigkeit, mit Humor und Selbstironie. Zur Wut kam Galgenhumor hinzu und die Fähigkeit zur Selbstreflexion. In gewisser Weise haben wir aus unserer Not eine Tugend gemacht. Wir können mit der neuen Alice gut leben, obwohl es uns schwerfiel, von der ruppigen Alice der älteren Fassung Abschied zu nehmen. Das Patriarchat existiert in uns allen. Wir sind Teil davon, haben Systemgesetze internalisiert oder müssen zumindest damit umgehen. Es bedarf gemeinsamer Anstrengung, die Wirkmechanismen der Geschlechterungerechtigkeit zu erkennen und zu verändern. Seit den 1970er Jahren thematisieren Vertreterinnen der feministischen Filmtheorie diese Schieflage, Filmemacherinnen sind seit vielen Jahrzehnten auf der Suche nach alternativen Erzählformen und Role Models. Viele dieser Frauen wurden vergessen, nur einige sind am Rande in den filmhistorischen Kanon eingegangen. Um eine neue Ära diverser Geschichten voller überraschender Figurenzeichnungen und Role Models einzuleiten, müssen wir nicht von vorne beginnen, sondern können an die Tradition der Vorgängerinnen anschließen und darauf aufbauen. Hier gilt es, den Kanon weiblichen Filmschaffens sichtbar und zum Thema zu machen.

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Kombinieren und Wachsen sind laut dem amerikanischen Dramaturgen John Truby zwei Kennzeichen von weiblicher Dramaturgie. Er meinte, dass die Zukunft des Erzählens weiblich sein wird. (vgl. Brückner 2016)

Anmerkungen 1 Vgl. z. B. Center for the Study of Women in Televison and Film, https://womenintvfilm.sdsu. edu/research/ 2 http://bechdeltest.com

Literatur Pierre Bourdieu (1976 [1972]), Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main Jutta Brückner (2016), Impulsvortrag ProQuote Regie. Berlinale, 16.2.2016, https://www.adk.de/de/ news/index.htm  ?we_objectID=55354 Joseph Campbell (2011) [1949], Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt am Main Hélène Cixous (2013) [1975], Das Lachen der Medusa, hg. von Esther Hutfless, Gertrude Postl, Elisabeth Schäfer. Wien Eva Flicker, Lena Lisa Vogelmann (2018), Österreichischer Film Gender Report 2012–2016, im Auftrag des Österreichischen Filminstituts und des Bundeskanzleramts Sektion II Kunst und Kultur. Wien, https://equality.filminstitut.at/de George Lakoff, Elisabeth Wehling (2008), Auf leisen Sohlen ins Gehirn  : Politische Sprache und ihre heimliche Macht. Heidelberg Martha M. Lauzen (2019) It’s a Man’s (Celluloid) World  : Portrayals of Female Characters in the Top Grossing Films of 2018, Center for the Study of Women in Television and Film  : San Diego State University. San Diego, CA, https://womenintvfilm.sdsu.edu/wp-content/uploads/2019/02/2018_Its_a_Mans_Celluloid_World_Report.pdf [23.3.2020] Maureen Murdock (1994 [1990]), Der Weg der Heldin. Eine Reise zur inneren Einheit. München Christine Nöstlinger (1996) [1975], Maikäfer, flieg  ! Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich. Weinheim Eva Novotny (2011), Eigensinn-Courage-Humor. Strategien und Werkzeuge für individuelle und strukturelle Veränderungen zur Gleichstellung von Frauen in der Filmbranche. Vortrag im Kleinen Salon von FC Gloria am 14. Juni. Wien, https://www.fc-gloria.at/wp-content/uploads/ Vortrag-Novotny-14-6.pdf [23.3.2020] Stacy L. Smith, Marc Choueiti, Katherine Pieper with assistance of Yu-Ting Liu and Christine Song [2014]), Gender Bias without Borders. An investigation of female characters in popular films across 11 countries (Diversity, & Social Change Initiative USC Annenberg), Geena Davies Institute on Gender in Media. Supported by University of Southern California, Rockefeller Foundation und UN Woman. Los Angeles, https://seejane.org/wp-content/uploads/genderbias-without-borders-full-report.pdf [23.3.2020]

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Sandra Bohle

Angelika Teuschl, Martina Kandl, Felix Josef (2017), Filmwirtschaftsbericht 2017, facts + figures 2016, hg. vom Österreichischen Filminstitut. Wien, https://www.filminstitut.at/de/filmwirtschaftsberichte/ [23.3.2020] Angelika Teuschl, Martina Kandl, Felix Josef (2018), Filmwirtschaftsbericht 2018, facts + figures 2017, hg. vom Österreichischen Filminstitut. Wien, https://www.filminstitut.at/de/filmwirtschaftsberichte/ [23.3.2020]

Filme Maikäfer flieg (A 2016) Regie  : Miriam Unger, Drehbuch  : Sandra Bohle, Miriam Unger, Kamera  : Eva Testor, Schnitt  : Niki Mossböck, Musik  : Eva Jantschitsch, Produktion  : Gabriele Kranzelbinder. Besetzung  : Zita Geier, Ursula Strauss, Gerald Votava, Paula Brunner, Krista Stadler, Heinz Marecek Der Lauf der Dinge (A 2020) Regie  : Ulrike Kofler, Drehbuch  : Ulrike Kofler, Sandra Bohle, Marie Kreutzer, Kamera  : Robert Paul Oberrainer, Schnitt  : Marie Kreutzer, Original-Ton  : Claus Benischke-Lang, Sound-Design  : Karim Weth, Kostümbild  : Monika Buttinger, Szenenbild  : Geral Freimuth, Produzent_innen  : Alexander Glehr, Johanna Scherz, Produktionsleitung  : Karin Schmatz. Besetzung  : Lavinia Wilson, Anna Unterberger, Lukas Spisser

Bildnachweis Abb. 1 Maikäfer flieg (2016) Foto  : Oliver Oppitz©filmladen/kgp Abb. 2 Maikäfer flieg (2016) Foto  : Oliver Oppitz©filmladen/kgp

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Kathrin Resetarits

Helden von der Stange Gedanken zur plot-zentrierten Dramaturgie In meiner Kindheit und Jugend waren nahezu alle Hauptfiguren in Filmen Männer und ich habe damals viel Zeit damit verbracht, mich mit ihnen zu identifizieren. Es gefiel mir, Steve McQueen zu sein und nicht eine der austauschbaren, puppenhaften Frauen, die sich für ihn in unbequem wirkende Posen warfen und im falschen Moment kreischten. Diese Frauen waren unwichtig und eindimensional. Mitspielen durften sie deswegen auch nur, wenn sie hübsch genug waren. Hübsch wollte ich auch sein, das erschien mir dann doch irgendwie sicherer. Grundsätzlich fiel es mir aber leicht, meine Zugehörigkeit zur Gruppe der Aufhübscherinnen in einer Art Selbstverleugnung zu übergehen und zu verdrängen, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit trotzdem nie Steve McQueen werden würde. Dass mir das so gut gelang und dass es fast keine weiblichen Protagonistinnen gab, mit denen ich mich identifizieren hätte können, ist unter anderem einer Erzählform geschuldet, die in der Filmbranche nach wie vor als Norm gilt. In meiner Ausbildung an der Filmakademie Wien und in meiner Arbeit als Drehbuchautorin, Dramaturgin und Lehrende habe ich mich intensiv mit dieser Erzählstruktur, diesem Erzählschema, seinen Limitierungen und Auswirkungen auseinandergesetzt, bzw. musste ich das tun. An dieser Erzählstruktur kommt man in unserer Gesellschaft schwer vorbei, auch dann nicht, wenn man nicht für den Film arbeitet. Die meisten der uns umgebenden Geschichten – ob in Film und Fernsehen, in der Werbung oder der politischen Propaganda – entsprechen diesem kanonisierten Erzählschema. Normiert und verbreitet durch die Filmindustrie hat es sich als eine Art Universalschablone für Erzählungen etabliert und prägt in hohem Ausmaß unsere Sozialisation und unsere Weltsicht. In praktischer Filmausbildung und Ratgeberliteratur zum Drehbuchschreiben wird dieses Schema zumeist als eine Art neutraler Behälter dargestellt, mit dem man jeden Inhalt transportieren könne. Die angebliche Neutralität wird mit angeblicher Natürlichkeit begründet. So und nicht anders hätte der Mensch – der Behauptung nach – schon immer erzählt, durch alle Zeiten und 195

Kathrin Resetarits

in allen Kulturen, diese Art zu erzählen entspräche also der Natur des Menschen. Es erstaunt mich immer wieder, wie unwidersprochen es diversen Autor*in­ nen in ihren Drehbuchratgebern gelingt, die große Fülle von Erzählungen, die das Gegenteil beweisen, als irrelevant abzutun. Dabei sind es so viele, dass es mir schwerfällt, hier konkrete Beispiele auszuwählen, da dadurch der Eindruck einer Begrenztheit entstehen könnte, der dieser Fülle nicht gerecht würde. Die Gegenbeispiele reichen von den christlichen Mysterienspielen über ursprüngliche Märchen bis zu den Stücken Shakespeares, von den frühen Epen über die Filme des New Hollywood bis zu Filmautor*innen wie Andrei Tarkowski, Quentin Tarantino oder Lucrecia Martell. Hilfreich bei der Unterschlagung dieser Erzählungen mag sein, dass die selbsternannten Expert*innen und Ratgeber*innen mit einem verführerischen Angebot von ihnen ablenken  : Sie liefern den Dreh­buch­autor*innen eine Anleitung, ein Regelwerk, das verspricht, sie in 21 Tagen, 17 Schritten oder mit sonst einer bombensicheren Methode zu Blockbuster Autor*innen zu machen. (Fields 1984, King 1988, Snyder 2005, Vogler 1992) Und tatsächlich ist der gelieferte Bausatz auf seine Weise funktional, auch wenn der von den »Perlenreihen« versprochene Erfolg nur in den wenigsten Fällen eintritt. Vorgefertigte Regeln gestalten und verbinden die Elemente der Erzählung in einer Weise, die scheinbar automatisch bestimmte Formen der Zuschauerbindung und des Spannungsauf baus erzeugt. Wenn man in der Lage ist, den Bausatz anleitungsgemäß zusammenzufügen, hat man gute Chancen, dass die Maschine am Ende läuft. Allerdings fährt sie immer nur in eine Richtung. Dass das den meisten der stolzen Modellbauer*innen nicht einmal bewusst wird, mag daran liegen, dass diese kanonisierte Erzählstruktur in ihren Grundzügen große Übereinstimmung mit den Leitideen einer vorherrschenden Ideologie aufweist. Einer Ideologie, deren patriarchale und neoliberale Glaubensätze interessanterweise ebenfalls mit angeblicher Natürlichkeit und davon abgeleiteter angeblicher Neutralität legitimiert werden. In Wahrheit ist diese Erzählstruktur, aus der ein Universalrezept, eine Schablone konstruiert wurde, genauso künstlich oder natürlich wie jede andere. Für ihre Ausformung gibt es konkrete historische, politische und ökonomische Gründe. Als Standard etabliert und festgeschrieben wurde sie vor allem durch die industrielle Produktion im Studiosystem Hollywoods Anfang des 20. Jahrhunderts. In der »Traumfabrik« war Film in erster Linie Ware, und um eine Art Fließbandproduktion zu gewährleisten, war man auf eine allgemein bekannte Erzählschablone angewiesen. Das Ziel war ein reibungsloser Ablauf der Pro196

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duktionsprozesse und das Geringhalten von Risiken – dem ewigen Traum der Händler entsprechend, aus der Kunst eine berechenbare Angelegenheit zu machen und so Erfolgsgarantien zu erhalten. Auch wenn das meiner Einschätzung nach in einem Feld, das so entscheidend und so komplex wie das Erzählen ist, nie wirklich gelingen kann. Jean-Claude Carrière schreibt in seinem Buch »Praxis des Drehbuchschreibens«  : »Glücklicherweise bleibt vieles unvorhersehbar. Das ist der unumstößliche Beweis, dass wir es mit Kunst zu tun haben.« (Carrière/Bonitzer 1999, 27) Ob jetzt alles oder nichts, was von Menschen gemacht wird, natürlich ist oder künstlich, darüber kann man streiten. Klar ist dagegen, dass Erzählstruktur niemals neutral sein kann. Sie vermittelt immer strukturimmanente Inhalte, die allerdings nicht immer bewusst wahrgenommen und reflektiert werden. Jede Art zu erzählen ist interpretativ. Nach welchen Kriterien die narrativen Elemente ausgewählt und hierarchisiert werden, wie sie verbunden und angeordnet werden, spiegelt Weltanschauung und beeinflusst und limitiert, was vermittelt werden kann. Die inhaltlichen Möglichkeiten der kanonisierten Erzählstruktur sind extrem beschränkt. Im Grunde lässt sich mit ihr nur eine Geschichte in mannigfaltigen Variationen erzählen  : Die alte Geschichte des guten Helden, der einen Kampf gegen böse Widersacher*innen führt, um ein Ziel zu erreichen, und diesen gewinnt oder (seltener) verliert. Durch die Dominanz dieser Geschichte fällt es manchmal schwer, nicht zu vergessen, dass der größte Teil unserer Lebensrealität in ihr nicht vorkommt, und dass dieser unerzählte Teil ebenso relevant und zumeist sogar interessanter ist, als das, was durch diese Heldengeschichte vermittelt werden kann.

Die plot-zentrierte Schablone Mir erscheint die Bezeichnung plot-zentriert für diese Erzählstruktur am geeignetsten, da der Plot, die Gesamtheit der durch Ursache und Wirkung verknüpften Situationen und Handlungen, in dieser Erzählform Priorität hat. Durch ihre große Verbreitung sind Zuschauer*innen »Expert*innen« für diese Form. Schon als Kinder haben wir sie »im Gefühl«. Wir spüren, dass James Bond seinen Widersacher Dr. No daran hindern wird, die Welt zu zerstören, und wären vor den Kopf gestoßen, würden James oder der Doktor in der Mitte des Filmes unkommentiert verschwinden, um nie wieder darin aufzutauchen. Wir halten die für ihre erfolgreiche Kommunikation erforderlichen Konventionen also quasi automatisch ein, ohne sie zu hinterfragen. 197

Kathrin Resetarits

Das Rezept der Struktur ist im Grunde einfach  : Man braucht einen einzelnen Helden, einen Protagonisten. (Ich belasse ihn vorläufig in der männlichen Form.) Dieser Held muss etwas wollen, er braucht ein Ziel, das er aktiv handelnd zu erreichen versucht. Um zu verhindern, dass der Protagonist das Ziel zu früh erreicht, muss man ihm Hindernisse in den Weg legen. Man benötigt also Antagonist*innen, Gegenspieler*innen bzw. Hemmnisse in jeglicher Form  – Monster, Naturgewalten, innere Problematiken oder ähnliches. Ziel und Hindernisse erzeugen den Konflikt, den Motor dieser Konstruktion, der Kampf des Helden für sein Ziel macht die Erzählung aus. Nach der Exposition, also ungefähr nach einem Viertel der Spielfilmlänge, am ersten Wendepunkt, wird eine Spannungsfrage gestellt. Wird der Held sein Ziel erreichen  ? Wird er das halbe Königreich (in der Haupthandlung, dem Hauptplot) und die Prinzessin (in der Nebenhandlung, dem Subplot) erringen  ? Wird der Agent die Welt retten und die begehrte Frau ins Bett kriegen  ? Wird der Gute die Bösen besiegen  ? Diese Frage ist immer eine Entscheidungsfrage, also mit Ja oder Nein zu beantworten, keine Ergänzungsfrage. Die inhaltliche Ausbeute ihrer Beantwortung bleibt also gering. Die Antwort auf die Spannungsfrage wird nun mit Hilfe der Antagonist*innen trickreich nach hinten verschoben. Der Einsatz wird erhöht, der Kampf wird immer intensiver, um die Spannung nicht stagnieren zu lassen. Ungefähr nach drei Vierteln der Filmlänge, am zweiten Wendepunkt des Plots, ist der Held an einem Tiefpunkt angelangt – alles scheint verloren, aber der Held schafft es, sein Schicksal zu wenden. Kurz vor dem Ende wird die Spannungsfrage beantwortet. In den meisten Fällen mit Ja. Der Agent rettet die Welt im Hauptplot und bekommt sein Love Interest im damit verwobenen Subplot. Der Held hat alle Schwierigkeiten überwunden und seine Lage aktiv zum Besseren verändert, er hat eine Entwicklung gemacht, nun kehrt die anfängliche Ruhe wieder ein. Für die Zuschauerbindung in diesem System sorgt unter anderem die Bewegung zum Ziel, der Sog zur Beantwortung der Spannungsfrage hin. Ausschlaggebend dafür, dass Spannung auf diese Art erzeugt werden kann, ist, dass die Zuschauer*innen eine ganz bestimmte Beziehung zum Protagonisten aufbauen. Sie müssen voll mit dem Helden der Geschichte identifiziert sein. Sozusagen in seinen Schuhen stehen. Aus dieser Position heraus ist es schwierig, einen klaren Blick auf die Person zu bekommen. Das wäre allerdings auch kontraproduktiv für die plot-zentrierte Erzählstruktur. Betrachtet man den Protagonisten aus der Distanz, könnte man auf die Idee kommen, ihn infrage zu stellen. Die Zuschauer*innen sollen aber ihren Helden nicht anzweifeln, sondern für ihn hoffen und um ihn fürchten, die Gefühle der Angst um und der Hoffnung für 198

Helden von der Stange

den Helden sind entscheidend für den funktionierenden Spannungsaufbau. Im Idealfall bedroht alles, was meinen Helden bedroht, auch mich als Zuschauerin, alles, was er sich wünscht, wünsche auch ich. Im Gegensatz dazu ist es in anderen Erzählstrukturen, die dieser Norm nicht entsprechen, entscheidend, dass die Zuschauer*innen die Hauptfiguren aus einer gewissen Distanz betrachten und in den entstehenden Raum ihre eigenen Beurteilungen und ihr Gefühl für die Welt einbringen. Faszination und Neugierde statt Angst und Verlangen sorgen dann für die Bindung der Zuschauer*innen an das Filmgeschehen. Handlungen und Einstellungen der Figur dürfen durch eigenständiges Denken bewertet werden, vielgestaltige, sich im Verlauf der Handlung wandelnde Beziehungen zur Hauptfigur werden möglich, und vielfältige Perspektiven auf das Filmgeschehen sind sogar erforderlich für die Entwicklung der Erzählung. In der plot-zentrierten Form hingegen muss dafür gesorgt werden, dass die Zuschauer*innen eine klar definierte, immer gleiche Perspektive auf die Erzählung halten. Sie müssen voll auf der Seite der Hauptfigur stehen. Aus dieser Monoperspektive gesehen teilt sich die Welt in Gut und Böse. Wir, mein Protagonist und ich, sind die Guten und stehen den anderen gegenüber, den Gegenspieler*innen, den Bösen. Dadurch entsteht eine Art soziopathischer Blick auf die fiktive Welt, Ereignisse und Charaktere werden durch eine auf den Vorteil des Helden ausgerichtete Sichtweise hierarchisiert. Jedes Ereignis lässt zwei alternative Folgen erwarten, von denen die voll identifizierte Zuschauer*in immer eine klar bevorzugt. Es gibt also gute Nachrichten und schlechte Nachrichten, bewertet in dieser Dualität und immer von der Perspektive der Hauptfigur aus gesehen. Als Zuschauerin interessiert mich die kleinste Verletzung meines Helden, während mir der beim Eindringen in das Hauptquartier des Bösen erschossene Wächter keinen weiteren Gedanken wert ist. Man könnte Filme, die in der plot-zentrierten Struktur funktionieren, auch als Propagandafilme für ihre Protagonisten bezeichnen. »Drama is life with the dull bits cut out.« (Hitchcock 1960) Über die Welt gelegt bestimmt die Schablone, wer oder was als wichtig oder unwichtig gilt, wer oder was sichtbar wird oder unsichtbar bleibt – um mit Hitchcock zu sprechen  : welche die langweiligen Teile sind, die aus dem Leben herausgeschnitten werden müssen, um einen Film zu machen. Als wichtig werden nur diejenigen narrativen Elemente (Bilder, Töne, Figuren, Ereignisse etc.) angesehen, die einen Plot vorwärtstreiben, hin zu dem Ausgang eines Konflikts, und zwar in einer Verkettung von Ursache und Wirkung. Eine Situation oder Hand199

