Voguing on Stage - Kulturelle Übersetzungen, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen in Theater und Tanz 9783839452660

An arena of discourse about voguing on stage as transformed representation and archive in motion.

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Voguing on Stage - Kulturelle Übersetzungen, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen in Theater und Tanz
 9783839452660

Table of contents :
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Inhalt
Dank
Einleitung
1. Theoretische und methodische Grundlagen
1.1 Die Felderschließung
1.2 Stand der Forschung
1.3 Das Forschungsinteresse
1.4 Material und Methode
1.4.1 Diskurstheorien
1.4.2 Diskursive Praktiken und methodische Zugänge
1.5 Die Aufführungsanalyse als diskursive Praxis
2. Voguing und sein Archiv
2.1 Die Geschichte und die Kultur des Voguing
2.1.1 Die Herstellung von Vergangenheit
2.1.2 Die Konstitution eines Dokumentenkorpus
2.1.3 Das Voguing-Archiv in Bewegung
2.2 Re-Lektüren zur Erzeugung von Geschichte
2.3 Prozesse der Aneignung und Übernahme
2.4 Voguing im Film
2.5 Reflexionen zur Tanzfotografie: Voguing-Bildbände
2.6 Eine mediale Rezeption: Berlin is Burning
2.7 Voguing in einer bewegten Tanzgeschichte
2.8 Voguing als Ausdruck einer ästhetischen Existenz
3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing
3.1 Methodische Grundlagen
3.1.1 Das Expert*inneninterview
3.1.2 Die Wissenskulturen der Expert*innen
3.1.3 Die spezifischen Aussagen von Expert*innen
3.1.4 Leitfadeninterviews
3.1.5 Sampling
3.2 Explikation des Forschungsdesigns
3.2.1 Das Sampling und die Auswahl der Expert*innen
3.2.2 Interviewanalyse im Kontext einer fremden Sprache
3.2.3 Das explorative Expert*inneninterview zur Felderschließung
3.2.4 Analyseverfahren: Die Deutungsmusterrekonstruktion
3.3 Empirische Ergebnisse
3.3.1 Zentrale Themen
3.3.2 Wissenskulturen
3.3.3 Deutungsmuster
3.4 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
4. Voguing on Stage
4.1 Aufführungsanalysen
4.1.1 Zwischen Aufführung und Aufzeichnung
4.1.2 Ästhetikkonzepte
4.1.3 Die Deutungsmuster der Aufführungsanalysen
4.2 Voguing in Translation
4.2.1 The House of Melody: Voguing in Deutschland
4.2.2 Stückbeschreibung: Pose for Me von Georgina Philp
4.2.3 Die Lecture-Performance Pose for Me als Modellder Kulturvermittlung
4.2.4 Exkurs: Kultur als differenztheoretischer Begriff und Modellevon kultureller Übertragung
4.2.5 Körper in Translation
4.2.6 Ästhetikkonzept: Zwischen Differenz und Wiederholung
4.3 Voguing als vestimentäre Performance
4.3.1 Die Serie Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church
4.3.2 Stückbeschreibung: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burningat The Judson Church von Trajal Harrell
4.3.3 Positionsbestimmungen zwischen Voguing und Postmodern Dance
4.3.4 Twenty Looks! Eine vestimentäre Performance
4.3.5 Ästhetikkonzept: »Voguing with a postmodern twist«
4.4 Gender on Stage
4.4.1 Voguing als verkörpertes Gender-Wissen
4.4.2 Stückbeschreibung: The Principle of Pleasure von Gerard Reyes
4.4.3 Gender-Inszenierungen im Stück The Principle of Pleasure
4.4.4 Der Ballroom als ambivalenter Ort: Zwischen Aneignung und Abweichung von heteronormativen Geschlechterinszenierungen
4.4.5 Gender Performances als freischwebende Artefakte
4.4.6 Ästhetikkonzept: Die Lust am Körper
4.5 Erweiterung der Diskursarena
Fazit
Ausblick
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Aufführungen
Filme
Interviewleitfaden
Literaturverzeichnis

Citation preview

Jutta Krauß Voguing on Stage – Kulturelle Übersetzungen, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen in Theater und Tanz

TanzScripte  | Band 57

Editorial Tanzwissenschaft ist ein junges akademisches Fach, das sich interdisziplinär im Feld von Sozial- und Kulturwissenschaft, Medien- und Kunstwissenschaften positioniert. Die Reihe TanzScripte verfolgt das Ziel, die Entfaltung dieser neuen Disziplin zu begleiten und zu dokumentieren: Sie will ein Forum bereitstellen für Schriften zum Tanz – ob Bühnentanz, klassisches Ballett, populäre oder ethnische Tänze – und damit einen Diskussionsraum öffnen für Beiträge zur theoretischen und methodischen Fundierung der Tanz- und Bewegungsforschung. Mit der Reihe TanzScripte wird der gesellschaftlichen Bedeutung des Tanzes als einer performativen Kunst und Kulturpraxis Rechnung getragen. Sie will Tanz ins Verhältnis zu Medien wie Film und elektronische Medien und zu Körperpraktiken wie dem Sport stellen, die im 20. Jahrhundert in starkem Maße die Wahrnehmung von Bewegung und Dynamik geprägt haben. Tanz wird als eine Bewegungskultur vorgestellt, in der sich Praktiken der Formung des Körpers, seiner Inszenierung und seiner Repräsentation in besonderer Weise zeigen. Die Reihe TanzScripte will diese Besonderheit des Tanzes dokumentieren: mit Beiträgen zur historischen Erforschung und zur theoretischen Reflexion der sozialen, der ästhetischen und der medialen Dimension des Tanzes. Zugleich wird der Horizont für Publikationen geöffnet, die sich mit dem Tanz als einem Feld gesellschaftlicher und künstlerischer Transformationen befassen. Die Reihe wird herausgegeben von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein.

Jutta Krauß ist Tanzwissenschaftlerin und arbeitet am Institut für Alltagskultur, Bewegung und Gesundheit der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind zeitgenössischer Tanz mit Theoremen von Körper und Kleidung, Gender Performances auf der Bühne sowie kulturelle Bewegungsübertragungen.

Jutta Krauß

Voguing on Stage – Kulturelle Übersetzungen, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen in Theater und Tanz

Das vorliegende Buch wurde als Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Freiburg angenommen. Erstgutachterin: Frau Prof. Dr. Anne-Marie Grundmeier, Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Alltagskultur, Bewegung und Gesundheit Zweitgutachterin: Frau Prof. Dr. Christina Thurner, Universität Bern, Institut für Theaterwissenschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Harrell 2012), Rob Fordeyn, Steven Thompson, Thibault Lac, Fotograf*in: Bengt Gustafsson (2012), © Trajal Harrell. Lektorat: Sigrid Weber, Freiburg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5266-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5266-0 https://doi.org/10.14361/9783839452660 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Dank ..................................................................................... 9 Einleitung ................................................................................ 11 1. 1.1 1.2 1.3 1.4

1.5 2. 2.1

2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 3. 3.1

Theoretische und methodische Grundlagen ......................................... 15 Die Felderschließung ...................................................................................... 15 Stand der Forschung ...................................................................................... 17 Das Forschungsinteresse................................................................................. 22 Material und Methode...................................................................................... 24 1.4.1 Diskurstheorien.................................................................................... 24 1.4.2 Diskursive Praktiken und methodische Zugänge .........................................26 Die Aufführungsanalyse als diskursive Praxis ..................................................... 43 Voguing und sein Archiv ........................................................... 47 Die Geschichte und die Kultur des Voguing .......................................................... 47 2.1.1 Die Herstellung von Vergangenheit ...........................................................48 2.1.2 Die Konstitution eines Dokumentenkorpus................................................. 49 2.1.3 Das Voguing-Archiv in Bewegung ............................................................. 51 Re-Lektüren zur Erzeugung von Geschichte........................................................ 53 Prozesse der Aneignung und Übernahme ........................................................... 58 Voguing im Film ............................................................................................ 61 Reflexionen zur Tanzfotografie: Voguing-Bildbände.............................................. 63 Eine mediale Rezeption: Berlin is Burning ........................................................... 67 Voguing in einer bewegten Tanzgeschichte ........................................................ 71 Voguing als Ausdruck einer ästhetischen Existenz ............................................... 73 Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing ............................... 77 Methodische Grundlagen ................................................................................. 77 3.1.1 Das Expert*inneninterview ..................................................................... 77 3.1.2 Die Wissenskulturen der Expert*innen ...................................................... 78 3.1.3 Die spezifischen Aussagen von Expert*innen............................................. 80

3.1.4 Leitfadeninterviews ..............................................................................82 3.1.5 Sampling ........................................................................................... 83 3.2 Explikation des Forschungsdesigns .................................................................. 83 3.2.1 Das Sampling und die Auswahl der Expert*innen........................................ 83 3.2.2 Interviewanalyse im Kontext einer fremden Sprache................................... 85 3.2.3 Das explorative Expert*inneninterview zur Felderschließung ........................ 86 3.2.4 Analyseverfahren: Die Deutungsmusterrekonstruktion ................................ 87 3.3 Empirische Ergebnisse....................................................................................90 3.3.1 Zentrale Themen ..................................................................................90 3.3.2 Wissenskulturen .................................................................................. 91 3.3.3 Deutungsmuster...................................................................................96 3.4 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse...............................................104 Voguing on Stage ..................................................................107 Aufführungsanalysen .................................................................................... 107 4.1.1 Zwischen Aufführung und Aufzeichnung .................................................. 110 4.1.2 Ästhetikkonzepte.................................................................................. 111 4.1.3 Die Deutungsmuster der Aufführungsanalysen .......................................... 114 4.2 Voguing in Translation ................................................................................... 115 4.2.1 The House of Melody: Voguing in Deutschland............................................ 117 4.2.2 Stückbeschreibung: Pose for Me von Georgina Philp.................................... 118 4.2.3 Die Lecture-Performance Pose for Me als Modell der Kulturvermittlung .......................................................................... 123 4.2.4 Exkurs: Kultur als differenztheoretischer Begriff und Modelle von kultureller Übertragung ................................................................. 133 4.2.5 Körper in Translation........................................................................... 139 4.2.6 Ästhetikkonzept: Zwischen Differenz und Wiederholung ..............................148 4.3 Voguing als vestimentäre Performance .............................................................150 4.3.1 Die Serie Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church ................... 152 4.3.2 Stückbeschreibung: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church von Trajal Harrell ....................................................155 4.3.3 Positionsbestimmungen zwischen Voguing und Postmodern Dance ...............159 4.3.4 Twenty Looks! Eine vestimentäre Performance.......................................... 174 4.3.5 Ästhetikkonzept: »Voguing with a postmodern twist« ................................. 187 4.4 Gender on Stage ...........................................................................................190 4.4.1 Voguing als verkörpertes Gender-Wissen ................................................. 193 4.4.2 Stückbeschreibung: The Principle of Pleasure von Gerard Reyes .................... 194 4.4.3 Gender-Inszenierungen im Stück The Principle of Pleasure ........................... 199 4.4.4 Der Ballroom als ambivalenter Ort: Zwischen Aneignung und Abweichung von heteronormativen Geschlechterinszenierungen .................................... 210 4.4.5 Gender Performances als freischwebende Artefakte .................................. 215

4. 4.1

4.4.6 Ästhetikkonzept: Die Lust am Körper ...................................................... 219 4.5 Erweiterung der Diskursarena ....................................................................... 222 Fazit ................................................................................... 231 Ausblick ................................................................................ 239 Anhang ................................................................................. 243 Abbildungsverzeichnis ................................................................. 245 Aufführungen .......................................................................... 247 Filme ................................................................................... 249 Interviewleitfaden ..................................................................... 251 Literaturverzeichnis.................................................................... 253

Dank

Bedanken möchte ich mich ganz herzlich bei den vielen Menschen, die mich auf dem Weg meiner Dissertation unterstützt haben. An erster Stelle danke ich Sabine Karoß. Ohne sie hätte ich Voguing nie kennengelernt. Großer Dank gilt vor allem den Künstler*innen, die mich mit ihren Aufführungen inspiriert haben. Ohne ihre Arbeiten und die Gespräche mit ihnen wäre diese Arbeit nicht entstanden. Ich danke herzlich Georgina Philp, Trajal Harrell, Gerard Reyes, Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen. Frau Prof. Dr. Anne-Marie Grundmeier danke ich für den konstruktiven Rat, ihre wertvollen Anmerkungen und ihre stetige Unterstützung. Ihre hilfsbereite und ermunternde Art trug maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit bei. Ebenso danke ich Frau Prof. Dr. Christina Thurner, die als Zweitgutachterin den Prozess aus tanzwissenschaftlicher Perspektive fachlich sehr bereichert hat und mir wichtige wissenschaftliche Impulse gab. Mit ihrer herzlichen Art sorgte sie dafür, dass meine Motivation nicht versiegte. Dank gebührt außerdem dem Filmemacher Wolfgang Busch, der mir sein Material zur Verfügung stellte. Die Gespräche mit ihm gaben mir wertvolle Einblicke in die Ballroom-Community. Bedanken möchte ich mich ganz herzlich bei allen, die mich fachlich unterstützt und motiviert haben. Namentlich erwähnt seien insbesondere: Robert Baar, Jens Richard Giersdorf, Beate Hochholdinger-Reiterer, Andreas Kotte, Claudia Rosiny und Julia Wehren. Wichtige Anregungen ergaben sich in den letzten Jahren aus den Kolloquien am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Sie waren stets von einer ermunternden, kritisch konstruktiven Atmosphäre geprägt. Ich bedanke mich bei allen Forscher*innen, die daran teilgenommen haben, besonders bei Johanna Hilari. Allen Freund*innen sei gedankt, die in der Zeit meines Forschens für mich da waren. Meinen Eltern Arnold und Rosina Krauß gebührt großer Dank. Sie haben mich in meinem Leben stets liebevoll begleitet. Ich bin sehr traurig, dass mein Vater die Fertigstellung dieser Arbeit nicht mehr erleben durfte. Meiner Tochter Annika danke ich für ihre interessierte Anteilnahme, die fruchtbaren Gespräche

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Voguing on Stage

und ihr sonniges Gemüt, das mich so oft erheiterte. Mein herzlichster Dank gilt Lutz Capeller, mit ihm an meiner Seite ist es möglich, zu forschen und zu leben.

Einleitung »Der Leib – und alles, was den Leib berührt – ist der Ort der Herkunft: am Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse, aus ihm erwachsen auch die Begierden, die Ohnmachten und die Irrtümer; am Leib finden die Ereignisse ihre Einheit und ihren Ausdruck, in ihm entzweien sie sich aber auch und tragen ihre unaufhörlichen Konflikte aus.« (Foucault 1974: 91, Herv. i.O.)

Seit dem Jahr 2012 sorgen in Berlin Voguing-Aufführungen für Aufregung, Irritation, Erstaunen oder Neugierde ‒ sowohl beim Publikum als auch bei Journalist*innen.1 Ein bisher in Deutschland kaum verbreiteter Tanzstil wird auf der Bühne gezeigt. Voguing ist eine Bewegungssprache, die im Harlem der 1960er Jahre im soziokulturellen Raum des Ballrooms entstand. Seine Protagonist*innen waren zumeist marginalisierte homo- und transsexuell orientierte Afroamerikaner, die glamouröse Bälle organisierten, um eine Welt zu inszenieren, die ihnen selbst nicht zugänglich war. Das Charakteristische des Tanzes ist, dass Posen in Tanz transformiert werden. Die laufstegähnliche Bühnenfläche dient dabei nicht nur einem Catwalk und der Aneinanderreihung von Posen der Modefotografie, sondern auch der Darstellung des Selbst. »At its heart voguing, which is only one aspect of the ballroom community, is a movement language that transforms poses into dance« (Moore 2018: 181). Damit beschreibt Madison Moore einen wesentlichen Aspekt des Voguing: die Umwandlung von Posen in Tanz. Diese Aussage lässt sich in eine Reihe ähnlicher Beschreibungen

1

Mit der Sternchen*-Schreibweise verfolge ich eine geschlechtersensible Sprache. Ich beziehe mich damit sowohl auf die orthografische Genus-Darstellung als auch auf eine Vielzahl an sexuell-geschlechtlichen Selbstpositionierungen und stütze mich hierbei auf die Diskussionen von Barbara Paul, Lüder Tietz (2016: 8‒9), Judith Krämer (2015: 23) und Karen Wagels (2013: 25).

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Voguing on Stage

stellen. Für Anne-Marie Grundmeier folgen im Voguing »auf überstilisierte Bewegungen die Posen, die durch bewusstes Innehalten – dem Freeze – eingeleitet und eine ausdrucksstarke Mimik untermauert werden« (2015: 68). Jens Richard Giersdorf sieht Voguing als »ein Bewegungsvokabular, das Posen von Models aus Modemagazinen wie z.B. der Vogue kopiert, indem vor allem die Arme zur Rahmung des Gesichts und des Körpers benutzt werden« (2013: 584, Herv. i.O.). Die Pose gilt als zentrales choreografisches Element des Voguing: »Inspiriert vom VogueMagazin wurden Bilder aus Fotoshootings in Bewegungen transformiert. Voguing ist geprägt vom Kampf um die schönste Pose« (Krauß 2015: 94). Danny Chislom meint: »Voguing is all these, it is all the moving to music that originates from the ball, based on model-esque poses and walking« (Chislom in Regnault 2011: 87). Sally Sommer schreibt in Bezug auf das »club dancing« (1994/1995: 7): »Willi Ninja is best known for his voguing, which, he says, ›is about the freedom to express attitude and style, the freedom to incorporate a lot of different dance forms and movements, ranging from fashion poses to runway modeling to ballroom to martial arts‹« (1994/1995: 10). In ihrem Artikel »Deep in Vogue« (1991) definiert Nicole Dekle Voguing folgendermaßen: »Voguing, with its austere, exaggerated freezeframe fashion posturing, has an organic place in this arena, where competitors walk in succession down a long aisle that makes do for a runway« (1991: 36). Mit »in this arena« (ebd.) meint Dekle »the gay subculture of Harlem« (ebd.). Voguing als Tanzpraxis zu betrachten, bedeutet nicht nur die Transformation von fotografisch festgehaltenen Modelposen in bewegte Tanzposen, sondern auch die Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Bedingungen. Voguing als Erfahrung eines gesellschaftlichen Raums, geprägt von Marginalisierung bezüglich der Kategorien race, class und Gender, ist zu einem global verbreiteten Tanz geworden. Angesichts der Ausbreitung und der Aufführungen auf Theaterbühnen bekommt Voguing in der Tanzforschung eine besondere Relevanz. Diese Forschungsarbeit widmet sich der soziokulturellen Tanzpraxis Voguing und den künstlerischen Herangehensweisen, die in Bühnenaufführungen münden. Es werden also keine Performances untersucht, die im Ballroom der Voguing-Community zu sehen sind, sondern solche, die auf Theaterbühnen inszeniert werden, wovon es in den letzten Jahren einige zu sehen gab. Dabei folge ich einer Betrachtungsweise im Sinne von Giersdorf: »›Kunst‹ ist natürlich nicht mit ›Kultur‹ gleichzusetzen. Da Kunst allerdings Teil der Kultur und des kulturellen Lebens ist, gibt es Überschneidungen in der Struktur und Funktion beider« (2013: 578). Bei den ausgewählten Aufführungen handelt es sich um Performances der Choreograf*innen Georgina Philp, Trajal Harrell, Gerard Reyes, Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen. Sie beziehen sich auf die Bewegungssprache und Geschichte des Voguing und verbinden dies mit ihren jeweils einzigartigen künstlerischen Inszenierungsstilen und ihren spezifischen tänzerischen Ausdrucksmitteln. Auf einem Catwalk werden in diesen Aufführungen Posen zu einem Tanz aneinandergereiht.

Einleitung

Dabei wird das Selbst präsentiert, Stereotypen der Gesellschaft re-präsentiert oder Konstruktionen von Selbstpräsentationen dargestellt. Glamouröse Kostüme werden am und mit dem Körper ausgestellt, um die Kategorie Gender auszuloten und das Verhältnis von Körper und Kostüm zu bestimmen. Anleihen und Zitate aus den Modenschauen und der Modefotografie fließen in die Performances ein. Auch dem historischen Kontext wird in Voguing-Performances große Bedeutung beigemessen: Er bildet einen theoretischen und praktischen Referenzrahmen. Die Voguing-Aufführungen sprengen die Sehgewohnheiten, indem sie eine nahezu unbekannte Tanzsprache auf die Bühne bringen. Somit richtet sich der Fokus der vorliegenden Untersuchung auf Aufführungen mit historisch-kulturellen, tänzerisch-choreografischen, geschlechterspezifischen und ästhetischen Implikationen des Voguing. Ins Zentrum der Betrachtungen rücken die künstlerischen Herangehensweisen. Die Voguing-Choreografien lese ich als eine diskursive Praxis, in der tänzerisch Voguing-spezifische Elemente verhandelt werden. Sowohl in den Voguing-Choreografien als auch in den tanzwissenschaftlichen Aussagen kommt der spezifische Diskurs des Voguing zum Ausdruck. Mein Interesse am Voguing hat sich aus der Teilnahme an Voguing-Workshops, dem Besuch von Bällen und dem Sehen von Aufführungen entwickelt. Ich stellte fest, dass in der deutschsprachigen Tanzforschung das Phänomen Voguing bisher kaum rezipiert und analysiert wird. Voguing ist ein tanzwissenschaftliches Desiderat. Daher ist die vorliegende Untersuchung auch von dem Wunsch geleitet, diese Wissenslücke zu schließen. Meine zentrale Frage lautet: Wie werden in den verschiedenen künstlerischen Kreationen zentrale Themen und Bewegungsmuster des Voguing verhandelt? Im ersten Kapitel der Untersuchung werden die theoretischen und methodischen Grundlagen dargestellt, die im Wesentlichen auf Michel Foucaults Diskursanalyse beruhen. Das zweite Kapitel nutzt den Begriff des Archivs im Foucault’schen Sinne als Instrument, um die Geschichte des Voguing nachzuzeichnen. Geschichtliche Fragmente, Bruchstücke von Entwicklungslinien und Denkweisen über Voguing, die in unterschiedlichen Medien gespeichert sind, ermöglichen es, den soziokulturellen Hintergrund des Voguing zu skizzieren. Sie verweisen überdies auf die Vielschichtigkeit des Phänomens Voguing. Im dritten Kapitel werden Expert*inneninterviews analysiert. Diese Analysen dienen zum einen der empirischen Erforschung von Wissensbeständen der Akteur*innen aus der VoguingSzene. Zum anderen werden daraus Deutungsmuster rekonstruiert. Sie lenken die Diskurse zur kulturellen Übersetzung, zu den choreografischen Elementen Pose und Catwalk, zu vestimentären Performances und Gender-Inszenierungen auf der Bühne. Das vierte Kapitel widmet sich den Bühnenstücken von Georgina Philp Pose for Me (2018), Trajal Harrell Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (2012) und Gerard Reyes The Principle of Pleasure (2015). In differenzier-

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Voguing on Stage

ten Aufführungsanalysen werden auf der Basis der erarbeiteten Deutungsmuster Anschauungsmodelle etabliert. Ausgehend von den Voguing-Performances werden theoretische Diskurse aufgespannt, um die Transformationsprozesse, die sich von der Szene hin zur Theaterbühne ereignen, zu diskutieren. Bedeutende Positionen zu Pose und Catwalk ermöglichen einen facettenreichen Diskurs zu diesen beiden choreografischen Elementen. Die Vielfalt an vestimentären Performances wird entlang der Aufführung Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church dargestellt, um Voguing als Körper-Kostüm-Choreografie lesbar zu machen. Fragen zu Gender Performances eröffnen einen Diskurs darüber, wie Gender auf der Bühne im Kontext des Voguing verkörpert wird.2 Die im Anschluss daran formulierten Ästhetikkonzepte heben die Singularität der jeweiligen choreografischen Arbeit hervor und stellen in ihrer Gesamtheit die komplexe Heterogenität des Voguing dar. Eine zusammenfassende und vergleichende Betrachtungsweise gründet auf der Aufführung Not Punk. Pololo (2014) von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen. Mit dieser Herangehensweise verfolgt die Arbeit folgende Ziele: Die vorherrschenden Wissenslücken zu und über Voguing sollen geschlossen werden. Dazu werden empirische Daten erhoben und Deutungsmuster rekonstruiert. Außerdem gilt es, die Transformationsprozesse des Voguing vom Ballroom auf die Bühne zu identifizieren. Ausgehend von Voguing-Aufführungen werden die tänzerischen Elemente Pose und Catwalk in ihrer spezifischen Ausdrucksweise bestimmt und mit tanz-, mode- und kulturwissenschaftlichen Theorien verbunden. Gender Performances werden im Kontext von tanz- und theaterwissenschaftlichen sowie philosophischen Theorien und Ergebnissen der Geschlechterforschung diskutiert. Das breite Untersuchungsfeld verweist auf unterschiedliche Blickrichtungen, Analyseverfahren und Denkweisen. Diese unterliegen jedoch alle einer Foucault’schen diskursanalytischen Zugangsweise. Die Leser*innen werden aufgefordert, die von mir vorgenommene Verzahnung interdisziplinärer Zugangsweisen mitzuverfolgen. Tanzwissenschaftliche Ansätze werden mit der Mode-, Kulturund Geschlechterforschung konfrontiert. Die differenten Blickwinkel, die sich in den einzelnen Kapiteln niederschlagen, verweisen auf die Vielschichtigkeit des Voguing als Lebens- und Tanzstil. Sie ergeben sich aus dem Phänomen Voguing selbst.

2

Bei der Schreibweise Gender Performance ohne Bindestrich folge ich Jenny Schrödl (2014: 131).

1. Theoretische und methodische Grundlagen

1.1

Die Felderschließung

Ausgehend von Voguing-Events in Berlin, dem Besuch von Aufführungen, die Voguing als zentrales Moment beinhalteten, Gesprächen mit Voguing-Tänzer*innen und der Teilnahme an Voguing-Workshops begann die Felderschließung. Eigene Studienaufenthalte in Berlin, New York, wie auch in London und Düsseldorf ermöglichten eine teilnehmende Beobachtung verschiedener Voguing-Szenen. Folgende Studienaufenthalte gaben mir Einblicke: Im Jahr 2017 nahm ich beobachtend an Voguing-Workshops im Peridance Capezio Center in New York City teil. Anschließend fanden Gespräche mit den Teilnehmer*innen statt. Der mehrmalige Kontakt mit Wolfgang Busch, dem Regisseur von How Do I Look (2006), und der Austausch mit Prof. Dr. Jens Giersdorf am Marymount Manhattan College/New York trugen dazu bei, den Blick auf die historischen und sozialen Kontexte des Voguing zu schärfen. In London ermöglichte mir die Performance-Ausstellung Hoochie Koochie (2017) in der Barbican Art Gallery, die Werke des Choreografen Trajal Harrell mehrmals zu sehen. Auch hier ergaben sich Gespräche mit den Tänzer*innen und dem Choreografen. Die Besuche der Voguing Out Festivals in Berlin in den Jahren 2015 und 2016, das Durchführen von Interviews sowie die Teilnahme an einem Workshop in Düsseldorf unter der Leitung von Georgina Philp (2018) ermöglichten ein Kennenlernen der aktuellen deutschen VoguingSzene. Im Austausch mit Philp, Tänzerin, Choreografin und Gründerin des ersten deutschen Voguing House, dem House of Melody, konnten Informationen zu und über Voguing gesammelt werden. Im Laufe der Forschungszeit wurde der Kontakt zu den Choreograf*innen der in dieser Untersuchung behandelten Tanzstücke stets intensiver. Daraus gingen Protokolle hervor, die im Sinne von Clifford Geertz als dichte Beschreibungen und als Zugangsmöglichkeit zum Verständnis von Kultur lesbar sind.1 Geertz vertritt einen semiotischen Kulturbegriff: »Ich meine mit Max

1

Geertz’ »Dichte Beschreibung« (1983: 7) dient einer »deutenden Theorie von Kultur« (ebd.) aus der Sicht der Ethnographie (1983: 24).

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Voguing on Stage

Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe« (1983: 9). In den Beschreibungen über Kultur verschränken sich folglich Beobachtung und Interpretation, sodass diese Notizen vom Modus der Bedeutungszuschreibung geprägt sind. Geertz problematisiert die Grenze zwischen Darstellungsweisen und dem zugrunde liegenden Inhalt (1983: 24), indem er die Tätigkeit der dichten Beschreibung als »geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen« (Geertz 1983: 12) im Kontext von Verstehen und Interpretation beschreibt. Diesem Problem begegnet Geertz damit, dass er die dichte Beschreibung als »etwas Gemachtes« (1983: 23) bestimmt. Bedeutungen werden im Zusammentragen und im Interpretieren von Beobachtungen generiert. Analyse ist demnach »das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen – [...] und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite« (1983: 15). Bei der dichten Beschreibung begegnet der Forscher »eine[r] Vielfalt komplexer, oft übereinandergelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind und die er zunächst einmal irgendwie fassen muß. Das gilt gerade für die [...] Feldarbeit: für die Interviews mit Informanten, die Beobachtung von Ritualen, das Zusammentragen von Verwandtschaftsbegriffen, das Aufspüren von Eigentumslinien [...].« (Geertz 1983: 15) Die Feldarbeit erlaubt den Forscher*innen, bei der Kontaktaufnahme mit Repräsentant*innen einer Kultur das unmittelbare Beobachten von Ritualen und Kulturpraktiken in ein Geflecht von Bedeutungen zu überführen, was für das Gewinnen von Erkenntnis genutzt werden kann. Die Verschränkung zwischen Beobachtung, Beschreibung und Bedeutungszuschreibung verweist dabei auf die Strukturen des Symbolischen. Nach Geertz gleicht die Beschreibung dann einer begrifflichen Verarbeitung. Seine zentrale Frage zur Erfassung von Kultur ist die nach deren »Bedeutung« (1983: 16). Menschliches Verhalten betrachtet er als symbolisches Handeln, das eine Bedeutung hat (1983: 16). Geertz’ semiotischer Ansatz ordnet alle erkennbaren Zeichen einer Deutungszuweisung unter. Das Vorgehen der dichten Beschreibung oszilliert folglich zwischen der Betrachtung von Materialität und dem Lesen der Materialität, indem Bedeutungszuschreibungen vorgenommen werden. Diesem semiotischen Ansatz möchte ich die Position Foucaults gegenüberstellen. Foucault folgend gehe ich davon aus, dass die unmittelbaren Eindrücke nur der »Ort [sind], wo sich Gegenstände, die vorher errichtet worden wären, niederlegen und überlagern wie auf einer einfachen Inschriftenfläche« (Foucault 2015a: 65). Die Phänomene erscheinen zwar im Feld des Diskurses, der Diskurs selbst ist dagegen im Sinne Foucaults etwas ganz anderes. Er fragt zwar nach den Phänomenen, die im Feld des Diskurses erscheinen und meint: »Es handelt sich darum, zu erkennen, daß sie letzten Endes vielleicht nicht das sind, was man beim ersten Hinsehen glaubte. Kurz, daß sie eine Theorie erfordern; und daß diese Theorie

1. Theoretische und methodische Grundlagen

sich nicht herstellen läßt, ohne daß in seiner nicht synthetischen Reinheit das Feld der Fakten des Diskurses erscheint, von dem aus man sie konstruiert« (Foucault 2015a:40). Das bedeutet, dass die im Feld des Diskurses erscheinenden Phänomene einer Theorie bedürfen und damit eine Beschreibung ungenügend ist (2015a: 64). Foucault führt dazu folgende Gründe auf:2 »Die Ebenen des gerade gefundenen Auftauchens, [...] liefern keine völlig konstituierten und strukturierten Gegenstände, die der Diskurs [...] zu klassifizieren und zu benennen, auszuwählen und schließlich mit einem Raster aus Wörtern und Sätzen zuzudecken hätte: [...]. Aber welche Beziehungen bestehen zwischen ihnen?« (Foucault 2015a: 64‒65) Die Beschreibung gleicht, folgt man Foucault, somit nur dem Verzeichnis dessen, was auftaucht, was an der Oberfläche sichtbar wird. Selbst eine strukturierte Beschreibung der betrachteten Gegenstände fasst nicht den Diskurs selbst, sondern figuriert bloß die begrifflichen Klassifikationen. Der Diskurs hingegen gestaltet sich durch Beziehungen, indem der »Gegenstand des in Frage stehenden Diskurses darin seinen Platz« (Foucault 2015a: 67) findet. In diesem Sinne wird die von mir vorgenommene Felderschließung als das »Feld der Äußerlichkeit« (Foucault 2015a: 69) betrachtet, das es im Folgenden gilt, mit Theorien und Aussagen in Beziehung zu setzen. Die im Feld entstandenen Beschreibungen und gemachten Beobachtungen bilden somit einen Umraum der eigentlichen Analyse. Sie ermöglichen, Erkenntnisse über die Voguing-Kultur zu gewinnen, sind aber selbst nicht der Diskurs. Die Erschließung des Feldes dient in dieser Arbeit dem Verständnis von und über Voguing. Ohne den Einblick in die Szene wäre sie nicht möglich gewesen.

1.2

Stand der Forschung

Die Aktualität des Tanzstils Voguing zeigt sich in seiner weltweiten Ausbreitung, sowohl im urbanen Raum als auch im Theater. Mit dieser Untersuchung fokussiere ich den Tanz Voguing, der in der deutschsprachigen Forschung bisher nur marginal verhandelt wurde, sowohl im Hinblick auf die Tanzgeschichtsschreibung als auch auf die Rezeption und Reflexion des Tanzes. Die Untersuchung stützt sich auf Quellen aus verschiedenen Feldern. Es sind wissenschaftliche Beiträge, die spezifische Fragestellungen verfolgen und aus unterschiedlichen Blickrichtungen und Disziplinen das Phänomen Voguing meist innerhalb eines soziokulturellen 2

Foucault gelangt aufgrund der Analyse der Psychopathologie im 19. Jahrhundert zu seinen Aussagen. Sie werden hier verallgemeinert, um auf den Unterschied zwischen Gegenstand, seiner Beschreibung und dem Diskurs hinzuweisen.

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Voguing on Stage

Rahmens befragen. Im Zentrum dieser Betrachtungen stehen die Voguing-Szene, die Bälle, der Ballroom und seine Mitglieder. Die daraus resultierenden heterogenen Dokumente können als geschichtliche und soziokulturelle Zeugnisse lesbar gemacht werden und ermöglichen es, Ereignisse, Hintergründe, Motive des Zustandekommens, Weiterentwicklungen, Strategien der Verkörperung und spezifische Elemente des Voguing zu verfolgen. Zur Auseinandersetzung mit dem Material, das sich in unterschiedlichen Speichermedien und Textsorten niederschlägt, werden darüber hinaus Aspekte aufgenommen, die Voguing als körperlich erfahrbares Ereignis mit spezifischen choreografischen und tänzerischen Elementen und soziokulturellen Implikationen bestimmen. Bei der folgenden Übersicht zum Stand der Forschung liegt mein Hauptaugenmerk auf punktuell ausgewählten Texten, die Aspekte des Ballrooms und Voguing untersuchen.3 Dazu zählen auch Abhandlungen, die die Geschichte des Voguing nachzeichnen, die Inszenierung des Voguing betrachten und bildungstheoretische Aussagen formulieren. Die ausgewählten wissenschaftlichen Beiträge, die als Reaktionen auf den Film Paris is Burning (Livingston 1990) hervorgingen, dienen der Kontextualisierung des Voguing hinsichtlich vielfältiger Aspekte. Dazu zählen soziokulturelle Hintergründe und gesellschaftlich geprägte Kategorien wie race, class und Gender. Mit diesen Texten können Aussagen aus dem Kontext des Ballrooms für die Analyse von Voguing-Performances fruchtbar gemacht werden. Hervorgegangen sind sie aus unterschiedlichen Blickrichtungen und Disziplinen und bringen somit verschiedene Diskurse hervor. Bell hooks untersucht in ihrer Abhandlung Black Looks. Popkultur – Medien – Rassismus (1994)4 kritisch die »Darstellungen von Schwarzsein und Schwarzen« (1994: 11) in Film, Theater, Literatur, Musik und Fernsehen. Ausgehend von konkreten medialen Erscheinungsformen analysiert sie Bedeutungszuschreibungen bezogen auf die Kategorie ›Hautfarbe‹. Die Darstellung der Ballroom-Kultur in dem Film Paris is Burning (Livingston 1990) ist Ausgangspunkt ihrer Gedanken zum Thema kulturelle Übernahme. Kritisch beleuchtet sie kulturelle Vereinnahmungsstrategien seitens einer ›weißen‹ Gesellschaft. Judith Butler verhandelt in ihrem Buch Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (2014)5 die performative Herstellung von Gender. In Bezug auf die Ballroom-Kultur, ausgehend von dem Film Paris is Burning, diskutiert sie Fragen zur Ambivalenz zwischen Aneignung und Subversion.

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Auch wenn im Laufe der von mir unternommenen interdisziplinären Untersuchung Theorien der Kulturwissenschaft, der Genderforschung und der Modewissenschaft herangezogen werden, werden diese nicht im Forschungsbericht genannt. In diesem werden nur Abhandlungen zum Phänomen Voguing fokussiert. Der Originaltitel lautet: Black Looks erschienen im Jahre 1992 (hooks). Der Originaltitel lautet: Bodies that Matter erschienen im Jahre 1993 (Butler).

1. Theoretische und methodische Grundlagen

Butler geht in ihrer diskursiven Analyse von einem kulturell determinierten Körper aus, der sich im Spannungsverhältnis zwischen Widerstand und Wiederholung von kulturellen Normen befindet. Ihre Analyse des Verhältnisses von Körper, Kultur und Gender ist für die Erforschung der soziokulturellen Kategorie Gender zentral. Peggy Phelan untersucht in ihrem Artikel »The golden apple: Jennie Livingston’s Paris is Burning« (2001)6 die Präsentationen und Re-Präsentationen von Weiblichkeit. Dazu greift sie Aspekte des Cross-Dressings, der Maskerade, von Drag und »Passing performances« (2001: 96) heraus und verschränkt Weiblichkeitsdarstellungen mit einer Filmanalyse. Wissenschaftliche Arbeiten über die Zeit der sogenannten Harlem Renaissance beleuchten die Hervorbringung der Ballroom-Kultur und beschäftigen sich mit dem Leben der afroamerikanischen und queeren Gemeinschaft in den 1920er Jahren in New York. Die Perspektiven richten sich auf das künstlerische Umfeld, das Verhältnis ethnischer Gruppen zueinander, das Identifizieren von queeren Orten sowie das Lesen der Theatergeschichte. Exemplarisch werden dazu die Beiträge von George Chauncey (1994), David Levering Lewis (1981), A. B. Christa Schwarz (2003), Judith Halberstam (2005) und James Wilson (2005) herangezogen. Die Autoren Tiphaine Bressin und Jérémy Patinier erforschen in ihrem Buch Strike a Pose. Histoire(s) du Voguing. De 1930 à aujourd’hui, de New York à Paris (2012) die Tanzpraxis unter den verschiedenen Strukturkategorien Geschichte, Voguing in Frankreich, Bühnenstücke, Filmmaterialien und Bücher. Analytisch getrennt beschreiben sie die unterschiedlichen Stile und Bewegungsmotive. Ihr Verdienst liegt darin, ein Nachschlagewerk geschaffen zu haben, das Einblicke in Entwicklungslinien, Personen, Kategorien und Begriffe des Voguing gibt. Die genannten Werke dienen in meiner Untersuchung einer geschichtlichen Kontextualisierung des Voguing. Auch aus der Sicht der Geschlechterforschung, Kulturwissenschaft und Soziologie gibt es aktuelle Forschungen zur Voguing-Praxis. Marlon M. Bailey beleuchtet in seinem Buch Butch Queens Up in Pumps. Gender, Performance, and Ballroom Culture in Detroit (2016)7 die amerikanische Ballroom-Kultur und wirft aus der Sicht der Gender Studies einen ethnographischen Blick auf die Ballroom-Community. Die eigene Teilhabe an der Voguing-Gemeinschaft ermöglicht ihm unmittelbare Beobachtungen, aus denen heraus er wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnt. Bailey ist die differenzierte Darstellung des Gender-Systems zu verdanken. Moore richtet seinen Blick auf die Ballroom-Community, und zwar als Mitglied derselben sowie aus der Sicht der Queer Studies. Er arbeitet soziokulturelle Implikationen heraus und bringt ästhetische Sichtweisen zum Ausdruck. In seiner jüngsten Veröffentlichung Fabulous. The Rise of the Beautiful Eccentric (Moore 2018) betrachtet er unter

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Der Artikel erschien in ihrem Buch Unmarked. The Politics of Performance (Phelan 1993). Erstmals erschienen im Jahr 2013.

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Voguing on Stage

der Kategorie ›fabulous‹ die aktuelle Szene in Deutschland und die Performances im Ballroom. Kirstin Mertlitsch analysiert in ihrem Buch Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies (Mertlitsch 2016) die Begriffsperson Drag. Um eine »Kurzbiografie der Drag bei Butler« (2016: 160, Herv. i.O.) zu verfassen, bezieht sie sich auf die Themen des Films Paris is Burning: »Zentrales Thema des Films sind die Wettbewerbe der Drags, ähnlich einem Modeschau-Wettbewerb, in dem der drag-›walk‹ im Mittelpunkt steht und nach ›Echtheit‹, Schönheit, Kleidung und Tanzleistung beurteilt wird« (2016: 161, Herv. i.O.). In ihrer Untersuchung verschränkt sie, im Sinne der Philosophen Gilles Deleuze und Felíx Guattari (2000), das Handeln mit dem Denken in Begriffspersonen (2016: 16). Das bedeutet, dass die Begriffspersonen als konkrete soziale Figuren und Wissensvermittler*innen verstanden werden (2016: 12). Lüder Tietz beschäftigt sich in seiner Untersuchung »Homosexualität, Cross-Dressing und Transgender: Heteronormativitätskritische kulturhistorische und ethnographische Analysen« (2015) unter anderem mit dem Film Paris is Burning, mit Drag Queens und Formen des Transgender. Er untersucht »Kleidungspraxen für die Herstellung normativer und nonnormativer geschlechtlicher und sexueller Performanzen« (2015: 269). Lucas Hilderbrand bezeichnet in seiner Abhandlung Paris is Burning. A Queer Film Classic (2015)8 diesen Film als »one of the most popular queer films« (2015: 11). Er betrachtet unter anderem Aspekte der Kategorie Gender, wie sie in den VoguingPerformances zum Ausdruck kommen. Hilderbrand spiegelt kulturelle Eigenheiten des Ballrooms und Voguing wider. Seine Perspektive ist sowohl von der Filmwissenschaft als auch von den Gender Studies geprägt. In seinem Artikel »The Social World of Voguing« (2002) untersucht Jonathan David Jackson die Ballroom-Szene hinsichtlich der Aspekte Entstehungsgeschichte, »Ritual Space« (2002: 34) und Performance. Einen analytischen Blick auf die Verwobenheit von Voguing, Körper, Mode und Identität wirft Tara Susman in ihrem Artikel »The Vogue of Life: Fashion Culture, Identity, and the Dance of Survival in the Gay Balls« (2000). Der Kulturwissenschaftler Simon Schultz von Dratzig fragt in seinem Aufsatz »Voguing in Cinema. Kinematografische Entwürfe tänzerischer und sozialer Praxis« (2017) nach dem Kanon an Bildern und Narrativen, die mit Voguing verbunden sind.9 Er arbeitet »die diskursive Funktion des Tanzes Voguing« (2017: 233, Herv. i.O.) heraus und legt zwei Narrative offen: Natürlichkeit und Selbstermächtigung. Das Narrativ Natürlichkeit bringt zum Ausdruck, dass »die Bewegungen der Voguer_innen als besonders natürlich oder unkünstlich« (2017: 237) dargestellt werden. Beim Narrativ der Selbstermächtigung »handelt es sich um eine prozessuale Befähigung, den ökonomischen Erfolg zu haben [...]. Andererseits geht es um eine persönliche, 8 9

Erstmals erschien Hilderbrands Buch 2013. Schultz von Dratzig listet in seiner Untersuchung eine Filmografie auf, die seinem Datenkorpus entspricht (2017: 244).

1. Theoretische und methodische Grundlagen

emotionale Selbstbestimmung, die eine psychische Stabilisierung und damit verbunden einen sozialen Erfolg bedingt« (2017: 240). Schultz von Dratzig identifiziert Bewegungsmuster und soziale Funktionen des Voguing. Die im Folgenden genannten Untersuchungen nehmen eine tanzwissenschaftliche Perspektive ein. Zu der Performance Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church des Choreografen Harrell finden sich zahlreiche kürzere Abhandlungen. Sie beziehen sich explizit auf die Performance von Harrell und sind auch als Untersuchungen zum Phänomen Voguing lesbar. Zu nennen sind die Analysen der Tanzwissenschaftler*innen André Lepecki (2017), Tavia Nyong’o (2017) und Ariel Osterweis (2017) in Harrells Publikation Vogue. Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (XL) (2017). In seinem Aufsatz »Immer hier und selten da. Die Politik der choreographierten Tanztheoretisierung als Zwischenraum« (Giersdorf 2013) betrachtet der Tanzwissenschaftler Giersdorf Harrells Stück Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle, die die Wissenschaft auf den Tanz und den Körper ausübt. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen die amerikanische und europäische Tradition der Tanzforschung. Er untersucht Harrells Stück, in dem Voguing neben dem Postmodern Dance auf die Bühne kommt, unter dem Aspekt der Reflexion von Tanz. In den Vordergrund seiner Betrachtung rücken die unterschiedlichen Strategien von Politisierung von Tanz – bezogen auf den amerikanischen und europäischen Diskurs. In meinem Aufsatz »Voguing – Linien im Raum« (Krauß 2015) diskutiere ich Voguing im Kontext seiner Entstehungszeit und räumlichen Verortung. Um vorherrschende Raum- und Bewegungskonzepte aufzuzeigen, wird Voguing in den Kontext der Theorien von Bourdieu, Foucault und Deleuze gestellt (2015: 93). Mit den Begriffen Bewegungschoreografie und Beziehungsgeografie thematisiere ich die Gleichzeitigkeit der beiden Strömungen Judson Dance Theater und Voguing im New York der 1960er Jahre und arbeite die Mechanismen von In- und Exklusion heraus, die die ästhetischen Konzepte prägen. Eine Choreografie von Harrell wird herangezogen, um eine fiktive Vernetzung der beiden Tanzbewegungen aufzuzeigen. Die Soziologin, Tänzerin und Choreografin Jasmin Ihraҫ berichtet in ihrem Artikel »Keep it real: Voguing und das Archiv« (2017) von der gegenwärtigen Entdeckung des Voguing in Berlin unter der Fragestellung, wie Voguing »jenseits des historischen Kontexts funktioniert« (2017: 133). Sie bezieht sich auf Butler (2017: 141) und erweitert deren Gedanken: Bei deren Bewertung bleibe unberücksichtigt, »dass der Tanz gerade als Ressource zur Selbstbehauptung genau denen diente, die als queere people of colour unterdrückt und verfolgt wurden« (2017: 141). Ihraç bestimmt in ihrer Abhandlung den historischen und soziokulturellen Kontext und die Entstehungsgeschichte des Voguing (2017: 142‒143). Sie beleuchtet das heutige Wissen über Voguing und beklagt, dass in der »Hochphase des Voguing [...] nur wenig dokumentiert« (2017: 142) wurde.

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Voguing on Stage

In den folgenden Untersuchungen geht es um Voguing im Kontext von bildungstheoretischen Überlegungen. Sie fragen nach Möglichkeiten der Implementierung und nach dem bildungstheoretischen Potenzial von Voguing. In meinem Artikel »Queere Körperbilder des Voguing. Eine bildungstheoretische Perspektive zur Geschlechteridentität« (Krauß 2018) lege ich eine Argumentationskette dar, die ausgehend von der soziokulturellen Praxis Voguing die Begriffe Körper, Pose und Kleiderkörper rahmt, um eine bildungstheoretische Perspektive für Geschlechteridentitäten zu entwerfen. Die Abhandlung »Phänomen Voguing. Betrachtungen zum Konzept Körper, Kostüm und Choreografie« (2018) von Anne-Marie Grundmeier und Jutta Krauß untersucht Voguing ausgehend von den Strategien des SichKleidens. Zentral ist hier das Verhältnis von Körper und Kostüm. Anhand konkreter Beispiele aus der Ballroom-Szene werden choreografische und vestimentäre Strategien untersucht, um heterogene Körperbilder des Voguing zu identifizieren, um die Praktik dann im Kontext von Bildungsprozessen zu situieren. Grundmeier diskutiert in ihrem Aufsatz »Vogue for me – Mode und Accessoires auf dem Runway« (2015) das Verhältnis von Mode und Tanz. Dabei rücken kostümbildnerische Elemente und Möglichkeiten der Körpergestaltung ins Zentrum. Ein mit Studierenden der Pädagogischen Hochschule Freiburg durchgeführtes Voguing-Projekt dient als didaktischer Referenzrahmen, um über Konstruktionen von Geschlecht zu reflektieren. Die Forschungsliteratur zum Gegenstand Voguing zeigt sich breit gefächert. Sie reicht von Gender Studies über filmwissenschaftliche Abhandlungen bis hin zu tanzwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen mit bildungstheoretischen Implikationen. In Abgrenzung zu diesen Arbeiten behandelt die vorliegende Untersuchung, ausgehend von der Aufarbeitung des Voguing-Archivs und der Durchführung von Expert*inneninterviews, VoguingPerformances auf der Bühne. Transformationsprozesse, wie sie sowohl im Prozess von Aneignung und Übertragung als auch in Form eines ästhetischen Schaffensprozesses sichtbar werden, sind dabei zentral. Im Fokus der folgenden Untersuchung stehen choreografische Aufführungen mit und über Voguing auf Theaterbühnen jenseits des Ballrooms.

1.3

Das Forschungsinteresse

Die vorliegende Untersuchung fokussiert die Arbeiten von Georgina Philp Pose for Me (2018), Trajal Harrell Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (2012), Gerard Reyes The Principle of Pleasure (2015) und Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen Not Punk. Pololo (2014). Zentral für die hier entwickelte Perspektive ist die Tanzpraxis Voguing, die in einem soziokulturellen und historischen Kontext im urbanen Raum ihren Ursprung hat und mit einer Vielfalt an Übersetzungen

1. Theoretische und methodische Grundlagen

auf Theaterbühnen in Erscheinung tritt. Ich betrachte Voguing primär als eine ästhetische Tanzpraxis und konzentriere mich somit auf Voguing-Aufführungen auf Theaterbühnen jenseits des Ballrooms. Dennoch fließen auch Konzepte ein, wie sie im Ballroom vorherrschen. Dabei überschneiden sich Kultur und Kunst in dem Sinne, dass Strukturen der Voguing-Kultur Teile der Voguing-Kunst werden. Bei der Analyse der Aufführungen werden die Deutungsmuster Transformationsprozesse, Pose, Catwalk, vestimentäre Performance und Gender-Inszenierungen diskursiv verhandelt. Folgende Fragestellungen leiten das Forschungsinteresse: Wie kann die Geschichte des Voguing rekonstruiert werden? Welches Wissen herrscht in der Voguing-Community vor? Welche Deutungsmuster lassen sich rekonstruieren? Wie wird eine ehemals kulturelle Praxis, die im urbanen Raum ausgeübt wurde und vielfache ethnische und soziale Implikationen in sich trägt, in ein Bühnenwerk übersetzt? Wie lassen sich die choreografischen Elemente Pose und Catwalk in einer konkreten Voguing-Aufführung beschreiben und mit tanzwissenschaftlichen, modewissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Theorien verbinden? Können Voguing-Aufführungen als vestimentäre Performances gelesen werden? Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Körper, Kostüm und Choreografie bestimmen? Wie wird die soziokulturelle Kategorie Gender auf der Bühne inszeniert? Wie können wissenschaftliche Aussagen, die aus der Betrachtung des Ballrooms hervorgegangen sind, für die Gender-Inszenierungen auf der Bühne genutzt werden? Können die Erkenntnisse der Aufführungsanalysen in Ästhetikkonzepte überführt werden, um die ästhetische Eigenart der spezifischen Voguing-Aufführungen begrifflich zu fassen? Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die These, dass es sich bei den verhandelten Voguing-Aufführungen um eine produktive Verschränkung der Geschichte des Voguing und seiner Fortschreibung im Sinne einer eigenen ästhetischen Kreation handelt. Diese unterliegt Transformationsprozessen und kulturellen Übersetzungen und fordert dazu auf, die unterschiedlichen kulturell identifizierbaren Handlungsräume des Voguing aufzudecken und in Bezug auf die Korrespondenz zwischen Körper- und Kostümkonzept sowie der spezifischen Lesart von Pose und Catwalk sowie der Darstellung von Gender zu denken.

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Voguing on Stage

1.4

Material und Methode

1.4.1

Diskurstheorien »Dis-cursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin-und-Her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind ›Schritte‹, ›Verwicklungen‹.« (Barthes 2015: 19, Herv. i.O.)

Die Soziologin Hannelore Bublitz beschreibt bezogen auf Foucault und im Anschluss an Seitter (1996) die Elemente ›dis‹ und ›kurs‹ als das Spektrale der Analytik, das Hin und Her, den Grundzug der Streuung und der Heterogenität (Bublitz 2003: 7). Diskurs ist für sie ein verästeltes Gewebe, in dem die Eindeutigkeit zugunsten der Vielfältigkeit zerfällt. Im Laufe der Geschichte gab es unterschiedliche Gebrauchsweisen des Diskursbegriffs. Seine Verwendung ist wechselhaft und unübersichtlich, der Verwendungszusammenhang vielfältig, sein Gebrauch in den verschiedenen Disziplinen vielgestaltig und uneinheitlich, es gibt keine einheitliche Konzeptualisierung.10 Ausgehend von konkreten Forschungsprojekten muss die jeweilige methodische bzw. forschungspraktische Umsetzung der Diskursanalyse erfolgen (Keller et al. 2006: 15). Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider und Willy Viehöver formulieren den Umstand der unterschiedlichen Rezeption des Diskursbegriffs in ihrem Handbuch zur Diskursanalyse wie folgt: »Das Diskussionsfeld ›Diskursanalyse‹ sperrt sich in seiner theoretisch-methodischen und interdisziplinären Vielfalt gegen einen Zugang in der Form eines ›Wörterbuches‹, das entlang verschiedener zentraler Begriffe den Zusammenhang theoretisch und methodisch erschließt. Es erscheint uns weder sinnvoll noch praktikabel, ein einheitliches diskurstheoretisches und diskursanalytisches Basisvokabular als Lexikon formulieren zu wollen, in dem dann z.B. ›Grundbegriffe‹ präzise, konsistent und kohärent beschrieben und ›Klassiker‹ mit biographischen Erläuterungen eingereiht werden.« (Keller et al. 2006: 16‒17) Daraus kann abgeleitet werden, dass jedes Forschungsvorhaben sein Verständnis von Diskurs bestimmen, theoretisch verorten und methodisch umsetzen muss. 10

Die Herausgeber Keller, Hirseland, Schneider, Viehöver geben in ihrem Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden (2006) einen Überblick über die veränderte Nutzung des Begriffs Diskurs innerhalb der Wissenssoziologie. Schellow behandelt in ihrem Buch Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ›Nicht› für die zeitgenössische Tanzwissenschaft (2016) die Entwicklung von Diskursbegriff und Diskursanalyse. Diaz-Bone untersucht in seiner Abhandlung Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der Bourdieu’schen Distinktionstheorie (2010) Theorien des Diskurses.

1. Theoretische und methodische Grundlagen

Für die Konzeptualisierung des Diskursbegriffs für diese Untersuchung werden zunächst Rezeptionen des Foucault’schen Diskursbegriffs vorgestellt, die für den hier verhandelten Gegenstand Voguing sinnvoll sind. Diese Auswahl hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern erfolgt nach dem Kriterium der Fruchtbarmachung für das behandelte Forschungsgebiet Voguing. Ausgehend von Foucaults Überlegungen wird das in dieser Arbeit zugrunde gelegte Verständnis einer Diskursanalyse dargestellt. Foucault generiert mit der Diskursanalyse nicht explizit eine Methode, sondern eine neue Art des Denkens, die der Erkenntnisgewinnung dient. Angenommen wird eine diskursive Produktivität, bei der »Methode und Gegenstand in einer engen Wechselbeziehung zueinander« (Hanke, Seier 2000: 97) stehen. Die Diskursanalyse gleicht folglich einem Denkvorgang, der ein Denksystem generiert. Foucault meint: »Mir scheint, daß die historische Analyse des wissenschaftlichen Diskurses letzten Endes Gegenstand nicht einer Theorie des wissenden Subjekts, sondern vielmehr einer Theorie diskursiver Praxis ist« (2015b: 15). Diese, so der Sozialwissenschaftler Rainer Diaz-Bone im Anschluss an Foucault, »formiert das Wissen, sie gestaltet dessen Ordnung« (Diaz-Bone 2010: 93). Für Foucault ist die diskursive Praxis »eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 2015a: 74). Der Diskurs bringt folglich die Gegenstände selbst hervor. Diese bestehen immer noch aus Zeichen, aber »sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen« (2015a: 74). Analysiert man Diskurse, geht es um keine bloße Beschreibung, sondern um ein »Mehr«: »Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben« (2015a: 74, Herv. i.O.). Dabei geht es nicht darum, das System einer bloßen Grammatik herauszuschälen. Die Foucault’sche Diskurstheorie lässt sich von einer linguistischen Diskurstheorie abgrenzen. Die Zeichen sind nicht einfach auf die Sprache und die mittels der Sprache bezeichneten Dinge zurückführbar, sondern müssen vielmehr von anderen Äußerungsmodalitäten abgeleitet werden. Mittels folgender Frage kann die Modalität einer Aussage gefunden werden: »Wer spricht?« (Foucault 2015a: 75). Die Frage zielt auf die Offenlegung von Diskursproduzenten, von institutionellen Plätzen, von denen die Rede ausgeht und von Subjektpositionen. Der von Foucault geprägte Begriff »Äußerungsmodalitäten« (2015a: 75) kann dahin gehend verstanden werden, dass es sich bei Aussagen um heterogene begriffliche Architekturen handelt, die die Verstreuung markieren: Aussagen, die nicht der gleichen diskursiven Ordnung angehören, Aussagen, die einen einzigen oder mehrere Gegenstände haben, Aussagen, die in Beziehung zueinander gesetzt werden können oder die ein System von kohärenten Begriffen bestimmen (2015a: 48‒53). Aussagen befinden sich in einer »Diskontinuität, die

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Voguing on Stage

sie von allen Formen befreit« (2015a: 115), sie haben keine »strukturellen Einheitskriterien« (2015a: 126) und sie sind »keine Einheit« (ebd.), sondern vielmehr »eine Funktion« (ebd.), die es hinsichtlich »ihrer Auswirkung, in ihren Bedingungen, die sie und das Feld, in dem sie sich bemerkbar macht« (2015a: 127), zu bestimmen gilt. Foucault bezeichnet die Materialität einer Aussage als ein »paradoxes Objekt« (2015a: 153), das »die Menschen produzieren, handhaben, benutzen, transformieren, tauschen, kombinieren, zerlegen und wieder zusammensetzen, eventuell zerstören« (ebd.). Aussagen erscheinen als Praxis in »Übertragungen« (ebd.), »Modifikationen« (ebd.), »Operationen« (ebd.) und »Strategien« (ebd.). Demnach ist für die Materialität von Aussagen die Aktivität zentral. Der diskursive Umgang mit Aussagen und Materialien zeigt sich als zentrales Moment der Foucault’schen Diskurstheorie. Aus diesen Überlegungen speist sich das für diese Arbeit zugrunde gelegte Diskursverständnis: Diskurse gehen über bloße Beschreibungen hinaus. Sie werden im Modus einer diskursiven Praxis erzeugt. Dazu werden verstreute Aussagen handhabbar gemacht und in Beziehung zueinander gesetzt. Zentral hierfür sind die Sprecherpositionen, die vielfältige Diskurse produzieren.

1.4.2

Diskursive Praktiken und methodische Zugänge

Dieser Teil dient der Darstellung des methodischen Bezugsrahmens der vorliegenden Forschung. Die Reihenfolge der diskursiven Praktiken und methodischen Zugangsweisen folgt dem chronologischen Aufbau dieser Arbeit.

1.4.2.1

Der Begriff Archiv als Instrument

Im Kapitel 2 ›Voguing und sein Archiv‹ wird im Sinne des Foucault’schen Archivbegriffs der Gegenstand Voguing gerahmt. Dazu werden unterschiedliche Materialien herangezogen, um Voguing als soziokulturelle Praxis historisch zu verorten. Das verwendete Material besteht aus wissenschaftlichen Abhandlungen, Filmanalysen, ikonografischen Quellen, journalistischen Texten und einer tanzpraktischen, historischen Betrachtungsweise. Diese Materialien stellen den Datenkorpus des Archivs dar. Um den Begriff Archiv im Sinne einer methodischen Zugangsweise nutzbar zu machen, ziehe ich Gedanken von Foucault, Bublitz, Angermüller und Diaz-Bone heran. Entschlüsselt man die Argumentationskette Foucaults, so kann als allgemeiner und weit gefasster Archivbegriff folgende Aussage dienen: »All diese Aussagensysteme (Ereignisse einerseits und Dinge andererseits) schlage ich vor, Archiv zu nennen« (Foucault 2015a: 186‒187, Herv. i.O.). Als Archiv bestimmt Foucault »nicht die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit [...] bewahrt hat [...]; sondern daß sie dank einem ganzen Spiel von Beziehungen erschienen sind, die die diskursive Ebene charakterisieren« (2015a:

1. Theoretische und methodische Grundlagen

187). Damit sind die Relationen zwischen den einzelnen Materialien, Dokumenten oder Aussagen gemeint. Diesem relationalen Verständnis des Archivbegriffs, das die Aussagensysteme miteinander in Verbindung bringt, ist ein praxeologisches Verständnis anheimgestellt: »Das Archiv ist [...] das, was den Aktualitätsmodus der Aussage als Sache definiert; es ist das System ihres Funktionierens« (Foucault 2015a: 188, Herv. i.O.). Archiv ist folglich kein bloßer Gedächtnisort, sondern ein Möglichkeitsort dessen, was gesagt werden kann. Allerdings in dem Sinne, dass »all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche [...] anhäufen« (2015a: 187), gleichwohl das Archiv in seiner Totalität nicht beschreibbar und in seiner Aktualität nicht zu umreißen ist (2015a: 189). Des Weiteren bestimmt Foucault das Archiv als das, »was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert« (2015a: 188, Herv. i.O.). Folgt man Foucault, so lässt sich das Archiv als System von Aussagen beschreiben. Dabei stehen die Aussagen über Ereignisse und Dinge miteinander in Beziehung. Allerdings gilt es, diese Relationen auf einer diskursiven Ebene aktuell herzustellen. Aussagen treten nicht willkürlich auf, sondern werden im Sinne Foucaults durch ihre Aussagbarkeit und ihr Funktionieren in einem System aktualisiert. Von Bublitz wird der Begriff Archiv, im Anschluss an Foucault, als ein kultureller Wissensvorrat konzipiert: »Die Rekonstruktion diskursiver Formationen erfolgt immer aus der Perspektivität eines Diskursraums, der durch das Archiv als ›historisches Apriori‹, also durch einen kulturellen Wissensvorrat, der der Diskursanalyse vorausgeht, begrenzt ist« (Bublitz 2006: 230, Herv. i.O.). Bublitz setzt dabei das Archiv mit einem kulturellen Wissensvorrat gleich, dessen diskursive Regeln das selbige konstruieren und rekonstruieren. Auch Johannes Angermüller meint, dass diese Wissensvorräte an historische Orte geknüpft sind. Archiv beziehe sich auf »die institutionellen Bedingungen eines Orts, die die Hervorbringung und Verbreitung des Diskurses regeln« (Angermüller 2001: 16). Das Erscheinen von Materialien, Aussagen und Diskursen unterliegt folglich den spezifischen Regeln einer historisch festgelegten Wissensbildung. Die analytische Perspektive aus dem Gegenwartsraum erlaubt nicht, einen Ursprung zu benennen. Historische Wissensorte können allerdings mittels der Diskursanalyse markiert werden. Damit geht eine veränderte Denkweise beim Betrachten von Traditionslinien einher, weil die Rekonstruktion der Vergangenheit nur Aussagen über Erscheinungsbedingungen und historische Wissensformen erlaubt. Bublitz meint: »Diskursanalyse markiert also historische Wissensorte und verschiebt diese« (Bublitz 2006: 238). Das Verhältnis von Archiv und Rekonstruktion lässt sich deshalb als offen und unabgeschlossen beschreiben: »Die rekonstruierende Konstruktion von Diskursen erfolgt im ›Element des Archivs‹« (2006: 239). Der Begriff Archiv impliziert im Anschluss an Foucault nicht die bloße Ansammlung von Wissensbeständen, sondern bezeichnet »das zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt in einer Gesellschaft reprä-

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Voguing on Stage

sentierte ›Gesetz dessen, was (gedacht oder) gesagt werden kann‹ [...]11 , und damit ein ganzes ›Spiel von Bezeichnungen [...], die die diskursive Ebene charakterisieren‹ [...]12 , also ein komplexes Bündel der Beziehungen von Wissensformen, Denkweisen, Kenntnissen, Institutionen und Praktiken [...]13 « (Bublitz 1999: 33‒34). Wissen unterliegt folglich zeitgebundenen Perspektiven und damaligen Problematisierungsweisen. Wissensordnungen entstehen aus einem epochal geprägten Wissensvorrat. Insofern stehen die Theorien in Beziehung mit dem spezifisch strukturierten Wissen einer Gesellschaft. Bublitz schreibt: »Theorie, insbesondere Gesellschaftstheorie, befindet sich immer in einer spezifischen Beziehung zur Gesellschaft, also zu dem, was sie analysiert; d.h. sie steht in einer spezifischen Beziehung zum Strukturvorrat gesellschaftlicher Denkweisen und Wissensstrukturen« (1999: 16). Demnach legt der Umgang mit dem Archiv, der sich im Modus der Gegenwärtigkeit innerhalb eines bestimmten historischen Kontextes und einer spezifischen Forscherperspektive vollzieht, Konstruktionen von historischen Wahrheiten offen. Erkenntnisse sind somit Bestandteil einer gesellschaftlichen Denkweise und der vorhergegangenen gesellschaftlichen Praxis. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Logiken des Archivmaterials zu erfassen, um die Denkweisen, die das diskursive Geschehen bestimmen, zu identifizieren. Auch Diaz-Bone beschreibt das Problem von historisch geprägten Denkweisen und Wissensbeständen sowie Wissensordnungen. Die Foucault’sche Diskurstheorie sei »durch eine theoretische Verschiebung von der Epistemologie zur Theorie diskursiver Praxis gekennzeichnet« (Diaz-Bone 2010: 75). Diaz-Bone argumentiert: »Foucault hat mit seinen wissenssoziologischen Arbeiten im Bereich der sich herausbildenden Wissenschaften einen Weg gewiesen, wie die Epistemologie zur Disziplin der rekonstruktiven Analyse empirisch vorfindbarer, kollektiver, größtenteils unbewusster Denkstrukturen werden kann« (2010: 76). Er konstatiert eine Verschiebung von der Epistemologie hin zur diskursiven Praxis, sodass im Zentrum der Analysen Rekonstruktionen stehen, deren Denkstrukturen es zu identifizieren gelte. Daraus leite ich ab, dass historische Beschreibungen und Betrachtungen hinsichtlich ihres Zustandekommens analysiert werden müssen, um dann die rekonstruierten Betrachtungsweisen mit heutigen Sichtweisen in Verbindung zu bringen. Die Folge davon ist, dass sich Beschreibungen vervielfachen und transformieren (Foucault 2015a: 11). Daraus resultiert Foucaults »kritische Unruhe« (2015a: 14)

11 12 13

Bublitz zitiert hier Foucault 1973: 187 (1999: 34), Archäologie des Wissens. Bublitz zitiert hier Foucault 1973: 187 (1999: 34), Archäologie des Wissens. Bublitz bemerkt hier in einer Fußnote, »daß Diskurse nicht auf Sprache, Rede- und Denkweisen reduziert werden (können), sondern daß es sich dabei immer um Denk- und Redeweisen als komplexe Praxis handelt, die das System der Aussagbarkeit von Aussagen und als solches historisch-gesellschaftliche Möglichkeitsbedingungen von Wissen, Sagen und Tun definiert« (Bublitz 1999: 34).

1. Theoretische und methodische Grundlagen

gegenüber der »Rekonstruktion der Vergangenheit« (ebd.). Das von ihm erwähnte Problem der Transformation liegt darin, dass man Begriffe finden muss, die das Denken der Diskontinuität, des Bruchs, der Schwelle, des Einschnitts und des Wechsels gestatten (2015a: 13). Foucault führt das Problem der Transformation, der Ausformung von Begriffen und des Zustandekommens dieser folgendermaßen aus: »Diese Gesetze des Aufbaus, die für sich selbst nie formuliert worden sind, sondern nur in weit auseinanderklaffenden Theorien, Begriffen und Untersuchungsobjekten zu finden sind, habe ich zu enthüllen versucht, indem ich als den für sie spezifischen Ort eine Ebene isolierte, die ich, vielleicht zu willkürlich, die archäologische genannt habe.« (Foucault 2015b: 12) Foucault plädiert dafür, dass die den Begriffen inhärenten Konzepte, deren Aufbau nicht offensichtlich ist, freigelegt werden müssen, da sie unterschiedlichen historischen Theorien unterliegen. Diaz-Bone problematisiert diese zeitspezifische Dimension folgendermaßen: »Die Charakterisierung der Analyse als einer ›Archäologie‹ bewahrt einmal diese Zeitdimension. Zum anderen weist Foucault damit aus, dass die Episteme das für den Diskurs gegenwärtig Vergessene ist, dass sie die zeitgleich unterliegenden kulturellen Fundamente der Diskurse einer Epoche darstellt« (Diaz-Bone 2010: 79‒80). Nach Diaz-Bone zielen Foucaults Auseinandersetzungen nicht auf die Rekonstruktion einer Epoche, sondern auf das Enthüllen unterschiedlicher Wissensordnungen und Wahrheitskonstruktionen, denen Begriffe und Theorien gehorchen. Diese Betrachtungsweise bringt Probleme mit sich, die Foucault benennt: das Problem der Veränderung, das Problem der Kausalität und das Problem des Subjekts. Das Problem der Veränderung zielt zum einen auf die Veränderungen, die zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Disziplinen auftraten (Foucault 2015b:12), und zum anderen auf die Veränderung, die auf der Ansicht beruht, dass Entdeckungen keinem Kollektivgeist zuzuschreiben, sondern in ihrer Spezifität zu erfassen sind und als Kombination von Transformationen beschrieben werden sollten (Foucault 2015a: 13). Das Problem der Kausalität betrifft das Erscheinen neuer Begriffe. Foucault fragt: »Warum erschien dieser neue Begriff? Woher kam diese oder jene Theorie?« (Foucault 2015b: 13). Diese Problemformulierungen rücken wissenschaftliche Veränderungen in den Fokus. Folgt man Foucault, so unterliegen Begriffsverschiebungen, -erweiterungen und -verengungen historischen Wissens- und Denkstrukturen. Begriffe sind folglich stets Überschreibungsprozessen ausgesetzt. Auch Bublitz erkennt den historischen Denkrahmen an, der die Ordnung der Dinge bestimmt, und meint: »Ordnung erscheint so als unbewusstes Ergebnis heterogener diskursiver Praktiken« (Bublitz 2003: 48). Ich schlage im Anschluss an Foucault vor, den Archivbegriff als forschungspraktisches Instrument einer diskursiven Praxis zu nutzen, um Aussagen und Dokumente über eine Kultur miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei erzeugt die diskursive Praxis Aussageformationen, die von unterschiedlichen Textsorten und

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Voguing on Stage

ikonografischen Quellen geprägt sind und deren Wissensstrukturen unterschiedlichen historischen Ordnungen unterliegen. Die Erkenntnisformen, die den Dokumenten zugrunde liegen und die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Abhandlungen sind dabei nicht mit den kulturellen Praktiken identisch. Das bedeutet, dass die herangezogenen Materialien einen Wissensvorrat darstellen, der Implikationen spezifischer Forschungsrichtungen in sich trägt. Diese sind an Institutionen eines Ortes und einer Zeit gebunden. Die Arbeit mit dem Voguing-Archiv bedeutet nicht nur das Zusammentragen von heterogenem Material, sondern auch dessen Aktualisierung und Rekonstruktion. Dabei zielt der Umgang mit Aussagen und Theorien zum Gegenstand Voguing nicht auf die Erschreibung einer Epoche, sondern auf die Problematisierung bestimmter Begriffe und Konzepte in ihrem soziokulturellen und historischen Kontext. Es geht folglich um die Rekonstruktion und Erschreibung einer historischen Folie, bestehend aus heterogenen Aussagen zu und über Voguing, geleitet von spezifischen Forschungsfragen. Ausgehend von den folgenden Fragen wird in Kapitel 2 der Wissensvorrat des Voguing-Archivs rekonstruiert: Welche Aussagen tauchen in den Materialien auf? Wie lassen sie sich zueinander in Beziehung setzen? Der Umgang mit dem Archiv ermöglicht die Rahmung des Gegenstands Voguing, der durch die diskursive Praxis bestimmt wird. So wird durch die Etablierung eines Aussagensystems eine Kontextualisierung des Forschungsgegenstands Voguing vorgenommen. Das historische Material lässt dabei wiederum eine historische Folie erscheinen, die von einem bestimmten Reden über Voguing geordnet wird.

1.4.2.2

Die Expert*inneninterviews

Die Analyse der Expert*inneninterviews wird hier nur skizziert; eine ausführliche Darstellung findet sich in Kapitel 3. Die Analyse erfolgt eingebettet in die Disziplin der Wissenssoziologie in Form einer Diskursanalyse. Diaz-Bone verweist darauf, dass die Diskursanalyse insbesondere in der Soziologie aufgegriffen »und heute zum Kanon des etablierten soziologischen Theorienbestands hinzugerechnet [wird]. [...] Diskurse sind vielmehr als Formen von strukturierter und strukturierender Praxis bestimmt, so dass der Begriff der diskursiven Praxis an die Stelle des Begriffs Diskurs tritt.« (Diaz-Bone 2010: 71, Herv. i.O.) Diaz-Bone bestimmt die forschungspraktischen Verfahren als die spezifische Eigenschaft eines Diskurses. Der Soziologe Keller verweist in Anlehnung auf Foucault darauf, dass »Diskurse geregelte Praktiken der Deutungsproduktion und Wirklichkeitskonstitution sind« (Keller 2006: 125). Die soziale Konstruktion von Bedeutungs- und Handlungswissen umreiße die diskursive Praxis. Keller begreift die Diskursanalyse als sozialwissenschaftliches Verfahren der Rekonstruktion gesellschaftlicher Regelhaftigkeiten: »Foucaults Diskursbegriff zeichnet sich durch den Versuch aus, Inhalte

1. Theoretische und methodische Grundlagen

(Wissen) und Praktiken (Handlungsweisen) systematisch miteinander zu verkoppeln« (2006: 125). Die Rekonstruktion gesellschaftlicher Regelhaftigkeiten und eine systematische Verkopplung von Wissen und Praktiken führen in der Analyse von Interviews dazu, soziale Wirklichkeiten, Wissensbestände und Deutungsmuster offenzulegen. Die Deutungsmusteranalyse verstehe ich im Anschluss an Keller als forschungspraktisches Verfahren der Diskursanalyse.