Kathrin Resetarits

lung begründet die Nächste. Jedes Element ist Ergebnis des vorhergehenden, fordert wiederum das folgende ein und treibt so die Handlung voran. Alles, was nicht in direkter Verbindung zu dieser linearen Kettenreaktion steht, ist mehr oder weniger irrelevant und soll herausgeschnitten werden. Hat der Protagonist sein Ziel erreicht, ist die Geschichte aus. Ein klar begründetes Problem hat eine klare Lösung gefunden – alles »Wichtige« wurde erzählt, man kann das Ganze als erledigt betrachten und getrost vergessen. Der Film erzeugt also wenig Resonanz, als Zuschauerin muss ich mich nicht weiter damit beschäftigen. Durch die »Bereinigung« und Begrenzung der Erzählung entsteht der Eindruck einer sinnvoll geordneten, fassbaren und kontrollierbaren Welt, in der Probleme eine nachhaltige Lösung finden und in der der oder die Couragierte* etwas bewirken kann. Ohne Zweifel ist das eine gewisse Sicherheit vermittelnde Vorstellung. Man könnte sagen, dass die plot-zentrierte Erzählung nicht sehr viel mit dem Leben zu tun hat, wie wir es kennen, eher mit dem Leben, wie wir es gerne hätten. Auswirkungen auf die Figurenauswahl und Figurengestaltung Die Elemente der Erzählung – Bilder, Dialoge, Charaktere, Emotionen, Ereignisse und so fort – werden in ihrer Komplexität reduziert, da sie nicht mehr per se interessant sind, sondern nur in dem Ausmaß, in dem sie dem Ablauf der Handlung und ihrem Verständnis dienen. Das Interesse am menschlichen Verhalten in seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität steht hier nicht im Vordergrund. Wirklich lebensnahe, komplexe Figuren mit komplexen Charakteren und Gefühlswelten würden alles komplizieren und zu viel »unnützen« Ballast liefern. Eindimensionale Figuren und Stereotypen eignen sich besser für das Vorantreiben der Handlung. Die schöne Miss Right, die böse überschminkte Antagonistin, der unwichtige Wächter, der ohne weiteres vom mutigen Helden erschossen werden kann – sie alle repräsentieren statt zu sein und werden in Bezug auf ihre Funktion für den Plot, den Fortlauf der Handlung gestaltet und ausgewählt. Die Funktion des Protagonisten in diesem System, sein »Auftrag« ist es, etwas zu wollen, um die Handlung ins Laufen zu bringen und sie am Laufen zu halten, indem er aktiv darum kämpft sein Ziel zu erreichen. Als »aktiv« werden in diesem Kontext Figuren bezeichnet, die fähig und willens sind, Handlungen zu setzen, um gegen den Willen anderer und trotz widriger Umstände – against all odds – ihre Ziele zu erreichen, die Schicksalsschlägen und inneren wie äußeren Zwängen trotzen und versuchen können, eine nachhaltige oder zumindest scheinbar nachhaltige Änderung ihrer Situation zu bewirken. Die geeig200

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nete Hauptfigur muss also etwas wollen können, und sie muss in der Lage sein, dieses Wollen in zielgerichteten Handlungen auszudrücken. Dafür braucht sie einerseits die richtige innere Verfasstheit und andererseits einen gewissen Handlungsspielraum, die Möglichkeit sich zu bewegen, eine gewisse Wirkmacht. Ist eine Hauptfigur in ihrer Wirkmacht beschränkt, muss sie sich entweder dieser Einschränkungen entledigen, um ihr Ziel zu erreichen, oder ihre Ziele müssen ihrer Wirkmacht angepasst werden, wodurch die Einschränkungen, denen sie unterliegt, unausgewiesen bestätigt werden. Als »inaktiv« oder »passiv« gelten alle Charaktere, die aus irgendwelchen Gründen nichts wollen oder nicht in der Lage sind, zielgerichtet zu kämpfen. Unter anderem, weil sie in irgendeiner Form behindert werden oder beeinträchtigt sind – beispielsweise durch Krankheit, Armut, psychische Verfasstheit, ihre gesellschaftliche Position. Passive Figuren eignen sich in der plot-zentrierten Struktur nicht als Hauptfiguren. Die aktive Figur bekommt dort den Vorrang vor der scheinbar inaktiven. Ein Dienstmädchen im 18. Jahrhundert beispielsweise, das den ganzen Tag über arbeitet und damit sehr aktiv ist, aber nichts Weltbewegendes tut, ihre Situation nicht nachhaltig verändert, sondern »nur« bewirkt, dass ihre Dienstherren und Dienstherrinnen das Leben führen können, das sie führen wollen – eine Figur, die als Frau, als Mensch von »niederer Geburt«, von anderen ausgenutzt und klein gehalten wird und unter Umständen gar nicht in der Lage ist, gesellschaftliche Zwänge, denen sie unterliegt, zu hinterfragen, die also in ihrer Wirkmacht beschränkt ist, qualifiziert sich äußerst selten als Hauptfigur. Und zwar weil sie es nicht schafft, widrige Umstände in Erfolgschancen zu verwandeln. Die Stärke, die sie aufbringt, in und um mit diesen widrigen Umständen zu leben, gilt in diesem Denksystem nicht als Heldenhaftigkeit. Ihre Geschichte wird meist nicht erzählt. Obwohl es da viel zu erzählen gäbe. Die plot-zentrierte Form ist keineswegs eine Universalstruktur, im Gegenteil limitiert und vereinheitlicht sie die erzählerischen und inhaltlichen Möglichkeiten. Die meisten Stoffe und Themen kann man nicht in diese Schablone pressen, ohne sie inhaltlich zu deformieren und zu beschränken. Ein Beispiel aus meiner Schreibpraxis Wie erzähle ich die Geschichte eines blinden Mädchens, das 1777 in Wien lebt und zwangsläufig eher in eine passive Rolle gedrängt ist  ? Bei diesem Drehbuch handelte es sich um eine Auftragsarbeit. Als Basis dienten Ereignisse im Leben von Maria Theresia Paradis, einer blinden Pianistin, die 1777 in ihrem 18. Le201

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bensjahr von ihren Eltern Franz Anton Mesmer anvertraut wurde, einem Arzt und Heiler, der in Wien ein Privatspital betrieb und versuchte, die von ihm entwickelte Methode des animalischen Magnetismus zu propagieren. Mesmer behandelte die junge Frau, und vieles in den Quellen weist darauf hin, dass sie in seinem Haus kurzfristig von ihrer Blindheit geheilt wurde. Anscheinend lernte sie zwar wieder sehen, darunter soll aber ihr Klavierspiel gelitten haben. Mesmer zufolge befürchteten nun die Eltern des Mädchens, vor allem der Vater, den Verlust der Attraktion, die Maria Theresia als blinde Virtuosin besaß. Schlussendlich musste sie Mesmers Spital auf Betreiben ihres Vaters verlassen, kehrte zu ihrer Familie zurück und erblindete wieder. Während der Recherche versuchte ich herauszufinden, was dieser Fall für mich bedeuten könnte, und was das eigentliche innere Thema, das inhaltliche Herz des entstehenden Filmes sein könnte. Langsam formte sich für mich die Frage nach dem Wert des Menschen als thematischer Schwerpunkt heraus. Dieses Thema erschien mir wichtig für meine Hauptfigur Maria Theresia Paradis, die hin und hergerissen ist zwischen der Möglichkeit sehen zu lernen und der Angst, durch die damit einhergehende Beeinträchtigung ihrer Virtuosität in den Augen des Publikums, aber auch in den Augen ihrer Eltern weniger wert zu sein. Der ihr von der Gesellschaft zugesprochene Wert als Frau, als Behinderte, als Attraktion bildet ebenfalls Aspekte dieses Themas ab. Die plot-zentrierte Struktur erschien mir für diese Komplexität ungeeignet. Ich habe eine thematisch gebundene Struktur gewählt, also eine Struktur, in der nicht der Plot Priorität hat, sondern das innere Thema des Filmes zum Kriterium für die Auswahl der erzählerischen Elemente wird. Und zwar, weil ich Maria Theresia Paradis nicht gegen alle gesellschaftlichen Gegebenheiten der Zeit zu einer aktiven Figur und damit zu einer Ausnahmeerscheinung machen wollte. Die Beschränkungen und Zwänge, denen sie unterliegt, waren in ihrer Unüberwindlichkeit ja Teil des Themas. Auch sollte sie keine reine Identifikationsfigur sein, eher eine, die wir aus einer gewissen Distanz anschauen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie blind ist, und das Angeschautwerden als Vorführende und Vorgeführte ein wichtiger Aspekt des Grundthemas ist. Außerdem gab es für mich eine Reihe von weiteren relevanten Charakteren, die nur in einer die Figuren weniger stark hierarchisierenden Struktur Raum bekommen konnten. Es handelte sich dabei hauptsächlich um Frauen, die im Haushalt Mesmers lebten und die für mich weitere Aspekte des Themas verkörperten  : ein blindes Waisenmädchen, das ebenfalls von Mesmer behandelt wird, allerdings im Gegensatz zu Paradis »nichts hat und nichts kann«, ein strahlend gesundes, intelligentes Stubenmädchen, das aber aufgrund seiner gesellschaftlichen Position 202

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ausgebeutet und zu Fall gebracht wird, eine Köchin, deren geistig und körperlich behinderten Sohn und andere mehr. Alle diese Figuren standen in Beziehung zueinander und entwickelten durch korrespondierende Inhalte das Thema. Eine weitere wichtige Nebenfigur war Franz Anton Mesmer, der Arzt, der durch seine Aktionen die Paradis kurzfristig heilt. Auch er zeigte einen Aspekt des Themas  : Er will durch die Heilung seiner Patientin die Aufmerksamkeit der Kaiserin erregen und so seine Behandlungsmethode an die Universität bringen. Er will auch etwas wert sein, Geltung bekommen, beruflich anerkannt werden. In einer Überarbeitung des Drehbuches rutschte eine Szene, da sie an ihrem ursprünglichen Platz den Fluss der Erzählung störte – also aus pragmantischen Gründen –, nach vorne in die Exposition. In dieser Szene spricht Mesmer darüber, was er erreichen will, was sein Ziel ist. An ihrem neuen Ort funktionierte diese Szene nun plötzlich als Etablierung und veränderte die Wahrnehmung der Erzählung grundlegend, da nun im Anfangsteil ein Teil der Normstruktur angeboten wurde. Und zwar ein Held, sein Ziel und damit eine Spannungsfrage  : Wird der Held sein Ziel erreichen oder nicht  ? Mesmer ist der ideal geeignete Held. Als einigermaßen begüterter Mann hat er, verglichen mit den anderen Charakteren, in dieser Gesellschaft die größte Bewegungsfreiheit, die größte Handlungsmacht, er ist in der Lage aktiv zu kämpfen, und er hat ein klares Ziel. Man kann seinen Wunsch nach Ruhm und Ehre mit Menschenfreundlichkeit verbrämen, einen Altruisten aus ihm machen, perfekt geeignet für den Identifikationsprozess des Publikums. Mit der Andeutung einer Struktur, in der vereinbarungsgemäß der Plot Priorität hat, erschien nun Mesmers Kampf als wichtig, die das Thema vertiefenden Nebenfiguren als weniger relevant – und zwar, weil sie nicht in Kausalzusammenhang zum antizipierten Plot standen, sondern »nur« den roten Faden des Themas weiter aufrollten. Das war, solange die plot-zentrierte Lesart nicht angeboten worden war, interessant und damit in Ordnung. Nun passten die vorher attraktiven Nebenfiguren nicht mehr ins Konzept und wurden als ein Zuviel wahrgenommen. Dass ein einzelnes Versatzstück der Standardstruktur reicht, um ein automatisiertes Abspulen der erwarteten Form in der Leser*in auszulösen, zeigt, wie stark diese Erzählstruktur in unserer Gesellschaft internalisiert wurde und wie herausfordernd es ist, Zuschauer*innen auf Wege abseits der eingefahrenen Muster mitzunehmen. In diesem Fall hatte ich Produzent*innen an meiner Seite, die verstehen, was eine Erzählung abseits der plot-zentrierten Norm braucht, um zu funktionieren. Als wir aber aufgrund der österreichisch-deutschen Koproduktion mit mehreren Fernsehredakteuren in Kontakt kamen, wurden wir immer wieder mit dem 203

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Wunsch bzw. der Forderung konfrontiert, die Erzählung der Norm anzugleichen. Dabei handelte es sich aber offenbar nicht um ein bewusstes Bevorzugen der plot-zentrierten Form, sondern eher um den Ausdruck eines leisen, ungerichteten Unbehagens. Man war anderes gewöhnt. Die Gründe für die Forderungen blieben also undeutlich, die Forderungen selbst waren dafür umso klarer  : Erstens sollte Mesmer zur Hauptfigur, zum Helden der Geschichte gemacht werden, zweitens wurde verlangt, eine Liebesgeschichte zwischen Mesmer und Paradis zu konstruieren. Die von mir entworfene Maria Theresia Paradis qualifizierte sich in der plotzentrierten Logik nicht als Hauptfigur, da sie nicht aktiv um etwas kämpft, sondern eher zerrissen und Spielball der sie umgebenden, einflussreicheren Akteure ist. Gleichzeitig wollte man sie doch irgendwo unterbringen, immerhin ist sie als blinde Virtuosin eine Attraktion, und ein Heiler braucht ja sowieso irgendjemanden, an dem er herumheilen kann. Da eine Liebesgeschichte des Protagonisten im Subplot auch perfekt in die Schablone passt, bot sich als scheinbar ideale Lösung für die junge Frau die Rolle als Mesmers Love Interest an. Als solcher wurde sie auch in fast allen in den letzten 200 Jahren entstandenen literarischen und filmischen Adaptionen des Falles eingesetzt. In diesen Adaptionen wird Paradis zumeist als schöne, zarte Maid dargestellt, die als Aufputz, Trittstein in Mesmers Entwicklung und Ziel seiner Wünsche dient. Nichts in den Quellen lässt darauf schließen, dass diese Liebesgeschichte tatsächlich existierte, beziehungsweise, dass Paradis eine schöne, sanfte Maid war. Nicht nur von distanzierten Beobachtern, sondern auch von wohlmeinenden Freundinnen wird sie in verschiedenen Quellen als äußerlich unattraktive Frau beschrieben, nach dem damaligen und – ihrem Bild nach zu schließen – auch dem heutigen Schönheitsideal. Was mir im Hinblick auf meine Themen – dem Bewertet-Werden, dem Sehen und Gesehen-Werden  – auch als deutlich interessanter erschien. Die junge Frau setzt sich ja im Zuge des Sehenlernens erstmals mit dem Konzept des Aussehens und seiner Bewertung durch andere auseinander, und die Schönheitsnormen können viel eindringlicher hinterfragt werden, wenn sie erkennen muss, dass sie ihnen nicht entspricht. In der Ökonomie des plot-zentrierten Erzählens erfüllte sie als »hässliche« Frau, die mit anderen als romantischen Problematiken ausreichend beschäftigt ist, aber auch die Funktion als Love Interest nicht effizient genug. Glücklicherweise waren wir in diesem Fall inhaltlich, aber auch finanziell autonom genug, um den Forderungen nicht zur Gänze Folge leisten zu müssen. Wie hätte die Geschichte aber ausgesehen, wenn das nicht der Fall gewesen wäre  ? Mesmer hätte als Protagonist den Hauptplot mit dem klaren Ziel bekommen, Paradis 204

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Abb. 1–5 Filmstills Licht (A/D 2017) Regie  : Barbara Albert, Drehbuch  : Kathrin Resetarits

wäre Funktion für ihn und seine Entwicklung im Subplot. Sie wäre weniger wichtig, aber dafür hübsch. Alle Nebenfiguren, die ein Spektrum von gesellschaftlich marginalisiertem Leben bzw. Aspekte des Themas darstellen, würden wegfallen. Alles würde sich auf den einzelnen Helden, seine Liebesgeschichte und seinen Kampf konzentrieren. Das eigentliche Thema würde sich entscheidend verändern. Es würde von einer Frage – Was ist der Wert des Menschen  ? – zu einem Aussagesatz werden. In diesem Fall vielleicht etwas wie  : In dieser bornierten Gesellschaft kann ein Visionär nicht reüssieren. Als Ausgangspunkt würden immer noch dieselben realen Figuren und Ereignisse dienen, aber der Inhalt hätte sich grundlegend verändert. In diesem konkreten Fall einigte man sich schlussendlich auf einen Kompromiss zwischen Geldgeber*innen, Regie und Produktion, der zwar glücklicherweise dem Thema eher gerecht wurde, meinen Wünschen als Autorin aber auch nicht völlig entsprach. 205

Kathrin Resetarits

Diverse Held*innen Nicht nur, aber unter anderem dadurch, dass Passivität noch immer mit Weiblichkeit assoziiert wird und Aktivität mit Männlichkeit, werden Frauenfiguren im Rahmen der plot-zentrierten Struktur oft in die klassischen Funktionen für die Plot Line des männlichen Helden gedrängt  : Der Mann ist das die gesamte Menschheit repräsentierende Subjekt, das für die Lösung eines universellen menschlichen Problems kämpft, die Frau ist das Objekt seiner Begierde, sein Problem, sein Preis, sein Accessoire. Die eindimensionalen, dem klassischen Rollenbild entsprechenden Frauenfiguren, mit denen ich aufgewachsen bin und die noch immer große Teile der Filmwelt bevölkern, sind eine Folge davon. Alles, was diese Figuren sein dürfen, und das ist üblicherweise nicht viel, haben sie in Bezug auf den Helden zu sein. Glücklicherweise steigt seit einigen Jahren die Zahl der Protagonistinnen auch in plot-zentrierten Mainstreamfilmen deutlich an. Offensichtlich ist es trotz oftmals wiederholter Gegenargumente doch möglich, mit solchen Filmen Geld zu machen. Mehr plot-zentrierte Filme mit weiblichen Hauptfiguren sind auf jeden Fall ein Fortschritt in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter. In ihnen dürfen Frauen aktiv für etwas kämpfen, und die Mädchen von heute können sich mit Geschlechtsgenossinnen identifizieren, anstatt diese abzuwerten. Und die Buben üben sich in Empathie, wenn sie sich in Menschen anderen Geschlechts einfühlen dürfen. Für die Wahrnehmung und Gleichstellung gesellschaftlich diskriminierter Menschengruppen ist es bis zu einem gewissen Grad von Vorteil, wenn Figuren aus ihren Reihen die Protagonist*innen von plot-zentrierten Filmen werden. Um sich mit einer Person zu identifizieren, sich in eine Person hineinversetzen zu können, die nicht dem eigenen Selbstbild entspricht, muss der Fokus weg von der Andersartigkeit hin zu menschlichen Gemeinsamkeiten verschoben werden. Als identifizierte Zuschauer*in »bin« ich ja kurzfristig die Protagonist*in, »wir« sind ein Team. »Die anderen« gibt es in der plot-zentrierten Struktur allerdings auch dann noch. Die Struktur selbst verlangt nach Figuren, denen die menschliche Komplexität zumindest teilweise abgesprochen werden muss – entweder weil sie die Widersacher*innen, die Bösen sind, mit denen sich die Zuschauer*innen ja keinesfalls identifizieren dürfen, wenn der Spannungsaufbau nicht in sich zusammenbrechen soll, oder weil sie die »Unwichtigen« sind, eine Beschäftigung mit ihnen würde die Dinge verkomplizieren und die Bewegung zur Beantwortung der Spannungsfrage aufhalten. Die grundlegenden Inhalte der Standardstruktur fördern und bewahren vielfältige Mechanismen 206

Helden von der Stange

der Diskriminierung und Marginalisierung und bleiben auch erhalten, wenn die Geschichten diverser Held*innen in ihr erzählt werden.

Sei deines Glückes Schmied*in Wenn Menschen aus diskriminierten und marginalisierten Gruppen die Held*innen des Mainstreams werden, haben wir zur Abwechslung endlich einmal Propagandafilme für die Unterprivilegierten. Um der Jobbeschreibung zu entsprechen, müssen sie allerdings aktiv und stark sein und sich zu Gewinner*innen mausern. Für die moldawische Haushaltshilfe ohne Aufenthaltsgenehmigung ändert es nichts, ob sie James Bond den Kaffee bringt oder Lara Crofts Kinder hütet, damit die auf ihre Held*innenreise gehen können. In der Erzählung bleibt sie unwichtig, solange sie es nicht aus eigener Kraft schafft, sich in einem System durchzusetzen, das sie und viele andere machtlos macht und damit demonstriert, dass das System nicht das Problem ist. Sondern die, die es nicht schaffen, in ihm zu reüssieren. Ein Film, der vorgibt, eine Geschichte über eine unterprivilegierte Frau zu erzählen, aber im Grunde auch nur von einer erzählt, die es schafft, ihr individuelles Glück zu schmieden, ist »Joy« von David O. Russell aus dem Jahr 2015. Zu Beginn des Filmes ist Joy, die Protagonistin, »nur« eine armutsgefährdete Hausfrau in den 1970er Jahren. Das kann sie allerdings nicht bleiben, da die dramatische Ausbeute ihres Lebens in der Standardstruktur zu gering wäre. Also erfindet sie einen Wischmop und versucht, mit dieser Erfindung reich zu werden. Dem Rezept folgend kämpft sie darum, ihr Ziel zu erreichen und hat an ihrem Tiefpunkt, an dem das Publikum das Gefühl haben soll, dass sie es jetzt unmöglich noch schaffen kann, eine Unterredung mit ihrem Vater. Dieser teilt ihr mit, wie enttäuscht er von ihr ist. Er hätte kurz geglaubt, dass sie etwas Besonderes wäre, aber jetzt würde ihm klar werden, dass sie doch nur eine Versagerin sei und es nie schaffen würde. Das ist ziemlich hart, aus dramaturgischen Gründen muss es das an dieser Stelle aber auch sein. Der Tiefpunkt der Hauptfigur soll möglichst extrem sein, damit ihr folgender Aufstieg umso strahlender und erstaunlicher sein kann. Und siehe da – auch in diesem Film geht es bergauf, Joy beweist sich, sie setzt sich durch und zwar mit genau den brutalen unternehmerischen Prinzipien, mit denen sie zuvor betrogen wurde. Unsere Heldin ist also nun gestählt, überwindet alle Schwierigkeiten und bewährt sich. Sie ist allerdings auch rücksichtslos, was uns als mit ihr identifizierte Zuseher*innen jedoch kalt lässt. Sie schafft es, mit Hilfe des Wischmops ein 207