1.4.2.3

Diskursive Praktiken der Tanz- und Modewissenschaft

Die den Analysen in Kapitel 4 zugrunde gelegten Voguing-Aufführungen sind von der spezifischen Eigenart der Voguing-Kultur und des Voguing-Tanzes, nämlich der Verbindung zwischen Mode und Tanz geprägt. Dieser Korrelation folgend, werden tanz- und modewissenschaftliche Theorien und Begriffe aufgegriffen und einander gegenübergestellt. Um ein Diskursgeflecht dieser Disziplinen zu etablieren, verwende ich den »Diskursbegriff als ›Netzmetapher‹« (2006: 244) von Bublitz, der die einzelnen Diskurselemente miteinander in Beziehung setzt, obwohl sie aus heterogenen Elementen bestehen (ebd.). Mit der Vernetzung der unterschiedlichen Disziplinen strebe ich eine diskursive Erfassung und begriffliche Bestimmung von Voguing-Performances an. Aussagen der Tanzwissenschaftlerin Constanze Schellow werden herangezogen, um den Blick auf eine diskursanalytische Tanzforschung zu werfen. Methodische Zugangsweisen der Modewissenschaft werden angeschlossen. Ausgehend von den Überlegungen Schellows wird eine diskursanalytische Tanzforschung bestimmt. In ihrem Buch Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ›Nicht‹ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft (Schellow 2016) beschäftigt sie sich mit dem tanzwissenschaftlichen Zugriff auf den Tanz. Dabei zielt sie nicht auf den Entwurf eines Modells wissenschaftlicher Tanzforschung, sondern setzt ein Nachdenken über den Diskursbegriff in der Tanzwissenschaft in Gang (2016: 43). In ihrer Untersuchung weist sie nach, dass der Begriff Diskurs in tanzwissenschaftlichen Verwendungsweisen häufig unbestimmbar bleibt (Schellow 2016: 41). Der von Schellow konstruierte Begriff »Diskurs-Choreographie« (2016: 39, Herv. i.O.) bestimmt dagegen eine spezifische Lesart: »Der Begriff Diskurs-Choreographie bündelt die zu differenzierenden Ebenen, auf denen Diskursivität und Choreographie in ein Verhältnis zueinander treten. Dabei steht der Diskurs gerade nicht, mit Theoretisierung und Reflexivität gleichgesetzt, in Opposition zu Tanz. Vielmehr zeugt die Präferenz, die ChoreographInnen [...] dem Begriff ›Choreographie‹ gegenüber dem Begriff ›Tanz‹ einräumen, davon, dass die angestrebte Befreiung von einer mit Kategorien wie Gesetz, Vorschrift, Disziplinierung belegten Institution Choreographie sich in ein neues Interesse für deren spezifische Produktivität verwandelt hat. Dennoch gilt [...] da-

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Voguing on Stage

bei die disziplinäre Macht der Tanzwissenschaft unbedingt mitzudenken.« (Schellow 2016: 39, Herv. i.O.) Schellows kritischer Blick auf die diskursanalytische Tanzwissenschaft stellt das Verhältnis von Choreografie und Diskurs ins Zentrum ihrer Betrachtungen. Sie fokussiert den Begriff Choreografie und bestimmt ihn als relationalen Begriff, der die Kunstpraxis Tanz mit dem Diskurs über die Kunstpraxis vereint. Schellow plädiert für eine tanzwissenschaftliche Selbstreflexivität, in der es gilt, die Macht, die von der Disziplin Tanzwissenschaft ausgeht, mitzudenken. Eine diskursanalytische Tanzforschung erzeugt theoretisch eine Wirklichkeitskonstruktion, die eine neue Ästhetik erschafft (2016: 34). Schellow meint: »Sie er-schreibt vielmehr diese Ästhetik und schreibt bestimmte Wahrnehmungsweisen und -möglichkeiten von Tanz vor« (2016: 34, Herv. i.O.). Ihre kritische Haltung gegenüber der Tanzforschung zeigt sich in einer Reflexivität seitens der Tanzforschenden, die in eine Offenlegung ihres methodischen Vorgehens mündet. Sie gibt kritisch zu verstehen, dass das, was in der Tanzwissenschaft Diskurs genannt wird, einer oft ungeklärten Vieldeutigkeit unterliegt (2016: 47‒49). Das Verhältnis von Tanz und Diskurs bestimmt sie folgendermaßen: »Hervorgehoben und thematisiert wird im Tanz-Diskurs der Umstand, dass der Begriff ein je unterschiedliches Ins-Verhältnis-Setzen von Tanz und Diskurs bzw. von Konzepten von ›Tanz‹ und ›Diskurs‹ impliziert – und in Relation setzen kann man nur über einen Zwischenraum der Differenzierung hinweg. Die mit der Anwendung des zusammengesetzten Begriffs auf ein bestimmtes Phänomen – sei es eine Choreographie oder eine tanzwissenschaftliche Diskussion – vorgenommene Aussage ist von den Gewichtungen im sprachlichen Akt des Herstellens der Relation zwischen Tanz und Diskurs abhängig, sei dies eine Äquivalenz, eine Opposition oder eine Fusion.« (Schellow 2016: 49, Herv. i.O.) Schellow geht davon aus, dass es sich bei Tanz und Diskurs nicht um den gleichen Gegenstand, sondern um eine Relation handelt, die in einem sprachlichen Akt hergestellt wird. Der von Schellow geprägte Begriff »Tanz-Diskurs« (ebd., Herv. i.O.) erlaubt die unterschiedliche Gewichtung des In-Beziehung-Setzens von tänzerischen Arbeiten und von tanzwissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Im sprachlichen Akt wird letztendlich das Verhältnis zwischen Tanz und Diskurs bestimmt. Dabei besteht ein Unterschied zwischen dem »Diskurs über Tanz« (2016: 50), der mögliche Deutungen der Tanzwissenschaft identifizierbar macht, und dem »Diskurs des Tanzes« (ebd.), der Entwicklungen im Tanz körperlich praktisch verhandelt (ebd.). Im Anschluss an Foucault betrachtet Schellow den Diskurs als eine analytische Tätigkeit: »Den Diskurs als eine Praxis zu verstehen, heißt, diskursive Beziehungen [...] zu untersuchen« (2016: 63). Das bedeutet, dass die Materialität von Aussagen für eine tanzwissenschaftliche Diskursanalyse bezeichnend ist (2016: 67). Schellow

1. Theoretische und methodische Grundlagen

geht davon aus, dass der Tanzdiskurs nicht ein Sprechen über Tanz, sondern eine tanzwissenschaftliche Aussage ist (2016: 68). Ziel einer tanzwissenschaftlichen Diskursforschung ist demnach das Betrachten der Bedingungen, »unter denen ein bestimmter Gegenstand sich als Gegenstand tanzwissenschaftlicher Forschung zu einem bestimmten Moment konstituieren kann« (2016: 70). Übertragen auf den hier verhandelten Forschungsgegenstand heißt das, dass die gemachten Aussagen zu und über die untersuchten Voguing-Aufführungen stets als diskursive Praxis, die wissenschaftliche Aussagen generiert, zu betrachten ist. Tanzwissenschaftliche Aussagen, die von choreografischen Arbeiten ausgehend formuliert werden, unterliegen also den Bedingungen der eigenen Disziplin und bringen den Gegenstand selbst hervor. Schellows Verdienst gründet in der Aufarbeitung tanzwissenschaftlicher Diskurse, der Betrachtung von Tanzwissenschaft als Diskursanalyse und ihrem initialen Denkanstoß, der es erlaubt, mit dem von ihr geprägten Begriff »DiskursChoreographie« (2016: 39, Herv. i.O.) sowohl Konzepte von Choreografie als auch von Diskurs und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen und auszuloten. Dabei wird »›Choreographie‹ [...] als eine (An-)Ordnung verstanden, die eine Brücke zum ›Diskurs‹ schlägt« (2016: 259). Und: »›Diskurs‹ wurde [...] vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit der Theorie Foucaults als eigenmächtiges und eigengesetzliches Artikulationsgeschehen betrachtet« (2016: 259‒260). Schellow zeigt, wie sich eine tänzerische und eine tanzwissenschaftliche Praxis gegenseitig beeinflussen und Anschlussmöglichkeiten aufgreifen können. Choreografische Anordnungen können diskursive Aussagesysteme generieren sowie sich tanzwissenschaftliche Aussagen auf choreografische Prozesse auszuwirken vermögen. Dabei gilt es, die Praktiken der Produktivität, sowohl aufseiten der Choreograf*innen als auch aufseiten der Forscher*innen, kritisch zu betrachten. Dies erfordert, die Bedingungen, die einen choreografischen oder tanzwissenschaftlichen Gegenstand hervorbringen, darzulegen. In einem zweiten Schritt wird die Betrachtungsweise der Tanzwissenschaft den methodischen Herangehensweisen der Modewissenschaft gegenübergestellt. Eine Darstellung, wie sie von Schellow innerhalb der Tanzforschung unternommen wird, um die diskursiven Herangehensweisen und das Verhältnis von Tanz und Tanzwissenschaft widerzuspiegeln, steht in der Modewissenschaft aus. Schellows Aufforderung, die Bedeutung von Diskurs und Choreografie für die Tanzforschung und den Tanz nicht aus übernommenen Bestimmungen herzuleiten (2016: 259), spiegelt sich in der Abhandlung der Kulturwissenschaftlerin Gabriele Mentges »Die Angst der Forscher vor der Mode oder das Dilemma einer Modeforschung im deutschsprachigen Raum« (Mentges 2015) für das Verhältnis von Mode und Modewissenschaften wider. Sie schreibt:

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Voguing on Stage

»Wie dieser Zusammenhang zwischen diesen Spezialdiskursen der Wissenschaften durch die Mode geschaffen wird, wie und wo die disziplinären Trennungslinien verlaufen und wie Mode als Bild, Metapher, Allegorie oder Symbol die Disziplinen durchzieht, darüber könnte eine konsequent diskursanalytische Annäherung Aufklärung verschaffen. [...]. Eine eingehende Klärung dieser Fragen und Sachverhalte wäre für die Zukunft ein aufschlussreiches Forschungsanliegen.« (Mentges 2015: 44) Als noch ausstehend betrachtet sie die Darstellung von wissenschaftlichen Zugangsweisen, die sie entlang einer linearen geschichtlichen Einbettung, ausgehend vom 18. Jahrhundert vornimmt, um die Modewissenschaft als einen »Bestandteil vieler heterogener wissenschaftlicher Diskurse« (2015: 32) zu bestimmen. Mentges konstatiert, dass Argumentationsmuster von Wandel in der Modewissenschaft dominieren (2015: 33) und »verschiedene Schwerpunkte der wissenschaftlichen Reden über Mode« (2015: 35) identifiziert werden können. Daraufhin unternimmt sie den Versuch, historische Dimensionen, den Typus von Wissensakteuren und die Diskurse der Modewissenschaft zu befragen und zu bestimmen und kommt zu folgendem Ergebnis: »Besonders auffällig zeigt sich die Bedeutung der Mode als Wissenschaft bei der Entwicklung der verschiedenen Kostümgeschichten, die sich seit der Frühen Neuzeit als Genre der Kleidungsforschung verfestigen. Sie bilden eine Brücke zwischen einer sich entwickelnden Historiographie und einer kunstgeschichtlichen Betrachtungsform.« (Mentges 2015: 39) Zentral für diese modewissenschaftliche Untersuchung scheint der Wandel. Trotz der noch ausstehenden methodischen Verortung der Modewissenschaften konstatiert Mentges eine Vielfalt an Annäherungsmöglichkeiten: »Gleichzeitig lassen die verschiedenen disziplinären Annäherungen einen Reichtum an Einsichten, Methoden und theoretischem Erkenntnisgewinn über Kleidung/Mode erkennen, der sich nicht auf einen einzigen modewissenschaftlichen Nenner bringen lässt« (2015: 43). Auch in ihrem Text »Mode als Objekt der Wissenschaften und der Wissensgeschichte« (Mentges 2015b) beschäftigt sie sich mit der Verankerung von Mode im wissenschaftlichen Forschungsfeld. In ähnlicher Weise folgt sie Spuren modewissenschaftlicher Anordnungen. Dabei identifiziert sie zwei Gruppen einer wissenschaftlichen Annäherung: »Diese möchte ich auf der einen Seite als Fächer mit starken [sic] Objektbezug bezeichnen wie (Europäische) Ethnologie/Kulturanthropologie, Kunstgeschichte und Archäologie, auf der anderen Seite gruppieren sich Fächer wie Literaturwissenschaften, Geschichte, Soziologie [sic] Philosophie usw., die entweder ausgesprochen textorientiert oder strukturorientiert arbeiten [...].« (Mentges 2015b: 77)

1. Theoretische und methodische Grundlagen

Neben der Bandbreite der unterschiedlichen Disziplinen, die Aspekte der Mode wissenschaftlich verhandeln, gibt es auch eine »häufig fehlende begriffliche Klarheit, was den Begriff der Mode anbelangt« (2015b: 80). Problematisch werden allgemeine Annäherungen für Mentges dann, »wenn sie Mode theoretisch fundieren wollen, ohne Bezug zu einem klar umrissenen empirischen Feld und einem daraus abgeleiteten Moderepertoire, seien es historische Quellen, moderne Kleidungspraktiken oder literarisches Reden über Kleidung« (2015b: 81). Die Modewissenschaftlerin Barbara Schmelzer-Ziringer verweist auf die Möglichkeit einer diskursanalytischen Zugangsweise, um Wissensbestände aus anderen Disziplinen in eine kulturwissenschaftliche Betrachtung von Mode einfließen zu lassen (SchmelzerZiringer 2015: 15). Auch sie nennt ein breites Feld, in dem eine wissenschaftliche Aufbereitung des Gegenstandes Mode erfolgt (2015: 16‒17). Die methodischen Auseinandersetzungen der Tanz- und Modewissenschaft werden herangezogen, um die Zugangsmöglichkeiten der unterschiedlichen Disziplinen aufzuzeigen und um eine eigene methodische Grundannahme generieren zu können, die sowohl tanzwissenschaftliche als auch modewissenschaftliche Aussagen ermöglicht. Im Forschungsgegenstand Voguing selbst offenbart sich eine enge Verzahnung von Tanz und Mode: Voguing kann als vestimentäre Performance betrachtet werden. Analogien zu Modenschauen zeigen sich in der Choreografie des Voguing. Das tänzerische Bewegungsmaterial des Voguing ist die Pose aus der Modewelt, die auf einem Catwalk dargestellt wird. Der Umgang mit Kostümen dient dazu, einen spezifischen Körper zu generieren. Die Verbindung von Tanz und Mode spiegelt sich in den Voguing-Aufführungen wider und kann meines Erachtens in eine Verzahnung von tanzwissenschaftlichen und modewissenschaftlichen Aussagen münden. Diese werden dann für die Analyse von Voguing-Aufführungen genutzt. Aus der Mode- und der Tanzwissenschaft werden Theoriebildungen und Begrifflichkeiten herausgegriffen, die die Performance ins Zentrum ihrer Betrachtungen rücken. Damit möchte ich deutlich machen, dass in beiden Disziplinen die Hervorbringungsprozesse von zentraler Bedeutung sind. Für meine Argumentation ziehe ich die Untersuchungen von Alicia Kühl, Gertrud Lehnert, Katja Stromberg, Gabriele Brandstetter und Erika Fischer-Lichte heran. Kühl verweist in ihrer Untersuchung Modenschauen. Die Behauptung des Neuen in der Mode (Kühl 2015) auf häufig verwendete Begrifflichkeiten, Wissensakteure und Theoriebildungen innerhalb der Modewissenschaft. Sie filtert Konzepte heraus, um ihr Verständnis von Mode darzulegen (2015: 21). Modenschauen betrachtet sie als performatives Ereignis (2015: 45) und erforscht ähnlich wie die Tanzwissenschaft mit Blick auf eine Aufführung14 den Prozess der Hervorbringung: »Der fruchtbarste Zugang erscheint 14

Kühl merkt an, dass Fischer-Lichte sehr wohl zwischen Inszenierung und Aufführung (unplanbar und unwiederholbar) unterscheidet, wohingegen die Modewissenschaftlerin Leh-

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Voguing on Stage

derjenige zu sein, nach einer Erklärung zu suchen, wie Modenschauen Neues hervorbringen können, da das Neue das ist, was Kleidung als Mode etikettiert. Die Modenschau ist der Ort, an dem diese Etikettierung stattfindet« (2015: 52). Ausgehend von der Betrachtung unterschiedlicher Designer*innen und deren Modenschauen und im Anschluss an die theoretischen Ausführungen von Morris und MeyersKingsley (2001)15 postuliert Kühl: »Interessant ist der performative Charakter, der jeder künstlerischen Performance eigen ist: Das Kunstwerk entsteht erst im Akt und/oder Interaktion« (Kühl 2015: 65). Dabei wird der Aufführung die Eigenschaft eines Herstellungsprozesses zuteil. Kühl spürt den Zugängen über die Textilien und dem Verhältnis von Mode in Film und Literatur nach, um herauszufinden, »inwiefern Mode Bewegung zulässt, erleichtert oder behindert und inwiefern das bewegte Kleid zur Ausführung der Tätigkeit auf ästhetische, informative oder kommunikative Weise beiträgt« (Kühl 2015: 78). Zentral scheint dabei der Umgang mit dem Textil, das sich im Akt der Aufführung als textiles Kunstwerk zeigt. Um sich selbst im Forschungsfeld zu positionieren, nutzt Kühl die zentralen Begrifflichkeiten »Performativität, Inszenierung, Aufführung« (2015: 93). Diese fasst sie im Anschluss an die Theaterwissenschaftlerin Fischer-Lichte und die Modewissenschaftlerin Lehnert zu einer Begriffsbestimmung zusammen und folgt dabei folgender Argumentationskette: Ausgehend vom performative turn in den 1990er Jahren wird Kultur in den Kulturwissenschaften nicht mehr als Text, sondern als Performance verstanden, deren Akte Bedeutung hervorbringen (2015: 93‒95). Kühl bezieht sich dabei auf den Performativitätsbegriff von Fischer-Lichte, dem zufolge die leibliche Ko-Präsenz von Schauspieler*innen und Zuschauer*innen etwas zur Erscheinung bringen (ebd.). In Anlehnung an Fischer-Lichte meint Kühl: »Die Inszenierung sei Inbegriff performativen Handelns« (2015: 94). Davon ausgehend bestimmt sie das Wesen der Modenschauen: »Sie oszillieren zwischen Planung und Emergenz, sind aufgrund ihrer kurzen Dauer ephemer und performativ in dem Sinne, dass in ihnen etwas Neues – das Neue der Mode – hervorgebracht wird« (2015: 95). Im Mittelpunkt ihrer Theoriebildung steht der Prozess der Hervorbringung. Lehnert verbindet die Theorien des Performativen mit der Modewissenschaft. Die Aspekte Räumlichkeit von Mode, Inszenierung von Mode und das Verhältnis von Körper und Kleid bestimmen, was Mode ist. Lehnert betrachtet den menschlichen Körper als räumliches Wesen und geht davon aus, dass Mode auf dem Wechselspiel zwischen Kleid, Körper und Raum gründet (Lehnert 2015b: 233). Das räumliche Potenzial, das sie Kleidern zuschreibt, zirkuliert zwischen Techniken des Er-

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nert die beiden Begriffe oft analog verwendet (Kühl 2015: 95). In der Theater- und Tanzwissenschaft wird zwischen Inszenierung und Aufführung im Sinne von Fischer-Lichte unterschieden. Catherine Morris und Dara Meyers-Kingsley (2001) beleuchten die Arbeiten von Robert Kushner aus den Jahren 1970 bis 1976 unter dem Aspekt der gegenseitigen Beeinflussung von Performance und Mode (Kühl 2015: 65).

1. Theoretische und methodische Grundlagen

weiterns, Vergrößerns, Verkleinerns oder sonstigen Methoden des Veränderns des Körpers (2015b: 233). Ausgehend von den Arbeiten japanischer Modedesigner*innen16 schreibt sie: »Die Kleider allein in ihrer Materialität sind noch keine vestimentären Plastiken. Vestimentäre Plastiken entstehen erst im Zusammenspiel von Kleidern mit Körpern, idealerweise in Bewegung. Ohne Körper bleiben sie Potential. Die vestimentäre Plastik ist mithin zu verstehen als eine besonders komplexe Realisierung des Modekörpers.« (Lehnert 2015b: 239) Nach Lehnert wird der »Modekörper« (ebd.) von bekleideten Körpern in Bewegung realisiert. Ihre argumentative Linie verläuft über das Kleid, den Körper und die Bewegung hin zu einem vollkommen neu erzeugten Körper. Er wird durch das vestimentäre Objekt in Raum und Zeit hergestellt. Sie schreibt: »Modekleidung verändert Körper, und sie bringt neue Körper hervor, die Modekörper, die weder nur Kleid noch nur TrägerIn sind« (2013: 7). Das Zusammenspiel von Körper und Kleid entsteht also in einem performativen Akt. Die Inszenierung von Kleidern an oder mit Körpern erweist sich als zentrales Postulat Lehnerts: »Mode – als spezifischer Umgang mit vestimentären Artefakten – fordert die Inszenierung von Kleidern durch Körper und von Körpern durch Kleider« (Lehnert 2013: 7). Zusammenfassend weise ich noch einmal darauf hin, dass die obige Darstellung dazu dient, den Begriff der Aufführung im Feld der Modewissenschaft nachzuzeichnen. Zentral in den Ausführungen von Kühl und Lehnert sind Prozesse des Sich-Ereignens. Sie bringen »das Neue [...] aus der Kontextualisierung der Mode durch die Modenschau« (Kühl 2015: 96) hervor oder sind »Modekörper« (Lehnert 2015b: 239), die als »eine Amalgamierung von Körper und Kleid« (2016: 19) zu verstehen sind. Ihre Gedanken fußen auf einem performativen Konzept, in dem der Moment einer Aufführung zentral ist. Daran möchte ich zentrale Aussagen der Tanzwissenschaft anschließen, die auch das Verhältnis von Körper, Kleid und Bewegung ausloten und dessen Zusammenspiel als einen performativen Akt betrachten. Katja Stromberg widmet sich in ihrer Untersuchung »Vom Tanzen der Kleider und Körper. Eine Kulturgeschichte des Tanzkleides« (Stromberg 2003) der Beziehung von Tanzkleid und Körper. Dieses Verhältnis beschreibt sie mittels vier Thesen: »Das Tanzkleid kann (1) den Körper negieren. [...] Durch die Wahl von Form und Material des Kleides kann (2) der tanzende Körper betont werden [...]. Das Tanzkleid kann (3) den Tanzkörper erweitern [...]. Das Tanzkleid kann (4) die Tänzerin/den Tänzer kostümieren« (2003: 12‒13). Stromberg charakterisiert diese wechselseitige Beziehung von Körper und Kleid unter Bezugnahme der Kategorie Bewegung, die »das Kleid [...] des 16

Rei Kawakubo (Comme des Garçons), Issey Miyake und Yohij Yamamoto sind Ausgangspunkt von Lehnerts Untersuchung (Lehnert 2015b: 237).

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Tanzes strukturiert« (2003: 15) und wie »der tanzende Körper wiederum die Beschaffenheit des Kleides bestimmt« (ebd.). Sie geht von einer engen Vernetzung von Körper und Kleid aus, dabei wird das Kleid zur bewegungsgenerierenden Medialität und der Körper strukturiert im Umgang mit dem Kleid die Choreografie. Brandstetter widmet sich in ihrem Artikel »Spiel der Falten. Inszeniertes Plissee bei Mariano Fortuny und Issey Miyake« (Brandstetter 1998) der Raumfigur Falte und deren Verwandlungspotenzial: »[Die Falte] verkörpert und inszeniert Verwandlung als doppelte Bewegung von Ein- und Ausfaltung« (1998: 166). Im Rekurs auf Gilles Deleuze (1996) betrachtet sie die Bewegungsstruktur und mit ihr einhergehend die Doppelrichtung der Falte, die das Darstellungsprinzip der Trennung von innen und außen ausmacht (Brandstetter 1998: 166). Die Wechselwirkung von Drapierung und Bewegtheit des Stoffes beschreibt sie wie folgt: »In diesem Spannungsfeld von Formieren und Löschen des Körpers in der Faltung bewegen sich die Modelle von ›Plissee‹ und Falten-Design in Kunst und Mode« (1998: 167). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die Einflussnahme des Kleides auf den Körper. In Anlehnung an Winckelmann (1968) diagnostiziert Brandstetter den Stoff, der den Körper im Faltenwurf durchscheinen lässt, und führt diesen Gedanken mit Herder (1892) weiter, indem sie das Paradox eines zugleich bekleideten und unbekleideten Körpers aufzeigt. Ihre Überlegungen verknüpft sie mit dem Tanz. Es folgen Beispiele von Isadora Duncan als Trägerin von Fortunys Roben (Brandstetter 1998: 173), in denen sie die Wirkung des Stoffes folgendermaßen beschreibt: »Vergleichbar der Sprache des Fächers oszilliert die Wirkung dieser Stoffflächen zwischen Skulptur und Kleid, zwischen theatralem Kostüm und individuellem Modell« (1998: 175). Die Zusammenarbeit des japanischen Modeschöpfers Issey Miyake und des Choreografen William Forsythe beim Stück The Loss of Small Detail (1991) veranlasst Brandstetter, die Beziehung zwischen Mode und Tanzkunst folgendermaßen zu charakterisieren: »Sie [die Kostüme] bilden vielmehr Umformungen der Gestalt; bizarre Überwachsungen, Neu-Konturierungen, manieristische Längungen und insektenähnliche Verpuppungen der Tänzerfiguren sind hier zu bestaunen: Transformationen des Körpers, die ihre plastische Wirkung durch die raffinierte und höchst komplexe Brechung der Falten-Richtungen erhalten, Knicke und Brüche des Faltenwurfs in Schrägen und Schwüngen, Dehnungen und Kontraktionen der Plissee-Spannung, die den Stoff in Zipfeln und Kämmen verwerfen und mit jeder Bewegung andere Raffungen und Kerbungen der Fältelung inszenieren.« (Brandstetter 1998: 182‒183) Von einem konkreten Beispiel des Zusammenwirkens von Modedesign und Choreografie ausgehend, beschreibt Brandstetter vielfältige Verwandlungsprozesse, die sich im Wechselspiel von Kleid und Körper ereignen. Sie konkludiert, dass Kostüme vielfache Transformationsprozesse des Körpers ermöglichen. Doch

1. Theoretische und methodische Grundlagen

nicht nur der Körper scheint mittels des Kostüms vervielfacht, sondern auch die Bewegung: »Diese hauchdünne Plissee-Architektur transportiert Bewegung in doppelter Weise: zum einen mit jener der Faltung inserierten Bewegungsenergie und Bewegungsrichtung; und zum anderen durch die federleichte Anpassung an jede Motion der Tänzer« (1998: 183). Das Verhältnis von Körper und Kostüm beschreibt Brandstetter als ein dynamisches und sich wechselseitig beeinflussendes: »Übertragung vom Design zur Kunst, vom Business des Laufstegs zur Bühne des Tanzes, vom ›catwalk‹ zum ›pas de chat‹« (1998: 185). Ihre Betrachtungsweise von Körper und Kleid fokussiert Übertragungsmechanismen, die sich vom Stoff auf den Körper ereignen und die vom Körper ausgehend das Stoffliche verändern. Ihre Überlegungen zum Grundprinzip der Falte lassen sich meines Erachtens auf die Beziehung von bewegten Körpern und Tanzkostüm, Tanzkleid, Kostüm, Kleidung oder Mode verallgemeinern: Eine wechselseitige Einflussnahme von Körper und Kleid setzt Transformationsprozesse in Gang. Die Relation zwischen Kleid und Körper wird im tänzerischen Ereignis gleichzeitig hergestellt und ausgelotet. Strombergs und Brandstetters Ausführungen, deren Perspektive eine tanzwissenschaftliche ist, zeigen Analogien zur Modewissenschaft respektive lassen sich Parallelen der Modewissenschaft in der Tanzwissenschaft wiederfinden. Die herangezogenen tanz- und modewissenschaftlichen Auseinandersetzungen fokussieren die Verbindung von Körper und Kleid in Bewegung. Gemein ist diesen Ansätzen ein performativer Zugang. In Handlungen verweisen Körper und Kleid aufeinander und bestimmen sich so gegenseitig. Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden Gedanken zum Konzept Performativität von Fischer-Lichte heranziehen. Ausgehend von der Betrachtung unterschiedlicher Performances begründet Fischer-Lichte die Ästhetik des Performativen (2004). Sie konstatiert eine Verschiebung vom Kunstwerk zum Ereignis (Fischer-Lichte 2004: 19). Über diese spezifische Prozesshaftigkeit kann dem Ereignis Bedeutung zugeschrieben werden, was durch die Akteur*innen und Zuschauer*innen geschieht. Die Körper werden dabei nicht als reine Bedeutungsträger begriffen, sondern in ihrem Materialstatus (2004: 49‒52), sodass »Bedeutungen, die in diesem Prozeß auftauchen, [...] allererst in ihm und durch ihn hervorgebracht« (2004: 53) werden.17 Die Beziehung von Akteur*innen und Zuschauer*innen, ihre leibliche Ko-Präsenz konstituiert eine Aufführung (2004: 47) und bringt Bedeutungen erst hervor. Fischer-Lichte meint: »Als Ereignisse [...] eröffnen die Aufführungen der verschiedenen Künste allen Beteiligten – d.h. Künstlern und Zuschauern – die Möglichkeit, in ihrem Verlauf Transformationen zu erfahren – sich zu verwandeln« (2004: 29). Der Transformationsprozess spiegelt sich im Wechsel vom Werk zum Ereignis, vom Zeichenstatus zum Materialstatus und vom Objekt zum Subjekt wider (2004: 30). Zentral wird die 17

Fischer-Lichte argumentiert hier im Anschluss an Max Herrmanns Das theatralische Raumerlebnis aus dem Jahre 1930 (2004: 52‒54 und 368).

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Aufführung in ihrer Gegenwärtigkeit, »ihrem dauernden Werden und Vergehen« (2004: 127). Diesem Konzept von Verkörperung liegt ein Verständnis zugrunde, »dem Körper eine vergleichbar paradigmatische Position zu verschaffen wie dem Text« (2004: 153).18 Ihr Konzept einer Ästhetik des Performativen formuliert Fischer-Lichte wie folgt: »Dieses Konzept von embodiment/Verkörperung ist, [...], auch für eine Ästhetik des Performativen zentral: Denn bei den performativen Akten, mit denen in Aufführungen Körperlichkeit hervorgebracht wird, handelt es sich stets um Prozesse der Verkörperung im Sinne dieses Konzeptes, und zwar ganz gleich, ob mit ihnen zugleich auch eine fiktive Figur hervorgebracht wird [...] oder nicht – wie häufig in der Aktions- und Performance-Kunst.« (Fischer-Lichte 2004: 154, Herv. i.O.) Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen (2004) unterstreicht die Hervorbringung der Bedeutungsangebote über das Körperliche, das sich erst im Akt der Performance materialisiert. Demnach sind die Verkörperungsprozesse für das Konzept des Performativen zentral.

1.4.2.4

Gender als performativer Akt

Butlers Überlegungen zur Kategorie Gender fließen in diese Untersuchung ein, um Voguing-Aufführungen als Gender Performances lesbar zu machen. Nach Butler wird die Geschlechterzugehörigkeit19 durch spezifische körperliche Akte konstruiert (Butler 2015c: 304). Sie geht davon aus, dass Geschlechteridentitäten keine stabilen Identitäten ausdrücken, sondern in performativen Akten erst hervorgebracht werden. Die Erzeugung von Identität beschreibt sie wie folgt: »Als performativer Vollzug ist die Geschlechterzugehörigkeit ein ›Akt‹ im weitesten Sinn, der die soziale Fiktion seiner eigenen psychologischen Innerlichkeit konstruiert« (2015c: 316). Da »der Körper eine Menge von Möglichkeiten ist« (2015c: 304) und »nicht bloß Materie ist, sondern ein fortgesetztes und unaufhörliches Materialisieren von Möglichkeiten« (ebd., Herv. i.O.), kann der wiederholte Vollzug als Reinszenierung oder als neue Erfahrung betrachtet werden (2015c: 312). Butlers Aussagen zur Kategorie Gender können meines Erachtens auf den theatralen Raum übertragen werden. Sie selbst betrachtet die Verknüpfung von theatralen und gesellschaftlichen Rollen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen

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19

Fischer-Lichte spricht hier zuerst mit Wittgenstein, wenn dieser über das leibliche In-derWelt-Sein der Schauspieler*innen nachdenkt, anschließend aus der Sicht von Thomas Csórdas, der die Erklärungsmetapher von Kultur als Text, unter Berufung auf Merleau-Ponty, der Verkörperung gegenüberstellt (Fischer-Lichte 2004: 152‒153). Ich folge hier unkritisch den Begriffen von Butler: Geschlechterzugehörigkeit, Geschlechteridentität und Gender. Eine Auseinandersetzung erfolgt in der Aufführungsanalyse ›Gender on Stage‹.

1. Theoretische und methodische Grundlagen

Repression: Während Geschlechterinszenierungen, die nicht dem heteronormativen System entsprechen, außerhalb eines theatralen Kontextes von strafenden Konventionen beherrscht werden, kann der Anblick auf der Bühne Applaus hervorrufen (2015c: 313‒314). Butlers Ansichten werden herangezogen, um die Verkörperung von Gender auf der Bühne als erweiterte Materialisierungsmöglichkeit zu betrachten. Im Anschluss an Butler gehe ich davon aus, dass auf der Bühne vielfältige Gender Performances inszeniert werden können. Die Bedingungen einer Verkörperung von Gender sind im Sinne Butlers durch »historische Konventionen sowohl konditioniert wie beschnitten« (2015c: 305). So setze »der geschlechtsspezifische Körper seine Rolle in einem kulturell beschränkten Körperraum um und inszeniert Interpretationen innerhalb der Grenzen bereits gegebener Anweisungen« (2015c: 313). Dabei bezieht sich Butler auch auf das System der erzwungenen Heterogenität, das sie als ein Konstrukt betrachtet, das im Körper reproduziert oder aufrechterhalten wird (2015c: 310). Ihre Aussagen zu Geschlechterinszenierungen lassen sich an die von Fischer-Lichte anschließen. Vereinendes Moment ist das Konzept der Performativität. Dieses Konzept findet im methodischen Teil der vorliegenden Arbeit seinen Eingang, da ich einem performativen Zugang folge und Ereignisse auf der Bühne als performative Akte betrachte, denen sich Bedeutungszuschreibungen beilegen lassen.

1.4.2.5

Zum Verhältnis von Performativität und Aufführung

Das Verhältnis von Performativität und Aufführung bestimmt Fischer-Lichte folgendermaßen: »Insofern die Wörter ›performance‹ und ›performative‹ gleichermaßen Ableitungen vom Verbum ›to perform‹ darstellen, erscheint dies auch einleuchtend: Performativität führt zu Aufführungen bzw. manifestiert und realisiert sich im Aufführungscharakter performativer Handlungen [...]. Insofern ist es durchaus folgerichtig, daß Aufführungen [...] geradezu als Inbegriff des Performativen erscheinen [...].« (Fischer-Lichte 2004: 41)20 Die Produktivität des Begriffs der Performativität ermöglicht es, von einer Betrachtung auszugehen, die sich nicht nur auf die Verschränkungen des Konzepts der Performativität bezieht, wie es den Wissenschaften von Tanz, Mode und Gender zugrunde liegt, sondern auf vielfache Verkörperungsprozesse während einer Aufführung. Damit meine ich, dass im Prozess der Herstellung von Körpern – wie etwa während einer Aufführung – gesellschaftlich geprägte Verkörperungen ästhetisch aufgeladen oder umgeformt und durch künstlerische Herangehensweisen befragt werden.

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Fischer-Lichte bezieht sich dabei auf die Aussagen von Austin und Butler (2004: 37‒41).

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Voguing on Stage

In dieser Arbeit werden die Begriffe Aufführung und Performance im Anschluss an Fischer-Lichte synonym verwendet. Aufführungen als Performances zu bestimmen, erfolgt im Anschluss an Gabriele Klein und Wolfgang Sting und ihrem Text »Performance als soziale und ästhetische Praxis« (Klein, Sting 2005). Ihre Begriffsrahmung ermöglicht es, Performances im Kontext ihres sozialen Feldes zu erfassen ‒ von sozialen Ritualen, kulturellen Praktiken, sozialen Feldern bis hin zu ästhetischen Kunstpraktiken. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Performances, dass sie erst in der Bezugnahme auf das Feld, in dem sie stattfinden, verstehbar werden (2005: 9). Performances zielen folglich auf »eine unmittelbar intendierte Erfahrung des Realen, ein Ereignis und eine Selbstpräsentation des Künstlers, eine Inszenierung von Authentizität« (2005: 13). Es geht nicht darum, in Rollen oder Figuren zu schlüpfen, um so zu tun, als ob etwas wäre, sondern um das, was sich in der Gegenwart ereignet. Dabei rückt die Präsenz des Körpers an die Stelle der Verkörperung (2005: 16).21 Übertragen auf Voguing-Performances ermöglicht dies folgende Lesart: Im Setting eines sozialen Kontextes, den Voguing-Performances innerhalb des Ballrooms, kann die Selbstpräsentation von Voguing-Tänzer*innen als authentisch und real erfahren werden. Dies kommt auch in dem Maßstab und/oder der Kategorie Realness, die im Ballroom vorherrscht und von den Akteur*innen angestrebt wird, zum Ausdruck. Allerdings ermöglichen die Übertragungsprozesse von der laufstegähnlichen Bühnenfläche des Ballrooms auf die laufstegähnlichen Bühnenflächen des Theaters ein theatrales Spiel mit den Kategorien Selbstpräsentation und Authentizität. Voguing-Aufführungen im Theaterraum befragen meines Erachtens die beiden Präsentationsformen Hineinschlüpfen in Rollen/Figuren und Selbstpräsentation/Authentizität. Ich folge den Ansichten von Klein und Sting, die davon ausgehen, dass Performances nur im Bezug zum Feld verstehbar sind, und meine, dass Voguing-Performances nur in Bezugnahme auf die Voguing-Kultur verstehbar sind. Die beiden Autor*innen benennen des Weiteren folgende Eigenschaften einer Performance: »Sie stellen Gemeinschaften des Augenblicks her [...]. Performances intensivieren die Face-to-Face-Kommunikation und provozieren damit ein anderes Verhältnis von Akteur und Zuschauer; nicht die Akteure allein, sondern die Zuschauer sind es, die die Performance als solche legitimieren und über das Gelingen oder Scheitern der Performance entscheiden. [...] Diese Verwiesenheit auf eine gelungene Kommunikationssituation, die allen Performances gemeinsam ist, gibt der künstlerischen Performance einen ambivalenten Charakter: Auf der einen Seite erweitert dies den Fundus der Inszenierungsstile, zum anderen aber schafft

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Von einer Diskussion zum Begriff Verkörperung wird hier abgesehen, wohl wissend, dass dieser Begriff unterschiedlichen Rahmungen unterliegt.

1. Theoretische und methodische Grundlagen

es auch eine neue Nähe der Kunst zur populären Kultur und eröffnet damit die Möglichkeit neuer Vereinnahmungsstrategien.« (Klein, Sting 2005: 10) Klein und Sting heben die Herstellung von Gemeinschaft hervor. Übertragen auf den Ballroom bedeutet dies, dass die leibliche Ko-Präsenz von Tänzer*innen und Zuschauer*innen ausschlaggebend für das Gelingen einer Performance ist. Sichtbar wird dies innerhalb des Ballrooms, indem die Zuschauer*innen frenetisch ihre Favoriten anfeuern und somit das Ereignis anerkennen, bewerten und steigern. Auch bei Voguing-Aufführungen auf Theaterbühnen wird eine Gemeinschaft hergestellt. Kommunikationsprozesse, wie sie im sozialen Feld des Ballrooms anzutreffen sind, werden bei Voguing-Performances im Theater übernommen. Die herangezogenen Aufführungen der C horeograf*innen Georgina Philp, Trajal Harrell, Gerard Reyes, Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen zeichnen sich alle durch Überschreitungen des klassischen Bühnenraums aus. Zentral sind Begegnungen zwischen Künstler*innen und Zuschauer*innen während der Aufführungen. Das Konzept der Performativität sowie der Ansatz, Aufführungen als Performances zu lesen, die erst das Ereignis hervorbringen, stellen weniger ein methodisches Verfahren dar, sondern bilden die theoretische Grundlage dieser Arbeit. In der vorliegenden Untersuchung folge ich einem performativen Ansatz.

1.5

Die Aufführungsanalyse als diskursive Praxis

Die Aufführungsanalyse erfolgt entlang der Performances von Philp, Harrell, Reyes, Gintersdorfer und Klaßen. Allen choreografischen Arbeiten liegen Voguing-spezifische Elemente zugrunde. Sie beziehen sich explizit auf die Voguing-Kultur und -Geschichte und lassen sich zum einen als Repräsentationen der Kulturwelt Voguing identifizieren und zum anderen als eigene ästhetische Kreationen lesen. Die Deutungsmuster, die in der Analyse der Expert*inneninterviews in Kapitel 3 rekonstruiert werden, leiten und strukturieren den Diskursverlauf der Aufführungsanalysen. Als Modell werden Christina Thurners Reflexionen zur Aufführungsanalyse herangezogen. Thurner geht davon aus, dass die Forscher*in einer Live-Aufführung beiwohnt. Sie begründet diese Prämisse wie folgt: »Die Wichtigkeit jedoch des Aufführungserlebnisses für die Analyse beruht dabei einerseits auf der Erfahrung der Kopräsenz von Bühnendarstellern und Publikum und auf dem Aspekt des Transitorischen des Theaters, das seit Lessing hervorgehoben wird« (Thurner 2007: 47, Herv. i.O.).22 Daran schließt sich eine Videobetrachtung an, die Thurner

22

Thurner verweist auf Lessing, der das Transitorische als einen einzigartigen Augenblick der Kunstbetrachtung bestimmt (Thurner 2007: 47).

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Voguing on Stage

unter quellenkritischen Gesichtspunkten problematisiert, wie etwa der Verzerrung, des Ausschnitts, der Kameraführung oder der Schnitttechnik (2007: 48). Die Aufführungsanalyse enthält die beiden Ebenen Analyse und Reflexion (2007: 48). Bestimmend für die Betrachtung einer choreografischen Arbeit sind zunächst der erste Eindruck und Auffälligkeiten. Ausgehend von diesen identifiziert Thurner physische Akzente hinsichtlich ihrer Funktion und Semantik (2007: 48). Darauf folgt die Interpretation, die stets reflektiert wird: »Als Analysierende bin ich dabei die Instanz der Bedeutungssynthese, wobei eine solche Synthese am Material wiederum für andere nachvollziehbar und nachprüfbar sein muss. Ich reagiere also auf das vielfältige Bedeutungsangebot, das mir das Stück entgegenhält, ich wähle davon im Rahmen meines eigenen Wahrnehmungskontextes Signifikantes aus und richte darauf in der wiederholten, vertiefenden Betrachtung mein Augenmerk.« (Thurner 2007: 48‒49, Herv. i.O.)23 Thurner thematisiert also das subjektive Vorgehen und gleichzeitig die Möglichkeit der Nachvollziehbarkeit. Das konkrete Vorgehen beschreibt sie als ein Nacheinander einer diachronen Analyse, bei der der chronologische Verlauf zu einer synchronen Analyse gegliedert wird, die der Deutung und Begründung der eigenen Sichtweise dient (2007: 49). Die aus der diachronen und synchronen Analyse gewonnenen Erkenntnisse sind ein »Zusammenzug von Beschreibung, Gliederung und Deutung« (2007: 49). Die Bedeutungsprozesse, die beim Lesen von Aufführungen vollzogen werden, oszillieren zwischen dem Akt der Versprachlichung, der Phrasierung von Aufführungen und den Modellen von Bedeutungszuschreibungen. Sie erscheinen als Prozesse, die durch die diskursive Praxis an der Entstehung von Aufführungen beteiligt sind. Obwohl dieser Prozess durch die Sprache begrenzt ist – da die Sprache nur ihre eigene Materialität und Regelhaftigkeit besitzt, die sie den Beschreibungen, Gliederungen und Deutungen zugrunde legt –, kann ein Anschauungsmodell argumentativ nachvollziehbar generiert werden. Die Aufführungsanalyse, folgt man Fischer-Lichte, ist vom Versuch gekennzeichnet, eine Aufführung im Nachhinein diskursiv zu verhandeln, sie bringt somit einen eigenständigen Text hervor, »der eigenen Regeln gehorcht, sich im Prozess seiner Erzeugung verselbständigt, und sich so von seinem Ausgangspunkt, der Erinnerung an die Aufführung, immer weiter entfernt« (Fischer-Lichte 2004: 280) und »nun seinerseits verstanden werden will« (ebd.). Eine Aufführungsanalyse folgt spezifischen Regeln, also den zugrunde gelegten Begriffen und Theorien. In Anlehnung an Foucault bedeutet die Übertragung eines Systems in ein anderes – in dieser Untersuchung von der Materialität der Aufführung in die der Sprache – nicht nur einen Verlust, sondern vielmehr »eine Veränderung in der Ordnung des 23

Zum Verhältnis von Bedeutungssynthese und -angebot verweist Thurner in einer Fußnote auf Guido Hiß (Thurner 2007: 49).

1. Theoretische und methodische Grundlagen

Diskurses« (Foucault 2015a: 298). Foucault meint, dass »verantwortlich für die neue Anordnung« (2015b: 76) das »Zeichen in einer unendlichen Dispersion« (ebd.) ist. Er führt aus: »Der Diskurs wird zwar zur Aufgabe haben zu sagen, was ist, aber er wird nichts anderes mehr sein, als was er sagt« (2015b: 76). Dieses Sein kann als »besonderer Fall der Repräsentation« (2015b: 75), das von einer tiefen »Zusammengehörigkeit der Sprache und der Welt« (ebd.) geprägt ist, betrachtet werden. Schellow begegnet diesem Übersetzungsproblem mit der »Forderung nach mehr disziplinärer Selbstreflexivität und ›Selbstthematisierung des eigenen Standpunktes‹« (Schellow 2016: 258). Für eine Aufführungsanalyse bedeutet dies, die Analyse einer tänzerischen Arbeit als eine Rezeptionsweise zu verstehen, die einer forschungsspezifischen Erkenntnisgewinnung dient und somit eigenen Regeln folgt. Der Auseinandersetzung mit den Aufführungen wohnt somit das Problem inne, dass sie zwischen den unterschiedlichen Disziplinen Tanz und Wissenschaft stattfindet. Begriffe und Theorien der unterschiedlichen Disziplinen unterliegen stets spezifischen Übersetzungsprozessen, es werden unterschiedliche Begriffsrahmungen vorgenommen, die Generierung von Theorien fußt auf jeweils anderen Ausgangssituationen und Phänomene werden aus unterschiedlichen Anschauungskontexten heraus betrachtet. Das Dazwischen birgt jedoch auch Chancen. Diese liegen im transitorischen Charakter des Forschungsansatzes, nämlich dass das scheinbar Ungreifbare im Tanz mittels analytischer Betrachtungsmodelle als greifbare Gestalt verhandelt werden kann. Die Tanzwissenschaftlerin Schellow begegnet diesem Dazwischen mit ihrem Denkmodell »Diskurs-Choreographie« (2016: 39, Herv. i.O.). Dabei gilt es die jeweiligen Artikulationsformen der wissenschaftlichen Disziplinen in ihrer Unterschiedlichkeit zu reflektieren, um das eigengesetzliche Materialisierungsgeschehen des erschriebenen Diskurses als »Inszenierungen des Tanzes in Theorien« (2016: 210) betrachten zu können. »Die Inszenierungen des Tanzes in Theorien« (ebd.) sind der Spannung zwischen der reinen Beschreibung und der Materialität des eigenen Standpunktes ausgesetzt (2016: 89). Schellow argumentiert, »dass die Tradition eines Denkens des Tanzes« (2016: 97) sich in ihren Strategien der jeweiligen Theoretisierung artikuliert (2016: 97) und somit Tanz »als das Produkt von deren Diskurs verstanden werden muss« (2016: 97). Sie strebt eine Offenlegung der wissenschaftlichen Rede über Tanz an, denn »diese Theorien [werden] keineswegs allein durch künstlerische Faktoren beeinflusst, sondern sie setzen Impulse aus einem institutionellen Feld um, in dem Abgrenzungen zu und Komplizenschaften mit benachbarten Wissenschaften aktuell neu ausgehandelt werden« (2016: 101). Schellows Diskursverständnis geht von »Regulierungen sowie Ein- und Ausschließungsmechanismen« (2016: 117) aus. Mit ihrem Denkmodell der »Diskurs-Choreographie« (2016: 39, Herv. i.O.) bewertet sie die Produktivität von Denkbewegungen und reflektiert das Verhältnis von Tanz und Tanzwissenschaft:

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Voguing on Stage

»Geht man von einer selbst reflexiv und selbstreflexiv agierenden Tanzpraxis aus, so unterminiert dies nicht nur jegliches Selbstverständnis der Tanzwissenschaft als exklusiver Reflexionsraum von Tanz(-praxis), sondern setzt diese auch unter erhöhten Zugzwang, sich ihrerseits, im Bewusstsein der diskursanalytischen Paradoxie eines solchen Vorgehens, mit den eigenen diskurs-choreographischen Regularitäten zu befassen, anstatt lediglich Theorien über die Selbstreflexivität zeitgenössischer Tanzstücke aufzustellen.« (Schellow 2016: 210, Herv. i.O.) Damit spricht sich Schellow eindeutig gegen eine Diskurshoheit seitens der Wissenschaft aus. Für eine diskursive Aufführungsanalyse, wie sie in der vorliegenden Untersuchung vorgenommen wird, bedeutet dies, dass wissenschaftliche Aussagen kontextualisiert und ihre Regularitäten offengelegt werden müssen. Eine diskursive Aufführungsanalyse bringt folglich Anschauungsmodelle und Deutungsangebote hervor, die den Regularitäten und Wissensordnungen der herangezogenen wissenschaftlichen Disziplinen unterliegen. Gleichzeitig gilt es, den Tanz in seiner diskursiven Eigenständigkeit nicht aus dem Blick zu verlieren.

2. Voguing und sein Archiv

2.1

Die Geschichte und die Kultur des Voguing »At first they called it posing and then, because it started from Vogue magazine, they called it voguing.« (Lawrence 2011: 5)

Im Folgenden werden differente Spuren zum Gegenstand Voguing miteinander in Beziehung gesetzt, um das soziokulturelle und historische Phänomen Voguing freizulegen. An die Stelle einer globalen Geschichte des Voguing tritt eine serielle Geschichtsbetrachtung im Anschluss an Foucault, der das Diskontinuierliche als zentrales Moment von Geschichte erachtet (Foucault 2015a: 16). Er schreibt: »Künftig ist das Problem das der Konstituierung von Serien: für jede ihre Elemente zu definieren, ihre Grenzen zu fixieren, den Typ von Beziehungen freizulegen, der für sie spezifisch ist« (ebd.). Der Spurensuche zum Gegenstand Voguing liegt ein Vorgehen zugrunde, durch das dessen verstreute und verschiedene historisch geprägte Ordnungssysteme und Wissensspeicher identifiziert und miteinander vernetzt werden. Es geht weder um die Rekonstruktion der Tanzgeschichte von Voguing noch um eine erschöpfende Analyse der unterschiedlichen Dokumente, sondern vielmehr um eine serielle Betrachtungsweise und die Herstellung eines Materialgeflechts von und über Voguing, das im weiteren Verlauf der Untersuchung als Folie einer kulturellen und ästhetischen Kontextualisierung genutzt wird. Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, dass nur mit dem herangezogenen Archiv die Voguing-Performances diskursiv analysiert werden können. Es bildet den Gegenstand Voguing so ab, dass Hintergründe für die Hervorbringung und Entfaltung der Voguing-Kultur und Tanzform benannt werden können. Ein solches Archiv zu schaffen, dient der Schärfung von Begriffen, die beim Sprechen von oder über Voguing zentral sind, und auch dazu, eine tanzwissenschaftliche Lücke zu diesem Tanzphänomen zu schließen. Die Rahmung des Gegenstands Voguing geschieht im Kontext folgender Fragen: Welche zentralen Ereignisse prägen das Sprechen

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Voguing on Stage

über Voguing? Welche Dokumente liegen vor? Welche Diskurse werden darin eröffnet? Wer spricht wie über Voguing? Wie lassen sich die unterschiedlichen Dokumente und deren Aussagen miteinander in Beziehung setzen? Können Aussagen dazu gemacht werden, welche soziokulturelle Situation die Hervorbringung der Tanzpraxis Voguing beeinflusste?

2.1.1

Die Herstellung von Vergangenheit

Ausgangspunkt für die Arbeit mit dem Archiv bilden zwei Perspektiven. Mittels der ersten wird in Anlehnung an Thurner das zugrunde gelegte Geschichtsverständnis erläutert. Daran schließen sich – das ist die zweite Perspektive – Überlegungen zu einer seriellen Geschichtsbetrachtung im Sinne Foucaults an. Nach Thurner ist »Geschichte stets eine Konstruktion von Vergangenheit […], die im ›Jetzt‹ ›hergestellt‹ wird – nicht zuletzt auch, um die Ereignisse des ›Jetzt‹ über die Vergangenheit besser zu verstehen und umgekehrt« (Thurner 2010: 11). Das bedeutet, dass der Blick in die Vergangenheit heutige Ereignisse des Voguing verstehbar macht. Diese Art von Geschichtsbetrachtung gleicht einem Geflecht von vergleichender und offener Interpretation: »Die verschiedenen Strömungen im theatralischen Tanz lassen sich nicht einfach chronologisch aneinanderreihen und klar abgrenzen, vielmehr bilden sie ein komplexes Gefüge von Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem und verlangen eine vergleichende und auch für Kontingenzen, Pluralitäten und Differenzen offene Interpretation.« (Thurner 2010:10) Raum- und zeitgebundene Ereignisse treten im Akt der Interpretation und Analyse miteinander in Beziehung, Ungleichzeitiges kann vergleichend betrachtet werden. Historiografie betrachtet Thurner als einen »nachträgliche[n], interpretierende[n], ordnende[n] Akt eines Historikers, einer Historikerin. Dabei verhält sich jeweils der in die Geschichte aufzunehmende Gegenstand ganz unterschiedlich zu den historischen Ordnungssystemen« (2010: 9). Thurner verweist hier auf die spezifischen Ordnungen einer jeweiligen Zeit, die es gilt, neu zu ordnen und zu interpretieren und folgt damit einem Foucault’schen Blick auf die Geschichte. In seinem Buch Archäologie des Wissens1 befasst sich Foucault mit dem Vorgehen von Historiker*innen. Zentraler Begriff hierbei ist die Diskontinuität, die Foucault als eines der grundlegenden Elemente der historischen Analyse bezeichnet (Foucault 2015a: 17) und die sich auf Operationen, Ergebnisse und Begriffe bezieht (2015a: 17‒18). Diskontinuität als operationaler Begriff meint die Analyseebenen, die bestimmt werden (2015a: 17‒18), als erkenntnistheoretischer Begriff die Ergebnisse der Analyse (ebd.), als funktionaler Begriff verweist sie auf den Vergleich und 1

Der Titel der Originalausgabe aus dem Jahre 1969 lautet L’Archéologie du savoir.

2. Voguing und sein Archiv

die Vereinzelung der Gebiete (ebd.). Foucault fragt nach der Schwelle, dem Bruch, dem Einschnitt, dem Wechsel, der Transformation, die das Denken der Diskontinuität gestattet (2015a: 13). Er problematisiert »den Ausschnitt und die Grenze« (2015a: 12). Fragen der traditionellen Analyse ersetzt er durch Fragen anderen Typs, um Epochen, Einheiten oder Ereignisse der Geschichte als Phänomene des Bruchs zu beschreiben (2015a: 10). Die Vorherrschaft des Konzepts der Diskontinuität im Denken von Foucault hat Folgen für eine Geschichtsbetrachtung: Ereignisse werden im analytischen Verfahren miteinander in Beziehung gesetzt. Aus den dargestellten Überlegungen leite ich für diese Arbeit folgendes Verständnis einer Geschichtsbetrachtung ab: Geschichte zu betrachten ist ein aktiver Akt, in dem disparate Dokumente zueinander in Beziehung gesetzt werden, um Erkenntnisse über die Geschichte aus der eigenen, heutigen Perspektive zu gewinnen. Dabei zielt die Operation des In-Beziehung-Setzens von Dokumenten und Ereignissen auf Ausschnitte der Geschichte, die interpretierend neu geordnet werden.

2.1.2

Die Konstitution eines Dokumentenkorpus

Die Eigenschaften eines Dokuments bestimmt Foucault über die Kategorie der Negation: »Das Dokument ist nicht das glückliche Instrument einer Geschichte, die in sich selbst und mit vollem Recht Gedächtnis ist; die Geschichte ist eine bestimmte Art für eine Gesellschaft, einer dokumentarischen Masse, von der sie sich nicht trennt, Gesetz und Ausarbeitung zu geben« (2015a: 15, Herv. i.O.). Dokumente stellen, folgt man den Aussagen Foucaults, eine memorisierte Vergangenheit für eine bestimmte Gesellschaft dar. Sie unterliegen spezifischen Darstellungsweisen und Ordnungssystemen. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Betrachtung von Geschichte: die Konstitution von Serien (2015a: 16) und die Beschreibung der Bezugsform zwischen den Serien (2015a: 20). Serien bzw. Tableaus beschreibt Foucault als »Multiplikation der Schichten, ihr Auseinanderhaken, die Spezifität der ihnen eigenen Zeit und Chronologien; daher die Notwendigkeit, nicht mehr nur wichtige Ereignisse (mit einer langen Kette von Folgen) und unbedeutende Ereignisse zu unterscheiden, sondern Typen von Ereignissen völlig unterschiedlichen Niveaus (die einen kurz, die anderen von mittlerer Dauer, [...]); daher die Möglichkeit, Serien mit weit auseinanderliegenden Merkpunkten erscheinen zu lassen, die aus seltenen Ereignissen oder wiederholten Ereignissen gebildet werden.« (Foucault 2015a: 16) Anstelle einer Chronologie erscheinen dann »mitunter kurze, voneinander verschiedene, einem einheitlichen Gesetz sich widersetzende Abstufungen [...], die oft Trägerinnen eines Geschichtstyps sind, der jeder von ihnen eigen ist, und die

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Voguing on Stage

auf das allgemeine Modell eines Bewusstseins sich nicht zurückführen lassen, das erwirbt, fortschreitet und sich erinnert« (2015a: 17). Daraus leite ich ab, dass die Dokumente kein einheitliches Bild der Geschichte liefern, sondern sich stetig ändernden Modellen von Geschichtsbetrachtung unterliegen. Dies gilt auch für die Dokumente, die Träger eines gleichen geschichtlichen Ereignisses sind. Nach Foucault ist dabei zu berücksichtigen, »welche Bezugsform legitimerweise zwischen diesen verschiedenen Serien beschrieben werden kann; [...], welches Spiel von Korrelationen und Dominanzen zwischen ihnen besteht; welche Wirkung die Verschiebungen, die verschiedenen Zeitlichkeiten, die verschiedenen Beharrungszustände haben können; in welchen verschiedenen Mengen gewisse Elemente gleichzeitig vorkommen können; kurz: nicht nur, welche Folgen, sondern welche ›Folgen von Folgen‹ – oder in anderen Worten, welche ›Tableaus‹* gebildet werden können.« (Foucault 2015a: 20) Damit problematisiert Foucault die aufgestellten Relationen; ein Beziehungsnetz hat mehrdimensionale Folgen. Er gibt kritisch zu bedenken, »ob die Individuen, die verantwortlich für den wissenschaftlichen Diskurs sind, nicht in ihrer Situation, ihrer Funktion, ihren perzeptiven Fähigkeiten und in ihren praktischen Möglichkeiten von Bedingungen bestimmt werden, von denen sie beherrscht und überwältigt werden« (Foucault 2015b: 15). Das bedeutet, dass unterschiedliche Beharrungszustände und Wirkungen, die in Dokumenten zum Ausdruck kommen, aufgezeigt werden müssen, um neue Erkenntnisse gewinnen zu können. In der Konsequenz heißt das, dass nicht nur das kanonische Wissen, das auf spezifischen Denkformen basiert, kritisch beleuchtet werden muss, sondern auch die eigenen Auswahlkriterien und subjektiven Denkweisen.2 Um dementsprechend einen Datenkorpus zu konstituieren, behandle ich die dokumentarische Masse des Voguing nicht erschöpfend, vielmehr werde ich Dokumente auswählen, um eine historische, soziokulturelle und ästhetische Einbettung des Phänomens Voguing zu ermöglichen. Folgende Frage leitet die Auswahl: Wie viel Geschichte bedarf es, um gültige Aussagen darüber treffen zu können? Die Frage betrifft nicht die Tradition, sondern den Ausschnitt aus der Gesamtheit und zielt auf die Konstitution eines Datenkorpus. Foucault benennt folgende methodische Probleme der Konstitution eines Dokumentenkorpus: »die Konstitution von kohärenten und homogenen Dokumentenkorpussen (offene oder geschlossene, endliche oder unbestimmte Korpusse); die Erstellung eines Auswahlprinzips (je nachdem, ob man die dokumentarische Masse erschöpfend behandeln will, oder ob man nach

2

Foucault führt die erkenntnistheoretische Veränderung der Geschichte auf die Stifterfunktion des Subjekts zurück. Diskontinuitäten und Transformationen in der Geschichte haben Konsequenzen auf die Manifestation des Subjekts der Geschichte (Foucault 2015a: 22‒30).

2. Voguing und sein Archiv

statistischen Auswahlmethoden Stichproben vornimmt oder im voraus die repräsentativsten Elemente zu bestimmen versucht)« (Foucault 2015a: 20, Herv. i.O.). Zur Erstellung eines Datenkorpus wurden im Vorfeld die repräsentativsten Materialien identifiziert. Das gesichtete Material wurde hinsichtlich seiner mehrfachen Nennung ausgewählt. Eingang in den Korpus finden Dokumente, die sich gegenseitig aufeinander beziehen. Es hat sich gezeigt, dass Livingstons Film Paris is Burning (1990) Ausgangspunkt vielfältiger Betrachtungen ist. Neben dem filmischen Archivmaterial sind die Fotobände von Gaskin und Regnault häufige Referenzpunkte der Ballroom-Kultur.

2.1.3

Das Voguing-Archiv in Bewegung

Foucault gebraucht den Begriff Archiv operational und definiert dieses als »eine besondere Ebene: die einer Praxis, die eine Vielfalt von Aussagen als ebenso viele regelmäßige Ereignisse, ebenso viele der Bearbeitung und der Manipulation anheimgegebene Dinge auftauchen läßt. Sie hat nicht die Schwere der Tradition; und sie bildet nicht die zeit- und ortlose Bibliothek aller Bibliotheken; sie ist aber auch nicht das gastliche Vergessen, das jedem neuen Wort das Übungsfeld seiner Freizügigkeit eröffnet; zwischen der Tradition und dem Vergessen läßt sie die Regeln einer Praxis erscheinen, die den Aussagen gestattet, fortzubestehen und zugleich sich regelmäßig zu modifizieren. Es ist das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen.« (Foucault 2015a: 188, Herv. i.O.) Damit zeigt Foucault eine forschungspraktische Perspektive auf. Die vielfältigen Aussagen, die immer schon Spuren der Bearbeitung und Manipulation in sich tragen, aktualisieren sich im Zusammentragen und in der Zusammenschau. Das Archiv als Instrument gedacht, ist ein zu erschließender Raum, in dem die abgelagerten Materialien aktiv miteinander in Beziehung gesetzt werden können, und bedeutet nicht nur bloßes Bewahren, sondern Bewegung. Im Folgenden sollen Bedingungen ermittelt werden sowohl für das Aufkommen der soziokulturellen Praxis Voguing als auch für ästhetische Konzepte, die das tänzerische Verhalten beschreiben. Ich gehe davon aus, dass die herangezogenen Materialien unterschiedliche Stoßrichtungen, theoretische Referenzen und methodische Vorgehensweisen aufweisen, dennoch setze ich sie miteinander in Beziehung. Dabei vernetzen sich unterschiedliche Rezeptionsästhetiken, choreografische Verfahren und Strategien, die sich als Aufführungsästhetiken bezeichnen lassen, sowie soziale und historische Betrachtungsweisen. Die Arbeit mit dem Archiv bedeutet meines Erachtens, dass sich unterschiedliche Dokumente mit verschiedenen Denkbewegungen durchkreuzen. Foucault charakterisiert den Umgang mit Dokumenten wie folgt:

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Voguing on Stage

»Das Dokument ist also für die Geschichte nicht mehr jene untätige Materie, durch die hindurch sie das zu rekonstruieren versucht, was die Menschen gesagt oder getan haben, was Vergangenheit ist und wovon nur die Spur verbleibt: sie sucht nach der Bestimmung von Einheiten, Mengen, Serien, Beziehungen in dem dokumentarischen Gewebe selbst.« (Foucault 2015a: 14) Die im Folgenden herangezogenen Bildbände, Filme, Abhandlungen oder wissenschaftlichen Untersuchungen werden durch die von mir eingenommene Perspektive gegliedert, in Beziehung zueinander gesetzt und reflektiert, mit dem Ziel, die hier erschriebene und hergestellte Geschichte des Voguing als Bezugsform für die Analyse der Bühnenperformances zu nutzen. Bei der Arbeit mit dem Archiv fokussiere ich die soziokulturellen und historischen Hintergründe des Voguing und befrage die Dokumente hinsichtlich ihrer Betrachtung von Pose und Catwalk als choreografische Elemente. Prozesse von Aneignung und Übernahme der VoguingKultur wie auch filmische Dokumentationen finden ihren Eingang in das Archiv. Eine mediale Rezeption und die Betrachtung einer bewegten Tanzgeschichte sind Teil der dokumentarischen Masse, mit der bei der Arbeit mit dem Archiv umgegangen wird. Ausgehend von einem Lexikoneintrag von Mindy Aloff im International Encyclopedia of Dance. A Project of Dance Perspective Foundation (1998) zum Begriff ›Photography‹3 wird der Gegenstand Voguing zunächst folgendermaßen bestimmt: »Finally, the nationally popular dance form of the 1980s that was developed in New York City by gay black men – Vogueing – combines the walk of runway fashion models with instantaneous changes of pose that are associated with the shooting of fashion photographs for magazines such as Vogue, after which the dance was named.« (Aloff 1998: 187, Herv. i.O.) Bei Aloffs knapper Betrachtung lässt sich allerdings ein Verlust aufzeigen: Historische, soziale und politische Rahmungen fehlen. Die Anleihen aus der Modewelt rücken ins Zentrum der Begriffsdefinition. Voguing wird einzig als Transformation von Modefotografie auf den Runway betrachtet. Dieser Unsichtbarkeit von soziokulturellen Aspekten möchte ich durch das Heranziehen weiterer Dokumente begegnen. Die Fotografien von Gerard H. Gaskin, auf die später noch vertiefend eingegangen wird, geben Einblicke in die Ballroom-Kultur. Den unter anderem in New York, Philadelphia, Richmond und Washington entstandenen Aufnahmen ist eine Anmerkung des Fotografen vorangestellt, die hier in Auszügen wiedergegeben wird:

3

Der Artikel fokussiert den Tanz in Europa und den USA, der fotografisches Material nutzt (Aloff 1998: 175).

2. Voguing und sein Archiv

»The balls are a celebration of black and Latino urban gay life. They were born in Harlem out of a need for black and Latino gays to have a safe space to express themselves. [...]. The participants work to redefine and critique gender and sexual identity through an extravagant fashion masquerade. Women and men become fluid, interchangeable points of departure and reference, disrupting the notion of a fixed and rigid gender and sexual self.« (Gaskin 2013) Diese Aussage erweitert den Blick auf Voguing. Die Hervorbringung gründet auf der Notwendigkeit, einen geschützten Raum zu kreieren, was als Kritik an den Normen der damaligen Gesellschaft gelesen werden kann. Nach Gaskin drücken die »black and Latino gays« (ebd.) ihre sexuelle Identität durch Mode oder Maskerade aus. Sie hinterfragen mittels ihrer Performances die in der Gesellschaft als männlich und weiblich codierten Vorstellungen. Ausgehend von fluiden Identitäten und Konzepten der Austauschbarkeit verhandeln sie »sexual identity« (ebd.). Frank Roberts, Schriftsteller und Wissenschaftler, schreibt in einem begleitenden Essay des Fotobands: »I see a world where gender is in flux, in transition, and open for revision. I also sense a world where being simultaneously queer and of color is the imagined ideal. There are no white faces here. Only brown« (2013, Herv. i.O.). Diese fotografische Dokumentation betrachtet Roberts »as a way of archiving lost subcultural histories and queer lives« (2013). Dabei verfolge Gaskin, so Roberts, zwei Konzepte: »These two critical concepts (the ›black interior‹ and the ›undercommons‹) are the most useful theoretical frameworks for understanding the performative force of Gaskin’s photography« (Roberts in Gaskin 2013).4 Die Konzepte »black interior« (ebd.) und »undercommons« (ebd.) heben die gesellschaftlich geprägte Kategorie ›Hautfarbe‹ hervor. Aus dem Lexikoneintrag und den Aussagen in Gaskins Fotoband werden zentrale Aspekte des Voguing sichtbar: »Black and Latino gays« (Gaskin 2013) aus Harlem transformieren die Posen der Modewelt in einen Tanzstil, um mittels der Maskerade Kritik an den damaligen normierten Vorstellungen von Geschlecht zu üben.

2.2

Re-Lektüren zur Erzeugung von Geschichte

Im Anschluss an Tim Lawrence wird die Geschichte des Voguing im Sinne einer ReLektüre nachgezeichnet. Seine Perspektive ist von Einblicken in die Ballkultur, von soziokulturellen Hintergrundinformationen und vom Wissen von geschichtlichen Ereignissen geprägt. Im Folgenden werden seine Beiträge mit Aussagen aus ande-

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Das Konzept ›black interior‹ geht auf Elizabeth Alexander, das Konzept ›undercommons‹ auf Stefano Harney und Fred Moten zurück (Roberts in Gaskin 2013).

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Voguing on Stage

ren Dokumenten ergänzt oder kontrastiert. Diese Betrachtungsweise zielt darauf, die historiografischen und soziokulturellen Hintergründe des Voguing zu erfassen. Lawrence verfolgt die Geschichte des Voguing bis in die 1920er Jahre zurück (Lawrence 2011: 3). Die Zeit der Harlem Renaissance markiert mit der sich dort etablierenden Kulturszene eine wichtige Zeitspanne. Es fanden spektakuläre Bälle statt und Schriftsteller*innen und Künstler*innen prägten eine soziale, kulturelle und künstlerische Bewegung. Lawrence schreibt: »Invited to attend another ball at Hamilton Lodge by the entrepreneur and party host A’Lelia Walker, Harlem Renaissance social activist and writer Langston Hughes proclaimed the drag balls to be the ›strangest and gaudiest of all Harlem’s spectacles in the 1920s’‹ and described them as ›spectacles in colour‹.« (Lawrence 2011: 3)5 Lawrence bezeichnet die Bälle als »costume competition« (2011: 3). Unterschiedliche Paare trafen aufeinander. Paare, »with men (including lesbians dressed as men and gay men who favoured butch style) accompanying women (or men dressed as women, as well as straight femmes)« (2011: 3). Demnach wurden Männlichkeiten und Weiblichkeiten mittels Kleidung dargestellt. In George Chaunceys Buch Gay New York. Gender, Urban Culture, and the Making of the Gay Male World, 1890‒1940 (1994) werden die Bälle als »Fag/Masquerade Ball« (1994: 130) charakterisiert. Er erforscht das »Gay New York« (1994: 1‒29), beschreibt die Gemeinschaft, die Tänze und Ereignisse, wie etwa die Schönheitswettbewerbe auf Coney Island oder die Drag Balls in Harlem. Die vor dem Zweiten Weltkrieg gewesene und mittlerweile vergessene »gay world« (1994: 1‒29) erforscht er hinsichtlich der Sprache, Kostüme, Traditionen und Geschichte. Er betrachtet die Unterschiede in den New Yorker Stadtteilen bezogen auf kulturelle Praxis und Mechanismen der Marginalisierung. In den frühen 1930er Jahren zeigte sich die Faszination gegenüber der Gay-Kultur sowohl im Stadtteil Village als auch in Harlem. Mit seinen geografischen Verortungen legt Chauncey In- und Exklusionsmechanismen offen. Er beschreibt die leidvolle Geschichte von homosexuell orientierten Menschen während der 1920er und 1930er Jahre und diskutiert, wie zu unterschiedlichen Zeiten Homosexualität betrachtet wurde ‒ als krank, gesund, determiniert, natürlich, unnatürlich (1994: 20). Diese Debatten stellt er kritisch infrage. Sein Buch rekonstruiert die Welt, »before the heterohomosexual binarism was consolidated as the hegemonic sexual regime in 5

Lawrence zitiert Big Sea Hughes (2011: 10). David Levering Lewis gibt in seinem Buch When Harlem Was in vogue (1981) Auskünfte über A’Lelia Walker: »A’Lelia–A’Lelia Walker Robinson Wilson, for she had acquired and rapidly shed two husbands–had been left by her mother the controlling interest in a hair-straightening empire, a palace–Villa Lewaro–at Irvington-onHudson, considerable amounts of rental property in and outside New York, the 136th Street brownstones (with the Walker beauty culture salon at ground level), and nearly a million dollars in cash« (1981: 165‒166).

2. Voguing und sein Archiv

American culture« (1994: 23) und konzentriert sich auf »New York, which homosexuals regarded as the ›gay capital‹ of the nation for nearly a century« (1994: 28). Auch in A. B. Christa Schwarz’ Buch Gay voices of the Harlem Renaissance (2003) geht es um Männer und Frauen, die ihre sexuelle Identität erforschen. Über die Bälle schreibt sie: »Harlem’s popular drag balls stand out as the district’s most publicly ›gay‹ form of entertainment. For the usually predominantly male and black participants, masked balls represented the best opportunity to display what many contemporary black newspaper admiringly described as ›the most gorgeous of feminine attire‹, to compete for prizes, and to receive applause and admiration from thousands of spectators that included Renaissance artists, who usually watched the spectacle from the distance of their boxes.« (Schwarz 2003: 12) Die über die Maßen feminisierte Garderobe wird als umwerfend, farbenprächtig oder wunderschön beschrieben. James Wilson beschäftigt sich auch mit den Drag Balls während der Harlem Renaissance. Im Anschluss an Chauncey beschreibt er die 1920er Jahre als Zeiten friedlicher Koexistenz zwischen ›Schwarzen‹ und ›Weißen‹ (Wilson 2005: 263) und sieht in den Drag Balls auch eine Parodie auf die Oberschicht: »At Lulu Belle’s, a drag club, black and white gay men and lesbians congregated nightly, and like the behaviour at the Rockland drag ball, they parodied formal upper-class society functions« (2005: 264). Wilson hebt ebenfalls die Popularität der Drag Balls (2005: 282) und das öffentliche Cross-Dressing auf den Straßen im New York City der 1920er Jahre hervor (2005: 263‒264).6 Das Verdrängen dieser Bälle erfolgte durch staatliche Gewalt. Im Jahr 1923 ging der Staat gegen homosexuell orientierte Menschen vor und 1931 führte die Prohibition zur Zerschlagung dieser Gemeinschaften: »the New York state legislature had criminalised ›homosexual solicitation‹ in 1923 […]. The hiatus lasted until the autumn of 1931, when officers, reacting to the cultural experimentation of the Prohibition years [...], began to clamp down on the city’s queer community and targeted the balls« (Lawrence 2011: 3). Lawrence führt die Geschichte in den 1960er Jahren fort: »So black queens started to stage their own events, [...] the first black ball in 1962« (2011: 3).7 Die Bälle wurden nun, bezogen auf die gesellschaftlich geprägte Kategorie ›Hautfarbe‹, getrennt voneinander veranstaltet. Als Grund dafür gibt Lawrence an, dass zuvor ›Weißsein‹ maßgeblich für den Gewinn des Wettbewerbs war (2011: 3). Die Gründung des ersten Houses, des House of LaBeija, datiert er auf das Jahr 1972

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Forschungen und Abhandlungen zu den Drag Balls während der Harlem Renaissance liegen vor. Exemplarisch werden die Untersuchungen von Chauncey, Wilson, Schwarz und Lewis angeführt. Lawrence nutzt eine im Internet veröffentlichte Timeline der Ballroom-Geschichte (2011: 10).

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(2011: 4). Die Namen der Houses sind eine klare Referenz auf bekannte Modehäuser (2011: 4). Lawrence berichtet ausführlich über die verschiedenen Houses, ihre Gründungsfiguren und Entstehungszeiten. Im Verlauf dieser Re-Lektüre werden unterschiedliche Betrachtungen und Begriffsrahmungen zum Phänomen Houses herangezogen, die familienähnliche Strukturen aufweisen. Auf die Rollenverteilung und die hierarchischen Strukturen machen Bressin und Patinier aufmerksam : »Les maisons sont réunies et placées sous l’autorité de tutelle d’une ›Mother of The House‹ et/ou aussi parfois d’un ›Father of The House‹, voire même d’une ›Legendary‹. Les ›Children‹ ou ›Virgins‹ et ›Daughters‹ sont les vogueuses débutantes. Elles sont entourées d’›Oncles‹, de ›Tantes‹, e [sic] ›Princesses‹, de ›Princes‹ ... etc.« (2012: 26). Ihraç kennzeichnet die Houses als Orte der Unterstützung und Orientierung und siedelt deren Familienmodell irgendwo zwischen der Aneignung von traditionellen Rollen und einem neuen sozialen Ordnungssystem an: »Die Houses boten den Mitgliedern (finanzielle) Unterstützung, aber auch Rat und Orientierung. In diesen Verwandtschaftssystemen existierten analog zu traditionellen Familienmodellen Rollen wie Vater, Mutter, Kinder, die den Mitgliedern je nach ertanztem Erfolg auf den Bällen zukamen. Gleichzeitig traten die Houses auf den Bällen als Teams gegeneinander an. Die Umdeutung der traditionellen Rollen im praktischen Leben der Tänzer_innen macht deutlich, inwiefern das im Tanz etablierte Spannungsverhältnis zwischen Aneignung und Subversion auch über den Tanz hinaus von Bedeutung ist. Die Bezugnahme zur Tradition ermöglicht dabei eine völlig neue soziale Ordnung.« (Ihraç 2017: 140) Bailey beschreibt Houses als eine familienähnliche Struktur mit einer sozialen Konstitution, die Schutz vor Gewalt bietet: »Houses are familial structures that are socially rather than biologically configured. Although in some cases houses serve as homes where members live and congregate, by and large, houses are social configurations that serve as sources of support for the diverse membership of the ballroom community« (Bailey 2011: 367). Bailey richtet seinen Blick nicht nur auf das Leben innerhalb der Ballroom-Gemeinschaft, sondern auch auf den Kontext der gesamten Gesellschaft. Die Hervorbringung der Houses basiert für ihn auf der Unterstützung und dem Schutz seiner Mitglieder. Dieser Ansicht ist auch Lawrence: »A quite distinct phenomenon from the clusters of individuals and circles of friends who would head to the balls, houses began to operate as de facto orphanages for displaced kids. Some found themselves on the streets and many lived with families unable to come to terms with their choices« (Lawrence 2011: 4). Lawrence beschreibt die Houses nicht nur als Kreis von Freunden mit gleichen ästhetischen Vorstellungen, sondern auch als Zufluchtsorte, in denen z.B. Jugendliche, die von ihren biologischen Familien verstoßen wurden, aufgenommen werden. Diese Funktion können Houses nach Aussagen der teenvogue (2017) immer

2. Voguing und sein Archiv

noch haben: »Almost half of New York City’s homeless youth identify as LGBTQ« (Murray 2017: 30). Voguing wird von Laura Lena Murray als Ausdrucksmöglichkeit für LGBTQ-Jugendliche verstanden: »For decades, voguing, a complex style of dance, has offered LGBTQ teens an outlet for expression often denied by mainstream society. In this underground subculture, people ›walk‹ (dance to music using moves based on the poses struck by runway models) for prizes at events known as balls. Vogue venues have become havens for queer kids, offering a space where they can find communities.« (Murray 2017: 30)8 Im Lauf der Jahre differenzierten sich die Kategorien aus. Vorbei waren die Zeiten, in denen Männer als Frauen verkleidet auftraten (2011: 5).9 »From this point on, contestants battled to win trophies, with multiple entrants walking along an imaginary runway in costume and character for each category« (Lawrence 2011: 4). Tragend für die Erweiterung der Kategorien war der von Paris Dupree10 ausgerichtete »Paris is Burning ball in 1981« (2011: 5). Auf Duprees Bällen etablierte sich Voguing als Tanzstil: »voguing emerged as a distinctive dance [...], where specific voguing categories were eventually introduced« (2011: 5). Prägend dafür wurden die Anleihen aus der Modewelt. Dies kommt in folgender Anekdote zum Ausdruck: »Paris had a Vogue magazine in her bag, and while she was dancing she took it out, opened it up to a page where a model was posing and then stopped in that pose on the beat« (Lawrence 2011: 5). Als zentrale Eigenschaften des Voguing gilt die Übernahme der Modelposen des High Fashion Magazines Vogue. Lawrence nennt weitere Inspirationsquellen, Anleihen und Entwicklungslinien: »Voguing evolved into a contorted, jerky, slicing style of dance when drag queens incorporated kung fu aesthetics into their routines, having become familiar with the swift, angular movements of Bruce Lee and his co-stars while working trade inside Time Square’s porn cinemas, or heading there after a night’s work to get some rest. Also inspired by the precise, angled strokes of Egyptian hieroglyphics, voguers hailed from the same ethnic, working-class environments as the kids who pioneered breaking in the mid-1970s. And just like the breakers, they honed their skills through a mix of competitive instinct, athletic ability and, above all, a desire

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Im Artikel »Voguing – Linien im Raum« werden die Houses als Beziehungsgeografie markiert; diese familienähnlichen Kollektive werden im Sinne einer Foucault’schen Heterotopie interpretiert (Krauß 2015: 96‒97). Tiphaine Bressin und Jérémy Patinier führen in ihrem Buch Strike a Pose. Histoire(s) du Voguing (2012) Kategorien des Ballrooms auf (2012: 39‒45). Exemplarisch werden einige von ihnen herausgegriffen: Best Dressed, Big Boy/Girl, Bizarre, Butches, Hands Performance, Realness und Vogue Fem (2012: 39-45). Paris Dupree ist eine legendäre Figur der Ballroom-Szene.

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to be seen (rather than a desire to become part of the crowd, which motivated most club and party dancers).« (Lawrence 2011: 5) In dieser Aussage kommen ästhetische Konzepte, die das Bewegungsmaterial des Voguing charakterisieren, zum Ausdruck. Die Spannbreite der Anleihen und Referenzen ist groß. Lawrence nennt Personen, die an der Gestaltung der Voguing-Kultur maßgeblich beteiligt waren.11 Das Verschwinden dieser Kultur aus dem Blick der Öffentlichkeit verknüpft er mit der Ausbreitung von AIDS in den 1980er Jahren, woran viele Voguing-Protagonist*innen starben (Lawrence 2011: 9‒10).

2.3

Prozesse der Aneignung und Übernahme

In der New York Times erschien der Artikel »Paris has burned« (1993). Jesse Green schreibt: »Paris is no longer burning. It has burned. And not only because of the casualties. No one needs to go to a ball to see drag anymore: Dame Edna Everage has television specials, Ru Paul mugs on the covers of magazines, fashion shows feature drag acts on the runway. No one needs to go to a ball to see voguing either, not since Madonna gobbled it up, appropriating two Xtravaganzas in the process.« (1993) Madonnas Hit Vogue machte Voguing über die Grenzen der Community hinaus bekannt. Zu ihrem Song tanzte sie zusammen mit Voguing-Tänzer*innen aus der Szene. Diese Art der Aneignung und Übernahme wurde sowohl von den Performer*innen der Szene als auch von Außenstehenden kritisch kommentiert, was auch in dem Film Strike a Pose (Zwaan, Gould 2016) zum Ausdruck kommt. In diesem Film versammeln sich die Tänzer*innen nach Jahrzehnten wieder, berichten über ihre Sehnsüchte, erzählen von vergangenen Ereignissen und kritisieren die kulturelle Aneignung des Voguing durch Madonna. Judith Halberstam, die in ihrem Buch In a Queer Time and Place Konzepte queerer Zeiten und Orte elaboriert (Halberstam 2005: 6), setzt sich kritisch mit der Übernahme spezifischer kultureller Eigenheiten in den Mainstream auseinander. Sie identifiziert zwei Seiten dieses Aneignungsprozesses: »On the one hand, the mainstream recognition and acknowledgment of a subculture has the potential to alter the contours of dominant culture (think here

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In der Veröffentlichung von Baker kommen u.a. folgende Personen zu Wort: Hector Xtravaganza, Kevin Ultra Omni, David Ultima, Danny Chislom, Tommie LaBeija, Muhammad Omni, Adrian Magnifique und Robbie Saint Laurent.