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Imperium zu gründen. Und all die identifizierten Frauen, die da im Kino sitzen, sollen sich am Ende glücklich fühlen, weil sie scheinbar mit ihrer Hauptfigur gewonnen haben. Und zwar auch die, die sich in ihrem Leben nicht unternehmerisch verwirklicht haben. Sie sollen sich am Sieg ihrer Heldin freuen und das Wertesystem, in dem er stattgefunden hat, unhinterfragt akzeptieren. In dieser Weltsicht treffen die vom Vater am Tiefpunkt ausgesprochenen Abwertungen auf sie aber nach wie vor zu. Außerhalb der Filmwelt sind sie nicht die, die das Imperium mit dem Wischmop gegründet haben, sondern die, die das aus komplexen Gründen nicht getan haben, und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nie tun werden. Die Identifikation mit der Hauptfigur ermöglicht es aber, sich selbst eine Zeit lang zu vergessen. Aus dem Kino gehen viele mit dem Gefühl, gewonnen zu haben  – das Gefühl, verloren zu haben, stellt sich dann möglicherweise an anderer Stelle ein. Ich meine nicht, dass man diese, übrigens auch auf einer wahren Begebenheit basierende Geschichte, nicht erzählen sollte. Infrage zu stellen ist für mich ihre Erzählform, die eine Welt beschreibt, die in der Hauptsache aus Siegen und Scheitern besteht und in der das Eigentliche hinter einer reduzierenden Bewertung als entweder gut oder schlecht verschwindet. Diese und ähnliche Geschichten geben vor, Mut machen zu wollen, erzeugen aber oft eher Enttäuschung und Scham. Scham ist, auch befördert durch unser Wirtschaftssystem, eine der prägendsten Emotionen in unserer Gesellschaft. Und es ist keine Emotion, die Menschen dazu bringt, ihre Stimme zu erheben, sich zusammenzuschließen oder herrschende Normen und Weltanschauungen zu hinterfragen. Die entscheidenden Problematiken und Limitierungen, mit denen wir es zu tun haben, liegen in der Erzählstruktur selbst. Einem Großteil unserer Lebensrealität kann man mit ihrer Hilfe nicht gerecht werden, eine Vielzahl von Thematiken, Ereignissen und Menschen können in ihr nicht angemessen beschrieben werden. Das gilt für Großes und Weltbewegendes genauso wie für Marginalisiertes und Alltägliches. In thematisch gebundenen, konstellativen Erzählstrukturen können auch der Feldherr und die gewonnene Schlacht ganz anders gezeigt und verstanden werden als in der plot-zentrierten. In meinem letzten Beispiel möchte ich aber noch einmal auf eine marginalisierte Figur eingehen  : Was, wenn ich ein Drehbuch über meine Großmutter schreiben möchte, die Ende der 1920er Jahre in eine arme, zutiefst katholische, burgenlandkroatische Familie hineingeboren wurde  ? Meine Großmutter ist in ihrem Leben nicht groß aufgestiegen, hat nicht viel verändert und weise geworden ist sie auch nicht wirklich. Ein bisschen missgünstig vielleicht. Aber das war sie vielleicht auch immer schon. Sie hatte ein »kleines« Leben. Eines, das nicht 208

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den Bildern entspricht, die aus Zeitschriften ausgeschnitten irgendwo hängen, um ein Vorbild zu sein oder ein Sehnsuchtsort oder ein Knüppel. Aufgrund äußerer und innerer Umstände hatte sie nicht das Bedürfnis oder die visionäre Kraft, sich ein großes Ziel zu setzen. Sie hatte keine Vergangenheit, die als Basis dienen konnte, um sich selbst als eine Verbindung zu einer Zukunft zu begreifen. Das bisschen Geschichte, das für sie verfügbar war, gehörte anderen Leuten – Leuten, die Bücher und Gemälde hatten, die ihnen Geschichten über ihre Vorfahren erzählten. Sie hatte keine klaren Antagonisten, gegen die sich ein Kampf gelohnt hätte. Ihre Gegenspieler waren in den meisten Fällen gleichzeitig ihre Gefährten. Menschen, die wie sie selbst durch komplexe Umstände bestimmt und mehr oder weniger hilflos waren. Mein Großvater beispielsweise. Meine Großmutter war sehr aktiv, das heißt, sie hat sich ihr ganzes Leben lang den Arsch abgearbeitet, sich ihren Körper durch Arbeit ruiniert, daheim und in der Fabrik. Sie hat die Wäsche gewaschen, damit sie wieder schmutzig gemacht werden konnte, sie hat Essen gekocht, das in ihrem Mann und ihren Kindern verschwunden ist, sie hat in einer Klebstofffabrik an einem Fließband gearbeitet, das kein Ende hatte. Aber sie hat nie irgendetwas »Großes«, Nachhaltiges getan, das ihre Lebenssituation grundlegend ändern hätte können, etwas, nach dem man aus dem potentiellen Film über ihr Leben schneiden und Endtitel einblenden könnte, um ein Happy Ever After zu erzeugen – eben etwas, das die Ansprüche der plotzentrierten Form erfüllen würde. Meine Großmutter hatte nicht genug Handlungsspielraum, um ihre Aktionen zu einer Leiter aus Ursache und Wirkung zu verbinden, auf die sie hinauf und damit über die Umstände hätte klettern können. Sie arbeitete, um einen Status quo zu erhalten, und gilt daher im Kontext des Drehbuch-Mainstreams als passiv. Die Ereignisse ihres Lebens wurden nicht durch ihre heroischen Taten ausgelöst. Sie stieß die Ereignisse nicht an, die Ereignisse stießen ihr zu. Sie ließ nichts passieren, die Dinge passierten ihr. Hitler kam an die Macht, als sie ein Kind war, sie verlor einen Bruder im Krieg, sie heiratete, sie bekam zwei Töchter, sie hatte zwei illegale Abtreibungen, weil sie sich keine weiteren Kinder leisten konnte. Eine ihrer Töchter wurde mit 14 schwanger, und sie zog dieses Enkelkind auf, um es 30 Jahre später durch einen Motorradunfall wieder zu verlieren. Jetzt liegt sie im Bett und wartet auf den Tod, so wie sie auf so viele andere Dinge gewartet hat. In der plot-zentrierten Form heißt das, dass in ihrem Leben nichts passiert ist. »Nichts« ist passiert, weil die Dinge, die passiert sind, nicht zu einer zielgerichteten Kette aus Ursache und Wirkung verbunden sind, die der für diese 209

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Erzählstruktur erforderlichen Art, die Realität zu konstruieren und zu verbiegen entspricht. In dieser Logik ergibt ihr Leben kaum narrativ Verwertbares. Unter dem Strich bleibt Nichts. Hitchcock zufolge müssten nahezu alle Teile ihres langweiligen Lebens aus dem Film entfernt werden. Wie die moldawische Haushaltshilfe könnte man sie einsetzen, um den für den Vordergrund geeigneteren Figuren den Kaffee zu servieren, oder sie könnte in ihrer Kittelschürze den Hintergrund pittoresker gestalten. Vielleicht hätte sie widerständiger sein sollen, revolutionärer, hätte sich scheiden lassen oder wenigstens aus Erfahrung klug werden sollen. Aber aus komplexen Gründen hat sie das alles nicht getan. Und spiegelt damit Realität und eben auch politische Realität. Eine Realität, die zum Beispiel mich geformt und bestimmt hat. Sie zu verstehen hilft mir dabei, mich und meine Welt zu verstehen. Ist ihre Geschichte tatsächlich irrelevant oder uninteressant, nicht wert erzählt zu werden  ?

Mit einem Rezept kann man nicht alles erzählen Wenn wir uns mit Stagnation, Machtlosigkeit, Trauma und unzähligen anderen Themen in der Tiefe auseinandersetzen wollen, wenn wir Dilemmata und offene Fragen erzählerisch erforschen und nicht nur Geschichten über diejenigen erzählen wollen, die in der Lage sind Widrigkeiten im Alleingang zu überwinden, brauchen wir andere Erzählstrukturen  : Konstellative Strukturen, in denen autonome erzählerische Elemente ihre Komplexität behalten müssen, um in vielfältigster Weise zu korrespondieren. Thematisch gebundene Strukturen, die statt eines roten Fadens der Handlung eine Textur der Bedeutung in der Zuschauer*in erzeugen und Aspekte eines Themas zusammenklingen lassen wie die Töne eines Akkords. Erzählstrukturen, die ohne klare Hauptfigur auskommen, und in denen die Zuschauer*innen, aber nicht zwingend die Figuren, eine Entwicklung machen und eine Erkenntnis gewinnen. Wir brauchen dringend aktive und emanzipierte Zuschauer*innen, die selber denken und fühlen dürfen, und zwar über vorgegebene Muster von Gut und Böse, wir und die anderen, Dominanz und Unterwerfung, Siegen und Scheitern hinausgehend. Durch ihre Vormachtstellung ist die kanonisierte Struktur in unserer Gesellschaft weitgehend internalisiert. Zuseher*innen sind darauf konditioniert, nicht zu viele Fragen zu stellen, Informationen und Fakten nicht eigenständig mithilfe ihrer Lebenserfahrung einzuschätzen und in Verbindung zu bringen und niemals zu erwägen, ob nicht vielleicht doch manchmal wir die 210

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Bösen sind. In Folge erleichtern sie Werbeleuten und Propagandist*innen die Arbeit, indem sie – konfrontiert mit einem Fragment des gängigen Narrativs – sofort beginnen, sich im Alleingang die ewig gleiche Geschichte zu erzählen. Wir brauchen Filme, die das Leben erkunden und nicht nur in einem fort dieselben Glaubenssätze wiederholen und zementieren. Um solche Filme erzählen zu können, müssen allerdings alle Elemente der Erzählung, insbesondere aber die Bilder, ihre Autonomie wiedererlangen. Bilder, die nicht vom Plot auf ihren Nachrichtenwert reduziert werden, ermöglichen es den Zuschauer*innen, in Filmen Menschen zu sehen und nicht nur Repräsentationen, nicht nur Funktionen für die Handlung. Das autonome Bild erlaubt es, Menschen in ihrer Individualität zu sehen, in ihrer spezifischen Manifestation, resultierend aus Kräften, die sich unserer Kontrolle entziehen. Die Figuren können dann nicht mehr so einfach auf gute oder schlechte Nachrichten heruntergebrochen werden. Dem Medium muss erlaubt werden zu tun, was es am besten kann – nämlich Klischees und Stereotypen durch Genauigkeit zu zerstören. Sodass Zuschauer*innen das ganze Bild sehen und nicht nur die Teile, die für das Abspulen eines Standardplots notwendig sind. Vielleicht bemerken wir dann, dass sogar die Frau, die den Kaffee bringt, ein Mensch ist  – und dass, auch wenn der Fokus momentan nicht auf ihr liegt, sie genauso gut das Zentrum einer Geschichte sein könnte.

Literatur Jean-Claude Carrière, Pacal Bonitzer (1999), Praxis des Drehbuchschreibens. Über das Geschichtenerzählen. Berlin Syd Field (1984), The Screenwriters, Workbook. Excercises and Step-by-Step Instruction for Creating a Successful Play. New York Alfred Hitchcock (1960), Drama is life with the dull bits cut out. Interview in Picture Parade, BBC, 5. Juli 1960 Viki King (1988), How to Write a Movie in 21 Days  : The Inner Movie Method. New York u.a. Blake Snyder (2005), Save the Cat  ! The Last Book on Screenwriting You’ll Ever Need. Studio City, Kalifornien

Filme Licht (A/D 2017), Regie  : Barbara Albert, Buch  : Kathrin Resetarits, Kamera  : Christine Anna Maier, Schnitt  : Niki Moosböck, Produktion  : Michael Kitzberger, Wolfgang Widerhofer, Nikolaus

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Kathrin Resetarits

Geyrhalter, Markus Glaser, Martina Haubrich, Gunnar Dedio. Mit Maria Dragus, Devid Striesow, Lukas Miko, Katja Kolm Joy – Alles außer gewöhnlich (USA 2015), Regie  : David O. Russel, Buch  : David O. Russel, Annie Mumolo, Kamera  : Linus Sandgren, Schnitt  : Jay Cassidy, Alan Baumgarten, Christopher Tellefsen, Tom Cross, Produktion  : John Davis, Ken Mok, Megan Ellison, Jonathan Gordon, David O. Russell, Musik  : West Dylan Thordson, Besetzung  : Jennifer Lawrence, Robert De Niro, Edgar Ramirez, Diane Ladd

Bildnachweis Abb. 1–5 Stills by Christine Anna Maier©Nikolaus Gerhalter Filmproduktion GmbH

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Tamara Metelka

Sprachgestaltung – Raum | Bewusstsein Ein Gespräch Teilnehmerinnen am Gespräch  : Claudia Walkensteiner-Preschl (CWP) Tamara Metelka (TM) Winnie Ricarda Bistram (Ricarda), Mercy Dorcas Otieno (Mercy) Zuhörer_innen Audiofile  : 20160414_SprachWelten_TamaraMetelka-ClaudiaWalkensteinerPreschl.mp3 Dauer  : 1  :18  :32 Claudia Walkensteiner-Preschl (CWP)  : Ich möchte Tamara Metelka, Professorin für Sprachgestaltung am Max Reinhardt Seminar, kurz vorstellen  : Du bist seit 2013 Professorin am Max Reinhardt Seminar, aber auch seit einigen Jahren Institutsleiterin. Du warst 11 Jahre Ensemble-Mitglied am Burgtheater und hast zahlreiche Theater- und Filmrollen übernommen. Im Weiteren möchte ich auch Mercy Dorcas Otieno, Schauspielstudentin im 3. Jahr, und Winnie Ricarda Bistram, Schauspielstudentin im 4. Jahr, begrüßen. Tamara, du wirst mit den Studentinnen eine Übung präsentieren und somit deine Arbeit konkret nachvollziehbar machen. Kannst du vielleicht zu Beginn skizzieren, wie du deinen Fachbereich am Max Reinhardt Seminar beschreiben würdest. #00  :02  :58-3# Tamara Metelka (TM)  : Sprachgestaltung ist leider ein aussterbendes Fach, es gibt sehr wenige Lehrende, die so arbeiten, wie ich es noch bei Professorin Adelheid Pillmann, langjährige Professorin für Sprachgestaltung am Max Reinhardt Seminar, gelernt habe. Sprachgestaltung ist das reichste Fach im Schauspielunterricht, es beinhaltet Atem, Körper, Stimme, Sprache und Textgestaltung. Wir spannen den Bogen wirklich vom Körperunterricht über die Stimmbildung hin zur Textgestaltung, die zentraler Bestandteil der Rollengestaltung ist. Man unterschätzt oft, wie viel da insgesamt zu tun ist. Wir sind im Moment drei Professoren und Professorinnen am Max Reinhardt Seminar – für etwa 60 Studierende. Das bedeutet, dass jede_r Lehrende um die 20 Studierende in vier Jahrgängen 213

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betreut, das ist unglaublich intensiv, weil es eben auch um eine individuelle Betreuung geht. Der Ansatz meines Unterrichts ist ein ganzheitlicher. Ich arbeite mit der Summe aller Erlebnisse und körperlichen Erfahrungen  – also den individuellen Sprechmustern –, die jede_r Studierende in die erste Stunde mitbringt. Heute werde ich eine zentrale Übung präsentieren, die sich mit einer Grundfrage der Sprachgestaltung beschäftigt  : Wie schaffe ich es, Räume zu füllen und das, was ich gestalterisch entwickelt habe, zu transportieren  ? Da geht es vor allem um Bewusstseinsarbeit. Zur Gestaltung ist vielleicht noch zu sagen  : Im Alltag wissen wir alle, was wir sprechen werden, bevor wir es tun. So funktioniert unser Gehirn. Schauspieler und Schauspielerinnen arbeiten aber meistens nicht mit eigenen, sondern mit Fremdtexten von Autoren und Autorinnen. Das heißt, sie müssen die Impulse, die im Alltag selbstverständlich vorhanden sind, nachbauen, um ihrem System klarzumachen, warum dieser Text gesagt werden soll. Ansonsten wirkt der Text unauthentisch. Dann empfindet man das als Zuschauer_Zuschauerin oft als aufgesagt oder gekünstelt. Die Übung, die ich heute zeigen möchte – auch weil sie sehr eingängig ist und ein aktives Zuhören voraussetzt – hat mit den beiden Themen zu tun  : Raum und Authentizität. Also  : Wie erfasse ich als Schauspielerin den Raum, in dem ich spiele, wie kann ich ihn füllen und wie kann ich das Publikum emotional erreichen, berühren. Diese Übung präsentieren wir anhand einer ganz kurzen Szene aus »Penthesilea« von Kleist, und ich möchte mich an dieser Stelle bei Mercy und Ricarda bedanken, dass sie mich hierbei unterstützen. #00  :05  :29-2# CWP  : Meine Frage wäre zunächst in Bezug auf Körpertechniken. Wie entwickelst du diverse Techniken, wenn es um Sprachgestaltung geht. Beispiel  : Atemräume. Welche Trainingsmöglichkeiten gibt es und wie wird geübt  ? #00  :05  :564# TM  : Am Anfang steht die Atemrhythmik. Damit beginnen meine Studierenden den Unterricht bei mir, und dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Ausbildung – bis zum Abschluss. Meine Erfahrung ist  : Wenn sprechtechnisch etwas schiefläuft, hat es zu 85 Prozent mit Atemrhythmik zu tun. Die Atemrhythmik ist bei den meisten von uns nicht mehr so wie sie ist, wenn wir auf die Welt kommen. Da gibt es irgendwann im Alter von drei bis fünf Jahren Eingriffe in diese natürlich funktionierende Atemrhythmik, die ein Baby beim Schreien hat. Oft beginnt das mit der Sozialisierung im Kindergarten, in der Volksschule, wie mit diesem »Pssst, leise sein« – gerade bei uns in Mitteleuropa. 214

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Also, da beginnt sehr stark ein Eingriff von außen. Wenn die Studierenden am Seminar mit dem Studium beginnen, sind sie zwischen 18 und 23 Jahre alt und da gilt es dann eigentlich wieder herauszufinden  : Wie kommen wir an den Ursprung unseres Atemerlebnisses zurück  ? Dafür gibt es tatsächlich eine Unzahl an Übungen. Ich halte mich immer an die, die am einfachsten erfahrbar sind und Unterschiede klar machen. Welches Muster ist für die Bühne geeignet und welches eben nicht. Das ist immer eindeutig zu hören. Wenn ich jetzt zum Beispiel hier sitze und vor jedem Satz Luft einsauge, wird das sehr unangenehm werden, für Sie und für mich. Dieses Sprechmuster hört man sehr oft. Im Fernsehen, im Radio, auf der Bühne. Das Problem ist, dass die Zuhörer_innen dem Inhalt des Textes kaum mehr folgen können, wenn dieses Muster verwendet wird. #00  :08  :15-1# CWP  : Die Unterscheidung von Bühne und Film ist wesentlich. Wie schaut es mit den diversen Räumlichkeiten aus  ? Wie unterscheiden sich diesbezüglich die Techniken der Sprachgestaltung  ? #00  :08  :41-6# TM  : Dazu möchte ich sagen, dass Schauspiel auf der Bühne und Schauspiel vor der Kamera im Grunde zwei verschiedene Berufe sind. Es gibt natürlich Überschneidungen in der Ausbildung, aber die eigentliche Arbeit ist dann grundverschieden. Wobei gerade eine funktionierende Atemrhythmik für den Film genauso wichtig ist wie für die Bühne. Weil mich dann einfach der Inhalt, die Gestaltung, die damit verknüpfte Haltung erreichen kann. Auch über die Kamera. Der Unterschied zwischen Film und Bühne ist vor allem, dass ich, wenn ich einen großen Bühnenraum füllen muss, sehr viel mehr Körperspannung brauche, Wissen um Stimmbildung – das heißt über Stimmsitz – Raumbewusstsein, Sendebewusstsein, Kraftstimme usw. Raumbewusstsein benötigt man allerdings auch vor der Kamera, nur muss man da die Räume anders definieren. Ich benötige ein Bewusstsein über meine Wirkung in der Totalen, Halbtotalen oder Großaufnahme – das wird mein Spiel verändern. Die Kamera definiert also andere Räume als zum Beispiel das Burgtheater. Oder die Kammerspiele, oder ein Lehrsaal am Seminar. Die Übung, die wir später zeigen werden, arbeitet mit vorgestellten Räumen. Das ist ziemlich genial, weil ich dadurch auf den realen Raum genauso zugreifen kann wie auf imaginierte. Und Ziel ist, dass ich, wenn ich eine Szene schauspielerisch entwickelt habe, sie in allen Räumen spielen kann. In einem Kellertheater sollte genau dasselbe beim Publikum ankommen wie im Burgtheater oder vor der Kamera. #00  :10  :37-6# 215

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CWP  : Wie ist es mit Emotionen  ? Dabei geht es auch um Klang und um Rhythmus einer Sprachgestaltung. Damit lässt sich im Raum viel variieren und erzeugen. Kannst du davon ein bisschen mehr erzählen  ? #00  :11  :18-1# TM  : Grundsätzlich ist es so, dass sich die Emotion, die Schauspieler und Schauspielerinnen vermitteln wollen, durch Klang überträgt. Klang. Schwingung. Die deutsche Bühnenhochlautung ist – im Gegensatz zu anderen Sprachen oder Dialekten – keine überaus vokalreiche Sprache. Es gibt zwar einige Konsonanten, die uns da unterstützen können, wie die »Klinger« oder die Mischlaute. Aber im Prinzip – man denke zum Beispiel an Gesang – werden Emotion und Inhalt beinahe ausschließlich über Vokale übertragen. Es gibt sehr wenige Konsonantengruppen, die Emotionen vermitteln, »pssst« zum Beispiel ist so eine. Daraus folgt, dass jegliche Einschränkung im offenen Vokalraum, die mir passiert, mich daran hindert, Inhalte und damit verknüpfte Emotionen zu transportieren. Sehr typisch sind zum Beispiel blockierte Gelenke. Was ganz oft passiert, ist  : Ich probe eine Rolle barfuß und dann ziehe ich mir in der Hauptprobe das erste Mal die Stöckelschuhe des Originalkostüms an und nichts funktioniert mehr. Das Körperlot ist plötzlich ein anderes, verschiedene Gelenke (Knie, Fußgelenke, Hüftgelenke) blockieren und mit einem Mal ist der volle Stimmumfang nicht mehr da. Auch schwierig ist es zum Beispiel, Rollen zu spielen – wie Richard III. –, wo es laut Rollenbeschreibung eine körperliche Einschränkung gibt. Da gilt es sehr bewusst stimmlich zu arbeiten, damit die Durchlässigkeit der Stimme erhalten bleibt, obwohl ich meinen Körper in der Rolle völlig anders erlebe. Mir geht es im Unterricht auch immer sehr klar darum, mit jedem und jeder Studierenden den größtmöglichen Stimmumfang zu erarbeiten – also die hundertprozentige Version jeder Rolle. Ich sage meinen Studierenden immer  : Alles darf mitschwingen. Ich will hundert Prozent Ricarda sehen in der Rolle und hundert Prozent Mercy und nicht, weil unbewusst das Handgelenk abgeklemmt wird, nur 80 Prozent des Möglichen. Es geht schon um ein großes Bewusstsein über sich selbst, damit man in der optimalen Grundvoraussetzung für das Sprechen ist, egal was man spielt. In den Rollen wird viel von den Schauspielern und Schauspielerinnen gefordert, was einschränkend auf die Sprache wirken könnte. Und da hilft es dann, ganz klar über das Bewusstsein gegenarbeiten zu können. #00  :14  :05-1# CWP  : Ich stelle mir das jetzt doch ganz konkret vor. Ich denke, dass der Spielfilm im Allgemeinen eine gewisse Nähe zur Wirklichkeit aufweist, schon alleine durch die häufigen Außenaufnahmen, die einen gewissen dokumentarischen 216

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Charakter haben. Auf der Theaterbühne gibt es traditionellerweise andere Gestaltungsmöglichkeiten und ästhetische Verfahrensweisen und nicht zuletzt die physische Nähe zum Publikum. #00  :14  :36-8# TM  : Es gibt natürlich auch am Theater den Wunsch nach Authentizität. Ich persönlich möchte, wenn ich ins Theater gehe, mich in die Figuren einfühlen können und mich erreichen lassen und nicht drinnen sitzen und sagen  : »Na, ich sitze eh im Theater. Deshalb hampeln die da herum.« Das passiert leider oft. Das hängt auch damit zusammen, dass die Sprache nicht mehr so wichtig genommen wird. Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen in den letzten Monaten im Theater die Erfahrung gemacht haben, dass man rein geht und da stehen Menschen an der Rampe und brüllen einen nieder. Und zwar ohne Punkt und Komma. Und ich kann mich weder einfühlen noch irgendetwas mitempfinden und ich weiß auch nicht, wozu ich gebeten bin. Der Film hat den Vorteil, dass er naturalistisch abbilden möchte, meistens. Es gibt ja auch da Filme, die gehen in eine ganz andere Richtung, aber letztendlich geht es im Film wahrscheinlich darum, die Realität möglichst nah abzubilden. Wir als Schauspielerinnen können aber auch nur von der Realität ausgehen. Also wir können eine Rolle nur über den Text oder die Beschreibungen der Autor_innen beginnen zu gestalten. Wenn man dann in eine Überhöhung geht, in eine Satire geht, in eine auch körperliche Mehr-Gestaltung, muss ja der Ausgangspunkt der Realität derselbe sein. Ich muss mir ja selbst begründen können, was ich da spreche und spiele. Und ich glaube, dass diese Schritte in vielen Inszenierungen oft übersprungen werden, und das Endergebnis ist, dass ich als Publikum letztendlich oft nach 20 Minuten wieder rausgehen möchte, weil ich nicht weiß, wozu ich gebeten bin, warum ich überhaupt hier bin – weil das Spiel mich nicht erreicht. Das hat sicher damit zu tun, dass die Postdramatik immer noch nachwirkt. Dass immer weniger Stücke, sondern stattdessen Textflächen auf dem Spielplan stehen. Und dass ich Schauspielerinnen und Schauspieler erlebe, die nicht mehr in der Tradition der Sprachgestaltung ausgebildet werden. Das Theater begründet sich ursprünglich auf dem Wunsch, mitempfinden zu können, die Verwandlung unmittelbar mitzuerleben. Dass das nur noch selten möglich ist, ist sehr unbefriedigend für das Publikum. #00  :16  :57-7# CWP  : Und für dich ist dieses Mitfühlen können, dieses Mitempfinden, sehr stark mit einer körperlichen Präsenz im Raum verbunden. Du hast von Authentizität gesprochen, das heißt eigentlich – du hast es auch so formuliert – du 217

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möchtest deine Studierenden trotz Rollengestaltung immer noch als eigenständige Persönlichkeiten wahrnehmen. #00  :17  :30-0# TM  : Ja. Beziehungsweise, ich möchte wahrnehmen, wie Ricarda die Rolle spielt. Oder wie Mercy die Rolle spielt. Das ist ja das wirklich Interessante. Ich kann ja nicht sagen, so wird die Julia gespielt und alle müssen das jetzt so spielen. Das Bereichernde wäre ja, die fünfte Julia zu sehen und die ist wieder anders. Das ist ja sozusagen das ultimative Ziel beim Schauspiel. Also sich selbst einzubringen und – wie ich es von Professorin Adelheid Pillmann gelernt habe – »sich den Text einzuverleiben«. Wir beginnen als Schauspielerinnen ja immer mit dem Text. Da gibt es den Text und vielleicht ab und zu Regieanweisungen. Und mehr haben wir nicht. Das ist die Ausgangsposition. Und das ist nun mal nicht mein Text, den ich persönlich jetzt schreiben würde zu dem Thema »Unschuldige Liebe darf nicht funktionieren und endet ganz grässlich«, das wäre ein anderer Text. Aber wir spielen den von Shakespeare – und das ist die Kunst. Wir müssen also den Text des Autors oder der Autorin spielen und ihn trotzdem zu unserem eigenen Text machen. Und das nenne ich Authentizität. #00  :18  :38-5# CWP  : Wie sieht das konkret aus  ? Wie gehst du im Unterricht vor  ? #00  :18  :56-2# TM  : Es gibt sehr viele unterschiedliche Ansätze, auch in meinem Unterricht. Weil es oft so ist, dass die Studierenden mit einer Rolle, die sie woanders erarbeiten, zu mir kommen und sagen  : »Wieso funktioniert das mit der Sprache nicht  ? Warum überschreie ich mich da, warum kriege ich immer wieder das Feedback, ich bin zu leise, zu laut, werde nicht verstanden  ?« Das ist der eine Aspekt, wo wir als Sprachlehrende, auch mit den Rollenlehrer_innen gemeinsam, unterstützen oder auch bei Produktionen. Auf der anderen Seite gibt es Texte, die wir nur im Sprachgestaltungsunterricht erarbeiten. Dann steht am Anfang das reine Lesen. Das heißt, ich lese und lasse mir – unter Beachtung der Atemrhythmik – viel mehr Zeit. (Zeit, die wir uns sonst ja gar nicht mehr nehmen können.) Wir haben zum Beispiel Übungen, mit denen ich meinem Körper klar machen kann  : Wo empfinde ich Inspiration, wo Exspiration, was macht das mit mir  ? Übungen, mit denen ich die Inspirationsphasen ausdehnen kann und dann erst den Text spreche. Oder den Text erst dann spreche, wenn ich ihn empfinde. Oder ein Bild dazu habe, das mich mit dem Text verknüpft. Man glaubt es nicht, aber das ist gar nicht so einfach. Also wirklich zuzulassen, einzutauchen, ein Bild oder eine Haltung zum Text zu haben und diese hundertprozentig zu transportieren, das ist schon eine Herausforderung. #00  :20  :31-7# 218

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CWP  : Wie weit sind die ganz subjektiven Erfahrungen deiner Studierenden involviert  ? Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Regionen, sprechen unterschiedliche Dialekte, haben unterschiedliche Erfahrungen, kulturelle Prägungen. Wie gehst du damit um  ? Das ist ja ein Potenzial. #00  :20  :55-0# TM  : Ja, absolut. Im Bereich der Sprecherziehung herrscht manchmal immer noch die Vorstellung, dass es nur die reine Bühnenhochlautung geben darf und daneben nichts mehr zu existieren hat. Das halte ich für ganz falsch. Wenn wir zu sprechen beginnen, ist unsere Sprachentwicklung immer stark verknüpft mit dem Umfeld, in dem wir uns befinden. Wir hören die Sprache unserer Eltern schon im Mutterleib. Unsere Entwicklung wird stark von der Sprache um uns geprägt. Alle unsere Ressourcen, auch das künstlerische Potenzial, liegt in dieser ersten Sprecherfahrung. Die Studierenden müssen im letzten Jahr ihrer Ausbildung selbstverständlich in der Lage sein, auf der Bühne so zu sprechen, dass man nicht hört, woher sie kommen. Sie müssen aber auch in der Lage sein, ihren Heimatdialekt sprachlich so abgesichert zu haben, dass sie auch in ihrem Heimatdialekt spielen können. Das ist nochmal eine große Herausforderung. Manchmal habe ich auch Studierende, die aus anderen Ländern kommen, die mit anderen Sprachen aufgewachsen sind. Mercy zum Beispiel ist mit drei anderen Sprachen groß geworden, und Deutsch kam erst relativ spät dazu. Hier bietet sich die Übung an, den Text erstmal in der Muttersprache zu sprechen und sich aus dieser emotionalen Ressource heraus ins Deutsche zu begeben. Ich habe das auch immer wieder mit Dialekten erlebt, oder mit dem Schweizerdeutschen. Ich halte es für wichtig, diesen Schritt in der Ausbildung nicht zu überspringen. Und dass Studierende, die einen Dialekt sprechen, diesen später auch für die Bühne verwenden können. Es gibt genug Stücke, in denen das sogar nötig ist. #00  :24  :56-1# CWP  : Inwiefern ist denn das Thema Gender im Zusammenhang mit Sprachgestaltung wichtig  ? Wie wird das kommuniziert, besprochen  ? #00  :25  :04-9# TM  : Ich bin der Meinung, dass die Sprache, die wir sprechen, Realitäten schafft. Sprache ist etwas Machtvolles. Schon der Gedanke, der vor der Sprache liegt, manifestiert sich – wird aber noch kraftvoller, wenn man ihn ausspricht. Wenn man sich ein bisschen mit anderen Kulturen oder dem Begriff Magie beschäftigt, dann merkt man, dass überall Worte bewusst ausgesprochen und wiederholt werden – den Zauberspruch laut auszusprechen bringt die Veränderung in Gang. Deshalb gendere ich bewusst im Unterricht. Ich selbst war noch Student, 219

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manchmal – sehr selten – Studentin, aber keine Studierende. Es ist aber sehr befriedigend, einer Gruppe sprachlich anzugehören und nicht immer wieder außen vor zu sein. In dieser Hinsicht kann ein bewusster Umgang mit Sprache viel verändern. Auf der anderen Seite wissen wir spätestens seit der #MeTooBewegung, dass wir im Kunstbereich noch mit wesentlich größeren Problemen als der Sprache zu kämpfen haben. Obwohl es in der letzten Zeit viele gute Initiativen im Theaterbereich – wie z.B. »Das junge Ensemblenetzwerk« – gibt, sind wir weit weg von einer Gleichstellung von Mann und Frau. Das fängt bei der unterschiedlichen Bezahlung für die gleiche Leistung an, wird in sexuellen Übergriffen, die lange Zeit selbstverständlich waren, deutlich und zieht sich hin bis zu künstlerischen Voraussetzungen  : Es gibt zum Beispiel einen absoluten Rollenmangel für Frauen um die 40. Bei Männern fängt in diesem Alter die Karriere oft erst so richtig an. Intendantinnen gibt es jetzt öfter, wenn auch immer noch zu selten. Als ich Anfang der 1990er begonnen habe Theater zu spielen, war das Theater in den Führungsetagen, in der Regie, dominiert von Männern. Das Theater hatte und hat eine hierarchische Struktur und alle bisherigen Versuche, das zu ändern, sind leider gescheitert. Der große Unterschied ist heute, dass man in der Öffentlichkeit endlich darüber spricht und dass Strukturen ans Tageslicht kommen, die empören. Es wird an der nächsten Generation liegen, sich zu ermächtigen und zum Beispiel mehr Stücke für Frauen ab 40 zu schreiben. Ich nehme an, dass es beim Film nicht anders ist. #00  :28  :33-4# Zuhörerin  : Ich habe eine Frage, weil sie von der Postdramatik gesprochen haben. Ich meine, die gibt es ja nun mal, auch auf der Bühne. Geben Sie da irgendeine Art von Ausbildung dafür, für solche Formen  ? Oder ist es auch bewusst ein Dagegensetzen  ? #00  :29  :48-8# TM  : Ich bin der Überzeugung, dass eine traditionelle Schauspielausbildung Grundlage dafür ist, alles, was da im Laufe eines Schauspieler_innenlebens auf einen zukommt, bewältigen zu können. Auch postdramatische Stücke. Ich habe den Beginn der postdramatischen Entwicklung noch selbst auf der Bühne erlebt, und ein Hauptproblem bei diesem Umgang mit Theater ist, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler es sehr schwer haben, in sich Impulse dafür zu finden, was sie da spielen und sprechen müssen. Es gibt kaum Möglichkeiten für eine Anbindung an den Text. Das ist sowohl für die Schauspieler_innen, als auch für das Publikum unbefriedigend. Das bloße Rezitieren des Textes wird dann aber zur Kunstform erhoben und gleichzeitig distanzieren sich die Schauspieler_innen von dem, was sie aufsagen. Konkrete Figurenbezüge sind verpönt. Es geht 220

Sprachgestaltung – Raum | Bewusstsein

um Themen und nicht um individuell gestaltete Figuren. (Die schwindenden Besucher_innenzahlen am Theater sind ein Zeichen dafür, dass man da etwas überdenken sollte.) Wenn ich in einem postdramatischen Rahmen spiele, sollte ich das mit emotionaler Anbindung tun. Ansonsten kann sich auch das Publikum nicht mit dem verknüpfen, was da auf der Bühne stattfindet. Und so versuchen wir auch unsere Schauspiel- und Regiestudierenden auszubilden. Den Studierenden geht es meistens sowieso darum, eine Aussage zu treffen. Das zeigt sich in der Stück- und Rollenwahl. Ich setze im Übrigen darauf, dass es wieder eine Wende hin zur Figurengestaltung und Mimesis geben wird. Es gibt nun einmal das ursprüngliche Bedürfnis bei Theaterschaffenden und beim Publikum, Figuren zu gestalten und diese Gestaltung zu erleben. #00  :32  :54-5# CWP  : Könnte man das auch so beschreiben, dass eigentlich der Schlüsselpunkt die Emotionen sind  ? #00  :32  :59-2# TM  : Ja, ganz klar. Warum gehen wir ins Theater  ? Warum gehen Kinder ins Theater  ? Ins Kasperltheater zum Beispiel. Wenn man Kinder filmt, die im Kasperltheater sitzen, dann sieht man alle Emotionen auf ihren Gesichtern. Sie leben mit. Sie atmen mit. Das ist der Ur-Impuls, warum wir ins Theater gehen und das ändert sich nicht, wenn wir erwachsen sind. Wir wollen etwas erleben. Wir wollen unmittelbar Anteil nehmen an den Haltungen der Figuren, des Stücks. #00  :33  :42-3# CWP  : Gestaltungskriterien gibt es natürlich auf der Bühne, genauso wie beim Film, noch sehr viele mehr. Ich glaube, es ist sehr gut rübergekommen, wie wichtig für dich dieser zentrale Moment ist und wie du das siehst in deiner Arbeit als Professorin für Sprachgestaltung. In der Folge zeigen Mercy Otieno und Ricarda Bistram anhand einer kurzen Szene aus Kleists »Penthesilea« die Übung »Raumrundum-Schaltung«, die in dieser Form von Professorin Adelheid Pillmann entwickelt wurde. Gearbeitet wird in vier verschiedenen Schritten (Stufen), wobei ausschließlich die vierte Stufe – Raumrundum – für die Bühne geeignet ist. Die ersten drei Stufen – die Käseglocke, die Gasse und die Mauer – sind exemplarisch und zeigen Muster auf, die Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne oft passieren. Ziel ist es, die entwickelte Gestaltung raumfüllend zu transportieren und das Publikum vollständig (sprachlich und inhaltlich) zu erreichen. Durch das Anwenden der Übung entwickeln die Studierenden nicht nur ein Bewusstsein für die verschiedenen Räume, in denen sie spielen, sondern auch für die nicht bühnengeeigneten Muster, die in Proben unweigerlich passieren. Die Zuhörerinnen und 221

Tamara Metelka

Zuhörer nehmen aktiv an der Übung teil. Sie geben Feedback, ob sie erreicht werden bzw. ab wann sie erreicht werden. So werden die Unterschiede der vier Stufen auch für das Publikum miterlebbar. Zuhörerin  : Ich wollte noch sagen, ich habe bei der Tamara auch oft geübt – ich bin Fagottspielerin – und es funktioniert auch super als Musikerin. Und ich wende das auch mit meinen Schüler_innen an, das ist eine heilsame Übung. Vor allem für das Probespielen, wo man ganz genau nur 30 Sekunden Zeit hat. Man kann alles hineinpacken. Und ich verpacke auch immer Gedanken mit hinein – weil  : Wir haben ja nur quasi den Ton –  : »Ich bin die Beste, ich bin die Beste, ich bin die Beste.« (Humor, Laute des Amüsements von Seiten des Publikums) Diese Erfahrung wollte ich teilen. #00  : 56  : 24-4# TM  : Diese Übung ist nicht nur für Schauspiel oder Musik anzuwenden, sondern auch für Tanz, Gesang, Vorträge etc. Die Übung schult das Bewusstsein und die Präsenz im Raum, und das hilft bei allen künstlerischen Ausdrucksformen. Leider kann diese Übung rein sprachlich nicht vermittelt werden. Es geht um das »Miterlebbar-Machens« mittels einer praktischen Übung und das lässt sich durch eine Erzählung nicht adäquat abbilden. Hier liegt die Grenze der theoretischen Beschreibung einer praktischen Übung und es zeigt sich einmal mehr, dass das Fach Sprachgestaltung in einem hohen Ausmaß praktische Übungen und aktives Mit-Hören benötigt #00:56:49-7#. CWP  : Vielen Dank für diese sehr anschaulichen und nachvollziehbaren Ausführungen, danke für diesen Einblick in deine Arbeit. Ich bedanke mich beim Publikum fürs Mitmachen, fürs Dabeisein. Und hoffentlich arbeiten viele Gedanken, viele Bilder, viele Impulse, die wir heute bekommen haben, weiter. #01  :18  :22-1# (Lachen, Applaus) ENDE

Literatur Horst Coblenzer (1987), Erfolgreiches Sprechen. Wien Horst Coblenzer, Franz Muhar (1987), Atem und Stimme. Wien Kristin Linklater (1997), Die persönliche Stimme. München

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Vina Yun

Feministische Medien Medienaktivismus als »alternativer« Journalismus Feministische Medien existieren in den unterschiedlichsten Formaten und Genres  : als händisch kopiertes DIY-Zine oder klassische Zeitschrift, als Radiosendung oder Podcast, als TV-Sendung oder Online-Videokanal, als InternetNewsportal oder persönlicher Blog. In Österreich stellen feministische Medien, die sich ihrem Selbstverständnis nach explizit von den herkömmlichen Massenmedien – dem medialen »Malestream«1 – abgrenzen, einen integralen Bestandteil sogenannter Alternativmedien dar. Als solche sind sie »Experimentierfelder einer alternativen, egalitären und selbst organisierten Kommunikationskultur und einer an feministischen Prinzipien orientierten journalistischen Praxis«, wie die Publizistikforscherin Brigitte Geiger konstatiert. (2002, 87, Hervorh. im Original) Die Relevanz feministischer Medien sieht die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Klaus (2008) insbesondere in deren Rolle, den Status quo zu hinterfragen, Alternativen vorzustellen und so dazu beizutragen, gesellschaftlichen Wandel überhaupt vorstellbar zu machen  : Feministische Medien sind eine Mobilisierungsressource nach innen wie nach außen. Nach außen, weil sie immer auch soziale Bewegungen konstituieren. Nach innen, weil sie anderen kulturellen Ausdrucksformen Raum geben und ermöglichen, mit neuen Arbeits- und Lebensweisen zu experimentieren. Historisch haben nicht wenige der in der Frauenbewegungspresse Engagierten ihren Weg in die Männerdomänen des Journalismus gefunden. Im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Institutionalisierung stellt die feministische Gegenöffentlichkeit individuelle Möglichkeiten bereit, jenseits des neoliberalen Menschenbildes anders zu leben. Sie bleibt zugleich ein gewichtiger Motor für die Veränderung unzumutbarer gesellschaftlicher Verhältnisse […]. (Klaus 2008, 5)

Wie Klaus erwähnt, sind, um soziale Bewegungen zu formieren, stets auch eigene Medien nötig – nämlich solche, die sich als Opposition oder Ergänzung zur traditionellen bürgerlichen Presse verstehen. Feministische Medien berichten nicht nur über das, was in den Mainstreammedien sonst kaum Thema ist, 223

Vina Yun

sondern fungieren ebenso als partizipative Diskussionsorgane, indem sie innere Debatten der Bewegungen zusammenführen und marginalisierten Stimmen als Plattform dienen. Letztlich erweitern bzw. verschieben sie im hegemonialen Feld den Ausschnitt dessen, was sag- und denkbar ist. Sie schaffen eigene, selbstbestimmte Räume der Verständigung, von wo aus versucht wird, in herrschende Diskurse zu intervenieren. Ihnen ist es mit zu verdanken, dass feministische und queer-politische Forderungen auch von etablierten bürgerlichen Medien wahrgenommen werden. Dies hat auch damit zu tun, dass immer mehr engagierte Journalistinnen – häufig in feministischen bzw. Alternativmedien ausgebildet – in den Redaktionen etablierter Medien zu finden sind.2