2. Voguing und sein Archiv

of the small inroads into popular notions of sex, gender, and race made by the regular presence of black drag queen Ru Paul on cable television). But on the other hand, most of the interest directed by mainstream media at subcultures is voyeuristic and predatory.« (Halberstam 2005: 156‒157) Halberstam gibt zu bedenken, dass die Übernahme subkultureller Eigenheiten zwar die Vorstellungen dominanter Kulturen verändern kann, hierzu fügt sie exemplarisch die Vorstellungen über Geschlechterzugehörigkeiten an, sie dennoch Züge von Voyeurismus tragen. Sie verweist auf Praktiken kultureller Aneignung aus dem Kontext des Voguing und der Drag Balls und führt hierzu eine Untersuchung von José Gatti und Marco Becquer an, die sich mit dem Film Paris is Burning und dem Hit Vogue beschäftigen: »Gatti und Becquer show how the counterhegemonic knowledge articulated in voguing meets with ›the violence of the universal‹« (2005: 157‒158).12 Halberstam betrachtet die kulturelle Aneignung als einen gewaltvollen Akt. Indem der Öffentlichkeit neue und im Trend liegende Praktiken dargeboten werden, bleiben die Protagonist*innen einer Kultur als unbedeutende Personen zurück: »And so while the queens in Paris is Burning expressed a desire for precisely the kind of fame and fortune that did eventually accrue to voguing, the fame went to Livingston and the fortune went to Madonna« (2005: 158, Herv. i.O.). Die Performer*innen, die Voguing hervorbrachten, blieben in ihrer Welt, die auch aus Sexarbeit, HIV-Infektionen und queerem Glamour besteht, zurück (2005: 158). Bell hooks13 kritisiert im Kapitel »Brennt Paris?« ihres Buches Black Looks. Popkultur – Medien – Rassismus die unreflektierte Vereinnahmung anderer kultureller Erfahrungen in Livingstons Film Paris is Burning. Die Frage der kulturellen Vereinnahmung sei von Livingston nicht diskutiert worden (hooks 1994: 187), außerdem reflektiere sie nicht die politische und ästhetische Bedeutung, die sie als ›weiße‹ Frau durch ihre Entscheidungen konstituiere. Kritisch betrachtet hooks auch, wie Erfahrungen im Film geformt und interpretiert werden: »Livingston umgeht die schwierigen, tiefer liegenden Fragen danach, was es bedeutet, als weiße Person in einer weiß dominierten Gesellschaft einen Film zu produzieren, der sich mit einem Aspekt schwarzen Lebens befaßt« (1994: 187). Hooks wirft Livingston ein mangelndes Problembewusstsein im Hinblick auf die Vermarktung des ›Schwarzseins‹ (1994: 188‒189) vor, kritisiert ihre Vermarktungsstrategien und konstatiert, dass die Ausbeutung ›schwarzer Kultur‹ nur möglich ist, weil ›Weißsein‹ in der Gesellschaft nicht markiert werden muss und somit ›weißer Kulturimperialismus‹ ermöglicht wird:

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»Elements of Vogue« von José Gatti und Marco Becquer (Halberstam 2005: 157). Bell hooks ist eine Literaturwissenschaftlerin und Kulturkritikerin. Ihr Pseudonym wird in Kleinbuchstaben geschrieben (hooks 1994: 9‒17).

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»Der aktuelle Trend, für den Appetit der weißen KonsumentInnen farbenfrohe Ethnizität zu produzieren, macht es erst möglich, Schwarzsein in noch nie dagewesener Weise zu vermarkten. Damit können Weiße die schwarze Kultur vereinnahmen, ohne Weißsein in Frage zu stellen oder sich um das Unbehagen von Schwarzen zu kümmern. So wie weißer Kulturimperialismus die abenteuerlichen Reisen kolonisierender Weißer in die Länder und Kulturen der ›dunklen Anderen‹ prägte und bestätigte, so erlaubt er einem weißen Publikum, Darstellungen schwarzer Kultur zu applaudieren, wenn es mit den dargestellten Bildern und Verhaltensweisen zufrieden ist.« (hooks 1994: 189‒190) Hooks spricht hier eine Form von ethnisch begründetem Rassismus an. Mit dem Konzept ›Weißsein‹ ermächtigen sich die ›Weißen‹ selbst, unmarkiert zu sein, während sie gleichzeitig alle anderen markieren. ›Schwarz- und Weißsein‹ werden zu sozialen Konstruktionen, die von ›Weißen‹ bestimmt sind und den Angehörigen unterschiedliche Rechte in der Gesellschaft zusprechen. Hooks prangert das Sichnicht-infrage-Stellen der ›Weißen‹ an, gerade auch, wenn es gilt, filmische Bilder über andere Kulturen zu etablieren. Diskussionen über den ethnographischen Blick, wie er von Livingston eingenommen wurde, werden nicht nur von hooks, sondern auch von Butler geführt.14 Beide erörtern Transformationsprozesse im Sinne einer kulturellen Übernahme. Die Betrachtungen von Jasmin Ihraç werden ebenfalls zum Aspekt Aneignung und Übernahme herangezogen, da sie nicht nur vom Film Paris is Burning ausgeht, sondern auch von heutigen aktuellen Voguing-Bewegungen in Berlin. Sie setzt sich mit der Bewegungssprache des Voguing auch vor dem Hintergrund seines sozialen und historischen Kontextes auseinander und verhandelt bewegungstechnische Elemente auf der Grundlage von sozialen Funktionen. Dabei gelangt sie zu der Auffassung, dass »Voguing nicht nur als Tanzstil, sondern als sozial strukturierte Praxis zu verstehen« (Ihraç 2017: 140) ist. In Anlehnung an Butler diskutiert sie die Ambivalenz zwischen Aneignung und Subversion von kulturellen Normen. Bei Butler bleibe jedoch »unberücksichtigt, dass der Tanz gerade als Ressource zur Selbstbehauptung genau denen diente, die als queere people of colour unterdrückt und verfolgt wurden« (2017: 141). Ihraç bestimmt Voguing als eine subversive Praxis und als einen »Kampf gegen die eigene Armut« (2017: 141). Als Beweis für diese Art der Selbstbehauptung führt Ihraç die Diversität der Kategorien an, die es den Performer*innen ermöglichen, unterschiedliche Darstellungsweisen des Selbst zu verwirklichen. Bei ihren Betrachtungen zum Phänomen Voguing zieht sie nicht nur den Film Paris is Burning heran, sondern auch Dokumente aus dem Internet sowie die Bälle der Voguing Out Festivals in Berlin. Anhand dieser Quellen beleuchtet

14

Vgl. hierzu Butlers Kapitel »Gender is Burning: Fragen der Aneignung und Subversion« (2014: 171‒197) in ihrem Buch Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (2014).

2. Voguing und sein Archiv

sie das Verhältnis zwischen Bewegung und sozialem Kontext und kommt dabei zu dem Schluss: »Aber es bleibt festzuhalten, dass Voguing nicht mehr das Mittel der Wahl zu sein scheint, um soziale Missstände zu artikulieren. Dies liegt sicher auch daran, dass diejenigen, die sich heute tänzerisch darauf beziehen, aus anderen sozialen Kontexten stammen« (2017: 145). Und weiter: »Versteht man Voguing in seiner Anfangszeit als Bewegung, die sich mit dem Mittel der Performance gegen soziale Missstände richtete und in erster Linie über die Einbindung in einen bestimmten sozialen Kontext reproduzierte, so zeigt sich heute, dass sich Wege und Mittel der Aneignung diversifiziert haben« (2017: 145). Die Loslösung des Voguing von seinem sozialen Kontext zeigt sich in den Kostümierungen; es geht »weniger um das Aufgreifen und Umkehren sozialer Rollen« (ebd.), sondern vielmehr um eine »phantasievolle Verkleidung« (ebd.), so Ihraç.

2.4

Voguing im Film

Ziel dieses Abschnittes ist es nicht, eine Filmografie der Dokumentationen der Ballroom-Kultur darzustellen. In den vorangegangenen Abschnitten wurde immer wieder der Dokumentarfilm Paris is Burning (1990) von Jennie Livingston erwähnt. Lucas Hilderbrand, Film- und Medienwissenschaftler, analysiert ihn in seinem Werk Paris is Burning. A Queer Film Classic (Hilderbrand 2015).15 Er schreibt: »For Livingston, making Paris is Burning was serendipitous, a labor of love, and a political project« (2015: 24, Herv. i.O.). Mitte der 1980er Jahre begann sie die Ball-Szene fotografisch zu dokumentieren (2015: 24‒25). »She knew, however«, so Hilderbrand, «that she had encountered an extraordinary documentary subject, one that pushed her queer-feminist-leftist politics to a whole new level of cultural analysis and potential« (2015: 25). In den 1990er Jahren entfachte Livingstons Film eine Diskussion über die von ihr eingenommene Perspektive. Butler fragt: »Handelt es sich um die Erzeugung des schwarzen Transsexuellen für einen exotisierenden weißen Blick, oder ist es nicht auch die Transsexualisierung des lesbischen Begehrens?« (Butler 2014: 190). Sie behauptet auch eine »ethnographische Eingebildetheit« (2014: 191), die auf einem unmarkierten weißen Blick gründet (ebd.). Butler spricht über die Filmproduktion als »ein Eindringen in das gesamte Gefüge« (ebd.) und wünschte sich, dass diese »Einmischung« (ebd.) reflektiert worden wäre. Auch hooks kritisiert Livingston hinsichtlich ihres Blickwinkels und meint: »In der Welt der schwarzen schwulen Tuntenball-Kultur, die sie beschreibt, wird die Vorstellung von Frausein und Weiblichkeit völlig durch Weißsein verkörpert« (hooks 1994: 182). Phelan bemängelt, dass der Film die politischen Aussagen der Bälle transformiert

15

Hilderbrands Buch erschien erstmals 2013.

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Voguing on Stage

(Phelan 2001: 93). Dazu verweist sie auf die unterschiedlichen Positionen der Zuschauer*innen auf den Bällen und den Betrachter*innen des Films (2001: 102). Erwähnen möchte ich die 2006 erschienene Dokumentation How Do I Look des Filmemachers Wolfgang Busch. Zu Beginn des Films erzählt Muhammad Omni die Geschichte des Voguing. Dieser Moment kann als ein Akt der Selbstermächtigung gedeutet werden, da er dem Voguing-Performer erlaubt, seine Geschichte selbst zu erzählen und somit selbst über seine kulturelle Praxis zu verfügen. Busch, der Mitglied des House of Omni ist, lässt in seinem Film die Mitglieder der BallroomGemeinschaft zu Wort kommen. Der Kulturwissenschaftler Simon Schultz von Dratzig hat Dokumentarfilme zur Ballroom-Kultur analysiert und arbeitet jeweils die Funktion des Tanzes Voguing heraus (Schultz von Dratzig 2017: 1). Die Ergebnisse möchte ich skizzenhaft darstellen, da die beiden von ihm herausgefilterten Narrative ‒ Natürlichkeit und Selbstermächtigung ‒ die soziale Funktion des Tanzes unterstreichen. Das Narrativ Natürlichkeit beinhaltet den Aspekt »situationsbedingte Direktheit der Bewegung« (2017: 237) sowie die Fähigkeit, »sich die Bewegungsfolgen anzueignen oder aber diese ausführen zu können, als naturgegeben« (2017: 238). Schultz von Dratzig bezeichnet somit die selbstbestimmte Improvisation und das autodidaktisch erlernte Bewegungsvokabular als zentrale Eigenschaften des Narrativs Natürlichkeit. Er hebt hervor: »Argumentativ sprechen sich die einzelnen Tänzer_innen sowohl die Genese des Tanzes als auch die Deutungshoheit über den Tanz selbst zu. Ihr Körper ist gleichzeitig die Quelle des Körperwissens und die Autorität über dieses Wissen. Diese doppelte Verortung sowohl des Ursprungs als auch des Urteils im eigenen Körper ist eine Rhetorik der körperlichen Selbstbestimmung. Das Resultat dieser Rhetorik ist, dass dem Körper die Deutungshoheit über sich selbst nicht mehr mit argumentativen Mitteln abgesprochen werden kann.« (Schultz von Dratzig 2017: 238) Das heißt, dass das Zusammenfallen des Ursprungs und Urteils im Körper der Tänzer*innen dazu führt, dass diesen eine Deutungshoheit über den Tanz Voguing zukommt. Die Produktion und Wirkung des Tanzes und des Tanzens prägen die am Subjekt orientierte Ästhetik. Schultz von Dratzig elaboriert folgendes Narrativ der Selbstermächtigung: »Das Narrative der Selbstermächtigung, des empowerment, ist innerhalb des Corpus in zwei Aspekte gegliedert. Einerseits handelt es sich um eine prozessuale Befähigung, den ökonomischen Erfolg zu haben [...]. Andererseits geht es um eine persönliche, emotionale Selbstbestimmung, die eine psychische Stabilisie-

2. Voguing und sein Archiv

rung und damit verbunden einen sozialen Erfolg bedingt.« (Schultz von Dratzig 2017: 240, Herv. i.O.)16 Der Film How Do I Look von Busch und die Ergebnisse der Analyse von Schultz von Dratzig werden hier aufgeführt, um die situationsbedingte Hervorbringung des Voguing zu unterstreichen. Außerdem möchte ich damit den Performer*innen die Deutungshoheit über die Voguing-Kultur zusprechen. Dabei rückt der Körper als Ursprung, Urteil und Instrument der Selbstermächtigung ins Zentrum der Betrachtung von Voguing.

2.5

Reflexionen zur Tanzfotografie: Voguing-Bildbände

Bilddokumente und essayistische Beiträge liefern die Bücher Voguing and the House Ballroom Scene of New York City 1989‒92 (Baker 2011) und Legendary. Inside The House Ballroom Scene (Gaskin 2013). Ersteres – mit einer ausführlichen Darstellung der Geschichte des Voguing von Tim Lawrence – gibt aufgrund der vielen Fotografien einen plastischen Eindruck über Gestaltung der Körper, Körperbilder und deren Kostümierungen im Ballroom. Chantal Regnault interviewte viele Protagonist*innen der Voguing-Szene und veröffentlichte diese Interviews zusammen mit ihren Fotografien. Die Aussagen der Tänzer*innen geben Einblicke in Motive und Motivationen der kulturellen Praxis Voguing. Gerard H. Gaskins Verdienst ist der Bildband Legendary, der ebenfalls eindrückliche fotografische Einblicke in die Ballroom-Kultur ermöglicht. Die Fotografien zeigen Situationen sowohl auf als auch hinter der Bühne sowie Szenen jenseits der Bälle. Deborah Willis beschreibt einleitend, wie die Fotografien zustande gekommen sind und Frank Roberts fasst zentrale Konzepte der Ballroom-Kultur zusammen, die sich auch im fotografischen Werk Gaskins widerspiegeln. Die Fotosammlungen Regnaults (2011) und Gaskins (2013) können als tanzwissenschaftliches Archiv genutzt werden. Sie zeigen Performer*innen des Ballrooms in unterschiedlichen Szenerien und geben Auskünfte über Körperpräsentationen, Posen und Kostüme. Eine vollständige Analyse dieser Fotografien steht noch aus und wird im Folgenden nur angedeutet. Die fotografischen Einblicke von Gaskin und Regnault in die Ballroom-Kultur lassen sich meines Erachtens mit den Reflexionen zur Tanzfotografie, wie sie von Tessa Jahn, Eike Wittrock und Isa Wortelkamp formuliert werden, analysieren. Sie bestimmen den Wert der Tanzfotografie folgendermaßen:

16

Vgl. hierzu auch die Diskussion von Giersdorf zum Konzept agency im Zusammenhang mit Tanz (2013: 581).

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»Fotografien schreiben Geschichte, insofern das Fotografierte durch die spezifische Medialität und Materialität der Fotografie sowie die Ästhetik einer Zeit oder der Handschrift einer Fotografin oder eines Fotografen geprägt ist. An der Geschichtsschreibung beteiligt sind die archivarischen Zusammenführungen und historiografischen Überlieferungen, die verschiedenen Selektions- und Produktionsprozesse von Autorinnen und Autoren, Verlagen, Museen und Künstlerinnen und Künstlern, die sich in Büchern, Katalogen, Aufsätzen, Ausstellungen, Programmheften manifestieren. Sie bilden gemeinsam mit den institutionellen, sozialhistorischen, ästhetisch-politischen Prozessen den epistemologischen Kern der Tanzfotografie, deren historiografischer Wert sich sowohl im Bild als auch in seinen verschiedenen Verwendungs- und Erscheinungsweisen konstituiert.« (Jahn et al. 2015: 16‒17, Herv. i.O.) Im Sinne eines quellenkritischen Verfahrens schlagen die Autor*innen drei Ebenen der Analyse vor: Die erste bezieht sich auf das ästhetische Erscheinungsbild, die zweite auf den medialen Erscheinungskontext und die dritte Ebene spezifiziert die Signifikationsprozesse (Jahn et al. 2015: 16). Diesen drei Ebenen folge ich im weiteren Verlauf der Analyse. Gaskin zeigt 92 Fotografien in schwarz-weißer oder farbiger Ausprägung, die zwischen 1995 und 2013 aufgenommen wurden und die Ballroom-Kultur dokumentieren. Es handelt sich um Portraits, Gruppendarstellungen und vielfältige Situationen innerhalb des Ballrooms, wie beispielsweise in der Umkleide oder bei den Aufführungen. Dabei reicht der fotografische Blick von detailgenauen Ausschnitten bis hin zu Aufnahmen von großen Menschenmengen. Zwei ausgewählte Fotografien werden im Folgenden der Perspektive einer tanzwissenschaftlichen Fotografieanalyse unterzogen, die insbesondere auf Posen und Kostüme zielt. Jahn, Wittrock und Wortelkamp beschreiben in ihrer Einführung »Bilder von Bewegung« (2015) die Aufnahmen von bewegten Körpern wie folgt: »Was die Fotografie dabei festhält, ist ein Bild, wie es für den menschlichen Blick jenseits dieser zeitlichen und räumlichen Rahmung nicht wahrnehmbar ist. [...] Was wir in ihr sehen, ist nie so gewesen« (2015: 11, Herv. i.O.).17 Das bedeutet: Gaskins Fotografien zeigen stillgelegte Momente, die sich während des Tanzens ereigneten oder die mittels des fotografischen Blicks entstanden sind. Anhand einer Fotografie in Gaskins Bildband werde ich das fotografisch festgehaltene oder tänzerisch erzeugte Posieren genauer betrachten.18 Sie zeigt eine Tänzer*in am Ende der Bühnenfläche, die in roten High Heels auf einem Bein steht, das andere ist angewinkelt, die Arme sind nach unten gestreckt, die rechte Hand ist geflext. Der Rücken 17 18

Die »Verschränkung der Zeiten« (Jahn et al. 2015: 11) betrachten die Autor*innen im Anschluss an Roland Barthes. Das Foto aus dem Bildband Legendary. Inside The House Ballroom Scene (Gaskin 2013) zeigt eine Performer*in auf dem Evisu Ball, Manhattan, NY 2010 (Gaskin 2013: Abbildung 82).

2. Voguing und sein Archiv

ist in das Hohlkreuz gedrückt, sodass sich die Brust deutlich nach vorne wölbt, der Kopf nach rechts gebeugt, auf die Schulter blickend. Diese Pose soll in zweierlei Hinsicht gedeutet werden. Zum einen stellt sie das fotografische Moment der Erzeugung einer Pose dar, zum anderen ein dem Voguing typisches choreografisches Element. Auf beiden Ebenen prägt die Bewegung das gestalterische Prinzip. Das bedeutet, dass der fotografische Blick das Festhalten der Pose ermöglicht und die tänzerische Bewegung die Stilllegung der Pose. Dieser Moment der herausgehobenen Stilllegung von Bewegung lässt sich mit folgenden Worten beschreiben: »Nicht die Bewegung im Vollzug, sondern die Bewegung im Stillstand wird hier zum Bild des Tanzes« (Jahn et al 2015: 22).19 Die fotografische Unterbrechung von Bewegung inszeniert als Bild eine Pose und reinszeniert das choreografische Moment des Posens beim Voguing. Die Fotografie fängt einen Moment ein, der die Bewegungen figuriert. Gleichzeitig spiegelt dieser Moment das choreografische Element der Pose wider. Die hier modulierte Sinnzuweisung umkreist das Thema Stilllegung und Bewegung, das in der Fotografie wie auch im tänzerischen Verhalten des Voguing zu finden ist. Die subjektive Perspektive des Fotografen sowie seine gestalterische Einflussnahme, die nicht eruiert werden kann, referieren fotografisch die vergangene Wirklichkeit als ein Bild, das nicht nur auf die Fixierung von Bewegung verweist, sondern auch auf dessen Konstruktion. Das Verhältnis zwischen Fotografie und Bewegung im fotografischen Werk ist nicht deckungsgleich mit der Stilllegung einer Bewegung im Tanz. Die Fotografie gibt keine Aufschlüsse darüber, »wie die einzelnen Figuren in ihre Posen hineingefunden« (Thurner 2015: 37) haben. Nach Thurner sieht der Betrachtende »auf der Fotografie […] die zu Papier gebrachte Perspektive des Fotografen auf einen Ausschnitt der ›Wirklichkeit‹« (2015: 38).20 Demnach sind die Fotografien Regnaults und Gaskins ästhetische Produkte einer fotografisch inspirierten Blickrichtung. Dennoch haben sie die Beweiskraft, Einblicke in die Ballroom-Kultur zu geben. Die folgenden Aussagen zum Kostüm beziehen sich auf die Fotografie in Gaskins Bildband.21 Eine bis zur Taille abgebildete Performer*in trägt auf dem Kopf ein aus weißem wolle- oder watteartigem Material gestaltetes Haarteil; das Oberteil besteht aus einer golden schimmernden Plastikfolie mit einem tiefen Dekolleté;

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Jahn et al. kommen zu dieser Aussage nach der Betrachtung und Analyse einer Fotografie Pavlovas. Ihre Aussagen zur Pose, Stillstand und Bewegung lassen sich meines Erachtens auf die Pose des Voguing übertragen. Thurner zeichnet in ihrem Artikel »Quelle Tanzfotografie. Ein Dilemma der Historiografie« (2015) die Spurensuche eines Petruschka-Bildes nach, um exemplarisch für historiografische Erkenntnisse Denkanstöße zu liefern. Die hier zitierte Aussage bezieht sich auf diesen Suchvorgang und wird in einem übertragenen Sinne fruchtbar gemacht. Das Foto aus dem Bildband Legendary. Inside The House Ballroom Scene (Gaskin 2013) zeigt die Performer*innen Tez und im Hintergrund Marquise auf dem Evisu Ball, Manhattan, NY 2010 (Gaskin 2013: Abbildung 22).

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Voguing on Stage

die Taille ist mit einer Vielzahl rot- und goldfarbener Knöpfe besetzt; der breite, überdimensionale Kragen ist aufgestellt; die Arme und Schultern sind mit einem üppigen Volant geschmückt. Diese Fotografie kann als historiografische Quelle zur Analyse des Kostüms verwendet werden. Thurner hinterfragt das Wissen, das Fotografien generieren. Sie behandelt die Tanzfotografie mit Vorsicht, wenn es gilt, historische und kulturelle Kontexte sowie genrespezifische Bedingungen mitzubedenken (2015: 30). In ihrer quellenkritischen Sensibilisierung hebt sie drei Aspekte hervor: die Autorenschaft, da diese »in einem bestimmten Kontext stand und das Bild aus bestimmten Gründen in einer bestimmten Situation aufgenommen« (2015: 35) wurde; dabei erscheint der Autor »als der Künstler« (2015: 36, Herv. i.O.). Als weiteren Aspekt hebt sie das »Verhältnis vom Bild zur Aufführung« (2015: 37) hervor: »Fotografien sind als anschauliche Momentaufnahmen eines jeweiligen Tanzstücks bzw. eines künstlerischen Werks aufschlussreich. Allerdings vermitteln sie lediglich Posen, geben einen Eindruck von den Kostümen, von der Szenerie, von den (stillgestellten) Körpern der Tänzerinnen und Tänzer« (2015: 37). Als dritten Aspekt nennt Thurner die »tanzhistoriografische Funktion der Fotografie« (2015: 39). Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass die Fotografie die Funktion einer bezeugenden Quelle einnehmen kann, wenn Tanzhistoriker*innen den Umstand berücksichtigen, dass hinter der Fotografie ein Konzept von Repräsentation steht, das Entscheidungen und Möglichkeiten des Settings beinhaltet (2015: 39). Deshalb schlägt sie eine dynamische Betrachtungsweise vor, die Polaritäten wie Wirklichkeit und Abbild auflöst (2015: 40). Folgt man Thurners Überlegungen, sind folgende Aussagen bezüglich der oben beschriebenen Fotografie möglich: Der Fotograf Gaskin nahm das Bild im Ballroom auf. Der genaue Ort ist nicht ersichtlich. Außerdem kann nicht gefolgert werden, ob es sich um einen stillgelegten Körper oder um einen Körper in Bewegung handelt. Der Eindruck, den die Fotografie vom Kostüm gibt, ist hingegen aufschlussreich hinsichtlich seiner konkreten Gestaltung. Das Verhältnis von fotografischem und choreografischem Werk bestimmt die Fotografin Regnault folgendermaßen: »Every look makes you look, the camera is ready: click, click, click! Some you get and some you don’t, but you’re also there to enjoy, and you have all night to catch the cast. Will the legendary ballroom legends walk this runway? As the spotlights went on and the music came up, fabulous femme queens, sexy and elegant butch queens, impressive butches, the extended family of ball children and their iconic mothers and fathers ... everyone was catwalking, gliding, hand voguing, pop, dip and spinning, giving their best to get the trophy, to get the cash, to get the fame.« (Regnault 2011: 11) Damit eröffnet sie die Betrachtung von zwei Ebenen: »Every look makes you look« (ebd.). Die eine Ebene verweist auf die Perspektive der Bildkomposition. Indem die

2. Voguing und sein Archiv

Fotografin einen Ausschnitt der Wirklichkeit stilllegt, wird die Flüchtigkeit der tänzerischen Bewegung in einem konkreten Bild inszeniert. Die zweite Ebene fokussiert nicht nur den gewählten Ausschnitt und dessen Stilllegung, sondern auch die Ausdrucksweise der Performer*innen. Die Fotografin erhebt sich zur Gestalterin des Looks. Dabei überlagert sich die Verfasstheit von Blick, Anblick und Aussehen. Die Sichtung der Fotografien zeigt eine Vielfalt an glamourösen, opulenten, bezaubernden, kreativen, glitzernden oder auffallenden Kostümen. Lawrence beschreibt die Kostüme, die in der damaligen Zeit im Ballroom inszeniert wurden, als »new heights of extravagance and glamour« (Lawrence 2011: 3). Die Fotografien zeigen in schillernden Farben Menschen, Kostüme und Orte und liefern Einblicke in »a sense of the ways in which balls are inspired by burlesque and fashion runway shows« (Willis in Gaskin 2013), so Deborah Willis in ihrem Vorwort zu Gaskins Fotografien. Roberts beschreibt die Art und Weise des Sich-Kleidens im Ballroom folgendermaßen: »In the context of this new, antinormative lifeworld (with its bold colors and off-the-wall costumes), a sequined dress or a shimmery helmet is reconfigured as a site of transgressive self-fashioning« (Roberts in Gaskin 2013). Die Strategien des Sich-Kleidens sind nicht nur Ausdruck von Kreativität, sondern vielmehr Ausdruck eines bestimmten Lebensstils.

2.6

Eine mediale Rezeption: Berlin is Burning

Im Jahr 2012 fand das erste Voguing Out Festival in Berlin statt, bei dem internationale Voguing-Tänzer*innen gegeneinander antraten. Für die Journalist*innen stellte dies eine Herausforderung dar, galt es doch, über einen bisher in Deutschland nahezu unbekannten Tanzstil zu berichten. Ihre Texte werden im Folgenden herangezogen, um zu zeigen, wie Voguing medial übersetzt wurde. Sie geben Auskünfte über dessen Geschichte, Kultur und Ausdrucksweisen.22 Für die folgenden Ausführungen wurden Veröffentlichungen der Süddeutschen Zeitung, der taz. Die Tageszeitung und der Zeit ausgewählt. Die dabei fokussierten Ereignisse reichen von Ankündigungen von Festivals, Berichterstattungen über Festivals und Events, Hinweise auf Buchveröffentlichungen, Portraits von Tänzer*innen, Filmankündigungen bis zu Besprechungen von Inszenierungen. Ich beziehe mich auf folgende Artikel aus der Zeit: »Voguing: Pose für mich!« (Beckers 2014), »Vogueing-Tänzerin Leiomy Prodigy: Sie tanzt um ihr Leben« (Würfel 2014) und »Voguing in New York: Von der Pose zum Tanz« (Weihser 2011); auf folgende Artikel aus der taz. Die Tageszeitung:

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Artikel der New York Times betrachten und kommentieren das Geschehen in New York. Sie lassen sich als journalistisch geprägte Zeugnisse der Geschichte des Voguing lesen und spiegeln Entwicklungen seit den 1960er Jahren wider. Eine Aufarbeitung des Archivs der New York Times hinsichtlich der Geschichte des Voguing steht noch aus.

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»Ballroom Culture im Berliner HAU. She’s a pretty boy« (Aha 2016), »Fake it to make it!« (Buhre 2014), »Als Harlem noch schillerte und brannte« (Jochmaring 2012); und auf folgende Artikel aus der Süddeutschen Zeitung: »15. Festival Dance Queer, divers, diskriminiert« (Leucht 2017), »Ultrafeminines, flamboyantes Posen« (Kedves 2015). Die Artikel werden einer Revision unterzogen im Sinne einer Sichtung der behandelten Themen und der Identifikation des Tanzstils Voguing. Des Weiteren verweisen diese journalistischen Texte auf Protagonist*innen der Voguing-Szene, auf geschichtliche Ereignisse und popkulturelle Anleihen, referieren wissenschaftliche Theorien und beleuchten kritisch globale Veränderungen des Voguing. Die Texte liefern meines Erachtens Zeugnisse von Erfahrungen und Wissensformen, die Voguing als gegenwärtiges und historisches Faktum erscheinen lassen. Dabei gilt es zu bedenken, dass Tanzkritiken immer verschiedene Leseerwartungen beim Schreiben erfüllen (Thurner 2011: 137) und unterschiedliche Ziele verfolgen. Sie haben »die Bedeutung, zu informieren, Tanzereignisse in größere Zusammenhänge einzuordnen und zu bewerten« (2011: 138). Nach Thurner handelt es sich um den Versuch der »Nachträgliche[n] Sichtbarmachung, also de[n] Versuch, bewegte Bilder durch die Be-Schreibung so einzufangen beziehungsweise zu vermitteln, dass sie vor den Augen der Lesenden wieder auferstehen« (2011: 141, Herv. i.O.). In den herangezogenen Artikeln manifestiert sich das Tanzereignis als eine Ansammlung von Aussagen. Der Aufführungscharakter von Voguing-Bällen, der in einer augenblicklichen Ereignishaftigkeit erzeugt wird, bleibt hinter dem Sprechen über Voguing verborgen. Dennoch haben die journalistischen Repräsentationen von Voguing einen aufklärenden Charakter: Die Leser*innen werden mit dem Phänomen Voguing vertraut gemacht. Dabei geht es nicht um eine »akribische Bewegungsanalyse« (2011: 142), sondern »um eine Er-Schreibung von Wirkung« (ebd.). Betont werden, folgt man Thurners Argumentation zur Tanzkritik, die Rezeption und Wahrnehmungsweisen (ebd.). In den Texten wird somit der Gegenstand Voguing rekonstruiert und es werden bedeutende Eigenheiten des Voguing rezipiert. Der »Zirkel aus Wahrnehmung und Diskurs« (Thurner 2011: 145), wie er der Tanzbeschreibung und Tanzkritik zugrunde liegt, um Tanzbewegungen in Sprache übertragen zu können, wird in meiner folgenden Revision nicht erschöpfend analysiert. Vielmehr geht es darum, die zentralen Aussagen zu und über Voguing herauszufiltern und die zentralen Themen und Diskurse darüber zu rekonstruieren. In den journalistischen Texten finden sich Beschreibungen zum tänzerischen Geschehen und zu den Kostümen. Dabei wird die enge Verbindung zwischen Voguing und Modenschauen betont. Franziska Buhre meint: »Haltungen und Posen aus Modemagazinen wurden schließlich stilbildend für den Tanz, in dem jede Bewegung ein Foto markiert, eine Bewegungsfolge eine Fotoserie« (Buhre 2014). Maja Beckers beschreibt Voguing als einen Tanzstil, »bei dem Modelposen aneinandergereiht werden, wie sie etwa in der Modezeitschrift Vogue zu sehen sind« (Beckers 2014, Herv. i.O.), und der »Posen aus Modemagazinen mit schnellen,

2. Voguing und sein Archiv

rechtwinkligen Armbewegungen und Elementen der martial arts oder Akrobatik [verbindet]. Zu den Beats von House-Musik wird immer wieder rhythmisch innegehalten, die Pose zählt, bis in die Mimik« (2014, Herv. i.O.). Nach Carolin Würfel imitiert Voguing »die kantigen und doch graziösen Posen von Models auf dem Runway« (2014). Mic Oala, eine Protagonistin aus Berlin, erklärt: »Beim Voguing ahmt man die Posen der Covermodels von Modemagazinen nach« (Mic Oala in Aha 2016). Diese Aussagen explizieren das enge Verhältnis zwischen Voguing und den Posen der Modewelt. Das choreografische Element der Pose wird als zentrales Moment der Bewegungssprache herausgestellt. Die Beschreibungen führen den Lesenden Posen von Modemagazinen vor Augen, rufen Erinnerungen an Fotoserien wach und verweisen auf das Vorführen von Kostümen auf dem Laufsteg. Es scheint, dass Voguing ohne Posen, Runways, Kostüme und eine extreme Körperbeherrschung nicht zu denken sei. In den folgenden ausgewählten Aussagen wird die Wahrnehmung von Voguing in der Öffentlichkeit an Livingstons Film Paris is Burning und Madonnas Hit Vogue zurückgebunden. Beckers markiert die Geschichte des Voguing folgendermaßen: »1990 machten Jenny Livingstones Dokumentarfilm Paris is Burning und Madonnas Video zu Vogue den Tanz erstmals über die Szene hinaus bekannt, doch er blieb ein Subkulturphänomen« (Beckers 2014, Herv. i.O.).23 Auch die Autorin Laura Aha bringt Voguing mit dem Erscheinen des Films in Zusammenhang: »Entstanden ist die sogenannte Ballroom Culture in der queeren New Yorker Subkultur der 1960er Jahre, weltweite Beachtung fand sie 1991 durch Jennie Livingstons Dokumentation ›Paris is Burning‹« (Aha 2016).24 Aha betont die Rolle Madonnas bei der Verbreitung von Voguing: »Nachdem Madonna für ihre ›Blond Ambition Tour‹ 1990 Ballroom-Tänzer buchte, wurde Voguing auch im Mainstream bekannt« (2016). Julian Jochmaring verweist auf die Paris is Burning-Bälle von Paris Dupree, die in den 1980er Jahren stattgefunden haben (Jochmaring 2012). Das Erscheinen des Dokumentarfilmes Paris is Burning und Madonnas Hit Vogue stellen in der Berichterstattung markante historische Daten und Ereignisse für die Verbreitung des Voguing dar. Jan Kedves verweist auf das nur kurze Aufblitzen des Tanzstils Voguing in der Öffentlichkeit, wenn er meint: »Doch dann war Madonnas ›Blond Ambition‹-Tour vorbei, der Dokumentarfilm ›Paris Is Burning‹, der 1991 einen Blick in die New Yorker Szene warf, wieder aus den Kinos verschwunden, und es schien, als sei auch Voguing vorüber« (Kedves 2015).

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Die falsche Rechtschreibung der Regisseurin wurde im Zitat übernommen. Die korrekte Schreibweise lautet: Jennie Livingston. Das falsche Erscheinungsjahr des Filmes wurde im Zitat übernommen. Der Film erschien 1990.

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Zum Thema Voguing als Lebensstil und Tanzstil werden von den Journalist*innen soziokulturelle Hintergründe aufgeführt. Nach Beckers war Voguing »der Tanz der meist männlichen homo- und transsexuellen Afroamerikaner während der 1960er Jahre in Harlem« (Beckers 2014). Aha beschreibt das Motiv für die Hervorbringung des Voguing wie folgt: »Für die New Yorker Queer Szene bot Voguing die Flucht in eine Parallelwelt, in der die Leute Anerkennung erfuhren, die ihnen gesellschaftlich oft verwehrt blieb. In den geschützten Räumen der Balls wurden die Ausgegrenzten zu Stars, erlebten seltene Momente der Freiheit und konnten ihren oft harten Alltag für den Augenblick vergessen« (Aha 2016). Auch Buhre beschäftigt sich mit den geschichtlichen und sozialen Implikationen der früheren Voguing-Bewegung in Harlem: »Die Tanzenden, afroamerikanische und lateinamerikanische Homo- und Transsexuelle, die von ihren Familien geächtet oder rausgeschmissen worden waren, zeigten untereinander eine Präsenz, die in der damaligen US-amerikanischen Öffentlichkeit nicht existierte« (Buhre 2014). Explizit werden die Mechanismen des Ausschlusses marginalisierter Gruppen als Motiv für die Entstehung der Voguing-Bewegung genannt. Die in den journalistischen Texten vorgenommene soziokulturelle Einbettung des Voguing erfolgt entlang räumlicher Zuordnung, ethnischer Zugehörigkeit und sexueller Orientierung. Harlem gilt als der Ursprungsort, an dem sich eine afro- und lateinamerikanische queere Gemeinschaft eine eigene kulturelle Identität schuf. Globale Veränderungen, Mechanismen der Verbreitung und Fortschreibungsprozesse der soziokulturellen Tanzpraxis Voguing werden von den Journalist*innen kritisch diskutiert. Beckers zieht dazu einen Vergleich zwischen den Houses der Voguing-Community der 1960er Jahre in Harlem, die sie als »Familienersatz« (Beckers 2014) bezeichnet und den europäischen Houses, die sie als »eher professionelle Tanzgruppen« (2014) betitelt. Kedves spricht von den Voguing-Tänzer*innen, die in Berlin beim Voguing Out Festival auftreten, als »Experten des Voguings« (Kedves 2015), die dennoch »Übersetzungsschwierigkeiten« (2015) hätten, da »die perfekte Ausführung von Figuren nicht automatisch zu Tanz führt« (2015). In diesen Aussagen kommt die von den Journalist*innen geübte Kritik hinsichtlich des Aspekts der kulturellen Übernahme zum Ausdruck. Erwähnenswert ist die Darstellung der journalistischen Texte im Rahmen dieser Archivarbeit deshalb, weil sie Rezeptions- und Wahrnehmungsweisen widerspiegelt. Auch kann meines Erachtens von einer kulturgeschichtlichen Wirksamkeit durch die Weitergabe im Medium des Journalismus ausgegangen werden. Die journalistischen Texte gleichen damit einer Zustandsbeschreibung des Kulturfelds Voguing.

2. Voguing und sein Archiv

2.7

Voguing in einer bewegten Tanzgeschichte

Die kurze Darstellung der Performance 20 Dancers for the XX Century25 des französischen Choreografen Boris Charmatz dient dazu, Voguing als tanzgeschichtliche Bewegung innerhalb einer choreografischen Historiografie26 zu betrachten. Charmatz’ Performance aus dem Jahre 2014 beim Festival Foreign Affairs in Berlin zeigt konkrete Bewegungsmuster, -codes, -techniken und -stile des Voguing. Mit diesem Projekt realisierte Charmatz am Sowjetischen Ehrenmal am Treptower Platz einen Parcours der Tanzgeschichte, der den Zuschauer*innen ermöglichte, über das Gelände des Ehrenmals zu gehen, um bei den einzelnen Performer*innen zu verweilen. Charmatz’ Performance zeigt unterschiedliche tanzgeschichtliche Ereignisse oder Tanztechniken, nicht im Sinne eines Tanzhistorikers, sondern, so die Journalistin Annett Jaensch, als »eine Art Ideenlaboratorium« (2014: 14), »als nomadische Struktur« (ebd.). Das Ganze gleicht einem tänzerisch bewegten Archiv. Die Assemblage von Tanzereignissen beschreibt Charmatz als »subjektive, archäologische Arbeit« (Charmatz in Jaensch 2014: 14). Charmatz’ Performance 20 Dancers for the XX Century war an unterschiedlichen Orten zu sehen. Es ist ein Format, bei dem Charmatz für spezielle Anlässe eigene Versionen schafft: »Nach Präsentationen unter anderem im MOMA in New York, in der Londoner Tate Modern sowie der Opéra Garnier in Paris zeigt das Musée de la danse zur Eröffnung des Tanzkongresses 2016 eine eigens für diesen Anlass geschaffene Version von ›20 Dancers for the XX Century‹« (Programm Tanzkongress 2016). 2016 wurde die Performance beim Tanzkongress in der Staatsoper Hannover aufgeführt. Auch hier ereignete sich die Performance nach einem ähnlichen Konzept: Im Gebäude der Staatsoper zeigten die räumlich verstreuten Performer*innen in Wiederholungsschleifen verschiedene tanzkulturelle Situationen, verwiesen auf Stücke, die sich in den Kanon der Tanzgeschichte eingeschrieben haben, und stellten nahezu unbekannte Tanzstile dar. Die Zuschauer*innen erhielten durch ihr Verweilen an unterschiedlichen Plätzen und zu unterschiedlichen Zeiten einen kaleidoskopartigen Blick in die Geschichte des Tanzes. Die Performance 20 Dancers for the XX Century kann als tanzgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Körper gelesen werden. Sie folgt weder einer linearen

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Ich folge bezüglich des Titels 20 Dancers for the XX Century der Schreibweise von Ana Janevski (2017: 27). Der Begriff »choreografische Historiografie« (2016: 235) geht auf die Untersuchungen von Wehren zurück. Ausgehend vom Körper als Archiv wird eine Sicht auf die Tanzgeschichte geworfen. Dabei schafft der Körper ein neues Wissen über die Vergangenheit. Aussagen zur Tanzgeschichte zeigen sich in einem performativen Akt, im Sinne einer Körpergeschichte (Wehren 2016: 233‒238).

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Geschichtsbetrachtung noch einem bestimmten tanzgeschichtlichen Kanon.27 Die Mixtur dieser Tanzgeschichte ist vielmehr von Charmatz’ subjektivem Vorgehen geprägt, das den Blick auf den Tanz des 20. Jahrhunderts bestimmt. Seine Arbeitsweise wird folgendermaßen beschrieben: »Charmatz lädt Kollegen ein, Solos aus dem letzten Jahrhundert – zum Teil vergessen, zum Teil viel bejubelt – zu erinnern, sich anzueignen und aufzuführen, wobei die Spanne von Meyerholds Biomechanik über Volkstanz und Vogueing bis zum zeitgenössischen Tanz reicht« (Berliner Festspiele Archiv 2014). Bezogen auf die Version in der Staatsoper Hannover 2016 heißt es: »In einem Parcours durch die Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts präsentieren sie individuell ausgewählte oder eigens erarbeitete Soli, die von den Pionier*innen der Moderne und Postmoderne, von Ballett bis Urban Dance reichen« (Programm Tanzkongress 2016). In Hannover war auch der Tänzer und Choreograf Trajal Harrell zu sehen, der in seinen Werken Voguing tanzt, verhandelt oder kommentiert. Er trat hier als Tänzer auf, der nicht auf sein, sondern auf ein anderes choreografisches Werk verwies, nämlich das von Jérôme Bel. In Berlin war 2014 der Tänzer und Choreograf Alexander Cephus, aka Alex Mugler zu sehen, wie er »zwischen Buchsbaumhecken einen Crashkurs in Voguing gibt« (Jaensch 2014: 14). Mit diesen beiden Inszenierungen möchte ich exemplarisch das künstlerische Vorgehen bezogen auf die Betrachtung von Tanzgeschichte unterstreichen. Charmatz’ bewegte Tanzgeschichte ermöglicht den Tänzer*innen, sowohl ihre eigene als auch andere Tanzsprachen bzw. Tanzereignisse zu inszenieren. Das Projekt Musée de la danse unter der Leitung von Boris Charmatz ermöglicht den Tänzer*innen, den Tanz zu erinnern, sowie den Zuschauer*innen, ihn zu betrachten. Charmatz stellt mittels der Performances einen Moment aus, in dem unterschiedliche Strömungen der Tanzgeschichte und verschiedene Techniken des Tanzens nahezu zeitgleich erfahrbar werden. Er gräbt tanzgeschichtliche Ereignisse aus und konfrontiert die Zuschauer*innen damit. Die geschichtliche Betrachtung ist dabei von performativen Akten geprägt, die in einer Gegenwärtigkeit körperliche Handlungen der Geschichte ausstellen. Ehemals generierte Bewegungen werden aufgeführt und fortgeschrieben. Charmatz’ Format eines nomadischen Museums in dem Sinne, dass man von einem geschichtlichen Tanzereignis zum nächsten ziehen kann, bestimmt auch das dynamische Verständnis der

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Im Sinne eines tanzgeschichtlichen Kanons können exemplarisch folgende Werke betrachtet werden: Das große Tanz Lexikon. Tanzkulturen Epochen Personen Werke (2016), herausgegeben von Annette Hartmann und Monika Woitas, versucht der Pluralität des Phänomens Tanz in seiner globalen und historischen Dimension gerecht zu werden. Jochen Schmidt verweist in seiner Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band. Mit 101 Choreographenporträts (2002) auf namhafte Choreograf*innen, die er unter Epochen und Konzepte gruppiert. Auch die beiden Werke Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien (2002) von Sabine Huschka und Tanz (2001) herausgegeben von Sibylle Dahms betrachten den Tanz in Epochen gegliedert.

2. Voguing und sein Archiv

Tanzgeschichte. Der Tanz spricht dabei im Modus der Gegenwart von der Vergangenheit. Dabei erscheinen viele zu unterschiedlichen Zeiten getanzte Stücke oder Tanztechniken zur selben Zeit an einem Ort vereint. Charmatz’ Konzept fußt auf der Idee, die Tänzer*innen selbst zu Wort kommen zu lassen, wenn es gilt, die Geschichte des Tanzes zu erzählen. »Dance history has traditionally been developed from the outside; it has rarely been informed by the dancer’s experience. 20 Dancers for the XX Century took a different approach, acknowledging the dancer as a living archive of history, a site of memory« (Janevski 2017: 27). Der Körper wird dabei als Archiv der Tanzgeschichte betrachtet und rückt ins Zentrum der Geschichtsschreibung: Er ist Quelle, Material und Instrument des Tanzes und des Tanzens selbst. Diese getanzte Tanzgeschichte steht im Gegensatz zu einer im Nachhinein formulierten Geschichte, die mit dem Blick von außen – dabei meint außen hier eine nicht vom Körper aus erinnernde oder tanzende Verkörperung von Geschichte – eine Strömung oder Epoche begrifflich zu fassen versucht.

2.8

Voguing als Ausdruck einer ästhetischen Existenz

Die Tanzwissenschaftlerin Julia Wehren beschreibt die choreografischen Praktiken in der Historiografie, ausgehend vom Körper als Gedächtnisort und Archiv, als kritische, choreografische Reflexionen von Tanzgeschichte, denen ästhetische Grundsätze zugrunde liegen und die somit zu anderen Formen der Darstellung von Tanzgeschichte kommen (Wehren 2016: 244). Die Frage, was vom Tanz übrig bleibt, beantwortet Wehren wie folgt: »Es handelt sich dabei um Spuren, die als Stellvertreter für die abwesenden Körper und Aufführungen stehen« (2016: 111). Sie bezeichnet die medialen Spuren als »materielle Überreste in Form von dokumentarischen Spuren« (2016: 112). Diese Tanzspuren tragen schon Interpretationen, Analysen und Kontextualisierungen in sich, sie sind das Ergebnis von Ein- und Ausschlussmechanismen sowie Prozessen der Aktualisierung, die der Beschäftigung mit den Materialien unterliegen (2016: 111). Aus den materiellen Überresten, die unterschiedliche Deutungszuschreibungen erfahren haben, wurde durch die Archivarbeit die Geschichte und Kultur des Voguing rekonstruiert und erschrieben. Zusammenfassend möchte ich die daraus gewonnenen Erkenntnisse über Voguing als Ästhetikkonzept formulieren. Dabei begreife ich die philosophische Kategorie Ästhetik als Möglichkeit einer Kunstund Lebensweltbetrachtung, um sinnliche Eindrücke begrifflich auszuarbeiten und zu systematisieren.28 Ästhetik benutze ich im Folgenden als einen relationalen 28

Als Urvater der philosophischen Ästhetik der Neuzeit gilt Alexander Gottlieb Baumgarten. Der von ihm eingeführte Begriff Aesthetica wird mit der Lehre von Schönheit übersetzt und meint aber auch die Erkenntnisgewinnung (Schneider 1996: 23‒27).

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Begriff. Damit möchte ich das künstlerische und soziokulturelle Verhalten der Voguing-Performer*innen im Ballroom begrifflich bestimmen. Prägend dafür ist das spezifische Verhalten zu Körpern, Kostümen, Choreografien und den Gender-Inszenierungen.29 Die zu Beginn des Kapitels ›Voguing und sein Archiv‹ gestellten Fragen werde ich nun wieder aufgreifen und beantworten. Die Hervorbringung der Tanzpraxis Voguing fußt auf der soziokulturellen Situation der amerikanischen Gesellschaft in den 1960er Jahren. »Black and Latino gays« (Gaskin 2013) hatten in New York/Harlem keine Möglichkeit, ihre Vorstellungen von Sex und Gender öffentlich zu leben. Sie wurden oft von ihren biologischen Familien ausgeschlossen und von der Gesellschaft marginalisiert. Die vorherrschenden heteronormativen Geschlechterverhältnisse trugen dazu bei, die Kategorie Gender in der Ballroom-Gemeinschaft performativ zu erweitern. Die Dichotomie zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit wurde hinterfragt. Zentral hierfür ist ein paradoxes Dazwischen: zwischen dem Aufbegehren gegen die Norm und dem Abbild heteronormativer Geschlechterverhältnisse. Die Ballroom-Gemeinschaft kreierte ein Gender-System, das eine Vielzahl an Verkörperungen geschlechtlicher Identität ermöglicht.30 Gender Performances sind innerhalb des Ballrooms fluid, veränder- und erweiterbar. Das bedeutet, dass jenseits von heteronormativen Zuschreibungen geschlechtliche Identitäten performativ erzeugt werden. Die Drag Balls gelten als die Wurzeln des Voguing, sie charakterisieren das ästhetische Verhalten der Performer*innen zum Kostüm, das mit dem Cross-Dressing seinen Anfang nahm. Ausgehend von der Modefotografie fokussiert Voguing die Posen als zentrales choreografisches Verhalten. Auffallend glamouröse Kostüme prägen das Aussehen, das nicht nur der Gestaltung des Selbst, sondern der Hervorbringung unterschiedlicher Identitäten dient. Die kulturellen Regeln, Rituale, Gewohnheiten, Ausdrucksweisen, Gesten oder Körperhaltungen wurden von der Ballroom-Gemeinschaft als eine spezifische Kultur geschaffen. Die familienähnlichen Gruppierungen, die sogenannten Houses, lassen sich als ein soziales und ästhetisches Beziehungsgefüge beschreiben. Reflektiert, gesteuert und bewertet werden die Battles durch die Kategorie Realness.31 Die zugrunde gelegten Dokumente zeugen von einem eigenständigen und spezifischen soziokulturellen Verhalten in der Ballroom-Gemeinschaft. Dieses verändert sich durch die weltweite Verbreitung. Es finden kulturelle Übersetzungen statt, die Aneignungsprozessen oder Prozessen kultureller Übernahme gleichen. 29

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Betrachtungen zur Musik werden in dieser Abhandlung gänzlich ausgeklammert. Musik spielt während einer Voguing-Aufführung eine zentrale Rolle. Die Performer*innen reagieren auf sie. Auch ergeben sich mit dem Discjockey oder Master of Ceremony Dialoge im Sinne einer wechselseitigen Bezugnahme. Eine ausführliche Darstellung des Gender-Systems erfolgt im Anschluss an Marlon M. Bailey (2011, 2016) in Kapitel 4 dieser Arbeit. Ausführungen zur Kategorie Realness erfolgen in Kapitel 4.

2. Voguing und sein Archiv

Die aus der Arbeit mit dem Archiv gewonnen Erkenntnisse zu und über Voguing möchte ich im Folgenden mit Aussagen Foucaults in Beziehung setzen. Foucaults Ästhetik der Existenz (2015c) soll dabei als Modell einer Betrachtungsweise dienen.32 Die Übertragung ermöglicht meines Erachtens eine begriffliche Erfassung von sozialen Erfahrungen und ästhetischen Handlungsweisen der Voguing-Performer*innen, die von verschiedenen ästhetischen Operationen sowie soziokulturellen Implikationen im urbanen Raum gespeist werden. Dieses Geflecht von Lebens- und Tanzstil kann meines Erachtens mit Aussagen von Foucault genauer gefasst werden, die auf der »Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit« (2015c: 253) gründen. Um sich richtig verhalten und von der Freiheit Gebrauch machen zu können, sei es notwendig, sich mit sich selbst zu befassen. Daraus erwächst die Möglichkeit der Selbsterkennung und das Meistern der Begierden (2015c: 258). Diese Selbstsorge, im Sinne einer Selbsterkenntnis, besteht aus Verhaltensregeln (2015c: 258), die »eine Seinsweise des Subjekts« (2015c: 260) als auch eine »für die anderen sichtbare Weise des Handelns« (2015c: 260) bestimmt. In Anlehnung an Foucault wird im Folgenden die Ballroom-Gemeinschaft hinsichtlich ihrer subjektiven Seinsweisen und sichtbaren Handlungen bestimmt. Diese versteht Foucault als Ethos33 , das sich folgendermaßen artikuliert: »Das êthos von jemandem äußert sich in seiner Kleidung, seiner Bewegung, seiner Art zu gehen, in der Ruhe, mit der er auf alle Ereignisse reagiert usw. Darin besteht für sie die konkrete Form der Freiheit« (Foucault 2015c: 260, Herv. i.O.). Foucault zeigt auf, wie die Praxis der Freiheit in Prozessen der Verkörperung zum Ausdruck kommen kann. Übertragen auf das Verhalten innerhalb des Ballrooms lese ich Foucaults Aussage folgendermaßen: Die Praktiken des Sich-Kleidens, die Pose als Moment der Selbstpräsentation, das Gehen auf dem Catwalk kann als eine Form der Freiheit interpretiert werden. Diese spiegelt sich in der Reflexion von geschlechtlichen Identitäten wider. Die wechselseitige Beeinflussung von Körper, Kostüm und Choreografie erzeugt dabei vielfältige geschlechtliche Identitäten. Der Wille, seine Freiheit, bezogen auf die gesellschaftlich geprägte Kategorie Gender, zu behaupten und dieser eine Form zu geben, so wie es innerhalb des Ballrooms geschieht, begreife ich mit Foucault als »Suche nach einer Ethik der Existenz« (2015c: 282). Foucault schreibt: »Doch der Wille, ein moralisches Subjekt zu sein, und die Suche nach einer Ethik der Existenz waren in der Antike in der Hauptsache ein Bemühen, seine Freiheit 32

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Foucaults Aussagen zur Ästhetik der Existenz fußen auf den Betrachtungen der griechischrömischen Antike: Foucault reflektiert die Sorge um sich selbst, die individuelle Freiheit und die Ethik (2015c: 257). Foucault bestimmt den Begriff Ethos im Sinne der Griechen folgendermaßen: »Das êthos war die Weise zu sein und sich zu verhalten« (Foucault 2015c: 259‒260, Herv. i.O.).

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zu behaupten und seinem eigenen Leben eine bestimmte Form zu geben, in der man sich anerkennen und von den anderen anerkannt werden konnte, und sogar die Nachwelt konnte sich daran ein Beispiel nehmen.« (Foucault 2015c: 282) Dieses Bemühen, der Freiheit eine Form zu geben, spiegelt sich meines Erachtens in der Kultur des Ballrooms wider. Foucault betrachtet allerdings die Selbstbestimmung des Subjekts durch soziale Mechanismen determiniert, es ist von Unterwerfung geprägt: »Als Erstes denke ich tatsächlich, dass es kein souveränes, stiftendes Subjekt, keine Universalform Subjekt gibt, die man überall wieder finden könnte. [...]. Ich denke im Gegenteil, dass das Subjekt durch Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert wird, wie in der Antike, selbstverständlich ausgehend von einer gewissen Anzahl von Regeln, Stilen, Konventionen, die man im kulturellen Milieu vorfindet.« (Foucault 2015c: 283) Dieser Unterwerfung begegnen die Protagonist*innen des Ballrooms, indem sie abseits der Gesellschaft einen eigenen kulturellen Raum und darin eigene Regeln, Stile und Konventionen etablieren. Die Houses lassen sich, so meine Annahme, mit der Polis in dem Sinne vergleichen, dass die Beziehungen von der Sorge um den anderen geprägt sind.34 Das Verhältnis von Subjekt und Gemeinschaft spiegelt sich auch in den Wettkämpfen wider. Dabei werden Machtbeziehungen zwischen den Houses konstituiert. Unter Machtbeziehungen versteht Foucault »Beziehungen, in denen der eine das Verhalten des anderen zu lenken versucht« (2015c: 267). Übertragen auf die Wettkämpfe innerhalb des Ballrooms ist folgende Lesart möglich: Die verschiedenen Houses, die gegeneinander antreten, lenken mittels der Kategorie Realness ihr Verhalten. Der Tanz- und Lebensstil Voguing kann meines Erachtens als eine Form der Freiheit charakterisiert werden. In ihr lassen sich Ausdrucksweisen einer ästhetischen Existenz identifizieren. Diese zeigen sich in einem widerständigen Verhalten gegenüber der damaligen amerikanischen Gesellschaft bezogen auf den Aspekt der geschlechtlichen Identität. Die Praktiken der Freiheit sind Verkörperungsprozesse, wie sie durch die im Ballroom vorherrschende Kultur ermöglicht werden. Voguing betont eine Seinsweise, die im Sinne einer Ästhetik der Existenz (Foucault 2015c) fassbar ist. Sie ist von der Sorge um sich selbst gekennzeichnet.

34

Vgl. hierzu die Ausführungen Foucaults zur Polis (2015c: 260‒261).

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing »In der Analyse, die hier vorgeschlagen wird, haben die Formationsregeln ihren Platz nicht in der ›Mentalität‹ oder dem Bewußtsein der Individuen, sondern im Diskurs selbst; sie auferlegen sich folglich gemäß einer Art uniformer Anonymität allen Individuen, die in diesem diskursiven Feld sprechen.« (Foucault 2015a: 92)

Das vorliegende Kapitel gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werden die methodischen Grundlagen des Expert*inneninterviews erläutert. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Forschungsdesign, darin wird die Deutungsmusterrekonstruktion nach Reiner Keller dargestellt. Der dritte Teil widmet sich der Darstellung der empirischen Ergebnisse. Die Interviewanalyse dient der Deutungsmusterrekonstruktion, die wiederum eine wichtige Basis für die Aufführungsanalysen in Kapitel 4 bildet.

3.1 3.1.1

Methodische Grundlagen Das Expert*inneninterview

Nach dem Soziologen Jan Kruse stellt das Expert*inneninterview keine eigene Interviewform dar, sondern ist eine Variante des Leitfadeninterviews: »Das Spezifische dieses Interviewtypus ist weniger die methodische Form seiner Durchführung als vielmehr die Zielgruppe: nämlich Expert/inn/en – welche Personen immer das auch sein mögen« (Kruse 2015: 166). In Anlehnung an Gläser und Laudel (2004) bestimmt Kruse die Expert*innen und den Fokus des Interesses »im Rahmen eines informationsorientierten Ansatzes als Repräsentanten bzw. Repräsentantinnen für die Handlungsweisen, Sichtweisen und Wissenssysteme einer bestimmten

78

Voguing on Stage

Expert/inn/en-Gruppe« (2015: 166, Herv. i.O.). Diese Interviewform orientiert sich an den Repräsentant*innen und Repräsentationssystemen eines Feldes mit dem Ziel, deren Systeme zu erfassen und Informationen über die – oftmals nur ihnen selbst zugänglichen – praktizierten Sicht-, Denk- und Handlungsweisen zu erhalten. Kruse unterscheidet einen voluntaristischen, konstruktivistischen und wissenssoziologischen Expert*innen-Begriff (2015: 173−174.). Unter Ersterem versteht er Träger*innen von Wissen, das aus der Repräsentation subjektiver bzw. kollektiver Sichtweisen oder Repräsentationen hervorgeht (2015: 173). Der konstruktivistisch geprägte Expert*innen-Begriff verweist auf die verschiedenen Mechanismen der Zuschreibung von Expert*innen. Ist die Forschungsfrage maßgeblich für die Auswahl eines Experten beziehungsweise einer Expertin, spricht Kruse von einem methodisch-relationalen Ansatz; wird hingegen jemand als Expert*in einer sozialen Realität angesehen, erfolgt die Zuschreibung über den sozial-repräsentativen Ansatz (2015: 173). Der wissenssoziologisch geprägte Expert*innen-Begriff konzipiert den oder die Expert*in über die Struktur des Wissens. Im Anschluss an Bogner und Menz (2005) verweist Kruse auf fachlich komplexe Wissensbestände in Form von Kontextwissen und bezugnehmend auf Michael Meuser und Ulrike Nagel (2005) auf die Wissensbestände in Form von Betriebswissen (Kruse 2015: 174). Meuser und Nagel definieren Expert*innen als Personen, »die selbst Teil des Handlungsfeldes sind, das den Forschungsgegenstand ausmacht« (2005: 73). Expert*in sei dabei »ein relationaler Status« (ebd.). Von den Forschenden wird (ebd.) als Expert*in angesprochen, »wer in irgendeiner Weise Verantwortung trägt für den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung oder – wer über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse verfügt« (ebd.). Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr definieren Expert*innen über ein Sonderwissen, »das andere nicht teilen, bzw. – konstruktivistisch formuliert – dadurch, dass einem solch ein Sonderwissen von anderen zugeschrieben wird und man es selbst für sich in Anspruch nimmt« (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010: 131). Fasst man die sich ergänzenden Ansätze zusammen, so können Expert*innen als Personen beschrieben werden, die einem spezifischen gesellschaftlichen Feld angehören und einen relationalen Status innehaben, der ihnen sowohl von der Gesellschaft als auch vom Forschenden zugeschrieben wird. Zum anderen gründet das Wesen von Expert*innen auf ihrem spezifischen Wissen.

3.1.2

Die Wissenskulturen der Expert*innen

Kruse unterscheidet Expert*innen erster und zweiter Ordnung, um das unterschiedliche Wissen, das zum Ausdruck gebracht wird, darzustellen. »Expert/inn/en erster Ordnung sind solche, die vor allem über (selbst-reflexives) praxeologisches

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

Betriebswissen (Prozesswissen) verfügen. Expert/inn/en zweiter Ordnung sind diejenigen, die vor allem über abstrakt-reflexives Kontextwissen (Überblickswissen) verfügen« (Kruse 2015: 174, Herv. i.O.). Auf diese Weise wird die Art des erhobenen Wissens ins Zentrum der Begriffsrahmung eines Experten beziehungsweise einer Expertin gestellt. Daran anschließend benennt Kruse weitere Klassifizierungen von Wissensstrukturen bezogen auf die Forschungsmethode Interview, um eine Einschätzung im Sinne einer diskursiven Forscherperspektive zu ermöglichen. Meuser und Nagel unterscheiden zwischen Betriebswissen und Kontextwissen. Ersteres sei im Allgemeinen mit einem »objekttheoretische[n] Fragen- und Aussagenkomplex [verbunden], innerhalb dessen die Untersuchung angesiedelt ist« (Meuser, Nagel 2005: 76), während die Perspektive auf Kontextwissen »aus der Betrachtung eines Sachverhaltes [resultiert], an dessen Zustandekommen nicht nur, sondern auch die ExpertInnen maßgeblich beteiligt sind« (ebd.). Ziel für die Untersuchung von Kontextwissen sei, so die Autor*innen, »die Gewinnung empirischen Wissens und nicht die theoretische Erklärung und Generalisierung der empirischen ›Tatsachen‹« (2005: 82). Die Erforschung von Betriebswissen basiere dagegen auf Annahmen und theoriebasierten Konzepten (2005: 82). Przyborski und Wohlrab-Sahr betonen für die Form des Sonderwissens dessen Deutungsmacht (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010: 132)1 und listen folgende Wissensformen auf: »(a) Betriebswissen über Abläufe, Regeln und Mechanismen in institutionalisierten Zusammenhängen, deren Repräsentanten die Experten sind; (b) Deutungswissen, in dem die Deutungsmacht der Experten als Akteure in einer bestimmten Diskursarena zum Ausdruck kommt; und schließlich (c) Kontextwissen über andere im Zentrum der Untersuchung stehende Bereiche. Diese verschiedenen Perspektiven können sich in einer Untersuchung verschränken, sind jedoch analytisch zu unterscheiden.« (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010: 134) Kruse greift ebenfalls die Systematisierung von Meuser und Nagel auf und fasst diese folgendermaßen zusammen: »Betriebswissen ist selbstreflexives Wissen bzgl. der eigenen Handlungseinheiten und stellt damit oftmals Prozesswissen dar. Kontextwissen ist reflexives gutachtliches Wissen über ein Handlungsfeld« (Kruse 2015: 170, Herv. i.O.). Im Anschluss an seinen wissenssoziologischen Expert*innen-Begriff definiert er dieses Sonderwissen wie folgt: »Dieses kann sich in Form von Kontextwissen darstellen, welches komplexe Wissensbestände integriert und sich auf ein breites, aber fachlich spezifisches Feld bezieht. [...] Dieses Sonderwissen kann aber auch in Form von Betriebswissen vorliegen, das nach Meuser und Nagel (2005: 75f) ebenfalls selbstreflexives Wis-

1

Mit dem Begriff Sonderwissen operieren auch Meuser und Nagel (2005).

79

80

Voguing on Stage

sen ist, das sich aber auf die spezifischen Handlungsfelder und -prozesse des Experten bzw. der Expertin selbst bezieht, somit m. E. praxeologisches Wissen darstellt.« (Kruse 2015: 174, Herv. i.O.) Kruse unterscheidet des Weiteren drei Dimensionen des Expert*innenwissens: technisches Wissen, Prozesswissen und Deutungswissen (2015: 176). Unter technischem Wissen wird objektives Sachwissen verstanden, das Prozesswissen bezieht sich auf das praktische Erfahrungswissen und das Deutungswissen umfasst subjektive Sichtweisen und Interpretationen der Expert*innen (2015: 176). Fasst man die Ausführungen zu den Wissensformen zusammen, so zeigt sich, dass sich Wissen in einem ersten Schritt in Betriebswissen und Kontextwissen aufteilen lässt, ergänzt um Deutungswissen. Diese Formen lassen sich zu einem vielschichtigen Wissensfächer entfalten: Die unterschiedlichen Formen beziehungsweise Strukturen des Wissens sind von einem dynamischen Moment geprägt und unterliegen einem Prozess im Sinne des praxeologischen Wissens, demgemäß Wissen durch das Agieren in spezifischen Handlungsfeldern hervorgebracht wird. Kruse verbindet die zu erforschenden unterschiedlichen und analytisch getrennten Wissenssysteme mit drei verschiedenen Typen von Expert*inneninterviews, die jeweils unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. Das explorative Expert*inneninterview zielt auf Wissensdimensionen, die kaum dokumentiert sind (Kruse 2015: 167). Systematisierende Expert*inneninterviews erforschen Wissensdimensionen, die gut dokumentiert sind, und dienen der Herausarbeitung feinerer Strukturen (ebd.). Das theoriegenerierende Expert*inneninterview wird angewendet, um »die Genese fachlicher Wissenssysteme in einer sozialkonstruktivistischen Perspektive aufzuarbeiten« (2015: 168).

3.1.3

Die spezifischen Aussagen von Expert*innen

Das Expert*inneninterview bildet, einem konstruktivistischen Verständnis folgend, nicht die sogenannte Wirklichkeit ab, sondern stellt den in der Interaktion hergestellten Sinn dar: »Auch das Expert/inn/en-Interview – gleichgültig, in welcher Weise es nun realisiert wird – stellt eine ›Realität sui generis‹ dar, in der nicht die Wirklichkeit abgebildet wird, sondern sozialer Sinn kommunikativ hergestellt wird« (2015: 178, Herv. i.O.). Die im Interview gemachten Aussagen lassen sich nach Przyborski und Wohlrab-Sahr folgendermaßen charakterisieren: »Äußerungen stehen immer in einem spezifischen Verweiszusammenhang, d.h. sie sind indexikal. Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen heißt, Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Erforschten ihre Relevanzsysteme formal und inhaltlich eigenständig entfalten können. Die einzelnen Äußerungen werden erst in diesem Kontext, innerhalb der Selbstreferenzialität der gewählten Einheit,

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

interpretierbar. Der Prozess des Fremdverstehens ist insofern methodisch kontrolliert, als der Differenz zwischen den Interpretationsrahmen der Forscher und denjenigen der Erforschten systematisch Rechnung getragen wird.« (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2010: 31) Die im Interview abgebildete Wirklichkeit ist vom Kontext, in dem sie hervorgebracht wurde, abhängig. Dabei ist zu beachten, dass je weiter Kommunikationspartner*innen kulturell, sozial, generational und biographisch voneinander entfernt sind, sich das Verstehen schwieriger gestaltet. Die Besonderheit der Äußerungen in den Expert*inneninterviews liegt auch im Erzählen, das ein Erzählen über das spezifische Feld darstellt. Kruse greift das Moment der Narration im Anschluss an Lucius-Hoene und Deppermann (2002) auf. Es verweise auf Wandel und eine diachrone Darstellung, »die Darstellung einer Geschichte [sei] im Sinne eines Entwicklungsprozesses« (Kruse 2015: 169, Herv. i.O.) zu verstehen. Demnach sind Wandel, Veränderung und Prozesshaftigkeit Charakteristika des Erzählens und dem daraus gewonnen Text. Dabei spielen die Veränderungen, die sich im Laufe des Gesprächs entwickeln, eine bedeutende Rolle, die es nachzuzeichnen und zu interpretieren gilt. Die dargestellten Überlegungen verweisen auf einen kritischen und reflektierten Umgang mit den aus den Interviews hervorgegangenen Texten. Da diese in unterschiedlichen kommunikativen Situationen, in unterschiedlichen Feldern und mit unterschiedlichen Personen entstanden sind, tragen sie zwar alle die Kennzeichen des Erzählens, bringen aber differente Wirklichkeiten hervor, die auf spezifische Kontexte verweisen. Diesen Gedanken möchte ich mit grundlegenden Aussagen der Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann ergänzen. In der Tradition des radikalen Konstruktivismus sei kritisch zu bedenken, was Wirklichkeit und Wissen bedeutet.2 Sie verweisen darauf, dass die scheinbare Wirklichkeit oft als Qualität von vorhandenen Phänomenen definiert wird und das sogenannte Wissen als die Gewissheit gilt, dass Phänomene in ihren Eigenschaften bestimmbar werden (Berger, Luckmann 2007: 1). »Die Alltagswelt breitet sich vor uns aus als Wirklichkeit, die von Menschen begriffen und gedeutet wird und ihnen subjektiv sinnhaft erscheint« (2007: 21). Das Wissen wird dabei als ein die Alltagswelt regulierendes Verhalten beschrieben (2007: 21). Demnach gilt es, die subjektiv entworfenen Wirklichkeiten und die Äußerungen in den Expert*inneninterviews im Sinne eines Fremdverstehens kritisch zu reflektieren.

2

Siehe hierzu auch die Ausführungen von Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme (2018).

81

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Voguing on Stage

3.1.4

Leitfadeninterviews

Kruse unterscheidet zwischen explorativem, systematisierendem und theoriegenerierendem Expert*inneninterview (Kruse 2015: 167‒168). Diese unterschiedlichen Formen bzw. Typen wirken sich auf das Verhältnis von Offenheit und Strukturierung aus (Kruse 2015: 171). Kruse verweist im Hinblick auf die Konzeption des Leitfadens auf dieses Spannungsfeld: »Die Kommunikation in einem Leitfadeninterview wird mittels eines Interviewleitfadens strukturiert, so dass der Interviewverlauf einem bestimmten vorgegebenen Themenweg bzw. einer bestimmten Phasendynamik folgt. Leitfadeninterviews können unterschiedlich starke Strukturierungsniveaus aufweisen.« (Kruse 2015: 203, Herv. i.O.) Aufgrund des informationsorientierten Sinnverstehens und Forschungsinteresses hat der Leitfaden eine steuernde und strukturierende Funktion und ermöglicht es, direkte Fragen zu einem Thema zu formulieren. Durch die leitfadengestützte Gesprächsform ergibt sich eine Vergleichbarkeit, die garantiert, dass in allen erhobenen Interviews die gleichen Themen angesprochen wurden (Meuser, Nagel 2005: 81): »Der Textvergleich mit der Absicht, das Repräsentative im ExpertInnenwissen zu entdecken und die Gewinnung von Aussagen darüber für andere kontrollierbar zu halten, ist ein voraussetzungsvolles Unternehmen. Denn zunächst ist jeder Interviewtext das Protokoll einer besonderen Interaktion und Kommunikation, unverwechselbar und einmalig in Inhalt und Form.« (Meuser, Nagel 2005: 80) Kruse gibt zu bedenken, dass »jede/r Interviewte aufgrund des subjektiv-indexikalen Frageverständnisses völlig unterschiedlich reagieren kann, und […] dass jedes Interview eine komplexe soziale Interaktion darstellt, dass also die Güte des Interviews vom Verhalten und der Haltung der Interviewenden abhängt« (Kruse 2015: 225). Die komplexe Kommunikationsstruktur verhindert also möglicherweise überindividuelle Aussagen. Auch Meuser und Nagel gehen davon aus, dass trotz der Vergleichbarkeit von Expert*innen der entstehende Interviewtext einen einmaligen Inhalt erzeugt (Meuser, Nagel 2005: 81). Folglich muss das leitfadengestützte Interview bezüglich der Kategorien Strukturierung versus Offenheit und Vergleichbarkeit kritisch hinterfragt werden. Trotz der vielfältigen Bedenken plädieren Meuser und Nagel dennoch für die Arbeit mit offenen Leitfäden: »In unseren Untersuchungen haben wir mit offenen Leitfäden gearbeitet, und dies scheint uns die technisch saubere Lösung der Frage nach dem Wie der Datenerhebung zu sein. Eine leitfadenorientierte Gesprächsführung wird beidem

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

gerecht, dem thematisch begrenzten Interesse des Forschers an dem Experten wie auch dem Expertenstatus des Gegenübers.« (Meuser, Nagel 2005: 77)

3.1.5

Sampling

Beim Expert*inneninterview bezieht sich die Untersuchungseinheit zum einen auf den Fragekorpus, der das Gespräch steuert und strukturiert, und zum anderen auf die befragte Personengruppe. Durch deren Auswahl werden auch spezifische Themen im Feld bestimmt. Das Sampling umfasst weitere Untersuchungseinheiten: »Der Begriff des Sampling beschreibt in der empirischen Sozialforschung die Auswahl einer Untergruppe von Fällen, d.h. von Personen, Gruppen, Interaktionen oder Ereignissen, die an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten untersucht werden sollen und die für eine bestimmte Population, Grundgesamtheit oder einen bestimmten (kollektiven oder allgemeineren) Sachverhalt stehen.« (Przyborski, Wohlrab-Sahr 20010: 174) Die befragte Personengruppe stellt ein Kollektiv dar, das in einem engen Verweiszusammenhang mit einem bestimmten Sachverhalt steht. Unter einer adäquaten Fallauswahl verstehen Przyborski und Wohlrab-Sahr Folgendes: »Fälle stehen nicht für sich, sondern repräsentieren etwas – z.B. eine Generation, ein Milieu, ein Strukturproblem u. Ä. m. Daher entscheidet das Sampling mit darüber, ob die Befunde qualitativer Studien verallgemeinert werden können« (2010: 174).

3.2 3.2.1

Explikation des Forschungsdesigns Das Sampling und die Auswahl der Expert*innen

Für die vorliegende Untersuchung wird zum einen ein Leitfaden entwickelt und zum anderen eine Untersuchungsgruppe generiert. Der Leitfaden basiert auf theoretischen Vorannahmen zum Phänomen Voguing.3 Das damit verbundene Erkenntnisinteresse ist durch die Fragestellung nach kulturspezifischen Handlungsfeldern, choreografischen Verhaltensweisen, dem Zugang zur Tanzkultur Voguing und Themenfeldern, die in einem engen Verweiszusammenhang mit Voguing stehen, klar umrissen. Die Zuschreibung als Expert*innen erfolgte über einen sozial-repräsentativen Ansatz. Da sie von der Forscherin als Expert*innen angesprochen werden, haben sie einen relationalen Status. Als Expert*innen werden Personen angesehen, die

3

Der Interviewleitfaden befindet sich im Anhang.

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Voguing on Stage

der sozialen Realität des Voguing angehören. Dabei sind die ausgewählten Personen Teil des Handlungsfeldes Voguing, indem sie Voguing tanzen, Voguing als Bewegungsmaterial für ihre choreografischen Konzepte und Prozesse nutzen, als Tanztechnik lehren oder als soziokulturelle Praxis verkörpern. Als soziokulturelle Praxis betrachte ich das Agieren im Handlungsfeld Voguing. Alle befragten Personen bewegen sich im tänzerischen Feld des Voguing und haben einen privilegierten Zugang zu Informationen und Sonderwissen. Außerdem verfügen sie über Deutungswissen, sodass ihnen Deutungsmacht zugesprochen werden kann. Ihnen wird der Status von Expert*innen zugesprochen, da sie selbst das beforschte Handlungsfeld gestalten, kreieren und Aussagen hervorbringen. Sie entscheiden über ästhetische Prozesse, die in ihren Performances Wirkungen im Publikum hervorrufen und wiederum deren Wissenskonzepte beeinflussen. Den Tänzer*innen, mit denen die Interviews geführt wurden, ist gemein, dass Voguing ein zentrales Element ihrer Aufführungen, Performances, ihres Tanzens in Tanzschulen und Clubs ist. Sie arbeiten als Voguing-Tanzlehrer*innen und als Voguing-Tänzer*innen, alle repräsentieren und reflektieren das Phänomen Voguing. Die Expert*innen verfügen über unterschiedliche tänzerische Ausbildungen ‒ von einer akademischen Ausbildung bis zum autodidaktischen Erlernen von Voguing. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Anbindung an die Voguing-Kultur, manche gehören einem sogenannten House an und tanzen Voguing in der Szene, andere erlernten Voguing bei namhaften Protagonist*innen der Voguing-Szene. Ihre tänzerischen Erfahrungen reichen von Auftritten im Ballroom bis zu Performances auf Theaterbühnen. Alle Interviewpartner*innen sind englischsprachige Native Speaker, sie gehören unterschiedlichen Altersgruppen an. Insgesamt wurden vier Interviews in Berlin, Freiburg und New York geführt, die in Tanzschulen, nach Aufführungen oder zu vereinbarten Treffen stattfanden. Von einer theoretischen Sättigung des Forschungsgegenstandes kann nicht ausgegangen werden. Dennoch geben die Interviews auf explorative Weise Einblick in ein bislang unerforschtes Feld. Trotz ihres individuellen tänzerischen Verhaltens und ihrer unterschiedlichen soziokulturellen Verortung repräsentieren die ausgewählten Interviewpartner*innen die Tanzpraxis Voguing. Ihre Äußerungen tragen insofern zu einer gemeinsamen Aussage über ein Phänomen bei. In den Interviews lassen sich bestimmte, wiederkehrende Muster rekonstruieren, die auf ähnliche Problemlagen, offene Fragen oder Diskursfelder verweisen. Sie werden im weiteren Verlauf der Interviewanalyse im Sinne von Deutungsmustern rekonstruiert, die die diskursive Analyse der Aufführungen in Kapitel 4 steuern.