Alternative Medien – alternativer Journalismus  ? Trotz ihrer bedeutenden Rolle erhalten feministische Medien – wie alternative Medien im Allgemeinen – vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit, insbesondere von wissenschaftlicher Seite. Entsprechend wird die Historisierung von und die Auseinandersetzung mit Alternativmedien vor allem von diesen selbst betrieben, etwa in eigenen Buchpublikationen (z. B. »Handbuch Alternativmedien«, »Feministische Medien«), auf Veranstaltungen (bspw. AlMA – Alternative Medienakademie, die zuletzt 2013 in Wien stattfand, oder LiMA – Linke Medienakademie3 in Berlin), in Archiven und Datenbanken4, im Rahmen von Preisausschreiben (siehe u. a. den Alternativen Medienpreis 5) und in aktivistischen Zusammenschlüssen (aktuell etwa BAM  ! – Bündnis Alternativer Medien6). Doch was ist das »Alternative« an den sogenannten Alternativmedien, die auch als Freie Medien7, nichtkommerzielle Medien, ­Communitymedien, Bür­ ger*innenmedien oder schlicht »kritische Medien« bezeichnet ­werden  ? Und wie würde man erkennen, dass man es mit solchen zu tun hat  ? »Die Bezeichnung ›alternativ‹ verweist gerade darauf, dass sie nur in Relation zu ›etablierten‹ bzw. ›vorherrschenden‹ Medien zu verstehen sind […].« (Wimmer 2011, 38) Allerdings meint »alternativ« hier »[…] mehr als nur ›alternative‹ Inhalte, gemeint sind auch ökonomische Grundlagen und die gesamte Form der Organisation des Produktionsprozesses, verlegerisches und journalistisches Selbstverständnis.« (Hüttner/Nitz 2009, 36) Tatsächlich gehören basisdemokratische Strukturen (die Redaktionsteams definieren sich in aller Regel als Kollektiv, es gibt keine klassische Chefredaktion), Selbstverwaltung und Gemeinnützigkeit zum Selbstverständnis der meisten Alternativmedien. Außerdem sind sie durch ihre Niederschwelligkeit und Partizipationsmöglichkeiten charakterisiert  : So trifft 224

Feministische Medien

man bei Alternativmedien häufig auf das Format offener Redaktionssitzungen, an denen jede*r Interessierte  – auch solche mit keiner oder kaum einer journalistischen Erfahrung  – teilnehmen kann, während hingegen bei etablierten Medien der Zugang etwa über Assessment Centers oder kostenpflichtige Lehrredaktionen gemanagt wird. So gesehen haben Alternativmedien schon seit Längerem die Funktion einer journalistischen Basisausbildung übernommen. Alternative Medien vereint das Ziel, eine Gegenöffentlichkeit oder alternative Öffentlichkeit zur traditionellen Presse herzustellen, indem sie einen emanzipatorischen Anspruch verfolgen  – sie definieren sich als antisexistisch, antirassistisch und grundsätzlich antidiskriminatorisch – und gesellschaftliche Vielfalt abbilden wollen. Auch deswegen sind Alternativmedien kritisch gegenüber dem von den bürgerlichen Medien lange Zeit hochgehaltenen journalistischen Gebot der Objektivität bzw. Neutralität. Stattdessen setzen sie darauf, ihre Parteilichkeit transparent zu machen. Trotz dieser typischen Merkmale existiert keine einheitliche Definition für Alternativmedien  – »alternativ« sind letztlich jene Medien, die sich selbst so bezeichnen. In der Praxis finden sich zudem viele Mischformen  : Alternativmedien können kommerziell organisiert sein und dennoch »alternative« Themen bearbeiten (wie etwa das Beispiel Missy Magazine zeigt). Auch das Prinzip der Partizipation ist längst kein Alleinstellungsmerkmal mehr  : Im Zeitalter der digitalen Medien ist die Trennlinie zwischen Produzent*in und Konsument*in deutlich aufgeweicht, und gerade kommerzielle Medien wünschen sich aktive Nutzer*innen, die User-Content generieren. Angesichts der immer stärker werdenden Einbindung von RezipientInnen in die Medienproduktion […] stellt sich die Frage, ob der für viele Alternativmedientheorien so grundlegende Ruf nach mehr Partizipation tatsächlich noch die geeignete Forderung ist, um der Macht kommerzieller Medien und der Einseitigkeit der Medienberichterstattung zu begegnen. Was bedeutet es für die Theorie alternativer Medien, wenn Partizipation im Internet und in anderen Medien immer mehr zum Normalzustand wird  ? (Sandoval 2011, 24)

Nicht zuletzt erscheint in Zeiten, in denen Begriffe wie »alternativ«, »Establishment« oder »Mainstream« zunehmend von der politischen Rechten vereinnahmt und umgedeutet werden, die Bezeichnung als Alternativmedium deutlich diffiziler.

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Qualitätskriterien im feministischen Journalismus Erwartungsgemäß sind feministische Medien insbesondere durch ihre Parteilichkeit gekennzeichnet  : »Mit den Zielen der Stärkung der Autonomie der Frauen und gesellschaftlicher Einflussnahme werfen feministische Journalistinnen einen subjektiven Blick auf ihre Umwelt. Objektivität als Qualitätskriterium für Journalismus wird verworfen«, schreibt etwa die »an.schläge«-Redakteurin und Journalistin Gabi Horak. (2000, 20) Ebenso bedeutsam sei eine ganzheitliche Perspektive  : »Zur systematischen Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklungen muss feministischer Journalismus immer den Kontext einzelner Entwicklungen im Auge behalten, Abhängigkeiten analysieren und Kontinuitäten festhalten.« (Ebd.) Ähnlich formuliert es Brigitte Geiger, die feministische Medienforschung zu einem ihrer Schwerpunkte gemacht hat  : Feministische Medien »bemühen sich […] um mediale Darstellungsweisen, die die Subjektivität und Situiertheit der Darstellenden einbeziehen und den Dargestellten als Subjekten und Handelnden Raum geben.« (2002, 87) In diesem Sinne begreift sich feministischer Journalismus als Verbindung zwischen politischer Arbeit, kritischer Selbstreflexion und persönlicher Erfahrung – »[d]ie Autorin hinter den Artikeln, ihre eigenen Alltagserfahrungen und ihre Sicht auf die Dinge sind Teil der Story.« (Horak, 21) So legen feministische Journalistinnen zugleich dar, warum und auf welche Weise sie einen Sachverhalt überhaupt zum Thema machen, wohingegen klassische bürgerliche Medien von einer »richtigen« Zuordnung von Aktualität und Relevanz ausgehen. Die damit einhergehende angebliche Professionalität und Ausgewogenheit in der Berichterstattung wird allerdings durch Zahlen infrage gestellt, die belegen, dass Frauen etwa in den Nachrichtenmedien massiv unterrepräsentiert sind. So stellte der jüngste Bericht des Global Media Monitoring Project (GMMP), der Mediendaten aus 114 Ländern zusammenführt, fest, dass Frauen weltweit nur 24 Prozent aller Personen ausmachen, die in Zeitungs-, Fernseh- und Radionachrichten gefeatured werden. (WACC 2015, 8) In Österreich waren es im Jahr 2015 nur 21 Prozent (Print, TV, Radio) bzw. 16 Prozent (Onlinemedien), in Deutschland 33 bzw. 24 Prozent, in der Schweiz 23 bzw. 35 Prozent. (vgl. WACC 2015, 122ff.) Zwar hat die bürgerliche Presse mittlerweile begonnen, ihre eigenen journalistischen Normen zu hinterfragen – dass es keine absolute Objektivität gibt, wird zunehmend Common Sense –, und wie auch bei den Alternativmedien wird nunmehr vermehrt auf »Transparenz« gesetzt. Dennoch setzen die genannten Merkmale feministische Medien weiterhin deutlich von bürgerlichen 226

Feministische Medien

Medien ab  : Ihre explizite Absicht ist, in die Gesellschaft einzugreifen, Ungleichheit und Diskriminierungen aufzudecken und die Heterogenität der Lebensrealitäten von Frauen sichtbar zu machen.

Feministische Zeitschriften der Neuen Frauenbewegung Österreich kann eine für den deutschsprachigen Raum vergleichsweise hohe Dichte an feministischen Medien insbesondere aus dem Printbereich vorweisen.8 Dagegen gehören in Deutschland Onlinemedien – darunter Blogs und Podcasts – derzeit zu den aktivsten Akteuren in der feministischen Medienszene. Im Folgenden möchte ich anhand ausgewählter Beispiele aus Österreich und Deutschland Themen und Arbeitsweisen feministischer Medien seit den 1970erJahren vorstellen.9 Die aus der autonomen Frauenbewegung hervorgegangene und in Wien gegründete »AUF – Eine Frauenzeitschrift« zählte neben den »aep Informationen« aus Innsbruck10 zu den ältesten feministischen Zeitschriften in Österreich nach 194511 und damit zu den frühesten Printmedien der Zweiten Frauenbewegung im deutschsprachigen Raum. Die Themen der ersten Ausgabe umfassten die Funktion der Familie, Alternativen zur Familie, Familienrecht, Fristenlösung und Abtreibung ebenso wie das eigene kollektive feministische Selbstverständnis. (Cacioppo/Geber/Nekolny 2008, 59) Ursprünglich fungierte die »AUF«, die bis zu ihrer Einstellung 2011 vierteljährlich erschien12, als Sprachrohr der Gruppe Aktion Unabhängiger Frauen, entwickelte sich aber schon bald zu einer breiten Plattform für feministische Debatten. Auch in Deutschland trat in den frühen 1970ern die erste feministische Zeitschrift in Erscheinung  : Nur wenig älter als die »AUF« war die »Frauenzeitung  – Frauen gemeinsam sind stark«, die ab 1973 im Wechsel von verschiedenen Frauengruppen herausgegeben wurde. Die »Frauenzeitung« rückte zentrale Themen der Neuen Frauenbewegung wie beispielsweise Verhütung und Sexualität in den Fokus, machte aber auch deren innere Konflikte sichtbar, wie etwa den Streit zwischen Vertreterinnen der »Neuen Weiblichkeit« und Antibiologistinnen oder die Kontroversen zwischen autonomen und linken Feministinnen. (Hitz 2019) Während die »Frauenzeitung« im Sommer 1976 zum letzten Mal erschien, machten sich neue feministische Zeitschriftenprojekte bereit, in die Öffentlichkeit zu treten  : »Die Schwarze Botin« und »Courage«13 aus dem damaligen West-Berlin sowie »EMMA« aus Köln. Bezüglich Fragen der Herstellung von Öffentlichkeit und der Repräsentation verfolgten die drei feministischen Medien unterschiedli227

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Abb. 1 AUF – Eine Frauenzeitschrift, Heft 1/1974

Abb. 2 AUF – Eine Frauenzeitschrift, Heft 79/1993

che, teils entgegengesetzte Strategien. Die Kontroverse zwischen »EMMA« (erstmals erschienen 1977), »Courage« (1976–1984) und »Die Schwarze Botin« (1976–1987) darüber, ob und wie »marktfreundlicher Journalismus« (der der »EMMA« vorgeworfen wurde) mit den Interessen und Zielen der Frauenbewegung vereinbar sei, liegt zwar schon mehr als vierzig Jahre zurück, doch hält die Diskussion über Möglichkeiten und Voraussetzung kritischer feministischer Medienproduktion bis heute an. Es sind Fragen, die nicht nur feministische, sondern alle Medienmacher*innen angehen  : Was bedeutet es, über etwas oder jemanden zu berichten  ? Was bedeutet »professioneller« Journalismus und worin äußert sich Qualität, aber auch Autonomie  ? Vor dem Hintergrund der prekären Arbeitsbedingungen, wie sie bei feministischen Medien in der Regel vorherrschen, sind Kurzlebigkeit und eine hohe personelle Fluktuation nichts Außergewöhnliches, Unterbezahlung und Selbstausbeutung gehören zur Tagesordnung. Der Aufwand, die Strukturen des jeweiligen Mediums aufrechtzuerhalten, ist jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten merkbar größer geworden. Kürzungen bzw. Streichungen von Förderungen, auf die Alternativmedien vor allem in Österreich wesentlich angewiesen sind, ha228

Feministische Medien

ben den Druck für diese verstärkt, zusätzliche finanzielle Mittel aufzustellen. Das bedeutet unter anderem, personelle und zeitliche Ressourcen in die Lukrierung von Projektgeldern, in Crowdfunding-Kampagnen und Ähnlichem umzuleiten – was auf Kosten der eigentlichen Medienarbeit geht. Je weniger Geld für die Infrastruktur vorhanden ist, desto mehr Arbeit muss  – zusätzlich zur »normalen« redaktionellen Tätigkeit, die aufgrund ihrer geringen Entlohnung nicht selten neben weiteren Lohnarbeiten geleistet wird – in den ökonomischen Erhalt des Mediums gesteckt werden. Medienpolitische Entscheidungen können solche Arbeitsbedingungen zusätzlich verschärfen. Im Frühjahr 2000 wurde auf Initiative der »AUF« der Verband feministischer Medien ins Leben gerufen, ein Schulterschluss der Zeitschrift »an.schläge«, der Theologie-Publikation »Der Apfel«, der Popkulturmagazine »female sequences« und »nylon«, des entwicklungspolitischen Journals »Frauensolidarität« sowie der Blätter »Lila Schriften« und »LesbenFrauenNachrichten«. Konkreter Anlassfall war eine weitreichende Maßnahme der damaligen rechtskonservativen Regierung unter ÖVP und FPÖ  : die Streichung des ermäßigten Posttarifs sowie die Erhöhung der Mindestauslieferungszahl von 300 auf eintausend Stück. Für Printpublikationen in kleinerer Auflage, wie es die feministischen Medien waren, wurden damit die Möglichkeiten für deren Verbreitung massiv erschwert. Der Verband feministischer Medien intervenierte mit einem Aufkleber unter dem Motto »Post it  ! Frauen (k)leben anders« und forderten Unterstützer*innen auf, einen vom Verband verfassten Protestbrief an die Regierung zu schicken. (Rudigier 2008, 73) Der weitergehende Versuch der feministischen Verbandsmedien, eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit aufzubauen und damit mehr Menschen zu erreichen, schlug allerdings fehl. Die ständige Verteidigung der immer knapper werdenden Ressourcen – unter Schwarz-Blau wurden das Frauenministerium abgeschafft und Förderungen für feministische Projekte stark gekürzt14 – verschlang zu viel an Energie, als dass es möglich gewesen wäre, zusätzliche organisatorische Aufgaben zu bewältigen. Von den Medien des Verbands existieren aktuell nur mehr die »Frauen­*soli­ darität« und die »an.schläge«. Die vierteljährliche Zeitschrift »Frauen*solidarität«, die erstmals 1982 erschien, berichtet über feministische Bewegungen in den Ländern des Globalen Südens und reflektiert das Nord-Süd-Ost-Verhältnis aus feministischer Perspektive. Bis heute hat die »Frauen*solidarität« das Alleinstellungsmerkmal als einzige feministische entwicklungspolitische Zeitschrift im deutschsprachigen Raum. Herausgegeben wird sie vom gleichnamigen Verein, der auch die Frauen*solidarität-Bibliothek und -Dokumentationsstelle be229

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treibt. Angelehnt an die Schwerpunktthemen des Magazins sind die Beiträge der Radiogruppe der Frauen*solidarität gestaltet, die unter dem Namen »Women on Air« wöchentlich auf Orange 94.0, dem Freien Radio in Wien, sendet.15 Am Beispiel der Zeitschrift und Radiosendereihe der Frauen*solidarität ist gut erkennbar, wie sich zeitgenössische innerfeministische Debatten  – etwa um post- bzw. dekoloniale Kritik und intersektionale Perspektiven – nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form feministischer Medien niederschlagen. Dies äußert sich beispielsweise in der veränderten Bildpolitik des Magazins, in der sich die (von antirassistischen Positionen bereits lange geforderte) Auseinandersetzung mit Repräsentations- und Rassismuskritik widerspiegelt  : Wurden bis in die 2000er-Jahre Ungleichheit und Ausbeutung im globalen Kontext noch des Öfteren entlang der Vorstellung von weißen »Helferinnen« und »hilfsbedürftigen, unterentwickelten« Frauen of Color visualisiert, dominieren seit dem letzten Jahrzehnt abstrakte Darstellungen und grafische Experimente. Etabliert haben sich auch queerfeministische Sicht- und Schreibweisen  : Seit 2013 führt die Frauen*solidarität in ihrem Zeitschriften- wie auch Organisationstitel einen Asterisk, und in den Artikelbeiträgen hat der Gender-Gap das Binnen-I abgelöst. Fast zeitgleich zur Gründung der Zeitschrift »Frauensolidarität« erschien 1983 die erste Ausgabe der »an.schläge«. Wie die Mehrheit der feministischen Medien sind auch die »an.schläge« als »Bewegungsmedium«, d. h. aus der Frauenbewegung heraus, entstanden.16 Als solches ist es u. a. von einem erweiterten Politikbegriff geprägt, der nicht bloß institutionelle Politik meint. Der bekannte Slogan der Zweiten Frauenbewegung »Das Private ist politisch« schlägt sich auf die Auswahl der Inhalte im Magazin insofern nieder, als die politische Relevanz von Alltagspraxis neu verhandelt wird. »an.schläge« und andere feministische Medien »erweitern die Agenda medialer Öffentlichkeiten um so genannte private Themen und Bereiche, um in den dominanten politisch-medialen Arenen normalerweise nicht zu Wort kommende und marginalisierte Erfahrungen, SprecherInnen und auch Sprechweisen […].« (Geiger 2002, 87) Indem Politik als Ausdruck und Gestaltungsweise gesellschaftlicher Machtverhältnisse begriffen wird, rückt auch »Politik von unten« – soziale Bewegungen, Protest, politische Mobilisierung  – ins Zentrum der Berichterstattung. Die Aufgabe feministischer Medienproduktion sehen die »an.schläge« darin, über vernachlässigte feministische Themen kontinuierlich zu berichten und solche feministischen »Evergreens«  – wie z. B. Abtreibungsrecht, Gewalt gegen Frauen, Gender Pay Gap, Aufteilung von Haus- und Erziehungsarbeit, Körperbilder, Se230

Feministische Medien

Abb. 3 an.schläge – Das feministische Magazin, Heft VI/2019

Abb. 4 an.schläge – Das feministische Magazin, Heft I/2020

xualität – konsequent zum Thema zu machen. Aber sie erschöpft sich dabei keinesfalls im Aufgreifen solcher sogenannter »Frauenthemen«. Von feministischen Medien wie an.schläge werden stattdessen sämtliche Themen aus einer feministischen Perspektive beleuchtet. Wir lösen damit ein, was wir auch politisch fordern, nämlich dass Feminismus eine Querschnittsmaterie sein muss […]. (Susemichel 2019, 31)

Bis heute sind die »an.schläge« nahe dran an den Themen und Debatten sozialer Bewegungen und begreifen sich als Diskussionsplattform, die die Vielfalt feministischer Positionen sichtbar werden lässt. Anhand der langjährigen Geschichte der »an.schläge« lassen sich auch die Generationenwechsel und damit die veränderlichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen innerhalb der feministischen Bewegungen ablesen – wie beispielsweise der Wandel identitätspolitischer Konzepte in der Auseinandersetzung mit Queer Theory oder der Einfluss des angloamerikanisch geprägten Third Wave Feminism und seine Hinwendung hin zu popkulturellen Phänomenen, die davor vorwiegend unter dem Aspekt einer repressiven Kulturindustrie diskutiert wurden. Lange Zeit waren die »an.schläge« das einzige feministische Monatsmagazin17 im deutschsprachigen Raum, jedoch wurde 2015 die Erscheinungsweise 231

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auf acht Ausgaben pro Jahr umgestellt. Dies ist vor allem den schwierigen Arbeits- und Produktionsbedingungen geschuldet, denen Alternativmedien im Allgemeinen und feministische Medien im Besonderen unterworfen sind. Dass feministische Medien dennoch an die Öffentlichkeit kommen, ist in erster Linie dem individuellen wie kollektiven Engagement von Redakteurinnen, Autorinnen, Bildproduzentinnen und Grafikerinnen zu verdanken – aber ebenso den Leser*innen, die mit ihrem Support und positiven Feedback und nicht zuletzt mit Abonnements und Spenden »ihren« Medien den Rücken stärken. Seit 1995 erscheint als Beilage der »an.schläge« die Rezensionszeitschrift »WeiberDiwan«, die feministische und lesbisch-queere Literatur in den Mittelpunkt stellt. Ursprünglich wurde der »WeiberDiwan« von Redakteurinnen aus dem Umfeld der Buchhandlung »Frauenzimmer« (1977–2007) – einem damals wichtigen Umschlagplatz auch für feministische Medien – gestaltet. Da feministischen Zeitschriften meist die nötigen Mittel fehlen, um die Leistungen eines kommerziellen Vertriebs in Anspruch nehmen zu können, sind sie vorwiegend in alternativen Buchhandlungen (seit 2012 gibt es in Wien mit »ChickLit« wieder einen feministischen Bücherladen), in gegenkulturellen und aktivistischen Räumen (wie etwa Infoläden) und in feministischen Einrichtungen (z. B. Mädchenzentren) erhältlich. Doch feministische Medien sind nicht nur auf solche Netzwerke angewiesen, damit sie Verbreitung finden – sie selbst schaffen auch neue Netzwerke und Kanäle.