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

3.2.2

Interviewanalyse im Kontext einer fremden Sprache

In einer fremden Sprache zu forschen, wirft sprachlich-kommunikative und interkulturelle Probleme auf. Zentral ist hierbei das Verstehen und Übersetzen, denn lexikalische Einheiten sind stets kultur- und kontextgebunden. Jan Kruse, Stephanie Bethmann, Debora Niermann und Christian Schmieder meinen: »Worte transportieren nie eindeutige Inhalte, sondern situative Bedeutungen, die abhängig sind von den Kontexten, in denen sie verwendet werden« (Kruse et al. 2012: 10).4 Übersetzungsprozesse setzen immer ein kulturelles Wissen voraus, weil jede Sprachkultur mit einem Begriff etwas anderes verbindet und die Wortbedeutung unauflöslich mit der Sozialwelt verbunden ist (2012: 10). Die für diese Arbeit auf Englisch durchgeführten Interviews wurden nicht ins Deutsche übersetzt, die identifizierten Deutungsmuster sind allerdings auf Deutsch verfasst. Der Übersetzungsprozess von Expert*innenaussagen zu Deutungsmustern ist insofern eine Übersetzung von kulturellen und sprachlichen Räumen, eine Übertragung von Aussagen in Bedeutungszusammenhänge und schließlich eine Übersetzung von englischen Aussagen in rekonstruierte Muster; die in deutscher Sprache formuliert werden. Um weitere Transformationsprozesse zu verhindern, wurde von einer Übersetzung der englischen Interviews ins Deutsche abgesehen. Vor dem Hintergrund der differenten Sprachsysteme Deutsch und Englisch, der kulturellen Verschiedenheit von Forscher*innen und Mitgliedern einer Kultur bzw. spezifischen Tanzströmung sowie der Grundannahme, dass »Sprache und Kultur stets nur in einem Konnex existieren« (Kruse et al. 2012: 15) wird von einer kulturellen und sprachlichen Vagheit ausgegangen. Dennoch ist eine Annäherung an das Material möglich, und zwar in einem sich stets wiederholenden Prozess des Verstehens. Die Interaktion, die dabei mit dem Text, hier in Form einer Analyse von Interviewtranskriptionen, erfolgt, erlaubt es, Sinnstrukturen und Deutungsmuster im Zusammentreffen unterschiedlicher Referenzsprachen und -systeme zu identifizieren. Voraussetzung hierfür ist eine permanent kritische Haltung vor dem Hintergrund verschiedener kultureller Kontexte und den Problemen des Fremdverstehens. Strategien, um dieser Ambivalenz zu begegnen, sind, dass keine Analyse von sprachwissenschaftlichen Befunden, lexikalischen Eigenheiten oder Idiomen stattgefunden hat, sondern nur feldspezifische Deutungsmuster fokussiert wurden. Der Umgang mit sprachlicher Vielfalt spielt im Rahmen der hier durchgeführten Interviews eine marginale Rolle, dennoch bleibt zu bedenken: »Übersetzen ist an sich ein interpretativer Akt« (Kruse, Bethmann, Eckert, Niermann,

4

Kruse, Bethmann, Niermann und Schmieder argumentieren hier im Anschluss an Garfinkel und Sacks aus dem Jahre 2004 (2012: 10).

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Voguing on Stage

Schmieder 2012: 45).5 Mit den originalsprachlichen Äußerungen werden inhaltliche Aspekte in der Interpretationsarbeit fokussiert, was das Problem des Fremdverstehens allerdings nicht schmälert. Doch die Fokussierung auf inhaltliche Aspekte und das Aufhalten im Feld seitens der Forscherin ermöglichen es, auf der Basis eines »Common-Sense« (Kruse, Schmieder 2012: 253)6 , verstanden als geteiltes Wissen »im Sinne eines gemeinsamen Nenners in Bezug auf die Bedeutung und Anordnung der Dinge in der sozialen Welt« (ebd.)7 , die im Feld beobachteten Erfahrungen in die Deutung der Interviewaussagen einfließen zu lassen.

3.2.3

Das explorative Expert*inneninterview zur Felderschließung

Aus dem Theoriestand und aus den im Vorfeld geführten Gesprächen mit VoguingProtagonist*innen wurde deduktiv ein Leitfaden konzipiert. Die Interviews werden explorativ-felderschließend eingesetzt, um zusätzliches Wissen zum Feld zu generieren. Sie liefern die Referenzthemen zum Phänomen Voguing und dienen außerdem zur Erzeugung von Deutungsmustern. Die hier gewonnenen empirischen Wissensbestände existieren so noch nicht in der bisherigen Forschung über Voguing. Das explorative Expert*inneninterview wurde zu Beginn zur Feldsondierung genutzt. Folglich dienen die Äußerungen und Erzählungen zunächst als Informationsquelle, in einem weiteren Schritt aber auch zur Rekonstruktion von Deutungsmustern, die auf einen spezifischen gesellschaftlichen Wissensvorrat rekurrieren. Schließlich weisen die entwickelten Deutungsmuster auf Handlungsfelder und Problemstellungen des Phänomens Voguing hin und erweitern die Diskursarena. Das zu betrachtende Feld zeigt sich dabei als eine spezifische Kultur. Ich verwende den Begriff Kultur in Anlehnung an den Soziologen Max Fuchs als »Handlungs- oder Tätigkeitsbegriff« (Fuchs 2008: 183), um »Produktion und Reproduktion, soziale, künstlerische und spirituelle Aktivitäten« (ebd.) einer Kultur zu begreifen. Damit kann ein Bogen zwischen sozialen und künstlerischen Handlungsfeldern gespannt werden. Diese stehen im Voguing, wie bereits in Kapitel 2 aufgezeigt wurde, in einem engen Verweiszusammenhang. Im hier befragten Gegenstandsgebiet wird das Kulturelle in den Vordergrund gerückt und werden Aktivitäten und Artefakte innerhalb von Kulturanalysen gefasst (Bal 2016: 23). Bei der Interviewanalyse betrachte ich die Auseinandersetzung mit der Voguing-Kultur als »ereignishafte Konzeption des Kulturellen auf das Feld« (2016: 24). Dabei gilt es, das Kulturelle im Sinne von Ereignissen durch Begrifflichkeiten 5 6 7

Zum Qualitätsverlust in der Datenerhebung siehe Kruse, Bethmann, Eckert, Niermann und Schmieder (2012). Kruse und Schmieder (2012: 253) argumentieren im Anschluss an Schütz (2004). Kruse und Schmieder (2012: 253) argumentieren im Anschluss an Mannheim und Garfinkel/Sacks (2004).

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

zu fassen, was sich in der Begrifflichkeit der Deutungsmuster niederschlägt. Der Fokus der Felderschließung liegt somit auf den sozialen und künstlerischen Handlungsfeldern, die sich im Sinne von Mieke Bal als das Kulturelle (2016: 23) eines sozialen, kulturellen und ästhetischen Ereignisses im Feld Voguing bezeichnen lassen.8

3.2.4

Analyseverfahren: Die Deutungsmusterrekonstruktion

Bei der Auswertung der Interviews stütze ich mich auf die von Keller entwickelte Deutungsmusterrekonstruktion. Die interpretativ-analytische Erfassung der Interviewinhalte im Sinne von Deutungsmustern ist eng mit einer Sequenzanalyse verknüpft. Keller zeichnet die Entwicklung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und der Rekonstruktion von Deutungsmustern nach. Hierauf wird nur kurz eingegangen, um die konkrete Anwendbarkeit von Deutungsmustern im Prozess der Auswertung auszuloten.9 Unter Deutungsmuster versteht Keller im Anschluss an Schütz (1993, 1932) eine »Form der im kollektiven Wissensvorrat abgelagerten sozialen Typik« (Keller 2014: 143), nach Lepsius (2009, 1963) eine »Analyse schichtbzw. klassenspezifischer ›Weltvorstellungen‹« (Keller 2014: 144), nach Oevermann (2001) »›Antworten auf objektive Handlungsprobleme‹ in Kollektiven« (Keller 2014, S.145). Keller, der seine Analysepraxis im Anschluss an Oevermann entfaltet, bestimmt Deutungsmuster wie folgt: »Deutungsmuster sind rekonstruierbare Struktur- und Regelzusammenhänge, die generative Logik, die den Oberflächenäußerungen zugrunde liegt. Und besonders wichtig: Deutungsmuster werden auf der Ebene des Alltagswissens, der Alltagsorientierung angesiedelt« (2014: 146). Keller arbeitet den Begriff Deutungsmuster systematisch zu einem Analysewerkzeug der wissenssoziologischen Diskursforschung aus. Seine Rekonstruktion der wissenschaftlichen Diskussion hebt die Probleme hervor und zeigt die Konsequenzen auf: nämlich »eine Verankerung des Deutungsmusterbegriffs auf der Ebene der kollektiven Wissensvorräte und ein Verständnis von Diskursen als Prozessen der Generierung und Vermittlung solcher Deutungsmuster« (2014: 153).10 Keller nutzt den Deutungsmusterbegriff im Sinne einer Foucault’schen Diskursanalyse:

8

9

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Von einer ausführlichen diskursiven Analyse des Kulturbegriffs wird an dieser Stelle abgesehen. Für eine Analyse des Begriffs siehe Storey (2017) und die Ausführungen in Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit. Auf die Rekonstruktion des Deutungsmusterbegriffs wird hier nicht im Einzelnen eingegangen. Diese entfaltet Keller in seinem Artikel »Wissenssoziologische Diskursforschung und Deutungsmusteranalyse« (2014). Dies geschieht im Anschluss an Plaß und Schetsche (Keller 2014:153).

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Voguing on Stage

»Michel Foucault hatte die Analyse von Aussagen als Kern der Diskursanalyse bestimmt. Das Deutungsmusterkonzept eignet sich hier als wissenssoziologische Heuristik, um die mit der Idee der Aussage verbundene Vorstellung von der Typizität des Ausgesagten analytisch zu präzisieren. Zugleich handelt es sich um ein ›Brückenkonzept‹, das gerade erlaubt, den Weg von der Diskursebene zur alltäglichen Deutungs- und Lebenspraxis zu gehen bzw. die Verflechtungen, Adaptionen, Aneignungen und Zurückweisungen im Deutungsmustergebrauch hier und da in den Blick zu nehmen.« (Keller 2014: 155) Keller folgert: »Der Begriff des Deutungsmusters visiert also eine gesellschaftlich konventionalisierte Deutungsfigur, einen ›Typus‹, der die Wahrnehmung und Deutung von Phänomenen anleitet« (2014: 156). Er bezeichne »grundlegende bedeutungsgenerierende Schemata, die durch Diskurse verbreitet werden und nahe legen, worum es sich bei einem Phänomen handelt« (ebd.). Kellers Konzept der Rekonstruktion von Deutungsmustern steht in der Tradition einer von Sozialwissenschaftler*innen geprägten Diskursforschung. In Anlehnung an die Diskurstheorie von Foucault formuliert er deren empirische Anwendung hinsichtlich ihrer methodischen Umsetzung und beschreibt die Verbindung zwischen Diskurs und Deutungsmuster wie folgt: »Diskurse bauen auf mehreren, im gesellschaftlichen Wissensvorrat vorrätigen bzw. in diesen durch einen Diskurs neu eingespeisten, miteinander diskursspezifisch verknüpften Deutungsmustern und ihren je konkreten Manifestationen in sprachlichen Äußerungen auf« (Keller 2011: 108, Herv. i.O.). Die Deutungsmuster wirken sich auf den Diskurs aus und der Diskurs lässt sich über Deutungsmuster genauer bestimmen. Grundlage des methodischen Verfahrens, das zur Auswertung der Expert*inneninterviews in dieser Studie herangezogen und im Folgenden näher beschrieben wird, ist die »sequenzanalytische Rekonstruktionsarbeit« (Keller, Truschkat 2014: 304). Bei einem sequenzanalytischen Vorgehen werden die Dokumente in Sinnabschnitte gegliedert (2014: 305) und die an der »Oberfläche der Daten angelegte[n] typisierbare[n] Muster« (ebd.), die sich »nicht einfach aus dem rekonstruierten Arrangement benutzter Begriffe« (ebd.) erschließen lassen, identifiziert. Schon während das Dokument in Sinnabschnitte zergliedert wird, werden unterschiedliche Interpretationshypothesen gebildet (2014: 306). Das Ansetzen an Schlüsselpassagen eines Dokuments kann durch dokumentenanalytische Verfahren ergänzt werden (ebd.). Dabei leiten die Ausgangsfragestellungen den Suchprozess (2014: 307). Nach Reiner Keller und Inga Truschkat sind die Wirklichkeitsbehauptungen, wie sie in den Interviews formuliert werden, auch in der Textgattung niedergelegt. Sie verweisen darauf, dass ein Begriff noch kein Deutungsmuster ist, dieser vielmehr zu einem solchen ausbuchstabiert werden muss (2014: 311). Diese Muster werden mit Namen, Codes oder Kategorien und konkreten Begriffen versehen.

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

Deutungsmuster erfüllen eine Funktion auf der Phänomenstruktur: »Sie bezeichnen Problemlagen, Subjektpositionen, Wertvorstellungen, Handlungsformen und anderes mehr« (2014: 323). Zu den Analyseschritten der Deutungsmusterrekonstruktion, die sich an sequenzanalytischen Interpretationsstrategien aus dem Kontext der Sozialwissenschaften orientieren11 , gehören nach Keller Kodierungsprozesse, um Phänomen- und Problemstrukturen zu rekonstruieren, sowie die Auswahl von Textpassagen, die für die Forschungsfragen relevant sind und sich auf die unterschiedlichen Positionierungen der Akteur*innen beziehen (Keller 2011: 109). Die ausgesuchten Textpassagen werden dann einer sequenzanalytischen Analyse unterzogen (ebd.), bei der Interpretationshypothesen gebildet und verworfen werden, bis das rekonstruierte Deutungsmuster »den Bedeutungsgehalt der betreffenden Textpassage und damit das Deutungsmuster, dass [sic] eine Kodiereinheit diskursspezifisch strukturiert, zu bezeichnen« (2011: 109‒110) vermag. Das von Keller und Truschkat entwickelte Forschungsprogramm einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse dient der »Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken, das darauf zielt, dem Wissen durch die Gesellschaft zu folgen« (Keller, Truschkat 2014: 295‒296). Dabei wird die Foucault’sche Diskursanalyse in dem Sinne herangezogen, um Diskurse und Wirklichkeitskonstruktionen zu erforschen. Berücksichtigt werden auch »Ressourcen, welche sozialen AkteurInnen zur Verfügung stehen« (2014: 298). Nach Keller und Truschkat entstehen Deutungsmuster »in der Auseinandersetzung mit deutungsbedürftigen Weltkonstellationen, aus der Interpretationsbedürftigkeit von Welt« (2014: 303). Als Verfahren dienen sie der Auseinandersetzung mit Wirklichkeitskonstruktionen und -interpretationen. Diskurse werden von Deutungsmustern prozessiert bzw. können in Gestalt von Deutungsmustern beschrieben werden (2014: 303): »Die Konstitution und Aufbereitung des Themas oder Referenzphänomens eines Diskurses erfolgt durch die diskursspezifische Erzeugung neuer oder die Verknüpfung bereits bestehender allgemeiner Deutungsmuster, die im kollektiven Wissensvorrat einer Gesellschaft verfügbar sind. Es handelt sich dabei um typisierende und typisierte Interpretationsschemata, die in ereignisbezogenen Deutungsprozessen aktualisiert werden. Sie stiften dadurch Sinn. Eine spezifische Deutung ist die Verknüpfung eines allgemeinen Deutungsmusters mit einem konkreten Ereignis-Anlass. Diskurse verknüpfen verschiedene Deutungsmuster zu spezifischen Deutungsarrangements. Sie rekurrieren dabei auf den gesellschaftlich verfügbaren Wissensvorrat solcher Muster; sie vermögen jedoch auch – und gerade das zeichnet Diskurse aus – neue Deutungsmuster zu generieren

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Siehe dazu auch das von Ralf Bohnsack (2014) dargestellte sequenzanalytische Vorgehen innerhalb der Dokumentarischen Methode.

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Voguing on Stage

und auf der gesellschaftlichen Agenda zu platzieren.« (Keller, Truschkat 2014: 303‒304) Nach Keller und Truschkat können Phänomene eines Diskurses mittels Deutungsmuster erfasst werden und diese wiederum auf die Wissensvorräte einer Gesellschaft verweisen. Das Interpretationsschema aktualisiert somit den Prozess der Deutung und das Operieren mit Deutungsmustern deckt neue sinnstiftende Deutungsebenen auf. Indem allgemeine Deutungsmuster mit konkreten Ereignissen verknüpft werden, generiert man neue Deutungsarrangements, die folglich neue Diskursarenen eröffnen. Die Interviewanalyse zielt auf die Rekonstruktion einer Voguing-Wirklichkeit und von Voguing-Wissensbeständen im Sinne einer »Referenz-Wirklichkeit« (2014: 297, Herv. i.O.). Ziel der folgenden Deutungsmusterrekonstruktion ist der Zugang zur »inhaltlichen Dimension von Diskursen« (2014: 299). Dabei werden ganz im Sinne einer Foucault’schen Diskursanalyse die Themen und Referenzphänomene des Diskurses bestimmt, indem die im kollektiven Wissensvorrat der VoguingKultur verfügbaren Deutungsmuster aus den Interviewaussagen rekonstruiert werden. Hierzu wurden in einem ersten Schritt die Interviewaussagen in Sinnabschnitte gegliedert und geclustert, um Phänomen- und Problemstrukturen zu rekonstruieren. Anschließend wurden Textpassagen, die für die Forschungsfrage relevant sind, miteinander verglichen, zugeordnet und ausgewählt. Interpretationshypothesen wurden gebildet und verworfen. Im Analyseprozess – der teilweise induktiv, aber auch abduktiv war – wurden die Textpassagen mit konkreten Begriffen versehen, um den Bedeutungsgehalt und damit die Deutungsmuster zu bezeichnen.

3.3

Empirische Ergebnisse

In diesem Kapitel werden die empirischen Ergebnisse vorgestellt. Dies geschieht in drei Schritten. Zuerst werden die relevanten Themen genannt, die sich in den Interviews entfalten. Danach werden die unterschiedlichen Wissenskulturen expliziert und zuletzt die rekonstruierten Deutungsmuster formuliert. Diese dienen letztlich als Muster für die Aufführungsanalysen.

3.3.1

Zentrale Themen

Im Folgenden werden die zentralen Themen aufgelistet, die sich aus dem Interviewleitfaden ergaben und sequenzanalytisch herausgearbeitet wurden. Dazu wurden Passagen der Interviewtexte thematisch gegliedert. Die Reihenfolge ihrer Nennung folgt dem Gesprächsverlauf, der durch den Interviewleitfaden vorstrukturiert

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

war. Zentrale Themen der Interviews sind das Kennenlernen, die erste Begegnung mit Voguing und das Erlernen der Tanztechnik Voguing. Die Expert*innen machen Aussagen zur Geschichte des Voguing, sprechen über zentrale tänzerische und choreografische Elemente, das Verhältnis von Improvisation und festgeschriebener Choreografie, die sozialen Hintergründe des Voguing sowie den Stellenwert des Kostüms. Auch Fragen, ob Voguing auf der Bühne oder im Club getanzt wird, werden in der Interviewsituation diskutiert. Das Phänomen der Pose, die verschiedenen Stile und Kategorien, die die Bälle auszeichnen, werden erwähnt. Des Weiteren nehmen die Expert*innen Begriffsrahmungen zum Tanzstil Voguing vor und geben Einblicke in die Ball-Kultur. Dazu werden szenespezifische Merkmale wie die Houses, Kategorien, Wettkampfcharakter oder Stile genannt. Auseinandersetzungen zum Verhältnis Voguing und Persönlichkeit bzw. Ausdrucksfähigkeit finden statt. In einem Gespräch werden kulturelle Transformationen angesprochen, die sich durch die geografische und soziokulturelle Übertragung von New York nach Europa ergeben. Fragen zur soziokulturellen Kategorie Gender werden diskutiert, wobei gesellschaftliche Heteronormativität kritisch reflektiert wird. Die Expert*innen gehen auch auf aufführungsspezifische bzw. stückspezifische Themen in den von ihnen getanzten Bühnenstücken ein. Dabei werden Zuschauer*innen betreffende Perspektiven, Ansichten und Reaktionen angeführt. Des Weiteren beziehen die Expert*innen in unterschiedlicher Gewichtung ihre eigene tänzerische Biografie mit ein.

3.3.2

Wissenskulturen

Die befragten Personen verfügen aufgrund differenter biografisch geprägter Tanzund Lebensgeschichten über unterschiedliche Wissenskulturen über Voguing. In der folgenden Darstellung wird zwischen Betriebs- und Kontextwissen unterschieden.

3.3.2.1

Das Betriebswissen der Voguing-Expert*innen: Kennenlernen, Erlernen und Reflexionen

Das in den Expert*inneninterviews identifizierte Betriebswissen wird nach dem Kennenlernen und Erlernen der Praxis Voguing sowie der Reflexion praktischer Erfahrungen gegliedert und jeweils in einer Zitatcollage dargestellt und reflektiert. Die folgenden Äußerungen beziehen sich auf das Kennenlernen und Erlernen der Praxis Voguing:12 »My first contact was through a friend, one of my best friends« (SM #00:03:42‒4#). »I really didn’t have anybody teach me. My friend showed me the basics, like lines, basic lines, and then, I kind of took it from there. [...]. 12

Die Erzählung generierende Frage lautete: »How did you get started with voguing and where/how did you train it?«

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Voguing on Stage

We didn’t have classes, so we would just be at home practicing, in the club practicing or whatever« (SM #00:05:56‒0#). »My first contact was dancing, dancing at my friend’s house (#00:1:43‒5#). [...] You have to teach me and then, he started to show me videos and then, I started to see the battles and the ballroom scene and the competitions« (AM #00:04:13‒7#). »My first contact with Vogue was, actually, through a group of friends of mine. [...] I went to this club (#00:02:17‒6#), [...] at first, there were no classes, in my time [...] I learned from the club and I learned from going to the club [...] through watching and observing« (OM #00:03:20‒9#). »My first contact [...], specifically through Madonna’s music video. [...] go to a gay bar in Manhattan and this one friend, he would vogue. [...] I went to take a class« (GM #00:09:24‒2#). Es zeigt sich, dass der Zugang zu Voguing von spezifischen Personen und Orten bestimmt wird und meist auf einer persönlichen Ebene, insbesondere durch Freunde erfolgt. Das Kennenlernen unterliegt persönlichen Vorlieben für bestimmte Orte, vor allem Clubs. Die Aussagen spiegeln den informellen Weg des Erlernens wider. Die Befragten berichten, wie sie sich das Wissen über Voguing aneigneten. Ihre Begeisterung ist schließlich das Motiv, diese Technik zu erlernen. Dabei zeigt sich, dass die Befragten autodidaktisch vorgehen, indem sie Clubs aufsuchen und dort die Bewegungen studieren, um sie dann nachzuahmen und zu trainieren. Andere tanzen zusammen mit den Freunden und üben Bewegungen. Auch Musikund Tanzvideos spielen für den Erstkontakt eine wichtige Rolle. Die Expert*innen bringen zum Ausdruck, dass es sich bei Voguing um keinen Tanz handelt, der im allgemeinen oder weitverbreiteten Wissensbestand der Gesellschaft vorrätig ist. Voguing erscheint als szenespezifische Kultur und Praxis, in dem Sinne, dass es sich um spezifische soziale und kulturelle Aktivitäten handelt. In Anlehnung an die Tanzwissenschaftler*innen Ingo Diehl und Friederike Lampert verstehe ich in diesem Zusammenhang unter Tanztechnik Folgendes: »Tanztechniken zeichnen sich immer durch persönliche Bedingungen und kulturelle Konstellationen aus, durch Überkreuzungen und Mischungen von Methoden« (Diehl, Lampert 2011: 12). Das im Folgenden dargestellte selbstreflexive Wissen bezieht sich auf die Erfahrung der Expert*innen. Sie betrachten kritisch ihr eigenes Verhalten und das Verhalten anderer Teilnehmer*innen der Voguing-Bälle: »My first time going to a ball, I had no idea, what was going on and they just kind of, like, threw me out on the floor. I was in the House of Chanel and I got chopped, because I had no idea what was going on« (SM #00:03:42‒4#). »If you do some power moves, if you create it, you don’t want to do it all in one floor. Because then, people see it and they [...] replicate it« (SM #00:14:13‒0#). »Scan the area, where you are voguing. [...] Your area tells you, what you can do and what you can’t do« (SM #00:17:41‒3#). »In Vogue, especially internationally, they kind of restrict you« (SM #00:19:22‒5#). Die Aussagen spiegeln sehr unterschiedliche Reflexionsebenen wider, die von der erfolglosen Teilnahme an einem Ball bis zur kritischen Betrachtung des eige-

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

nen Unterrichtens reichen. Das erklärte Ziel eines reflektierten Unterrichtens sei, dass die Teilnehmer*innen ihren individuellen Ausdruck finden. Dieser Expert*e bzw. diese Expert*in (SM) gibt zu bedenken, dass Bewegungsmuster nachgeahmt werden könnten. Auch wird das restriktive Vorgehen der internationalen VoguingSzene bemängelt. Im folgenden Zitat kommt eine Haltung zum Ausdruck, die den respektvollen Umgang mit der Geschichte des Tanzes als Basis jeglicher Auseinandersetzung mit Voguing betrachtet: »You should know about the history [...]. Out of respect of any dance style or any community [...], because then you don’t truly understand the culture or the reasoning or the intention behind movements« (OM #00:05:59‒5#). Diese Zitatcollagen sind Ergebnis einer reflektierenden Interpretation, die auf die Darstellung des Betriebswissens zielt. Mit diesem Analyseschritt werden Vergleiche zwischen den einzelnen Aussagen gezogen. Dabei kommen Unterschiede und Ähnlichkeiten zum Vorschein. Ähnlichkeiten zeigen sich im Kennenlernen und Erlernen von Voguing, während sich die Reflexionen über das Handlungsfeld Voguing auf unterschiedliche Aspekte beziehen.

3.3.2.2

Das Kontextwissen der Voguing-Expert*innen: Voguing-Kultur und Voguing-Ereignisse

Als Kontextwissen lassen sich alle Aussagen zum Zustandekommen des Phänomens Voguing subsumieren. Die befragten Personen sind daran sowie an der permanenten Entwicklung und Weitergabe des Voguing maßgeblich beteiligt. Ihr abstrakt-reflexives Wissen vermittelt sich dadurch, dass sie sich über ihr Handlungsfeld und die Voguing-Kultur äußern sowie sich auf geschichtliche Ereignisse beziehen. Dabei lassen sich ähnliche Erzählweisen identifizieren. In zwei aufeinanderfolgenden Zitatcollagen geht es darum, wie die Expert*innen die Ballkultur illustrieren und die Geschichte des Voguing nachzeichnen. Folgende Aussagen beschreiben die Tanzkultur: »There are more than five elements. [...], there is spinning, floorwork, hands and dipping, but there’s also: You need character, you need lines, you need, when you are using your hair, you need to know how to control your hair« (SM #00:11:11‒7#). »There are five. There is the catwalk, the duckwalk, the hands, the spin-dip and the floor performance. So, these five elements make up Voguing« (AM #00:08:49‒5#). Die Expert*innen nennen die zentralen Elemente des Voguing, die teilweise übereinstimmen. Unterschiede finden sich in der Bezugnahme auf den Charakter, den Einsatz von Haaren und der Nennung des Duckwalks. Diese Elemente sind als Bewegungsmuster oder choreografisches Verhalten zu beschreiben, die kodifiziert sind, aber auch individuelle Ausprägungen aufweisen. Sie ermöglichen auch das Nachzeichnen der geschicht-

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Voguing on Stage

lichen Entwicklung des Voguing, beispielsweise standen Linien im Zentrum des sogenannten Old Way.13 In den folgenden Aussagen wird die Voguing-spezifische Gruppierung House erklärt. Dabei werden Merkmale dieser familienähnlichen Struktur genannt und auch die Tradition der Namensgebung erläutert: »In Voguing, there are houses or whatever and houses are like family or members of the community, who from families train together, to bond and to come together and to present as a family and to support each other (#00:04:13‒7#). [...] The houses are usually named after the fashion houses like Balenciaga, Mugler, or even make-up brands, like Revlon and L’ Avène and things of that nature« (AM #00:04:36‒2#). Die Expert*innen verweisen auf die verschiedenen Kategorien, die für einen Ball bezeichnend sind. Jeder Ball hat ein Thema, nach dem sich die Kategorien mit ihren Performances ausrichten. Kiki-Bälle werden als Bälle klassifiziert, die sich durch eine lockere Rahmung auszeichnen. Das Regelwerk scheint hier weniger genau ausformuliert zu sein als bei einem Voguing-Ball. Im Folgenden werden die Aussagen zu den Bällen und ihren Regeln dargestellt: »When you are Voguing at a ball, it usually has a theme« (AM #00:13:27‒9#). »Every category has its theme. The ball itself might have a general theme and then, they have those subcategories connected to the general theme« (OM #00:11.32‒7#). »In Vogue balls, there are many categories and then, there is the dancing category, the Voguing: right performance, Vogue Fem, right arm control, hands, face, you know, New Way, Old Way. Depending on the ball, there are many different dance categories« (GM #00:18:07‒5#). »A Vogue ball is an elaborate ball, so it’s a competition, it has lots of different categories. There are prizes, usually money is given as part of the prize, and trophies. A kiki ball is a much more relaxed, informal version of a Vogue ball. [...]. It’s not so formal. More informal, more casual« (GM #01:18:10‒8#). Die Zitatcollage spiegelt Konzepte der Tanzkultur Voguing wider,14 und zwar zur Realisierung der Kultur und des Tanzes Voguing. Dabei werden konstituierende Elemente des Voguing genannt. Im Interview erklären die Expert*innen zentrale tänzerische Momente des Voguing und verweisen somit auf die Körpersprache und die Bewegungen. Auch die kulturspezifische Gruppierung in sogenannten Houses wird thematisiert. Der Wettbewerbscharakter der Bälle, die unterschiedlichen Themen unterstehen, wird hinsichtlich seiner Austragung, Preise und Kategorien erläutert. Die Verweise auf die tanzkulturellen Hintergründe basieren auf einer einheitlichen kontextuellen Einbettung in die spezifische Voguing-Kultur. Die

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Ein kleines Lexikon über die Bewegungssprache des Voguing findet sich bei Bressin und Patinier (2012: 217‒220). Sie bestimmen folgende vier Typen des Voguing: Old Way, New Way, Vogue Fem und Dramatic (2012: 50‒52). Konzept wird hier, im Anschluss an Bischof, als Denkmodell verstanden, das einen Ausschnitt der Wirklichkeit erfasst (Bischof 2010: 10).

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

gelebte Kultur des Voguing, wie sie hier am Beispiel der Ballkultur exemplifiziert wird, zeigt, dass diese auf einer Wissenskultur basiert, über die ein sogenannter Common Sense zu herrschen scheint. Das Aufdecken von Wissenskulturen eröffnet in der vorliegenden Analyse Perspektiven auf das kulturelle Geschehen Voguing. Wissensformen dienen dazu, Tanzperformances oder Tanzchoreografien aus bestimmten Kulturen entsprechend zu lesen. Die Tanzwissenschaftlerin Margrit Bischof legt dar: »Das nötige Wissen über die jeweilige Kultur ist dabei von großer Bedeutung« (2010: 18). In den folgenden Aussagen spiegelt sich die Geschichte des Voguing wider:15 »Well, that’s where Voguing came from. It came from LGBT community, looking at fashion magazines and they would just emulate the girls doing the poses. And when Voguing first happened it was super, super simple and basic. [...] Like, if you watch Paris is Burning [...]. And they look like the models from the 70s or the 80s. And as times has gone on, it evolves« (SM #00:11:11‒7#). »Well, it’s a highly stylized modern form of dance, that started with the black and Latino gays [...], it evolved in the 1980s [...] into a place of ballroom, which came from, basically, the pageants, [...] like, the beauty pageants, the drag queen pageants. [...] And then, they started to have many other categories, such as runway, fashion, realness and that’s how it was started« (AM #00:06:03‒8#). »Voguing is this style, that comes from New York. It was created by black people and Latinos« (GM #00:09:24‒2#). »Voguing was a conversation piece. It was a way for them to communicate on the dancefloor. It definitely allowed a lot of people to express themselves as gay black and Latino men, at that time, when they could not express themselves in the feminine way, they wanted to or just express themselves without being called anything less than a man« (OM #00:05:59‒5#). Die Zitatcollage zeigt, dass es ein Verständnis über die Geschichte des Voguing gibt. Die Befragten nennen als Protagonisten die LGBT bzw. Gay Community, Black People und Latinos. Die Ursprünge der Bewegungssprache Voguing führen sie auf die Posen der Modewelt zurück, sie verweisen auf die Struktur eines Wettbewerbs, wie sie auch bei Schönheitswettbewerben oder bei Drag-Wettbewerben vorzufinden ist. Die Analogie zur Modewelt, die charakteristisch für Voguing ist, wird betont. Des Weiteren zeigt sich in der geschichtlichen Betrachtung, dass die körperliche und vestimentäre Ausdrucksweise des Voguing einem revolutionären Akt gleicht, der einen individuellen Ausdruck jenseits heteronormativer Vorstellungen ermöglicht. Rollenbilder bezüglich Männlichkeit und Weiblichkeit sowie sexuelle Begehrensformen, die gesellschaftlich vorherrschenden Normen und Vorstellungen entsprechen, werden dekonstruiert.

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Die Erzählung generierende Frage lautete: »Please outline your historical background of voguing. Which rumors about its historical development you heard about it?«

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Voguing on Stage

3.3.3

Deutungsmuster

Die Interviewtranskriptionen werden im Folgenden als Diskursdokumente betrachtet, aus denen sich Deutungsmuster ablesen lassen. Den Aussagen von Expert*innen sind im Sinne Kellers keine begrifflichen Bestimmungen von Deutungsmustern inhärent, vielmehr müssen die Oberflächenäußerungen hinsichtlich ihrer Struktur und Regelzusammenhänge im Sinne einer wissenssoziologischen Heuristik betrachtet werden. Die Deutungsmuster bauen auf der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse auf. Dazu werden die Informationen der Expert*innen, deren Äußerungen als Referenz-Wirklichkeit betrachtet werden, genutzt. Die Konstruktion der Wirklichkeit, die sich aus den Aussagen rekonstruieren lässt, ermöglicht das Identifizieren von Mustern, die der Erfassung inhaltlicher Dimensionen von Diskursen dienen. Somit bilden Deutungsmuster einen Brückenschlag zwischen Diskursen und der Lebenspraxis. Für diese Arbeit lassen sich folgende Deutungsmuster begrifflich bestimmen: Transformationsprozesse, Pose und Catwalk als choreografische Elemente, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen. Diese Deutungsmuster werden nun den verdichteten Passagen der Interviewaussagen angefügt, die die Etablierung dieser Muster stützen.

3.3.3.1

Transformationsprozesse

Die Expert*innen loten das ortsspezifische differente Verhalten auf der Bühne oder im Club aus. Dabei gehen sie von unterschiedlichen Ausdrucksweisen aus. Ihre Aussagen zeugen des Weiteren von Übertragungsprozessen, die nicht nur von unterschiedlichen Orten, sondern auch von gruppenspezifischen Eigenheiten geprägt sind. Sie benennen zudem soziale und kulturelle Hintergründe, die sich im Laufe der Geschichte des Voguing veränderten. Dabei zeigt sich, dass Voguing ehemals von marginalisierten Gruppen getanzt und kulturell gelebt wurde, heute dagegen von vielen Menschen als Tanztechnik in Studios erlernt werden kann. Diese Transformationsprozesse ‒ Körper in Translation, soziokulturelle Übertragungen und räumlich-zeitliche Transformationen ‒ werden im Folgenden analytisch getrennt dargestellt. Dabei zeigt sich, dass die Interviewaussagen nicht eindeutig den Mustern zuzuordnen sind. Überlappungen markieren folglich die unterschiedlichen Übersetzungsprozesse. Das Deutungsmuster Transformationsprozesse thematisiert Problemkonstellationen bei Übertragungsprozessen von Kultur. Körper in Translation Die Unterscheidung zwischen Voguing in der Szene und einem Tanzstudio wird von der soziokulturellen Strukturkategorie Ethnie und sexuellen Lebensweisen bestimmt. Das Bild der Ballszene ist durch die Vorherrschaft von »black and Latino,

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

gay and trans people« (GM #00:34:16‒8#) geprägt. Darin spiegelt sich das Verhältnis von Gesellschaftsordnung und tänzerischer Praxis wider, es offenbart sich das Soziale des Tanzes. Die Bezugnahme auf die soziokulturell konstruierten Kategorien race und Gender wird in der folgenden Interviewaussage offensichtlich: »There is [sic] two scene in New York. There is a studio scene and then, there is a ball scene or like the club scene. [...] So, the people in the club scene in New York, mostly, are still black and Latino. [...] And in the studio, the majority is the white people« (GM #00:34:16‒8#). Demnach artikulieren sich im Voguing gesellschaftliche Strukturkategorien. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob es sich um aktive gesellschaftliche Phänomene von Ex- und Inklusionsmechanismen handelt, oder ob sich die Tänzer*innen segregieren. Klein betrachtet den Tanz unter sozialwissenschaftlichen Aspekten. Bei der Analyse unterschiedlicher Tänze in verschiedenen Zeiten stellt sie fest, dass diese als »Körper(re)aktionen auf gesellschaftliche Ereignisse« (Klein 2010: 127) lesbar sind. Anhand von Beispielen aus der Tanzgeschichte führt sie vor, wie Tanz »nicht nur ein Mittel der Selbstdarstellung« (2010: 128) ist, sondern wie tanzende Körper ihre politische Potenz demonstrieren können (2010: 129).16 Für populäre europäische, aus urbanen Räumen stammende Tänze konstatiert Klein, dass sich die »Körper- und Bewegungstechniken verschiedener Kulturen zu einem Stilmix« (2010: 133) mischen, »entsprechend den kulturellen Praktiken an dem jeweiligen Ort und den lebensweltlichen Mustern der Akteure« (2010:133) anpassen und dann eine »›andere‹ körperliche Erfahrung« (ebd.) erlauben. Übertragen auf die gesellschaftliche Situation der Voguing-Kultur und -Szene bedeutet dies: Körperkonzepte, die das Soziale und Politische zum Ausdruck bringen, werden in dem Sinne transformiert, dass neue gesellschaftliche Ordnungen zum Ausdruck gebracht werden, wie sich dies im Tanzen von »white women« (GM) in Tanzstudios artikuliert. Klein beschreibt die Transformation von Tanzkonzepten folgendermaßen: »Die Sozialgeschichte des Tanzes erzählt die wechselhafte Geschichte zwischen Restauration und Revolution, Mainstream und Widerstand, sozialem Ein- und Ausschluss, Globalität und Lokalität. Tänze erzählen diese Geschichte als eine sinnliche Geschichte der Körperbeherrschung und -entfesselung, der traditionellen Geschlechterhierarchie und der Geschlechterneuordnung, der sozialen (klassenspezifischen oder ethnischen) Differenz und kulturellen Heterogenität [...]. Tanz ist ein Ausdruck gesellschaftlicher Ordnungen.« (Klein 2010: 141)

16

Zu dieser Aussage gelangt Klein aufgrund der Analyse der höfischen Tänze im 16. Jahrhundert (Klein 2010: 128).

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Voguing on Stage

Diese Sichtweise kann für die Entfaltung des Deutungsmusters Körper in Translation17 fruchtbar gemacht werden: Voguing lässt sich als eine Sozialgeschichte bezogen auf veränderte geografische Räume lesen, die von den soziokulturellen Strukturkategorien race und Gender geprägt sind. Dabei eröffnen die Körperreaktionen die Analysedimension. »Aus den Tänzen selbst, ihren Körperkonzepten, Bewegungstechniken und aus den choreografischen Ordnungen und Figurationen« lassen sich laut Klein »soziale und politische Dimensionen herauslesen« (2010: 126). Soziokulturelle Übertragungen In den Interviewaussagen lässt sich eine Argumentationslinie verfolgen, die Voguing in einer bestimmten sozialen gesellschaftlichen Schicht verortet und Voguing-Bälle als einen Weg aus der Armut beschreibt:18 »I was more relieved from people, who didn’t have things or who came from a social class, that was not so wealthy or, you know, established. [...] It was a way out. A way to be a rich lady or to be the movie star or whatever. This was the escape from a poverty mindset, that allowed you to be and express wealth and glory and fame. And praise from many people, because [...] people in lower social class, they don’t get praised, they don’t have fame and in a bit, this Voguing and the ballroom gives them that« (AM #00:12:12‒6#). In dieser Äußerung kommt zum Ausdruck, dass durch Verkörperungsprozesse auf den Bällen ein anderer sozialer Status eingenommen werden kann: Die dort vorherrschenden Handlungsweisen ermöglichen das situative Überwinden von »social class« (AM). Spricht man den Voguing-Akteur*innen eine ihnen spezifische Wirkungsmacht zu, so ist es möglich, dass soziale Differenzen auf körperliche Art und Weise verhandelt werden können. Dies kann mit Überlegungen der Tanzwissenschaftlerin Susan Leigh Foster ergänzt werden, die ihre Idee einer humanen Wirkungskraft folgendermaßen beschreibt: »If bodily actions are allowed to carry their own inscriptive weight, if they are given more than just a sex or a set of regimented requisites, then they may empower us with a newly embodied sense of human agency« (Foster 1995: 12). Wirkungsmächtige Prozesse finden dann nicht nur innerhalb einer Tanzkultur statt, sondern sie ermöglichen agency. Foster beschäftigt sich auch mit ausgegrenzten Körpern und Körperkonzepten innerhalb der Wissenschaft und Tanzbetrachtung. Die Vernachlässigung ausgegrenzter Körper in der Wissenschaft, wie »women, racial minorities and colonized peoples, gays, lesbians, and other marginalized groups« (Foster 1995: 11), zeige

17

18

Das von mir rekonstruierte Deutungsmuster Körper in Translation lehnt sich eng an Kleins Formulierung »Bodies in Translation« (Klein 2009: 15) an und fokussiert Fragestellungen zur kulturellen Übersetzung. Dabei wird hier nicht der Disziplin der Soziologie folgend exakt und differenziert auf Begriffsdefinitionen von Milieus, Schichten oder Klassen von Gesellschaft eingegangen.

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

sich alsdann im kanonisierten Wissen. Im Kanon der Tanzgeschichtsschreibung und -betrachtung wird Voguing nur marginal verhandelt. Bedeutungszuschreibungen, die In- und Exklusionsmechanismen einer Gesellschaft unterliegen, sowie die Wahrnehmung von Körpern in Gesellschaft und Wissenschaft rahmen das Deutungsmuster soziokulturelle Übertragung. Räumlich-zeitliche Transformationen Voguing hat sich im Laufe des 21. Jahrhunderts weltweit verbreitet. Die über geografische und soziokulturelle Räume hinaus veränderte Erscheinungsform des Voguing resultiert aus der Aufnahme unterschiedlicher ästhetischer Konzepte. Dies kommt in folgenden Aussagen der Expert*innen zum Ausdruck: »When you are doing it on stage it’s more of a showcase, more of a glimpse. But to actually be at a ball or in a club with the music and with the people, it’s a different world« (AM #00:15:38‒2#). »It’s a different vibe, when you are dancing in the studio and when you are dancing in a club« (OM #00:09:21‒5#). »Because New Way is the evolution of Vogue. Dance is always go into the clubs, so you should have all forms. [...] So, I teach a class and it consists of all performances on Thursdays, going to balls« (SM #00:19:22‒5#). »And then, [...] there is not one culture either in New York, there is not one culture in Berlin. So, we talk about culture like it’s homogenous, but it’s not« (GM #00:27:51‒0#). Demnach unterscheiden sich Voguing-Performances auf der Bühne von denen bei einem Ball. Ein Bühnenauftritt wird als exemplarisches Modell oder als flüchtiger Eindruck beschrieben, dort herrsche eine andere Stimmung bzw. Atmosphäre vor. In einer Äußerung in diesem Kontext wird von nicht-homogenen Kulturen (GM) gesprochen. Diese Differenzen, die auf unterschiedlichen räumlichen Verortungen basieren, werden mit Kleins Überlegungen hinsichtlich kultureller Übersetzungen genauer gefasst. »Die Geschichte der Kulturen ist eine Geschichte der Übersetzungen. Es ist eine Geschichte der Anleihen und Aufnahmen, der Grenzziehungen und Grenzverschiebungen, der Vermischungen und der Herstellung von Differenz« (Klein 2009: 7). Demnach werden die Übersetzungen und die damit einhergehenden Veränderungen und ihre Besonderheiten durch den geografischen, historischen und sozialen Raum, in dem sie sich ständig transformieren, hervorgebracht. Die Geschichte der Anleihen und Aufnahmen von Bewegungen und Zitaten stellt Differenzen her. Die Übersetzungsbewegungen des Voguing erfahren Neuaufladungen, indem die ehemals soziokulturell geprägte Praxis auf einer Theaterbühne aufgeführt wird. Diese unterschiedlichen Praktiken sind im Sinne eines Inventars als Modus des beständigen Neuentwerfens zu lesen. Die Tanzwissenschaftlerin Susanne Foellmer meint: »Dabei kommt es mir auf die doppelte Verfasstheit dieser hermeneutischen Figur an: als Inventare, die es ermöglichen sollen, diverse Praktiken im Tanz seit

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Voguing on Stage

den 1990er Jahren zueinander ins Verhältnis zu setzen, und im Sinne des inventare, als Modus, in dem sich Inventuren des Zeitgenössischen besonders über das Movens des beständigen Entwerfens und Verwerfens, Erfindens und Sich-Entziehens bestimmen« (Foellmer 2009: 18‒19, Herv. i.O.). Die Figur des Inventare kann auf die Strömungen des Voguing übertragen werden: Sie ermöglicht die Verbindung zwischen szenespezifischen Ritualen und neuen Sinnzusammenhängen und bestimmt gleichzeitig die spezifischen Eigendynamiken in Raum und Zeit. Mit dem Deutungsmuster räumlich-zeitliche Transformationen werden Veränderungen aufgrund unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Kontextualisierungen und Konkretisierungen betrachtet. Es erfasst die »Geschichte der Übersetzungen« (Klein 2009: 7), »das Movens des beständigen Entwerfens und Verwerfens« (Foellmer 2009: 19) und der Neuaufladungen aufgrund räumlicher Veränderungen, wie dem Tanzen auf der Bühne, im Club, im Ballroom, im Studio oder differenten geografischen Räumen (wie beispielsweise in New York oder Berlin).

3.3.3.2

Pose und Catwalk als choreografische Elemente

Als zentrale choreografische Elemente führen die Expert*innen die Pose und den Catwalk auf. Der Catwalk bestimmt die Dimensionen des Raums. Die Pose wird als die ursprüngliche Bewegung des Voguing markiert. Dies kommt in den folgenden Aussagen zum Ausdruck: »And the catwalk is more of the taking over of the room, of giving the energy out around in space, for me« (AM #00:08:49‒5#). »A lot of it started from the posing. [...] If someone takes a picture, it should be a pose, but it’s fluid, [...] it’s a dance. But if someone takes a still shot, it should be in a pose« (AM #00:09:16‒8#). »The intention of the movements in Vogue, striking a pose, being fluid« (OM #00:09:21‒5#). »It’s more than just an attitude, it’s a state of mind. [...] And you need to embody it [...], that transcends the form, transcends the movement and in Voguing the movement is personal express« (GM #00:26:09‒9#). Wichtig scheint den Expert*innen, dass die Pose ein tänzerisches Ereignis darstellt. Die Voguing-Pose wird aus dem tänzerischen Fluss heraus erzeugt und geht wieder in einen Bewegungsfluss über. Dabei reagieren die Tänzer*innen auf die Musik, sodass der scheinbare körperliche Stillstand, die Pose, mit einem besonders markanten Beat zusammenfällt. Auch wenn die Pose einen Stillstand innerhalb einer Bewegung markiert, werden Bewegung und Stillstand als fluides Moment miteinander verbunden gedacht. Dennoch kann eine gelungene Pose durchaus mit einem Bild verglichen werden. Mit dem Einnehmen einer Pose wird aber nicht nur eine Attitude ausgestellt. Sie ist vielmehr von einem gedanklichen Konzept bestimmt, das sich auf den Verkörperungsprozess auswirkt. Die äußere Haltung scheint dabei mit einer inneren Haltung zu korrespondieren. Dies kommt in folgender Überlegung des Geschlechterforschers Moore zum Ausdruck: »Each of these walks has a different attitude, all inspired by a specific theatrical impulse or

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

setup, and he was mainly encouraging us to think about the way we move in our own bodies« (Moore 2018: 177). Die Äußerungen zur Pose werden mit Gedanken der Tanzwissenschaftlerin Brandstetter ergänzt. Sie geht davon aus, dass die Pose die Aufmerksamkeit lenkt (2007: 251) und dass die Attitude »als Authentifizierungs-Strategie« (Brandstetter 2007: 251) gelesen werden kann, sodass in den eingenommenen Posen Haltungen zum Ausdruck gebracht werden. Die Pose unterliegt also nicht nur einer spezifischen Temporalität, sondern auch einer Bild- und Zeichenhaftigkeit. Pose und Catwalk als choreografische Elemente lassen sich als zu deutendes Muster rekonstruieren, mit dem sowohl das tänzerische Verhalten als auch die Ausdrucksweise beschrieben werden kann.

3.3.3.3

Vestimentäre Performance

Bei einem Voguing-Ball bestimmen das vorgegebene Thema und die festgelegten Kategorien die Kostümgestaltung. Die folgenden Äußerungen der Expert*innen geben Auskünfte über das Kostüm und seine Bedeutung: »And being the person, I want to be, the princess of Egypt or the Queen Elizabeth or whoever. It’s a fantasy world, that you can escape to and ultimately be the person, that you want to be. And show that through your form of Voguing« (AM #00:07:23‒4#). »That’s what the costumes do for the Vogue. It enhances the feeling. To make you feel good and it is all you« (AM #00:13:27‒9#). »Back in the day, they were more extravagant with the costumes, as far as Voguing [...]. Now, not so much, because it is so competitive and people just want to get out there and Vogue. [...] But I have realized now, that it is starting to become less and less important [...] the costumes really enhanced things, because they really gave you a feeling of armor, of, like, armor that you created« (AM #00:14:32‒9#). »They looked fashionable, they looked gorgeous. [...] It was the other categories, like best-dressed and runway and fashion [...]. Like bizarre. Those were the eccentric and lavishing and gorgeous and glittered and glamorous outfits, that they would wear. [...], they started doing the catsuits and the glitters and the glam and the shiny suits and the more themed, like, categories, rather it just being […] like yourself, then it was: bring it like this person or bring it like that person, or bring it like from this movie [...]« (OM #00:11:32‒7#). Die Expert*innen beschreiben die Kostüme vergangener Bälle im Vergleich zu heutigen als verschwenderisch, prachtvoll, umwerfend, luxuriös oder hinreißend. In ihren Aussagen spiegelt sich die Wechselwirkung von Kostüm und Selbstdarstellung wider, so vermittle das Tragen eines speziellen Kostüms ein erhabenes Gefühl. Mit dem Kostüm können unterschiedliche Rollen verkörpert und Klassenverhältnisse aufgelöst werden. Das Hineinschlüpfen in unterschiedliche Kostüme und Rollen bestimmt Verhaltensweisen und Bewegungsmöglichkeiten auf dem Catwalk

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Voguing on Stage

hinsichtlich der sozialen Strukturkategorien Gender und class. Geschlechtertausch, Klassentausch und die Darstellung von Ikonen werden dadurch möglich. Im Folgenden werden die Aussagen der Expert*innen mit Ansätzen der Modetheorie ergänzt. Thematisiert wird zum einen die Präsentationsform von Mode und im übertragenen Sinne das Kostüm, zum anderen das Verhältnis von Kostüm und Identität. Dabei wird nicht zwischen Kleidung, Mode und Kostüm unterschieden, da sich Voguing-Tänzer*innen zum einen ihrer eigenen Kleidung bedienen, auf der Bühne die dort getragene Kleidung zum Kostüm wird oder die bei der Voguing-Aufführung inszenierte Kleidung gleich einer Modenschau vorgeführt wird. Hierbei gehe ich von einer engen Verzahnung zwischen Mode-Präsentationen und Voguing-Performances aus. Das folgende Zitat der Modewissenschaftlerinnen Lehnert, Kühl und Weise bringt die Verbindung von Kleidung und Persönlichkeit zum Ausdruck: »Um mit Kleidung eine Zugehörigkeit, eine Differenz, eine Identität zu kommunizieren, anzuzeigen oder entstehen zu lassen, bedarf es ihrer Präsentation (z.B. am eigenen Körper)« (Lehnert, Kühl, Weise 2014: 39). Darin spiegelt sich die enge Beziehung zwischen der Kleidung und dem Körper wider. Durch die Art der Präsentation konstituiert sich außerdem das Verhältnis des Einzelnen zu einer gesellschaftlichen Gruppe. Überträgt man dies auf Voguing und seine kulturellen Handlungen, so kann durch die tänzerische Darbietung von Kostümen eine Zugehörigkeit zu einem thematisch gerahmten Ball oder die Zugehörigkeit zu einem sogenannten House ausgedrückt werden. Gleichzeitig ermöglicht die individuelle Präsentationsform die Erzeugung von Differenz. Die Zurschaustellung von Körper und Kostüm dient beim Voguing der persönlichen Ausdrucksmöglichkeit, wie dies die Aussage »being the person, I want to be« (AM # 00:07:23‒4#) offenbart. Kleidung bzw. das Kostüm wird beim Voguing als inszenatorisches Mittel genutzt, um die eigene Persönlichkeit darzustellen. Die Aussagen der Expert*innen korrespondieren mit denen der Modewissenschaftlerinnen Lehnert, Kühl und Weise, auch wenn sich diese nicht auf das Phänomen Voguing beziehen, wenn sie konstatieren, dass Kleidung als »Ausdrucksmöglichkeit von Individualität« (Lehnert, Kühl, Weise 2014: 39) gelesen werden kann und Kleidung die »Lust am Spiel« (ebd.) versinnbildlicht. Voguing kann als eine vestimentäre Performance betrachtet werden, die von einem Spiel mit Kostümen und gesellschaftlich geprägten Rollen oder solchen, die die Stereotypen der Gesellschaft überschreiten, geprägt ist. Dies kommt in der Aussage »to be the princess of Egypt« (AM) zum Ausdruck. Das Deutungsmuster vestimentäre Performance umfasst somit Deutungsmöglichkeiten bezogen auf die Aspekte Körper-Kostüm-Korrelation, die Analogie zwischen Modenschauen und Voguing-Aufführungen, die Konstitution der Identität mittels des Kostüms und die Möglichkeiten der Darbietung und Darstellung des Selbst durch Kleidung.

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

3.3.3.4

Gender-Inszenierungen

Die Expert*innen diskutieren unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten bezogen auf die soziokulturelle Kategorie Gender. Sie verweisen auf die Möglichkeit, der vergeschlechtlichten Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen, und darauf, dass Vorstellungen der Kategorie Gender im Tanz ausgelotet werden. Überdies erwähnen sie die Möglichkeit, sich gegen soziale Normen zu verhalten, was in den folgenden Aussagen zum Ausdruck kommt: »My own personal expression of Voguing, I was already exploring my gender and my gender expression« (GM #00:41:17‒8#). »So, there’s definitely a relationship between, I would also say, not just gender expressions and gender behavior, but gender expectations« (GM #00:48:13‒0#). »Voguing gives the opportunity for black, Latino gay men, trans women and now, it’s become for everybody, really, to express themselves in a way, that is against the social norms« (GM #00:57:33‒8#). »It plays to the gender roles in the gay community. Someone being more feminine and someone being more dramatic and more butch, but still can do the style of Vogue« (OM #00:09:21‒5#). In diesen Beiträgen offenbart sich das Potenzial der Erweiterung von Geschlechterrollen durch Voguing-Inszenierungen. In den Expert*innenaussagen kommt explizit zum Ausdruck, dass die individuelle Ausdrucksweise den Bruch mit der Norm ermöglicht. Die Äußerungen der Expert*innen werden mit Aussagen von Butler kontrastiert. Sie beleuchtet das Verhältnis von Wiederholung und Ablehnung von gesellschaftlichen Normen, ausgehend von der Person Venus Xtravaganza19 , die ihr Leben lang versuchte, die soziale Geschlechtsidentität umzuwandeln (Butler 2014: 184). Exemplarisch zeigt Butler an Xtravaganza auf, »daß der Prachtentfaltung des drag in Paris Is Burning sowohl ein Sinn von Niederlage als auch ein Sinn von Aufstand abzugewinnen ist« (2014: 182, Herv. i.O.). Bei den Bällen, die als Wettbewerbe zu beschreiben sind, konkurrieren lateinamerikanische und afroamerikanische, meist homosexuell orientierte Menschen in unterschiedlichen Kategorien, die auf sozialen Normen und deren Nachahmung basieren. Butler folgert: »[A]uf dem drag-Ball erleben und produzieren wir die phantasmatische Konstituierung eines Subjekts, eines Subjekts, das die legitimierenden Normen wiederholt und nachahmt« (2014: 185, Herv. i.O.). Diese Wiederholung wirke gleichzeitig dahin gehend, »die Normen der Echtheit zu legitimieren und zu entlegitimieren, von denen es produziert wird« (ebd.). In ihrer diskursiven Analyse, die von einer stetigen Ambivalenz zwischen der Wiederholung von Normen und der Unterminierung von Normen geprägt ist, kommt Butler zu dem Schluss: »Das ist keine Aneignung der herrschenden Kultur, um ihren Bestimmungen untergeordnet zu bleiben, sondern eine Aneignung, die die Bestimmungen der Beherrschung umgestalten will, eine Umgestaltung, die selbst so etwas wie ein

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Venus Xtravaganza ist eine Protagonist*in des Films Paris is Burning (Livingston 1990).

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Voguing on Stage

Handlungsvermögen ist, eine Macht im Diskurs und als Diskurs oder eine Macht in der Darstellung und als Darstellung, die wiederholt, um zu erneuern – und die manchmal erfolgreich ist.« (Butler 2014: 193) Gender-Inszenierungen werden hier im Anschluss an Butler nicht nur als Nachahmung von Normen, sondern als Handlungsvermögen in Bezug auf Umgestaltung und Erneuerung betrachtet. Das Deutungsmuster Gender-Inszenierungen dient bei der Aufführungsanalyse dazu, Ambivalenzen zwischen der Darstellung von gesellschaftlich geprägten Vorstellungen von männlich und/oder weiblich und ihrer Umgestaltung auszuloten.

3.4

Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

Ziel der Interviewanalyse war es, Praktiken der Diskursproduktion zu beleuchten. In den Expert*inneninterviews offenbaren sich sowohl zentrale Themen des Phänomens Voguing als auch Regeln, Muster oder Figuren von Deutungen. Dabei werden nicht-diskursive soziokulturelle Praktiken und Erfahrungen im Versprachlichungsprozess der Interviewsituation in diskursive Praktiken überführt.20 In einem weiteren Transformationsprozess, nämlich durch die Übertragung der aufgezeichneten Interviews in Interviewtranskriptionen, wird eine Textform erzeugt, die als Diskursdokument genutzt werden kann. Ergebnis der Interviewanalyse sind die zentralen Themen, die verdichtet dargestellten Wissensbestände und die rekonstruierten Deutungsmuster des Voguing. Folgende Deutungsmuster wurden rekonstruiert: Transformationsprozesse, Pose und Catwalk als choreografische Elemente, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen. Das Deutungsmuster Transformationsprozesse wurde mit Theorien zu kulturellen Übertragungsprozessen, der Entstehung von hybriden Tanzkulturen, den Veränderungen von Körperkonzepten und Bewegungstechniken sowie der Möglichkeit, den Tanz als Sozialgeschichte zu lesen, angereichert. Auf diese Weise konnten marginalisierte Körper und kulturelle Identitäten, die sich in den Körpern niederschlagen, berücksichtigt werden. Übersetzungsbewegungen im Raum wurden mit der Figur »Inventare« (Foellmer 2009: 19, Herv. i.O.) als das Fortschreiben von Praktiken fassbar gemacht. Das Deutungsmuster Pose und Catwalk als choreografisches Element lotet das Oszillieren zwischen Stillstand und Bewegung aus und ermöglicht außerdem Aussagen zur Ausdrucksweise. Das Deutungsmuster vestimentäre Performances rahmt Betrachtungen zum Kostüm und zur 20

Die Unterscheidung von diskursiven Praktiken und nicht-diskursiven Praktiken erfolgt hier in Anlehnung an Keller. Als diskursive Praktiken bezeichnet er »Schreiben, Vortragen, Predigen, Analysen erstellen« (Keller 2011: 66), als nicht-diskursive Praktiken »symbolische Gesten (Segnung); das Tragen spezifischer Kleidung; demonstrieren« (ebd.).

3. Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing

Körperpräsentation. Dabei zeigt sich das dem Voguing-Verhalten innewohnende Konzept der Kostümierung. Ein theoretischer Hintergrund im Anschluss an die Modetheorie fokussiert dabei die Präsentationsform des Kostüms im Verhältnis zur Selbstdarstellung. Das Deutungsmuster Gender-Inszenierungen wurde auf der Grundlage der Aussagen von Expert*innen und den theoretischen Aussagen Butlers formuliert. Es umfasst ein Handlungsvermögen, das gleichzeitig die gesellschaftliche Norm stabilisiert und bricht. Mit diesem Muster können Potenziale von subjektiven vergeschlechtlichten Positionierungen und Ausdrucksweisen ausgelotet werden. Mit der Rekonstruktion dieser Deutungsmuster kann aufgezeigt werden, wie durch die an einer Oberfläche auftauchenden Aussagen der Expert*innen eine Wirklichkeit konstruiert wird, welche sich auf die Wissensvorräte der VoguingCommunity beziehen. Die Aussagen wurden bei der Analyse mit der Vorstellung von Deutungsmustern analytisch präzisiert. Dies erlaubt es, den Weg von der erzeugten Wirklichkeit über die Deutungsmuster zum Diskurs zu gehen. Somit werden mit der Rekonstruktion von Deutungsmustern die kollektiven Wissensvorräte der Expert*innen mit der Diskursebene verbunden. Keller begreift die Deutungsmuster als konkrete Manifestationen von Diskursen. Im Anschluss an Foucault beschreibt er einen Diskurs als eine Menge an verstreuten Aussagen, die nach denselben Mustern gebildet werden (Keller 2011: 46). Der Diskurs sei nicht in einer wörtlichen Übersetzung zu sehen, sondern vielmehr im Sinne Foucaults in einem »Feld von Regelmäßigkeit für verschiedene Positionen der Subjektivität« (Foucault 2015a: 82). Foucaults Forderungen, stets Regelsysteme in Abhängigkeit von Sprecherpositionen zu analysieren, stabilisieren das hier dargelegte Vorgehen, diskursive Muster anhand von Interviewaussagen zu identifizieren.

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4. Voguing on Stage

4.1

Aufführungsanalysen »Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Höchstmaß an Inhalt in einem Kunstwerk zu entdecken. Noch weniger ist es unsere Aufgabe, mehr Inhalt aus dem Werk herauszupressen, als darin enthalten ist. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den Inhalt zurückzuschneiden, damit die Sache selbst zum Vorschein kommt.« (Sontag 2015: 22)

Wie eingangs bereits erwähnt ist Voguing auf der Bühne ein wenig erforschtes Gebiet. Zur Schließung dieser Lücke sollen die folgenden Aufführungsanalysen einen Beitrag leisten. Im Mittelpunkt stehen die Performances Pose for Me von Georgina Philp, Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church von Trajal Harrell und The Principle of Pleasure von Gerard Reyes. Zentral für die Aufführungsanalysen sind das tänzerische Ereignis und alle Geschehnisse auf der Bühne, an die sich mögliche Bedeutungszuschreibungen anschließen lassen. Dazu werden Theorien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen fruchtbar gemacht. Es findet in den Aufführungsanalysen eine Beschäftigung mit Stücken auf der Bühne statt, die sich explizit auf Voguing beziehen. Ausgangspunkt sind dabei die zugrunde gelegten Deutungsmuster, die den Reflexionsprozess leiten und strukturieren. Inwiefern die exemplarisch ausgewählten Performances Bezüge zum Voguing aufweisen, wird anhand der Deutungsmuster Transformationsprozesse, Pose, Catwalk, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen erforscht. Werden heterogene Aussagen wie tänzerische Ereignisse und wissenschaftliche Textproduktion miteinander in Beziehung gesetzt, so kann dies als eine diskursive Praxis betrachtet werden, die sich einem Gegenstand nähert und diesen Gegenstand im Diskurs selbst erst hervorbringt. Nach Foucault wird die Beziehung »von

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Voguing on Stage

der Position [bestimmt], die das Subjekt in Beziehung zum Gebiet der Objekte einnimmt, über die es spricht« (Foucault 2015a: 106).1 Diese Positionsbestimmung ist von einem Abhängigkeitssystem geprägt, in dem die aufeinander bezogenen Elemente Variationen unterliegen und demzufolge bestimmte Modalitäten hervorbringen (2015a: 106‒107). Dabei gilt es, so Foucault, die »Formen der Koexistenz zwischen den Aussagen; hinsichtlich ihrer Äußerungsmodalitäten« (2015a: 106) zu betrachten. Bezogen auf den hier verhandelten Gegenstand bedeutet dies, dass im forschungspraktischen Vorgehen das Verhältnis zwischen tänzerischem Ereignis und tanzwissenschaftlicher Aussage ausgelotet werden muss. Die Relation zwischen Choreografie und Diskurs wird in dieser Untersuchung so bestimmt, dass die wissenschaftlichen Aussagen entlang der Aufführung getroffen werden. Die Interaktion zwischen dem tänzerischen Bühnenereignis und der wissenschaftlichen Analyse wird dabei als ein unabgeschlossenes Feld betrachtet. Ich gehe von der Inkommensurabilität eines Kunstwerks aus, d.h., dass die besondere Verfasstheit von Kunstwerken in einzelnen Aspekten erkennend analysiert werden kann, die Grenzen des Erkennens sich jedoch im Prozess des Analysierens zeigen. Der Philosoph Martin Seel meint in Bezug auf künstlerische Objekte: »Sie sind, was sie in der ästhetischen Wahrnehmung sind, aber sie sind nicht, was sie einer verstehenden und interpretierenden ästhetischen Wahrnehmung zeigen« (2003: 177, Herv. i.O.). Seel verweist damit explizit auf die Wahrnehmung von Kunst und die der Kunst inhärenten Verfasstheit, die er in der »Gegenwärtigkeit der Objekte der Kunst« (Seel 2003: 159) und in »einer spezifischen Verwendung eines sinnlichen Materials« (2003: 173) begründet sieht. In seinem Werk Ästhetik des Erscheinens (2003) lotet er das Potenzial von begrifflichem und sinnlichem Erkennen aus. Ich beziehe mich auf ihn, um auf das Verhältnis zwischen Kunst, Kunstwahrnehmung und Kunstanalyse, das von einer Differenz zwischen Sinnlichem und Begrifflichem geprägt ist, zu verweisen. Zum Verhältnis zwischen Kunst und Kunstanalyse als Differenz stütze ich mich auch auf Schellow. Sie bestimmt den Status einer tanzwissenschaftlichen Aussage in ihrer »eigenen Materialität als ein Ereignis in einem Feld von Aussagen« (Schellow 2016: 262), was bedeutet, dass »tanzwissenschaftliche Theorien sich nicht über ihren eigenen Gegenstandsbezug begründen lassen« (ebd.). Die Bedingungen des Zustandekommens von Begriffen und ihre Theoriebildungen sowie die Beziehung zwischen Theorie und Gegenstand sind folglich kritisch zu reflektieren. Die Verknüpfung einer tanzwissenschaftlichen Aussage mit ihrem Gegenstand, dem Tanz, unterliegt einem erkenntnisleitenden Interesse – dieses gründet hier in der Analyse konkreter Voguing-Performances auf der Grundlage der etablierten Deutungs1

Auf die Bestimmung von Subjektpositionen wird in dieser Untersuchung nicht eingegangen, vgl. hierzu Michael Ruoff (2018: 215‒221).

4. Voguing on Stage

muster – und den zugrunde gelegten Begriffen der eigenen Disziplin. Diese gilt es im analytischen Prozess zu reflektieren. Schellow weist darauf hin, dass die verwendeten Begriffe, Kontexte, Diskurse und ihre Umdeutungen »auf der Ebene des jeweiligen Sprechens/Schreibens die vollzogenen taktischen Manöver, die Referenzen, Abgrenzungen, Polemiken oder Schulterschlüsse als diskursive Ereignisse in einen Zusammenhang zu stellen« (2016: 261) und zu befragen sind, um somit die Produktivität der verwendeten Begriffe begründet herzuleiten. Folglich gilt es, wissenschaftliche Aussagen, die im Verlauf der Aufführungsanalyse verwendet und formuliert werden, in ihrer historischen Verortung und Kontextualisierung zu betrachten. Meinen Aufführungsanalysen liegt ein Verständnis von Aufführung zugrunde, das als ein performatives bezeichnet werden kann. Ausgehend von Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen (2004) wird die Aufführung im Hinblick auf die ästhetischen Prozesse als Ereignis begriffen (2004: 56).2 Betont wird dabei die Teilnahme von Zuschauer*innen und Akteur*innen, die für eine Manifestation der Aufführung mitverantwortlich sind. Handlungen und Vollzüge stehen im Fokus des Wahrnehmungsprozesses. Ich gehe davon aus, dass die spezifische Körperlichkeit erst im Verlauf der Aufführung hervorgebracht wird und damit wiederum auch die Bedeutungen. Die Ereignisse auf der Bühne sind demnach als Prozesse zu begreifen, von denen Bedeutungen abgelesen oder denen Bedeutungen zugeschrieben werden können. Die Analyse gründet also auf der Materialität, die im performativen Akt der Aufführung erzeugt wird, und zwar durch die Verwendung von Körpern, Bewegungen, Gesten, Lauten und Gegenständen. Aufführungen als einen dynamischen Prozess zu betrachten, bedeutet, dass sowohl Akteur*innen und Zuschauer*innen in diesen verwickelt sind. Das Miterleben einer Aufführung beschreiben Erika Fischer-Lichte und Jens Roselt im Anschluss an Max Herrmann (1930)3 als eine ästhetische Erfahrung, die sich »entsprechend in der Aufführung als leiblich-mentale Erfahrung« (Fischer-Lichte, Roselt 2001: 240) ereignet. Die subjektiven Erfahrungsweisen bewirken wiederum eine Pluralisierung an Bedeutungen. Da alle Zuschauer*innen differente ästhetische Erfahrungen machen, können die in Aufführungen evozierten Bedeutungszuschreibungen durchaus voneinander abweichen (Jost 2012: 248). Deshalb kann es, so der Theaterwissenschaftler Torsten Jost, »zu keiner Zeit eine abschließende Bestimmung der

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Weiler und Roselt bestimmen die Aufführung, in Anlehnung an Fischer-Lichte, »als einmaliges, vorübergehendes und nicht wiederholbares Geschehen« (2017: 45, Herv. i.O. fett). Sie betrachten die »Aufführung als Erfahrungsgeschehen« (2017: 43, Herv. i.O. fett) zwischen der Präsenzerfahrung von Zuschauer*innen und Akteur*innen (2017: 43). Fischer-Lichte und Roselt beziehen sich in ihren Ausführungen auf Max Herrmann (1930) Das theatralische Raumerlebnis (2001: 252).

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Voguing on Stage

Aufführung geben« (2012: 249). Die Aufführungsanalyse ist demnach als eine Textform zu begreifen, die ein »prinzipielles Andersseinkönnen« (2012: 250) präsent hält.

4.1.1

Zwischen Aufführung und Aufzeichnung

Das Verhältnis zwischen Aufführung und Aufzeichnung ist prekär, da es von einer Differenz gekennzeichnet ist. Durch das Übertragen in eine filmische Aufzeichnung erfährt das sinnliche Aufführungserlebnis Verschiebungen, die durch Kameraführung, Perspektivenwechsel, Zoomen und weitere filmische Techniken und Methoden entstehen und den Blick der Betrachter*innen lenken. Eine mediale Aufzeichnung greift somit in das Aufführungsgeschehen ein, auch wenn diese scheinbar der bloßen Dokumentation dient. Sinnlich erfahrbare Gerüche und Geräusche sowie körperlich-affektive Erfahrungen während einer Aufführung können von den Zuschauer*innen bei einer Aufzeichnung nicht mehr in gleicher Weise wahrgenommen werden. Die vielschichtige sinnliche Struktur des Aufführungserlebnisses wird mittels einer filmischen Aufzeichnung geschmälert, was als Verlust betrachtet werden kann. Auf der anderen Seite erlauben filmische Aufzeichnungen, zwischen der Inszenierung und der Aufführung zu unterscheiden. Inszenierung wird hier in Bezugnahme auf Christel Weiler und Jens Roselt als Arrangement sämtlicher szenischer Elemente, als räumliche Ordnung, als zeitliche Struktur eines Ablaufes, als Plan und erprobte Dramaturgie verstanden (Weiler, Roselt 2017: 58) im Gegensatz zur Aufführung als einem emergenten und einmaligen Geschehen (2017: 59). Das Potenzial einer filmischen Aufzeichnung liegt auch darin, Ereignisse mehrmals betrachten und sie durch Versprachlichung zitieren zu können. Mit dem Begriff der Aufzeichnung kann nicht nur die Übertragung der Aufführung in das Medium Film betrachtet werden, sondern auch die Herstellung von Evidenz im wissenschaftlichen Diskurs. In diesem Sinne, so Brandstetter, wird die Aufzeichnung in Form der Transkription in Schrift (Brandstetter 2004: 47) von einem Verlust freigesprochen (ebd.), nämlich dem von der »Undarstellbarkeit von Aufführung« (ebd.), und entfaltet das Potenzial »als Kunst der Beschreibung« (2004: 46). Brandstetter betrachtet das Verhältnis von Aufführung und Aufzeichnung unter der »Formel – Präsenz und Repräsentation« (2004: 40). Die Arbeit der Aufzeichnung, damit bezeichnet sie die bei einer Aufführungsanalyse generierte Textform, beschreibt sie als einen Prozess, der über die Wahrnehmung und Erinnerung zu einem Gebilde zusammenfindet und eine eigene Performativität entfaltet (2004: 45). Evidenz erscheint in diesem Sinne als Effekt eines Aufzeichnungsprozesses (2004: 46). Bezug nehmend auf Brandstetter werden Aufführungen im Folgenden aus einer doppelten Sichtweise betrachtet. Einmal im Sinne einer diskursiven Auffüh-

4. Voguing on Stage

rungsanalyse, die auf dem Besuch von Aufführungen gründet und filmische Aufzeichnungen nutzt, um theoriegesättigte Argumentationsketten zu verfolgen, und zum anderen im Sinne einer »Kunst der Aufführung« (2004: 45), um die Performativität, die der erzeugten Textform der Aufführungsanalyse unterliegt, zu betonen. Damit scheint es meines Erachtens möglich, aus den Aufführungsanalysen, die selbst eine Eigenart erzeugen, Ästhetikkonzepte abzuleiten. Die Etablierung von Ästhetikkonzepten zielt auf die Übertragung von Kunst in ein sprachliches Gebilde, das die Ästhetik des Gegenstands zu erfassen vermag und Züge der ästhetischen Erfahrung in sich trägt.

4.1.2

Ästhetikkonzepte »Einen Gegenstand als ästhetischen wahrzunehmen, hieße demnach, ihn in seiner aus einer sinnlichen Überdeterminiertheit resultierenden Unbestimmtheit wahrzunehmen und diese zuzulassen, anstatt seine Eigenschaften pragmatisch festzulegen.« (Siegmund 2006: 77)4

Dieser Abschnitt dient dazu, den Eingang differenter Ästhetikkonzepte zu begründen. Ausgehend davon, dass »Werke der Kunst« (Seel 2003: 215) als »Kulminationspunkt des Ästhetischen« (ebd.) betrachtet werden können, werden im Anschluss an den Philosophen Seel die generierten Ästhetikkonzepte dahin gehend bestimmt, die »Besonderheit der Kunst [...] in ihrer ästhetischen Besonderheit zur Sprache« (2003: 11, Herv. i.O.) zu bringen. Basierend auf der Annahme, dass Ästhetikkonzepte ästhetische Besonderheiten begrifflich erfassen, als Reaktionen auf ästhetische Ereignisse lesbar sind und eine Ebene der Reflexion ermöglichen, werden im Folgenden entsprechende philosophische Begriffe und Konzepte dargestellt. Von der Wiedergabe der verschiedenen historischen Perspektiven auf die Disziplin der Ästhetik wird hier abgesehen.5 Doris Kolesch konstatiert in ihrem Lexikoneintrag, dass seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr philosophische Theorien im Vordergrund stehen (2014: 9), sondern »Ä. [Ästhetik] als Aisthesis, als Lehre von

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Siegmund argumentiert im Anschluss an Martin Seels Ästhetik des Erscheinens. Er diskutiert präsenztheoretische Modelle, um eine Vorstellung von Abwesenheit zu formulieren (Siegmund 2006: 47). Kolesch skizziert im Metzler Lexikon Theatertheorie (2014) einen historischen Überblick, beginnend mit der Begründung der Ästhetik von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714‒1762) und endend mit den aktuellen Perspektiven von Hans-Thies Lehmann und Erika Fischer-Lichte.

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Voguing on Stage

der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis« (2014: 9). Anhand vielfältiger Beispiele zeigt sie, wie die sinnliche Erfahrung zur Bedingung einer intellektuellen Erfahrung wird (2014: 10). Die Rehabilitierung des Sinnlichen fokussiert Prozesse der Wahrnehmung, die als Vermögen einer »spezifischen soziokulturellen Entwicklung« (ebd.) und »als Spüren von Anwesenheit bestimmt werden« (ebd.) kann.6 Der Philosoph Seel geht davon aus, dass »die Wahrnehmung von Kunstwerken [...] notwendigerweise eine interpretierende und erkennende Aufmerksamkeit« (Seel 2003: 38) einschließt.7 Die Ästhetik liefere »einen unverzichtbaren Beitrag, weil sie eine Dimension des Wirklichen aufdeckt, die sich der erkennenden Fixierung entzieht und doch ein Aspekt der erkennbaren Wirklichkeit ist« (2003: 41). Sie ermögliche »ästhetische Weltbegegnung« (ebd.) und »Vollzüge der ästhetischen Wahrnehmung« (ebd.). Allerdings könne die Ästhetik nicht das »Potential des begrifflichen Erkennens« (2003: 42) ersetzen. Um Konstellationen in der Kunst in ihrer Gegenwärtigkeit zu betrachten, arbeitet Seel mit dem Begriff des Erscheinens. Dieser berge das Potenzial, »Dinge und Ereignisse darin zu vernehmen, wie sie unseren Sinnen momentan und simultan erscheinen« (2003: 9). Dabei wird die sinnliche Begegnung zum Ausgangspunkt einer ästhetischen Wahrnehmung. Seel etabliert die Kategorie Erscheinen zu einem Grundbegriff der Ästhetik, um sich in unterschiedlichen »Modi der Begegnung« (2003: 82) auf die Gegenwart einzulassen (2003: 12). Dem »Mangel an Erkennbarkeit« (2003: 89) stellt er eine »Wahrnehmungsposition« (2003: 92) gegenüber. Mit Seels Präsenz-Modell möchte ich die sinnliche Wahrnehmung mit einem reflektierenden und interpretierenden Erkenntnisinteresse verschränken. Sinnliches Wahrnehmen und begriffliches Erkennen stellen in seinem Denken keine sich ausschließenden Kategorien oder Gegensätze dar. Fischer-Lichtes Ästhetikkonzept des Performativen wird herangezogen, um Reaktionen auf ein künstlerisches Ereignis zu reflektieren. Mit der Formulierung der Ästhetik des Performativen (Fischer-Lichte 2004) begegnet sie der Performance Lips of Thomas aus dem Jahre 1975 von Marina Abramović, um die von der Künstlerin geschaffene spezifische Situation zu erfassen. Diese verwandle die »beteiligten Zuschauer in Akteure« (2004: 12) und entziehe sich als Performance mit »Züge[n]

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Auch der Philosoph Max Gottschlich diskutiert das »Grundthema der Ästhetik« (Gottschlich 2017: 31) als das »Problem der Vereinigung der entgegengesetzten Bestimmungen[...]: von Sinn und Sinnlichkeit, Einzelnem und Allgemeinem, Denken und Anschauung/Wahrnehmung, von Subjektivem und Objektivem, Erkennen und Handeln« (2017: 31). Das philosophische Denken betrachtet er als Mittler zwischen sinnlicher Erfahrung und Erkenntnisgewinnung (2017: 31). Seel weist auf die vielfältigen Erwartungen und Entwicklungen der Disziplin Ästhetik im Laufe der Geschichte hin. Diese reichen von einer besseren Erkenntnistheorie über eine bessere Ethik bis hin zu einer besseren Philosophie (Seel 2003: 16).

4. Voguing on Stage

sowohl von Ritualen als auch von Spektakeln« (2004: 17) »dem Zugriff der überlieferten ästhetischen Theorien« (ebd.). Sowohl eine hermeneutische Ästhetik, die zum Ziel hat, das Kunstwerk zu verstehen (ebd.), als auch eine semiotische Ästhetik, die von einer klaren Trennung von Subjekt und Objekt ausgeht (2004: 19), eignen sich nicht für die Betrachtung von Abramovićs Performance, so Fischer-Lichte. So plausibel solche Interpretationen auch seien, so blieben sie doch inkommensurabel (2004: 18). Mit ihrem Konzept der Ästhetik des Performativen fokussiert sie das Ereignis und meint, »wenn wir es [...] mit einem Ereignis zu tun haben, in das alle – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Funktion – involviert sind, ›Produktion‹ und ›Rezeption‹ also in diesem Sinne im selben Raum und zur selben Zeit vollzogen werden, erscheint es höchst problematisch, weiter mit Parametern, Kategorien und Kriterien zu operieren, die in separierenden Produktions-, Werk- und Rezeptionsästhetiken entwickelt wurden.« (FischerLichte 2004: 21‒22, Herv. i.O.) Fischer-Lichte bestimmt das Verhältnis zwischen den Akteur*innen und Zuschauer*innen als ein Involviertsein im Ereignis; die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption erfordere eine Neubestimmung der Ästhetik. Sie argumentiert: »Die Aufführung selbst sowie ihre spezifische Materialität werden im Prozeß des Aufführens von den Handlungen aller Beteiligten überhaupt erst hervorgebracht« (2004: 55‒56). Damit bestimmt sie die »leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern« (2004: 58) zur zentralen Kategorie einer Ästhetik des Performativen. Fischer-Lichtes Ästhetikkonzept findet Eingang in meine Argumentation, um zu zeigen, wie auf eine spezifische ästhetische Situation reagiert werden kann, um diese im philosophischen Diskurs begrifflich zu erfassen. Das Auftreten philosophischer Begriffe und Konzepte in tanzwissenschaftlichen Aufführungsanalysen und tanzkünstlerischen Arbeiten zeichnet Schellow nach. Exemplarisch zeigt sie die wechselseitige Einflussnahme zwischen Philosophie und Tanz auf, die Folgen für die Tanzwissenschaft und deren Methoden hat. Sie spricht kritisch über eine sogenannte »Wesensverwandtschaft und Gleichwertigkeit zwischen Tanzpraxis und philosophischer Spekulation« (Schellow 2016: 232) und stellt fest, dass sowohl tanzwissenschaftliche als auch philosophische Texte den Tanz und den Körper als Denkfiguren aufgreifen (2016: 233) und philosophische Konzepte in tanzwissenschaftlichen Aufführungsanalysen nicht mehr nur als Zitate auftreten (ebd.). Man finde sowohl die »Übertragung philosophischer Denkfiguren auf tanzwissenschaftliche Zusammenhänge« (ebd.) als auch die Verschmelzung der tanzwissenschaftlichen Position mit philosophischen Referenzen (ebd.), was jedoch »bei aller Inspirationskraft methodologische Risiken« (ebd.) berge. Damit weist sie darauf hin, dass philosophische Formulierungen nicht auf den Tanz zielen und der Tanz in philosophischen Texten teilweise nur als

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Voguing on Stage

Metapher seine Anwendung finde (ebd.). Dies hat meines Erachtens Folgen für die Eingliederung philosophischer Konzepte in tanzwissenschaftliche Aufführungsanalysen: Philosophische Konzepte und deren Implikationen können nur dann fruchtbar gemacht werden, wenn ihre Kontexte transparent dargestellt werden. Die Formulierung von Ästhetikkonzepten, die sich in der vorliegenden Arbeit an die Aufführungsanalysen anschließen, leistet hierzu einen Beitrag. Damit wird die Aufführungsanalyse erweitert, um der sinnlichen Wahrnehmung während der Aufführung Ausdruck zu verleihen, um die Tanzwissenschaft als Disziplin zu reflektieren und um der eigenen und singulären Ästhetik des Bühnenereignisses Ausdruck zu verleihen. Welche Funktionen haben die übernommenen philosophischen Denkfiguren und Konzepte? Das Heranziehen, die Übertragung oder die Re-Lektüre philosophischer Konzepte zielen auf eine begriffliche Erfassung der ästhetischen Eigenart. Das Nacheinander von Aufführungsanalyse und Ästhetikkonzept ermöglicht zwei Betrachtungsweisen: eine diskursive und eine philosophisch-ästhetische. Tänzerische Ereignisse im Kontext der Philosophie lassen Voguing-Ereignisse als Gegenstand vielfältiger Ästhetikkonzepte erscheinen. Mit den herangezogenen philosophischen Konzepten und Begriffen können meines Erachtens die Verschränkungen von choreografischen und tanzwissenschaftlichen Verhaltensweisen reflektiert und sinnliche Erfahrungen und ästhetische Besonderheiten in die Betrachtungsweise mit aufgenommen werden. Die generierten Ästhetikkonzepte dienen dazu, den durch die Deutungsmuster verengten Blick zu erweitern.

4.1.3

Die Deutungsmuster der Aufführungsanalysen

Als Deutungsmuster werden anhand der Aussagen der Expert*innen und theoretischer Referenzen begriffliche Muster bestimmt, die die Diskursarena perspektivisch erweitern. Die Aussagen der Expert*innen oszillieren zwischen ihren praktischen Erfahrungen und Reflexionen. Somit lassen sich die gewonnenen Deutungsmuster als Zugänge zu Voguing-spezifischen Performances für die Aufführungsanalyse nutzen: »Soziale Deutungsmuster organisieren individuelle und kollektive Erfahrungen und leiten Handeln an. Sie stiften dadurch Sinn. Als allgemeine, typisierbare Bestandteile gesellschaftlicher Wissensvorräte stehen sie für individuelle und kollektive Deutungsarbeit zur Verfügung und werden in ereignisbezogenen Deutungsprozessen aktualisiert.« (Keller 2006: 133‒134) Folgende Deutungsmuster wurden in Kapitel 3 ›Wissensbestände und Deutungsmuster des Voguing‹ formuliert: Transformationsprozesse, Pose und Catwalk als choreografische Elemente, vestimentäre Performances und Gender-

4. Voguing on Stage

Inszenierungen. Sie werden analytisch getrennt den einzelnen Performances und Aufführungsanalysen zugeordnet.

4.2

Voguing in Translation

Transformationsprozesse in Raum und Zeit lassen sich am Beispiel der in den Jahren 2012 bis 2016 in Berlin stattgefundenen fünf Voguing Out Festivals verdeutlichen. Die Bälle wurden von Georgina Philp und Mic Oala organisiert und kuratiert. Tänzer*innen und Zuschauer*innen wurden auf den Tanzstil Voguing aufmerksam. Dazu trugen lokale Pionier*innen bei, die Aneignungspraktiken und kulturelle Übertragungen sichtbar machten. Aber nicht nur das Bewegungsvokabular selbst, sondern auch die Vermittlung der Geschichte mit ihren sozialen und historischen Implikationen waren thematische Schwerpunkte, wie aus den Programmen der unterschiedlichen Festivals hervorgeht: Neben der Veranstaltung von Bällen und zahlreichen Workshops wurden auch die Dokumentarfilme Kiki (Jordenö 2016) und How Do I Look (Busch 2006) ausgestrahlt. In Anlehnung an Livingstons Film Paris is Burning verwandelte sich die Spielstätte HAU 2015 zu Berlin is Burning. Die Aufführungen hatten den Charakter von Voguing-Bällen und die Teilnehmer*innen wurden von einer internationalen Jury bewertet. Der Tatsache, dass bei Tänzer*innen oft Beziehungen über große Distanzen und kulturelle und historische Differenzen hinweg bestehen, möchte ich mit den Konzepten »contact zones« (Pratt 1992: 4) von Mary Louise Pratt, Transkulturalität/Transnationalität und einem relationalen Raumkonzept begegnen. Das Verhältnis zwischen Akteur*innen aus Berlin und New York soll im Folgenden mit dem Begriff »contact zones« (ebd.) ausgelotet werden. Pratt versteht darunter einen sozialen Raum, in dem »disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination« (1992: 4). Der Begriff bietet die Möglichkeit, »to invoke the spatial and temporal copresence of subjects previously separated by geographic and historical disjunctures, and whose trajectories now intersect« (1992: 7). Es geht also um ein von Herrschaftsverhältnissen geprägtes Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, die Kopräsenz von geografisch und historisch getrennten Subjekten und die Herstellung von Beziehungen. Pratt bezieht sich in ihren Ausführungen auf koloniale Räume und Begegnungen von Ungleichheit. Im Anschluss an den Literatur- und Kulturwissenschaftler Uwe Wirth soll der Begriff Kontaktzone zur Beschreibung von Begegnungen fruchtbar gemacht wer-

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Voguing on Stage

den.8 Wirth meint, dass dieser eine transkulturelle Schnittstelle fokussiert, da die Asymmetrien im Kontakt noch nicht festgeschrieben sind und Beziehungen erst zueinander initialisiert und konstituiert werden (Wirth 2015: 30). Pratts Verweis auf Situationen der Begegnung bringe den »Aspekt der Interferenz von körperlichen und konzeptionellen Formen der Berührung zwischen einander fremden Kulturen« (2015: 30) zum Ausdruck. Der so verstandene Begriff der Kontaktzone erlaubt meines Erachtens eine Übertragung auf das Feld des Tanzens. Denn Kulturkontakte innerhalb der Tanzkultur lassen sich als transkulturelle Schnittstellen beschreiben, deren Funktion darin besteht, sich im gemeinsamen körperlichen Agieren über unterschiedliche Tanztechniken, -stile oder -kulturen auszutauschen. Das Berührungsmoment besteht dann darin, so meine Lesart, dass ein Austausch sowohl über Techniken als auch Wissensbestände der spezifischen Tanzkultur stattfindet. Diesen Austausch werde ich in Anlehnung an Ingo Diehl und Friederike Lampert als Prozesse von Vermittlung und Kommunikation bestimmen. Diehl und Lampert konstatieren, bezogen auf den zeitgenössischen Tanz, dass sich Tanztechniken und ihre hybriden Inhalte in einem ständigen Wandel befinden (Diehl, Lampert 2011: 14) und Techniken von biografischen Zusammenhängen beeinflusst werden (2011: 13). Basierend auf einem Verständnis von Tanztechnik, das nicht mehr als kodifiziertes System wahrgenommen, sondern vielmehr als flexibles Potenzial erfahren wird, betrachten sie Tanztechniken als Vermittlungsund Kommunikationsprozesse (2011: 13). Ihre Überlegungen sind meines Erachtens auch auf Voguing übertragbar. Auch wenn es sich hierbei um ein kodifiziertes System mit festgelegten Kategorien und einem klassifizierten Bewegungsvokabular handelt, kann ein Verständnis von Tanztechnik als flexibles Potenzial zugrunde gelegt werden, denn die vorherrschenden Bewegungselemente erfahren im Vermittlungsprozess individuelle und lokale Kontextualisierungen. Belegt werden kann dies zum einen damit, dass während der Aufführungen die Performer*innen individuell und improvisierend das Voguing-Bewegungsvokabular nutzen, zum anderen generiert die lokale Voguing-Szene in Berlin ihre eigenen Formate. So ermöglichte die Performance Night 2016 den Performer*innen, verschiedene Kurzstücke zu präsentieren, die Voguing als Bühnensprache nutzen (Programm Hebbel am Ufer 2016). Dieses Format macht lokale Aneignungspraktiken sichtbar. In Anlehnung an Pratt, Wirth, Diehl und Lampert lassen sich die Voguing Out Festivals, sowohl die Workshops als auch die Bälle, als Kontaktzone und als transkulturelle Schnittstellen beschreiben.9 Dabei werden die Tanztechnik Voguing und 8

9

Viele Kulturwissenschaftler*innen nutzen den Begriff »contact zones« (Pratt 1992: 4), um räumliche Dimensionen zu öffnen (Kimura, Pekar 2015: 17, Wirth 2015: 30, Ernst, Freitag 2015: 16). Klein betrachtet die Tanzkünstler*innen als kulturelle Übersetzer*innen, die »Muster transkultureller Identitäten« (Klein 2009: 28) zeigen. Der Sport- und Sozialwissenschaftler Bernd

4. Voguing on Stage

die Wissenskultur Voguing als flexibles System in einem Vermittlungs- und Kommunikationsprozess erfahrbar. Darüber hinaus kann damit das Aufeinandertreffen von Voguing-Tänzer*innen aus unterschiedlichen geografischen und kulturellen Räumen sowie ihre Aushandlungspraktiken und -prozesse gefasst werden. Ein relationaler Raumbegriff scheint hierfür besonders geeignet. Im Anschluss an den Kulturgeografen Tim Freytag gilt es, den »Raum in seiner Bedeutung für den Menschen zu erfassen und die Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Orten oder Stellen in den Blick zu nehmen« (2014: 15). Verbindet man das Kulturkonzept, wie oben angedacht, mit einem relationalen Raumbegriff, so wird das Denken von Begegnung sowohl im Sinne eines Vermittlungs- und Kommunikationsprozesses möglich als auch von Mechanismen der Wissensverbreitung und dem Zugang zu Informationen. Die Begegnungen beim Voguing lassen sich als relationales Raumgeflecht beschreiben. Dabei wird der Begriff der Kontaktzone (Pratt 1992: 4) produktiv genutzt, um über das Denken von Tanzkulturen als separate, kulturelle Einheiten hinauszuweisen und Schnittstellen der gegenseitigen Bezugnahme aufeinander zu fokussieren. Argumentiert man mit Pratt und Wirth, so eröffnet sich eine räumliche Dimension, die von der Begegnung von Kulturen, die in ein produktives Verhältnis zueinander treten, geprägt ist. Werden die Kontakte beim Voguing im Sinne eines relationalen Raumgeflechts betrachtet, so liegt ihre produktive Reziprozität im ständigen Ausloten der Tanzkultur Voguing.

4.2.1

The House of Melody: Voguing in Deutschland

Georgina Philp ist eine aus Düsseldorf stammende Tänzerin, die ihre zeitgenössische Tanzausbildung in Tilburg in den Niederlanden absolvierte. Sie brachte den Tanzstil Voguing nach Deutschland und trug wesentlich zum Aufbau einer deutschen Voguing-Szene bei (Gottschalk, Haensell 2014: 76). 2012 gründete sie das erste Voguing House in Deutschland, das den Namen House of Melody trägt (Homepage Tanzhaus NRW).10 Sie wird als Tänzerin beschrieben, die »fast alle Stile der urbanen Szene« (keepondancin 2012) beherrscht. Wichtige tänzerische Inspirationsquelle ihres Schaffens ist der Voguing-Pionier Archie Burnett aus New York (ebd.). Auf die historischen und soziokulturellen Hintergründe des Voguing verweist Philp, wenn sie vor einem Workshop Einblicke in die Ballroom-Community

10

Bröskamp meint, dass gerade im Tanz Transnationalität zum Alltag gehört (Bröskamp 2006: 237) und der Tanz eine transnationale und körperbezogene Kultur (2006: 236) mit hoher Internationalität (ebd.) sei. »Since Juli 2019 the House of Melody has transformed and joined forces with the Iconic House of Saint Laurent (founded in 1982 in NYC)« (Homepage The House of Melody 2019).

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Voguing on Stage

New Yorks gibt.11 Prägend für das Erlernen des Voguing scheint neben der Technik auch das Wissen um die Voguing-Kultur. Die Journalist*innen Gottschalk und Haensell heben die Bedeutung kultureller Hintergründe hervor: »Die eigentliche Faszination entfaltet der Tanz allerdings erst, wenn man auch den inhaltlichen Background kennt. Denn beim Voguing handelt es sich eben nicht einfach um einen coolen neuen Tanzstil, sondern um ein sensibles Stück queerer Geschichte« (Gottschalk, Haensell 2014: 76). Bevor die Aufführung Pose for Me im Rahmen des Sommerfests der Akademie Schloss Solitude im Jahr 2018 zu sehen war, fanden im Vorfeld »Diskussionen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Voguing« (Akademie Schloss Solitude 2018) statt mit dem Ziel, »dem lokalen Publikum die Möglichkeit zu bieten, mehr über die expressive Tanzform zu erfahren, die marginalisierte afroamerikanische und lateinamerikanische Queer/Gay/Drag-Community dazu befähigte, sich in oft feindlich gesinnten Umgebungen ein Zuhause zu schaffen« (ebd.). An dem Gespräch nahmen Georgina Philp, Shaka McGlotten, Plenvm Ninja, divaD Unbothered und Zoe 007 teil. Zentrale Themen waren der Film Paris is Burning, die Wurzeln des Voguing, der Aufbau einer Voguing-Szene in Europa, der Kontakt mit Archie Burnett, Überlegungen zur Kategorie Gender, Möglichkeiten der Selbstdarstellung durch Voguing und kulturelle Eigenheiten wie die Houses sowie die Bälle.12 Das breite Themenspektrum verweist auf die Selbstreflexivität der VoguingCommunity. Dieser Dialog eröffnet eine Reihe von Fragen zum Phänomen Begegnung und Aneignung von Kulturen: Wie lassen sich die Transformationsprozesse beschreiben? Wie offenbaren sie sich in Pose for Me? Welche Theorien aus der Tanzund Kulturwissenschaft eignen sich für die Analyse von Transformationsprozessen auf der Bühne? Wie kann die Performance Pose for Me in ein Ästhetikkonzept überführt werden, das die Eigenheiten der Transformation widerspiegelt?

4.2.2

Stückbeschreibung: Pose for Me von Georgina Philp

Vor dem Schloss Solitude Stuttgart, einem Jagd- und Repräsentationsschloss aus dem 18. Jahrhundert, ragt ein schwarzer Laufsteg mittig aus dem Durchgang der Fassade des Hauptgebäudes. Der Aufführungsort versprüht eine eigenwillige Atmosphäre, denn er trägt Spuren ganz unterschiedlicher Kulturen in sich. Architektonisch handelt es sich um ein Rokokoschloss in symmetrischer Bauweise. Der davor aufgebaute Laufsteg besteht aus aneinandergereihten schwarzen Podesten. Im Halbkreis versammelt sich das Publikum unter freiem Himmel um die laufstegähnliche Bühne. Das Schloss wird zur Kulisse, die nichts mit dem dort stattfin-

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Diese Aussage geht aus der Teilnahme am Workshop Vogue Fem: Basics (A) bei Georgina Philp in Düsseldorf (2018) hervor. Diese Aufzählung basiert auf der Mitschrift vom 29. Juni 2018.

4. Voguing on Stage

denden Ereignis gemein hat. Spuren aus der Geschichte treffen an diesem Abend aufeinander. Die Aufführung zeigt, wie es »bei einem Voguing Ball aussehen kann« (Philp 2018)13 , sie kann als »intro into voguing« (ebd.) und »Showperformance« (ebd.) betrachtet werden. Shaka McGlotten, Anthropologe und Professor für Media Studies, eröffnet den imaginierten Ball und begrüßt die Tänzer*innen und das Publikum, um dann »a little knowledge« über Voguing weiterzugeben:14 »Voguing is a queer color dance [...] a ball is a party«.15 Er stellt die anwesenden Tänzer*innnen vor sowie die deutsche Voguing-Pionierin Philp als »first generation of voguing scene in Germany [...], she has built up the ballroom scene«.16 Bevor die ersten Tanzaufführungen stattfinden, erklärt McGlotten: »We wonna go to show you, what a ball looks like. A ball is the place where we come together and have party and celebrate each other for all the different things we will be doing, [...] walk the runway, or feeling like striking a pose [...], today we gonna have battles, we gonna have [...] the upcoming divas of the scene and before we will see the first house of Germany, the House of Melody gives you a little showcase.«17 Daraufhin treten die vier Tänzer*innen Mother Leo Melody, Ray, Valeria Melody und Christopher Melody auf dem Laufsteg auf. Sie präsentieren virtuoses VoguingVokabular, mal synchron tanzend, mal die Tänzer*innen einzeln hervorhebend. Zu sehen sind exakte, synchrone Armbewegungen, die im Raum dominieren (siehe Abbildung 1). Auf dem Runway wiegen sie die Hüften von rechts nach links und setzen wie einer imaginären Linie folgend einen Fuß vor den anderen. Darauf folgt eine Sequenz, in der der Rhythmus der Musik das einende Moment ist: Mit dem Beat nehmen die Tänzer*innen unterschiedliche Posen ein, in denen sie für einen kurzen Moment verweilen. Daraufhin stellen sie sich hintereinander auf, sodass für das Publikum fast nur noch die Tänzerin Leo Melody an vorderster Position zu sehen ist (siehe Abbildung 2). Aus dem so gebildeten House of Melody-Körper schnellen die Arme blitzschnell und in exakten Linien hervor. Dabei verschmelzen die Körper zu einem Kollektiv.18 Die folgenden Tanzsequenzen des House of Melody lassen typisches VoguingVokabular wie den Duckwalk, Dip oder Hair Whipping erkennen. Die Präsentation

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Dies geht aus einer E-Mail-Korrespondenz mit Georgina Philp hervor. Beschreibung und Analyse basieren auf der Aufführung vor dem Schloss Solitude am 29. Juni 2018 sowie einer Filmaufnahme von Lutz Capeller, die für diesen wissenschaftlichen Zweck angefertigt wurde. Minute 0:18. Minute 1:20. Minute 3:07. Minute 5: 32‒6:02. Minute 6:18‒9:26.

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Voguing on Stage

Abb. 1: Pose for Me (Philp 2018), House of Melody: Valeria Melody, Leo Melody, Christopher Melody, Fotograf*in: Lutz Capeller, 2018 Copyright Lutz Capeller.

endet mit einem Dip, bei dem sich die Performer*innen über den Fußrücken abrollend mit einem angewinkelten Bein nach hinten fallen lassen.19 Es folgen Catwalks einzelner Performer*innen. Nacheinander treten divaD Unbothered, Zoe 007, Plenvm Ninja und Mitglieder des House of J.J. Laconya an. Die Catwalks erlauben ihnen, sich selbst zu präsentieren.20 Der Catwalk ist der Ort, »where you’re meant to see and be looked at, a moving display case of identity where the job is to tell a story, [...] by simply walking straight ahead« (Moore 2017: 149). Auch wenn Moore seine Definition auf Modenschauen bezieht, unterstreicht er doch auch das Potenzial des Catwalks im Allgemeinen: nämlich das der Selbstpräsentation. Nach der Präsentation des House of Melody, der Catwalks und einer WackingPerformance21 , ist die Aufführung als Ballroom konzipiert. Der österreichische Performer Plenvm Ninja führt dazu mit folgenden Worten ein: »We will give you the 19 20 21

Minute 12:20. Minute 13:13‒18:00. Minute 19:12‒23:49.

4. Voguing on Stage

Abb. 2: Pose for Me (Philp 2018), House of Melody: Leo Melody, Valeria Melody, Christopher Melody, Ray, Fotograf*in: Lutz Capeller, 2018 Copyright Lutz Capeller.

ballroom feeling.«22 Er erklärt, dass die Battle Teil des kulturellen Systems des Ballrooms ist, bei der es gilt, zehn Punkte zu erlangen, um beim nächsten Wettstreit wieder dabei sein zu können, und weist darauf hin, dass die im Ballroom vorherrschenden Regeln in der Aufführung in abgewandelter Form angewandt werden. Es zeigt sich, dass die begleitenden Kommentare notwendig für das Verständnis des Gezeigten sind. Indem die Performer*innen nun Battles vorführen, verweisen sie auf choreografische und tänzerische Strategien des Voguing, sofern die Zuschauer*innen in der Lage sind, diese zu erkennen. Ist das nicht der Fall, so sind jeweils zwei Tänzer*innen zu beobachten, die nun gemeinsam auf dem Laufsteg agieren. Auf die imaginierten Wettbewerbe folgt keine Bewertung, da es keine Jury gibt, die über das Weiterkommen entscheiden würde. So betrachtet ist es ein Spiel im Spiel. Während der Performance mimen die Performer*innen eine Battle und verweisen mit ihrem Tun auf den Wettbewerb, wie er im Ballroom ausgetragen wird.

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Minute 26:26.

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Voguing on Stage

In der Kategorie Runway sind drei Battles zu sehen, vorherrschendes Bewegungsmaterial sind Schritte und Posen. Der Runway wird von Plenvm Ninja kommentiert und mit den Worten »one, one, one, two, two, two, three, three, three and hold that pose for me«23 beendet. Diese Phrase stammt aus dem Ballroom und wird vom Master of Ceremony gesprochen, wenn es gilt, passend zum Beat in einer Pose den Runway zu beenden. Der Titel dieser Performance spielt auf diesen Ausdruck an: »Pose for Me ist ein Ausdruck, der in den letzten Sekunden eines Voguing-Wettbewerbs benutzt wird, wenn PerformerInnen ihre Bewegungen in ein Standbild für die Jury einfrieren« (Akademie Schloss Solitude 2018). Das Publikum von Pose for Me ist eingebunden, wenn es anschließend darum geht, die Stile des Voguing zu benennen: »In voguing we have a little bit of history [...]threestyles[...], the oldway.«PlenvmNinja zählt weiter auf: »And then of course, when we have an old way«, er streckt dem Publikum das Mikrofon entgegen, das daraufhin »new way« ruft. Weiter reiht er an die beiden genannten Stile Vogue Fem an und erklärt: »This is not something, what you learn over a youtube video.«24 Es folgen zwei Battles: zuerst im Old Way, dann im New Way, bei denen sowohl das unterschiedliche Bewegungsmaterial als auch die unterschiedlichen Qualitäten der Bewegungen präsentiert werden. Der Old Way wirkt formal und ist durch Linien und Präzision gekennzeichnet. Die Posen gleichen geometrischen Darstellungen menschlicher Figuren alter ägyptischer Zeichnungen. Meines Erachtens lässt sich ein Vergleich zu den Posen von Willi Ninja (1961‒2006) ziehen, der zu den Protagonist*innen des Old Way zählt. Moore beschreibt diese folgendermaßen: »When Willi Ninja comes to the runway, he bounces his shoulders and does some hard, angular poses that look like a combination of Egyptian hieroglyphics, jazz dance, and gymnastics« (Moore 2018: 185). Bei der Armhaltung dominieren Linien und Winkel. Charakteristisch für den New Way sind die Armpositionen, die den Körper in einem schier unmöglichen Stretch rahmen. Plenvm Ninja charakterisiert den New Way als »radical movement« und »stretches, which are impossible.«25 Danach treten die Performer*innen Plenvm Ninja und divaD Unbothered zur Kategorie Handperformances gegeneinander an. Laut Philp sind diese von der Pantomime beeinflusst und dienen dazu, Geschichten zu erzählen.26 Der Performer Plenvm Ninja zieht dazu schwarze Handschuhe an und unterstreicht somit die Bewegungen seiner Hände. Dabei zeigt sich, so meine Beobachtung, dass sich jenseits des bloßen Ausstellens der Bewegungen ein dialogisches Verhältnis zwischen den Performer*innen entwickelt. Während sie sich gegenüberstehen, kann die Bewegungssequenz als Aktion und Reaktion gelesen werden.27 23 24 25 26 27

Minute 27:15. Minute 30:03‒30:56. Minute 32:40. Minute 33:47. Minute 34:34‒36:17.

4. Voguing on Stage

Anschließend wird der Stil Vogue Fem präsentiert, bei dem ebenfalls zwei Performer*innen gegeneinander antreten. Dabei stellen sie Bewegungsmaterial aus, das sich als »all about feminin« beschreiben lässt.28 Die Aufführung endet mit der Tänzerin Philp, die in der Manier des Vogue Fem auftritt.29 Das Deutungsmuster Transformationsprozesse Die Aufführung Pose for Me (2018) von Georgina Philp wird hinsichtlich des Deutungsmusters Transformationsprozesse analysiert. Das Deutungsmuster hat die Funktion, kulturelle Übertragungsprozesse zu thematisieren. Bei der Analyse der Expert*inneninterviews wurde zwischen Körper in Translation, soziokulturellen Übertragungen und räumlich-zeitlichen Transformationen unterschieden. Auf die Schwierigkeiten einer solchen analytischen Trennung wurde hingewiesen. In der folgenden Aufführungsanalyse werden die beiden Deutungsmuster Körper in Translation und soziokulturelle Übertragungen gemeinsam verhandelt. Dabei werden theoretische Anschlüsse angeboten, die ein Anschauungsmodell zwischen der Performance und dem Diskurs über kulturelle Übersetzungsprozesse generieren. Zentral für die folgende Aufführungsanalyse sind Prozesse der Kulturvermittlung, der kulturellen Übertragung und die hervorgebrachte Körperlichkeit bei Übersetzungsprozessen.

4.2.3

Die Lecture-Performance Pose for Me als Modell der Kulturvermittlung »Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition.« (Benjamin 2011: 18)

Die Aufführung Pose for Me verweist in ihrer Eigenart auf das Format der LecturePerformance.30 Denn sie stellt aus und thematisiert, was Voguing ist, sein könnte und wie es auf einer Bühne zum Ausdruck kommen kann. In diesem Format überkreuzen sich Sagen und Zeigen, was in dieser Untersuchung dem Verhältnis von Sprache und Bewegung entspricht. Das Sagen verweist auf den Aspekt des Gesagten, das Zeigen auf den Aspekt des Getanzten. Dieses Verhältnis liegt den 28 29 30

Minute 36:36‒39:04. Minute 42:03. Im zeitgenössischen Tanz wurde dieses Format ab den 1990er Jahren zu einem Genre, das einen kritischen Dialog mit der Geschichte und der eigenen Arbeit ermöglicht (Brandstetter 2016: 1‒3). Brandstetter zeichnet in ihrem Artikel »Showing Dance: Lecture Performances in Dance since the 1990s« die Geschichte nach und verortet deren Etablierung in der Kunst der 1950er und 1960er Jahre (2016: 1).

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Voguing on Stage

Begriffen nicht automatisch zugrunde, sondern wird in dieser Untersuchung als Grundgedanke bestimmt. Folglich verweist der Aspekt des Sagens hier als Qualität auf das gesprochene Wort und das Zeigen auf die Qualität des Getanzten. Sagen und Zeigen stehen sich dabei nicht bipolar gegenüber, sondern sind Aspekte einer Beziehung zueinander. Brandstetter hebt die besondere »Beziehung von Vortrag und Performance in einer charakteristischen Verflechtung von Sagen und Zeigen« (Brandstetter 2010: 49) in einer Lecture-Performance als grundlegendes Merkmal hervor. Dabei überkreuzen sich die beiden Darstellungsformen Rede und Körperperformance (2010: 50). Das Gesagte und das Getanzte werden so miteinander kombiniert, dass, um mit den Worten von Thurner zu sprechen, »erst das Zusammenspiel die Dichte an Information und Bedeutung produziert, in die auch die Zuschauerin, der Zuschauer verstrickt wird« (Thurner 2009: 330). Dies kennzeichnet die Merkmale der Lecture-Performance, wie sie auch bei der Performance Pose for Me zu sehen sind, nämlich dass die Zuschauer*innen den Tanz Voguing in einem Wechsel von gesprochener und getanzter Präsentation dargeboten bekommen und im Moment ihres Vollzugs Bedeutungen generiert werden, an denen sie beteiligt sind. Ein zentrales Motiv von Pose for Me ist die Vermittlung und Vorführung der Voguing-Kultur. Meist wird mit dem Format der Lecture-Performance das Verhältnis von wissenschaftlichem Vortrag und künstlerischer Performance betrachtet (Ernst 2004: 192). Pose for Me folgt diesem Format zwar nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Selbstreflexion, wohl aber, um gleichzeitig über Voguing zu sprechen und es darzustellen. Pose for Me als Lecture-Performance zu betrachten, erweitert die künstlerische Darstellung durch die Geste der Sprache bzw. die verbale Darstellung durch die körperliche Geste. In dieser gegenseitigen Bezugnahme etabliert Pose for Me, so meine These, ein Modell der Kulturvermittlung. Um diese These zu erläutern, wird das Verhältnis von Sagen und Zeigen, Referenz und Performance, die Relation zwischen Performativität und Theatralität und die Figuration von Evidenz näher betrachtet. Anhand von Pose for Me wird dargestellt, wie das Format Lecture-Performance mit Modellen der Kulturwissenschaft zu verbinden ist, um kulturelle Transformationsprozesse analysieren zu können. Die Aufführungsanalyse gliedert sich folglich in zwei Teile und wird von einem Exkurs zum Kulturbegriff und Modellen kultureller Übertragung unterbrochen. Der Theaterwissenschaftler Wolf-Dieter Ernst schreibt bezogen auf eine Lecture-Performance von Susanne Foellmer aus dem Jahre 1999: »Die Demonstration der Tanztechnik und die einleitenden Erläuterungen erhellen sich gegenseitig« (Ernst 2004: 195). Dies trifft auch auf Pose for Me zu. Nachdem Plenvm Ninja die beim Voguing existierenden Stile Old Way und New Way erläutert hat, folgt sogleich eine Darbietung: Old Way und New Way werden tänzerisch präsentiert.

4. Voguing on Stage

Die Performer*innen Leo Melody und divaD Unbothered treten in Manier des Old Way gegeneinander an.31 Das Sagen und Zeigen materialisiert sich in Pose for Me in Begriffen und Bewegungen. Darin zeigt sich das Paradox der Bewegungsbetrachtung: Immer wenn Bewegungen benannt werden, wird aus einer dynamischen Form ein Begriff. Die Lecture-Performance ermöglicht es, zwischen dem Bewegungsbegriff und dem dynamischen Bewegungsfluss zu vermitteln, indem Bewegungsqualitäten oder -stile nicht nur benannt, sondern auch vorgeführt werden. Die Lecture-Performance vereint somit zwei Ebenen: eine implizite, die auf das Sprechen über Tanz verweist, und eine explizite Ebene der Aktualisierung, wie sie sich im Verkörperungsprozess der Aufführung unmittelbar vollzieht. Ernst sieht in der Lecture-Performance eine Möglichkeit, »Tanz im Moment der Findung« (ebd.) darzustellen, und antwortet damit auf »grundsätzliche Probleme der Beobachtung, Notation und Beschreibung« (ebd.) von Tanz. Ernsts Auffassung deckt sich mit der Aussage der Literaturwissenschaftlerin Sybille Peters, die das Potenzial eines Vortrags als Performance darin sieht, dass »das Gesagte lebendig werden« (Peters 2005: 201) kann. Lecture-Performances können demnach als »Beziehung zwischen thematischer Referenz und präsentierender Performance« (2005: 208) betrachtet werden. Wenn Leo Melody über HandPerformances als eine Form des »telling a story«32 referiert und Plenvm Ninja in seiner Hand-Performance tänzerisch so agiert, dass die Zuschauer*innen eine gläserne Box imaginieren, in der er sich scheinbar befindet,33 so zeigt sich ein inhaltliches Zusammenspiel von thematischer Referenz und präsentierter Performance. Den verbalen Erläuterungen folgt unmittelbar ein getanztes Modell dessen, was eine Hand-Performance ist: nämlich ein schnelles und präzises Gestikulieren mit den Händen, um in Manier einer Pantomime eine Geschichte zu erzählen. Um mit den Worten von Ernst zu sprechen: Die »Demonstration in ihrer Komplexität« (2004: 196) gibt den Zuschauer*innen »einen Eindruck davon, wie die Schritte aussehen, die schlussendlich zu einem Tanz werden« (ebd.). In der besprochenen Szene kann Ernsts Aussage folgendermaßen übertragen werden: Die Demonstration von komplex koordinierten Händen gibt einen Eindruck davon, wie die Handbewegungen zu einem Bewegungsfluss werden, der eine Geschichte erzählt. Bezogen auf die von ihm betrachtete Performance stellt Ernst eine »Verschiebung von der referentiellen zur performativen Funktion der Darstellung« (2004: 196) fest. Dies kann in gleicher Weise für Pose for Me konstatiert werden. Gleich zu Beginn wird darauf hingewiesen, dass nun gezeigt wird, wie ein Ball aussieht.34

31 32 33 34

Minute 30:03‒33:33. Minute 33:47. Minute 33:47‒34:34. Minute 5:32.

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Voguing on Stage

Doch die verbalen Erläuterungen entfalten ihren Sinngehalt erst bei der konkreten Aufführung. Erst dann entsteht Voguing, können »komplexe körperliche Bewegungsfolgen, die sich der sprachlichen Beschreibung entziehen, im künstlerischen Prozess handhabbar gemacht werden« (2004: 198). Pose for Me öffnet somit auch »den Spalt zwischen Dargestelltem, Darstellung und Beobachtung« (2004: 199). Es wird offensichtlich, dass die sprachliche Beschreibung stets nur eine Annäherung an den körperlichen Vollzug darstellt. Die Aufführung ist so konzipiert, dass den thematischen Einführungen oder Erklärungen entsprechende Verkörperungen folgen. Dennoch lassen sich während der Performance, so meine Lesart, Verschiebungen im Modus der Körperpräsentation identifizieren. Diese betreffen das Verhältnis von Performativität und Theatralität. Beide Begriffe werden hier als Erzeugungsmodus angesprochen. Bei dieser Betrachtung wird ein Konzept von Performativität zugrunde gelegt, das die Herstellung von Wirklichkeiten in den Blick nimmt. Begreift man Performativität als unmittelbare Handlung und Theatralität im Sinne von ›etwas als ob‹, so zeigt sich zwar in deren Rahmung als Aktionsraum Performance eine Übereinstimmung, jedoch nicht in ihrem Modus. Performativität ist selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend.35 Körperliche Handlungen werden dem Modus der Performativität zugeordnet, wenn Wirklichkeiten während der Aufführung zuallererst hervorgebracht werden. Mit dem Konzept der Theatralität wird auf körperliches Handeln verwiesen, welches das Imaginäre und Modellhafte repräsentiert.36 Das Oszillieren zwischen diesen beiden Modi eröffnet verschiedene Wahrnehmungen und Lesarten.37 Betrachtet man Theatralität im Modus des Imaginären und Performativität im Modus des Realen, so bedeutet dies, dass sie unterschiedliche performative Äußerungen erzeugen. Wenn also die Performer*innen einen Ball imaginieren, entspricht dies dem Modus der Theatralität. Wenn sie hingegen nicht auf etwas anderes verweisen, sondern selbst sind, was sie vollziehen, geschieht dies im Modus der Performativität. Die beiden Präsentationsformen haben unterschiedliche Funktionen. Zeigt sich die Qualität der Theatralität, so wird den Zuschauer*innen ein imaginiertes Modell eines Balls vorgeführt, während sich in der Qualität des Performativen eine wirklichkeitskonstituierende und selbstreferentielle Ausdrucksform offenbart. 35 36

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Siehe hierzu Fischer-Lichte Ästhetik des Performativen (2004: 19, 34 und 38). Matthias Warstat entfaltet den Theatralitätsdiskurs beginnend mit drei terminologischen Varianten: »Definitionen, die Th. [Theatralität] als anthropologische Kategorie verstehen« (Warstat 2014: 383), »die Th. als ästhetische Kategorie deuten« (ebd.) und den »Begriffsbestimmungen, die beide Perspektiven zu verbinden suchen« (ebd.). Mit dem Begriff Theatralität werden kulturelle und künstlerische Handlungsweisen aufeinander bezogen und »kulturelle Grenzverschiebungen und Entwertungsschübe« (2014: 386) aufgespürt. Das Deutungsangebot zu den Begriffen Theatralität und Performativität wird außerhalb der tanzwissenschaftlich-historischen Dimension dieser Begriffe geführt.

4. Voguing on Stage

Damit wird der Unterschied im Prozess der Verkörperung zwischen Bewegungstechniken und -stilen deutlich, die Voguing re-präsentieren, und solchen, die Voguing unmittelbar auf die Bühne bringen. Diese Differenz möchte ich mit den Worten von Thurner untermauern. Sie beschreibt Bewegungen, bezogen auf eine von ihr betrachtete Lecture-Performance, als Unterschied von »lediglich nachvollziehen, also nachträglich vollziehen« (Thurner 2009: 327) und der »eigenen physischen Erfahrung« (2009: 326) des Tänzers, wenn es gilt, dass er »nicht einfach eine Verkörperung des theoretisch Gesagten darstellt, sondern eigenständig präsentiert« (2009: 329). Damit spielt sie auf das Authentische einer Bewegung an, »das sich nicht in technischer Re-Präsentation einfangen und reproduzieren lässt« (2009: 332). Allerdings meint sie auch, dass man das »›Authentische‹ [...] bei einer LecturePerformance nicht erwarten« (2009: 333) darf. Die Literaturwissenschaftlerin Julia Boll verweist auf die Unmöglichkeit von ›realen‹ Darstellungen auf der Bühne, wenn sie die Eigenart des Bühnenraums betrachtet, und findet: »What is presented on the stage is not ›real‹ in the same way it would be without the theatrical framework« (Boll 2017: 290).38 Bezogen auf das Format der Lecture-Performance meint sie allerdings, dass die Bühne den Zuschauer*innen Einsichten erlaubt, die sie im ›realen‹ Leben so nicht bekommen würden (ebd.). Im Kontext dieser Aufführung erlaubt die Lecture-Performance Einblicke in einen imaginierten Ballroom, der als Spielform eines Balls zu betrachten ist. »What we can see on stage is not only a representation of (one version of) reality, but also of possibility and potentiality, and easily of several at the same time« (2017: 291, Herv. i.O.). Der Wechsel während der Aufführung Pose for Me zwischen nüchternen Erklärungen und Ballroom-spezifischen Kommentaren als auch zwischen dem bloßen Vorführen einer Bewegung und Verkörperungsprozessen verstärken den Eindruck des Oszillierens zwischen den Modi Theatralität und Performativität. Die beiden Erzeugungsmodi stellen somit keine Dichotomie dar, sondern lassen sich vielmehr als Wechselspiel oder als gegenseitiges Durchdringen wahrnehmen. Dabei überlappen sich auch Produktions- und Rezeptionsprozesse. Aus der Zuschauerperspektive zeigt sich dies folgendermaßen: Die Erläuterungen und Bewegungen können gleichzeitig als Offenlegung von künstlerischen Produktionsprozessen und als künstlerische Präsentation gelesen werden. Exemplarisch wird dies an folgender Szene verdeutlicht: Nachdem Plenvm Ninja angekündigt hat, dass alle Performer*innen im Runway zu sehen sein werden, treten nacheinander die Tänzer*innen auf. Dabei kommen die beiden Verkörperungsmodi zum Ausdruck. Der Tanz von divaD Unbothered ist von großer Virtuosität bestimmt. Während er/sie sich tänzerisch zum Ende des Laufstegs bewegt, werden zentrale Bewegungselemente 38

Boll führt unterschiedliche Experimente im Format der Lecture-Performance durch, um die Frage »Is knowledge performative?« (2017) zu beantworten.

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Voguing on Stage

des Voguing eingesetzt und kunstvoll aneinandergereiht. Dennoch erwecken sie den Eindruck, als würden die Verkörperungsformen zwischen dem Nachvollziehen eines Modells und den eigenen physischen Erfahrungen oszillieren.39 Der Versuch, die wahrgenommenen Modi der Körperpräsentation mit dem Verhältnis von Theatralität und Performativität auszuloten, ermöglicht anhand von körperlichen Repräsentations- und Präsentationsformen Aussagen zur Darstellung und Verkörperung von Kultur zu treffen. Das Potenzial dieser Betrachtungsweise – zwischen Theatralität und Performativität – liegt darin, unterschiedlich wahrgenommene Verkörperungsprozesse voneinander begrifflich abzugrenzen, auch wenn sich diese während des Vollzugs überlappen oder durchkreuzen. Die beiden Repräsentationsformen veranschaulichen die Gleichzeitigkeit der Darstellung von Kunst und der Darlegung von Kultur. Dabei wird Voguing auf der Bühne dargestellt und erzeugt. Das die Lecture-Performance konstituierende Verhältnis zwischen Sagen und Zeigen, zwischen Referenz und Performance, bestimmt die Figuration von Evidenz. Peters geht davon aus, dass Lecture-Performances an der Figuration von Evidenz teilhaben (Peters 2005: 205): »Dieses Wissenschaftsverständnis ist eng mit der Logik der Evidenz und der Demonstration verknüpft« (2005: 202). Im Sinne Peters’ basiert die Evidenzproduktion auf der Kombination von Sagen und Zeigen (2005: 203); in der Kombination von Vortrag und Demonstration befragen zwei Präsentationsformen die Art des Zeigens (2005: 207). Übertragen auf die hier verhandelte Lecture-Performance Pose for Me kann nach der Art und Weise gefragt werden, was die beiden Präsentationsformen des Sagens und Zeigens meinen und wie dabei Evidenz erzeugt wird. Mit der »Figur der Selbstexemplifikation« (2005: 210, Herv. i.O.) beschreibt Peters die spezifische Evidenztechnik der Lecture-Performance. Darin verschachteln sich »das Demonstrieren einer Kunst und die Kunst der Demonstration ineinander« (ebd.). Das bedeutet: »Der Nachweis einer wissenschaftlichen These kippt in die Demonstration eines Könnens, das zugleich bereits als Selbstversuch gekennzeichnet ist« (ebd.). In dieser Sichtweise wird der Vortragende selbst als Teil der Anordnung gesehen (ebd.). Das Involviert-Sein in die Lecture-Performance folgt »dem Chiasmus Kunst/Demonstration« (ebd., Herv. i.O.). Diese Situation, »the lecture becomes a performance; the demonstration of movements turns into a lecture« (Brandstetter 2016: 7), beschreibt Brandstetter als eine Form der Überlappung. Übertragen auf Pose for Me bedeutet das Ineinandergreifen von Kunst und Demonstration sowie umgekehrt, dass die Performer*innen selbst in Präsentationsformen des Sagens und Zeigens involviert sind. Sie referieren über Voguing, demonstrieren ihr tänzerisches Können und stellen sich gleichzeitig als Beispiel dieser Kunstform aus. 39

Minute 13:10‒13:49.

4. Voguing on Stage

In der Lecture-Performance verschränken sich folglich die Demonstrationsformen über die Voguing-Kunst mit deren künstlerischer Darstellung. Peters betrachtet die Erzeugung von Evidenz als »Modus einer performativen Episteme« (Peters 2005: 210). Demnach wird im performativen Akt Evidenz erzeugt. Auch Brandstetter bekräftigt die Erzeugung von Evidenz: »Not illusion, but evidence constitutes the underlying idea of the lecture performance« (Brandstetter 2016: 13, Herv. i.O.). Nach der Theaterwissenschaftlerin Maaike Bleeker vollzieht sich die Erzeugung von Evidenz ebenfalls im performativen Akt:40 »Lecture performances emerge as a genre that gives expression to an understanding of dance as a form of knowledge production – knowledge not (or not only) about dance but also dance as a specific form of knowledge that raises questions about the nature of knowledge and about practices of doing research« (Bleeker 2012: 233). Dabei vollziehe sich die Produktion von Wissen auf zwei Ebenen: auf der des Wissens über den Tanz und auf der des dem Tanzen inhärenten Wissens. Die zweite Ebene impliziert die Betrachtung von Tanz als Forschungspraxis, die Fragen aufwirft.41 Hieraus lässt sich folgern, dass der Tanz selbst als Wissensspeicher betrachtet wird und im Tanzen die Möglichkeit zur Wissensproduktion und zur Reflexion besteht. Bezug nehmend auf diese Definition erscheint es möglich, die Aufführung Pose for Me als Lecture-Performance zu betrachten, die Wissen produziert. Indem die Performance zeigt, wie ein Ball aussieht, gleicht sie einem Wissensspeicher. Gezeigt werden kulturelle Eigenheiten des Ballrooms. Somit werden kunstvoll die Voguing-Kultur und künstlerisch das Voguing demonstriert. In dieser Überlappung von Demonstration und Kunst wird während der Performance Evidenz im Sinne von Wissensspeicher und Wissensproduktion erzeugt. Exemplarisch wird dies an folgender Szene verdeutlicht: Plenvm Ninja erklärt den Wettkampfcharakter eines Balls. Bei einem Wettstreit treten zwei Performer*innen gegeneinander an mit dem Ziel, »to get your ten or a chop, which means you get through the battles or you gonna have to sit it out.«42 Damit beschreibt Plenvm Ninja tänzerische Verhaltensweisen und Mechanismen der Bewertung. Die Aufführung produziert jedoch gleichzeitig, so meine These, durch ihre choreografische Konzeption und tänzerische Umsetzung bei den Performer*innen neue Wissensordnungen, die es so zuvor im Ballroom nicht gegeben hat. Indem sie einen Ball kreieren, verhandeln sie, welche Kategorien des

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Tom Holert (2016) betrachtet kritisch die Lecture-Performance als Ort der Wissensvermittlung und –produktion. Holert wird hier als kritische Stimme aufgeführt, auch wenn an dieser Stelle keine eigene Diskussion darüber erfolgt. Klein und Göbel fokussieren den Handlungsbegriff, um die Lecture-Performance in ihrem Vollzug als Ermöglichungspraxis von neu hervorgebrachten Wissensordnungen zu identifizieren (Klein, Göbel 2017: 9). Minute 26:26.

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Voguing on Stage

Ballrooms Eingang finden. Es kann angenommen werden, dass die Performer*innen im Vorfeld der Aufführung Absprachen darüber treffen, wie die kulturellen Eigenheiten des Ballrooms zum Ausdruck gebracht werden können. Plenvm Ninja macht transparent, dass für die Aufführung Pose for Me einige der im Ballroom geltenden Regeln verändert wurden.43 Dies kann im Anschluss an Bleeker als eine Form der Forschungspraxis betrachtet werden: Die Performer*innen loten aus, was für die Wissenskultur des Voguing bezeichnend ist. Diese forschende Praxis zeigt sich auch auf einer körperlichen Ebene, wie an folgender Szene exemplarisch deutlich wird. Normalerweise treten die Mitglieder, die einem gemeinsamen House angehören, nicht gegeneinander an. Plenvm Ninja erklärt: »You don’t battle each other if it is in the same family, you don’t battle each other from different houses when one of them might be a real house, one kiki house or 007.«44 Während der Aufführung Pose for Me begeben sich die Performer*innen Leo Melody und Zoe 007 gemeinsam auf den Runway. Somit tritt die Mother des House of Melody gegen eine 007-Performerin an. Damit loten sie neue Formen der Begegnung aus und befragen tänzerisch handelnd die Kontexte des Ballrooms bezogen auf den Aspekt der Begegnung. Die folgende Battle erfolgt unaufgeregt. Die beiden Performer*innen laufen den Laufsteg entlang, ohne dass sich ihre Wege kreuzen oder sie aufeinander eingehen. Sie erzeugen kein dialogisches Verhältnis, das von einem Wettkampfcharakter geprägt ist. Vielmehr, so der Eindruck während der Aufführung, aber auch beim Betrachten der Aufzeichnung, präsentieren sie sich in einem harmonischen Nebeneinander, das sie mit einer Umarmung beenden.45 Die Lecture-Performance Pose for Me kann als eine »künstlerische Ermöglichungspraxis, die in herrschende Wissensordnungen interveniert« (Holert 2016: 66), betrachtet werden. So gibt Plenvm Ninja Auskunft über den soziokulturellen Hintergrund des Voguing und weist auf dessen permanente Weiterentwicklung hin, wenn er meint: »In vogue we have a little bit history« und weiter: »and then we have a category since 2000 [...] that’s called Vogue Fem.«46 Auch das Ausstellen und Tanzen des Voguing als »showcase«47 auf der Bühne kann als eine künstlerische Ermöglichungspraxis gedeutet werden. Zu Beginn der Performance führt das House of Melody eine Choreografie auf, die sich durch festgelegte Schritte im Raum sowie synchron getanzte Elemente auszeichnet.48 Sie stellt eine vom House of Melody konzipierte, spezifische ästhetische Form des Voguing dar. Philp meint im Jahre 2014: »Dieses ›Ihr nehmt unsere Kultur und ihr macht’s nicht richtig‹. 43 44 45 46 47 48

Minute 27:00. Minute 26:40. Minute 28:19. Minute 30:00:00 und 30:00:20. Minute 6:10. Minute 6:20‒12:19.

4. Voguing on Stage

Das ist einerseits total verständlich, aber wenn man andererseits will, dass es sich weiterentwickelt, muss man auch Neues zulassen« (Philp in Gottschalk, Haensell 2014: 78). Damit spielt sie auf künstlerische Ermöglichungspraktiken an, die es erlauben, in Wissensordnungen des Ballrooms einzugreifen. In Anlehnung an Klein können die Performer*innen als Nehmer*innen, die ein Erbe antreten, betrachtet werden (Klein 2017: 67). Sie beschreibt diese als »Menschen, die bereit sind, etwas anzunehmen, ihm einen Sinn zu geben, ihm Bedeutung beizumessen, es als wichtig einzustufen, es zu pflegen und es in die Zukunft zu führen« (ebd.). Im Kontext der Weitergabe von Pina Bauschs Choreografien lotet Klein das Verhältnis von Geber*innen und Nehmer*innen von immateriellen Gütern aus (ebd.): »Dies vor allem deshalb, weil jeder Einzelne dem Empfangenen eine andere Wichtigkeit beimisst und dafür unterschiedlich Verantwortung übernimmt, aber auch, weil das immaterielle Gut bei jeder Weitergabe in einen neuen persönlichen, lebensweltlichen, historischen und kulturellen Kontext gestellt wird und durch neue Rahmungen immer wieder neue Sinnhaftigkeiten, Bedeutungen und Wertigkeiten hervorbringt.« (Klein 2017: 66) Übertragen auf die Aussage Philps und Pose for Me bedeutet dies, dass Veränderungen, die sich sowohl im Laufe der Zeit ergeben als auch bei der konkreten Aufführung bewusst vorgenommen werden, neue Sinnzusammenhänge erzeugen. Somit spiegelt dies eine künstlerische Ermöglichungspraxis wider, die es erlaubt, neue Kontextualisierungen vorzunehmen. Philp bettet Voguing in einen neuen Kontext ein und misst seiner Vergangenheit gleichzeitig eine Wichtigkeit zu. Thurner betrachtet das Format der Lecture-Performance als eine »folgerichtige Reaktion auf ein verändertes Verständnis von Historiographie« (Thurner 2009: 329), indem »nicht nur nacheinander Ereignisse der Geschichte erzählt« (2009: 330), sondern vielmehr »Gleichzeitigkeiten von Ungleichzeitigem, Verweise, Sprünge« (ebd.) hergestellt werden. Neben der Darstellung von Tanzgeschichte verweist sie auf die Tanzgeschichtsvermittlung und bezieht sich dabei auf das von ihr und dem Tänzer Foofwa d’Imobilité durchgeführte Projekt »Tanzgeschichte(n) des 20. Jahrhunderts« (2009: 327): »Wenn man aber Interesse daran hat, dass diese Geschichten weiter tradiert werden, braucht es eine Fortführung der Tradierung, die allerdings nicht oder nicht allein durch Partizipation, sondern eben auch durch Interpretation und/oder Analyse geprägt ist« (2009: 332). Die während der Lecture-Performance Pose for Me dargebotene Tanzgeschichte des Voguing, die Szenen des Ballrooms darstellt, kann paradigmatisch für die Interpretation, Fortführung der Tradition und Vermittlung des Voguing betrachtet werden. Sie stellt eine Tanzgeschichtsbetrachtung dar, die Voguing als »bewegte Körper in Raum und Zeit« (2009: 325) und »nicht nur wörtlich nacherzählt, sondern auch leibhaftig gezeigt« (2009: 326) auf die Bühne bringt. Die Performer*in-

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Voguing on Stage

nen reagieren dabei auf die Tradition des Ballrooms mit eigenen Interpretationen und neuen Möglichkeiten einer aktuellen Umsetzung. Zugleich wird die Tanzkultur Voguing den Zuschauer*innen vermittelt und für sie erfahrbar gemacht. Diese Art der Tanzkulturvermittlung stellt eine Art Fortführung von Tanztradition dar, die im weiteren Verlauf der Untersuchung unter Berücksichtigung von Kulturmodellen beschrieben wird. Holert behauptet bezogen auf die Lecture-Performance: »In der Regel verlangt sie von ihrem Publikum, sich auf Themen, Materialien und deren Verknüpfungen einzulassen, die nur entfernt oder gar nichts mit dem zu tun haben, was einen gerade selbst so beschäftigt« (Holert 2016: 68). Damit nimmt er auch die Zuschauer*innen in den Blick. Bei Pose for Me versammeln sich diese um einen Laufsteg vor dem Schloss Solitude in Stuttgart. Mit den Worten Voguing sei eine »queer color dance form« und »a ball is a party«49 eröffnet Shaka McGlotten den Abend und fordert die Zuschauer*innen dazu auf, näher an den Laufsteg zu rücken. Dies, so meine Lesart, dient dazu, dem Publikum das Gefühl zu geben, selbst Mitglied eines Balls zu sein. Die Nähe ermöglicht außerdem, sich auf den möglicherweise fremden Gegenstand Voguing einzulassen. Im Verlauf der Performance erzeugt die Nähe zwischen Performer*innen und Zuschauer*innen ein wechselseitiges Aufeinander-Eingehen, das im Anfeuern der Performer*innen, im Applaus nach einer Battle oder in einem dialogischen Verhältnis seinen Ausdruck findet. Die Zuschauer*innen werden zu Beteiligten eines imaginierten Voguing-Balls und gleichzeitig zu Zeug*innen einer repräsentierten Kultur. Aus diesem Verständnis heraus – Lecture-Performance als Erzeugung und Vermittlung von künstlerischem und kulturellem Wissen – lässt sich folgern, dass bei Pose for Me kulturelles Wissen produziert und weitergegeben wird. Patricia Milder geht davon aus, dass die Lecture-Performance dazu dient, »to blur the lines separating art from discourse about art« (Milder 2010: 13). Um die Grenzen zwischen Kunst und dem Diskurs über Kunst zu verwischen, eigne sie sich als »teachingas-art« (ebd.). Ausgehend von konkreten Performances betrachtet sie den Zusammenhang von »instruction and art« (2010: 15) und begreift die Lecture-Performance als Möglichkeit der Ermächtigung, wenn es gilt, ein spezifisches ästhetisches Wissen auszudrücken (2010: 20). Sieht man die Performer*innen von Pose for Me als Expert*innen des Voguing, die im Tanzen das Wissen von und über Voguing aktualisieren, so ist es möglich, diese Lecture-Performance als Modell der Kulturvermittlung oder als kulturelle Übertragung zu betrachten. Um diese These zu belegen, wird ein Exkurs angeschlossen, der eine diskursive Analyse des Begriffs Kultur umschließt. Dieser Exkurs bietet außerdem die Möglichkeit, Begriffe und Modelle von Kulturvermittlung bzw. -übertragung, die für eine weitere Aufführungsanalyse produktiv genutzt werden, handhabbar zu machen. 49

Minute 1:20‒4:30.

4. Voguing on Stage

4.2.4

Exkurs: Kultur als differenztheoretischer Begriff und Modelle von kultureller Übertragung

Um das Spannungsfeld der Kulturübertragung auszuleuchten, werden entsprechende Theoriekonzepte skizziert und deren Schnittstellen und Differenzen diskutiert. Zentraler Aspekt ist dabei die Weitergabe bzw. Vermittlung der Tanzkultur Voguing. Es werden nur solche Begriffsrahmungen aufgeführt, die einer weiteren Nutzung dienlich sind. Ziel dieser Darstellung ist eine Begriffsbestimmung, die fruchtbar auf die Analyse der Performance Pose for Me als Modell einer Kulturvermittlung angewandt werden kann und die es ermöglicht, Transformationsprozesse von Kultur beschreibbar zu machen.

4.2.4.1

Der Kulturbegriff

Es gibt weit und eng gefasste Kulturbegriffe. Außerdem basieren Kulturkonzepte auf differenten Begriffsrahmungen und in den unterschiedlichen Disziplinen herrschen verschiedene Blickrichtungen vor. Ein kurzer Überblick soll dies verdeutlichen. Unter Bezugnahme auf Andreas Langenohl, Ralph J. Poole und Manfred Weinberg (2015) wird ein knapper Blick auf die Geschichte des Kulturbegriffs geworfen, um zu klären, was Kultur meint, und um das Aufeinandertreffen von Kulturen fassen zu können. Ausgehend von dem lateinischen Begriff cultura, das sich vom Verb colere – pflegen, bebauen ‒ ableiten lässt, verweisen Langenohl et al. auf die geistige Sphäre im Begriff cultura animi bei Cicero, der sich auf die Pflege des Geistes bezieht; sie erwähnen die Differenzierung der Natur, wie sie im 17. Jahrhundert prägend war, und umreißen die Historisierung des Kulturbegriffs im 18. Jahrhundert unter Gottfried Herder (2015: 9‒10). Die bis dahin singuläre Verwendung des Kulturbegriffs geht laut Langenohl et al. mit Clifford Geertz (1997) in eine Pluralisierung des Kulturbegriffs über (2015: 10). Damit stellen sich Fragen zum Aufeinandertreffen von Kulturen. Zentral wird dabei der Begriff der Grenze unter Anerkennung von kulturellen Vielheiten (2015: 11). Der Begriff Transkulturalität wird in das kulturwissenschaftliche Feld eingeführt, »um allen Zuschreibungen von kultureller Homogenität eine Absage zu erteilen« (2015: 12). Unter Transkulturalität verstehen Langenohl et al. »die Historizität und Kontingenz der Unterscheidungen, die mittels des Kulturbegriffs jeweils verhandelt wurden resp. werden und dabei weitere Unterscheidungen produzier(t)en« (2015: 14). Ihre Begriffsrahmung von Kultur nimmt keine essentialisierte, sondern eine differenztheoretische Perspektive ein. Daran lassen sich Ausführungen der Kulturwissenschaftler*innen Jutta Ernst und Florian Freitag anschließen. Auch ihr Denken verläuft jenseits von Kulturkonzepten, die von abgeschlossenen Kulturen ausgehen. Sie bestimmen Transkulturalität in Bezugnahme auf Afef Benessaieh (2010) semantisch (Ernst, Freitag 2015:

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Voguing on Stage

12‒13) und weisen dem Präfix trans- zwei Bedeutungen zu: »einerseits Transkulturalität im Sinne von jenseits spezifischer Kulturen anzusiedelnden Praktiken und Konstanten (›cross-cultural-competence‹); andererseits Transkulturalität im Sinne von durch die Kultur(en) hindurchgehenden Beziehungen und Netzwerken« (2015: 13, Herv. i.O.). Bezogen auf das Suffix -tät und -tion heben Ernst und Freitag hervor, dass »›Transkulturalität‹ bzw. ›Transkulturation‹ auf einen ethnisch fundierten, nach innen homogenisierenden und nach außen abgegrenzten Kulturbegriff« (ebd.) zielt, bei dem zu bedenken ist, dass geschlossene Kulturkonzepte nicht mehr haltbar sind. Ausgehend von der semantischen Betrachtung der Suffixe impliziere »›-tät‹ eher einen Zustand, ›-tion‹ eher einen Prozess« (2015: 15). Dieser Logik entsprechend operieren sie mit dem Begriff der Transkulturation, da dieser einen Aspekt von Prozesshaftigkeit in sich trägt. Es zeigt sich, dass die Begriffe Transkulturalität von Langenohl, Poole, Weinberg und Transkulturation von Ernst und Freitag ähnlich verwendet werden ‒ sie basieren jeweils auf einem differenztheoretischen Ansatz. Als Merkmal von »Transkulturalität der Übersetzung« (Langenohl et al. 2015: 176) bestimmen Langenohl et al. die »Pluralität von Differenzen« (ebd.), was mit der Bedeutungszuweisung, wie sie von Ernst und Freitag vorgenommen wird, »von jenseits spezifischer Kulturen« (2015: 13, Herv. i.O.) und »durch die Kultur(en) hindurchgehenden Beziehungen« (ebd., Herv. i.O.) gleichzusetzen ist. Daran lassen sich die Ausführungen von Karl H. Hörning und Julia Reuter anschließen. Sie postulieren: »Kultur ist dynamisch; sie ist in action« (Hörning, Reuter 2004: 9, Herv. i.O.). Damit meinen sie, dass vor allem das Handeln der Akteure die Kultur bewegt, und betrachten den Menschen als Kulturwesen (ebd.). Der Kulturbegriff wird dadurch immer offener »als Prozess, als Relation, als Verb« (2004: 9) betrachtet. Kultur als Praxis zu begreifen, setzen Hörning und Reuter mit Doing Culture gleich (2004: 10). Diesen offenen Kulturbegriff binden sie an die Materialität von handelnden Körpern zurück und rücken den Praxisbegriff nah an den Performanzbegriff (2004: 12). Praxis ist für sie »regelmäßig und regelwidrig, sie ist zugleich wiederholend und wiedererzeugend, sie ist zugleich strategisch und illusorisch« (2004: 13, Herv. i.O.). Ihr praxistheoretischer Ansatz reflektiert, »dass die kulturelle und soziale Ordnung weder ausschließlich in den Strukturen und Institutionen noch in den Köpfen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder, als vielmehr in der sozialen Praxis zu verorten ist« (2004: 15). Hörning und Reuter verstehen Kultur als Praxis, die sie an Körperpraktiken zurückbinden (2004: 15). Siegfried J. Schmidt konzipiert »Kultur als Programm der Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung all jener Phänomene i.w.S. […], die von Mitgliedern einer Gesellschaft bzw. von gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlicher Art als kulturell eingeschätzt und behandelt werden« (Schmidt 2014: 9, Herv. i.O.). Den Vorteil eines solchen Kulturverständnisses sieht er darin, dass Kulturkonzepte somit nicht »auf eine Nation, eine Gesellschaft oder einen bestimmten Zeitraum ein-

4. Voguing on Stage

geschränkt« (ebd.) werden. Die Funktion bestehe vielmehr darin, ein »Problemlösungsprogramm einer Gesellschaft bzw. eines Sozialsystems [zu sein], das deren Identität sichert« (2014: 9). Der Aufführungsanalyse von Pose for Me lege ich folgenden, weit gefassten, differenztheoretischen Kulturbegriff zugrunde: Kultur wird als Aktionsmodell betrachtet, in dessen Zentrum Mechanismen der Problemlösung, Praktiken eines handelnden Körpers, Prozesse von Bedeutungs- und Sinngebung und transkulturelle Konstellationen subsumiert werden. Auf diese Weise können Aktionen als Kultur begriffen werden. Ein so gedachter Kulturbegriff ist durch Prozesshaftigkeit und Transkulturation geprägt. Kultur wird dabei im Plural verstanden, um der kulturellen Vielheit sowie der Pluralität von Differenz gerecht zu werden. Daraus folgere ich, dass beim Aufeinandertreffen von Kulturen, die Differenz, die ihnen per se innewohnt, von der jeweiligen Sprecher*innenposition zum Ausdruck gebracht wird. Der kulturelle Austausch stellt folglich eine Übersetzung dar, die eigene Bedeutungen und Sinngebungen generiert, die sowohl Anteile von Historizität als auch Kontingenz in sich tragen. In den dargelegten kulturwissenschaftlichen Konzepten kann eine Fokussierung auf die Materialität des Handelns nachgewiesen werden. So wie die Tanzwissenschaft »das Performative zu ihrer Leitkategorie« (Klein, Göbel 2017: 15) erklärt, hat die Kulturwissenschaft das »Doing Culture« (Hörning, Reuter 2004: 9) zu einem starken Sammelbegriff entwickelt, indem »Kultur in ihrem praktischen Vollzug« (2004: 10) betrachtet wird.

4.2.4.2

Modelle kultureller Übertragung

Im Folgenden werden Modelle des Kulturkontakts bzw. der kulturellen Übertragung dargestellt. Claudia Benthien und Gabriele Klein stellen im Anschluss an Doris Bachmann-Medick (2011) fest, dass seit den 1990er Jahren das Konzept der kulturellen Übersetzung einen Sprung von der sprachlichen Übersetzung auf kulturelle Übertragungs- und Vermittlungsprozesse vollzogen hat (Benthien, Klein 2017: 12). Sie präsentieren ein Konzept, in dem »Kulturprozesse selbst als fortlaufende Übersetzungsvorgänge und zugleich Übersetzung als Transformation des Kulturellen [begriffen wird]: Kultur wird damit lesbar als eine Form des ›Immer-schonÜbersetztseins‹« (2017: 13). Das von Uwe Wirth geprägte Modell der »Pfropfung als Kulturkontakt« (Wirth 2015: 29) geht der Frage nach, wie sich Anpassen und Einfügen vor dem Hintergrund der Kontaktzone (Pratt 1992) und kulturellen Übersetzung beschreiben lassen (Wirth 2015: 31). Dabei fokussiert er zwei Aspekte. Zum einen begreift er »das ›Anpassen‹ und ›Einfügen‹ des Fremden in das Eigene im Rückgriff auf das Konzept der Pfropfung« (ebd.) und kontrastiert die beiden Begriffe mit denen der Assimilation und Integration. Zum anderen grenzt er sich gegen Hybridisierungs-

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prozesse ab (ebd.). Unter Letzterem versteht er den »Kontakt zwischen Körpern, Sprachen und Weltbildern höchst unterschiedlicher Herkunft, durch deren Vermischung etwas Neues, etwas Drittes entsteht« (2015: 32). Hybridisierung sei ein klassisches Konzept für die Beschreibung von Fusionsdynamiken (ebd.), eine »Vermischung von Verschiedenartigem« (2015: 35, Herv. i.O.). Dem stellt er ein Modell der Pfropfung entgegen. Dabei kommt es zu keiner Vermischung, »vielmehr werden zwei verschiedenartige Teile zu einer funktionalen organischen Einheit verbunden« (ebd., Herv. i.O.). Bezogen auf die Kategorie Original schreibt Wirth im Anschluss an Homi Bhabha (1990), dass dieses nicht mehr »unveränderbares Urbild [ist], an dem sich alle Prozesse der Anpassung und Übersetzung orientieren. Vielmehr wird das Original nun selbst zu einer Größe, die sich während des Übersetzungsprozesses verändert: ein Original in Bewegung« (ebd., Herv. i.O.). Das ›Konzept eines Originals‹ kann damit »nicht als homogene, statische Einheit gefasst werden […], sondern [tritt] als etwas Unfertiges auf […], das noch in Bewegung ist« (ebd.). Daraus ergibt sich, dass im Übersetzungsprozess stets das Original verändert wird (ebd.). Wirth gelangt zu dem Ergebnis, dass der Hybriditätsbegriff nicht ausreicht, um dem Prozess der kulturellen Übersetzung gerecht zu werden (2015: 34). Als Alternative schlägt er das Pfropfungsmodell vor, da mit ihm eine »adäquate Beschreibung kultureller Übersetzungsprozesse« (2015: 38) möglich sei. Die Pfropfung sieht er als »unverzichtbare[n] Bestandteil für ein Modell von Kultur und von kultureller Übersetzung« (2015: 42), in dem das Original nicht mehr »im Paradigma einer homogenen Reinheit« (ebd.) und »nicht nur als hybride Mischung« (ebd.) betrachtet wird, sondern als »Modell für Originale in Bewegung« (ebd.) und somit als »Modell für den Prozess kultureller Übersetzung« (ebd.). Wirths Modell der Pfropfung dient dazu, kulturelle Übertragungen »als Form eines stets unfertigen Zusammengesetzt-Seins« (2015: 42) zu beschreiben. Der aus der Biologie entlehnte Begriff Pfropfung stellt im Sinne Wirths einen Gegenbegriff zu Hybridität dar. Wirths Modell findet hier seinen Eingang, um die Formel »Originale in Bewegung« (2015: 42) für einen tanzwissenschaftlichen Ansatz zu nutzen und eine kritische und kontrastive Betrachtung des Begriffes Hybrid vorzunehmen, wie er in der Tanzwissenschaft verwendet wird. Die Ausführungen von Klein werden herangezogen, um tanzwissenschaftlich geprägte Modelle, die sich mit der Weitergabe und Übersetzung von Tanzkulturen beschäftigen, produktiv in der Aufführungsanalyse einzusetzen. Auf einen kulturwissenschaftlichen soll also ein tanzwissenschaftlicher Ansatz folgen.50 Klein beschäftigt sich mit der Weitergabe des Tanzes und des Tanzens und verweist auf die damit verbundenen Schwierigkeiten (Klein 2017: 63). Dies wird hier am Beispiel des Erbes von Pina Bausch mit dem von Klein konzipierten Modell 50

Wohl wissend, dass Kleins Theorien sowohl auf kulturwissenschaftlichen Perspektiven als auch auf soziologischen Sichtweisen fußen.

4. Voguing on Stage

»Weitergabe, [...] als eine Übersetzung« (2017: 68) und ihren Forschungen zu »Tango übersetzen« (Klein 2009: 7) exemplifiziert. Mit den beiden Forschungsarbeiten lassen sich Modelle und Begrifflichkeiten darstellen, die die Weitergabe und die Übersetzung von Tanz beschreiben. Bei der Beschäftigung mit der »Tradierung und Übersetzung der Choreografien von Pina Bausch« (2017: 63) schlägt Klein eine »kunstsoziologische Perspektive« (2017: 65) vor, die auf einer »›praxeologischen Produktionsanalyse‹« (ebd.) beruht. Weitergabe meint im Sinne Kleins einen Prozess, der immaterielle Güter verändert (2017: 66) und »etwas mit Transfer, Überlieferung, Übersetzung, Verbreitung und Verteilung zu tun« (2017: 67) hat. Ihre leitende Überlegung lautet: »Weitergabe [...] ist als eine Übersetzung beschreibbar« (Klein 2017: 68). Im Anschluss an Walter Benjamin (1972) meint Klein: »(Tanz-) Kulturelle Übersetzung erhält eine besondere Brisanz aufgrund der prinzipiellen Unmöglichkeit, Bewegung zu übersetzen, weil Bewegung ephemer ist, nur im Augenblick existiert und zugleich als ›Spur‹ von Dauer ist« (2017: 69). Sie argumentiert weiter: »(Bewegungs-)Kulturelle Übersetzung ist von daher – mit Alexander Garcia Düttmann (1994) – beschreibbar als eine Praxis der Übersetzung des UnÜbersetzbaren« (ebd.). Dieser Überlegung folgt Klein auch schon in ihrer Auseinandersetzung mit dem Tango aus dem Jahre 2009. Ausgehend davon, dass Kultur »nicht auf eine vorgegebene Essenz zurückgeführt, sondern als ein System von Zeichen verstanden [wird], die sich aufeinander beziehen, die Spuren hinterlassen und ihre eigenen Ursprünge in sich selbst haben« (Klein 2009: 25), formuliert sie das Modell »Übersetzung als kulturtheoretisches Konzept« (2009: 24). »Kulturelle Übersetzungen« (2009: 29) erfolgen »im performativen Akt des Tanzens« (ebd.). Mit dem Begriff kulturelle Übersetzung fokussiert Klein die Zwischenräume jenseits von Binaritäten mit dem Ziel, »Aushandlungsräume für kulturelle Übersetzungsprozesse zu untersuchen« (2009: 28). Davon ausgehend bestimmt sie die kulturelle Übersetzung als eine »körperliche Praxis« (2009: 28‒29) und zielt damit auf die dem Tanz innewohnende »Übertragungsbewegung« (2009: 29). Kleins methodologische Überlegungen fokussieren das Wie, den Vorgang, die performativen Effekte sowie die Praktiken des Aushandelns. Sie folgert: »Praktiken zeigen sich in ihrer Situiertheit, also in ihrer Materialität und Körperlichkeit« (2017: 69). Der Fokus ihrer Untersuchung zielt auf »Situationen des Übersetzens« (ebd.), auf »praktisches Können und implizites Wissen von Körpern« (ebd.). Sie arbeitet dazu fünf forschungspraktische Befunde heraus: Weitergabe beruht auf Praktiken des Übersetzens, sie ist uneindeutig, wird vom Verhältnis Sender*in und Empfänger*in bestimmt, sie ist mit Verantwortung verbunden und hat weder einen eindeutigen Anfang noch ein eindeutiges Ende (2017: 70). Ausgehend von einer dekonstruktivistischen Kulturtheorie lehnt Klein ihre Argumentation an Benjamin (1972), Bhabha (1990) und Spivak (2008) (2009: 26‒27) an, um festzustellen, dass »kulturelle Übersetzung weder auf einen Anfangs- und Endpunkt noch

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auf ein Original« (2009: 27) verweist. Den Begriff der Übertragung weitet sie zu einem anwendbaren Konzept im Sinne einer sozialwissenschaftlich ausgerichteten Tanzforschung aus und arbeitet folgende Untersuchungsfelder heraus: »Transformationen der tänzerischen Formen« (2009: 30), »sich überlappende[n] und sich gegenseitig hervorbringende[n] Übertragungsbewegungen, die sich zwischen tänzerischen Praktiken, Bildern, Texten und Musik ereignen« (ebd.) und »die Performativität, die diese Übertragungsbewegungen prägt« (ebd.). Im Folgenden wird Kleins Bestimmung des Begriffs Hybrid dargelegt, um diese mit Wirths Begriffsrahmung zu kontrastieren. Mit dem Begriff Hybrid antwortet Klein auf Unterschiede, Brüche oder Verschmelzungen, wenn es um die Weitergabe von Tanz und Choreografie geht. Im Kontext der Weitergabe von Pina Bauschs Choreografien kann damit das Verhältnis von Sprechen und Tanzen bestimmt werden: »Anhand verschiedener körperlicher und sprachlicher Praktiken der Weitergabe wird deutlich, dass der Prozess des Weitergebens von Tanz ein Vorgang ist, bei dem sich das Tanzen und das Sprechen ineinander vermischen, die Weitergabe von Tanz also in einem Hybrid aus Sprechen und Tanzen geschieht« (Klein 2017: 77). Hybrid ist im Sinne Kleins, so meine Lesart, kein singulärer Begriff einzelner Kategorien, sondern der Verweis auf einen Übersetzungsprozess, der in unterschiedlichen Formen und auf unterschiedlichen Ebenen Vermischungen, Überlappungen oder Effekte von Übersetzungen zum Ausdruck bringt. Das scheinbare Original betrachtet Klein in Bezugnahme auf Benjamins Text »Die Aufgabe des Übersetzers« (1972) im Rahmen des Übersetzungsvorgangs und meint, dass »die Weitergabe immer auf Setzungen beruht, die erst im Nachhinein als das Original und das Authentische gedeutet werden« (Klein 2017: 79). Fragen nach der Ursprünglichkeit oder Originalität im Prozess der Weitergabe werden damit obsolet (ebd.). Erst mittels Zuschreibungen und Deutungen wird ein scheinbares Original generiert, die Weitergabe stellt einen permanenten Übersetzungsprozess dar (ebd.). In Bezug auf Tango meint sie, dass »Deutungsmuster wie Original und Kopie nicht greifen« (2009: 8). Sie verabschiedet sich von einem essentialistischen Konzept, dem die Vorstellung von Original und Kopie zugrunde liegt.51 Im kultur- und tanzwissenschaftlichen Diskurs zeigen sich bei den hier vorgestellten Theorien Übereinstimmungen und Unterschiede. Wirths Konzepte werden vor allem in der Kulturwissenschaft rezipiert, während Kleins Konzepte Eingang in die Tanzwissenschaft finden. Gleichwohl basieren Kleins Argumentationsketten auf soziologischen und kulturwissenschaftlichen Überlegungen. Wirths kul-

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Tanzwissenschaftlich geprägte Aussagen zur Relation zwischen Original und Revival finden sich in den Beiträgen des Buches Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz (2010), von Christina Thurner und Julia Wehren herausgegeben. Sie finden ihren Eingang in der vorliegenden Aufführungsanalyse.

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turwissenschaftlicher Ansatz korrespondiert mit Pratts Begriff der Kulturzone und bezieht sich auf Situationen von Begegnungen und sprachlichen Übersetzungsprozessen. Kleins tanzwissenschaftliche Ansätze eröffnen die Möglichkeit, Prozesse von tänzerischen Bewegungsübertragungen, der Weitergabe von Tanz und der Übersetzung von Tanz in Sprache zu untersuchen. Sie liefert einen wesentlichen Beitrag zur methodologischen Nutzung ihrer Befunde. Die von Wirth und Klein dargestellten Theorien sind in Bezug aufeinander heterogen. Sie werfen aus unterschiedlichen Disziplinen ihren Blick auf das Problem der kulturellen Übersetzung. Wirths Abkehr und Kleins Hinwendung zum Hybriditätsbegriff lassen sich als klare Gegensätze identifizieren.52 Wirth stellt dem Begriff Hybridität, der in seinem Sinne eine Vermischung bezeichnet, die Pfropfung gegenüber, um Verschiedenartiges, das sich in einer Einheit verbindet, zu begreifen (Wirth 2015: 35). Klein operiert in ihren Untersuchungen hingegen häufig mit dem Begriff Hybrid, um Einflussnahmen, Verschmelzungen, Durchdringungen oder Veränderungen zu identifizieren. Dennoch weisen die beiden Konzepte von Wirth und Klein Gemeinsamkeiten auf, da sie auf dem Gedankengang Benjamins fußen. In ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden liegt die theoretische Produktivität für die folgende Aufführungsanalyse. Die Weitergabe von Tanzkultur wird im Folgenden im Modus der Vermittlung betrachtet. Dabei zielt die Aufführungsanalyse nicht auf den Vergleich von Original und Revival, sondern folgt vielmehr Klein und Wirth im Sinne von »Originale[n] in Bewegung« (Wirth 2015: 42) und körperlichen Praktiken der Weitergabe, die jenseits von Originalität das Paradox von Identität und Differenz in sich tragen (Klein 2017: 79).