Das neue Jahrtausend  : Popfeminismus in Print Um das Jahr 2000 tauchten in Wien neue Zeitschriften auf, die durch ihren thematischen Fokus auf Popkultur gekennzeichnet waren. Die Beschäftigung mit populärkulturellen Erscheinungen erfolgte aus einer betont affirmativen Haltung heraus, wollte aber zugleich an feministische Theorie und linke Gesellschaftskritik andocken. Solche »popfeministischen« Zeitschriften wie »female sequences – FrauenLesbenKulturHEFTig« (1999–2002) und »nylon – KunstStoff zu Feminismus und Popkultur« (2000–2001) deuteten bereits in ihren Namen auf eine Verschiebung in der feministischen Debatte hin, die sich nicht nur im Gegenstand niederschlug, über den berichtet wurde, sondern ebenso in der Ästhetik, die auf aktuelle Glam-Styles und Moden rekurrierte. Der Begriff »Popfeminismus« war damals ein Novum, die Liaison zwischen Popdiskurs und Feminismus hierzulande noch jung. Während Feministinnen im angloamerikanischen Raum schon seit den 1970ern populärkulturelle Phä232

Feministische Medien

Abb. 5 Frauen*solidarität, Heft 141 – 3/2017

Abb. 6 Frauen*solidarität, Heft 144 – 2/2018

nomene zum ernst zu nehmenden Gegenstand ihrer Analysen machten (und damit auch die männliche Dominanz in Sachen Kulturkritik herausforderten), begegnete man dem Populären im deutschsprachigen Kontext als Teil des Unterhaltungskapitalismus mit erheblich mehr Skepsis. Medien wie »nylon« oder »female sequences« trugen währenddessen dazu bei, dass sich erstmals in Österreich ein explizit feministischer Popjournalismus bzw. eine feministische Popkritik artikulierte. Mit der namensgebenden Synthetikfaser wollten die »nylon«-Macherinnen über die Assoziation mit Frauenstrümpfen an »Weiblichkeit«

Abb. 7 Frauen*solidarität, Heft 151 – 1/2020

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denken lassen, aber auch an die von postmodernen und konstruktivistischen Theorieansätzen geprägte Vorstellung von Geschlecht als etwas gesellschaftlich Hergestelltem anknüpfen. Strategien der Auf- und Umwertung folgend (jedoch stets in freundlicher Abgrenzung zu klassischen Frauenzeitschriften) beschäftigte sich »nylon« mit kulturellen Praktiken und Produkten, die als weiblich und damit trivial gelten  : Shopping, Tanzen, Schminken, TV-Sitcoms etc. Den theoretisch aufbereiteten Boden, auf dem diese Auseinandersetzung stattfand, lieferten die Cultural Studies, die nach und nach aus dem angloamerikanischen in den deutschsprachigen Raum sickerten. Um Popkritik auch als Teil feministischer Kulturkritik zu positionieren, besann sich die »nylon«-Redaktion z. B. auf Vertreterinnen der britischen Cultural Studies wie Angela McRobbie oder Erica Carter. Vor diesem Hintergrund waren »nylon« und »female sequences« weniger Popzeitschriften als vielmehr Medien zum Popdiskurs, in denen sich die Tendenz zur Akademisierung feministischen Denkens widerspiegelte. Wenngleich die Beiträge in Medien wie »nylon« und »female sequeces« eine explizite Subjektivität mit einschlossen – etwa indem das eigene Fan-Sein oder die eigene Involvierung in subkulturelle Szenen thematisiert und somit ein »objektiver« Journalismus, der aus der Distanz berichtet, zurückgewiesen wurde –, war der in Uni-Seminaren geschulte Ton unüberhörbar. »Popkultur ist banal. Banalität ist politisch«, hieß es im Editorial der ersten »nylon«-Ausgabe. Welche Vorstellungen von Geschlecht, Klasse und Race, welche Ungleichheitsverhältnisse, aber auch Potenziale des Aufbegehrens gegen diese in und durch Popkultur kommuniziert werden, daran arbeitete sich die »nylon«-Redaktion fünf Ausgaben lang ab. Die Themen reichten von den vielgeschlechtlichen Identitäten in der Anime-TV-Serie »Sailor Moon« bis zum ersten Ladyfest18 in Olympia, vom rechten Backlash gegen Political Correctness bis hin zu weiblichen Hackern. Auch Phänomene außerhalb des Popfeldes, die sich der Medienkanäle, Rhetoriken und affektiven Präsentationsformen von Pop bedienen (wie etwa die Proteste gegen die damalige ÖVP-FPÖ-Regierung), wurden aufgegriffen. Das gefiel nicht allen – »nylon« rieb sich an so manchen feministischen Kritikerinnen, die eine Kulturalisierung sozialer Fragen konstatierten und darin die Vernachlässigung ökonomischer Verhältnisse und institutioneller Politik sahen. Obwohl »nylon« und »female sequences« nur kurze Zeit existierten, reichen die damals geschaffenen diskursiven Räume und Netzwerke bis in die Gegenwart herein. So ging etwa aus »nylon« die Zeitschrift »fiber – werkstoff für feminismus und popkultur« (2002–2016) hervor, die selbst mit dem queerfeministischen Musikfestival »rampenfiber« in Wien neue Felder feministischer Kulturarbeit eröffnete. Aus dem »nylon«-Umfeld rekrutierten sich 234

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außerdem Herausgeberinnen, Redakteurinnen und Autorinnen der aktuellen Popzeitschrift »Missy Magazine« aus Deutschland. Ende der 2000er, inmitten der globalen Finanzkrise, wurde »Missy Magazine« gegründet. Die Zeitschrift gehört zu den jüngsten feministischen Printmedien im deutschsprachigen Raum, die zunächst vierteljährlich und seit 2017 alle zwei Monate zu Pop, Politik und Feminismus berichtet.19 Wie ihre älteren Magazinschwestern aus Wien bezieht sich auch »die Missy« stark auf junge feministische Bewegungen aus dem angloamerikanischen Kontext und Abb. 8 Missy Magazine – Das Magazin für Pop, Politik und Feminismus, Heft 03/2020 deren Medien wie etwa die US-Zeitschriften »BUST« und »Bitch«. Und auch hier ist der Einfluss akademischer Geschlechtertheorien auf die Konzeption deutlich zu erkennen. Ungewöhnlich ist die Entstehungsgeschichte des »Missy Magazine«  : Das Startkapital für die erste Ausgabe gewinnen die Gründerinnen der Zeitschrift, die zugleich als Herausgeberinnen und Redakteurinnen fungieren, bei einem Ideenwettbewerb. Schon früh entschieden sich die »Missy«-Erfinderinnen für eine kommerzielle Struktur  : [Wir wollten] wenigstens einen Teil unseres Lebensunterhaltes aus dem Projekt Missy bestreiten können – zum einen, weil der journalistische Qualitätsstandard, der uns vorschwebte, anders gar nicht zu bewerkstelligen war, zum anderen, weil es uns gerade vor dem Hintergrund der Tradition unbezahlter weiblicher Arbeit mehr als problematisch erschien, die Zeitschrift wieder auf dem Prinzip der (Selbst-)Ausbeutung aufzubauen. (Eismann/Köver/Lohaus 2011, 48f.)

Zugleich weist »Missy Magazine« Merkmale nichtkommerzieller Alternativmedien auf – so erscheint die Zeitschrift etwa im Eigenverlag und die basisdemokratische Organisationsstruktur fußt auf konsensuellen Entscheidungen. Das für feministische Projekte kennzeichnende Spannungsverhältnis zwischen ehrenamtlichem politischem Engagement und prekärer Lohnarbeit ist auch an 235

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»Missy Magazine« nicht vorbeigegangen – als »90 Prozent Selbstverwirklichung, 90 Prozent Selbstausbeutung« bezeichnet Mitgründerin Stefanie Lohaus die Arbeitsbedingungen bei der Zeitschrift. (Buecker 2018) Wie auch andere neue feministische Medienprojekte wurde »Missy Magazine« wiederholt  – und unfreiwillig  – von Beobachter*innen in Stellung gegen die Müttergeneration gebracht, insbesondere gegen »EMMA« und Alice Schwarzer. Die als Generation Gap wahrgenommenen Differenzen zwischen »alten« und »jungen« feministischen Medien sind allerdings weniger ihrem Alter als vielmehr den divergierenden politischen Auffassungen geschuldet, wie sie sich insbesondere in der Haltung zu den Themen Prostitution/Sexarbeit, Rassismus und Migration sowie Transgender widerspiegeln. Die von »Missy Magazine« propagierte Zusammenführung von intersektionalem Feminismus und Popfeminismus liest sich in etwa so  : Feminismus, klar. Haste gehört. Findste gut. Beyoncé ist Feministin und Emma Watson und so. Also, was kann daran nicht geil sein  ? Geht das überhaupt  ? Ungeilerweise geht das. Weil unter dem Deckmantel des Feminismus auch großer Mist passiert. Nämlich immer dann, wenn Menschen ausgeschlossen werden  : Migrant*innen, Rom*nja, Schwarze Menschen und Menschen of Color, muslimische und jüdische Menschen, Menschen mit Fluchterfahrung – und jep, es geht noch weiter – Menschen mit Behinderung, Menschen ohne akademischen Background, Menschen mit wenig Kohle, Sexarbeiter*innen, trans Menschen, queere Menschen, dicke Menschen, Menschen außerhalb des sogenannten Westens.20

Feministische Onlinemedien »DieStandard«, eines der größten feministischen Medien im deutschsprachigen Raum, ging am 8. März 2000 ins Netz. Hervorgegangen ist die Onlinezeitung aus dem internen Frauennetzwerk des STANDARD-Unternehmens, das die Printtageszeitung »DER STANDARD« und ihr Online-Pendant »derStandard« produziert. Erst vor Kurzem feierte »dieStandard« ihren zwanzigsten Geburtstag und erinnerte sich zurück an die Anfänge  : Unumstritten war sie zu Beginn nicht. Eine eigene Seite für Frauenpolitik  ? Was sollte das sein  ?, fragten viele kritische STANDARD-Redakteur*innen, aber auch Leser*innen und User*innen zum Start von dieStandard […]. Sollte da etwa eine

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Nische geschaffen werden, ein verschwiegenes Plätzchen für unangenehme, unbequeme und unpopuläre Themen  ? (dieStandard 2020)

Glücklicherweise war das nicht der Fall, schon bald entwickelte sich »dieStandard« zu einer wichtigen Informationsquelle für viele andere – nicht nur feministische – Medien. »[…] dieStandard hat stets bewiesen, dass sie sich im Mainstream der Berichterstattung behauptet. Nie agierte sie im luftleeren Raum, stets waren Geschichten, Kommentare, Diskurse auf der Höhe der Zeit und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.« (ebd.) Indes war »dieStandard« als eines der ersten feministischen Onlinemedien schon früh mit Hass und Trollen im Netz konfrontiert. In Reaktion auf die überwiegend antifeministischen Postings im »dieStandard«-Forum wurde 2008 der »forenfreie Dienstag« eingeführt, der mittlerweile jedoch wieder abgeschafft wurde. Zwei Jahrzehnte nach ihrer Gründung ist »dieStandard« stark geschrumpft. Als Ressort von »derStandard« in ein kommerzielles Medienunternehmen integriert, war »dieStandard« klassisch hierarchisch strukturiert – mit einer Chefredakteurin und einem festen Redaktionsteam – und mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet. Doch ab 2014 wurde die Redaktion im Zuge von Sparmaßnahmen des STANDARD-Medienunternehmens sukzessive verkleinert. Seither wird das feministische Onlineportal unter deutlich erschwerten Bedingungen am Laufen gehalten. Bis heute liegt der Schwerpunkt des Mediums auf dem tagesaktuellen Geschehen. Auf der Seite werden Nachrichten bzw. Agenturmeldungen gefeatured, ergänzt durch Kommentare, Analysen, Porträts, Interviews u. Ä., die unterschiedliche feministische Zugänge wiedergeben und ein breites Themenspektrum abdecken – von institutioneller Frauenpolitik über queere TV-Serien bis hin zu gegenwärtigen feministischen Theoriedebatten. Ähnlich breit in der Themenauswahl, aber gänzlich anders aufgestellt ist das 2006 gegründete mehrsprachige Onlinemagazin »migrazine.at«, das vom autonomen Migrantinnenverein »maiz« herausgegeben wird. Das Magazin, das sich als antirassistisches und feministisches Medium definiert, ist stark diskursiv ausgelegt – es gibt keine Primärnachrichten, vielmehr liegt der Fokus auf der Analyse von Themen. Ausschlaggebend ist hierbei, dass eben nicht nur »Migration« die Magazininhalte bestimmt. Stattdessen geht es den Macher*innen um eine bestimmte Perspektive. So heißt es etwa in der Selbstbeschreibung  : migrazine.at ist  : selbstorganisiertes Partizipieren an der Medienlandschaft, Einmischen in den herrschenden Diskurs, Demokratisierung der Information. […] 237

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migrazine.at will keine objektive Berichterstattung leisten, sondern ist Plattform für unterrepräsentierte Stimmen  – und somit parteilich. Der Inhalt von migrazine.at geht nicht nur um migrationsspezifische Themen – jedoch ist unser Blick immer von unserer Erfahrung und gesellschaftlichen Positionierung als Migrantinnen geprägt.21

Programmatisch richtet sich dieser Blick nicht auf die »Minderheit«, wie man es häufig von migrantischen Medien erwartet, sondern auf die Mehrheit(sgesellschaft). Ein zentraler Aspekt bei »migrazine.at« ist, dass es Migrantinnen sind, die den gesamten Produktionsprozess des Magazins steuern, von der Gestaltung der Website bis hin zur redaktionellen Betreuung der Beiträge. Dies ist eine andere Realität als in den bürgerlichen Medien in Österreich, wo Redakteur*innen mit Migrationsbiografien nach wie vor selten anzutreffen sind und die Berichterstattung über Migrant*innen noch immer die Normalität darstellt. Laut einer vom Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien durchgeführten Pilotstudie von 201022 beträgt der Anteil der Journalist*innen mit Migrationsbezug in den österreichischen Printmedien, bei der APA und im ORF geschätzte 0,49 Prozent. (Stajić 2010) Bis heute bleibt die Tatsache bestehen, »dass Minderheiten in den ohnehin durch geringe Vielfalt charakterisierten österreichischen Medien eine sehr marginale Rolle spielen.« (Böse/Kogoj 2002, 305) Nur geringfügig besser stellt sich die Situation in Deutschland dar, wo Schätzungen von einem Anteil zwischen vier und fünf Prozent ausgehen. (vgl. Pöttker/Kiesewetter/Lofink 2016) Zuletzt hat die #MeTwo-Debatte die Rassismus- und Marginalisierungserfahrungen von Journalist*innen mit Migrationsgeschichte verstärkt in die Öffentlichkeit getragen. Zwar gelten die Arbeitsfelder in der Medienbranche als tendenziell offen und progressiv  – allerdings ist das ein Image, das man sich gerne selbst gegeben hat, strukturelle Benachteiligungen werden daher leicht übersehen. Abb. 9 migrazine.at – Online Magazin von Migrantinnen für alle, Ausgabe 1/2015. Die Printversion erschien in Kooperation mit aep informationen, Heft 2/2015

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Neue Netzwerke  : Feministische Blogosphäre Wie feministische Medien im Allgemeinen verstehen sich auch feministische Blogs als niederschwellige Publikationskanäle sowie als kritischen Gegenentwurf zu etablierten Medien und deren Berichterstattung. Die bekanntesten deutschsprachigen feministischen Blogs sind in Deutschland zu finden, etwa der mehrfach ausgezeichnete Gemeinschaftsblog »Mädchenmannschaft«, lange Zeit das »Flaggschiff des Netzfeminismus« (Oestreich 2012), das von feministischen Vorbildern aus den USA inspiriert und 2007 gegründet wurde. In Österreich bleibt die feministische Blogszene eher überschaubar, wenngleich sich auch hier viele feministische Debatten verstärkt ins Netz und in die sozialen Medien verlagert haben. Dabei sind die Bloggerinnen nicht nur untereinander, sondern auch mit »klassischen« feministischen Medien wie den Printzeitschriften gut vernetzt, die wiederum auf die Blogs als Informationsquelle zurückgreifen. Wie auch etwa »Missy Magazine« wurden die neuen feministischen Bloggerinnen von der bürgerlichen Presse häufig als vielversprechende Generationenablöse rezipiert – mit entsprechenden Titelzeilen wie »Neu, jung, selbstbewusst« (Hofmann 2011) oder »Feminismus abseits von lila Latzhosen.« (Hallberg 2012) Differenzierter sieht die US-amerikanische Journalistin Emily Nussbaum (2011) das Verhältnis der neuen »Netzfeministinnen« zur Müttergeneration  : [T]he blogosphere has transformed feminist conversation, reviving in the process an older style of activism among young women. […] Freed from the boundaries of print, writers could blur the lines between formal and casual writing  ; between a call to arms, a confession, and a stand-up routine – and this new looseness of form in turn emboldened readers to join in […].

Einen wichtigen Platz nehmen persönliche Blogs von Journalistinnen und Aktivistinnen ein, wie beispielsweise jene von Antje Schrupp, Kübra Gümüsay23 oder Mareice Kaiser. Besonders erfolgreich waren die sogenannten Netzfeministinnen mit Social-Media-Kampagnen wie #aufschrei (2013 initiiert von Anne Wizorek und anderen Feministinnen auf Twitter), #schauhin24 (zu Alltagsrassismus und Empowerment von Schwarzen Menschen und People of Color, gestartet von Kübra Gümüsay) und #ausnahmslos25 (nach den Vorfällen in Köln in der Silvesternacht 2016 ebenfalls von Gümüsay ins Leben gerufen). Obwohl die Beteiligungsmöglichkeit an solchen Debatten den Zugang zu bestimmten Technologien voraussetzt, haben solche Hashtag-Initiativen auch eine demokratisierende Komponente. Nadia Shehadeh vom Team der »Mäd239

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chenmannschaft«, die auch mit ihrem eigenen Blog »shehadistan«26 aktiv ist, erklärt dies damit, »dass viele verschiedene Menschen sich mit ihren Geschichten an politischen Debatten beteiligen können. Viele sind mit ihrer Stimme im Netz erst sichtbar geworden, konnten über persönlich erlebten Alltagsrassismus oder Sexismus in Schulen, Universitäten oder anderen Alltagssituationen berichten. Durch Twitter erreichen diese Geschichten dann auch Menschen, die damit sonst nicht konfrontiert werden.« (Rybicki 2017) Zwischenzeitlich sind viele der feministischen Blogs aus den 2000ern stillgelegt oder offline. Gründe dafür ortet eine Autorin des Blogs »femgeeks«27 in der Tendenz, feministischen Aktivismus zum Beruf zu machen  : Viele der Aktivist*innen deren Aktivitäten ich schon ziemlich lange beobachte haben sich im Laufe der Zeit anderen Aktivismusformen zugewandt. […] Feministische Onlinemagazine haben sich professionalisiert, Feminist*innen schreiben Bücher, aus Blogger*innen werden Berater*innen und Akademiker*innen. (Melanie 2017)

Aber auch Veränderungen der sozialen Plattformen selbst haben die Bedingungen feministischen Bloggens verändert  : Unsere Timelines auf Onlineplattformen sind heute größtenteils nicht mehr chronologisch, sondern danach sortiert, was uns höchstwahrscheinlich am meisten interessiert. Die Algorithmen dahinter sind alles andere als transparent. […] So verschwinden heimlich still und leise Beiträge und Blogposts in der Informationsflut […]. Viele User*innen von Twitter schreiben mittlerweile Tweetketten, anstatt sich an einen aufwändigen Blogpost zu setzen. Denn erregt ein liebevoll recherchierter Artikel nicht genug Aufmerksamkeit, wird er halt nicht geteilt. Wird ein topaktuelles Thema nicht früh genug aufgegriffen, dann ist es eben zu spät. (ebd., Hervorh. im Original)

Während es um die feministische Blogosphäre stiller geworden ist, wächst seit einigen Jahren die Zahl der feministischen Podcasts. Zu ihnen gehören in Österreich beispielsweise »Große Töchter« von Beatrice Frasl, »Darf sie das  ?« von Nicole Schöndorfer oder »Tired Women« von Bianca Jankovska, einem Podcast von und für Journalist*innen. Unter dem Namen »Groschenphilosphin« betreibt Jankovska auch das gleichnamige Instagram-Magazin mit Paid Content. Tatsächlich scheint es, dass feministische Stimmen derzeit eher im Mikroblogging – Bloggen im Kurzformat auf Twitter, Facebook, Instagram 240

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etc. – denn auf klassischen Blogs präsent sind. Social Media als personalisierte Medienkanäle beschleunigen indessen die allgemeine Entwicklung, die einzelne Journalist*innen, deren Beruf sich zunehmend unternehmerisch gestaltet, immer stärker als »persönliche Marke« positionieren lässt. Was das für den Kollektivitätsgedanken feministischer Medienarbeit bedeutet, die sich bereits in der Art und Weise, wie sie organisiert ist, als gesellschaftsveränderndes Handeln begreift, bleibt zu diskutieren. Doch so schwierig die Bedingungen für feministischen Journalismus auch immer wieder sein mögen – man könnte die Betätigung in ihm auch wie die vormalige »an.schläge«Redakteurin Saskya Rudigier sehen  : »Selbstverwirklichung üben im und mit dem Kollektiv, Auseinandersetzung mit Themen, die einer wichtig sind, gegen Marginalisierungen und Hierarchien intervenieren  : Privilegien, die das Engagement dafür mehr als rechtfertigen.« (2008, 76)