4.2.5

Körper in Translation

Die Aufführung Pose for Me wird im Folgenden im Kontext von Wissensvermittlung und Weitergabe von Kultur betrachtet. Die durch das körperliche Agieren erzeugte Materialität wird auf der Folie des Deutungsmusters Körper in Translation analysiert. Dabei werden auch soziokulturelle Übertragungen, die sich bei der Verlagerung des Voguing aus der Szene auf die Bühne ereignen, berücksichtigt. Die Aufführungsanalyse beschreibt, wie die Körper als Übersetzer fungieren,

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In den Kulturwissenschaften wird häufig auf folgende Vertreter*innen der Postcolonial Studies verwiesen: Homi K. Bhabha, Gayatri Ch. Spivak, Edward Said und Stuart Hall (Babka, Posselt 2012: 7). Der Begriff des Hybrids wirft in Bhabhas Arbeiten Fragen zu Identitätsformationen und -konstruktionen auf, er etabliert den Begriff des »Dritten Raums« (2012: 9) als Schlüsselbegriff seiner Schriften. Dieser Raum ist ein »Handlungsspielraum« (2012: 11), der im Zuge von Kulturkontakten zur Veränderung aller Beteiligten führt (2012: 12). Wirth und Klein beziehen sich in ihren Untersuchungen explizit auf Bhabha.

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wie die Körper selbst Übersetzungsprozesse durchlaufen und welche Rolle Körper während des Übersetzungsprozesses der Voguing-Kultur spielen. In Bezugnahme auf den Exkurs zum Begriff Kultur wird die Voguing-Kultur im Sinne eines differenztheoretischen Kulturbegriffs sowie als Aktionsmodell betrachtet, in dessen Zentrum das körperliche Handeln steht. Es wird davon ausgegangen, dass die Voguing-Kultur von Transkulturation geprägt ist, also permanenten Transformationsprozessen unterliegt. Somit geht es nicht um die eine Voguing-Kultur, sondern vielmehr um kulturelle Vielheit. Um die Lecture-Performance Pose for Me als Modell der kulturellen Wissensvermittlung etablieren zu können, werden konkrete Szenen mit Überlegungen aus dem Exkurs verschränkt. Phelan meint, dass eine Performance, dabei folgt sie einer ontologischen Betrachtungsweise, eine »representation without reproduction« (Phelan 2001: 146) sei, weil »Performance’s only life is in the present« (ebd.). Sie verweist auf die Unmöglichkeit einer Wiederholung und die Einmaligkeit des unmittelbaren Ereignisses. Übertragen auf den hier verhandelten Gegenstand bedeutet dies: Wenn in Pose for Me der Ballroom dargestellt wird, handelt es sich um keine Reproduktion eines archivierten Ballrooms, sondern um eine eigene Präsentation oder Re-Präsentation eines solchen. Mit Phelans Argumentation ist folgende Lesart möglich: Die Konstruktion der Performance Pose for Me stellt durch performatives Wiederholen von Bewegungsvokabular und kulturellem Regelwerk der Voguing-Kultur eine Differenz zu einer scheinbaren Tradition dar. Phelans Ansatz ist mittlerweile innerhalb der Tanzwissenschaft sehr umstritten, was im Folgenden kurz dargestellt werden soll. Wehren problematisiert Phelans Begriff von Performance, der auf »Abwesenheit von Artefakten« (Wehren 2016: 105) und »Reduktion auf die schiere Präsenz« (ebd.) beruht sowie darauf, »dass Performance ihr ›Objekt‹ verliert, sobald stattgefunden« (2016: 105) und stellt dem das Konzept des »Diskursivieren[s] von Tanz und Performance« (2016: 106) gegenüber. Damit wertet sie die Performance auf und meint im Gegensatz zu Phelans angenommener Flüchtigkeit einer Performance, dass diese nicht nur in der Wahrnehmung fortlebt, sondern auch Spuren hinterlässt. Wehren schreibt in ihrer Kritik: »Die diskutierten Beispiele stellen in ihren körperlichen und choreografischen Praktiken genau dies aus: Sie basieren auf Spuren, die sie in der Gegenwart erinnern, aktualisieren und neu artikulieren« (2016: 106‒107). Auch der Tanz- und Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund setzt sich kritisch mit Phelans Theorie auseinander, nachdem er deren Attraktivität dargestellt hat: »Phelans Ontologie der Performance [wirft] auf mehreren Ebenen Probleme auf. Ihre Vorstellung von Performance als ›spurlos‹ ist sowohl historisch anfechtbar als auch theoretisch bedenklich« (Siegmund 2006: 65). Er begründet dies mit dem Verweis darauf, dass Artefakte in das kulturelle Gedächtnis eingehen (2006: 65). Ich stimme mit den Ansichten von Siegmund und Wehren überein, möchte jedoch an

4. Voguing on Stage

Phelans Gedanken der Unmöglichkeit einer Wiederholung festhalten, allerdings nur um auf eine Differenz erzeugende Wirkung zu verweisen. Die Auseinandersetzung mit historischen Positionen, wie sie in Pose for Me erfolgt, kann »als Konfrontation mit dem Unverfügbaren« (Siegmund 2010: 17) in dem Sinne verstanden werden, dass die durch Diskurse produzierten, historisch spezifischen Tänzer*innenkörper erfahrbar gemacht werden (2010: 18). Die präsentierten Bewegungscodes greifen auf die historisch gewordenen Performer*innenkörper zurück und schreiben diese weiter. Das heißt, dass sich die Performer*innen auf das Archiv, ihre erlernte Tanztechnik, die vorhandenen Materialien und Spuren des Voguing beziehen, um im Sinne Phelans »the real through the presence of living bodies« (Phelan 2001: 148) körperlich auszudrücken. Die Bühne wird dabei zu einem Labor, um über historisch geprägte körperliche Aktionen im Ballroom nachzudenken. Die Körper nehmen währenddessen die Funktion der »cultural worker«53 (2001: 151) ein, indem sie zwar auf die in der Vergangenheit geprägten Diskurse verweisen, diese jedoch keineswegs mit ihren Körpern reproduzieren können. Somit gleicht die Performance einem nicht wiederholbaren Experiment (2001: 152). Der Körper der Performer*innen wird zum Referenten von Vergangenheit, die sich im Sinne Siegmunds als Unverfügbares erweist, um auf vergangene Körperpräsentationen zu verweisen und gleichzeitig stets sich selbst zu sein.54 Es kann angenommen werden, dass die Körper, welche sich mit historischen Positionen im Tanz auseinandersetzen, Spuren der Voguing-Kultur in sich tragen, die sie im Moment des Präsentierens aktualisieren. Dadurch werden Differenzen zu einem scheinbaren Original erzeugt. Nach Schulze scheint »das Original […] durch diese Erinnerungen hindurch, bleibt erahn-, nie aber greifbar« (Schulze 2010: 149, Herv. i.O.). Sie verweist auf das »flüchtige Kunstprodukt« (2010: 149) Tanz, das durch »seine beständige Abwesenheit« (ebd.) glänzt. Brandstetter charakterisiert nach der Analyse zahlreicher, unterschiedlicher Lecture-Performances das Format als »research into (dance) history itself« (Brandstetter 2016: 12) und als »question of the original, which cannot be ›repeated‹, and the ›showing‹ of fractures in the course of the transfer« (ebd.). Auch sie verweist auf die Unmöglichkeit einer Wiederholung und die Möglichkeit 53

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Phelans Begriff eines »cultural workers« (Phelan 2001: 151) wird hier in einem übertragenen Sinn genutzt, um auf kulturell geprägte Diskurse, die sich in den Körpern widerspiegeln, zu verweisen. Der Begriff wurde folgendem Kontext entnommen: »As MacCannell points out about Lacan’s story of the ›laws of urinary segregation‹ (Ecrits: 151), same sex bathrooms are social institutions which further the metaphorical work of hiding gender/genital difference. The genitals themselves are forever hidden within metaphor, and metaphor, as a ›cultural worker‹, continually converts difference into the same« (2001: 151, Herv. i.O.). Siegmund verschiebt in seiner Argumentation aus dem Jahre 2006 Phelans Kategorie der Präsenz hin zur Kategorie der Abwesenheit, um auf die Spuren, die ein intersubjektives Verhandeln ermöglichen, zu verweisen (Siegmund 2006: 68).

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der Befragung des Originals im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Geschichte. Die Aufführung Pose for Me ist folglich nicht als Re-Konstruktion eines Ballrooms zu betrachten, sondern zeigt Rituale, Techniken und kulturelle Verhaltensweisen, die zum einen als Erinnerungen an den Ballroom und zum anderen als eine neue Konstruktion des Ballrooms gelesen werden können. In ihnen scheint im Sinne Schulzes ein ungreifbares Original durch. Plenvm Ninja bringt dies in Pose for Me immer wieder zum Ausdruck, wenn er meint, »the House of Melody gives you a little showcase«55 , »we gonna show you, what a ball looks like«56 und »you gonna see a little bit of«.57 Die Aufführung thematisiert und performt die kulturellen Eigenheiten eines Ballrooms jenseits der binären Logik von Original und Revival. Indem die Performer*innen nicht nur auf den Ballroom rekurrieren, sondern selbst zu Teilnehmer*innen eines Voguing-Balls werden, ahmen sie nicht nur Formen nach, sondern verkörpern diese auch. Sie durchmessen den Abstand zwischen historisch geprägten Körpern und ihren eigenen, wodurch Pose for Me den Dualismus von Original und Revival unterläuft. Indem eine ehemals den Performer*innen fremde Tanzkultur – hier die Kultur des Voguing – inkorporiert wird, wird diese in der Gegenwart fortgeschrieben und transformiert. In Anlehnung an Benjamins Text »Die Aufgabe des Übersetzers« kann die Fortschreibung, die Transformation, die Erinnerung oder die Übersetzung eines vermeintlichen Originals folgendermaßen beschrieben werden: »In ihnen erreicht das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung« (Benjamin 2015: 9). Und weiter meint Benjamin: »Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original« (2015: 10). Das Original verändert sich demnach im Prozess der Übersetzung. Wirth und Klein beziehen sich auf Benjamin und bestimmen in ihren Untersuchungen das Verhältnis von Original und Übersetzung. Wirth operiert mit dem Begriff Original als eine sich im Übersetzungsprozess wandelnde Größe (Wirth 2015: 33), während Klein dem Begriff eine klare Absage erteilt und auf Setzungen verweist, die bei der Weitergabe als das Original gedeutet werden (Klein 2017: 79). Benjamin lotet das Verhältnis von Übersetzung und Original folgendermaßen aus: »Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.« (Benjamin 2015: 17‒18) 55 56 57

Minute 6:10. Minute 5:32. Minute 5:49.

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Mit dieser mathematisch geprägten Metapher beschreibt Benjamin das Verhältnis von Treue und Freiheit in Bezug auf Übersetzungen. »Treue in der Übersetzung des einzelnen Wortes kann fast nie den Sinn voll wiedergeben, den es im Original hat« (Benjamin 2015: 15), während sich Freiheit »um der reinen Sprache willen an der eigenen« (2015: 17) bewähre. Übertragen auf die Aufführung Pose for Me wird das Verhältnis von Treue und Freiheit folgendermaßen bestimmt: Die Übersetzung der Voguing-Kultur aus dem Ballroom auf die Bühne berührt nur flüchtig den Sinn des Originals, der im Ballroom zu finden ist. Nach dem Gesetz der Treue können die Bewegungen den Sinn, den sie im Original haben, nie in gleicher Weise wiedergeben. Gemäß dem Gesetz der Freiheit können sie jedoch eine eigene Bahn verfolgen, um aufgrund des NichtMitteilbaren zu einem eigenen Bewegungssinn zu finden. In diesem Sinne kann die Performance Pose for Me an den Diskurs zum Begriff Original angeschlossen werden. Die Aufführung, die in der Gegenwart Gewesenes sichtbar macht, artikuliert mit den tanzenden Körpern Tanzspuren des Voguing. Während das Bewegungsmaterial nachgeahmt wird, zeigen sich allerdings Interferenzen in der Körpertechnik. Auch wenn viele spezifische Bewegungsmuster zitiert werden, erzeugt die Übernahme eine Verschiebung. Diese Verschiebung kann auf der Ebene der körperlichen Aktion, wie sie in den Inszenierungen des Old Way, New Way und Vogue Fem zum Ausdruck kommt, identifiziert werden.58 Denn hierbei stellt sich die Frage nach der eigenen künstlerischen Identität und der bloßen Nachahmung eines Bewegungsrepertoires. Je nach Wahrnehmungsstrategie können die getanzten Stile unterschiedlich gelesen werden: als Konstruktionen der Voguing-Tanzgeschichte oder als performativer Prozess der Selbstinszenierung. Dabei bleibt das Referenzsystem Ballroom stets klar erkenn- und wahrnehmbar. Dies kommt in der schon mehrmals erwähnten Auseinandersetzung mit der Geschichte des Voguing zum Ausdruck. Die Körperaktionen sind sowohl als historische Ereignisse als auch als Selbstdarstellungen lesbar. Sie verweisen auf die Sozialgeschichte des Voguing und auf die Neuaufladungen. Im Verlauf der Analyse wird das Verhältnis zwischen Performer*innen und Zuschauer*innen bestimmt. Pose for Me folgt zwar einem »konzeptionellen Zugriff« (Jeschke 2010: 70)59 , indem das Material »archäologisch aufbereitet und auch historisiert« (ebd.), transparent und kritisch ausgestellt wird. Allerdings ist dieser konzeptionelle Zugriff von Zuschreibungspraktiken seitens der Performer*innen

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Old Way Minute 30:01:20, New Way Minute 30:02:30, Vogue Fem Minute 30:05:54. Claudia Jeschke definiert einen konzeptionellen Zugriff mit der Offenlegung und Transparenz des Materials, sie bezieht sich auf die »Geschichts-Vermittlung vom Tanz(en)« (Jeschke 2010: 69).

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bestimmt. Sie nehmen in ihrer Sprecherposition Deutungen vor, worin die »Situativität des Sprechens« (Langenohl et al. 2015: 180) widerscheint. Damit meine ich, dass die Sprechenden, in diesem Fall die Performer*innen, nur Teilaspekte der Kultur zum Ausdruck bringen. Durch ihre spezifischen Redeweisen und ihre spezifischen Verkörperungen erzeugen sie Differenzen. Plenvm Ninja sagt: »Balls are the places, where we come together [...] and celebrate each other for all the different things they would be doing, whether it be walking the runway or feeling like striking a pose.«60 Während er darüber spricht, skizziert er mit seinem Körper Bewegungen: Er geht einen Fuß vor den anderen setzend, in der Manier eines Models, ein Stück den Laufsteg entlang und nimmt dabei immer wieder Posen ein. Indem er nur die beiden tänzerischen Verhaltensweisen aufgreift, nämlich den Runway und die Posen, lässt er Leerstellen offen. Es werden nur Teilaspekte der Ballroom-Kultur benannt. Dies führt dazu, dass für die Zuschauenden nicht immer ersichtlich ist, aus welchem Archiv sich das Gezeigte zusammensetzt. Die Auseinandersetzung mit dem Voguing-Archiv auf der Bühne ist für die Zuschauer*innen somit nicht gänzlich erschließbar, was mit den unterschiedlichen Wahrnehmungsund Sehgewohnheiten sowie dem möglichen Erkennen von Referenzen und Zitaten zu tun hat (Wehren 2010: 65). Dies hat zur Folge, dass tanzhistorisch geprägte Bewegungen nicht immer entziffert werden können. Dieser Bühnenauftritt wird somit zum exemplarischen Modell des beständigen Neu-Entwerfens. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit dem Aspekt der Sprecherposition, um Fragen zur Geschichtsschreibung und Bedeutungszuweisung zu stellen. Klein fragt, bezogen auf die Sprecherposition: »Wer schreibt über sie?« (Klein 2010: 90). Damit lenkt sie den Blick »auf eine De-Konstruktion der Legalität der westlichen Tanzgeschichte als Weltgeschichte und Universalgeschichte« (2010: 90). Kritisch hinterfragt sie die Tanzgeschichtsschreibung und weist darauf hin, dass Diskurse Ausschlüsse legitimieren oder hervorrufen (2010: 86).61 Erweitert gedacht kann gefragt werden: Wer tanzt wie Voguing? Zu den Sichtweisen von Forscher*innen treten die Verkörperungen von Performer*innen hinzu. Auch Giersdorf gibt im Anschluss an Susan Foster zu bedenken, dass es über die Tanzgeschichtsschreibung nachzudenken gelte (Giersdorf 2010: 92) und plädiert für eine Einbringung von »Choreografie als alternatives kritisches Modell für Tanzhistoriografie« (2010: 94). Sein Modell zielt darauf, »die Bedeutungszuweisung des Vokabulars zu befragen« (2010: 96). Pose for Me kann in diesem Sinne als Alternative zu einer Geschichtsschreibung betrachtet werden, die mittels einer Choreografie »Fragen zur Dokumentation von

60 61

Minute 5:32‒5:44. Klein zielt dabei auf die Selbstreflexion der Forschenden, die aufgrund ihrer spezifischen Perspektiven und Methoden Geschichte generieren und weist kritisch auf den unterschiedlichen Umgang von populärer Tanzkultur und Kunsttanz hin (Klein 2010: 81).

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Geschichte und zur Dokumentation als Kunst« (2010: 98) aufwirft. Giersdorf räumt den Körpern die Möglichkeit ein, »dass Körper und Bewegungen vergangene, gegenwärtige, aber auch zukünftige Strukturen beeinflussen« (2010: 99). Auch Thurner sieht in den reflektierten künstlerischen Traditionen und in ihren tänzerischen Darstellungsweisen Potenzial für die Tanzgeschichtsschreibung: »Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als choreografiertes Nebeneinander von bewegten Szenen könnte also für die Tanzgeschichtsschreibung als Darzustellendes wie auch als Modell für die Darstellung betrachtet werden« (Thurner 2010: 11, Herv. i.O.). Die Performance Pose for Me kann in dem Sinne, dass bewegte Szenen die Geschichte zum Ausdruck bringen, als Modell der Tanzgeschichtsschreibung betrachtet werden. Die Tänzer*innen reagieren auf den Materialfundus der Voguing-Geschichte. Mittels ihrer eigenen Choreografie und ihren Tanztechniken stellen sie die Tradition des Ballrooms aus und nutzen diesen für eine fruchtbare Weiterentwicklung. Sichtbar wird dies an den Rückschlüssen, die die Aufführung sowohl über ästhetische als auch soziohistorische Konzepte erlaubt. Dies kommt in den Szenen, in denen die drei Stile des Voguing auf der Bühne dargestellt werden, zum Ausdruck. Spezifische ästhetische Konzepte des Old Way, New Way und Vogue Fem werden sichtbar, wenn Leo Melody ihre Arme in geradliniger Form zur Seite streckt und anwinkelt, wenn Christopher Melody seine Arme über den Kopf bis zur Rückenpartie nach hinten stretcht oder Valeria Melody sich auf dem Laufsteg in femininer Weise bewegt.62 Soziohistorische Konzepte lassen sich bei Pose for Me in den sprachlichen Äußerungen und Kommentaren identifizieren. Das Format Lecture-Performance, das während der Aufführung im Sinne der Idee »knowledge production in and about dance« (Bleeker 2012: 234) ein spezifisches Wissen generiert, lässt sich als Kulturvermittlungsmodell denken. Während der Performance wird das Publikum mit einer möglicherweise fremden Tanzkultur konfrontiert. Dabei nehmen die Zuschauer*innen eine spezifische Rolle ein: »In that role, they participate in the discursive lecture, become witnesses to the demonstration, and become part of the experiment of the blurring of boundaries between lecture and the (dance/movement) performance. In this role, the spectators constitute an alert and observant counterpart of perception; within this space, dedicated to showing, they are invited to do their share in the production of evidence [...].« (Brandstetter 2016: 14) Nach Brandstetter nehmen die Zuschauer*innen am Diskurs teil, indem sie aufgrund ihrer Wahrnehmung und Bedeutungsgenerierung Sinn erzeugen. Mit den ihnen dargebotenen Körperinszenierungen und der sprachlichen Inszenierung erzeugen und erlangen sie über Voguing Wissen. Die Körper werden zur zentralen

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Minute 30:01:20‒30:02:10, 30:01:04 und 30:05:54.

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Kategorie von Sinngebung und Wissenserzeugung; sie bekommen eine Entität zugesprochen, die es ermöglicht, die spezifische Bewegung an die Geschichte und deren Vermittlung zurückzubinden. Das Format Lecture-Performance wird in Pose for Me zu einer kulturellen Übersetzung, Wissensgenerierung und Kulturvermittlung. In den Worten von Bleeker kann die Performance als »practice of exploration and experiment« (2012: 240) und als »practice of thinking through cultural formations« (ebd.) betrachtet werden. Damit ist gemeint, dass Pose for Me den Status eines Experiments erlangt, bei dem kulturelle Formationen des Voguing beforscht werden. Dies zeigt sich in der Reflexion über die Regeln und choreografischen Strategien des Tanzes Voguing und in der Präsentation von Bewegungen, die ein spezifisches Verhältnis zwischen Geschichte und unmittelbarer Peformance etablieren. Für die folgende Argumentation fokussiere ich die Konzepte Pfropfung und Hybrid. Zwar unterscheiden sie sich gravierend voneinander, spielen aber in der Betrachtung von Pose for Me meines Erachtens zusammen. Klein postuliert: »Dance cultures tell the story of cultural translations« (Klein 2012: 251). Übersetzungen erkunden die »in-between spaces« (2012: 253), dabei geht es um die Verhandlungsräume für den Prozess der kulturellen Übersetzung (ebd.). Klein geht davon aus, dass Tanz ein »genuine ›translation term‹« (ebd.) und eine »bodily method of translation« (ebd.) ist. Im Anschluss an Peter Berger und Thomas Luckmann (1987) verweist sie auf Performances, die von sozialen Regeln, Codes, ritualisierten Aktionen, Tanztechniken und subjektiven Emotionen (2012: 254) geprägt sind, und auf die lokale Adaption von Technik und Identität (2012: 255‒256), wenn es darum geht, Transformationsprozesse zu erfassen. Kleins Aussagen dienen dazu, die in der Analyse eingenommene Sichtweise von Körperpräsentation zwischen den Kategorien Performativität und Theatralität, wie sie in der Performace zum Ausdruck kommt, und dem Nachvollzug beziehungsweise der Versprachlichung, wie sie in der Lecture zum Ausdruck kommt, zu untermauern. Die Transformationsprozesse beschreibt Klein, wie im Exkurs gezeigt, als Hybrid. Wirth dagegen stellt die Übersetzung mit dem Modell der Pfropfung dar und sieht dabei von einer Vermischung im Sinne eines Hybrids ab. Ich folge Kleins Konzept, Transformationsprozesse als Hybrid zu lesen, um die Perspektive der Performer*innen und die Weitergabe untereinander zu beleuchten. Mit dem Modell der Pfropfung betrachte ich demgegenüber die Zuschauer*innenperspektive. Dabei bleiben die »Fremdheit und die Differenz des Übersetzten sichtbar« (Wirth 2015: 37), die »Differenz zwischen Pfropf und Unterlage [wird] markiert« (ebd., Herv. i.O.) und »das Wiedereinfügen in andere Kontexte als eine ambivalente Geste« (ebd.) augenfällig. Auf diese Weise kann Pose for Me aus der Perspektive der Zuschauenden als Wissens- und Kulturvermittlungsformat betrachtet werden, bei dem die Übersetzung an den Körpern sichtbar bleibt und Voguing dennoch als scheinbare kulturelle Einheit dargestellt wird. Die Weitergabe und Vermittlung

4. Voguing on Stage

der Voguing-Kultur erfolgt so, dass das Fremde im Sinne eines Pfropfs erkennbar wird. So gedacht lässt sich die Lecture-Performance Pose for Me als ein Übersetzungsprozess definieren, in dem sich das hybride Tanzwissen über Voguing in den Körpern figuriert. Dieses Wissen wird von den Performer*innen reflektiert und dadurch für die Zuschauer*innen verhandelbar. Die Körper fungieren selbst als Übersetzer und vollziehen Übersetzungsprozesse, die beschreibbar sind. Außerdem lässt sich die Performance als Modell der Kulturvermittlung bestimmen, in dem Voguing als scheinbare kulturelle Einheit dargestellt wird, in der allerdings immer wieder von den Performer*innen der Bruch mit dem scheinbaren Original reflektiert wird. Somit zeigt Pose for Me das während der Performance generierte Wissen von und über Voguing. Im Folgenden werde ich die Übernahme von Kulturen reflektieren. Die amerikanische Kulturhistorikerin Brenda Dixon Gottschild setzt sich kritisch mit der Übernahme von Verkörperungsprozessen und den unterschiedlichen Formen von »appropriation« (Gottschild 2018: 27) auseinander. Sie bezieht ihre Beispiele sowohl auf Grenzen zwischen »high and low« (2018: 31) als auch auf »black and white« (ebd.), betrachtet den Tanzkörper »as a measure of culture« (2018: 26) und Körper als »mirrors that absorb, remember, and reflect society’s politics,art,religions,aesthetics, hopes, fears, strengths, failings« (ebd.). Körper sind im Sinne Gottschilds Barometer einer Gesellschaft (ebd.). Auch Klein fragt danach, wie »urban experiences have been expressed physically« (Klein 2012: 247). Damit spricht sie soziokulturelle Implikationen an und konstatiert eine enge Verwobenheit von Erfahrung und Bewegung für den populären Tanz: »Popular dances tell this story as a physical exercise, as a sensual history of controlling and releasing body movements« (2012: 247). Shaka McGlotten meint gleich zu Beginn der Aufführung: »Voguing is a queer of color dance form, that was birthed in New York City ball culture.«63 Sein Verweis auf die soziokulturelle Einbettung des Voguing kann als Möglichkeit gelesen werden, die Übernahme eines Tanzstils aus einer anderen Kultur explizit zu machen, um im Sinne Gottschilds die »different languages« (Gottschild 2018: 26) – damit meint sie sowohl die gesprochene Sprache als auch die Sprache des Körpers – offenzulegen. Diese Transparenz bezüglich der Übernahme eines Tanzstils bringt auch Plenvm Ninja zum Ausdruck: »But just recognize that within this art form [...] they figure up new staff. That is nothing that you just learn over a youtube video [...], we have history to this.«64 In der Auseinandersetzung mit der Voguing-Geschichte überschneiden sich in der Performance Pose for Me choreografische Produktionsmechanismen aus dem 63 64

Minute 1:04. Minute 30:00:46.

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Voguing on Stage

Ballroom mit Positionen von Tänzer*innen. Die choreografische Struktur des Ballrooms löst bei den Performer*innen ein spezifisches Bewegungsverhalten aus, in dem sie historische Bewegungscodes des Ballrooms zitieren. Allerdings vollzieht sich Pose for Me nicht im gleichen soziokulturellen Raum, wie er in Harlem/New York in den 1960er Jahren geprägt wurde, sondern stellt eine soziokulturelle Übertragung dar. Auch wenn die Aufführung, die nicht im Ballroom, sondern auf einer Bühne stattfindet, auf soziokulturelle Hintergründe verweist, sind die davon geformten Bewegungsmuster Übersetzungen. Der häufig erfolgte Verweis auf den ideengeschichtlichen Kontext ermöglicht es, Voguing in Pose for Me im Spannungsfeld von Treue und Freiheit sowie Originale in Bewegung sichtbar werden zu lassen. Klein geht davon aus, dass Übersetzungsprozesse Aushandlungsprozesse sind: »Diese unaufhebbare Alterität zwischen dem Eigenen und dem Fremden sowie den ästhetischen und den diskursiven Praktiken bedeutet somit eine Grenze zu wahren, d.h. einerseits, den Eigensinn, die Eigenlogik des Ästhetischen zu verteidigen und andererseits an den Praktiken diskursiver Setzungen zu arbeiten. Übersetzungen sind auch hier eine Praxis des Aushandelns.« (Klein 2017: 177)65 Überträgt man Kleins Aussage auf die Performance Pose for Me, so stellt diese einen Aushandlungsraum zwischen dem Eigenen und dem Fremden dar. Die daraus hervorgehenden ästhetischen und diskursiven Setzungen werden im Anschluss an Michel Foucault und Gilles Deleuze im Spannungsfeld zwischen Differenz und Wiederholung besprochen.

4.2.6

Ästhetikkonzept: Zwischen Differenz und Wiederholung »Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.« (Benjamin 2011: 11)

Mit der Formulierung eines Ästhetikkonzepts wird jenseits von binären Logiken die Relation zwischen Original und Revival als »die fortschreitende Auflösung des Originalen im Überlieferten« (Foucault 2015a: 202) und auch »das Wiederauftauchen des schon Gesagten und das Wiederfreilegen des Ursprünglichen« (ebd.) fokussiert. Foucault schlägt vor, den Bruch mit dem bereits Vorhandenen und dem

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Kleins Aussage wurde folgendem Kontext entnommen: Sie fragt, ob es »eine posthistorische bzw. postexotische Zeitgenossenschaft in der Kunst« (Klein 2017: 176) geben kann. Ihren Gedankengang etabliert sie entlang den Betrachtungen des afrikanischen Tänzers Koffi Kôkôs.

4. Voguing on Stage

Unterschied festzustellen (Foucault 2015a: 202‒203). Allerdings räumt er die damit einhergehende methodologische Schwierigkeit ein, die Ähnlichkeit und Präzession herauszufinden (2015a: 203). Es sei schwierig, den Diskurs zu messen, der das Original vom Wiederholten unterscheidet, da sich das Vergangene dem Diskurs, den man analysiert, unterordnet (2015a: 203). Ziel der Formulierung eines Ästhetikkonzepts ist es folglich nicht, den Anteil an Ursprünglichkeit eines Balls in der Performance Pose for Me zu analysieren. Es geht vielmehr darum, die bewusst vorgenommenen historischen Anleihen bzw. Referenzen als eine fortschreitende Übersetzung, die einen Bruch markieren zu sehen und als Eigenlogik des Ästhetischen zu begreifen. Dabei gilt es die Brechungen zur Voguing-Geschichte und -Kultur, wie sie in der Performance vorgenommen werden, in ihrem ästhetischen Potenzial zu betrachten. Um den Bruch zu markieren und begrifflich zu bestimmen, beziehe ich mich auf Deleuze’ Werk Differenz und Wiederholung (2007). Damit wird der Versuch unternommen, den Übersetzungsprozess, der in der Performance Pose for Me stattfindet, mit Deleuze’ philosophischer Aussage zu erweitern. Schellow gibt kritisch zu bedenken, dass philosophische Referenzen in tanzwissenschaftlichen Analysen nicht immer klar zu erkennen sind oder mit Positionen der Tanzwissenschaft verschmelzen (Schellow 2016: 233). Diesem Einwand wird hier Rechnung getragen, indem das formulierte Ästhetikkonzept jenseits der Aufführungsanalyse dennoch als deren Fortführung bzw. Erweiterung betrachtet wird. Deleuze eröffnet, bezogen auf den Begriff der Differenz, zwei miteinander verschränkte Blickrichtungen: »Die eine betrifft einen Begriff negationsloser Differenz, gerade weil die Differenz, insofern sie nicht dem Identischen untergeordnet ist, nicht bis zum Gegensatz und zum Widerspruch reichen würde oder ›dürfte‹; die andere betrifft einen Begriff von Wiederholung der Art, wie etwa die physischen, mechanischen oder nackten Wiederholungen (Wiederholung des Selben) ihren Grund in den tieferliegenden Strukturen einer verborgenen Wiederholung finden würden, in der sich ein ›Differentielles‹ verkleidet und verschiebt. Diese beiden Untersuchungen haben sich von selbst miteinander verschränkt, weil sich diese Begriffe einer reinen Differenz und einer komplexen Wiederholung unter allen Umständen zu vereinigen und zu verschmelzen schienen. Die permanente Divergenz und Dezentrierung der Differenz ist eng mit einer Verschiebung und einer Verkleidung in der Wiederholung verbunden.« (Deleuze 2007: 12, Herv. i.O.) Dieser komplexe Gedankengang von Deleuze soll im Folgenden in einzelnen Schritten auf die Performance Pose for Me übertragen werden. Deleuze geht von einem Unterschied zwischen der Wiederholung und der Ähnlichkeit aus (2007: 15). Die Wiederholung bestimmt er als eine »Verhaltensweise« (ebd.), die sich nur im »Verhältnis zum Unersetzbaren« (ebd.) ergibt. Folglich betrifft diese Verhaltensweise eine »unersetzbare Singularität« (ebd.). Wiederholung heißt für ihn »sich verhal-

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Voguing on Stage

ten, allerdings im Verhältnis zu etwas Einzigartigem oder Singulärem, das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist« (ebd.). Zur Wiederholung gehören somit der Wandel und die Überschreitung; des Weiteren bestimmt Deleuze sie als »eine Augenblicklichkeit gegen die Variation« (2007: 17). Übertragen auf die Performance Pose for Me werden die übernommenen kulturellen Praktiken des Ballrooms als Verhaltensweisen zwischen Differenz und Wiederholung betrachtet. Ausgehend davon, dass die Wiederholung kultureller Muster und Praktiken des Ballrooms im Sinne Deleuze’ in einem Verhältnis zum Unersetzbaren stehen, erzeugen sie gleichzeitig eine unersetzbare Singularität. Allerdings repräsentiert Pose for Me durch die Wiederholung von kulturellen Mustern und Bewegungstechniken des Voguing eine Ähnlichkeit, die einem Wandel unterzogen ist. Dies stellt im Denken von Deleuze weder Widerspruch noch Paradoxon dar. Damit überschreitet die Performance die unersetzbare Singularität des Ballrooms und zeigt im Augenblick eine Variation desselben. Die erzeugte Differenz lässt sich dann, im Anschluss an Deleuze, als eine nicht dem Identischen unterzuordnende Differenz lesen. Die während der Performance hergestellte Differenz widerspricht auch nicht den singulären Ereignissen des Ballrooms. Außerdem zeigt sich in der mechanischen Wiederholung der Tanztechnik Voguing eine tiefer liegende Struktur, die ein eigenes Differenzielles herstellt.

4.3

Voguing als vestimentäre Performance

Der Begriff ›vestimentäre Performance‹ bezieht sich auf das Kostüm und seine performative Hervorbringung. Der Auftritt in unterschiedlichen Kostümen ist Teil des kulturellen Verhaltens auf Voguing-Bällen und ermöglicht das Hineinfinden in unterschiedliche Rollen und verschiedene Identitäten: Mittels vestimentärer Objekte wird die »category of ›identity‹« (Hilderbrand 2015: 31) zum Ausdruck gebracht. Auf laufstegähnlichen Bühnen werden Tanz, Körper und Kostüm inszeniert. Zentrale choreografische Elemente sind hierbei die Pose und der Catwalk. Die Pose bildet die Schnittstelle zwischen Bewegung und Stillstand sowie vielfältigen Ausdrucksweisen, während der Catwalk den Blick auf das tänzerische Verhalten im Raum lenkt. Zentral für diese Betrachtungsweise sind das Verhältnis von bekleideten Körpern und Identitätskonzepten, sowie die Relation von Körper, Kleidung und Bewegung. Dabei geht es auch um die Frage, »inwiefern Mode Bewegung zulässt, erleichtert oder behindert und inwiefern das bewegte Kleid zur Ausführung der Tätigkeit auf ästhetische, informative oder kommunikative Weise beiträgt« (Kühl

4. Voguing on Stage

2015: 78).66 Aussagen zu Bewegungsmöglichkeiten und den damit einhergehenden Bedeutungsangeboten von bewegten und bekleideten Körpern spiegeln sich auch in Strombergs Aussage wider. Bei der Inszenierung von Kostümen im Kontext von Tanz-Aufführungen definiert Stromberg das Tanzkleid wie folgt: »Ein Tanzkleid ist ein Kleid für den Tanz, d.h. diese Bekleidung ist nur innerhalb eines festgelegten inszenatorischen Rahmens von Zeit und Ort zu verstehen« (Stromberg 2003: 21). Das Tanzkleid in einem zeitlichen und ortsbezogenen Rahmen zu betrachten, verweist auf sein konkretes Inszenierungspotenzial. Im Anschluss an Lehnert gehe ich davon aus, dass die Kleidung nur in der Inszenierung ihr Potenzial entfaltet, um Dimensionen von Ästhetik, Raum und Zeit in Erscheinung zu bringen: »Kleidung muss inszeniert und aufgeführt werden, um überhaupt Mode zu werden, d.h., die Kleider werden in ihren ästhetischen, räumlichen und zeitlichen Dimensionen zur Erscheinung gebracht – einerseits als Zeichen innerhalb des kulturellen Kommunikationszusammenhangs, die immer zur Deutung aufrufen und nie endgültig und klar gedeutet werden können. Andererseits werden die Kleider, so meine These, vor allem als ästhetische Artefakte zur Erscheinung gebracht, die in Wechselwirkung zu den dreidimensionalen Körpern der Trägerinnen stehen, Raum und Zeit spürbar machen und zu einer ästhetischen Wahrnehmung jenseits aller Deutung aufrufen.« (Lehnert 2013: 8) Mit Lehnert kann die Inszenierung von Kleidern sowohl in kulturellen Zusammenhängen als auch im Sinne einer ästhetischen Wahrnehmung betrachtet werden. Sie eröffnet ein diskursives Feld, Kleider als ästhetische Artefakte im Verhältnis von Körper, Bewegung und Raum zu erfassen. Davon ausgehend werden die Inszenierungen von Kostümen und Körpern sowohl im Kontext von Voguing als auch im übergreifenden Kontext Tanz betrachtet, vor dem Hintergrund der Annahme, dass Kostüme ein bestimmtes tänzerisches Verhalten hervorrufen. Hier beziehe ich mich auf Brandstetter, die von einer Übertragung von Bewegungsenergie und -richtung spricht, die vom Stofflichen ausgeht und auf den Körper übergeht und die sich dann in einer Choreografie entlädt. Sie beschreibt diese Energieübertragungen als »Echo« (Brandstetter 1998: 183), als »eine eigene Dynamik und Rhythmik im Zusammenspiel mit dem tanzenden Körper« (ebd.), als »Stoff-Masken, die Metamorphosen der Tänzerfigur bewirken« (ebd.) und die in »dynamischer Beziehung zu den tanzenden Körpern« (ebd.) stehen. Mit dem Begriff vestimentäre Performance betrachte ich somit die Wechselwirkungen zwischen Kostüm und Körper als auch zwischen Körper und Kostüm, das in einer Tanzaufführung hinsichtlich vielfältiger Kategorien ausgelotet wird. Zentral für die Betrachtung von 66

Kühls Aussage basiert auf Brandstetter, Anna, Leutner, Wolter, Lehnert, Vinken, Til, Foucher, Weiler, Stromberg, Salazar, Holschbach, G. Schmidt, Brandl-Risi und Diekmann (Kühl 2015: 78).

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Voguing on Stage

vestimentären Performances sind Bewegungsübertragungen zwischen Körper und Kleid und Kleid und Körper. Vestimentäre Performances sind Aufführungen von Kleidung mit Körpern, welche vielfältige Bedeutungsangebote erlauben. Aus der Performance Antigone Sr. (L) werden Bewegungssequenzen isoliert, um Aussagen zu Pose, Catwalk und der Inszenierung von Kleidung zu formulieren.

4.3.1

Die Serie Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church

Trajal Harrell verknüpft in seinen Aufführungen Voguing mit Postmodern Dance. In vielen Interviews und anderen Textformaten gibt er Auskunft über seine künstlerische Arbeit und macht damit seine theoretischen und praktischen Referenzen transparent. Die Ausstellung Hoochie Koochie im Jahre 2017 in der Barbican Art Gallery in London ermöglichte Einblicke in zahlreiche retournierend aufgeführte Performances und in die seinen Arbeiten zugrunde liegenden Theorien. In dem Katalog, der anlässlich dieser Ausstellung herausgegeben wurde, wird Voguing folgendermaßen definiert: »Voguing dance tradition–the highly stylized dance and social performance as competition that often appropriates moves and poses from fashion. Voguing in the 1980s was multi-generational and evolved out of the Harlem ballroom scene of the 1960s. The ballroom scene was an underground scene known for its LGBT community.« (Barbican 2017: 31) Im Ausstellungskatalog wird Postmodern Dance folgendermaßen gerahmt: »Postmodern dance–hailed the use of everyday movement as valid performance art and advocated novel methods of dance composition which started at Judson Dance Theater: a collective of dancers, composers and visual artists who performed at the Judson Memorial Church in Greenwich Village, Manhattan New York City between 1962 and 1964.« (Barbican 2017: 31) Die zentrale Idee von Harrells Schaffen ist das imaginierte Aufeinandertreffen des Voguing mit dem Postmodern Dance. In seiner Serie Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church verbindet er diese beiden Strömungen der Tanzgeschichte miteinander. Die Serie entstand zwischen 2009 und 2013, die Titelgebung war inspiriert von Rem Koolhaas’ Buch S, M, L, XL aus dem Jahre 1995 sowie von der Performance Bliz-aard Ball Sale (1983) von David Hammons, der in Manhattan in einer Straße Schneebälle in verschiedenen Größen verkaufte (Harrell in Barbican 2017: 26). Die vollständigen Titel der Serie lauten: • •

Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (S) (2009), Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (XS) (2011),

4. Voguing on Stage



• • • •

(M)imosa/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson C hurch (M) (2011) (C o-authored with C ecilia Bengolea, Francois C haignaud and Marlene Monteiro Freitas), Antigone jr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (jr.) (2011), Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Sr.) (2012), Judson Church is Ringing in Harlem (Made-to-Measure)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (M2M) (2012), Antigone jr. + +/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Plus) (2013) (Barbican 2017: 32).

Die Titel sind eine klare Referenz auf Jennie Livingstons Film Paris is Burning (1990), der die Voguing-Kultur in Harlem dokumentiert. Gemeinsam ist ihnen die Frage: »What would have happened in 1963 if someone from the ball scene in Harlem had gone downtown to perform alongside the early postmoderns at the Judson Church?« (Hasham 2017: 22). Dazu entwirft Harrell eine historische Fiktion dieses Zusammentreffens. Er lotet neue Möglichkeiten von tänzerischen Ausdrucksweisen und Tanzgeschichtsschreibung aus und fusioniert nicht nur Bewegungsformen, sondern auch unterschiedliche Tanzkonzepte. Seine Arbeiten sind hypothetische Hybride von Postmodern Dance, Voguing, Mode und Sound. Er selbst beschreibt seine Performances so: »All the branches: the voguing, the runway, the material, the fashion, the minimalism, the art history, the visual arts: all this stuff is in here – sexuality, sexual orientation, crossdressing. It’s a life’s work to untangle them and to assemble them in different ways« (Harrell in Javenski 2017). Verschiedene tanzgeschichtliche Strömungen, Stile oder Techniken erscheinen gleichzeitig auf der Bühne, obgleich sie sich räumlich getrennt voneinander etablierten und entwickelten. Damit stellt er Potenziale einer diachronen Geschichtsschreibung aus. Harrells Aufführungen als choreografische Praktiken der Geschichtsbetrachtung zu lesen, möchte ich mit Aussagen von Wehren, Giersdorf und Lepecki untermauern. Sie dienen der Kontextualisierung im Rahmen einer Tanzgeschichtsbetrachtung. Wehren schreibt dazu bezogen auf ihren Gegenstand: »Die choreografischen Praktiken in der Historiografie kommen damit den Forderungen nach netz-, gebilde- oder geflechtartigen, räumlichen und dynamischen Darstellungen für die Tanzgeschichtsschreibung nach« (2016: 244‒245).67 Damit verweist sie auf Ordnungsmuster der Tanzgeschichtsschreibung, die nicht Epochen bildend, sondern ästhetische Ansätze einer Reflexion sind (2016: 244). Dies lässt sich insofern

67

Vgl. hierzu Wehren: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis (2016). In ihrer Untersuchung analysiert sie tanzkünstlerische Arbeiten, die die Tanzgeschichte in unterschiedlicher Art und Weise auf die Bühne bringen.

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Voguing on Stage

auf die Aufführungen von Harrell übertragen, als dass er Strömungen der Tanzgeschichte aufgreift, um diese unabhängig von Personen, Epochen, oder Chronologien zu inszenieren. Giersdorf untersucht Harrells Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (2012) im Sinne einer »choreographierten Tanztheoretisierung« (Giersdorf 2013: 576, Herv. i.O.), um Zugänge zur Reflexion im Tanz kritisch zu betrachten. Er klassifiziert das Stück als eine Lecture-Performance und kommt zu der Erkenntnis, dass Harrells »Konglomerat der disparaten Repräsentationskonzepte« (2013: 585) – damit meint er, dass gleichzeitig Objekt und Subjekt eines Schaffensprozesses ausgestellt (ebd.) und Produktions- und Rezeptionsprozesse verschränkt werden (2013: 583) – »etablierte Temporalitäten befragend benutzt oder sogar neu-kreiert« (2013: 586). Folglich wird die Tanzgeschichte neu konstruiert und ästhetisiert (2013: 588). Auch wenn Wehren und Giersdorf unterschiedliche Aspekte fokussieren – Wehren bezieht sich auf eine reflektierende choreografierte Tanzgeschichtsschreibung auf der Bühne, Giersdorf auf eine reflektierende choreografierte Tanztheorie auf der Bühne –, kann mit ihnen Harrells Serie als Choreografie, die sowohl die Tanzgeschichte als auch ihre theoretischen Referenzen kritisch reflektiert und ästhetisch neu auflädt, betrachtet werden. Der Tanzwissenschaftler André Lepecki äußert sich in einem Brief an Harrell folgendermaßen zu dessen Arbeiten: »Your work instatiates [sic] a local autonomy for history’s arrow, making possible to move across a field of time, rather than a timeline« (Lepecki 2017: 96). Diese Aussage möchte ich im Sinne Foucaults als eine Form der Geschichtsbetrachtung lesen, bei der es nicht gilt, eine Einheit herzustellen, sondern spezifische Brüche an die Stelle von linearen Abfolgen treten zu lassen (Foucault 2015a: 9). Eine solche Geschichtsbetrachtung zielt auf Übertragungen, Wiederaufnahmen, das Hervorholen von Vergessenem und nicht auf das Aneinanderreihen von chronologischen Geschichtsereignissen (2015a: 12). Übertragen auf die Serie Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church bedeutet dies, dass räumlich getrennte Tanzphänomene, wie sie Voguing und der Postmodern Dance darstellen, während einer Aufführung gleichzeitig verhandelt werden. Harrells kreativer Umgang mit Materialien und Konzepten führt ihn zu folgender Vorstellung dessen, was sein könnte: »I’m interested in the historical imagination as a tool that creates possibilities. It is one of the things art can do. It can help us to overcome the things we think are impossible. Going into the cracks and fissures of history is one of the ways in which we can begin to uncover new kinds of possibilities in the world, because we know that history is not necessarily the most truthful, the most real, nor the most accurate story. I try to empower the historical imagination and that has been a part of my practice since 2001 when I started looking at the relationship between voguing and early postmodern dance. In a way, I employ history as a tool to get into the present and engage the audience in a proposition for a historical impos-

4. Voguing on Stage

sibility that creates togetherness and propels spectators into the now.« (Harrell in Acarín 2016) Im künstlerischen Schaffen sieht Harrell die Möglichkeit von Neugestaltung und Aktualisierung der Geschichte. Kunst ermögliche Geschichtsereignisse aufzugreifen, um neue Beziehungsgeflechte zu generieren. In meiner Aufführungsanalyse gehe ich von einer Vernetzung von Voguing und Postmodern Dance aus. Diese Sichtweise ergibt sich sowohl aus der Betrachtung der choreografischen Arbeiten als auch aus den Künstleraussagen.

4.3.2

Stückbeschreibung: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church von Trajal Harrell

Im Folgenden beschreibe und kommentiere ich zunächst die Performance Antigone Sr. (L) in ihrem chronologischen Ablauf. Die Bühnenarchitektur, gestaltet von Erik Flatmo, rahmt das gesamte Stück: Der Boden ist mit mehreren mit grauem und blauem Papier markierten Bändern belegt, die als Laufstege dienen und den rechten Bühnenraum dominieren. Auf der linken Seite steht ein Podest. An der Bühnenfront befinden sich drei weiße Quadrate auf dem Boden, in der hinteren rechten Bühnenecke steht eine Säule. Ein schwarzer Vorhang trennt den hinteren Bühnenraum ab ‒ während der Aufführung zeigt sich, dass dahinter das Umkleiden erfolgt. Öffnungen an der rechten und linken Bühnenseite geben den Blick auf einen Kleiderständer und einen Spiegel frei.68 Zu Beginn der Aufführung werden die Zuschauer*innen aufgefordert, sich zu erheben. Der Tänzer Thibault Lac stimmt einen Lobgesang auf Voguing an, der aus einem Mix popkultureller Songs besteht. Danach treten die Tänzer nacheinander in Männeranzügen auf, die sich allerdings sowohl im Stil als auch in der Art des Tragens voneinander unterscheiden. Sie tanzen auf den weißen, quadratischen Flächen, ihre Bewegungen sind unterschiedlich schnell und folgen der Dynamik verschiedener Popsongs. Beim Tanz von Lac lässt sich Bewegungsmaterial aus dem Stück Trio A (1966)69 von Yvonne Rainer als tanzgeschichtliche Referenz erkennen. Harrell beendet diesen fast fünfzehnminütigen Tanz mit dem Ruf: »Stop the show! Stop the show. Stop the mother fucking show!«70 Die Tänzer Lac und Harrell setzen sich auf ein Podest, beide mit einem über den Körper fließenden TShirt-Kleid bekleidet. Die Handperformances von Lac stellen das Bewegungsma-

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69 70

Für die Beschreibung und Analyse stütze ich mich auf die Aufführungen 2016 im HAU Hebbel am Ufer Berlin, 2018 in der Kaserne Basel und 2018 in der Dampfzentrale Bern sowie auf eine Videoaufnahme, die mir für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung gestellt wurde. Vgl. Jochen Schmidt: Das Stück The Mind Is a Muscle (Trio A) von Yvonne Rainer entstand 1966 (2002: 281, 282). Minute 19:32.

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Voguing on Stage

terial des Voguing aus, erinnern hier jedoch auch an rituelle Gesten eines Tempeltanzes. Das Sitzen der beiden Tänzer gleicht einer ikonografischen Darstellung aus der griechischen Antike. So verweilen sie und beginnen in scheinbar unendlich vielen Variationen den Satz ›We are‹ zu vervollständigen. Dabei verbinden sie meist zwei Personen, die etwas miteinander zu tun haben, verweisen auf zwei Teile, die miteinander in Verbindung stehen, oder benennen gegensätzliche Konzepte. Das Wort ›and‹ wird zum Ordnungsprinzip. Es werden stets zwei Dinge miteinander verbunden, egal, wie sie sich zueinander verhalten. Inhalt dieser Wiederholungsschleife ist die Aufzählung von Bands, Bandmitgliedern, Sänger*innen, Tennisprofis, Kinderstars, Museen, abstrakten Begriffen, Modemarken, Künstler*innen oder Funktionen: »We are everything and the girl«, »We are MoMA and PS 1«, »We are Gucci and Pucci«, »We are cock and balls«, »We are Rock and Roll«, »We are Cunningham and Cage«, »we are set and reset«, »We are significant and significate«, »We are Antigone and Ismene«.71 Diese Auswahl zeigt, dass es sich dabei um ein kollektives Wissen handelt, gespeist aus popkulturellen Vorräten, Repräsentanten der Künste und wissenschaftlichen Theorien. Harrell nimmt die Rolle der Antigone und Lac die von Ismene ein. Nach einem melancholisch klingenden Gesang beginnt Lac nacheinander Fäden an den Fingern Harrells zu befestigen, die er, von einer Spule abrollend, bis in den Zuschauerraum spannt. Dabei steigt er über die Stühle, berührt Zuschauer*innen und bittet diese, den Faden festzuhalten. So spinnt sich von den fünf Fingern Harrells ausgehend ein Netz vom Bühnenin den Zuschauerraum. Es folgt eine Phase von Catwalks, bei denen die Tänzer nacheinander in schrillen Kostümen auftreten.72 Harrell leitet die einer Modenschau ähnelnde Performance mit den Worten »The first category is the King‘s Speech« ein. Wie bei einem Voguing-Wettstreit, bei dem die Konkurrenten nacheinander auftreten, werden unzählige extravagante Kostüme und Arten des Gehens und Posierens dargestellt. Dabei besticht die Art und Weise des Tragens von Kleidung ‒ nämlich entgegen ihrer traditionellen Art. Mäntel verwandeln sich in Hosen, eine Stola wird zu Turban, Schleier, Rock, Tutu und vielem mehr. Der Catwalk gleicht sowohl einem Voguing-Ball wie auch einer Modenschau. Auf dem Podest verweilend bleibt der Performer Harrell in der Rolle des DJs, Sängers und Moderators, während der Tänzer Eddine Motte Ir. Eagleton auf High Heels und mit einem weiten T-Shirt bekleidet in ein Mikrofon singt und Kommentare abgibt. In dieser überbordenden, glamourösen Show verschmelzen Voguing-Kultur, Modenschau und Inhalte der griechischen Tragödie Antigone. Harrell kündigt die nächste Kategorie an: »Next category is friends on the runway«.73 Auch hier werden kulturell tradierte Bewegungsmuster und Verhalten der

71 72 73

Minute 23:30‒33:35. Minute 44:50. Minute 52:44.

4. Voguing on Stage

Ballroom-Kultur präsentiert, repräsentiert, nachgeahmt oder verfremdet. In kreativen Kostümvariationen bewegen sich die Performer den laufstegähnlichen Bühnenmarkierungen entlang. Dazu erklärt Harrell, was Realness bedeutet: »Realness is when you try to be something you are not […].«74 Damit werden die Identität betreffende Fragen aufgeworfen. Bei der nächsten Kategorie »Mother of the House«75 präsentieren die Tänzer weitere originelle Kostüme, während die Geschichte der Antigone ihren Fortgang nimmt. Einzelne Outfits werden von Harrell kommentiert, wobei er sowohl auf Designer*innen als auch auf die Voguing-Kultur zurückgreift. Er nutzt den theatralen Raum, um unterschiedliche Themen übereinanderzulagern: Die Geschichte Antigones wird erzählt, während auf die familienähnliche Struktur der Houses angespielt wird und der erscheinende Tänzer als Mother of the House identifiziert werden kann. Der folgende Catwalk geht in eine Battle über, ähnlich wie sie bei Voguing-Bällen ausgefochten werden. In schwarzen Anzugshosen und mit nackten Oberkörpern treten die Performer gegeneinander an (siehe Abbildung 3). Dabei tanzen sie in der Manier des Postmodern Dance. Harrell kehrt Formen und Inhalte um, wenn er den Wettstreit des Voguing im schlichten Look des Postmodern Dance austragen lässt. Das Publikum wird befragt: »Are you ready?«76 Ein Dialog zwischen Performern und Zuschauer*innen setzt ein. Dabei mengen sich die Performer unter das Publikum, sodass ein wildes Spektakel entsteht. Bei den Aufführungen in Basel und Bern beginnen die Zuschauer*innen zu jubeln, zu tanzen und die Performer frenetisch anzufeuern. Allmählich kehren die Tänzer wieder auf die Bühnenfläche zurück und verlassen diese. Im Dunkeln erscheint der Performer Eagleton und tritt, den Körper gänzlich verhüllt, an den Bühnenrand. Er entkleidet sich. In langsamen Bewegungen werden textile Schichten vom Körper abgetragen. Kleidungsstücke, Stoffe, Lappen, Tücher und Gewänder fallen zu Boden. Die Tänzer Harrell, Eagleton, Lac, Thompson und Vidlar erscheinen nacheinander auf der Bühne und gehen dabei auf den laufstegähnlichen Markierungen entlang. Das Stück ist zu Ende. Die Deutungsmuster: Pose, Catwalk und vestimentäre Performance Harrells Aufführung Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church77 erlaubt vielfältige Zugänge. Seine Verweise auf einen Pool von kulturellem Wissen (Giersdorf 2013: 588) ermöglichen die Analyse disparater Stränge. Bei der folgenden Aufführungsanalyse werden allerdings nur die Deutungsmuster Pose und Catwalk als choreografische Elemente und das Deutungsmuster vestimen74 75 76 77

Minute 59:59. Minute 1:06:20. Minute 1:36:44. Im Verlauf der Analyse wird nicht mehr der vollständige Titel des Stückes genannt, sondern die verkürzte Form Antigone Sr. (L).

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Voguing on Stage

Abb. 3: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Harrell 2012), Rob Fordeyn, Steven Thompson, Thibault Lac, Fotograf*in: Bengt Gustafsson, 2012 Copyright Trajal Harrell.

täre Performance fokussiert. Das heißt, dass das Werk nicht vollständig erfasst wird hinsichtlich seines dramaturgischen Aufbaus, der choreografischen Verfahren, der tänzerischen Bewegungen, des Raumverständnisses, des Einsatzes an Medien, seiner Lautlichkeit und der Polyvalenz an Bedeutungszuschreibungen. Auch Aussagen zur Musik bleiben in der Analyse unberücksichtigt, wenngleich sie zentral in Harrells Werk ist. Ana Javenski meint anlässlich der Ausstellung Hoochie Koochie (2017) in der Barbican Art Gallery in London: »Music holds a crucial role in his pieces. Harrell loves soundtracks and playlists; with an ardor of a teenager locked in his bedroom, he is addicted to compiling music. Music often defines the dramaturgy of the pieces and he works on both Garageband and iTunes, making it another everyday element in his pieces« (Javenski 2017). In der Analyse werden nur die Szenen berücksichtigt, mit denen die Deutungsmuster Pose und Catwalk als choreografische Elemente und vestimentäre Performances thematisiert werden können. Zentral für die Fruchtbarmachung der Deutungsmuster sind die Prozesse der Hervorbringung. Ausgangspunkt der Analyse sind die Fragen: Wie lassen sich die Posen und der Catwalk im Stück Antigone Sr.

4. Voguing on Stage

(L) beschreiben? Wie wird Voguing mit dem Postmodern Dance verschränkt? Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Körper und Kostüm beschreiben? Welche ästhetische Eigenart entsteht im künstlerischen Schaffen Harrells? Wie lässt sich im Anschluss an die Aufführungsanalyse ein Ästhetikkonzept formulieren, das die Eigenlogik der zugrunde gelegten Performance erfasst und das diskursive Vorgehen reflektiert?

4.3.3

Positionsbestimmungen zwischen Voguing und Postmodern Dance

Die in Antigone Sr. (L) inszenierten Posen und Catwalks können als Verschränkung zwischen Voguing und Postmodern Dance gelesen werden. Das Oszillieren zwischen den beiden Konzepten bringt spezifische Ausdrucksweisen auf die Bühne. Die verkörperten Attitudes sind, so meine Annahme, von theoretischen Reflexionen über Postmodern Dance und Voguing geprägt. Auch der Catwalk wird als choreografisches Konzept zwischen den Referenzpunkten Voguing und Postmodern Dance situiert. Pose und Catwalk werden in einem ersten Schritt der Aufführungsanalyse getrennt betrachtet und als choreografische Elemente sowohl entlang des Stückes als auch der künstlerischen Position des Choreografen Harrell verhandelt.

4.3.3.1

Strike a Pose! Reflexionen zur Pose

Harrell kündigt die erste Kategorie an: »The first category is the King’s Speech.« Damit bewegt er sich in der Struktur der Voguing-Bälle. Auf den Bällen werden die ritualisierten Performances (Bailey 2016: 124) durch kompetitive Kategorien dominiert (2016: 165). Nach Bailey ist der Wettbewerb »the main allure of the ball« (ebd.) und »a key aspect of a ball that brings people to the performance space« (ebd.). Er wird auf der Grundlage der Kategorien ausgetragen. Diese basieren wiederum auf »body presentation, performative gender and sexuality, and theatrical productions abound in Ballroom« (2016: 166). Bailey weist darauf hin, dass die meisten Kategorien um die Figur der Butch Queen konstruiert sind (ebd.). Zusammen mit dem Titel und den Themen der Bälle werden die Kategorien auf den Flyern aufgelistet und beschrieben (ebd.). Hilderbrand operiert in seiner Untersuchung zum Film Paris is Burning mit dem Begriff »identity categories« (Hilderbrand 2015: 160), um auf die »gender categories« (2015: 19) zu verweisen. Folgende Aussage Moores kann als Zusammenfassung des zentralen Aspekts der Selbstpräsentation innerhalb der im Ballroom vorherrschenden Kategorien herangezogen werden: »All vogue categories are about asserting yourself creatively, about bringing something unique to the stage, to the moment of performance, and then leaving a memorable trace« (Moore 2018: 207). In den Äußerungen von Bailey, Hilderbrand und Moore kommt zum Ausdruck, dass Kategorien unzählige Formen der Selbstverkörperung ermöglichen. Die Kategorien der Performance Antigone Sr. (L) entstammen, so meine Lesart, Harrells eige-

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Voguing on Stage

ner Kreation. Sie sind fiktiv, referenziell, anspielend, zitathaft. Seine vielschichtigen Anspielungen an die Film-, Musik- und Popkultur zeigen sich etwa im Aufgreifen des Filmtitels The King’s Speech aus dem Jahre 2010 von Tom Hooper (Giersdorf 2013: 587). Im weiteren Verlauf der Aufführung kündigt er auch die Kategorien »Friends on the runway«78 und »Mother of the House«79 an. Dabei dient die Kategorie »Friends on the runway« dazu, Realness zu erläutern und spezifische Verhaltensweisen des Voguing zu reflektieren. Die Kategorie »Mother of the House« hat in dem Stück die Funktion, die Tragödie Antigone zu erzählen, zu erläutern oder als theatrales Spiel aufzuführen. Mittels der Kategorie »The King’s Speech« wird im Rahmen dieser Analyse die Pose theoretisiert. Der Tänzer Eagleton tritt aus dem hinteren Bühnenteil hervor. Auf seinem Kopf trägt er einen Turban, gebunden aus einer weißen Stola, unter der ein blaues Tuch hervorschaut. Ein Anzugsjackett bedeckt seinen nackten Oberkörper, dazu trägt er eine graue Jeans. Seine Hände sind in den Taschen der Jacke verborgen, so stellt er sich leicht breitbeinig auf. Sehr langsam schreitet er, begleitet von Trommelmusik, barfuß, die Füße elegant voreinander setzend die laufstegähnlich markierte Bühnenfläche entlang. Dabei wiegen seine Hüften leicht von rechts nach links. Erhobenen Hauptes balanciert er seinen ungewöhnlichen Turban. Am Ende der Linie angekommen, dreht er beide Füße gleichzeitig nach links. Die Position erinnert an eine antike Darstellung, wie sie auf Vasen zu sehen ist. Am Ende der nächsten Bahn schwenkt er seinen Körper durch eine Drehung auf den Fersen, dabei verlagert er sein Gewicht auf einen Fuß. Ein neuer Walk beginnt. Er nimmt seine rechte Hand aus der Tasche und führt diese in einem weiten, raumgreifenden Bogen über den Kopf zum Knopf seiner Anzugsjacke, um diese zu öffnen. Dabei wiegt er sich fast unsichtbar in den Hüften, schreitet wieder in eine andere Richtung, während seine beiden Hände den unteren Saum der Jacke entlang streifen. Es entsteht der Eindruck eines fast in Zeitlupe Gehenden, der in bewusst akzentuierter Art und Weise unnahbar stolziert. Mit seiner Körperhaltung zeigt er eine besondere Grazie. Während der Tänzer Eagleton abtritt, erscheint im hinteren Bühnenraum Lac in einem roten T-Shirt-Kleid, das Kopf und Arme verhüllt, jedoch viel Bein zeigt. Seine Füße stecken in einfachen Ledersandalen. Er steht breitbeinig da, die Arme an der Seite des Körpers herunterhängend, ehe er schwungvoll die Arme schwenkend lässig nach vorne geht. Dabei wechselt die Musik zu einem Elektrostück. Cool läuft er die Bahnen entlang, bis er am Ende wieder für einige Sekunden breitbeinig verweilt und dann abtritt. Seine Lässigkeit ist unprätentiös. Derweil erscheint der Tänzer Ondrej Vidlar im weißen Faltenrock, mit einem goldfarbenen Stoff, der latzartig vor der Brust hängt, und einem schwarzen Ledermantel, der nur um 78 79

Minute 52:44. Minute 1:06:20.

4. Voguing on Stage

seine Schultern gelegt ist. Am Ende des Laufstegs hebt er seine linke Hand und nimmt eine Siegerpose ein. Er verschränkt seine Arme vor der nackten, nur mit dem goldfarbenen Textil verhüllten Brust. Sein Gesichtsausdruck erinnert an einen siegesgewissen Helden, seine Kleidung an einen römischen Gladiator. Zügig gehend fasst er die Enden des Ledermantels und breitet diesen aus. Dies vergrößert die Oberfläche seines Rückens.80 Im Fokus der Analyse stehen die unterschiedlichen Strategien der Selbstpräsentation, wie sie in der Performance Antigone Sr. (L) im Einnehmen von Posen zum Ausdruck kommen. Welche Ausdrucksweisen lassen sich beschreiben? Welche Bilder werden mittels der Posen erzeugt? Wie lässt sich das Verhältnis zwischen den Posen von Voguing, Postmodern Dance und Modenschauen kennzeichnen? Im Folgenden wird zunächst der Begriff Pose im Kontext einer tanzwissenschaftlichen Betrachtungsweise gerahmt, um dann das spezifische Posieren der Performer in der Aufführung Antigone Sr. (L) darzustellen. Nach Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi und Stefanie Diekmann signalisieren Posen ein körperliches Sich-Zeigen (Brandstetter et al. 2012: 7) und verweisen auf eines »der ältesten Zeugnisse über die Pose« (ebd.), nämlich auf Domenico da Piacenza, der die Pose im Sinne einer Pause beschreibt (ebd.). Diese Pause bezeichnen sie als eine »zeitliche Gerinnung« (ebd.), die sie folgendermaßen bestimmen: »Der Körper wird durch das Innehalten in der Bewegung, in der Pose einen Moment lang zur Plastik, zum Bild« (ebd.). Diese gedankliche Verbindung zwischen Pose, Pause und Bild wird aufgegriffen, um »jene Zeitausschnitte, die den Bewegungsfluss unterbrechen« (2012: 8), in seinen »unterschiedlichen Stilformen und Varianten als Pose« (ebd.) zu beschreiben. Gleichzeitig können mit der Idee der Pause die choreografische Komposition, der tänzerische Ausdruck und das Zeiterlebnis der Zuschauenden erfasst werden (2012: 9). Um das Oszillieren zwischen dem Bewegungsfluss auf dem Catwalk und der Pose vertiefend zu erfassen, ziehe ich Brandstetter heran. Diese zeigt das Paradox der Pose zwischen Bild und Bewegung sowohl am Beispiel von Modenschauen als auch dem zeitgenössischen Tanz auf (Brandstetter 2007: 248‒265). Den Zustand zwischen Stillstand und Bewegung bestimmt sie folgendermaßen: »Das Paradox nämlich, dass die ›posa‹, die ›Pause‹, in der Bewegung immer schon zur Gesamtheit der Bewegung – zur Bewegungsfiguration – gehört; dass mithin das Anhalten bzw. das Stillstellen der Bewegung die Bedingung der Möglichkeit von Bewegungsausdruck sei: die Pose also als Grundfigur einer Geste« (2007: 257). Des Weiteren bestimmt sie das der Pose innewohnende Wechselspiel von Stilllegung und Bewegung als Kippfigur:

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Minute 44:50‒47:57.

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Voguing on Stage

»Beides, sowohl ›Still‹ als auch ›Motion‹ – im Doppelsinn des Begriffs movere als Bewegung und Bewegt-Sein – vermittelt zwischen picture und performance. So gesehen ist die Pose, als Figuration eines Figuralen (oder auch eines Figürlichen, wie der Begriff in der Bildwissenschaft verwendet wird), eine herausgehobene Raum-Zeit-Figur, die zwischen dem Einhalt und der Bewegung angesiedelt ist. Und eben in dieser Zwischen-Situation markiert die Pose jene Stelle, in der die Zeitlichkeit des Bildes sich einträgt. [...]. Wäre es nicht ein so abgegriffener und beinahe schon irreführender Begriff, könnte man hier von der Pose als einer ›Schnitt-Stelle‹ zwischen Bild und Performance sprechen.« (Brandstetter 2007: 257, Herv. i.O.) Brandstetter markiert die Posen als Zwischenräume, die sich im Vorgang der Aufführung bilden und auflösen. Das der Pose eingeschriebene Paradox von Bild und Bewegung ist folglich eine Körperpraxis, die sich während der Inszenierung dieser Bilder zeigt (2007: 257). Die Figur der Pose kann damit als inszeniertes Bild inmitten eines Bewegungsflusses gelesen werden. Das Umspringen von Bild in Bewegung und Bewegung in Bild erzeugt im Sinne von Brandstetter flüchtige Posen, wie sie auch bei Modenschauen zu sehen sind (2007: 258). Die Beziehung von Bild und Bewegung beschreibt einen Zwischenraum zwischen der Herstellung eines Bildes und dessen Auflösen durch das tänzerische Geschehen.81 Das der Pose innewohnende Paradox von Stillstand und Bewegung kann in Antigone Sr. (L) beobachtet werden, und zwar durch die Steigerung des Tempos und die damit verbundenen Änderungen des Schrittes sowie durch Drehungen und das Innehalten auf dem Catwalk. Die Dauer des Posierens variiert: Teilweise sind die Posen zeitlich klar markiert, indem die Performer innehalten. Manche Posen haben dagegen einen metamorphoseähnlichen Charakter und gehen ineinander über, sodass mögliche Haltepunkte übertanzt werden. Häufig fließen Posen und Walk ineinander. Immer wieder anders spalten sich die Posen vom Bewegungsfluss ab: Die Tänzer, die die gleichen Wege abschreiten, erzeugen ganz unterschiedliche Posen und Ausdrucksweisen. So erscheint der Tänzer Eagleton mit seinem zeitlupenähnlichen Schreiten erhaben und stolz. Die extreme Verlangsamung der Körperbewegung lässt das Gehen wie einzelne Bildaufnahmen erscheinen. Dennoch vereinen sich Gehen und Posieren im Bewegungsfluss. Ganz anders wirkt dagegen das Posieren des Tänzers Lac. Sein entspannter Gang über den Catwalk lässt ihn als lässigen Typ erscheinen. Dabei markiert das mehrere Sekunden andauernde Verweilen in einer unaufgeregten Pose den Wechsel vom Bewegungsfluss zur Stilllegung. Der Tänzer Vidlar erweckt mit seiner Pose den Eindruck der Erhabenheit. Er sieht

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Die Beziehung zwischen Bild und Bewegung wurde im Artikel »Voguing – Linien im Raum« (Krauß 2015) im Anschluss an Deleuze als Bewegungsbild betrachtet.

4. Voguing on Stage

aus wie ein Herrscher, der sich selbstbewusst und selbstverliebt seinem Volk gegenüberstellt.82 Diese Posen lassen sich meines Erachtens als Zwischenzonen beschreiben: zwischen dem Bewegungsfluss und dem Verweilen, zwischen der einen und der anderen Richtung, zwischen Bild und Bewegung, zwischen Neuentwürfen von Körperpräsentation und Zitaten von gesellschaftlich geprägten Körperpräsentationen als auch zwischen Voguing, Postmodern Dance und Modenschauen. Um das Verhältnis zwischen Bewegung, Bild und Ausdrucksweisen genauer fassen zu können, beziehe ich mich auf den Ansatz von Maria Weilandt zum Potenzial der Modelposen. Dieser basiert auf der Idee des Bildes, das einer Pose innewohnt. Weilandt geht Bezug nehmend auf die Zuschauer*innenebene davon aus, dass die Posen am Ende des Laufstegs eine bestimmte Form des Blickes provozieren: »Das Model macht sich in diesem Moment quasi selbst zum Bild, das nicht nur angeschaut, sondern auch gelesen, genossen und begehrt werden soll« (Weilandt 2016: 46). Die Posen seien »dezidiert auf Lesbarkeit hin angelegt« (2016: 51). Les- und deutbar werden sie deshalb, weil sie sich »aus einem Archiv kultureller Codes und (Mode-)Posenvorbilder speisen« (2016: 47). Selbst wenn Posen Normen stabilisieren, so Weilandt, bergen sie ein »Potential zur Widerständigkeit« (2016: 51) und schwanken zwischen Codierung und unterschiedlichen Lesbarkeiten (2016: 52). Diese Gedanken lassen sich auf die Posen der Performance Antigone Sr. (L) übertragen. Viele dort eingenommenen Posen verweisen auf einen Pool kultureller Codes, der den Beobachter*innen erlaubt, Posen und ihre Ausdrucksweisen zu identifizieren. Dies führt zu Aussagen der Art, der Tänzer Vidlar nehme die Pose eines Herrschers ein. Das widerständige Potenzial der Posen zeigt sich in Form von Ironie und parodistischen Vorführungen. Dabei wird die Parodie durch vestimentäre Grenzüberschreitungen, tänzerisches Verhalten und spezifische Ausdrucksweisen erzeugt. Dies kommt im Ausstellen von Stil- und Kleidermischungen zum Ausdruck, die nicht im Archiv kultureller Codes abgerufen werden können. Eigenwillige Bekleidungsstrategien verweisen spielerisch und humorvoll auf ihre Uneindeutigkeit. Das Spiel mit unkonventionellen Kleidungsstilen, einem oft übertriebenen Ausdruck und extrem variantenreichen Gangarten und Möglichkeiten des Posierens verstärkt den Eindruck eines widerständigen Potenzials. Geht man davon aus, dass sich Posen aus einem kulturellen Bilderrepertoire konstituieren und sich auf Vorgängiges beziehen, so die Argumentation von Brandstetter, Brandl-Risi und Diekmann (Brandstetter et al. 2012: 13), so zeigt die Pose das Vorgängige an der Oberfläche der Körper. Posen funktionieren somit als Übersetzung ikonografischer Bezüge und etablierter Körperbilder (2012: 15). Mit diesen Übersetzungsprozessen, so meine These, spielt Harrell in seinem choreografischen Schaffen. Indem er auf Modelposen rekurriert, das Posieren als 82

Minute 44:50‒47:57.

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tänzerisches Verhalten des Voguing zitiert und dieses teilweise in den Modus des Postmodern Dance transformiert, erzeugt er spezifische Posen. In Antigone Sr. (L) wirken diese wie eine Refiguration der Modefotografie. Gleichzeitig sind sie als Reminiszenz an die Ballroom-Kultur des Voguing lesbar. Die Körper erscheinen in Antigone Sr. (L) in einer bildlichen Dichte und erzeugen eine radikale Wirkung. Die verschiedenen Blickrichtungen auf die Figur der Pose dienen dazu, die spezifischen Ausdrucksweisen in der Performance zu beschreiben. Hierzu möchte ich im Anschluss an Fraueneder die Pose in Antigone Sr. (L) als »Vermittlungsfigur« (Fraueneder 2015: 158) zwischen Bild und Effekt betrachten. Diese Formulierung bezieht sich auf das mediale Verfahren der Fotografie, in dem der Akt des Posierens mit dem Effekt der Pose verknüpft wird. Übertragen auf die hier untersuchte Aufführung kann die Pose als Vermittlungsfigur zwischen Bewegungsbildern und Attitudes gelesen werden. Den Herstellungsprozess der Pose beschreibt Fraueneder folgendermaßen: »Die Pose verleiht dem Bild körperliche Realität und umgekehrt kann die Pose allein das Bild erzeugen« (2015: 169). Darin kommen zwei der Pose inhärente Prozesse, die sich gegenseitig bedingen, zum Ausdruck: die Bilderzeugung und das körperliche Agieren. Das Posieren kann folglich als körperliches Handeln, in dem ein Bild hergestellt wird, betrachtet werden. Das Potenzial einer so bestimmten Pose zwischen Bewegung und Bild ermöglicht das Ausstellen unterschiedlicher Körperbilder. Jackson definiert die Pose im Kontext des Ballrooms folgendermaßen: »Poses. These are arrested action at the end of phrases« (Jackson 2002: 37, Herv. i.O.). Im Ballroom ruft der Master of Ceremony häufig während eines Battles: »4-3-21 HOLD THAT POSE!/4-3-2-1 STRIKE-A-POSE !‹« (Bressin, Patinier 2012: 34, Herv. i.O.), um den Tanz mit einer spektakulären Pose zu beenden (ebd.). Der Ruf »›Hold that pose for me‹, [is] an indication to performers that the moment is over« (Moore 2018: 174). Die Bedeutsamkeit einer Pose erläutert Moore wie folgt: »The pose is essential for recording the final moment of the performance as well as for putting an exclamation point at the end. And this is right in line with Craig Owens’s idea of a pose as already being a picture. At the end of the day, a pose tells a story. It is the ultimate poetics of the self« (2018: 175). Nach Jackson, Bressin, Patinier und Moore bestimmt die Pose als choreografische Figur beim Voguing den letzten Moment eines Bewegungsflusses und zielt auf die Darstellung des Selbst. Mit Weilandt lässt sie sich als »Aktivität des Gangs über den Laufsteg« (2016: 46) beschreiben, bei dem »die Models vorübergehend in die (vermeintliche) Passivität des Stillstands, in ein Sich-Präsentieren bzw. Sich-Zeigen« (ebd.) verfallen. Die aus dem Kontext der Modewissenschaft entliehene Aussage Weilandts fokussiert den Moment der Selbstpräsentation. Übertragen auf Antigone Sr. (L) lassen sich die dort eingenommenen Posen strukturell als das Ende einer Bewegungsphrase bestimmen, das meist mit einem Richtungswechsel verbunden ist. Die Posen erzeugen Körperbilder, die z.B. auf

4. Voguing on Stage

gesellschaftlich geprägte Rollen verweisen: den erhabenen Typ, den coolen Typ oder den siegesgewissen Typ.83 Sie sind auch dann erkennbar, wenn diese Stereotypen ironisch überzeichnet werden. Während der Aufführung von Antigone Sr. (L) erscheinen auch neu konstruierte Körperbilder, die sich aufgrund ihrer Uneindeutigkeit nicht dem im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Bildarchiv zuordnen lassen. Sie werden so präsentiert, dass sie an der Oberfläche erfahrbar werden. Damit meine ich, dass es sich um sichtbare Konstruktionen handelt, der Herstellungsprozess wird offengelegt. Im Gegensatz dazu steht die Kategorie Realness, wie sie im Ballroom angestrebt wird. Harrell erklärt in Antigone Sr. (L): »Realness is when you try to be something you are not, but you try anyway and how close you did is your degree of the realness.«84 Hilderbrand beschreibt das Konzept Realness im Anschluss an seine Betrachtungen zum Film Paris is Burning als eine Form des »embodiment« (Hilderbrand 2015: 52). Damit weist er auf Prozesse hin, die ein scheinbares, nicht merkliches Verkörpern von unterschiedlichen Rollen ermöglichen. Auch Bailey verweist im Zusammenhang mit Realness auf »a technology of the self« (Bailey 2016: 32). Butler betrachtet Realness als Maßstab, um eine Performance beurteilen zu können, wenn sie meint: »›Echtheit‹ ist eigentlich nicht eine Kategorie, um die konkurriert wird; sie ist ein Maßstab, der angewandt wird, um eine gegebene Darstellung innerhalb der eingerichteten Kategorien zu beurteilen. Und gleichwohl ist das, was den Effekt der Echtheit bestimmt, die Fähigkeit, überzeugend und glaubwürdig zu sein, den naturalisierten Effekt herzustellen« (Butler 2014: 183). Mit diesen Vorstellungen, so meine Lesart, bricht Harrell. Denn beim Posieren während der Aufführung Antigone Sr. (L) geht es nicht darum, ein Selbst zu inszenieren, um den Effekt der Echtheit zu verkörpern. Vielmehr stellt der Choreograf Möglichkeiten der Inszenierung unterschiedlicher Körperbilder aus und legt dabei die Mechanismen der Konstruktion offen. Die in der Pose erzeugten Körperbilder verweisen auf eine Vielzahl an Verkörperungsprozessen. Dabei zeigt sich die Pose als Effekt von vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten.

4.3.3.2

Walk for Dance! Reflexionen zum Catwalk

Harrell kündigt die nächste Kategorie an: »The next category is prince on the runway.«85 Er sitzt auf dem Podest und wiederholt in Manier eines Rap-Gesangs immer wieder die Kategorie. Der Tänzer Eagleton tritt als Master of Ceremony auf, bekleidet mit einem weiten T-Shirt-Kleid, das seine nackten Beine zeigt, die aufgrund der High Heels unendlich lang erscheinen. Er hält ein Mikrofon in der Hand und kommentiert sowohl Harrells Aussagen als auch das Erscheinen der Tänzer.

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Minute 44:50‒47:57. Minute 59:45. Minute 52:22.

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Voguing on Stage

Zwischendurch verhalten sich Eagleton und Harrell, als wären sie Teilnehmer eines Voguing-Balls. Beim Auftritt des Tänzers Lac, der mit über der Schulter verknoteten Tüchern den Catwalk betritt, rufen sie: »Fake Hermès!« Manchmal werden die Gegner im Ballroom mit verbalen Äußerungen verspottet. Bressin und Patinier bestimmen das sogenannte »throwing shade« (Bressin, Patinier 2012: 215) als »insulte indirecte« (ebd.). In der folgenden Szene in Antigone Sr. (L) gehen die Tänzer mit extravaganten Kostümen und mit vielfältigen tänzerischen Ausdrucksformen über den Runway. Sie sehen aus wie Models und nutzen die von Harrells Fingern bis in den Zuschauerraum hinein gespannten Fäden als Hindernis, das ihnen vielfältige Formen des Überschreitens ermöglicht. Zuerst erscheint der Tänzer Vidlar: Er trägt ein schwarzes Jackett, eine Schulter ist entblößt. Ein schwarzes Objekt wird von ihm als Maske, als Hut und als Fächer benutzt. Eine schwarze Brille verleiht ihm eine intellektuelle Ausstrahlung. Er geht zielstrebig und zügig den Runway entlang, die Brille kurz zurechtrückend. Elegant und mühelos dreht er sich um seine eigene Achse und über die Fäden hinweg. Der Tänzer Thompson trägt den Ledermantel, den man bei der vorangegangenen Kategorie als Umhang sehen konnte, nun als Hose. Die Beine in den Ärmeln steckend, fällt die Ledermasse gleich einer Pluderhose. Ein weißer Turban bedeckt seinen Kopf. Das Jackett ist an den Schultern übertrieben stark ausgepolstert. Sein Tanz ist eine Referenz an den Tanzstil HipHop ‒ besonders dann, wenn er mit leicht gebeugten Beinen die Hüfte vor- und zurückschwingt. Beim Überwinden der Fäden beugt er seinen Oberkörper stark nach hinten. Mit großen Schritten, die Arme hin und her schwenkend, verlässt er den Runway. Der Tänzer Lac erscheint. Er trägt zwei zusammengeknotete Tücher im Stil des Pariser Modehauses Hermès, ein Knoten liegt über einer Schulter, der andere ruht auf dem Arm. Elegant, die Hand auf die Hüfte gestützt, stolziert er über die Fäden. Seine Hüften wiegen im Takt der Schritte. Am Bühnenrand angekommen, hält er seinen Arm hoch und gleicht einer griechischen Göttin oder der Tänzerin Isadora Duncan, die mit ihren griechisch anmutenden Gewändern und Körperdarstellungen als amerikanische Tanzpionierin in die Geschichte einging.86 Auf dem Weg zurück hält er inne und zieht sich die Unterhose aus. Wie eine Handtasche schwenkt er diese in übertrieben femininer Art.87 Der Tänzer Thompson ist mit einer Stola bekleidet, die oberhalb der Brust und der Hüfte gebunden ist. Sie wirkt wie ein Tutu. Er vollführt Bewegungen aus dem Ballettrepertoire.88

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Vgl. hierzu die Abbildungen von Isadora Duncan in Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien (Huschka 2002: 106, 109) sowie die Ausführungen über Duncan in Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band. Mit 101 Choreographenporträts (Schmidt 2002: 20‒23). Minute 55:29. Ende der Szenenbeschreibung: Minute 56:50.

4. Voguing on Stage

Die beschriebenen Szenen zeigen kaleidoskopartig eine vielfältige Tanzsprache. Unterschiedliche Tanzstile sind nacheinander zu sehen und vereinen sich im Gestus des Defilierens. Die Tänzer schreiten vor den Zuschauer*innen über die Bühne. Harrell erhebt das Gehen auf dem Catwalk zum Tanz. Um die spezifische Sichtweise auf den Catwalk, wie sie in Antigone Sr. (L) zum Ausdruck kommt, zu analysieren, werden Aussagen zum Defilieren im Ballett, zu Modenschauen, zu Voguing und dem Gehen im Postmodern Dance angeschlossen. Die Verbindung von disparaten Tanzstilen in der Aufführung Antigone Sr. (L) und die Rückbindung an theoretische Aussagen darüber, erfolgen vor dem Hintergrund der eigenen Betrachtung des Stücks und der Aussagen des Choreografen Harrell über seine Arbeitsweise. Nach Harrell handelt es sich bei seiner künstlerischen Arbeit um keine Verschmelzung von disparaten Konzepten: »I don’t do fusion. I’m usually dealing with very specific historical and theoretical operations« (Harrell in Blagburn 2017). Die theoretischen Operationen einer Rückbindung an unterschiedliche Konzepte, um die Runway-Bewegung als Tanz zu beschreiben und zu vollziehen, erklärt er wie folgt: »I have brought runway movement into dance as dance – a central part of this history of dance. This is a very complicated manoeuvre because of course it’s loaded with ideas that come from the fashion industry and the connotations of this and how people relate to it, and modelling. But runway movement – the défilé, the french word for it – was in the court of Louis XIV in the same place that ballet was being developed. Still to this day at the Paris Opera, when they begin the season, the dancers come in and do a défilé. So this was already in the history of dance but somehow it gets separated into the fashion industry.« (Harrell in Blagburn 2017) Diese Aussage spiegelt Harrells Verhältnis zum Catwalk als Form eines Tanzes wider. Im Anschluss an die Tanzgeschichte zieht er eine Verbindungslinie zwischen dem Runway und dem Defilieren. Liest man seine Choreografie Antigone Sr. (L) als ein einfaches Defilee, so wird das Gehen darin zum grundlegenden Element des Tanzens erhoben. Sein Interesse an den Bewegungen des Gehens gründen auf der Auseinandersetzung mit dem Postmodern Dance: »Postmodern dance was completely predicated on pedestrian movement. Running, walking, sitting, standing. But then voguing also deals with walking and standing, but they appropriated it from the fashion world« (Harrell in Moore 2014: 18). In dieser Aussage zeigt sich Harrells Blick auf tänzerische Formen, wie hier das Gehen, die in den verschiedenen Tanzströmungen des Voguing und des Postmodern Dance auf unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck kommen. Ein Blick in die Tanzgeschichte des Postmodern Dance und die Definition des Begriffs Catwalk im Ballroom erlaubt, die verschiedenen Ausdrucksweisen des Ge-

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Voguing on Stage

hens zu fassen, die sich meines Erachtens im tänzerischen Verhalten und choreografischen Vorgehen in Antigone Sr. (L) widerspiegeln. Die Tänzer*innen und Choreograf*innen Yvonne Rainer und Steve Paxton beschäftigten sich mit alltäglichen Bewegungsmustern wie dem Gehen. Rainer beschreibt Paxtons Aufführung Satisfyin’ Lover (1967) folgendermaßen: »Und als ich zum ersten Mal Stevens Gehtanz Satisfyin’ Lover gesehen habe, kam es mir so vor, als ob ich überhaupt zum ersten Mal jemanden gehen sah« (Rainer 2008: 16, Herv. i.O.). Beim Catwalk, als Tanzform des Voguing, dient das Gehen dem Vorführen des Selbst: »the catwalk, or how you parade yourself down the catwalk with an air of fierceness« (Moore 2018: 181). Harrell nimmt eine vergleichende Betrachtung zwischen Voguing und Postmodern Dance vor, indem das alltägliche Gehen als tänzerisches Bewegungsmuster immer wieder aufgenommen wird und gleichzeitig eine Parade an Präsentationsformen darstellt. Damit zitiert er ein Verständnis von Tanz im Sinne des Postmodern Dance und des Voguing. Auch die Catwalks der Modenschauen dienen ihm als theoretische Referenz und Möglichkeit, das Gehen als Tanz erweitert zu denken. Der Choreograf Harrell ist jedoch nicht an der Rekonstruktion einer Modenschau interessiert: »The fashion runway is reinterpreted as a formalist device« (Harrell in Barbican 2017: 21). In Antigone Sr. (L) nutzt er den Runway als Form und Struktur, die er mit dem Tanz füllt. Die Form der Modenschau dient ihm als choreografische Raumform, die er mit unterschiedlichen Bewegungsformen des Gehens interpretiert.

4.3.3.3

Pose und Catwalk zwischen Voguing und Postmodern Dance

Um eine Betrachtungsweise im Kontext des Postmodern Dance auszuloten, werden nun Gedanken der Tanz- und Theaterwissenschaftlerin Sabine Huschka auf die Aufführung Antigone Sr. (L) übertragen und anschließend kritisch reflektiert. Im Anschluss daran werden Pose und Catwalk mit dem Konzept Camp gelesen. Diese diskursive Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Konzepten dient dazu, die Ausdrucksweisen sowohl der Pose als auch des Catwalks während der Aufführung Antigone Sr. (L) als Schnittmenge von Voguing und Postmodern Dance zu befragen. Mit dem Begriff Ausdrucksweise werden im Folgenden Formen der Repräsentation bezeichnet. Huschka beschäftigt sich im Anschluss an die Betrachtungen zu Yvonne Rainers Stück Trio A (1966) und den Arbeiten von Trisha Brown, Lucinda Childs und Steve Paxton mit zentralen Konzepten des Postmodern Dance. Sie stellt fest, dass dem Begriff Postmoderne und Postmodern Dance durch das Präfix post ein doppelter Bezug eingeschrieben ist, der sich in seiner Rückbindung an die Moderne und deren Überwindung äußert (Huschka 2002: 247). Nach einer kritischen Lektüre von Sally Banes (1987), Roger Copeland (1983) und Hans-Thies Lehmann (1999) konstatiert sie, dass deren Auseinandersetzungen mit Postmodern Dance bzw. Postdramatischem Theater zwar historische Fakten, ästhetische Beschreibungen, cho-

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reografische Merkmale postmoderner Aufführungen und epochale Zusammenbindungen von Werken liefern, jedoch keine praktikablen begrifflichen Bestimmungen (Huschka 2002: 249‒250). Sie verweist auf die »immense Bandbreite postmoderner Strategien in ihren jeweiligen choreographischen und aufführungsästhetischen Experimenten« (2002: 250) und erläutert, dass sich dennoch »ein charakteristisches ästhetisches Profil des postmodern dance beschreiben« (ebd.) lasse. Trotz der Unschärfe (2002: 247) und Unbestimmtheit (2002: 248) des Begriffs ›postmodern‹ listet sie im Anschluss an Umberto Eco (1984) und Wolfgang Welsch (1994) folgende, diesen beschreibende Eigenschaften auf: »Unbestimmtheit, Fragmentarisierung, Hybridisierung, Aleatorik, Offenheit der Form, Auflösung des Ich, Pluralismus, A-Referentialität und Selbstreferentialität« (2002: 248). Mit Welsch (1994) folgert Huschka, dass ein Werk, »um als postmodern zu gelten, einen Pluralismus aufweisen [muss], der sich in dem Zusammenfügen disparater Mittel und im Umgang mit seinem Material artikuliert« (ebd.). Robert Atwood postuliert in seinem Artikel zum Postmodern Dance: »Ein wichtiges Mittel der Postmodernen ist die ›radikale Gegenüberstellung‹, d.h. man schafft unerwartete Beziehungen zwischen bislang unvereinbaren Elementen auf der Bühne« (Atwood 2001: 172). Die Abhandlung Huschkas zeigt, dass der Begriff Postmoderne im tanzwissenschaftlichen Kanon disparat und erklärungswürdig ist. Postmodern Dance wird im Kanon der Tanzgeschichte unter anderem als Terminus verwendet, um die Arbeiten des Judson Dance Theater zu Beginn der 1960er Jahre zu kategorisieren. Die Repräsentationsform des Körpers im Postmodern Dance beschreibt Huschka als eine »unnarzisstische Haltung der eigenen Bewegung gegenüber« (Huschka 2002: 255), nicht unbewusst vollzogen, jedoch als eine Art »quasi subjekt-dezentrierte[r] Präsentation von Bewegung« (ebd.). Das Judson Dance Theater verfolge eine »Angleichung [der] Bewegungs- und Aufführungsästhetik an alltägliche Erscheinungsformen« (2002: 253), die »einer funktionalen Ausführung von Bewegung entsprechen« (ebd.), die »ästhetische Qualität« (ebd.) trage den »Gestus des Gewöhnlichen« (ebd.). Überträgt man Huschkas Ausführungen auf Antigone Sr. (L), kann man die Posen und Catwalks als »unaufgeregte Ästhetik des Alltäglichen« (2002: 255) beschreiben. Sie »behaupten eine tänzerische Realität, die weder eine Hyperästhetisierung des Körpers noch eine bewegungsästhetische Illusionierung aufzubauen sucht« (2002: 251). Harrell rekurriert auf eine postmoderne Verfahrensweise, indem er unterschiedliche Tanzströmungen miteinander verbindet und mit dem Material des Körpers artikuliert. Er schafft damit eine unerwartete Beziehung zwischen Voguing und Postmodern Dance, welche die Ausdrucksweise von Pose und Catwalk prägt. Die Posen werden in Antigone Sr. (L) im Gestus des Gewöhnlichen in einer unaufgeregten Art des Posierens aufgeführt: Entspannte Körper präsentieren vielerlei Kostüme, Tanzstile und Körperhaltungen. In den Bewegungsausführungen der Performer auf dem Catwalk wird der minimalistische Charakter von ein-

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fachsten Drehungen, eingenommenen Posen, kleinen Sprüngen evident, die zwar manchmal das Ballett oder die Bewegungssprache des Voguing zitieren, doch diese keineswegs in ihrer Kunstfertigkeit ausführen (siehe Abbildung 4).

Abb. 4: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Harrell 2012), Trajal Harrell, Steve Thompson, Fotograf*in: Miana Jun, 2012 Copyright Trajal Harrell.

Beinahe gleichmütig und beiläufig präsentieren die Tänzer die erste Kategorie: »The King’s Speech«. In der Art und Weise der von den Tänzern vorgeführten Posen und Catwalks offenbart sich, so meine Lesart, das Konzept des Postmodern Dance. Dabei folgt diese Lesart den Deutungen Huschkas zum Postmodern Dance. Allerdings genügt diese Betrachtungsweise nicht, um die Darstellung der Übertreibung und Künstlichkeit, wie sie in der Aufführung zum Ausdruck kommen, zu erfassen. Auch wenn die Posen und Catwalks in einer Beiläufigkeit ausgeführt werden, zeigt sich in dem Spektakel eine gewisse Opulenz. Diese Lesart möchte ich mit dem No-Manifest (1965) von Yvonne Rainer und den Camp-Thesen Notes on ›Camp‹ (1966) von Susan Sontag verdeutlichen. Die fast zur gleichen Zeit formulierten Thesen verweisen auf zwei gegensätzliche ästhetische Ansichten.89 89

Der Tanzwissenschaftler André Lepecki versammelt in dem von ihm herausgegebenen Buch Dance. Documents of Contemporary Art (2012) künstlerische Dokumente, welche »no longer grounded in traditional aesthetics« (Lepecki 2012: 5) sind. Yvonne Rainers Reflexionen über den Tanz münden unter anderem in das sogenannte No-Manifest. Weitere Ausführungen

4. Voguing on Stage

Mein Lektürevorschlag ist, das No-Manifest als Grundlage für eine radikale Gegenüberstellung von Postmodern Dance und Voguing zu nutzen. Das No-Manifest von Yvonne Rainer lautet: »No to spectacle, no to virtuosity, no to transformations and magic and makebelieve, no to the glamour and transcendency of the star image, no to the heroic, no to the anti-heroic, no to trash imagery, no to involvement of performer or spectator, no to style, no to camp, no to seduction of spectator by the wiles of the performer, no to eccentricity, no to moving or being moved.« (Rainer in Lepecki 2012: 24) Die Umkehrung des Manifests, so meine Lesart, entspricht dem Charakter von Antigone Sr. (L). Die Aufführung gleicht den kulturellen Praktiken des Ballrooms. Die Auftritte der Tänzer sind glamourös, kitschig und camp, um einige der Zuschreibungen herauszugreifen. Mit dem Begriff Camp beschreibt Susan Sontag eine Erlebnisweise, die allerdings nur schwer verhandelbar sei (Sontag 2015: 322). Sie meint: »Indeed the essence of Camp is its love of the unnatural: of artifice and exaggeration« (Sontag 2018: 1), die Erlebnisweise Camp verwandle »das Ernste ins Frivole« (Sontag 2015: 322) und sie unterliege der Subjektivität (2015: 322). Um diese Erlebnisweise festzuhalten, formuliert sie 58 Thesen. Im Stück Antigone Sr. (L) wird meines Erachtens die Kunstmäßigkeit und Stilisierung, die charakteristisch für die Erlebnisweise des Camp ist, zum Ausdruck gebracht, und zwar in der Inszenierung von Kleidung und Elementen des visuellen Dekors (Sontag 2018: 6) und in der Liebe zum Übertriebenen (Sontag 2018: 8). Sontag schreibt: »Camp is a woman walking around in a dress made of three million feathers« (2018: 16‒17). Diese Ausdrucksform zeigt sich in Antigone Sr. (L) in extravaganten Kostümierungen, bestehend aus alltäglichen Kleidungsstücken, die aber hyperbolisch inszeniert werden. Die Kostüme stehen im Gegensatz zur Kostümwahl des Judson Dance Theater, in dessen Arbeiten es üblich war, dass Männer und Frauen gleich gekleidet waren (Anderson in Barbican 2011: 75); bevorzugt wurde der »unisex look« (Heiss in Barbican 2011: 75). Die Wahl des Kostüms basierte auf der Idee »on wanting neutrality« (Brown in Barbican 2011: 75).90 Zusammengefasst: Die Inszenierung von Kleidung lässt

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zum Konzept Camp werden von Stefanie Roenneke in ihrem Buch Camp als Konzept. Ästhetik, Popkultur, Queerness (2017) und in dem von Andrew Bolton herausgegebenen Ausstellungskatalog Camp. Notes on Fashion (2019) dargestellt. Die Erlebnisweise des Camp betrachtet Yilmaz Dziewior im Kontext der früheren Arbeiten von Yvonne Rainer. Im Fokus seiner Betrachtung stehen die Überlegungen zum sozialen Geschlecht. Er bezeichnet das Verhältnis der Arbeiten Rainers zur Erlebnisweise Camp als ambivalent (Dziewior 2012: 67). Dziewior versucht nachzuweisen, dass, obwohl Rainer die Erlebnisweise des Camp ablehnte, diese in ihren Werken, bezogen auf die Kategorie soziales Geschlecht, zum Ausdruck kommt.

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sich der Erlebnisweise Camp, das Gehen, das auf dem Catwalk ganz un-exzentrisch praktiziert wird, den Aussagen des No-Manifests zuordnen. Indem Harrell Pose und Catwalk zwischen dem Postmodern Dance und dem Voguing situiert, verschieben sich Aussagen des Voguing in Bezug auf die Selbstdarstellung. Im Kontext des Ballrooms bieten die Präsentationsformen des Voguing »opportunities in which all people can fit in somewhere and demonstrate their skills and attributes« (Bailey 2016: 171) sowie das direkte Ausstellen des Körpers, das getragen ist vom »engagement of the entire body in the performance« (2016: 173). Im Voguing wird der Körper bewusst präsentiert, ausgestellt und mit Identitäten aufgeladen. Diese subjektzentrierte Ausdrucksweise wird meines Erachtens in der Aufführung Antigone Sr. (L) hin zu einer subjektdezentrierten Körperpräsentation verschoben. Das bewusste Ausstellen des Selbst und des Körpers, das dem Voguing eigen ist, wird zu einem unbestimmten Ich. Um diese These zu untermauern, beschäftige ich mich im Folgenden mit dem Verhältnis zwischen Selbstdarstellung im Modus von Realness und Authentizität. Rainer erklärt den sogenannten realistischen Ansatz in den 1960er Jahren wie folgt: »Einer der Aspekte dessen, was später als realistischer Ansatz in den Künsten bezeichnet wurde, ist, dass wir nicht versucht haben, uns in Personen zu verwandeln. Wir sind von der Idee ausgegangen, dass der menschliche Körper an sich expressiv ist, dass er keine dramatische oder psychologische Transformation braucht, um zu einem Kommunikationsmittel zu werden.« (Rainer 2008: 20‒21) Mit dem realistischen Ansatz werden Verkörperungen beschrieben, die expressive und dramatische Ausdrucksweisen ausschließen, psychologisch motivierte Verwandlungsprozesse werden negiert. Harrell stellt dem »contemporary dance, primarily through the rejection of spectacle, virtuosity and make-believe and the production of a democratic body and authenticity« (Harrell in Barbican 2017: 22‒23) die Tradition des Voguing gegenüber. »Alternatively, the voguing tradition uses constructions of gender, artificiality and social roles to critique authenticity and democracy’s representation« (2017: 23). Er verweist auf die Offenlegung von Konstruktionsmechanismen bezogen auf die Kategorie Gender sowohl im künstlerischen als auch im soziokulturellen Bereich. Er kritisiert das Konzept vom scheinbaren authentischen Körper und bezieht sich dabei auf die Kategorie Realness: »[R]ealness operates precisely by blurring the line between perceptions and constructions of the fake and the real« (2017: 23). Harrell konfrontiert den in der BallroomCommunity vertretenen Maßstab der Realness mit dem sogenannten authentischen Körper des Postmodern Dance und sieht den bewussten Umgang mit der soziokulturellen Kategorie Gender in der Tradition des Voguing. Damit entlarvt er den im Sinne des Judson Dance Theaters betrachteten neutralen und demokratischen Körper als Fiktion: »The lens of voguing allowed me to see that the idea that Judson had produced a neutral and democratic body was partly a fiction« (2017: 23). Meines Er-

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achtens befragt Harrell mit seinem choreografischen Vorgehen das Verhältnis von expressiven Körperpräsentationen, wie sie im Voguing vorzufinden sind, und Körpern, die an sich expressiv sind und keiner Aufladung bedürfen, so wie dies im Postmodern Dance betrachtet wird. Giersdorf hebt in seiner Betrachtung von Antigone Sr. (L) auch die beiden unterschiedlichen Repräsentationsformen Realness und Authentizität hervor (Giersdorf 2013: 584). Das in der Voguing-Szene vorherrschende Konzept Realness beschreibt er als eine »bewusst nicht naturalistische Form der Repräsentation« (2013: 585), während das Konzept der Authentizität im Postmodern Dance in der Ablehnung von Theatralität gründe (2013: 584). Diese Repräsentationskonzepte treten in Antigone Sr. (L) miteinander auf, wie auch die Tanzkritikerin Lotte Marlene Thaa unterstreicht: »C ombining voguing’s ›realness‹ and early postmodernism’s search for ›authenticity‹, Harrell gives a fascinating answer to the omnipresent question how the postmodern and thus postironic subject (of dance) can convey a statement, emotion, or anything that goes beyond a blasé shrug of the shoulders« (Thaa 2013). Harrell selbst erklärt seine Arbeit zwischen den scheinbar gegensätzlichen Strömungen des Voguing und Postmodern Dance wie folgt: »I was stunned to find out that voguing and Judson era postmodern dance starting around the same historical time in the 1960’s—one downtown in Greenwich Village and one uptown in Harlem. Therefore since 2001, my work has been imagining that the two actually came together in dialogue to question and reflect together both politically and aesthetically [b]y hosting this conversation on the architectural stage space of the fashion runway (an ode to both traditions’ use of pedestrianism), I have tried to invent performative strategies oscillating between voguing’s ›realness‹ and early postmodernism’s ›authenticity‹. [...] This realness turns out to reveal the artificiality being performed at the root of all social identities. I am most interested in how the imagination can re-think the ›omissions‹ of history. In this way, performance can be a way in which we collectively reimagine the impossibilities of history and thus make room for new possibilities in the world we make today.« (Harrell in New York Live Arts 2018) Harrell inszeniert die scheinbare Unvereinbarkeit von Voguing und Postmodern Dance. Die gleiche zeitliche Verankerung der beiden Strömungen in New York habe ihn dazu gebracht, sie in einen Dialog treten zu lassen, um deren politische und ästhetische Ansätze zu reflektieren. Er greift die performativen Strategien Realness und Authentizität heraus und setzt sie miteinander in Beziehung. Folgt man dieser Lesart, so werden in Antigone Sr. (L) Pose und Catwalk im Darstellungsmodus der Postmoderne ausgestellt und erzielen dennoch den Effekt einer überbordenden ästhetisierten Körperlichkeit, wie sie beim Voguing anzutreffen ist. Trotz der einfach erscheinenden Bewegungsausführungen von den Tänzern Harrell, Eagleton, Lac, Thompson und Vidlar ist ihre Eindrücklichkeit groß.

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Die kritische Perspektive auf die Tanzbewegungen Voguing und Postmodern Dance ermöglicht, die Posen und den Catwalk, bestehend aus simplen Handbewegungen, einfachen Stilllegungen oder Verzögerungen sowie minimalistischen Bewegungssequenzen, in der Bewegungssprache des Postmodern Dance und im opulenten und kreativen Gewand des Voguing erscheinen zu lassen. Dabei bestimmt das Konzept des Postmodern Dance die Attitude. Allerdings geschieht dies in der Aufführung Antigone Sr. (L) im Sinne einer konstruierten Authentizität, d.h., dass es die Authentizität auf der Bühne nicht gibt, sondern stets nur Konstruktionen und Formen der Präsentation und Repräsentation, wie sie in der Kategorie Realness zum Ausdruck kommen.

4.3.4

Twenty Looks! Eine vestimentäre Performance »A ballroom layout is like that of a fashion show, with a long T-shaped runway that stretches out into the center of the room.« (Susman 2000: 118)

Nachdem die Tragödie Antigone weitergesponnen wird, nennt Harrell die Kategorie »The Mother of the House«, die sich in das Narrativ der Tragödie einschreibt. Die Figur Antigone wird von Harrell verkörpert. In dieser Rolle beklagt er, dass es nun die Aufgabe sei, der Mutter Halmons, Königin Eurydike, den Tod ihres Sohnes mitzuteilen. Stummfilmmusik setzt ein, Harrell geht mit dem Laptop an die Seite des Bühnenraums, der sich verdunkelt. Dies verleiht der Szene eine dramatische Stimmung. »The Mother of the House« heißt es, wenn der Tänzer Lac mit einem weißen Männerunterhemd und einer Jogginghose bekleidet, barfuß und auf Zehenspitzen, zu klassischer Musik hereinschreitet. Über die Jogginghose hat er eine graue Stola wie einen Rock gebunden, eine gelbbraune Stola trägt er als Schleier (siehe Abbildung 5).91

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Minute 1:07:02.

4. Voguing on Stage

Abb. 5: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Harrell 2012), Thibault Lac, Fotograf*in: Bengt Gustafsson, 2012 Copyright Trajal Harrell.

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Die Hände auf die Hüften stützend, geht er langsam die Bahnen entlang. An einem Ende angelangt, fasst er an den Schleier und streicht über diesen, als seien es lange Haare. Später zieht er ihn vom Kopf, darunter zeigt sich ein schwarzer Turban. Schwungvoll tritt nun der Tänzer Thompson in einem roten Stretchkleid auf, das am Po und an den Brüsten ausgepolstert ist und diese überdimensional groß erscheinen lässt. Die Ausstülpungen erinnern an die Kleidobjekte der japanischen Modedesignerin Rei Kawakubo für ihr Label Comme des Garçons in Paris im Jahre 2005, bei denen das Gesäß überdimensional vergrößert ist (Loschek 2011: 413). Ihr geht es allerdings nie um eine geschlechtertypische Mode oder um »die Ausstellung weiblicher Körper als erotische oder sexuell verführerische Körper. Sie behandelt den Körper vielmehr als dreidimensionalen Raumkörper, den sie zusammen mit ihren Kleidern zu einer lebenden Skulptur von neuartiger, nie dagewesener Formgebung macht« (Lehnert 2003: 13). Im Sommer 1997 zeigte Rei Kawakubo »Kleider mit Buckeln und Beulen jeder Art« (ebd.). Möglicherweise greift der Choreograf Harrell diese textilen Raumskulpturen auf, um sie in spielerisch veränderter Form zu zitieren und um vielfältig gekleidete Körper als vestimentäre Performance zu inszenieren. Von dieser Annahme ausgehend, werde ich die folgenden Szenen beschreiben. Eagleton tritt mit einem Stock auf, um den er sich am Ende seines Catwalks dreht. Er entblößt seine Schulter, indem er die schwarze Jacke herunterzieht. Seinen Kopf bedeckt ein silbern glänzendes Tuch. Im langen, weißen Kleid mit Volants am Saum wirkt er, als würde er ein Abendkleid präsentieren. Vidlar, wie die anderen auf Zehenspitzen gehend, präsentiert seinen Ledermantel so, als handele es sich um eine Stola. Dabei stecken nur seine Unterarme in den Ärmeln des Mantels. Ein weißer Stoff ist in Manier eines Neckholderkleids gebunden, am Saum schaut ein plüschig wirkendes schwarzes Textil hervor. Als Accessoire trägt er einen Stoff um den Kopf gebunden. Er wirkt damit wie eine Merveilleuse, eine übertrieben modisch gekleidete Dame im Stil des Directoire gegen Ende des 18. Jahrhunderts (Loschek 2011: 375).92 Der Tänzer Thompson hält sich ein hellblaues, sommerlich anmutendes Kleid vor seinen Körper. Nur die Arme stecken bis zur Armbeuge in den kurzen Ärmeln des Kleides. Es legt den nackten Rücken frei, ein schwarzes Tuch liegt als schmale Stola auf seinen Armen. Beim Drehen und Defilieren wird die Unterhose sichtbar. Lac trägt eine Jogginghose auf dem Kopf, bei der die Hosenbeine an den Seiten zu Schnecken geformt sind, sie gleicht einer Frisur. Lac betritt den Laufsteg. Sein Look ‒ er ist mit einem schwarzen, langärmeligen T-Shirt und einer schwarzen Anzugshose gekleidet ‒ wird von Harrell mit den Worten »Jil is back in the House of Jil

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Minute 1:10:50.

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Sander« und weiter »Welcome back, Jil« empfangen.93 Der Tänzer läuft locker und leger den Laufsteg entlang, seine Erscheinung erinnert an die puristische Mode Jil Sanders: gedämpfte Farben ohne Dekor und Übertreibungen (Loschek 2011: 588). Sich zum Publikum hinwendend fragt Harrell: »What do you think takes so long? Hmm, I think they’re are doing cocaine.« Der Tänzer Eagleton wird mit den Worten begrüßt: »This is Gabrielle, before she was C oco. [...]. She stole this from the archive. Don’t tell, we gonna give it back.«94 Ein schwarzes Textil imaginiert das »kleine Schwarze« (2011: 538), eine weiße Tüte dient als Handtasche, zwei aneinander geknotete Tücher werden hinterhergezogen. Eagleton wirkt elegant. Lac erscheint nun zum zweiten Mal in der schwarzen Anzugshose und einem Jackett, das allerdings auf dem Rücken zugeknöpft ist. Harrell kommentiert Lacs Erscheinen mit den Worten: »Don’t worry, it’s not Jil, it’s Saint Laurent. Saint Laurent circa 1963. Le Smoking.«95 Sein Erscheinen erinnert an dessen avantgardistische Konzepte und seinen Smoking für Frauen der 1960er Jahre.96 In der hier beschriebenen Szene zeigt sich eine enge Wechselwirkung zwischen Körperinszenierung im Tanz und in Modenschauen. Das Beziehungsgefüge zwischen Körper, Kleidung und Choreografie wird im Weiteren ausgehend von der Mode- und Tanzwissenschaft bestimmt. Dazu werden die Möglichkeiten von bekleideten Körper-Präsentationen im Spannungsfeld von Voguing, Postmodern Dance und Modenschauen ausgelotet. Harrell verweist selbst auf dieses enge Zusammenspiel, wenn er meint: »2012 bin ich mit ›Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church‹ bekannt geworden. Für dieses Stück habe ich meinen Arbeitsstil geändert – und meine Sicht auf Modespektakel verändert. Bei Recherchen über Voguing stieß ich auf die enge Verwandtschaft von Modepräsentationen auf dem Laufsteg und dem frühen Post Modern Dance« (Harrell in Fischer 2019: 31). Diese Ausführung des Choreografen Harrell, die das enge Beziehungssystem von Mode und Tanz in seiner künstlerischen Arbeit reflektiert, bildet die Ausgangslage der folgenden Argumentation. Anschließend wird anhand der Beschreibungen der Kostüme und dem Ereignis auf der Bühne die Performance Antigone Sr. (L) in den Kontext von tanz- und modewissenschaftlichen Aussagen gestellt. Theorien, die mit dem Begriff Mode und Kostüm operieren, tragen somit dazu bei, die Performance Antigone Sr. (L) als vestimentäre Performance lesbar zu machen. Moore, Wissenschaftler*in der Performance Studies, konstatiert, dass das Beziehungsgeflecht zwischen Tanz und Mode in den choreografischen Arbeiten von Harrell nicht zufällig ist. In seiner Untersuchung »Walk for Me. Postmodern Dance 93 94 95 96

Minute 1:12:08. Minute 1:13:25. Minute 1:14:00. Siehe dazu den Eintrag »Saint Laurent, Yves« in Loschek Reclams Mode- und Kostümlexikon (2011: 587).

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in the House of Harrell« (Moore 2014) stellt er eine bewusste Inszenierung der Wechselwirkung von Mode und Körper fest (2014: 21). Die Tanzwissenschaftlerin Ariel Osterweis meint, dass Harrell das Modeln als einen Prototyp des frühen Voguing betrachtet und Modenschauen von der Perspektive einer verkörperten Weiblichkeit ausgehen (Osterweis 2017: 110). Tavia Nyong’o, Wissenschaftler der Cultural Studies, beschreibt die Position Harrells zur Mode folgendermaßen: »Twenty Looks takes refuge in the fragment, in the detail, in the vintage garment, and in the idiosyncratic practices of collection in the fashion world. If the fashion system seems even easier to parody than the art world, Twenty Looks defies mockery in its sustained and sincere attention to the manner in which couture puts together a look. Whether it is loud vogue ball announcements called out in the staid galleries of the MoMA in New York, or sleeping dancers in the House of World Cultures in Berlin, Harrell performs a subtle but distinctive art of institutional critique.« (Nyong’o 2017: 256, Herv. i.O.) Nyong’o betrachtet Harrells laufstegähnliche Performances der Serie Twenty Looks als Ausdruck von Kritik und als Form von Aufführung. Im Zusammenstellen vielfältiger Kleidungsstile werde das Modesystem parodiert. Die Inszenierung spiegle nicht nur eine Aufmerksamkeit gegenüber vestimentären Kreationen wider, sondern zeuge auch von einer Institutionskritik. Des Weiteren sieht Nyong’o das Vorführen von Kostümen als Aufführung: »And the looks the dancer-choreographer gave over the course of performing in his own pieces – – many more than twenty looks of anguish, effort, attraction, repulsion, interest, amazement, sadness, fatigue, grimace, seduction, surprise, care, concern, regret, dejection, incitement, lust, anger, side-eye, shade, signification, transport, triumph, pain and abandon – – were performances in themselves.« (Nyong’o 2017 : 257) Die vielfältigen Looks und Kleiderwechsel, die in Harrells Aufführungen gezeigt werden, beschreibt Osterweis folgendermaßen: »Harrell’s twenty looks are discursively delineated from the onset, as he begins his piece by handing out a cheat sheet of looks [...], Harrell’s indicates his twenty looks by turning the pages of a propped-up sketchbook. Numbers charting performance ability are transformed into numbers that distinguish gender types« (2017: 104). Auch wenn sich Osterweis und Nyong’o auf das Stück Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (S) aus dem Jahre 2009 beziehen, lässt sich meines Erachtens ihre Position zur Kleiderinszenierung durch Körper ebenso auf die anderen Stücke der Serie übertragen. Ich folge ihren Aussagen, um das Zusammenspiel von Körper, Kleid und Aufführung als »performative[n] Realisation« (Loschek 2007: 95) oder als vestimentäre Performance lesbar zu machen. Zur performativen Realisation zählen nach Ingrid Loschek die fotografische Inszenierung, die Träger*innen

4. Voguing on Stage

oder das Ausstellungsstück im Museum (ebd.). Sie geht davon aus, dass in der performativen Realisation, die/der Designer*in die Möglichkeit hat, den spezifischen Charakter der Kleidung aus ihrer/seiner Sicht heraus darzustellen (ebd.). Vor diesem Hintergrund nutze ich den Begriff vestimentäre Performance, um die Aufführung bekleideter Körper in Antigone Sr. (L) hinsichtlich des spezifischen Charakters der Kleidung und der Körperpräsentation, welche sich in einem Zusammenspiel bedingen, zu betrachten. Harrell beschreibt sein Interesse an Mode und das Potenzial von Mode folgendermaßen: »I take fashion very, very seriously, [...] I don’t mean that I take clothing seriously; what I take seriously is how clothing can become material culture, what it can say about society, and how we use it in terms of what we want to project of ourselves. And of course there’s the whole culture of voguing, and how it has appropriated so much from fashion.« (Harrell in Porter 2017: 4) Demnach erschafft Harrell bekleidete Körper, die nicht nur einen Möglichkeitsraum für vestimentäre Experimente eröffnen und kreatives Potenzial freisetzen, gesellschaftliche Muster präsentieren und Selbstpräsentationen ermöglichen, sondern auch dazu dienen, Muster aufzubrechen, um Konstruktionen auszustellen. Die bekleideten Körper in Antigone Sr. (L) eröffnen durch ihre Abweichungen und dem Sich-Widersetzen eines Tragbarkeitsanspruchs neue Denkräume bezogen auf den bekleideten Körper im Bühnenraum. Harrells Vorgehen entspricht einer »konstruktive[n] Ästhetik« (Brandstetter 1998: 171)97 in dem Sinne, dass Kleider in ihrer Theatralität betrachtet werden. Dabei lösen sich die Unterschiede von Kultur und Kunst, von Bühne und Laufsteg »im Gestus des Inszenierens von Körper und Bewegung [auf]; und das Medium dieser Inszenierung ist das Textil« (1998: 171). Das heißt, dass mit dem Kostüm zwar eingewobene Kulturmuster inszeniert werden, diese jedoch auf dem Laufsteg der Performance Antigone Sr. (L) einer theatralen Inszenierung gleichkommen. Im Fokus der Analyse steht das vom Körper getragene Textil. Ausgehend von dieser These wird der Verfremdungseffekt, der im Bruch mit den Gestaltungskonventionen von Kleidung zum Ausdruck kommt, ausgelotet. Grundannahme dabei ist, dass die Performer eine Eigenständigkeit von Körpern im Kontext von Voguing, Postmodern Dance und Modenschauen herstellen. Indem Harrell ursprüngliche Kleidungsfunktionen unterläuft oder überformt und diese auf der Theaterbühne aufführt, inszeniert er ein spezifisches Verhältnis von Körper, Kleid und Choreografie. Im Anschluss an Brandstetter meine ich, dass die spezifische »Korrespondenz von Körper- und Kleider-Choreographie« (1998: 97

Zu dieser Aussage kommt Brandstetter in ihrem Gedankengang zu den Arbeiten von Mariano Fortuny und Issey Miyake, sie spricht dabei mit den Worten des Kulturkritikers Felix Poppenberg (1907/1908) (1998: 171).

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184) mehr als eine Bekleidung von Performern ist, nämlich eine Übertragung von Kleidung hin zu einem bewegten Körper und bewegtem Textil. Dabei, so die hier zugrunde gelegte Annahme, werden an der Oberfläche von Körpern bekleidete Körper konstruiert. Diese rekurrieren auf Voguing-Performances, in denen das Sich-Kostümieren und die Darstellung von Körpern auf dem Runway eine zentrale Rolle spielen. Moore meint: »Performing fabulousness at the vogue ball is ultimately about a poetics of the self« (Moore 2018: 176). Voguing sei eine Form von kreativem Ausdruck (2018: 190). Tara Susman, die Voguing unter dem Aspekt der »Fashion Culture« (Susman 2000: 117) betrachtet, meint: »The role fashion plays in the Balls cannot be overemphasized« (2000: 120). Exemplarisch steht hierfür folgende Aussage: »An outfit must be worn well, fitted with fashionable complementary accessoires, and brought to life by a child with an ›ovah‹ runway walk« (2000: 129). Die Beziehung zwischen der Ball-Kategorie Bizarre und den Kostümen beschreibt sie folgendermaßen: »The category demands that clothing transform a person into a fantastical being, and the practice of fashion becomes the practice of magic« (2000: 130). Nach Bailey basiert die Hervorbringung von »sex, gender, and sexual identification« (Bailey 2016: 31) auf »expressing performative identities through fashion« (2016: 32). Der Ethnologe und Geschlechterforscher Lüder Tietz betrachtet, ausgehend von dem Dokumentarfilm Paris is Burning, Voguing als eine »Form der Dress-Performanz« (Tietz 2015: 278, Herv. i.O.).98 Diese Aussagen aus dem Kontext des Ballrooms bringen die Bedeutung von Kostümen auf den Bällen zum Ausdruck. Sie spiegeln die Verschränkung von Mode und Voguing wider und verweisen auf die Möglichkeit von Selbstdarstellung, kreativer Ausdrucksweise, der Transformation von Personen und Gender-Inszenierungen mittels des Kostüms. Daran lässt sich meines Erachtens die Position Lehnerts anschließen: »Im Miteinander von Körper und Kleid entsteht ein neuer Körper, der Modekörper, der meist nur sehr ephemer existiert« (Lehnert 2015: 38). Die performative Realisation von Kleidung erfolgt, so meine Lesart, in der Performance Antigone Sr. (L) dadurch, dass durch das Wechselspiel von Körper und Kleid neue Körper hervorgebracht werden. Dies geschieht im Modus eines Ereignisses. Moore hebt die Bewegung der Kleidung hervor, wenn er schreibt: »What makes fashion modeling interesting visually is not just the clothes but the fact that the clothes are on the run. The clothes are dancing« (Moore 2018: 172). Zentral für Mode und Kostüm ist deren Hervorbringung während der Performance. Susman beschreibt das Verhältnis zwischen Mode und Voguing folgendermaßen: »The connection between fashion and voguing is even stronger if fashion is used as a verb. 98

Tietz bezieht sich bei seiner Betrachtung auf das Cross-Dressing (2015: 278) und versteht Kleidung und Kleidungspraxis als kulturelles Repertoire (2015: 272) und als »vestimentäre Performanzen« (2015: 273).

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The action is crucial: walking categories, making clothes, putting together an outfit with precise detailing« (Susman 2000: 125). Sie hebt damit auch den performativen Charakter hervor. Dem Umgang mit Mode schreibt sie folgendes Potenzial zu: »If runway models are meant to bring clothing to life, to act out the potential for power and identity lying ready in the cloth, this performance becomes even more vital in the context of the Balls and especially in voguing« (2000: 125). Die vielfältigen Looks, die in der Aufführung Antigone Sr. (L) inszeniert werden, verweisen nicht nur auf die bloße Korrespondenz von Körper und Kleid, sondern auch auf Formen der Selbstpräsentation im Kontext des Voguing. Das Verhältnis von Kleidung und Identität bestimmt Lehnert auf der Grundlage von Mode als kultureller Praxis: »Sie [die Kleider] müssen von Menschen getragen und inszeniert werden, und sie müssen umgekehrt ihr Potential entfalten, Menschen zu inszenieren« (Lehnert 2015: 32). Sie beschreibt das absichtliche Ankleiden, gebunden an die Wirkungsabsicht, als Inszenierung von flüchtigen Identitäten (2015: 35) und geht davon aus, dass Körper und Kleid eine kurzfristige Symbiose eingehen, die eine ephemere Identität hervorbringt (2015: 39). Die Identität stiftende Funktion, die dem Tragen von Kleidung zukommt, bringt Lehnert mit dem markanten Satz zum Ausdruck: »Mit dem Kleid verkörpern wir uns« (2015: 41), Mode werde »zum wichtigsten Element der Hervorbringung neuer Identitäten und Lebensstile« (2013: 10), bis zur Überschreitung »von Geschlecht, sozialem Status, Geschmack und Distinktion« (ebd.). Das Verhältnis von Kleid und Körper erzeuge eigenständige Körper, die Modekörper (ebd.). Ihre Betrachtungen fokussieren Prozesse der Selbstinszenierung (2013:11). Vergleicht man Susmans und Lehnerts Aussagen, so zeigt sich eine Übereinstimmung hinsichtlich des Potenzials, die Kostümen im Kontext von Voguing bzw. der Mode hinsichtlich des Aspekts der Hervorbringung von Identitäten zugesprochen wird. Im Gegensatz dazu steht folgende Aussage Butlers: »Denn wenn ich argumentiere, daß die Geschlechtsidentitäten performativ sind, konnte das heißen, ich stelle mir das so vor, daß jemand morgens erwache, den Schrank [closet] oder einen etwas offeneren Raum auf eine Geschlechtsidentität eigener Wahl hin durchsehe, dann diese Geschlechtsidentität für den Tag anlege und die Einkleidung abends wieder an ihren Platz zurücklege. Ein derart absichtsvoll und instrumentell vorgehendes Subjekt, das über seine soziale Geschlechtsidentität entscheidet, hat fraglos nicht von Anfang an seine soziale Geschlechtsidentität und versäumt, sich klarzuwerden, daß seine Existenz schon längst von der sozialen Geschlechtsidentität entschieden ist.« (Butler 2014: 14, Herv. i.O.) Butler nimmt zum einen Bezug auf die kulturelle Konstruktion des sozialen Geschlechts und verweist zum anderen auf die Unmöglichkeit einer Verkörperung geschlechtlicher Identität durch das bloße Tragen eines Kleidungsstückes. »Ge-

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schlechtsidentität« (Butler 2014: 14) begreift sie nicht als eine willentliche Aneignung und auch nicht als eine Maskierung (2014: 29). Sie geht davon aus, dass Identifizierungsprozesse immer Normen unterliegen, »die man niemals wählt« (2014: 180), sondern dass es die Norm ist, »die uns wählt, die wir aber in dem Umfang in Besitz nehmen, umkehren, resignifizieren, in dem es der Norm nicht gelingt, uns voll und ganz zu determinieren« (ebd.). Demnach gibt es keine Verkörperungsprozesse, die sich außerhalb der kulturellen Norm ereignen. Allerdings scheint es innerhalb der Norm die Möglichkeit zu geben, diese umzukehren und umzudeuten. In Antigone Sr. (L) wird meines Erachtens mit den beschriebenen Implikationen von Mode bezogen auf den Aspekt der Identität gespielt. Es scheint, als werde Butlers Aussage in der Performance tänzerisch reflektiert. Die Performer treten, wie eingangs dargestellt, immer wieder in unterschiedlichen Kostümen auf. Der hintere Bühnenvorhang, der den Bühnenraum abgrenzt, gleicht dabei einem Kleiderschrank. Die Performer verschwinden dahinter, um in raschem Wechsel anders gekleidet wieder aufzutreten. In kürzester Zeit werden diverse Kleidungsstücke und Textilien drapiert, gehalten, verknotet oder, verborgen vor den Blicken der Zuschauer*innen, angezogen. Der Tänzer Lac erscheint mit seinem Kopfschmuck als antik anmutender Herrscher, Thompson wirkt in einem hautengen roten Kleid wie eine vollbusige Frau mit ausladendem Gesäß, Eagleton scheint ein Abendkleid zu präsentieren, Vidlar trägt ein Textil in der Manier eines Neckholderkleides und später hält Thompson ein hellblaues Sommerkleid vor seinem Körper.99 Harrells Einsatz von Kleidung stellt vielfältige Körperbilder aus, in denen sich polyvalente Stereotypen, Rollen oder Figuren der Gesellschaft widerspiegeln. Er verweist damit, so meine Deutung, auf den ihnen innewohnenden Kultivierungsprozess, der besagt, dass das Handeln mit Kleidung Identität hervorbringt (Lehnert 2015: 37). Auch wenn den Kostümen dabei die Aufgabe zukommt, gesellschaftlich geprägte Figuren aufzuführen, stellt der Choreograf gleichzeitig den Bruch mit diesen dar. Die Kleidungsstücke, die in Antigone Sr. (L) getragen oder gehalten werden, entwickeln sich meines Erachtens zum Argument eines kritischen Nachdenkens über Konstruktionsmechanismen von Identität. Harrell lotet dabei, so meine Lesart, das imaginäre Potenzial von Kleidung aus, indem er variantenreich, originell und schrill eigenwillige Körper-Kleider mit polyvalenten Identitäten hervorbringt und deren Konstruktionsmechanismen offenlegt. Die Ambivalenz zwischen der Herstellung von Identität durch Kleidung und der Unmöglichkeit, durch bloßes Tragen von Kleidung Identitäten zu erzeugen, möchte ich im Folgenden erörtern. Ich schlage vor, die Kostüme, die integraler Bestandteil von Harrells Inszenierungen sind, nicht bloß zu benennen oder zu beschreiben, sondern zu demonstrieren, wie diese funktionieren, um deren »Kos99

Minute 1:07:02‒1:10:50.

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tümpotentialität« (Devoucoux 2007: 26) auszuloten. Dazu beziehe ich mich auf Devoucoux. Er fokussiert in seiner Untersuchung Mode im Film. Zur Kulturanthropologie zweier Medien (2007) den Film und geht davon aus, dass die »Kleidungswelt einer Filmstory kulturell geformt und präfiguriert« (2007: 25) ist und für den Film andere Regeln als in der Realität gelten (2007: 29). Er betrachtet Kleidung als Handlungsfeld, das als Körpertechnologie definiert wird und Einstellungen zum Körper und zu Körperbildern freilegt (ebd.). Kleidung und Mode bringt er in Verbindung mit dem Subjekt und seiner Identität, begreift sie als materielle Hülle, die den sozialen Körper produziert (2007: 30). Nach Devoucoux kommt den Kostümen im Film die Aufgabe zu, Personen zu definieren (2007: 32). Die Gestaltung von Kostüm und Figur steht dabei in einem engen Verweiszusammenhang (2007: 37). Kostüme charakterisieren Figuren und gesellschaftliche Aspekte. Devoucoux’ Ansatz lässt sich meines Erachtens auf die Aufführung Antigone Sr. (L) übertragen: Der Umgang mit den Kostümen in Harrells Inszenierung kann als artifizielles Verfahren gedeutet werden, das soziale Implikationen von Kleidung zwar nutzt, aber mit den Zuschreibungen aus der sogenannten Realität künstlerisch verfährt. Auf soziale Realitäten der Gesellschaft wird verwiesen, jedoch in einer verfremdeten Art und überzeichneten Weise. Dies zeigt sich in der Performance Antigone Sr. (L) in höchst eigenwilligen Gestaltungsprinzipien. Der Umgang mit Kleidung weicht von gesellschaftlich etablierten Konventionen ab. Die Kostümgestaltung – im Programmheft wird kein/e Kostümbildner*in100 genannt – stellt sich in unzähligen Variationsmöglichkeiten von Kleidungsstücken dar, die festgeschriebene Schnittmuster und Formbestände überwinden, die Grenzen von möglichen Arten des Tragens verschieben, die versuchen, Linien und Flächen zu erweitern, die Arrangements mit unterschiedlichen Volumina kreieren, die Kleidungsdetails vergrößern oder verkleinern und die von allgemeinen kulturellen Kontexten abweichen. Das assoziative Spiel mit Kleidungsstücken und textilen Kopfbedeckungen und Accessoires imaginiert Künstlichkeit und erlaubt dennoch das Identifizieren von Stereotypen, Rollen oder Figuren. Oft verweisen die Kleidungsstücke auf etwas anderes, als das, was sie sind oder bedeuten: So wird die gelbbraune Stola zur Kopfbedeckung, zum Tutu oder Rock und der Ledermantel zur Pluderhose, zum Turban oder Abendkleid. Einzelne Kleidungsstücke tauchen in der Aufführung immer wieder auf und erfahren so vielfältigen Einsatz und Verwandlung. Trotz dieser zahlreichen Verschiebungen von

100 Am 17. März 2018 war es mir im Anschluss an die Aufführung Antigone Sr. (L) möglich, mit dem Choreografen und den Tänzern in der Reithalle der Kaserne Basel/Schweiz zu sprechen. Im Gespräch mit Stephen Thompson habe ich erfahren, dass die Kleidung meist auf Flohmärkten in Brüssel gekauft und gemeinsam ausprobiert wird, wie man sie tragen könnte. Diese Vintage-Sammlung wird zum Fundus der Kostümgestaltung.

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Gewohnheiten bezüglich Schnittmustern, Formen und Looks können manche Kostüme im Kontext der Gesellschaft gelesen werden. Harrell nutzt jedoch, so mein Eindruck, die Dynamiken des Kleiderwechsels, um diese Kategorien zu destabilisieren. Dabei lotet er das »queere Potential der Mode« (Lehnert, Weilandt 2016: 14) aus. Queerness wird im Anschluss an Lehnert und Weilandt als »Veruneindeutigen von normierten und normativen Bedeutungen« (2016: 11) und als »Widerständigkeit gegenüber der heteronormativen Ordnung« (Lehnert 2016: 21) verstanden. Körper und Kleid werden in der Aufführung Antigone Sr. (L) zur Einschreibefläche von Queerness, indem Tänzerkörper, die mit der Zuschreibung Männerkörper versehen werden können, weiblich konnotierte Kleidung tragen.101 An der Figur Antigone interessiert den Choreografen Harrell »the performative potential of gender« (Harrell in Barbican 2017: 24). Er betrachtet die griechische Tragödie Antigone als Gender Performance, weil es dabei um Frauen und ihre Rechte geht und im griechischen Theater Frauen von Männern gespielt wurden (ebd.).102 Dieses Beispiel eines Verkörperungsprozesses verweist auf das vielfältige Interesse von Harrell an Rollen der Gesellschaft und Gender Performances. Mittels vestimentärer Objekte bringen die Performer geschlechtliche Diskontinuitäten zugunsten hybrider Körperbilder zum Ausdruck. Dabei bezeichne ich mit dem Begriff hybrid die Mehrdeutigkeit, die durch das Cross-Dressing erfolgt. Indem in Antigone Sr. (L) unterschiedliche Codes, die zwischen Männlichkeiten und Weiblichkeiten oszillieren, kombiniert werden, entstehen hybride Körperkleider. Fokussiert werden meines Erachtens die vestimentären Performances als das theatrale Spiel von Körpern und Kleidern sowie als das Spiel mit Konstruktionsmechanismen von Identitäten. Zentral in Antigone Sr. (L) ist der Vorübergehende; die Choreografie ist vom Defilieren geprägt. Dabei besteht die choreografische Kontinuität im Wandel der Kostüme und Tänzer. Durch den ständigen Kleiderwechsel werden Transformationen zwischen unterschiedlichen Stereotypen, Rollen oder Figuren kenntlich gemacht. Die Inszenierung des Kleiderwechsels, so meine These, zeigt die Veränderbarkeit und Beweglichkeit von Identitäten im Modus des Konstruktionsprozesses. Durch das ständige Ablegen und Anlegen von Kleidungsstücken werden stets neue Körper-Kleider aufgeführt. Der Kleiderwechsel wird zu einem Reflexionsgegenstand von Selbstinszenierungsstrategien und der Konstruktion von Identität. Das Konzept von Modenschauen bestimmt das choreografische Verfahren, das sich programmatisch durch die Aufführung Antigone Sr. (L) zieht. Dabei wird die Struktur der Modenschau in Verbindung mit Voguing und dem Postmodern Dance prakIn der Aufführung Antigone Sr. (L) handelt es sich meines Erachtens nicht um Drag Queens. Als Drag Queen bezeichnet Lüder Tietz eine männliche Person, die in queeren Kontexten eine Form von Feminität performt (2015: 180). 102 Butler fragt in ihrem Buch Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod (2013), wie Antigone »zur Repräsentantin einer bestimmten Art feministischer Politik« (Butler 2013: 12) wurde, und liest sie als politisch weibliche Figur, die sich gegen den Staat stellt (2013: 13). 101

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tiziert. Diese Verzahnung führt dazu, dass die Inszenierung von Kostümen Implikationen des Voguing und des Postmodern Dance in sich trägt, d.h., dass Szenen der Aufführung Antigone Sr. (L), die Modenschauen gleichen, auf identitätsstiftende Strategien des Voguing verweisen, diese jedoch im Sinne eines postmodernen Verfahrens in ihrem Konstruktionsprozess ausstellen. Dadurch deutet die inszenierte Künstlichkeit nicht nur auf ästhetische Absurditäten und Gewagtheiten hin, wie sie auch in der Haute Couture anzutreffen sind, sondern spielt mit dem Verschwinden von Identitäten. Auch wenn Konzepte des Voguing zitiert werden, die sich in Antigone Sr. (L) im glamourösen Gestalten von Kostümen und dem Ausstellen von sich rasch wechselnden Identitäten widerspiegeln, werden diese in ihrer Konstruktion transparent dargestellt. Der ästhetische Überschuss wird meines Erachtens durch die Ideenvielfalt im Tragen von Kleidungsstücken erzeugt. Es bleiben Erinnerungsbilder von schier unfassbarer Kreativität und Originalität zurück. Diese Bilder überformen das Abbildhafte einer scheinbaren Realität. Die in Antigone Sr. (L) aufgeführten Kostüme binden den Tanz an die Materialität der Kleidung, wie auch die Kleidungsstücke das immaterielle Ereignis des Tanzens zurückbinden. Dabei geht es weder um kleiderspezifische Merkmale noch um die Erzeugung von sogenannten Identitäten, sondern um das Ausstellen von Verkörperungsprozessen und die Offenlegung von Konstruktionsprozessen. Die überbordenden und ungewöhnlichen Körperkostümgestaltungen und Körperkostümgestalten lassen, so mein Vorschlag, eine ikonografische Interpretation im Sinne einer vestimentären Bildtheorie des Bildwissenschaftlers Philipp Zitzlsperger zu, der bei seiner Analyse davon ausgeht, dass Bilder von Kleidern nicht als Spiegel, sondern »als Konstruktionen der Wirklichkeit zu verstehen sind« (Zitzlsperger 2015: 89).103 Zitzlsperger geht über die Konzeption von Kleidung in ihrem performativen Geflecht hinaus, um ihre bildliche Umsetzung mit zusätzlichen Sinnschichten aufzuladen (2015: 92). Sein Ansatz soll hier genutzt werden, um die bildliche Dichte darzustellen, die durch die Inszenierung von Kostümen erzeugt wird. In Antigone Sr. (L) greift Harrell, so meine Lesart, den Voguing-spezifischen Aspekt des sich extravaganten Kleidens mit dem Ziel auf, Konstruktionen von kostümierten Körpern, die eine Bilddichte erzeugen, hervorzubringen. Auch wenn Kleidung als ein soziales Distinktionsmerkmal betrachtet werden kann (Geppert 2015: 82), »als Marker gesellschaftlicher Gruppen funktioniert« (Weltzien 2016: 140) und

103 Zitzlsperger bezieht sich in seiner Untersuchung auf die Kleidung der Vormoderne, die sich nicht über eine textliche oder programmatische Fixierung erschließen lässt (Zitzlsperger 2015: 90‒91). Damit weicht er von üblichen Epochenunterscheidungen, ethnographischen Codes und semiotischen Gesichtspunkten ab und zielt auf eine ikonische Interpretation, die sichtbar macht, was sprachlich noch nicht erschlossen ist (2015: 92).

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»Bestandteil des sozialen Seins« (Bieger, Reich 2012: 8) ist, liegt das Erkenntnisinteresse am Kostüm in Antigone Sr. (L) nicht in seiner Abbildfunktion von der sogenannten Realität oder dem Verkörperungsprozess von Identitäten, sondern vielmehr in der Verwendung des Kostüms als Argument, das auf Reflexionen über die Inszenierung von Identitäten verweist. Bezug nehmend auf die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Susanne Rohr soll ein Bogen von der Inszenierung von Kostümen im Ballroom und der Performance Antigone Sr. (L) gespannt werden, um die Kategorie Realness zu reflektieren. Rohr setzt in ihrem Essay »Imaginäre Objekte: Wovon Mode spricht« (2012) an dem expressiven Potenzial der Mode an, wenn es gilt, diese als Produzentin und Gestalterin von Realität zu begreifen (Rohr 2012: 57). In ihrer Analyse über die Macht der Mode in Paris is Burning kommt sie zu dem Schluss, dass Gender eine Frage der Performance ist, die Körpertechniken beherrscht, Kenntnisse des modischen Imaginären besitzt und darzustellen weiß, wie man »das modische Imaginäre in mannigfaltigen Inkarnationen real werden […] lassen« (2012: 88, Herv. i.O.) kann. Ausgehend von Paris is Burning argumentiert sie, dass die Vorführungen der Drag Balls einen imaginären Gegen-Raum etablieren, der es ihnen erlaubt, ein eigenes Selbstverständnis darzustellen, um all das zu sein, was man sein will (2012: 85). Rohr folgert, dass »die Konstruiertheit des Realen […] hier auf allen Ebenen offenbart wird« (2012: 86) und dass »das Reale oder die Realness ein soziales Produkt sind« (2012: 87, Herv. i.O.).104 In Anlehnung an Barthes’ Imaginärem, das er als Bild von standardisiertem und kollektivem Verhalten beschreibt, eröffnet sie eine Sichtweise, die den Performer*innen im Ballroom die Möglichkeit verleiht, Verhaltensweisen zu übernehmen oder auszuspielen: »Dieses Imaginäre wird von den ball-Teilnehmern gekapert und bewusst ausgespielt« (ebd., Herv. i.O.). Die Verschränkung von Realem und Realness begreift sie folgendermaßen: »Diese Inszenierungen sind das Reale, und sie sind der Hintergrund, vor dem die Realness der Vorführungen sowohl im Ballroom als auch auf der Straße bewertet werden« (ebd., Herv. i.O.). Rohrs Überlegungen schließen sich meines Erachtens an die von Harrell inszenierte Kippfigur der Kategorie Realness an. Der Begriff Kippfigur dient dazu, die Kleider-Körper als Konstruktion des Realen und gleichzeitig Realness als soziales Produkt zu betrachten. Im Sinne eines doppelten Wahrnehmungsprozesses von Realitäten und Realness werden Konstruktionen in der Aufführung Antigone Sr. (L) reflektiert. Harrell bricht hierbei allerdings mit dem Aspekt der Verkörperung von Identität, der einen zentralen Aspekt der Voguer*innen im Ballroom darstellt. Er spielt mit dessen Mechanismen der Konstruktion und Dekonstruktion. Dies kommt auch am Ende der Aufführung zum Ausdruck: Bei ihrem letzten Gang über 104 Rohr bezieht sich hier auf das Konzept der »double consciousness« des afro-amerikanischen Denkers W. E. B. Du Bois (2012: 87).

4. Voguing on Stage

den Laufsteg tragen die Tänzer ihre private Kleidung105 und werfen somit die artifizielle Inszenierung von Körper und Kostüm wieder auf Aussagen von Realness zurück. Harrells Umkehrprozess der Kategorie Realness, der fast zum Verschwinden von Realitäten führt, kann folglich als postmodernes Verfahren betrachtet werden. Die Subjekt-Objekt-Relation wird zum Paradigma: Das erkennende Subjekt stellt sich den Konzepten von Voguing und Postmodern Dance als Objekt gegenüber. Das Wissen um den Verlust jeglicher, fixierter Identität wird choreografisch aufgenommen und reflektiert.

4.3.5

Ästhetikkonzept: »Voguing with a postmodern twist« »Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, daß es uns nicht zukommt, Wirklichkeiten zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann.« (Jean-François Lyotard 2015: 48, Herv. i.O.)

Schon der Titel Antigone Sr.(L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (2012) verweist auf eine Sichtweise der Einflussnahme des Postmodern Dance auf Voguing und umgekehrt. Harrells Reflexionen über die beiden Tanzströmungen und der Rekurs auf theoretische Konzepte breiten tänzerische Positionen in der Aufführung Antigone Sr. (L) zwischen den ästhetischen Positionierungen von Postmodern Dance und Voguing aus. Somit kann Antigone Sr. (L) als »DiskursChoreographie« (Schellow 2016: 259, Herv. i.O.) gelesen werden. Damit folge ich Schellows Analyse, den »[z]eitgenössische[n] Tanz als Tanz des Diskurses« (2016: 104‒112) zu betrachten. Übertragen auf die hier diskutierte Choreografie bedeutet dies, dass mit choreografischen Mitteln Voguing und Postmodern Dance reflektiert werden. In dem von mir vorgenommenen diskursanalytischen Zugriff werden die Referenzen, wie sie der Choreograf vorgibt, aufgegriffen. Die Aufführungsanalyse folgt somit seinen Aussagen. Dabei wird dem Tanz eine diskursive Intention unterstellt. Gleichzeitig wird die eigene forschende Tätigkeit an bestehende tanz- und modewissenschaftliche Diskurse angebunden. Es wird eine tanzwissenschaftliche Position eingenommen, die sowohl die offengelegten theoretischen Konzepte des Choreografen aufnimmt als auch diese im Schreiben einer eigenen Betrachtungsweise ergänzt.

105 Dies ging aus einem Gespräch mit dem Tänzer Stephen Thompson am 17. März 2018 in der Kaserne Basel nach der Aufführung des Stückes Antigone Sr. (L) hervor.

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Das choreografische Vorgehen von Harrell soll abschließend mit Jean-François Lyotards Postmoderne-Begriff verglichen werden. Diese Re-Lektüre von Lyotard dient zur Etablierung des Ästhetikkonzepts ›Voguing with a postmodern twist‹. Lyotards Begriff der Postmoderne zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Darstellbarem und Denkbarem, wobei der Akzent auf die Ohnmacht des Darstellungsvermögens gelegt werden kann oder auf das Denkvermögen (Lyotard 2015: 45). Lyotard folgert, dass das Postmoderne dann die Anspielung »der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares« (2015: 47) ist, die sich auf die »Suche nach neuen Darstellungen« (ebd.) begibt, um »das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt« (ebd.). Er geht davon aus, dass Künstler und Schriftsteller ohne Regeln arbeiten, allerdings »um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird« (2015: 48, Herv. i.O.). Die Werke haben daher den Charakter von Ereignissen (2015: 47). »Postmodern wäre also als das Paradox der Vorzukunft (postmodo) zu denken« (2015: 48, Herv. i.O.). Peter Engelmann betrachtet Lyotards Begriff der Postmoderne als einen »Distanzierungsbegriff« (Engelmann 2015: 8) im Sinne eines operationalen Begriffs, der es erlaubt, »einen Raum für neuartige, andere, von den herrschenden Mustern kritischer Theorie abweichende Überlegungen zu schaffen« (2015: 12). Folglich ist das Postmoderne-Konzept »nichts anderes als die Bedingung der Möglichkeit neuer, adäquater Gesellschaftstheorie und Philosophie« (2015: 12). Übertragen auf die Choreografie Antigone Sr. (L) bedeutet dies, dass mit choreografischen Mitteln das scheinbar nicht Darstellbare, nämlich das Zusammentreffen von zwei geografisch und ästhetisch disparaten Tanzströmungen, dargestellt wird. Harrells Choreografie ist die tänzerische Antwort eines Denk- und Darstellungsvermögens. Im performativen Vollzug zeigen sich Verschiebungen hinsichtlich von Bewegungen und ihren Wirkungen, die auf etwas Zukünftiges weisen, das es in der Vergangenheit so nicht gegeben hat. Das Aufeinandertreffen von Voguing und Postmodern Dance kann im Sinne einer kritischen Distanz gelesen werden. ›Voguing with a postmodern twist‹ weicht von gängigen Konzepten bezogen auf den Postmodern Dance und Voguing ab und überlagert diese. So erscheint Voguing im Gestus des Postmodern Dance oder umgekehrt. Diese Überlagerungen sind allerdings nicht nur als bloße Übertragungen lesbar, sondern erzeugen eine Eigenart, die über die herrschenden ästhetischen Muster des Voguing und des Postmodern Dance hinausgeht. Mit dem dargestellten Ästhetikkonzept wird das Spezifische des choreografischen Vorgehens von Harrell zum Ausdruck gebracht. Dabei ist diese begriffliche Fassung im Sinne eines Ästhetikkonzepts als Reaktion auf die Performance, die Aussagen des Choreografen sowie die Bedeutungssynthese, wie sie in der Aufführungsanalyse erfolgt, lesbar. Sie mündet in die Analogsetzung des choreografischen Verfahrens zum Postmoderne-Begriff Lyotards. Außerdem wird dabei die tanzhistorische Bewegung des Postmodern Dance mit dem philoso-

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phischen Begriff der Postmoderne ins Verhältnis gesetzt. Damit wird in diesem Kapitel gleichzeitig auf konkrete künstlerische Konzepte des Postmodern Dance rekurriert und auf Lyotards sowie Engelmanns Begriffsverständnis der Postmoderne. Um eine Verwässerung des Begriffs zu vermeiden, ist die Adaption des Postmoderne-Begriffs von dem punktuellen Interesse geleitet, ein Ästhetikkonzept zur Performance Antigone Sr. (L) zu formulieren, um das choreografische Verfahren einer geschichtsbezogenen Fiktion zu fokussieren. Dabei ist der Aspekt des Darstellungsvermögens im Sinne von Lyotard von zentraler Bedeutung. Denn der Choreograf Harrell bringt etwas zur Darstellung, das es in der Vergangenheit so nicht gegeben hat, und weist damit auf ein Darstellbares hin. Lyotards Text »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«, der einer der wichtigsten Referenztexte des Postmoderne-Begriffs geworden ist, dient hier als Analogie, um das choreografische Verfahren ästhetisch zu bestimmen. Die Argumentation folgt Lyotards Gedankengang, um die künstlerische Verbindung von Voguing und Postmodern Dance in der Performance Antigone Sr. (L) philosophisch zu fassen. Dies ist allerdings problematisch, da damit der Begriff Postmoderne nur in seinem operationalen Sinn begriffen wird, nämlich um eine künstlerische Herangehensweise zu bestimmen, die einen neuartigen Raum für die Tanzgeschichtsbetrachtung eröffnet. Die Übernahme des philosophischen Begriffs beschränkt sich hier auf die Möglichkeit eines Darstellungsvermögens, in dem Überlagerungen von Voguing und Postmodern Dance innerhalb einer Choreografie mit dem Begriff der Postmoderne bestimmt werden. Um nicht die bloße Verwendung des Postmoderne-Begriffs im Sinne eines Verfahrens der Neukombination zu konzedieren, sondern um kritisch mit dem philosophischen Konzept der Postmoderne und dem choreografischen Verfahren umzugehen, möchte ich mich skizzenhaft der künstlerischen Referenz entgegenstellen. Die Ebene der folgenden kritischen Reflexion fußt auf der Differenz zwischen einer künstlerischen und einer tanzwissenschaftlichen Position. Die künstlerische Perspektive stellt die Gleichzeitigkeit von disparaten Tanzbewegungen im Sinne einer diachronen Tanzgeschichtsbetrachtung und die Vernetzung von divergenten Aussagen zu Voguing, Postmodern Dance und Mode dar. Der tanzwissenschaftliche Blickwinkel folgt während der Analysearbeit dieser künstlerischen Positionierung. Mit der folgenden Reflexion möchte ich aber über die zuvor dargelegte Bedeutungssynthese hinausweisen: Eine Engführung der tanzhistorischen Phänomene Postmodern Dance und Voguing entfaltet zwar während der Aufführung die gleichzeitige Betrachtung einer bisher fundiert erforschten und einer kaum im wissenschaftlichen Kontext wahrgenommenen Tanzbewegung, bringt aber auch Polarisierungen hervor. Diese zeigen sich in den Aussagen des Choreografen beispielsweise in der Gegenüberstellung von Begriffen wie Realness und Authentizität sowie in den tanzwissenschaftlichen Aussagen bei der Gegenüberstellung des No-Manifest (1965) von Yvonne Rainer und Notes on ›Camp‹ (1966) von

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Susan Sontag. Zu fragen bleibt: Welche Deutungszuschreibungen wären abseits dieser Perspektiven möglich?

4.4

Gender on Stage

»Jedes auf einer Theaterbühne zur Darstellung gebrachte Geschlecht ist also eine Behauptung« (Hochholdinger-Reiterer 2014: 13), postuliert die Theaterwissenschaftlerin Beate Hochholdinger-Reiterer. »Im fiktionalen Rahmen des theatralen Ereignisses, so scheint es, sind die Grenzen biologischer Geschlechter nicht existent; das Hauptaugenmerk liegt auf der Erzeugung symbolischer Geschlechtlichkeit« (ebd.).106 In meiner Untersuchung dient ihre Grundannahme dazu, die auf der Bühne erzeugten Geschlechter als theatrale Ereignisse zu betrachten. Theater wird als Ort für »Gender-Experimente« (Pailer, Schößler 2011: 7) und als »Verhandlungsort des Geschlechterdiskurses« (2011: 8) betrachtet. Der Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund wendet bezogen auf die Inszenierung von Geschlechtern auf der Bühne ein: »Writing about gender identities from a theater studies perspective may easily lead to tautological conclusions, since in the theater everything is constructed and the conventions and forms of theater threaten to neutralize any shifts in gender identities« (Siegmund 2011: 341, Herv. i.O.). Deshalb sei Selbstreflexivität der Weg, Gender auf der Bühne zu problematisieren (ebd.). Ausgehend davon, dass »im Theater alles konstruiert« (2011: 342) ist, eröffnet die Bühne dennoch einen »produktiven Spielraum der Geschlechter« (ebd.), »an dem die Maskierung der Geschlechter gezeigt und die Naturalisierung von Geschlechteridentitäten unterlaufen werden kann« (ebd.). Im »Moment der Selbstreflexivität des Theaterprozesses, der in die Darstellung selbst eingeht« (ebd.), könne sich eine »Auseinandersetzung mit den Geschlechteridentitäten auf der Bühne« (Siegmund 2011: 343) ergeben. Die Untersuchung Dancing Bodies Dancing Gender. Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie (1999) der Tanzwissenschaftlerin Janine Schulze kann als eine Zugangsweise gelesen werden, Geschlecht auf den Tanzbühnen zu bestimmen. Schulze betrachtet Geschlecht im Tanz als »Re-präsentationen kultureller Muster, die im Tanz wiederholt, bestätigt oder aber hinterfragt werden können« (Schulze 1999: 12). Damit hebt sie die Wechselbeziehung von Gesellschaft und Präsentationen auf der Tanzbühne hervor. Der Tanz führe die »höchst divergenten Modelle von Weiblich- und/oder Männlichkeit in ihrer Veränderlichkeit« (1999: 15) vor. Im Anschluss an Butlers Untersuchung Das Unbehagen der Geschlechter und Körper von Gewicht geht Schulze von einem Körper aus, der »immer schon Repräsentation einer kulturellen Situation« (1999: 16) ist. Auch verweist sie auf die von Butler 106 Hochholdinger-Reiterer untersucht die Konstruktion der Geschlechter (2014: 39) auf der Bühne im Verlauf des 18. Jahrhunderts (2014: 42).

4. Voguing on Stage

als solche bezeichneten stabilisierenden Mechanismen der Wiederholung, die eine Materialität erzeugen und geschlechtliche Definitionen als performativen Akt bestimmen (ebd.). »Von Butlers Vorstellung einer Materialisierung des Körpers ausgehend, treffen wir im Tanz auf einen (Kunst-)Körper, der sich, egal welches Geschlecht ihm zugeschrieben wird, durch eine Konstruiertheit, die selbst schon wieder Effekt vielfältiger Materialisierungsprozesse ist, auszeichnet: Auf der Bühne trifft eine Vielzahl von Körpermodellen aufeinander. Die inszenierten Frauen- und Männerbilder werden von Tanzkörpern dargestellt, die bereits sowohl im Alltag, durch gesellschaftliche Konzepte von Geschlecht, als auch durch die erlernten Tanzkonventionen geformt sind.« (Schulze 1999: 17) Schulze betrachtet die auf der Bühne erzeugten »Konzepte von Geschlecht« (ebd.) als vielfältige Verkörperungsprozesse. Sie will kein »naturgegebenes und essentialistisches Konzept weiblichen und/oder männlichen Tanzes heraus[…]arbeiten« (1999: 19), sondern Materialisierungsprozesse von Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfen erforschen (1999: 29). Anhand der Tanzgeschichte zeigt sie, dass sowohl die differenten Weiblichkeitskonzepte als auch die polyphonen Männlichkeitskonzepte Konstruktionen sind. Deren Darstellung im Bühnentanz begreift sie als Ergebnis gesellschaftlicher Differenzierungsstrategien und Modellierung durch Tanztechniken (1999: 256). Folgt man Schulzes Theorie, kann bezogen auf die Gender-Inszenierungen von einer doppelten Verkörperung auf der Bühne ausgegangen werden: Denn die theatrale Inszenierung wiederholt eine scheinbare Realität im Modus einer Performance, die selbst vielfältigen Materialisierungsprozessen unterliegt. Die Theaterwissenschaftlerinnen Katharina Rost und Jenny Schrödl weisen darauf hin, dass die Kategorie Gender in der Theaterwissenschaft nur marginal verhandelt wird (Rost, Schrödl 2017: 1).107 Sie setzen die Begriffe Materialität, Körperlichkeit und Gender miteinander in Beziehung, und entwickeln auf dieser Basis anhand der drei Strategien Cross-Dressing, Nacktheit und Affektion ihre Theorie (2017: 6). Unter Materialität verstehen sie die »sinnliche Erscheinung und Wirkung von Objekten, Körpern oder Prozessen im Moment ihrer Wahrnehmung« (2017: 2).108 Der Begriff Körperlichkeit ist für sie eng mit dem Begriff der Materialität verbunden und verweist im Anschluss an Helmut Plessner (1970) auf die Doppeldeutigkeit des Körpers, die dieser mit ›Leib-Sein‹ und ›Körper-Haben‹ bezeichnet

107 Rost und Schrödl weisen in ihrer Abhandlung auf deutschsprachige und englischsprache theaterwissenschaftliche Forschungen zu Gender hin und meinen allerdings, dass die analytischen Gegebenheiten nicht immer kompatibel sind (Rost, Schrödl 2017: 16‒17). 108 Sie beziehen sich hierbei auf eine Aussage von Schrödl aus dem Jahre 2012 (Rost, Schrödl 2017: 2).

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Voguing on Stage

(Rost, Schrödl 2017: 2).109 Im Theater bedeute diese Doppeldeutigkeit des Körpers sowohl die sinnliche Erfahrung als auch das Zeichen (2017: 3). Anhand konkreter Aufführungen loten Rost und Schrödl das Verhältnis von Körperlichkeit, Materialität und Gender aus und kommen zu dem Schluss, dass über die Dynamiken Körper kenntlich gemacht und geschlechtlich besetzt werden (2017: 14‒15). Die Materialität auf der Bühne deute auf einen Wandel und »auf eine Verschiebung der Verhandlung von Geschlechtsidentität« (Rost, Schrödl 2017: 15) hin. In der folgenden Analyse wird die Kategorie Gender, als performativ vollzogener Akt, an den Körper gebunden betrachtet und im Kontext von choreografischen Prozessen untersucht. Im Anschluss an Klein wird davon ausgegangen, dass sich Gender im Tanz am Körper materialisiert: »Körper, Bewegung und Tanz sind in besonderer Weise auf Gender verwiesen. Denn nirgends materialisiert sich Gender, verstanden als Strukturkategorie des Sozialen und Muster des Kulturellen, so sehr wie am Körper und nirgends ist Gender so radikal befragbar wie in körperlichen Praktiken« (Klein 2013: 29). Klein betrachtet den Körper als »ein Medium der Wahrnehmung, Handlung und Darstellung« (2013: 36) und geht davon aus, dass die Kategorie Gender immer auf einen historischen Kontext verweist, der im Tanz sichtbar wird. Die Bewegungen, die als Technik gelernt werden, artikulieren eine historische und kulturelle Position und das Verhältnis des Tanzenden zu dieser (2013: 38). »Tänze stellen spezifische Lesarten des Verhältnisses von Körper und Kultur, von Individuum und Gemeinschaft, von Geschlechterverhältnissen, von körperlichem Rhythmus und kulturellem Raum bereit« (ebd.). Vor diesem Hintergrund ist es möglich, Voguing als Körpertechnik mit historischen und kulturellen Implikationen im Hinblick auf Positionen zu Gender-Inszenierungen zu betrachten. Im Anschluss an Klein nutze ich einen Begriff von Körper, der als »genderspezifisches Konstrukt und als Praxis, als Konzept und als Verkörperung« (2013: 39, Herv. i.O.) gedacht wird. Damit zeigt Klein die Verschränkung zwischen der soziokulturell konstruierten Kategorie Gender und den Verkörperungsprozessen auf. Geschlechterkonzepte zeigen sich sowohl im Akt der Verkörperung als auch in der Wahrnehmung der Aufführung. Die soziokulturelle Kategorie Gender gleicht somit einem relationalen Beziehungsgefüge zwischen der Repräsentation und der Wahrnehmung. Folgt man Kleins Aussagen, so kann am Körper und an tänzerischen Bewegungen die soziokulturelle Kategorie Gender befragt werden.