Feministische Medien im deutschsprachigen Raum (Auswahl) Blogs Aus Liebe zur Freiheit – Notizen zur Arbeit der sexuellen Differenz/Antje Schrupp (DE, 2006–) https://antjeschrupp.com Danger  ! Bananas/Thi Yenhan Truong (DE, 2010–2018) www.dangerbananas.de Der die das Blog/Süddeutsche Zeitung (DE, 2013–2014) www.sueddeutsche.de/thema/Der_die_ das_Blog Femgeeks – rrrebooting Gender (DE, 2012–) https://femgeeks.de Fuckermothers – feministische Perspektiven auf Mutterschaft (DE, 2011–) https://fuckermothers. wordpress.com GIRLS CAN BLOG (DE, 2010–2017) http://girlsblogtoo.blogspot.com Kaiserinnenreich/Mareice Kaiser (DE, 2014–) http://kaiserinnenreich.de kleinerdrei (DE, 2013–2018) http://kleinerdrei.org Mädchenblog (DE, 2006–2017) http://maedchenblog.blogsport.de Mädchenmannschaft (DE, 2007–) https://maedchenmannschaft.net Pink Stinks (DE, 2012–) https://pinkstinks.de/category/magazin sugarbox (AT, 2012–2018) http://sugarbox.at Trust The Girls (DE, 2016–2019) http://trustthegirls.org

Onlinezeitungen und -magazine AVIVA – Online Magazin für Frauen (DE, 2000–) www.aviva-berlin.de dieStandard (AT, 2000–) www.diestandard.at Edition F (DE, 2014–) https://editionf.com

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FrauenSicht (CH, 2014–, 1993–2013 als Printmagazin) www.frauensicht.ch migrazine – Online Magazin von Migrantinnen für Alle (AT, 2006–) https://migrazine.at phenomenelle (DE, 2012–) www.phenomenelle.de RosaMag (DE, 2019–) https://rosa-mag.de umstandslos – magazin für feministische elternschaft (AT/DE, 2013–) https://umstandslos.com

Onlinevideo Auf Klo/Funk (DE, 2016–) www.youtube.com/c/aufklo Mädelsabende/Funk (DE, 2018–) www.instagram.com/maedelsabende Softie (DE, 2018–2019) www.instagram.com/softie.offiziell

Podcasts Bury Your Gaze/Mädchenmannschaft (DE, 2017–) https://maedchenmannschaft.net/tag/buryyour-gaze Darf sie das  ?/Nicole Schöndorfer (AT, 2019–) www.darfsiedas.at Der Lila Podcast (DE, 2013–) https://lila-podcast.de Feuer und Brot (DE, 2016–) http://feuerundbrot.de Große Töchter (AT, 2018–) www.grossetoechter-podcast.at Jeannes Heldinnen (AT, 2017–) www.jeannedrach.com/jeannes-heldinnen-podcast Kleinercast (DE, 2015–2017) http://kleinerdrei.org/podcast nrrrdz (DE, 2009–2015) https://iheartdigitallife.de/category/nrrrdz Pissy  – der Missy Magazine Podcast (DE, 2020–) https://open.spotify.com/show/0zJ4ANzm GzM5eCAak9A4TQ Rice and Shine (DE, 2018–) https://riceandshine.podigee.io

Radio 52radiominuten/Radio FRO (AT, 2009–) www.fiftitu.at/medien, https://cba.fro.at/series/52radio minuten female   :pressure radio/Orange 94.0 (AT, 2009–) https://o94.at/programm/sendereihen/femalepressure, https://cba.fro.at/series/femalepressure-radio genderfrequenz  – sozialpolitisch, feministisch, unbeugsam  !/Radio Helsinki (AT, 2010–) https:// helsinki.at/program/shows/gender-frequenz-sozialpolitisch-feministisch-unbeugsam, https:// cba.fro.at/series/genderfrequenz LaRadio/Radio Dreyeckland (DE, k. A.; davor »FrauenLesbenRadio«) https://rdl.de/sendung/la-radio Mrs. Pepsteins Welt/Radio Blau (DE, 1999–) www.radioblau.de/redaktion/mrs-pepsteins-welt, www.mixcloud.com/mrs_pepstein

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Qualle19 – queeres Radio für alle/Orange 94.0 (AT, 2019–  ; 2002–2019 als »Bauch, Bein, Po«) https://o94.at/programm/sendereihen/qualle-19, https://cba.fro.at/series/qualle-19 RADIA/Radio LoRa (CH, 2019–) www.lora.ch/frauen/sendungen-frauen, www.feminist-radia.org Radio UFF/Orange 94.0 (AT, 1998–) https://o94.at/programm/sendereihen/radio_uff, https://cba. fro.at/series/radio-uff X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört  !/Radio FRO (AT, 2017–  ; 2000–2017 als »SPACEfemFM«) www. fro.at/sendungen/x_xy-ungeloest-und-unerhoert, https://cba.fro.at/series/x_xy-ungeloest-undunerhoert Zack – Dein feministisches Radio/Radio RaBe (CH, 2016–) https://zackradio.ch, https://rabe.ch/ zack

TV an.schläge TV/Okto (AT, 2005–2012) https://vimeo.com/anschlaegetv FIF TV/dorf tv (AT, 2010–) https://dorftv.at/channel/fif-tv Frau tv/WDR (DE, 1997–) www.frautv.de KREATUR  – Das feministische Magazin/ARTE (FR/DE, 2018–) www.arte.tv/de/videos/RC015860/kreatur Mona Lisa/ZDF (DE, 1988–2017)

Printzeitschriften aep informationen – Feministische Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (AT, 1974–) https://aep. at/aep-informationen an.schläge – Das feministische Magazin (AT, 1983–) www.anschlaege.at AUF – Eine Frauenzeitschrift (AT, 1974–2011) Brav_a (DE, 2012–) http://brava.blogsport.de clio – Die Zeitschrift für Frauengesundheit (DE, 1976–) www.ffgz.de/bestellen/clio-zeitschrift Courage (DE, 1976–1984) Die Schwarze Botin – Frauenhefte (DE, 1976–1987) EMMA (DE, 1976–) www.emma.de Eva & Co  – Eine feministische Kulturzeitschrift (AT, 1982–1992) https://ursprung.mur.at/eva_ co.html female sequences – FrauenLesbenKulturHEFTIG (AT, 1999–2002) fiber – werkstoff für feminismus und popkultur (AT, 2002–2016  ; 2000–2001 als »nylon – KunstStoff zu Feminismus und Popkultur«) www.fibrig.net Frauen und Film (DE, 1974–2016) www.frauenundfilm.de Frauensolidarität (AT, 1982–) www.frauensolidaritaet.org/zur-zeitschrift-3 FRAZ – Frauenzeitung (CH, 1976–2009) Hugs and Kisses – tender to all gender (DE, 2007–2013)

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IHRSINN  – eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift (DE, 1990–2004) http://ihrsinn.auszeiten-frauenarchiv.de L-Mag – Das Magazin für Lesben (DE, 2003–) www.l-mag.de LesbenFrauenNachrichten (AT, 1979–2007  ; bis 1993 »Frauennachrichten«) Lespress – das andere Frauenmagazin (DE, 1995–2006) www.lespress.de Libertine (DE, 2015–) https://libertine-mag.com LILA – Blattform für generationsübergreifenden feministischen Diskurs (AT, 2006–2010) Lila Schriften (AT, 1995–2001) Lilien Postilien (AT, 1983–1993) Missy Magazine (DE, 2008–) https://missy-magazine.de MOM – Make out Magazine (DE, 2011–2015) www.makeoutmagazine.net nylon – KunstStoff zu Feminismus und Popkultur (AT, 2000–2001) Olympe  – Feministische Arbeitshefte zur Politik (CH, 1994–2012) www.frauenarchivostschweiz. ch/olympe.html Österreichischer Lesbenrundbrief (AT, 1983–1993) outside the box – Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik (DE, 2008–) www.outside-mag. de RosaRot – Zeitschrift für Feminismus und Geschlechterfragen (CH, 2014–  ; 1991–2013 als »Rosa«) www.rosarot.uzh.ch Straight (DE, 2015–) www.straight-universe.com STICHWORT Newsletter (AT, 1996–) www.stichwort.or.at/frames/newslefr.htm WeiberDiwan – Die feministische Rezensionszeitschrift (AT, 1995–) https://weiberdiwan.at WIR FRAUEN – Das feministische Blatt (DE, 1982–) https://wirfrauen.de

Anmerkungen 1 Siehe etwa die Selbstdarstellung der »an.schläge«  : https://anschlaege.at/ueber-uns [02.03.2020] 2 Zweifellos haben Frauen das Gesicht des Berufs »Journalist*in« in den letzten Jahren verändert  : Dem jüngsten »Österreichischen Journalismus-Report« zufolge stellen sie mittlerweile fast die Hälfte aller Journalist*innen im Land. Zwar ist ihr Anteil auf 47 Prozent angewachsen, jedoch arbeitet der Großteil von ihnen in Teilzeitverträgen, was ihr Einkommen reduziert (APA News 2020). Gerade im Journalismus wird der Gender-Pay-Gap überaus deutlich  : Beim Durchschnittsgehalt beträgt der Unterschied zwischen Journalisten und Journalistinnen 17,5 Prozent – aber auch Vollzeitjournalistinnen verdienen durchschnittlich 10,6 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen (Pramer 2020). Generell wächst die Zahl der Akademiker*innen im Journalismus, betrug sie 2006 noch 34 Prozent, sind es laut dem jüngsten Journalismus-Report derzeit bereits 48 Prozent. Gleichzeitig geht aber die Zahl der Jobs in den heimischen Redaktionen zurück – rund ein Viertel der journalistischen Arbeitsplätze ist seit 2006 verlorengegangen (Goldenberg 2020, 26). In redaktionellen Leitungspositionen sind Frauen nach wie vor selten zu finden  : Aktuell wird von den 14 Tageszeitungen in Österreich nur eine einzige – der »Kurier« – von einer Chefredakteurin geführt. 3 www.linkemedienakademie.de [02.03.2020]

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Zum Beispiel www.grassrootsfeminism.net (wird seit 2016 nicht mehr upgedatet) [02.03.2020] www.alternativer-medienpreis.de [02.03.2020] https://bam.jetzt [02.03.2020] Der Begriff »Freie Medien« wurde vor allem in Österreich verwendet, wo er bis in die 2000erJahre Alternativmedien als Selbstbezeichnung diente. Er verweist auf die hiesige hohe Medienkonzentration und die daraus resultierenden Abhängigkeitsverhältnisse und Verflechtungen zwischen Medien und staatlicher Politik mit negativen Folgen für Demokratie und Meinungsvielfalt. 8 Zusammen mit den Radios gehören Zeitschriften zu den ältesten feministischen Medien der Neuen Frauenbewegung. 9 In diesem Artikel gehe ich nicht auf wissenschaftliche feministische Periodika ein. Hierzu zählen im deutschsprachigen Raum z. B. »Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis« (1978–2008), »feministische studien – Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung« (seit 1982), »Koryphäe  – Medium für feministische Naturwissenschaft und Technik« (1986– 2009), »L’homme  – Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft« (gegründet 1990), »Metis – Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis« (1992–2003), »femina politica  – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft« (seit 1997), »Gender – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft« (seit 2009) oder »Open Gender Journal« (seit 2016). Ebenso wenig berücksichtigt sind feministische Medien parteipolitischer sowie konfessioneller Organisationen wie etwa »Der Apfel – Zeitschrift des Österreichischen Frauenforums Feministische Theologie« (1998–2015) oder »Welt der Frauen« (vormals »Welt der Frau«, seit 1964), herausgegeben von der Katholischen Frauenbewegung Österreichs. 10 Eine detaillierte Geschichte des Arbeitskreises Emanzipation und Partnerschaft (AEP), seiner Zeitschrift »aep Informationen« und der autonomen Frauenbewegung in Innsbruck findet sich auf der Website des Vereins  : https://aep.at/wp-content/uploads/2014/08/AEP_Geschichte.pdf [20.03.2020]. 11 Sieht man von der Zeitschrift »Stimme der Frau« ab, die zwischen 1945 und 1993 erschien. Durch Mittel der kommunistischen Partei finanziert, wurde sie zunächst vom Zentralen Frauenkomitee der KPÖ, danach vom Bund Demokratischer Frauen Österreichs und in weiterer Folge von autonomen Feministinnen herausgegeben. Die Geschichte der »Stimme der Frau« rekonstruiert deren ehemalige Chefredakteurin Bärbel Danneberg (2019) in einem Artikel in der »Volksstimme«. Explizit erwähnt sei an dieser Stelle auch die vierteljährliche Zeitschrift »[sic  !] – Forum für Feministische GangArten« (1993–2009), das als Nachfolgeprojekt der »Stimme der Frau« entstand. 12 Hintergründe zum Aus der Zeitschrift erläutert die ehemalige langjährige »AUF«-Redakteurin Eva Geber im Interview mit Beate Hausbichler (2011) für »dieStandard«. 13 Die »Courage« zählte zu den einflussreichsten feministischen Medien in der ehemaligen BRD. Zu ihrer Bedeutung siehe Friederike Mehl (2018). 14 Mit Herbert Haupt als Minister für soziale Sicherheit und Generationen war nunmehr ein FPÖ-Politiker für die offiziellen Frauenagenden zuständig (bis 2005). Haupt stieß eine öffentliche Kontroverse an, als er in seinem Ressort eine »männerpolitische Grundsatzabteilung« einführte. 15 Sämtliche Sendungen sind nach ihrer Ausstrahlung über die Website des Projekts »Globale Dialoge/Women on Air« abrufbar  : www.noso.at [02.03.2020]. Sie können zudem im Onlinearchiv

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der Freien Radios in Österreich downgeloadet werden  : https://cba.fro.at/series/globale-dialogewomen-on-air [02.03.2020]. 16 Eine ausführliche Dokumentation der Geschichte der »an.schläge« findet sich im Band »Feministische Medien« (2008), der zum 25. Jubiläum der Zeitschrift erschien und sich mit verschiedensten Aspekten und Traditionen feministischer Medienproduktion befasst. 17 Mit zehn Ausgaben im Jahr, davon je eine Doppelausgabe im Sommer und Winter. 18 Die Ladyfeste wurzeln in der Riot-Grrrl-Bewegung der 1990er-Jahre und verbreiteten sich in den 2000ern von den USA über beinahe die ganze Welt. Die queerfeministischen Musik- und Kunstfestivals, die die ursprünglichen Strategien und Werkzeuge von Riot Grrrl weiterentwickelten (vgl. Reitsamer 2005), sind nach dem »Do It Yourself«-Prinzip autonom und nichtkommerziell organisiert. Das letzte Ladyfest in Wien fand 2007 statt (siehe www.ladyfestwien.org [20.03.2020]). 19 Bis Ende 2019 produzierte die »Missy«-Redaktion neben dem Printheft auch das Online-Videoformat »Softie« für das Content-Netzwerk »Funk« von ARD und ZDF. Erst kürzlich stellte »Missy Magazine« ihren Podcast »Pissy« vor. 20 https://missy-magzine.de/ueber-uns [02.03.2020] 21 http://migrazine.at/content/ber-uns [02.03.2020] 22 Bislang gibt es keine umfassende Erhebung, die die Zahl von Journalist*innen mit Migrationsgeschichte in Österreich erfasst. 23 Ihr Blog »Ein Fremdwörterbuch«, 2008 gegründet, wurde 2016 eingestellt. 24 https://schauhin.tumblr.com [02.03.2020] 25 https://ausnahmslos.org [02.03.2020] 26 https://shehadistan.com [02.03.2020] 27 https://femgeeks.de/was-ist-los-mit-den-feministischen-blogs [02.03.2020]

Literatur APA News (2020), Journalismus-Report  : Älter, weiblicher und höher gebildet, in  : Horizont, 28.01. www.horizont.at/medien/news/journalismus-report-aelter-weiblicher-und-hoeher-gebildet-73165 [07.03.2020] Martina Böse, Cornelia Kogoj (2002), Minderheiten und elektronische Medien in Österreich. Von eingeschränkter Vielfalt an Öffentlichkeiten, in  : SWS-Rundschau (42. Jg.), Heft 3, 293–30 Terese Buecker (2018), Feministin und Journalistin  : »Mein Beruf ist 90 Prozent Selbstverwirklichung, 90 Prozent Selbstausbeutung«, in  : Edition F, 29.06. https://editionf.com/missy-magazine-feminismus-interview-stefanie-lohaus [07.03.2020] Britta Cacioppo, Eva Geber, Carina Nekolny (2008), AUF – eine (Erfolgs)story. Vom Flugblatt zur Zeitschrift, in  : Lea Susemichel, S. Rudigier, Gabi Horak (Hg.), Feministische Medien. Öffentlichkeiten jenseits des Malestream. Königstein/Taunus, 56–63 Bärbel Danneberg (2019), Alternativ schon vor der Zeit, in  : Volksstimme, Nr. 6. 26–29 dieStandard (2020), 20 Jahre dieStandard  : 20 Menschen, 20 Erinnerungen, in  : dieStandard, 09.03. www.derstandard.at/story/2000115469505/20-jahre-diestandard-20-menschen-20-erinnerungen [07.03.2020]

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Feministische Medien

Sonja Eismann, Chris Köver, Stefanie Lohaus (2012), 100 Seiten Popfeminismus. Das Missy Magazine als Dritte-Welle-Praxis, in  : Paula-Irene Villa, Julia Jäckel, Zara S. Pfeiffer, Nadine Sanitter, Ralf Steckert (Hg.), Banale Kämpfe  ? Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht. Wiesbaden, 39–55 Beate Hausbichler (2011), Was, wenn ich zur Feder greifen will  ?, in  : dieStandard, 24.03. www. derstandard.at/story/1297821293369/aus-fuer-die-auf-was-wenn-ich-zur-feder-greifen-will [07.03.2020] Brigitte Geiger (2002), Feministische Öffentlichkeiten. Ansätze, Strukturen und aktuelle Herausforderungen, in  : Johanna Dorer, Brigitte Geiger (Hg.), Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung. Wiesbaden, 80–97 Anna Goldenberg (2020), Ein gemütlicher Wandel, in  : Falter, Nr. 5, 25–26 Stefanie Hallberg (2012), Feminismus abseits von lila Latzhosen. Goethe Institut. www.goethe.de/ de/kul/med/20365811.html [07.03.2020] Julia Hitz (2019), Selbstvergewisserung und gemeinsames Forum  : FRAUENZEITUNG – Frauen gemeinsam sind stark, in  : Digitales Deutsches Frauenarchiv. www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/selbstvergewisserung-und-gemeinsames-forum-frauenzeitung-frauen-gemeinsam-sind-stark [07.03.2020] Niklas Hofmann (2011), Neu, jung, selbstbewusst, in  : Süddeutsche Zeitung, 07.11. www.sueddeutsche.de/kultur/netzdepeschen-neu-jung-selbstbewusst-1.1182508 [07.03.2020] Gabi Horak, Feministische Zeitschriften in Österreich. Feministischer Journalismus arbeitet nach anderen Qualitätskriterien, in  : Lea Susemichel, Saskya Rudigier, Gabi Horak (Hg.) (2008), Feministische Medien. Öffentlichkeiten jenseits des Malestream. 19–31 Bernd Hüttner, Christiane Leidinger, Gottfried Oy (Hg.) (2011), Handbuch Alternativmedien 2011/2012. Printmedien, Freie Radios, Archive & Verlage in der BRD, Österreich und der Schweiz. Neu-Ulm Bernd Hüttner, Christoph Nitz (2009), Linke Medien vor und nach der Internetrevolution, in  : Gabriele Hooffacker (Hg.), Bürgermedien, Neue Medien, Medienalternativen. 10 Jahre Alternativer Medienpreis. München, 33–50 Elisabeth Klaus (2008), Feministische Anschläge in  : an.schläge – Das feministische Magazin, Nr. 10, 5 Friederike Mehl (2018), Die Zeitschrift Courage, in  : Digitales Deutsches Frauenarchiv. www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/die-zeitschrift-courage [07.03.2020] Melanie (2017), Was ist los mit den feministischen Blogs  ?, in  : feemgeeks.de, 18.04. https://femgeeks.de/was-ist-los-mit-den-feministischen-blogs [07.03.2020] Emily Nussbaum (2011), The Rebirth of the Feminist Manifesto, in  : New York Magazine, 28.10. https://nymag.com/news/features/feminist-blogs-2011-11 [07.03.2020] Heide Oestreich (2012), »Mädchenmannschaft« ausgewechselt, in  : taz, 23.10. https://taz.de/Zerstrittenes-Feminismus-Blog/  !5081236 [07.03.2020] Horst Pöttker, Christina Kiesewetter, Juliana Lofink (Hg.) (2015), Migranten als Journalisten  ? Eine Studie zu Berufsperspektiven in der Einwanderungsgesellschaft. Heidelberg Philip Pramer (2020), In Österreichs Redaktionen gibt es kaum Chefinnen, in  : derStandard, 08.03. www.derstandard.at/story/2000115428122/in-oesterreichs-redaktionen-gibt-es-kaum-chefinnen [09.03.2020]

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Rosa Reitsamer (2005), Momente der Umfunktionierung in der Popularkultur, in  : transversal, 02/2005. https://transversal.at/transversal/1204/reitsamer/de [20.03.2020] Britta Rybicki (2017), Wie geht es weiter mit den Netzfeministinnen  ?, in  : jetzt.de, 03.05. www. jetzt.de/politik/nadia-shehadeh-ist-bloggerin-bei-maedchenmannschaft-und-unterstuetzt-diebewegung-der-netzfeministinnen [09.03.2020] Saskya  Rudigier (2008), Anschlagsverdächtig. Das feministische Komplott und die 25-jährige Langstreckenläuferin, in  : Lea Susemichel, Saskya Rudigier, Gabi Horak (Hg.), Feministische Medien. Öffentlichkeiten jenseits des Malestream. Königstein/Taurus, 64–79 Marisol Sandoval, Warum es an der Zeit ist, den Begriff der Alternativmedien neu zu definieren, in  : Bernd Hüttner, Christiane Leidinger, Gottfried Oy (Hg.) Handbuch Alternativmedien 2011/2012. Printmedien, Freie Radios, Archive & Verlage in der BRD, Österreich und der Schweiz. Neu-Ulm, 24–36 Olivera Stajić (2010), Keine Förderung, keine Vorbilder, in  : derStandard, 06.10. www.derstandard. at/story/1285200161429/keine-foerderung-keine-vorbilder [07.03.2020] Lea Susemichel (2019), Das große Ganze, in  : an.schläge, Nr. V, 30–31 Lea Susemichel, Saskya Rudigier, Gabi Horak (Hg.) (2008), Feministische Medien. Öffentlichkeiten jenseits des Malestream. Königstein/Taunus Jeffrey Wimmer (2011), Illusion versus Zwang. Zum Umgang alternativer Medien mit ihren ökonomischen Grundlagen, in  : Bernd Hüttner, Christiane Leidinger, Gottfried Oy (Hg.) Handbuch Alternativmedien 2011/2012. Printmedien, Freie Radios, Archive & Verlage in der BRD, Österreich und der Schweiz. Neu-Ulm, 37–48 World Association for Christian Communication (WACC) (2015), Who Makes the News  ? Global Media Monitoring Project 2015. London/Toronto http://whomakesthenews.org/gmmp/gmmp-reports/gmmp-2015-reports [07.03.2020]

Bildnachweis Abb. 1 AUF  – Eine Frauenzeitschrift, Heft 1/1974, AUF  – Verein zur Förderung feministischer Projekte, Wien Abb. 2 AUF – Eine Frauenzeitschrift, Heft 79/1993, AUF – Verein zur Förderung feministischer Projekte, Wien Abb. 3 an.schläge  – Das feministische Magazin, Heft VI/2019, an.schläge-Kollektiv, Wien Abb. 4 an.schläge – Das feministische Magazin, Heft I/2020  ; an.schläge-Kollektiv, Wien Abb. 5 Frauen*solidarität, Heft 141 – 3/2017, Frauen*solidarität – feministisch-entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit, Wien Abb. 6 Frauen*solidarität, Heft 144 – 2/2018, Frauen*solidarität – feministisch-entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit, Wien Abb. 7 Frauen*solidarität, Heft 151 – 1/2020, Frauen*solidarität – feministisch-entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit, Wien Abb. 8 Missy Magazine  – Das Magazin für Pop, Politik und Feminismus, Heft 03/2020, Missy Magazine Verlags UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Berlin Abb. 9 migrazine.at – Online Magazin von Migrantinnen für alle, Ausgabe 1/2015. Die Printversion erschien in Kooperation mit aep informationen, Heft 2/2015, Verein maiz, Linz

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Autorinnen_ und Herausgeberinnen_ Sandra Bohle, Mag.a, 1967 in Wien geboren, arbeitet als Drehbuchautorin und

Dramaturgin. Sie studierte Buch und Dramaturgie an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst/Filmakademie Wien sowie Theaterwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Seit 2000 lehrt sie an der Filmakademie Wien, ab 2011 als Senior Lecturer im Team der Studienrichtung Buch und Dramaturgie. Während ihres Studiums arbeitete Bohle als Script Supervisorin und als Regieassistentin bei diversen österreichischen Kinofilmproduktionen. 2006 gründete sie gemeinsam mit Götz Spielmann die Filmproduktion Spielmannfilm und war eine der Produzent_innen des Kinofilms »Revanche«, der 2009 eine Oscarnominierung erhielt. Von 2008 bis 2012 leitete sie als Geschäftsführerin das Drehbuchforum Wien sowie den Drehbuchverband Austria. Sie ist Vorstandsmitglied des Drehbuchforum Wien und Gründungsmitglied von FC Gloria. Filmografie  : »Der Lauf der Dinge« (2020, Regie  : Ulrike Kofler, Drehbuch gemeinsam mit Ulrike Kofler, Marie Kreutzer) »Maikäfer flieg« (2016, Regie  : Mirjam Unger, Drehbuch, gemeinsam mit Mirjam Unger), »Revanche« (2008, Regie  : Götz Spielmann, Produzentin), »Fallen« (2005, Regie  : Barbara Albert, Casting) Kontakt  : [email protected], Website  : https://www.filmakademie. wien/de/author/sandra-bohle/ Wilbirg Brainin-Donnenberg, Mag.a, ist Filmkuratorin, Publizistin, Filmemache-

rin und seit 2012 Leiterin des Drehbuchforum Wien. Sie studierte Psychologie und Soziologie in Wien, Paris und Salzburg und ist Absolventin der Friedl Kubelka Schule für unabhängigen Film (2016–2018). War von 1993–2004 bei sixpackfilm, ab 2004 freelance Kuratorin diverser Filmreihen (u. a. »Phantome. Metamorphosen«, »Animismus im Film« (Generali Foundation), »Unter dem Vesuv. Neapel im Film« (Liechtenstein Museum), »Wissenschaftlerinnen im Film« (VotivKino)  ; »Frauen und Wahnsinn im Film« – Filmschau, Symposion (sixpackfilm, Synema, Filmcasino). Konzeption von Veranstaltungen (u. a. 2010– 2013 Diagonale-Branchentreffen), Gründungs- und Vorstandsmitglied von FC Gloria – Frauen Vernetzung Film. Kuratorin der FC Gloria Kinosalons. Vorstandsmitglied von Synema – Gesellschaft für Film und Medien. Initiatorin des Drehbuchwettbewerbs IF SHE CAN SEE IT, SHE CAN BE IT. Frauen*figuren jenseits der Klischees (Drehbuchforum Wien und Österreichisches Filminstitut). Filmografie  : »Zwischenbild« (2017, 3 min), »Casarsa della Delizia« (2018, 249

Autorinnen_ und Herausgeberinnen_

3 min), »Brief an eine Tochter« (2019, 8 min) Festivals  : Diagonale Festival des Österreichischen Films – Wettbewerb 2019, 30. FIDMarseille Festival Int. du Cinema 2019, Riga International Film Festival – Wettbewerb 2019, 27. Febiofest Bratislava – Wettbewerb 2020, 21. Jeonju International Film Festival 2020 (Südkorea) Festival Screening und Teilnahme an der Ausstellung Expanded Plus. Publikationen (Auswahl)  : Frauen und Wahnsinn im Film. Filmschau und Symposion. Wien 1998 (Co-Redaktion des Katalogs und Kuratorin der Filmschau und des Symposions, gem. mit Astrid Ofner und Andreas Ungerböck 1998)  ; Gustav Deutsch. Wien 2009 (Herausgeberin, gem. mit Michael Loebenstein)  ; »Strategien der Veränderung«, in  : Wie haben Sie das gemacht  ? Aufzeichnungen zu Frauen und Filmen, hg. v. Claudia Lenssen und Bettina Schoeller-Bouju. Marburg 2014  ; »Ehre der schwarz-weißen Göttin – Laudatio für Friederike Pezold«, in  : Festkatalog der österreichischen Staatspreise für Kunst und Kultur 2015. Kontakt  : [email protected] Andrea Ellmeier, Dr.in Mag.a, Historikerin, Leiterin der Stabstelle Gleichstel-

lung, Gender Studies und Diversität (GGD) der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, war vorher Koordinatorin der Plattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck und langjährig Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien, Innsbruck und mdw. Vortragstätigkeit. Seit 2017 im Board von genderplattform.at, einem Zusammenschluss der §19 (2)7-Stellen an öster­reichischen Universitäten. Arbeitete und publizierte über Konsumgeschichte und Gender, europäische Kultur- und Medienpolitiken, Creative Industries, Kultur und Beschäftigung. Aktuelle Forschungsinteressen  : Geschlechterdemokratie, faire Sprache, Arbeitsverhältnisse im Kunst- und Kulturbereich  ; gegenderte Geschichts­schreibung von Musik und darstellenden Künsten. Veröffentlichungen  : Co-Herausgeberin der bisher erschienenen Bände der Reihe »mdw Gender Wissen« im Böhlau Verlag Wien, zuletzt Kunst/Erfahrung. Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film (mdw Gender Wissen Bd. 7). Wien 2019 (mit Doris Ingrisch und Claudia Walkensteiner-Preschl). Kontakt  : [email protected] Website  : www.mdw.ac.at/ggd Susanne Hochreiter, Mag.a Dr.in, Literaturwissenschaftlerin am Institut für Ger-

manistik der Universität Wien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich der Neueren deutschsprachigen Literatur, Queer und Gender Studies, Comic Studies, Theaterpädagogik und Hochschuldidaktik. Veröffentlichungen u. a.: Bild ist Text ist Bild  : Narration und Ästhetik in der Graphic Novel. Biele­feld 2014 (Hg. gem. mit Ursula Klingenböck)  ; Inter*geschlechtliche Körperlichkeiten Dis250

Autorinnen_ und Herausgeberinnen_

kurs/Begegnungen im Erzähltext. Bielefeld 2014 (Hg. gem. mit Angelika Baier)  ; Mann – Männer – Männlichkeiten. Interdisziplinäre Beiträge aus den Masculinity Studies. Wien 2018. (Hg. gem. mit Silvia Stoller). Kontakt  : [email protected] Annegret Huber vertritt als Professorin am Institut für Komposition, Elektro-

akustik und Tonmeister_innenausbildung der mdw das Fach Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Analyse der Musik. Sie studierte Schulmusik (Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart), Musikpädagogik (Musikhochschule Lübeck), Konzertfach Klavier (Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien, heute  : mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien), Musiktheorie (ebda. bei Diether de la Motte) und Musikwissenschaft (Universität Wien). In ihrer akademischen Ausbildung verbanden sich künstlerische (Klavier, Orgel, Gesang), pädagogische (Schulmusik, Instrumentalpädagogik) und wissenschaftliche (Musiktheorie, Musikwissenschaft) Bereiche. Uraufführungen zeitgenössischer Musik waren ihr als Pianistin schon während ihrer Studienzeit ein großes Anliegen  ; heute widmet sie sich (sofern es ihr Zeitbudget erlaubt) der Wiederaufführung übergangener Musik – beispielsweise von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts. Forschungsinteressen ergeben sich aus epistemologischen Problemen des Musikanalysierens in kulturwissenschaftlichen Kontexten (Intermedialität, Interkulturalität, Gender) bezogen auf die Musik des 19.–21. Jahrhunderts sowie die Geschichte der Lehre musiktheoretischer Fächer  ; aus der Frage nach dem, was wir durch Musikanalysieren wissen können, ergab sich ein Schwerpunkt zur Grundlagenforschung der Artistic Research. Wichtige Publikationen  : Das ›Lied ohne Worte‹ als kunstübergreifendes Experiment. Eine komparatistische Studie zur Intermedialität des Instrumentalliedes 1830–50 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 41). Tutzing 2006  ; »Die Pianistin spricht. Überlegungen zur Epistemologie von Vertonungsanalysen und ihrer Funktion in musikwissenschaftlicher Forschung«, in  : Kongressbericht des Hauptsymposions »Die Begleiterin – Clara Schumann, Lied und Liedinterpretation« im Rahmen der Jahrestagung 2019 der Gesellschaft für Musikforschung an der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold (Online-Publikation in Vorbereitung)  ; »Differenz zu Ende denken. Musikstrukturanalytische Wissenspraxen aus poststrukturalistischer Perspektive«, in  : Christian Glanz, Anita Mayer-Hirzberger, Nikolaus Urbanek (Hg.), Musik | Kultur | Theorie. Festschrift für Marie-Agnes Dittrich, Wien 2019, 227–256. Kontakt  : huber-a@ mdw.ac.at Website  : https://www.mdw.ac.at/ike/annegret-huber/ 251

Autorinnen_ und Herausgeberinnen_

Doris Ingrisch, Univ. Doz.in Dr.in, Gastprofessorin für Gender Studies am In-

stitut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte  : Cultural sowie Gender Studies, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaft, Kunst und Gender, Exil/Emigrationsforschung sowie qualitative und experimentelle Methoden/arts based research. Veröffentlichungen u. a.: Wissenschaft, Kunst und Gender. Denkräume in Bewegung. Bielefeld 2012  ; Don’t Mind the Gap  ! Ein grenzüberschreitendes Zwiegespräch (mit Susanne Valerie Granzer). Bielefeld 2014  ; Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst. Bielefeld 2017 (Hg. zusammen mit Marion Mangelsdorf und Gert Dressel)  ; Gender – Kultur – Management. Relatedness in und zwischen Wissenschaft und Kunst. Transdisziplinäre Erkundungen. Bielefeld 2017 (Hg. zusammen mit Franz-Otto Hofecker und Beate Flath). Kontakt  : [email protected] Website  : www.mdw.ac.at/ikm Katharina Klement, geboren 1963 in Graz/Österreich, ist als »Composer-Perfor-

mer« im Bereich von komponierter und improvisierter, elektronischer und instrumentaler Musik tätig. In ihrem Werk finden sich zahlreiche querverbindende Projekte innerhalb der Bereiche Musik-Text-Video. Besonderes Interesse gilt dem Instrument Klavier und dafür erweiterte Spieltechniken. Sie ist Gründerin und Mitglied mehrerer Ensembles für improvisierte Musik. Internationale Konzerte und Aufführungen, zahlreiche Auszeichnungen, u. a. »honorary mention« 2006 Ars Electronica Linz, Staatsstipendum Komposition 2002 und 2011, Kunstpreis Österreich Sparte Musik 2013, Gustav Mahler Preis 2017. 2018/19 Stipendium nach Südindien. Ihre Arbeiten sind auf zahlreichen Tonträgern erschienen. Sie unterrichtet am Lehrgang für Elektroakustische und Experimentelle Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, lebt in Wien. www.katharinaklement.com Annette Jael Lehmann hat Vergleichende Literaturwissenschaft, Kunstge-

schichte, Amerikanistik und Philosophie in Berlin, Oxford und Berkeley studiert. Seit 2017 ist sie Principal Investigator (PI) am Einstein Center Digital Future (ECDF). 2019 wurde sie Principal Researcher (PR) am Exzelenzcluster ›Temporal Communities  : Doing Literature in a Global Perspective‹ an der Freie Universität Berlin und PI an der Friedrich Schlegel Graduierten Schule für Literaturwissenschaftliche Studien. Seit Herbst 2019/20 ist sie Professorin und Leiterin des Seminars für Kultur- und Medienmanagement am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Sie ist Mitarbeiterin von metaLAB (at) Harvard 252

Autorinnen_ und Herausgeberinnen_

und dem Berkman Klein Center, Harvard University. Publikationen (Auswahl)  : Mediale Performanzen. Historische Konzepte und Perspektiven. Freiburg 2002  ; Kunst und Neue Medien. Tübingen 2008  ; Tacit Knowledge. Post Studio/Feminism – CalArts (1970–77). Leipzig 2019  ; Einladung/Invitation. Archiv als Ereignis/Archiv as Event. Leipzig 2020. Kontakt  : [email protected] Website  : https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we07/index.html | www. annette-jael-lehmann.de Tamara Metelka ist seit 2013 Professorin für Sprachgestaltung am Max Rein-

hardt Seminar der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Von 1994 bis 2005 war sie Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters, es folgten Zusammenarbeiten u. a. mit Claus Peymann, Achim Benning, Matthias Hartmann und Sven Erik Bechtolf sowie Film- und Fernsehrollen in Österreich und Deutschland. Seit 2005 ist sie als freie Schauspielerin z. B. am Burgtheater Wien, am Theater in der Josefstadt und bei den Festspielen Reichenau tätig. Die gebürtige Wienerin ist Absolventin des Max Reinhardt Seminars der mdw. Ihr Fokus auf Körper und Sprache führte bereits früh zu einem Lehrauftrag am Seminar, den sie seit 2001 innehat. Von Oktober 2014 bis Februar 2020 war sie Co-Institutsleiterin des Max Reinhard Seminars. Kontakt  : [email protected] Kathrin Resetarits arbeitet als Autorin, Dramaturgin, Regisseurin, Schauspielerin und unterrichtet Drehbuch an der Filmakademie Wien. Sie ist seit 2000 künstlerische Assistentin für Michael Haneke und seit 1999 Co-Autorin und Regisseurin der Kabarettprogramme von Lukas Resetarits. Sie ist ein Gründungsmitglied von FC Gloria – Frauen Vernetzung Film. Auswahl aktueller Arbeiten  : Drehbuch  : »Licht« A/D 2017, Regie  : Barbara Albert, Offizieller Wettbewerb San Sebastian, Thomas Pluch Drehbuch Hauptpreis 2018. Dramaturgie  : »Western« D 2017, Regie und Drehbuch  : Valeska Grisebach, Un Certain Regard Cannes. Schauspiel  : »L’Animale« A 2018, Regie  : Katharina Mückstein, Berlinale Panorama. Künstlerische Assistenz  : »Happy End« F/A 2017, Regie  : Michael Ha­neke, Offizieller Wettbewerb Cannes. Co Regie  : »Michael« A 2011, Regie  : Markus Schleinzer, Offizieller Wettbewerb Cannes. Buch  : Vögel sind zu Besuch. Wien 2007. Kontakt  : [email protected] Melanie Unseld studierte Historische Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Angewandte Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Hamburg. 1996 Magister an der Universität Hamburg, 1999 Promotion ebenda (»Man töte dieses Weib  !« Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende, Stutt253

Autorinnen_ und Herausgeberinnen_

gart/Weimar 2001). 2002–2004 war sie Stipendiatin des Lise Meitner-Hochschulsonderprogramms, 2005–2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, hier ab 2006 am Forschungszentrum für Musik und Gender. 2008–2016 war sie Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Sie vertrat 2011/12 die Professur für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und habilitierte sich 2013 ebenda mit einer Arbeit über Biographie und Musikgeschichte. 2008–2015 war sie Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2013–2015 Prodekanin der Fakultät III, seit 2015 Dekanin ebenda. Seit 2016 ist sie Professorin für Historische Musikwissenschaft an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie ist Mitherausgeberin u. a. der Reihe »Europäische Komponistinnen« (Köln/Weimar/Wien  : Böhlau Verlag) sowie des »Lexikon Musik und Gender« (Kassel  : Bärenreiter, 2010). 2019 wurde sie zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Kontakt  : unseld@ mdw.ac.at, Website  : https://www.mdw.ac.at/imi/melanie_unseld Claudia Walkensteiner-Preschl, Univ.-Prof.in Dr.in, Professorin für Medien- und

Filmwissenschaft am Institut für Film und Fernsehen, Filmakademie Wien der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 2010 Habilitation an der Universität Frankfurt am Main. In den Jahren 2007–2011 Vizerektorin für Lehre und Frauenförderung der mdw. 2013–2019 Leiterin der Filmakademie Wien. Seit 2010 Mitherausgeberin der Buchreihe »Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film« (Böhlau Verlag). Veröffentlichungen  : Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der 1910er-Jahre. Wien 2008  ; Die Schlager der Groteske, in  : Karola Gramann, Eric de Kuyper, Sabine Nessel, Heide Schlüpmann, Michael Wedel (Hg.), Sprache der Liebe. Asta Nielsen, ihre Filme, ihr Kino 1910–1933. Wien 2009  ; Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino. Nachempfunden an Douglas Sirks Universal-Filmen, in  : Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film. Wien 2012  ; Capturing Intimacy. Inszenierung intimer Momente im Film (mit Kerstin Parth), in  : Doris Ingrisch, Marion Mangelsdorf, Gert Dressel (Hg.), Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst, Bielefeld 2017  ; Subversive Komik und Film  : die Kunst des Fallens, in  : Christian Schenkermayr (Hg.), Komik und Subversion. Ideologiekritische Strategien. Wien 2019  ; Kontakt  : [email protected] 254

Autorinnen_ und Herausgeberinnen_

Karin Wetschanow ist Senior Lecturer am SchreibCenter der AAU Klagenfurt. Sie ist außerdem als Lektorin an der Uni Wien sowie als freie Schreibberaterin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Genderlinguistik, Kritische Diskursanalyse und Schreibforschung. Karin Wetschanow ist Expertin für feministische Sprachpolitik und Mitautorin der 1997 veröffentlichten ministeriellen Richtlinien für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Veröffentlichungen  : Kreatives Formulieren. Anleitungen zu geschlechtergerechtem Sprachgebrauch, in  : Schriftenreihe der Frauenministerin 13, Wien 1997, 160 S. (gem. mit Maria Kargl, Ruth Wodak, Néla Perle)  ; Feministische Sprachpolitik, in  : Rudolf de Cillia und Eva Vetter (Hg.)  : Sprachenpolitik in Österreich. Wien 2013, 306–340 (gem. mit Ursula Doleschal)  ; Bullshit manipuliert  : Welche Rolle spielt Sprache  ?, in  : Sorority – Verein zur Branchenübergreifenden Vernetzung und Karriereförderung von Frauen in Österreich (Hg.), No More Bullshit  ! Wien /2018, 36–46. Kontakt  : [email protected] Vina Yun ist freie Journalistin und Öffentlichkeitsarbeiterin in Wien. 2000 war

sie Mitgründerin und Herausgeberin der Zeitschrift »nylon. KunstStoff zu Feminismus und Popkultur«, aus der später das Magazin »fiber. werkstoff für feminismus und popkultur« hervorging. Sie war als Redakteurin für verschiedene feministische und linke Medien tätig, u. a. »MALMOE«, »an.schläge«, »migrazine.at«, »dieStandard« und »Missy Magazine«. 2017 veröffentlichte sie »Homestories«, einen Comic über die Arbeitsmigration koreanischer Krankenschwestern nach Österreich und das Aufwachsen als »Zweite Generation« im Wien der 1970erJahre. Website  : www.fb.com/homestoriesvienna. Kontakt  : [email protected]

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