109 Daran könnte ein Körper Diskurs angeschlossen werden. Markus Schroer meint bezogen auf die Frage, was der Körper sei: »Das, was in den verschiedenen Zeitaltern, Gesellschaften und Kulturen darunter verstanden wurde und wird« (Schroer 2005: 25). Siehe hierzu außerdem von Gabriele Klein »Zur Performanz des Körperlichen« (Klein 2005: 73, Herv. i.O.), in der sie »das Verhältnis von Körperdiskurs und Körperpraxis« (2005: 75) veranschaulicht. Sie meint, »daß sowohl der phänomenale als auch der semiotische Körper am Prozeß der Bedeutungsproduktion« (2005: 80) beteiligt sind.

4. Voguing on Stage

Ich gehe davon aus, dass alle auf der Bühne erzeugten Gender Performances Konstruktionen sind. In der Aufführung Reyes’ The Principle of Pleasure, so die Annahme, wird ein Spektrum an Möglichkeiten, Aspekte von Gender auf der Bühne zu inszenieren, aufgeführt, zitiert und reflektiert. Den dabei zum Ausdruck kommenden Umgang mit der soziokulturellen Kategorie Gender im Theaterraum betrachte ich als Gender Performance. Dieser Begriff bezieht sich allerdings nicht nur auf die Geschlechterinszenierung während der Aufführung, sondern ist auch als analytische Kategorie gedacht. Damit ist Folgendes gemeint: »Allg. geht es bei der Erforschung von Geschlechterinszenierungen um spezifische Vorstellungen und Modelle von Weiblichkeit und/oder Männlichkeit, die theatralen Aufführungen, dramatischen Texten sowie künstlerisch-theoretischen Entwürfen von Theater inhärent sind. Ausgangspunkt stellt die diskursanalytische Überlegung dar, dass in Aufführungen, Texten etc. Konzepte von Geschlecht des jeweiligen soziokulturellen Kontextes bewusst oder unbewusst verwendet werden.« (Schrödl 2014: 133) Der Begriff Gender Performance dient somit als Aufführungs-Format und als Analyseinstrument.110 Demnach wird in der Aufführungsanalyse davon ausgegangen, dass Geschlechterinszenierungen bewusst zum Thema der Aufführung gemacht und mit den Praktiken des Voguing verkörpert werden. Dabei betrachte ich die Theaterbühne als einen Raum, in dem Gender im Spannungsfeld von Re-Präsentationen kultureller Muster der Zweigeschlechtlichkeit, dem Unterlaufen heteronormativer Muster, der Konstruktion der soziokulturellen Kategorie Gender und dem Unterliegen des jeweils spezifischen Materialisierungsprozesses ausgelotet wird. Ausgehend von einer spezifisch erzeugten Körperlichkeit bei der Aufführung The Principle of Pleasure etabliere ich einen Dialog zwischen der Performance und Theorien mit dem Ziel, den Gender-Diskurs in der Tanzwissenschaft zu erweitern und die Gender Performances in The Principle of Pleasure zu analysieren.

4.4.1

Voguing als verkörpertes Gender-Wissen

Der Tänzer und Choreograf Gerard Reyes arbeitete mit internationalen Choreograf*innen wie Marie Chouinard, Bill T. Jones, Jérôme Bel, Benoît Lachambre, Felix Ruckert und Luther Brown zusammen. Nachdem ihm die Academy of Canadian

110

Die Begriffe Gender Performances und Gender-Inszenierungen verwende ich in der vorliegenden Untersuchung gleichbedeutend. Das Deutungsmuster Gender-Inszenierungen wurde in der Expert*inneninterviewanalyse gewonnen, der Begriff Gender Performances markiert einen in der Tanz- und Theaterwissenschaft feststehenden Begriff (Schrödl 2014: 131).

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Voguing on Stage

Cinema & Television im Jahre 2009 den Gemini Award für seine Performance bODY_rEMIX in Marie Chouinards Film verliehen hatte (Programmheft Open Space 2016), erlernte Reyes im Jahre 2013 Voguing im Rahmen einer Künstler-Residenz in New York bei den legendären Voguing-Performer*innen Archie Burnett, Javier und Benny Ninja, Danielle Polanco und Amazon Leiomy (Homepage Reyes). Seither ist Voguing ein zentrales Element seines tänzerischen Schaffens (ebd.). Reyes wendet sich bewusst dem Voguing zu, um neue Formen von Gender Performances im Tanz zu erproben. Im Voguing erkennt er ein Potenzial, »to empower everyone, regardless of gender, race, sexual orientation and dance proficiency« (ebd.). Bezogen auf sein Solostück The Principle of Pleasure meint er: »Working on this piece has allowed me to accept and express other parts of myself without judgement, which his huge since it’s still very taboo for men to appear effeminate in Western society; at the same time gay love is increasingly accepted« (Reyes in Dupuis 2015). Der Drag-Künstler und Journalist Jordan Arseneault bestätigt das Gelingen der Gender-Darstellung in der tänzerischen Arbeit von Reyes folgendermaßen: »This was a dancer claiming space and simultaneously dismissing and fulfilling our expectations of gender expression« (Arseneault 2015). Ausgehend von den obigen Überlegungen und den Aussagen des Künstlers stellen sich bezogen auf die Soloarbeit Reyes’ die Fragen: Wie können die Verkörperungsprozesse als Gender Performance beschrieben werden? Kann das von Bailey (2011, 2016) dargestellte Gender-System aus dem Kontext des Ballrooms als Referenzrahmen dienen? Welche Relation besteht zwischen Körper, Körperlichkeit, Kostüm und Bewegung während der Gender Performance? Kann Reyes’ Performance in Verbindung zu Butlers Aussagen betrachtet werden? Welche Erkenntnisse ergeben sich daraus? Welche ästhetische Eigenart, bezogen auf die GenderInszenierungen, entsteht während der Aufführung von The Principle of Pleasure?

4.4.2

Stückbeschreibung: The Principle of Pleasure von Gerard Reyes »In complete darkness, we are all the same. Don’t let your eyes deceive you.« (Janet Jackson)111

Das Stück The Principle of Pleasure ist von der Voguing-Szene in New York, den Strip Clubs in Portland und den Fetisch-Partys in Berlin inspiriert (Radioeins 2016).112 In der tänzerischen Arbeit verbindet Reyes zeitgenössischen Tanz mit Elementen des Voguing und Stripping (ebd.)113 und stellt in diesem sehr persönlichen Solostück 111 112 113

Das Zitat von Janet Jackson wird im Abspann der Videoaufzeichnung in der Minute 40:33 eingeblendet. Radioeins 2016 Minute 2:25. Minute 2:21.

4. Voguing on Stage

Fragen bezüglich der Lust und deren Verwirklichungsmöglichkeiten (ebd.).114 Das Solo wurde im September 2015 im Theater La Chapelle in Montreal uraufgeführt. Im Rahmen der Performancereihe Open Spaces (2016) führte Reyes The Principle of Pleasure in der Tanzfabrik Berlin Wedding in den Uferstudios auf.115 In The Principle of Pleasure benutzt Reyes die Bühne als gemeinsamen Raum für Akteur und Zuschauer*innen. Er verwendet »das Theater als Raum, der Grenzen verschwimmen lässt, um [s]ein erstes wahres Vergnügen zu teilen: das Tanzen auf Janet Jacksons verführerische Songs« (Reyes in Programmheft Open Space 2016). In dieser Aussage kommen gleich mehrere Aspekte zum Ausdruck, die das Solo prägen: die Aufhebung des klassischen Bühnenraumes, das Lustprinzip, das Reyes’ choreografisches Vorgehen prägt, und die Musik von Janet Jackson. In einem Artikel der Journalistin Astrid Kaminski (2016) bekennt Reyes, dass er gerne Backgroundtänzer bei Janet Jackson geworden wäre. Der Titel des Solos leitet sich von einem Song und Videoclip Jacksons ab: The Pleasure Principle (1986). Reyes zitiert im Clip genutzte Requisiten: einen Stuhl, der während seiner Performance umkippt, zwei Spiegel, die er nutzt, um darin zu posieren, sich zu spiegeln, mit sich selbst zu flirten. Kaminski schreibt zum Einsatz der Spiegel in The Principle of Pleasure: »Sie machen Sichtachsen auf, lassen Kaskaden entstehen, definieren den Raum, verschleiern ihn. Und sie sind Fetische« (2016). Die Spiegel als Fetische zu bezeichnen, wirft den Blick auf den Anfang des Stücks, das in einer Dunkelheit beginnt, die von durchströmenden blauen Lichtsäulen unterbrochen wird. Die beiden Spiegel stehen in der Mitte des Bühnenraums. Reyes bewegt sich hinter ihnen hin und her, bis das Licht angeht und er zwischen den Spiegeln posierend erscheint, auf hochhackigen Schuhen und in einen Catsuit gekleidet, der mehr Haut zeigt, als er bedeckt. Er durchschreitet den Zwischenraum der beiden Spiegel, streicht an ihnen entlang. Sich auf die Zuschauer*innen zubewegend, verdoppeln die Spiegel die Ansicht auf Reyes. In diesem Moment ist sein Körper für die Zuschauer*innen von allen Seiten wahrnehmbar. Er wendet sich einem Spiegel zu und scheint mit seinem Spiegelbild zu tanzen.116 Dazu lässt er aufreizend seine Hüften kreisen. Es scheint, als empfinde er durch das Beobachten der eigenen Bewegungen Genuss. Unweigerlich denkt man an Siegmund Freuds Lustprinzip, das letztendlich darauf zielt, sich selbst Lust und Befriedigung zu verschaffen (Stangl 2018). Kaminski interpretiert den Spiegel als Partner, der nicht mehr wie im klassischen Tanz Mittel der Kritik ist, sondern Begehren weckt (Kaminski 2016).

114 115

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Minute 3:30. Beschreibung und Analyse basieren auf einer Aufführung von The Principle of Pleasure in der Tanzfabrik Berlin 2016 sowie einer Videoaufnahme der Aufführung am 18.08.2015 im Theater La Chapelle in Montreal 2015, die mir für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung gestellt wurde. Minuten 1:33‒3:48.

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Voguing on Stage

Reyes’ Tänzerkörper zeigt sich während der Performance sinnlich, lustvoll und erotisiert. Dies kommt auch ganz deutlich in seiner Kostümwahl zum Ausdruck. Zuerst erscheint er in einem Catsuit auf High Heels (siehe Abbildung 6), dann nackt und schließlich in einer glitzernden Tight. Dazu trägt er ein Shirt, das fast nur aus Ärmeln besteht und ein gelbes Haarteil (siehe Abbildung 7).

Abb. 6: The Principle of Pleasure (Reyes 2015), Gerard Reyes, Fotograf*in: David Romero, 2015 Copyright Gerard Reyes.

Das Sinnliche und Lustvolle äußert sich auch in konkreten körperlichen Handlungen. Der Journalist Andre Sokolowski bezeichnet The Principle of Pleasure als »erotisch aufreizende One-Man-Show« (Sokolowski 2016), wobei eine der »markantesten und schönsten Szenen« (2016) die Aufforderungen an die Zuschauer*innen seien, auf der Bühne mitzuspielen. Während Reyes sich auf das Publikum zubewegt, die Finger schnippt und seine Hand einer Zuschauerin entgegenstreckt, erfolgen aus dem Off Anweisungen für das Verhalten der Zuschauer*innen: »Feel free to walk around the space«, »if you can’t see, do something about it«, »leave your cell phone on«, »you may take photos and films during the show« und »move«.117 Daraufhin gehen die Zuschauer*innen auf die Bühnenfläche und es beginnen Szenen, die Sokolowski als »Tanz-Erotik-Akt« (2016) bezeichnet. Reyes nimmt einen Stuhl und bewegt sich verführerisch auf und unter ihm, bis er eine Person auffordert, auf dem Stuhl Platz zu nehmen.118 Er berührt, fesselt, umarmt oder küsst den/die Zu117 118

Minute 5:38‒6:50. Minute 12:30.

4. Voguing on Stage

Abb. 7: The Principle of Pleasure (Reyes 2015), Gerard Reyes, Fotograf*in: David Romero, 2015 Copyright Gerard Reyes.

schauer*in.119 Dabei beginnt die Person durch körperliche Berührungen und Blickkontakt ein kommunikatives Verhältnis mit dem Tänzer einzugehen und streichelt diesen. Die umherstehenden Zuschauer*innen werden zu Voyeuren einer scheinbar intimen Situation und erleben hautnah, wie das dem Stück zugrunde liegende Lustprinzip performativ umgesetzt wird. Diese enge Verbindung zum Publikum ist von Reyes intendiert. Bezogen auf seine Erfahrungen in Trans-Bars und Strip-Clubs meint er: »These codes opened me up to consider a more equitable and fulfilling relationship between the ›audience‹ and ›performer‹ that is based on shared responsibility and communication« (Reyes in Verstricht 2015). Den Zuschauer*innen schreibt er unterschiedliche Rollen zu: »spectator, client, voyeur, performer, lover, dom, sub, friend, person« (Reyes in Verstricht 2015). Damit verweist er explizit auf die leibliche Ko-Präsenz von Akteur und Zuschauer*innen, die das theatrale Ereignis zusammen hervorbringen. So improvisiert er etwa Duette: Er stellt sich einer Zuschauerin tanzend gegenüber, diese nimmt den Rhythmus auf und beginnt mit ihm zu tanzen, Rücken an Rücken sinken sie zu Boden. Mit einer anderen Zuschauerin legt er sich einfach

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Minute 13:30‒19:28.

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Voguing on Stage

auf den Boden und eine Person bittet er, sich auf den Stuhl zu stellen, woraufhin er sanft deren Füße streichelt.120 Das intime Verhältnis zum Publikum kreiert physische Räume von unterschiedlicher Nähe und Distanz. Durch das Umhergehen und suggestive Lotsen der Personen bilden sich verschiedene Bühnenräume, die unterschiedliche Darbietungen erlauben. So ergibt sich eine laufstegähnliche Bühnenfläche, die an den Fronten von den Spiegeln begrenzt wird. Zu beiden Seiten verteilen sich die Zuschauer*innen. Reyes beginnt sein virtuoses Voguing.121 Mit wiegenden Schritten bewegt er sich auf dem Runway und zeigt technisch perfekt ausgeführte Hand- und Armbewegungen aus dem Tanzvokabular des Voguing. Im Duck-Walk läuft er den Laufsteg entlang, springt in einen Dip und vollführt gekonnt Drehungen. Meisterhaft präsentiert er das Bewegungsvokabular des Voguing in der glitzernden Tight, den strassbesetzten Ärmeln und seinem gelben Haarteil. Man erkennt einen professionell ausgebildeten Tänzerkörper. Dennoch dominiert im Stück nicht seine Technik, sondern seine erotische Ausstrahlung. Reyes meint, und dabei bezieht er sich auf das, was er beim Voguing gelernt hat: »It’s helped me to see how much of our behaviour is constructed and socialized because it gives you back the power to play with your body and represent yourself in ways that are usually stigmatized« (Reyes in Dupuis 2015). Es ginge um Respekt für sich selbst und um »assuming the things that you like and saying that you like them. Not be shy, not be afraid [...] giving people the opportunity to be themselves« (Radioeins 2016). Mit dieser Aussage verweist er auf die Kategorie Identität und die bewusste Inszenierung der Kategorie Gender. Reyes reflektiert sein vermeintlich feminines Gehen und Posieren, das er im Stück immer wieder zur Schau stellt, folgendermaßen: »Wenn ein Mann sich dieses Verhalten aneignet, wird dadurch umso deutlicher, dass es sich um einen Code handelt. Ich bin dazu in der Lage, es zu analysieren, zu erlernen und zu üben. Das heißt, dass es nicht allein den Frauen gehören kann. Diese ›femininen‹ oder ›maskulinen‹ Codes gehören uns allen« (Reyes in Kaminski 2016). Im Stück gibt es zwei Szenen, in denen Reyes sein extrovertiertes Erscheinungsbild aufhebt. Etwa in der Mitte der Aufführung zieht er seinen Nylon-NetzAnzug aus. Nackt posiert er, die Handflächen zeigend und aufrecht stehend. Danach begibt er sich in eine Pose, die Arme über dem Kopf, die Hände im Nacken haltend. Nackt stellt er sich dem Publikum gegenüber.122 Am Ende des Solos, nach dem Voguing-Auftritt in der glitzernden Tight, zitiert er Jacksons Sprung über den Stuhl, dabei hält er auf dem Stuhl stehend inne und singt ihren Song The Pleasure Principle.

120 Minute 30:50‒34:11. 121 Minute 26:10‒29:58. 122 Minute 20:18‒21:58.

4. Voguing on Stage

In seinem Stück tanzt Reyes Voguing, zitiert die Kleidungsweise der VoguingGemeinschaft und schafft Atmosphären, wie sie auf den Bällen anzutreffen sind. Ausgehend von der Beobachtung und Beschreibung des Stücks stelle ich folgende These auf: Reyes’ Soloarbeit geht von Gender Performances des Voguing aus, die sich im Laufe seines tänzerischen Schaffens als eine Möglichkeit der Selbstinszenierung erwiesen haben. Für The Principle of Pleasure wählt er Bewegungs- und Inszenierungsformen des Tanzstils Voguing, um Möglichkeiten von Gender im Tanz zu verkörpern. Das Deutungsmuster: Gender-Inszenierungen Reyes’ Aufführung The Principle of Pleasure lenkt meines Erachtens bewusst den Blick auf Voguing und Geschlechterinszenierungen und kann insofern paradigmatisch hierfür herangezogen werden. Das Deutungsmuster Gender-Inszenierungen wurde bei der Analyse der Expert*inneninterviews in Kapitel 3 gewonnen. Die Expert*innen verweisen in ihren Aussagen auf die Möglichkeit von ›exploring gender‹, ›gender expression‹ und ›gender expectations‹ (Kapitel 3.3.3.4 GenderInszenierungen). Dabei wird den Gender-Inszenierungen das Potenzial eines Handlungsvermögens zugesprochen. Verkörperungsprozesse bezogen auf die Kategorie Gender, wie sie sich im Stück The Principle of Pleasure vollziehen, werden in einen Dialog mit Theorien gebracht, die sich auf den Ballroom beziehen. Diese diskursive Herangehensweise ermöglicht es, körperliche Praktiken mit theoretischen Aussagen zu verschränken. Wichtig dabei erscheint mir, das im Stück Beobachtete in seiner ästhetischen Singularität zu bestimmen und aufzuzeigen, dass es nicht immer möglich ist, vorherrschende Diskurse zu Gender-Inszenierungen mit der Aufführung zu verbinden.

4.4.3

Gender-Inszenierungen im Stück The Principle of Pleasure »Die Geschlechtsidentitäten können weder wahr noch falsch, weder wirklich noch scheinbar, weder ursprünglich noch abgeleitet sein. Als glaubwürdige Träger solcher Attribute können sie jedoch gründlich und radikal unglaubwürdig gemacht werden.« (Butler 2016: 208, Herv. i.O.)

In der folgenden Analyse werden Gender Performances im Sinne einer künstlerischen Herangehensweise auf der Bühne betrachtet. Dabei rücken die konkreten Darstellungsweisen und Strategien der Verkörperung in den Mittelpunkt. Ich gehe davon aus, dass über das Kostüm und die Bewegungen Aspekte von Gender

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sichtbar werden. Dabei verweist die erzeugte Körperlichkeit auf Gender als Strukturkategorie und Praxis. Fragen von Geschlechterinszenierungen werden in der folgenden Analyse mit Aussagen zu und über Voguing verschränkt und auf der Grundlage von wissenschaftlichen Anschauungsmodellen diskutiert. Das Konzept Gender wird hierbei zur zentralen Analysekategorie. Reyes bringt in seinem Solo eine spezifische Geschlechtsidentität und einen spezifischen Geschlechtskörper hervor, der als solcher nicht bereits existiert. Im Anschluss an Butler (2015c) gehe ich davon aus, dass Gender in einem performativen Akt selbst hervorgebracht wird. Dabei stellt sich die Frage, wie sich die Materialität von Körperlichkeit bezogen auf die Kategorie Gender manifestiert und wie der sich bewegende Tänzerkörper als Ausdrucksmittel der Kategorie Gender erkennbar wird. Auch das Verhältnis von Körper und Kostüm spielt dabei eine bedeutende Rolle. Den Körper in seiner wahrnehmbaren Oberfläche und in seiner Intelligibilität zu erfassen, erfordert das Denken in Beziehungsgeflechten, die meines Erachtens den Fokus sowohl auf den Körper als auch auf Denkbewegungen legen. Dazu beziehe ich mich auf die Philosophin und Genderforscherin Kirstin Mertlitsch, die in ihrem Buch Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies (Mertlitsch 2016) das Denken in Begriffspersonen vorschlägt. Darunter versteht sie im Anschluss an Gilles Deleuze und Felíx Guattari (2000) Folgendes: »Begriffspersonen vollziehen sogenannte Denk-Bewegungen« (Mertlitsch 2016: 17). Dabei hebt sie besonders das körperliche Handeln hervor: »Begriffspersonen konstituieren sich durch ein ›Tun‹ bzw. eine Bewegung und nicht durch ein ›Sein‹. Dieses ›Tun‹ wird in Genderkontexten als ›Doing Gender‹ verstanden, das ein essentialistisches und metaphysisches Seinsverständnis kritisiert und Sein nicht als Substanz, sondern als ein (vergeschlechtlichtes) Tätigsein meint. Dabei bleibt das Tun nicht auf ein äußerliches Körper-Handeln reduziert. Es meint eine spezifische Form des affektiven und körperlichen Denkens der Begriffspersonen.« (Mertlitsch 2016: 17) Der Körper von Begriffspersonen wird von Mertlitsch in seinem Tun markiert, wobei dieses zwar äußerlich sichtbar ist, darüber hinaus aber in eine Form des Denkens mündet oder von einer Denkweise initiiert wird. Somit handelt es sich um einen in körperliche Bewegung übersetzten Denkprozess und reziprok um eine körperlich ausgeführte Bewegung, die Denkprozesse konstituiert. Das Denken in Begriffspersonen ermöglicht meines Erachtens, choreografische Ansichten in der tänzerischen Aufführung als Verschränkung eines Denkprozesses und einer körperlichen Praxis zu lesen. Begriffspersonen verweisen auf Konzepte und praktisches Handeln. Sie binden den Körper an Konzepte zurück, während die Konzepte gleichzeitig im Körper ihren Ausdruck finden. Reyes eröffnet durch sein tänzerisches Handeln und den Umgang mit dem Kostüm Perspektiven auf die Kategorie

4. Voguing on Stage

Gender, die auf Konzepten von Geschlechterwissen basieren, die sich im Körper materialisieren. Das Denken in Begriffspersonen eröffnet zwei Ebenen: Denkprozesse und Verkörperungsprozesse. Mit Brandstetter lassen sich auch zwei Ebenen der Reflexion, bezogen auf die Kategorie Gender im Tanz, identifizieren: »Tanz-Performances arbeiten mit Fragen der Geschlechter-Codierung stets auf (mindestens) zwei Ebenen, da TänzerInnen historische, soziale und kulturspezifische Körperkonzepte als Material ›verkörpert‹ zeigen, sie zugleich in Bewegung reflektieren sowie in choreographischen und theatralen Settings inszenieren« (Brandstetter 2013: 46). Die Ebenen der Verkörperung und der Inszenierung sind mit der Körperbewegung und Denkbewegung von Begriffspersonen engzuführen. Übertragen auf die Arbeit von Reyes bedeutet dies, dass er historische, soziale und kulturspezifische Körperkonzepte wie beispielsweise das feminine Gehen, das Tragen von effeminierter Nylonbekleidung, die Nacktheit als Aspekt von Körperlichkeit reflektiert, indem er weiblich konnotierte Bewegungscodes in einem Kostüm, das das anatomische männliche Geschlecht freilegt, zitiert, Bekleidungscodes hinsichtlich der Chiffrierung von weiblich und männlich verschiebt, dem Betrachter Deutungsmöglichkeiten von Nacktheit erlaubt und diese in einer Choreografie inszeniert. Über die eingenommene Gender-Perspektive nimmt die Choreografie die Funktion von Wissensspeicher und Wissens-Akteur ein. Sie funktioniert in diesem Sinne als Konzept einer Begriffsperson und als konkrete Handlungsanweisung einer Choreografie. Während der Aufführung überlappen die beiden Reflexionsebenen Konzepte und Konstruktionen mit Denkbewegungen und Körperbewegungen. Betrachtet man Reyes’ Solo, so offenbart sich sowohl in seinen Bewegungen als auch in der Wahl der Kostüme ein Bezug zur Erotik. Manche körperliche Ausdrucksweisen lassen sich mit den Attributen lasziv, erotisch und aufreizend beschreiben und zeigen sich sowohl in dem zuvor beschriebenen Tanz-Erotik-Akt als auch im femininen Gehen in extrem hohen Pumps. Dabei wird die Oberfläche zum Schauplatz von kulturellen Einschreibungen, wenn diese durch Attribute wie erotisch, feminin und die Wahl des Kostüms bestimmt werden. Zu sehen sind dabei nicht Geschlechtermerkmale, sondern kulturelle Effekte, die Zuschauer*innen oder Forscher*innen deuten. Mit einem Gedanken von Lehnert, der sich jedoch nicht auf Reyes’ Stück bezieht, möchte ich auf den Zuschreibungsprozess hinweisen, der kulturelle Substitute produziert: »Was wir sehen, sind nicht die anatomischen Geschlechtsmerkmale, sondern deren kulturelle Substitute: Kleidung, Körpersprache etc. Ein Geschlecht haben bedeutet immer auch, an seiner Produktion teilzuhaben« (Lehnert 2003: 215, Herv. i.O.). Das bedeutet, bezogen auf die konkrete Praxis Reyes’, dass erst durch sein Tun und seine Bewegungen sowie deren Wahrnehmung kulturell lesbare Effekte erzeugt werden. Ich gehe davon aus, dass die Aufführung nicht allein durch das Kostüm, den Catsuit, der seinen Körper in erotisierender Art erscheinen lässt, lesbar wird, sondern auch die Beziehung von

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Kostüm und Körper zueinander entscheidend ist. Des Weiteren werden die Effekte während des Wahrnehmungsprozesses erzeugt. Dabei dominieren die von einer Gesellschaft produzierten Substitute die Wahrnehmung und die Zuschreibungsprozesse. Die Beziehung Körper-Kostüm ist vom signifikanten Gegensatz Verbergen und Entblößen geprägt, der unterschiedliche Ordnungen von Erotik und Sichtbarkeiten des Körpers generiert. Der nackten Haut kommt dabei eine herausgehobene Rolle zu. Die Haut und das anatomische Geschlecht werden durch das Freilegen von körperlichen Tabuzonen gezeigt. Dabei konstituiert das Verhältnis von Kostüm und Nacktheit das Feld der Erotik. Die Opposition von Verhüllen und Zeigen bildet meines Erachtens den erotischen Kontext. Der Catsuit legt Partien der Körpermitte frei, umhüllt wie eine Nylonstrumpfhose die Beine des Tänzers und zeigt durch transparente Spitze das anatomische Geschlecht. Mit textilen Mitteln werden Positionen zwischen Kostüm und Körper ausgelotet und erotische Zuschreibungen ermöglicht. Als Referenzen möchte ich hier Karl Kraus und Petra Leutner aufführen. Kraus beschreibt Kleidung als »Lockmittel erotischer Wünsche« (Kraus 1906: 12) und Leutner meint, »dass die partielle Entblößung kraft unserer kulturellen Prägung besonders erotisierend wirkt« (Leutner 2015: 322). Das Verhältnis von verhüllten oder offengelegten Körperpartien erzeugt im Sinne von Kraus und Leutner eine erotische Wirkung. Durch den teilweise entblößten Körper erhält die Phantasie »genug Raum, um Begehren sinnlich und geistig zu beflügeln« (2015: 324). Freilegungen, Transparenz und Spitze fixieren die Aufmerksamkeit auf bestimmte Körperteile (2015: 327). Im Anschluss an Kraus und Leutner kann das Kostüm von Reyes folgendermaßen gelesen werden: Indem der Catsuit mit transparenter Spitze das anatomische männliche Geschlecht mehr ausstellt als verhüllt und damit eine tabuisierte Stelle zeigt, wird der Körper erotisch aufgeladen. Dies kann mit einer Äußerung von Kraus untermauert werden: »Das Erregende einer Entblößung besteht darin, daß ein Körperteil durch die bekleidete Umgebung isoliert zur Schau gestellt wird« (1906: 14, Herv. i.O.). Daraus folgere ich, dass das Beziehungsgeflecht von Kostüm und Körper das erotische Potenzial markiert, mit dem während der Aufführung gespielt wird. Diese Korrelation von Körper und Kleid kann mit Lehnert folgendermaßen beschrieben werden: »Der Körper ist da, damit das Kleid existiert – nämlich damit er auf eine bestimmte Weise realisiert werden kann« (Lehnert 2016: 82, Herv. i.O.). Die Aussage spiegelt das wechselseitige Verhältnis von Körper und Kostüm wider und verweist gleichzeitig auf das performative Potenzial von Kleidung, das Bedeutungszuweisungen provozieren kann (Lehnert 2003: 216), wie diese hier im Sinne einer erotischen Zuschreibung verläuft. Reyes streift sich den Nylon-Anzug vom Körper und zieht die Stilettos aus. Er präsentiert sich nackt.123 Der Akt der Entblößung dauert nur kurz. Er zieht am Trä123

Minute 20:10‒21:09.

4. Voguing on Stage

ger des elastischen Anzuges und erweckt kurz den Anschein eines beginnenden Striptease.124 In der Hocke sitzend zieht er die Stöckelschuhe aus. Dann nimmt er in der gänzlich unbekleideten Zurschaustellung seines Körpers Posen ein, die nicht als erotisch, sondern vielmehr als ›körperlich‹ charakterisiert werden können. Reyes’ hüllenloser Auftritt richtet den Blick darauf, was der Körper ist, ohne diesen zu substantialisieren oder zu essentialisieren. Für die Analyse stellt sich die Frage, warum dieser nackte Körper dennoch Aufmerksamkeit erzeugt. Die von Reyes zur Schau gestellte nudistische Körperlichkeit spart meines Erachtens sexuelle Dimensionen aus. Sein Nacktsein kann als Zwischenraum gedeutet werden, der das Spannungsverhältnis zwischen sinnlichen Dimensionen und bloßer Körperlichkeit auslotet.125 Im Anschluss an Kraus, der das Verhältnis von Kleidung und Erotik verhandelt, unterliegt der nackte Körper den Vorstellungen von Kleidung: »Selbst unsere Vorstellung der Nacktheit ist noch unlöslich mit der Vorstellung der Kleidung verbunden. Wir empfinden das Bekleidetsein als den natürlichen Zustand und das Nackte ist für uns in erster Linie das Entkleidete und erscheint uns als Blöße, als Nudität« (Kraus 1906: 14). Diese Sichtweise, die den nackten Körper in Relation zu einem bekleideten Körper setzt, hebt zwar die Formen des Körpers hervor, wirkt aber nicht erotisierend. Kraus meint: »Wie das Schamgefühl eine Entblößung stärker empfindet als völlige Nacktheit, so wird auch das direkte erotische Empfinden durch die Blöße ungleich heftiger erregt als durch die Nacktheit« (1906: 14). Demnach lässt sich der Moment des Nacktseins in Reyes Soloarbeit als Moment, der keine Erotik erzeugt, wahrnehmen. Denkt man den Körper gebunden an das wechselseitige Verhältnis von Kleid und Körper, so kann der kostümierte Körper zum »Träger einer erotischen Idee« (ebd.) oder »zum Fetisch« (ebd.) und die Nacktheit als Ausdruck von »Harmonie des völlig nackten Körpers« (ebd.) gedeutet werden. Auch der Philosoph Georgio Agamben beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Kleid und Körper. Mit Kraus und Agamben werden divergente Sichtweisen, die zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kontexten formuliert wurden, nacheinander aufgeführt.126 In seinem Buch Nacktheiten (2010) nimmt Agamben den Mangel zum Ausgangspunkt, der Nacktheit durch eine nicht vorhandene Kleidung markiert. Adam und Eva hätten ihre Nacktheit erst nach dem Sündenfall

124 Annette Hartmann erklärt den Begriff Striptease im Kontext Tanz folgendermaßen: »Der eigens für diese Tänze Anfang der 1930er Jahre geprägte Begriff ›Striptease‹ (von engl. ›to strip‹: ausziehen, ›to tease‹: necken, reizen) verweist auf den kokett-frivolen Gestus, mit dem diese Entkleidungsdarbietungen vollführt wurden« (Hartmann 2016: 404). 125 Im Sinne von Rost und Schrödl kann hier auch von Repräsentation und Präsenz gesprochen werden (2017: 3). 126 Weitere Untersuchungen zum Aspekt Nacktheit siehe Ulrike Traub Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900 (2010) und Jean-Claude Bologne Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls (2001).

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bemerkt. Die Nacktheit davor sei eine andere. Diejenige davor beschreibt Agamben wie folgt: »Ein Kleid der Gnade bedeckte sie, die Glorie umhüllte sie wie mit einem Gewand« (Agamben 2010: 98). Nach dem Sündenfall markiert die Nacktheit den »Verlust des Gnadenkleids« (2010: 99). In dieser theologischen Lesart spielt das Kleidungsstück eine zentrale Rolle, auch wenn das sogenannte Gnadengewand nicht materiell ist. Dessen Mangel bzw. Verlust, so folgert Agamben, lässt die Entkleidung bzw. Entblößung als Sünde erscheinen (2010: 101). Erst das Kleid lasse die Würde des Menschen erkennen (2010: 107). Den Zusammenhang von Natur und Gnade, Nacktheit und Kleid (2010: 111) überführt Agamben in einen Gedankengang zu »einer Nacktheit ohne Scham« (2010: 121). Dem Mangel, der Nacktheit als Entzug (2010: 133) setzt er eine philosophische Betrachtungsweise gegenüber, die die Nacktheit als Chiffre der Erkenntnis bestimmt (2010: 136). Das Erkenntnispotenzial liegt darin, dass der nackte Körper jenseits eines Geheimnisses wahrnehmbar ist (2010: 134). Dabei nimmt das Gesicht eine bedeutende Rolle ein, es wird zum Komplizen der Nacktheit (2010: 147) und drückt nichts anderes mehr aus als das »Sich-zur-Schau-Stellen selbst« (ebd.) und »bloßes Ausgestelltsein« (ebd.). In The Principle of Pleasure ist folgende Szene zu beobachten: Reyes steht nackt da, mit gestreckten Armen, die Handflächen nach vorne geöffnet. Im Zeitlupentempo verändert er seine Pose und führt die eine Hand zum Kopf, während er die andere in die Hüfte stützt. Die letzte Pose rahmt sein Gesicht, indem er die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sein Gesicht rückt dabei in den Mittelpunkt der Betrachtung.127 Agamben folgend betrachte ich Reyes’ Nacktheit als ein »Sich-zurSchau-Stellen« (2010: 147), das dazu dient, die erotisierende Funktion von Kleidung zu verstärken und die Nacktheit als Chiffre der Erkenntnis in dem Sinne zu deuten, dass Erkenntnis mit der Offenlegung von Konstruktionsmechanismen gleichzusetzen ist. Agamben meint, dass sich hinter der Hülle kein Geheimnis verbirgt und das Nacktsein sich als reiner Schein erweist (2010: 148). Insofern lautet seine abschließende und schlichte Erkenntnis: »Und doch ist es diese Entzauberung der Schönheit durch die Nacktheit, diese erhabene und armselige Zurschaustellung des Scheins ohne Geheimnis noch Bedeutung, die dazu bestimmt sind, das theologische Dispositiv zu entschärfen, um jenseits des Prestiges der Gnade und der Verlockungen der verderbten Natur den schlichten, unscheinbaren Körper des Menschen sichtbar zu machen.« (Agamben 2010: 148‒149) Die von Reyes zur Schau gestellte Nacktheit lässt sich als Umkehrung des theologischen Dispositivs lesen, das jenseits von Bedeutungszuschreibungen den Körper sichtbar macht. In seinem Nacktsein verweist er auf den ›bloßen‹ Körper. Dies

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Minute 21:00‒21:50.

4. Voguing on Stage

geschieht im tänzerischen Ereignis allerdings in einem doppelten Sinn: zum einen als ein bloßes Ausstellen des Körpers und zum anderen als Verweis auf mögliche Verkörperungsprozesse. Sein Nacktsein markiert dabei nicht die Natur, aber auch nicht die Kultur eines trainierten Tanzkörpers, sondern vielmehr eine Option. Es kann als »Strategie der Betonung des materiellen Körpers« (Foellmer 2013: 146) gelesen werden. Der nackte Körper erscheint weder erotisierend, wie dies dem bekleideten Körper zugeschrieben wurde, noch natürlich, sondern erweist sich hier als eine vom Kontext der Performance abhängige Rezeption, als eine bloße Ausstellung des Körpers. Der Körper wird zur Option, um mittels textiler Strategien und tänzerischem Verhalten unterschiedliche Geschlechterinszenierungen zu intendieren. Im Moment des Entkleidens, des Nacktseins und des WiederAnkleidens stellt Reyes Konstruktionsmechanismen aus. Der Körper zeigt sich hier als konkret wahrnehmbare Materialität. Gleichzeitig markiert der nackte Körper einen Zwischenraum, in dem er zur Option wird. Reyes legt damit Konstruktionsmechanismen offen. Erst durch die Verwendung von Kostümen und expressiven Bewegungen werden Gender Performances sichtbar. Die Bewegungssprache und der Umgang mit Kostümen ermöglichen im Kontext des Voguing GenderInszenierungen auf der Bühne. Gender Performances werden dort mittels des Kostüms und der Bewegung in Szene gesetzt. Die folgende Darstellung des GenderSystems dient dazu, Gender-Inszenierungen in The Principle of Pleasure im Kontext des Voguing zu identifizieren.

4.4.3.1

Das Gender-System der Ballroom-Kultur

Der Geschlechterforscher Marlon M. Bailey liefert eine Theorie zu dem im Ballroom vorherrschenden Gender-System. Seine Untersuchung gründet auf Beobachtungen innerhalb der Ballroom-Community in Detroit und anderen Städten (Bailey 2016: X). Die zum Gender-System gehörenden Kategorien und Kriterien werden durch »Ballroom members’ engagement in individual and communal labor« (2016: 30) konstruiert, die heteronormative und heterosexuelle Sichtweisen erweitern. Dabei wird die Performance zu einem kulturellen Labor, um Sex- und Genderidentitäten jenseits von gesellschaftlich geprägten Vorstellungen zu verkörpern. Bailey beleuchtet die Ballroom-Kultur mit dem Blick auf die Arbeit am Körper, »to ›work the body‹ through performance and the overall presentation of self« (Bailey 2011: 366) und greift Körperarbeit und Selbstpräsentation als zentrale Aspekte heraus. Die Gemeinschaft des Ballrooms beschreibt er als »community and network of Black and Latina/o women, men, and transgender women and men who are lesbian, gay, bisexual, straight, and queer« (2011: 367). Mittels ihrer Performances kreieren diese einen Raum, in dem sie vorherrschende Normen von Gender, Sex, Familie und Gemeinschaft kritisieren und umformulieren (ebd.). Das Gender-System ist eine Kreation der Ballroom-Gemeinschaft. Es besteht aus »categories that reflect

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Voguing on Stage

lived experiences and are fashioned and rehearsed through performances at balls« (2011: 369), es ist eine »cultural practice of ballroom culture« (ebd.), enthüllt »how race, class, gender, and sexual oppression shape members’ lives« (ebd.) und es ist ein Beispiel dafür, »that culture plays in the construction, the revision, and the reconstitution of gender through performance« (ebd.). In dieser Charakterisierung kommt zum Ausdruck, dass dem Gender-System mehrere Funktionen innewohnen: nicht nur die der Formung und Strukturierung der Performances, sondern auch die der Selbstreflexion. Es ist keine bloße Theorie, sondern eine kulturelle Praxis, mit der Mechanismen der sexuellen Unterdrückung offenbart und Fragen zu den Kategorien race und class performativ beantwortet werden. Grundsätzlich spiegelt diese kulturelle Praxis die Konstruktion, Überarbeitung und Rekonstruktion von Kultur durch performative Akte wider. Das Gender-System beinhaltet die performative Herstellung vielfältiger Identitäten: »The ballroom gender system allows more categories of identity and articulations of sex, gender, and sexuality than those available to members in their lives outside of this sphere« (2011: 369). Bailey unterscheidet zwischen den Kategorien Sex und Gender. Beide betrachtet er als veränderbar. Bailey zählt drei Kategorien von Sex auf: »female (one born with anatomical female sex characteristics), male (one born with male anatomical sex characteristics), and intersex or transsexual (one born with both female and male, or indeterminate anatomical sex characteristics)« (2011: 370). Die Dimensionen der Kategorie Sex basieren zum einen auf bestimmbaren anatomischen und zum anderen auf unbestimmbaren anatomischen Eigenheiten. Die Auffassung, dass Kategorien von Sex veränderbar sind und der Körper durch verschiedene Vorgänge, wie beispielsweise Hormontherapien oder Implantate, veränderbar ist, ist die Basis von folgendem sechsteiligen Gender-System (Bailey 2011: 370): »(1) butch queens, who are biologically born male who identify as gay or bisexual men and are or can be masculine, hypermasculine, or feminine; (2) femme queens (MTF), who are transgender women or people at various stages of gender reassignment-through hormonal and/or surgical processes; (3) butch queens up in drags, who are gay men who perform drag but who do not take hormones and who do not live as women; (4) butches (FTM), who are transgender men or people at various stages of gender reassignment or masculine lesbians or women appearing as men regardless of sexual orientation (some butches use hormones and have surgical procedures to modify their bodies); (5) women, who are biologically born females who identify as lesbian, straight, or queer; and (6) men/trade, who are biologically born males who are straight-identified men.« (Bailey 2011: 370‒371) Das System ist queer in dem Sinne, dass Identitäten fluid und veränderbar sind, die Kategorien sind als performative Prozesse zu verstehen. Nach Bailey produzieren die Performances einen »counterdiscourse of identification« (2011: 372). Wie

4. Voguing on Stage

der Akt der Herstellung unterschiedlicher Identitäten auf den Bällen konkret geschieht, hängt nicht nur von der Selbstidentifikation, sondern auch von Formen der Selbstdarstellung ab: »The performative identities that are a part of the gender system of ballroom culture extend beyond the ball events into practices of selfidentification and self-fashioning in members’ lives in the outside world« (2011: 376). Die Selbstgestaltung geht demzufolge auch über die Räumlichkeit der Bälle hinaus. Im Folgenden greife ich den Aspekt der Formierung des Selbst unter Berücksichtigung der Kategorie Realness heraus, die auf den Bällen eine zentrale Rolle spielt, da sie das Fundament jeglicher Kritik an Performances bildet. Bailey definiert Realness wie folgt: »It is a set of performance criteria, a strategy, and, as I argue, a useful analytic concept that emerges from the ballroom community. Realness requires adherence to certain performances, self-presentations, and embodiments that are believed to capture the authenticity of particular gender and sexual identities« (2011: 377). Er spricht dem Begriff Realness analytisches Potenzial zu, da Leistungen bemessen werden. Sind Verkörperungen authentisch oder Geschlechteridentitäten erkennbar, sind sie real. Realness ist demnach eine Strategie des Argumentierens, wenn es gilt, die dargestellte Wahrhaftigkeit zu beurteilen. Sie besitzt »discursive power« (2011: 378), um Ideen über Weiblichkeiten oder Männlichkeiten während der Performance im Sinne von »re-create« (ebd.) und »re-present« (ebd.) zu verhandeln. Die Funktion der während des Balls gestellten Frage ›Is this real?‹ ist mit einem Leitfaden oder Richtwert vergleichbar, der das Verhältnis zwischen Gender-System und den wettbewerbsfähigen Kategorien bestimmt: »As the nexus between the gender system and the competitive categories of the ball, along with members’ own experiences, realness furnishes the meaning behind the subjectivities, and, at the same time, it underpins the criteria upon which categories are judged.« (Bailey 2011: 378) Das von Bailey dargestellte Gender-System geht über die Vorstellung der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit hinaus. Die Performance wird zu einer ontologischen Größe, wenn es gilt, Fragen der Verkörperung von Geschlecht zu beantworten.

4.4.3.2

Die Aufführung im Kontext des Gender-Systems

Ich schlage vor, The Principle of Pleasure als eine Performance der Kategorie »realness with a twist« (Bailey 2011: 379) zu betrachten. Meines Erachtens schöpft Reyes diese Möglichkeit choreografisch und tänzerisch aus, wenn er in unterschiedlichen Kostümen auftritt, um vielfältige Geschlechterrollen zu verkörpern. Die Kategorie »realness with a twist« (ebd.) erlaubt den Performer*innen im Ballroom, während einer Performance »thug realness« (ebd.) und »voguing femme« (ebd.) zu perfor-

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Voguing on Stage

men. Damit sind Verkörperungen innerhalb eines Auftritts gemeint, die den coolen Gangster im Gegensatz zur effeminierten Weiblichkeit mimen: »The competitor walks the runway first performing ›thug realness‹ and then in an instant the competitor starts voguing femme during the same performance. [...] This demonstrates the skill of the competitor to instantly change her/his gender performance from ›unclockable‹, meaning they unmark themselves as queer, to ›clockable‹, marking themselves as queer. [...] For each of these categories, the particular expectations of realness and what one needs to do to execute them are known and accepted throughout the ballroom community.« (Bailey 2011: 379)128 Das Beispiel zeigt, dass innerhalb einer Performance verschiedene Identitäten verkörpert werden können und dass Realness im Verhältnis zu den verkörperten Kategorien zu betrachten ist. Auch wenn Reyes’ Performance nicht dem von Bailey aufgeführten Beispiel zwischen »thug realness« (ebd.) und »voguing femme« (ebd.) entspricht, gehe ich davon aus, dass die Verkörperung von Geschlecht in The Principle of Pleasure zwei Ausdrucksweisen widerspiegelt, die durch das Nacktsein voneinander getrennt aufgeführt werden. Dabei markiert die bereits beschriebene Nacktheit einen Zwischenraum, der die Konstruktion offenlegt. Reyes trägt als Tänzer zuerst einen Catsuit, ist dann nackt und kleidet sich danach wieder an. Er zitiert Kategorien des Gender-Systems wie »Butch Queens« (Bailey 2016: 36) und »Butch Queens Up in Drags« (ebd.), wenn er auf High Heels in einem Catsuit gekleidet im Model-Gang auf den Zuschauerraum zugeht. »Butch Queens Up in Drag« (2016: 37) beschreibt Bailey als »gay men who perform as women« (ebd., Herv. i.O.); sie nutzen »padding, wigs, and clothing to create their drag peformance« (2016: 38). Die »Butch Queen identity« (2016: 43) charakterisiert er als eine Gender Performance, die die Binarität zwischen maskulin und feminin reflektiert und in ihrer extremen Ausdrucksweise auf der Bühne dargestellt und sogar simultan verkörpert werden kann (2016: 44). Butch Queens bringen ein transgressives Potenzial zum Ausdruck (ebd.). Lesbar sind diese Geschlechterkonzepte allerdings nur im Zusammenhang mit dem Walk, der Performance auf den Bällen und der Selbstpräsentation (2016: 45). Übertragen auf die Soloarbeit The Principle of Pleasure schlage ich folgende Lesart vor: Reyes geht in einer höchst effeminierten Art und Weise auf den Zuschauerraum zu, während sein Erscheinungsbild durch das Tragen eines Bartes auf männlich codierte Zuschreibungen verweist.129 Sein Auftreten lässt sich als eine Form von Butch Queen innerhalb des Gender-Systems bestimmen, die ein »continuum from masculinity to femininity« (2016: 44) performt und »the masculine/feminine 128 129

Bailey verweist in einer Fußnote auf Peggy Phelan, die sich mit den Begriffen unmarked und unclockable differenziert auseinandersetzt (Bailey 2011: 386). Minute 4:20‒4:53.

4. Voguing on Stage

binary of gender representation« (2016: 44) reflektiert. Reyes repräsentiert gleichzeitig Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Auf dem Catwalk zeigt er diese in einem Catsuit gekleidet im Stil des Vogue Fem, den er in dramatischer und übereffeminierter Art und Weise darstellt. Das Repräsentieren von Weiblichkeiten, wie das Gehen in der Manier eines Models, scheint auf die Unhintergehbarkeit von weiblichen Stereotypen hinzuweisen und gleichzeitig wird damit die Konstruiertheit des Weiblichen sichtbar gemacht. Denn indem Reyes gleichzeitig männliche und weibliche Geschlechterdarstellungen miteinander verbindet, wird sichtbar, dass die von einer Gesellschaft festgelegten Geschlechtsmarker männlich und weiblich Geschlechtskonstruktionen bestimmen.130 Die Konstruktion von Geschlecht wird dadurch offenkundig. Die Kunst des Wechsels von Geschlechtern zeigt somit eher Strategien des Imitierens und weniger Verkörperungsprozesse einer sogenannten Realität. Reyes führt mit künstlerischen Darstellungsweisen und ästhetischen Gestaltungsmitteln wie Bewegung und Kostüm die in einer Gesellschaft vorherrschenden Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte gleichzeitig auf. Kostümiert mit einer glitzernden Tight, einem strassbesetzten Oberteil, einem gelben Haarteil und geschminkten Lippen beginnt Reyes seinen Runway. Der Runway erlaubt den Performer*innen im Ballroom, durch »movement, makeup and accessories« (Moore 2017: 150) performative Möglichkeiten (ebd.) zu erweitern. Der Catwalk sei »a parade ground for identitiy, creativity and personhood« (2017: 151) und diene der Darstellung des Selbst. Betrachtet man Reyes’ virtuosen Catwalk auf der Folie von Moores Aussagen, so kann der Moment des Schminkens und Ankleidens als Vorbereitung für den Catwalk betrachtet werden. Reyes tanzt virtuos Voguing.131 Sein ausgebildeter Tanzkörper lässt technisch anspruchsvolle Bewegungen des Voguing einfach erscheinen. Mit seiner Performance beweist er seine Kunstfertigkeit und zeigt körperliche Ausstrahlung. Er präsentiert typisches Voguing-Vokabular, virtuose Handperformances, Spins, Dips, Duckwalks und Floor Performances.132 Moore schreibt Voguing einen »empowering aspect« (2017: 153), die Möglichkeit »to find something about ourselves« (ebd.) und der Selbstliebe »loving yourself« (ebd.) zu. Auch wenn es in Moores Aussage nicht explizit um Geschlechterinszenierungen geht, wird doch eine offenbar wichtige Essenz des Voguing thematisiert, nämlich die einer vielfältigen Selbstdarstellung, wie sie auch in The Principle of Pleasure zum Ausdruck kommt.

130 Vgl. hierzu die Ausführungen von Eveline Kilian in ihrer Filmanalyse »Transgender im Film: Boys Don’t Cry« (2008), die den Begriff Geschlechtsmarker verwendet, um Vorstellungen von männlich und/oder weiblich, die in sozialen Interaktionen zum Ausdruck kommen, zu bezeichnen (2008: 222). 131 Minute 26:10‒29:58. 132 Minute 26:00‒30:27.

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Voguing on Stage

Der oben unternommene Versuch, die Gender Performances in The Principle of Pleasure in das Gender-System der Ballroom-Gemeinschaft einzupassen, zeigt, dass dies nicht eindeutig im Sinne einer systematischen Einordnung möglich ist. Zwar lassen sich Verbindungslinien zum Gender-System ziehen und Kategorien identifizieren, dennoch weist Reyes’ Performance über dieses System hinaus. Daraus lässt sich folgern, dass Gender Performances das Gender-System stetig fortschreiben. Um dies zu unterstreichen, könnte man Reyes’ Performance, so mein Vorschlag, in Anlehnung an eine »realness with a twist« (Bailey 2011: 379) als eine ›construction with a twist‹ Performance bezeichnen. Im Prozess der Deutungszuweisung wird sichtbar, dass die Gender-Inszenie-  rungen im Stück The Principle of Pleasure im Rahmen einer ästhetischen Aneignung vollzogen werden. Es handelt sich um Verschränkungen von Gender-Wissen aus dem Ballroom, Kunstkörpern, Effekten von Materialisierungsprozessen, kulturellen Zuschreibungen und neuen Verkörperungen von Geschlecht, die in einem performativen Akt hervorgebracht werden. Somit geht es in dieser Performance nicht um eine bloße Übernahme der Ausdrucksweisen des Gender-Systems, sondern um deren Erweiterung. Daran werde ich die Aussagen Butlers, welche sie zum Ballroom vornimmt, anschließen, um das von ihr analysierte Potenzial einer Gender Performance im Kontext des Voguing zu beleuchten.

4.4.4

Der Ballroom als ambivalenter Ort: Zwischen Aneignung und Abweichung von heteronormativen Geschlechterinszenierungen

Zum Thema Gender-Inszenierungen im Ballroom ziehe ich Aussagen von Butler heran. Ihre Analysen beziehen sich auf die Betrachtung des Dokumentarfilms Paris is Burning (Livingston 1990) und entstanden in den 1990er Jahren. Sie sind insofern als historische Abhandlung zu lesen. Butler betrachtet die Bälle ebenfalls als einen Ort, Konstruktionen von Geschlechteridentitäten ausstellen zu können.133 Ihre Argumentation ist von einem permanenten Hin und Her zwischen Aneignung und Subversion geprägt. In ihrer Auseinandersetzung mit der Ballroom-Kultur, die auf der Rezeption des Films Paris is Burning gründet, kommt sie zu keinem Schluss, der sich verallgemeinern ließe. Vielmehr stellt sie Fragen zu Aneignung und Subversion.134 Sie fragt, ob das 133

134

Auf Übersetzungsschwierigkeiten und historische Betrachtungsweisen der Begriffe Geschlechteridentitäten, Geschlechterzugehörigkeiten, Sex und Gender wird in dieser Abhandlung nicht eingegangen, das würde den Rahmen einer Aufführungsanalyse sprengen. Ich verweise auf die Darstellungen von Christina von Braun und Inge Stephan: Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien (2013: 11‒53) und auf Nina Degele: Gender/Studies. Eine Einführung (2008). Butler beschreibt »Die Ambivalenz von drag« (2014: 177, Herv. i.O.) in ihrem Buch Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (2014).

4. Voguing on Stage

Parodieren der herrschenden Normen ausreicht, um diese zu ersetzen, oder ob hegemoniale Normen verfestigt werden (Butler 2014: 177‒178). Sie unterstreicht, »daß es keine zwangsläufige Verbindung zwischen drag und Subversion gibt und daß drag so gut im Dienst der Entnaturalisierung wie der Reidealisierung übertriebener heterosexueller Geschlechternormen stehen kann« (2014: 178, Herv. i.O.). Im günstigen Fall sei »drag der Ort einer bestimmten Ambivalenz« (ebd., Herv. i.O.). Das subversive Potenzial der Figur Drag sieht sie darin, die Norm der hegemonialen Heterosexualität zu entnaturalisieren, die Idealisierung der binären heterosexuellen Geschlechternorm aufzudecken und deren Ursprünglichkeit zu bestreiten. »In diesem Sinne also ist drag in dem Maße subversiv, in dem es die Imitationsstruktur widerspiegelt, von der das hegemoniale Geschlecht produziert wird, und in dem es den Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit bestreitet« (ebd., Herv. i.O.). In der Figur Drag werden nach Butler Subjekte konstituiert, die gleichzeitig die Norm aufgreifen und verwerfen. Butler stellt die Frage, ob die Norm durch Unterminierung oder Reidealisierung entnaturalisiert wird: »Ist die Entnaturalisierung der Norm erfolgreich in der Unterminierung der Norm, oder handelt es sich um eine Entnaturalisierung im Dienst einer verewigenden Reidealisierung, die nur unterdrücken kann, selbst dann oder gerade dann, wenn es am wirkungsvollsten verkörpert ist?« (Butler 2014: 183) Die Frage, ob es sich bei der Figur Drag um eine Entnaturalisierung handelt, zielt auf den Aspekt Realness, mit dem Kategorien beurteilt werden. Realness wird dabei als Fähigkeit betrachtet, überzeugend und glaubwürdig zu sein, indem der naturalisierte Effekt dargestellt wird. Die Kunstfertigkeit des darstellenden Körpers und des dargestellten Körpers zeigt sich oft in einer Deckungsgleichheit (2014: 183). Butler folgert: »Das Zitieren der herrschenden Norm verschiebt in diesem Fall nicht die Norm; es wird vielmehr zu dem Mittel, mit dem die herrschende Norm äußerst schmerzhaft wiederholt wird gerade als Wunsch und Darstellung von seiten derjenigen, die die Norm sich unterwirft« (2014: 187). Insofern dokumentiere »Paris is Burning weder einen wirkungsvollen Aufstand noch eine schmerzliche, erneute Unterordnung, sondern eine stabile Koexistenz von beidem« (2014: 193). Die Gleichzeitigkeit von Aufstand und Unterordnung beschreibt sie folgendermaßen: »Das ist keine Aneignung der herrschenden Kultur, um ihren Bestimmungen untergeordnet zu bleiben, sondern eine Aneignung, die die Bestimmungen der Beherrschung umgestalten will, eine Umgestaltung, die selbst so etwas wie ein Handlungsvermögen ist, eine Macht im Diskurs und als Diskurs oder eine Macht in der Darstellung und als Darstellung, die wiederholt, um zu erneuern – und die manchmal erfolgreich ist.« (Butler 2014: 193)

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Voguing on Stage

Zwischen Bestimmung und Beherrschung sowie Unterordnung und Umgestaltung konstatiert Butler ein Handlungsvermögen, das sie befragt. Ausgehend von der kritischen Rezeption des Films Paris is Burning fragt Butler weiter: »Wenn aber der Film die Ambivalenz nachweist, dasjenige zu verkörpern, was man sieht – und an der Verkörperung zu scheitern –, dann wird sich zwischen jenem hegemonialen Aufruf zur normativierenden Geschlechtsidentität und deren kritischer Aneignung eine Distanz auftun« (2014: 193‒194, Herv. i.O.). Diese Distanz verläuft entlang der Abhängigkeit zur kulturellen Situation, die normativierende Geschlechteridentitäten aufruft, und der Abkehr von der kulturellen Situation, die nonkonforme Geschlechteridentitäten auslotet. Butler betrachtet dies als stabile Koexistenz von Aneignung und Subversion. Entlang dieser Ambivalenz können Körpertechniken, die zur Verkörperung von Geschlechteridentität dienen, diskursiv betrachtet werden. Butler stellt Fragen zur Aneignung und Subversion, die in ein Handlungsvermögen von vielfältigen Geschlechteridentitäten münden, dem das Paradox von Aneignung und Subversion innewohnt.135 Sie geht dabei von den Verkörperungsstrategien der Figur Drag aus. Von dieser historischen Auseinandersetzung ausgehend, möchte ich nun einen Bogen vom Ballroom bzw. seiner filmischen Inszenierung und diskursiven Betrachtungsweise zum Stück The Principle of Pleasure spannen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass zwischen den Voguing-Performances im Ballroom, der filmischen Dokumentation, den theoretischen Auseinandersetzungen und der Performance The Principle of Pleasure Verbindungslinien gedacht werden können, die auf den soziokulturellen und historischen Implikationen des Voguing, bezogen auf die Kategorie Gender, fußen und fortgeschrieben werden. Dabei gehe ich davon aus, dass unterschiedliche Dimensionen der Performativität vorherrschen. Die von Butler markierten Ambivalenzen in der Figur Drag erweisen sich im tänzerischen Verhalten Reyes’ als pure subversive Kraft im Sinne eines Handlungsvermögens, auch wenn seine Performance nicht als Drag-Inszenierung zu verstehen ist. Die Ambivalenz zwischen Aneignung und Subversion zeigt sich in der Gleichzeitigkeit von männlichen und/oder weiblichen Verkörperungsprozessen und in seinem expressiv erotischen Tanz, welche auch durch den Zwischenraum der Nackheit markiert wird. Die Kategorie Gender wird im weiteren Verlauf der Analyse als ein Handlungsvermögen betrachtet.

135

Im Gegensatz dazu steht Ute Schirmers Auffassung, dass »Drag-Praxen« (2010: 30) zwar als »Vorführung und Destabilisierung der hegemonialen, ideologischen Funktionsweise von Geschlecht« (2010: 30) betrachtet werden, Butler allerdings die Sichtweise verliere, diese als eine »produktive, möglicherweise wirklichkeitskonstituierende Dimension dieser Praxis« (ebd.) zu betrachten. Schirmers Blick steht stellvertretend für eine kritische Auseinandersetzung mit Butlers Theorien.

4. Voguing on Stage

Voguing als Möglichkeit vielfältiger Gender-Inszenierungen im Ballroom und auf der Theaterbühne Die diskutierten Aussagen von Butler und Bailey basieren auf unterschiedlichen Herangehensweisen: Bailey beobachtete jahrelang die Ballroom-Kultur, während Butlers Analyse im Anschluss an das filmische Material Livingstons in den 1990er Jahren erfolgte. Allen Auffassungen liegt jedoch ein performatives Konzept zugrunde. Butler betrachtet Gender auf der Folie der Unhintergehbarkeit von Kultur, was bedeutet, dass der Mensch stets ein kulturelles Wesen ist. Ausgehend davon diskutiert sie die Ambivalenz der Figur Drag, die sie als Koexistenz von Aneignung und Umgestaltung herrschender Normen betrachtet. Bailey betrachtet das Gender-System als stets erweiterbar. Selbstgestaltungen, die die Norm aufgreifen oder die Norm brechen, werden in gleicher Weise als Kreationen oder Präsentationen des Selbst gesehen. Entscheidend ist dabei die Realness, ein analytisches Konzept, welches das Beurteilen von Performances erlaubt. Im Vordergrund steht dabei die Authentizität. Butler betrachtet die Kategorie Realness auch als Maßstab einer Beurteilung, die jedoch nur den Effekt der Echtheit bestimme. Dahinter stehe eine Kunstfertigkeit, mit der ein naturalisiertes Idealbild einer Norm dargestellt werden könne. Sowohl Butler als auch Bailey schenken dem Körper mit Blick auf soziale Einschreibungen besondere Aufmerksamkeit. Während Bailey stärker die Verkörperungsprozesse und die theatralen Prozesse der Inszenierung auf den VoguingBällen thematisiert, sich auf Selbstdarstellungsweisen mithilfe von Kostüm und Bewegung konzentriert und den Körper in seiner äußeren Präsenz in den Vordergrund rückt, refiguriert Butler Körper im Kontext einer diskursiven Betrachtungsweise. Körperliche Materialität wird in den Betrachtungen Baileys zum Modus von Veränderungsmöglichkeiten und in denen Butlers zum Handlungsvermögen. Vergleicht man diese beiden Perspektiven, die zwischen der Materialität des Körpers und dem diskursiven Körper als kulturellem Konstrukt oszillieren, so markiert der Körper einen neuralgischen Punkt, da an ihm die Materialität als Ausgangspunkt von Veränderung im Sinne Baileys bewiesen, aber zugleich im Sinne Butlers bestritten werden kann. Baileys und Butlers Betrachtungen, die sich auf künstlerische Praktiken der Aneignung und Subversion im Kontext von VoguingBällen beziehen, lassen sich theoretisch voneinander abgrenzen, wenn man zugrunde legt, dass Bailey von einem essentialistischen Ansatz ausgeht, Butler jedoch einen konstruktivistischen verfolgt. Den Körper behandeln sie unter verschiedenen Perspektiven. Bailey geht von konkreten körperlichen Praktiken der Selbstinszenierung aus, während Butler den Körper als diskursiv bestimmt. Beide loten Widerstandsmöglichkeiten aus. Bailey betrachtet die Erweiterung des Gender-Systems als Möglichkeit des Widerstands, Butler hingegen sieht in den Subvertierungsmöglichkeiten widerständiges Potenzial. Beide verweisen auf gesellschaftliche Katego-

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Voguing on Stage

rien mit sozialen, kulturellen und historischen Zuschreibungen auf den Körper. Der Körper wird dabei als zwischen der scheinbaren Wirklichkeit konstituierend und von dieser hervorgebracht betrachtet. Diese Markierung wird mit einer Aussage der Soziologin Julia Reuter untermauert: »Einerseits ist es die Materialität des Körpers, mit der die Inszenierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit unterstützt wird. Andererseits ist es erst die Inszenierung, die eine bestimmte Materialität des Körpers produziert« (Reuter 2011: 85).136 Damit erfasst sie die Wechselwirkung der Materialität des Körpers und dessen Inszenierung und jener Inszenierung, die die Materialität bestimmt. Um zur Aufführung von Reyes zurückzukommen: Reyes stellt Konstruktionsmechanismen offen aus und befragt die Kategorie Gender in den unterschiedlichen Materialisierungsprozessen jenseits heteronormativer Vorstellungen. Vielfältige kulturelle Zuschreibungen aus differenten kulturellen Feldern werden in The Principle of Pleasure gleichzeitig verkörpert. Reyes’ körperliches Agieren gründet auf dem Gender-Wissen des Voguing, das er nutzt, um hegemoniale Geschlechternormen durch Subversion zu hinterfragen. Sein tänzerisches Handeln erzeugt dabei einen ›empfindsamen Körper‹, den ich im Anschluss an Mertlitsch bestimmen möchte. Mit Körper-Handeln, Körper-Werden und Körper-Empfinden benennt sie drei Körpermodi, um das Verkörpern von Geschlechterwissen in einer Begriffsperson zu fassen (Mertlitsch 2016: 25). Unter Körper-Handeln versteht sie Körperpraktiken, die den Körper erst konstituieren (ebd.). Als Körper-Werden bezeichnet sie Verkörperungsprozesse, die sich durch das Denken manifestieren (ebd.). Als Körper-Empfinden beschreibt sie das einverleibte Denken (ebd.). Nach Mertlitsch schaffen die Denk-Bewegungen Geschlechterkörper und materialisieren sich in diesen (ebd.). Dies zeige sich besonders deutlich am Beispiel der Figur Drag: »Durch theatrale bzw. körperliche Performanz und subversives Parodieren führt die Drag vor, wie Geschlechter konstituiert sind« (ebd., Herv. i.O.). Mertlitschs Anschauungsmodell lässt sich auf das tänzerische und choreografische Verhalten Reyes’ übertragen, auch wenn seine Performance nicht als klassische Drag Performance lesbar ist. Übertragen auf die Soloarbeit von Reyes bedeutet dies, dass das Körper-Werden durch das tänzerische Verhalten ›Wirklichkeit‹ konstituiert. Im Denken von Begriffspersonen greifen körperliche Praktiken und Diskurse ineinander. Dies spiegelt sich bezogen auf die Soloarbeit Reyes’ im Verhältnis von Choreografie und Aufführung wider. Dabei kann die Choreografie im Kontext des Voguing, wie eingangs postuliert, als Speicher von Gender-Wissen und die Aufführung als performativer Akt, in dem Geschlechteridentitäten erzeugt werden, gelesen werden.

136

Zum Verhältnis von Geschlecht und Körper vgl. Julia Reuter Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit (2011).

4. Voguing on Stage

4.4.5

Gender Performances als freischwebende Artefakte

Das Stück The Principle of Pleasure begreife ich als eine ästhetisch ausgestaltete Gender Performance, in der Verhaltensweisen und Kleidungsstrategien des Ballrooms zitiert und verändert werden. Durch die künstlerische Herangehensweise werden somit Neuentwürfe von Gender Performances kreiert. Um diese Annahme zu begründen, ziehe ich Butlers Theorie, Geschlecht als performativen Akt zu begreifen, heran. Ihr Ansatz ermöglicht es, die Verkörperung von Geschlechtern im Modus eines performativen Aktes zu betrachten. Auch wenn Butler nicht über »Handeln im theatralischen Sinn« (Butler 2015c: 301) nachdenkt, unterhält sie mit ihrem philosophischen Denken »assoziative semantische Verbindungen mit Theorien der Performance« (ebd.). Ihre Theorie der performativen Akte steht im Zusammenhang mit dem schauspielerischen Agieren (ebd.). Im Anschluss an Simone de Beauvoir folgert sie, dass die Geschlechterzugehörigkeit »keineswegs die stabile Identität eines Handlungsortes« (ebd.), sondern eine in der Zeit konstituierte und zerbrechliche Identität (2015c: 301‒302) sei. Sie komme »durch eine stilisierte Wiederholung von Akten zustande« (2015c: 302, Herv. i.O.). Damit nimmt sie deren Konstitution aus einem substantiellen Identitätsmodell heraus und setzt sie in ein sich zeitlich konstituierendes Konzept (ebd.). Die Geschlechterzugehörigkeit sei eine »performative Leistung« (ebd.) auf der Grundlage einer »stilisierte[n] Wiederholung von Akten durch die Zeit« (ebd.). Möglichkeiten von Geschlechterveränderungen sieht sie in der »arbiträren Beziehung zwischen diesen Akten« (ebd.) und »im Durchbrechen oder in der subversiven Wiederholung« (ebd.) der Normen. Ihre Überlegungen basieren auf der Annahme, dass Identität grundsätzlich als zwingende Illusion konstituiert wird (2015c: 302). Diese produktive Spannung zwischen Wiederholung und Durchbrechen ermöglicht meines Erachtens, in The Principle of Pleasure ein utopisches Potenzial über gesellschaftlich vorherrschende Normen hinaus zu entfalten. Butlers Annahme, dass Identitäten fluide und zeitlich begrenzte Konzepte sind, ist eng mit performativen Akten auf der Bühne verbunden. Reyes destabilisiert binäre Geschlechterkategorien, indem er die Konstruktion ausstellt und die durch die Gesellschaft bestimmten Geschlechtsmarker, wie männlich und weiblich codierte Kleidung, unterläuft.137 Indem er gleichzeitig Vorstellungen von männlich und weiblich bei den Zuschauer*innen aufruft, modelliert er auf der Bühne in irritierender Art und Weise Geschlechterrollen, wodurch er eine binäre Zweigeschlechtlichkeit infrage stellt. Seine Gender Performance zielt damit auf alternative Gender-Entwürfe. Butler fragt im Anschluss an Foucaults genealogische Kritik nicht nach den Ursprüngen einer wahren, genuinen und authentischen Form der Geschlechterzu137

Schmelzer-Ziringer geht davon aus, dass das Sich-Kleiden Geschlechtsidentitäten ablesbar macht (2015: 144). Dies unterstreichen auch Lehnert, Bünnig und Maydall (2018: 9).

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gehörigkeit (Butler 2016: 9), sondern geht in ihrer Analyse von einem relationalen Begriff von Geschlechtsidentität aus (ebd.). Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren sind für sie »Termini einer Relation« (2016: 9). Sie begreift Geschlechtsidentität nicht als Essenz des Geschlechts, vielmehr erlaube die Unterscheidung von Geschlecht und Geschlechtsidentität, Letztere als »vielfältige Interpretation des Geschlechts zu denken, [die] bereits potentiell die Einheit des Subjekts« (2016: 22) anfechte. Meines Erachtens spielt Reyes auf der Bühne mit dieser Relation: Durch Interaktionen gestaltet er ein Beziehungsgeflecht zwischen Akteur und Zuschauer*innen sowie zwischen Sex, Gender und Begehren.138 In der Gleichzeitigkeit von Produktion und Wahrnehmung kreiert Reyes Räume der Nähe. Er inszeniert dafür Berührungen mit den Zuschauer*innen, die Überschreitungen hinsichtlich des körperlichen Kontakts darstellen. Zu Beginn des Stücks streckt er einer Zuschauer*in die Hand entgegen, die sich dann von ihm auf die Bühne führen lässt. Dort nimmt er ihr/sein Gesicht zwischen seine Hände. Die darauffolgenden Handlungen sind nicht genau zu erkennen. Flüstert er der Zuschauer*in etwas ins Ohr oder küsst er sie/ihn?139 Reyes bricht dabei bewusst mit gesellschaftlichen Konventionen der Kontaktaufnahme. Jean-Luc Nancy führt hierzu aus: »Wir wissen ganz genau, bis zu welchem Punkt die Berührung gestattet ist, sei es nur von der Hand des Anderen, um hier nichts zu sagen vom Rest seines Körpers, und bis zu welchem Grad und auf welche Art es uns frei steht, zu umarmen, zu drücken, zu liebkosen« (Nancy 2014: 120). Reyes’ tänzerisches Verhalten zielt darauf, einen körperlichen Kontakt zwischen sich und den Zuschauer*innen zu etablieren, der nicht entlang normierter Beziehungsgefüge verläuft. Damit verhandelt er, so meine Lesart, tänzerisch die Relation Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren. In seiner Selbstpräsentation und in der sozialen Interaktion spielt Reyes Flirtrituale nach und stellt damit die Zweigeschlechtlichkeit infrage. Indem er weibliche und männliche Körper in Konstellationen bringt, die heteronormativen Vorstellungen widersprechen, destabilisiert er die scheinbar feste Zuordnung von Sex, Gender und Begehren. Damit folgt Reyes der radikalen Spaltung von Sex und Gender, die hinsichtlich kulturell determinierender Kategorien von Butler folgendermaßen beschrieben wird: »Die Geschlechtsidentität darf nicht nur als kulturelle Zuschreibung von Bedeutung an ein vorgegebenes anatomisches Geschlecht gedacht werden (das wäre eine juristische Konzeption). Vielmehr muß dieser Begriff auch jenen Produktionsapparat bezeichnen, durch den die Geschlechter (sexes) selbst gestiftet wer138

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Wobei Sex in diesem Kontext für das biologische Geschlecht und Gender für kulturell und gesellschaftlich bedingte Geschlechtsidentitätskonzepte stehen. Siehe dazu auch die Anmerkung der Übersetzerin Kathrina Menke in Butlers Das Unbehagen der Geschlechter (2016: 15). Minute 5:38‒6:02.

4. Voguing on Stage

den. Demnach gehört die Geschlechtsidentität (gender) nicht zur Kultur wie das Geschlecht (sex) zur Natur. Die Geschlechtsidentität umfasst auch jene diskursiven/kulturellen Mittel, durch die eine ›geschlechtliche Natur‹ oder ein ›natürliches Geschlecht‹ als ›vordiskursiv‹, d.h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche, auf der sich die Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird.« (Butler 2016: 24, Herv. i.O.) Das Fragen nach der Produktion von Zuschreibungen und nach diskursiven Mitteln, die die Konzepte Geschlecht und Geschlechteridentität prägen, führt Butler zu dem Gedanken, dass beide Konzepte nicht als der Kultur vorgelagert betrachtet werden können. Es scheint also keine Unhintergehbarkeit von Kultur zu geben. Daraus folgert sie, Geschlechtsidentität als Konstruktion zu verhandeln (2016: 25): »Die Geschlechtsidentität ist ein komplexer Sachverhalt, dessen Totalität ständig aufgeschoben ist, d.h., sie ist an keinem gegebenen Zeitpunkt das, was sie ist. Daher wird ein offenes Bündnis Identitäten bestätigen, die entsprechend den jeweils vorhandenen Zielen wechselweise instituiert und aufgegeben werden. Ein offenes Bündnis ist eine offene Vereinigung, die vielfältige Konvergenzen und Divergenzen zuläßt, ohne dem normativen Telos einer definitorischen Geschlossenheit zu gehorchen.« (Butler 2016: 36‒37) Das Denken über Geschlechtsidentität unterliegt demnach zeit- und kulturgebundenen Konstruktionen. Dies erlaubt es, Anschauungsmodelle zu generieren, die das System der kulturell geprägten Zweigeschlechtlichkeit hinterfragen und umkehren. Butlers Ansatz kann meines Erachtens dazu genutzt werden, Verkörperungsprozesse auf der Bühne zu betrachten. Denn dort werden zum einen kulturelle Konventionen repräsentiert, zum anderen werden diese in einer bewussten Inszenierung hinterfragt und somit in einem metaphorischen Sinne zu einem »freischwebenden Artefakt« (2016: 23). Butler verwendet die Metapher vom Tragen eines Kleidungsstückes, wenn sie auf die doppelte Bedeutung des performativen Aktes eingeht und meint: »Der Akt der Geschlechterzugehörigkeit, der Akt, der jeder verkörperte Handelnde ist, sofern jeder von ihnen dramatisch und aktiv gewisse kulturelle Bedeutungen verkörpert und diese in der Tat wie Kleidungsstücke trägt, ist eindeutig niemals nur allein mein Akt. Gewiß vollziehe ich meine Geschlechterzugehörigkeit individuell und mit eigenen Nuancen, aber daß ich dies tue, und zwar in Übereinstimmung mit bestimmten Sanktionen und Vorschriften, ist ganz klar keine bloß individuelle Angelegenheit.« (2015c: 311‒312, Herv. i.O.) Butlers Überlegungen eignen sich für eine Übertragung auf die Bühne, auch wenn dies nicht so von ihr intendiert wurde. Ihre Aussage spiegelt die vielfachen Trans-

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formationen von kulturellen Bedeutungen im Akt der Verkörperung wider. Das Kleidungsstück wird zum Symbol von individuellen Ausdrucksformen, kulturellen Konventionen und einer nur scheinbar freien Wahl. Auch ihr Vergleich mit dem Schauplatz der Bühne kann fruchtbar gemacht werden. Butler schreibt: »Die Handlung, die man ausführt, der Akt, den man performiert, ist in gewissem Sinn ein Akt, der schon eingesetzt hat, bevor man auf dem Schauplatz erschienen ist. Die Geschlechterzugehörigkeit ist daher ein Akt, der schon geprobt wurde, etwa wie ein Rollentext auch ohne die bestimmten Schauspieler weiter existiert, die ihn umsetzen, obgleich er zu jeder neuen Aktualisierung als Realität individuelle Schauspieler braucht.« (Butler 2015c: 312) Das bedeutet, dass die Geschlechterzugehörigkeit auf der Basis eines kulturellen Kontextes fußt, der zwar schon vor der konkreten Verkörperung zum Vorschein kommt, aber konkreter Performer*innen bedarf, um aktualisiert zu werden. Interessant für eine Analogie zu Verkörperungsprozessen im Tanz ist ihre Aussage hinsichtlich konkreter Handlungen: Tänzer*innenkörper, die sowohl von kulturellen als auch von tanztechnischen Konventionen geprägt sind, können auf der Bühne vielfältige Konzepte von Gender verhandeln. Die Verkörperung von geschlechtlichen Identitätskonstruktionen ereignet sich letztlich mittels konkreter körperlicher Akte, wie sie beim Tanzen beobachtbar sind. Sie fußen auf diskursiv verhandelbaren Konzepten und Überlegungen von Choreograf*innen. Reyes’ Gender Performances gründen in seiner tänzerischen Bezugnahme auf vielfältige kulturelle Felder. Er zitiert Trans-Bars, Voguing-Bälle, Strip-Clubs und Fetisch-Partys (Programmheft Open Space 2016). Er wählt männlich und weiblich markierte Zuschauer*innen aus, um sich mit diesen erotisch zu bewegen, er tritt in einem glamourösen Kostüm auf einem Catwalk auf, er entkleidet sich oder tanzt mit dem Spiegel, der zum Fetisch wird. Die Anleihen aus unterschiedlichen und nicht etablierten kulturellen Feldern ermöglichen ihm Darstellungsweisen von Gender jenseits heteronormativer Geschlechtlichkeit. Indem Reyes unterschiedliche gesellschaftlich codierte geschlechtliche Ausdrucksweisen mischt, verfremdet oder überformt, legt er Mechanismen der Konstruktion offen und wendet sich in seiner Choreografie bewusst gegen gesellschaftlich etablierte Bedeutungskomplexe. In der Gender Performance The Principle of Pleasure mischt Reyes geschlechtliche Codes und stellt diese nicht nur als Konstruktion aus, sondern verweist damit auf hybride und fluide Geschlechterkonstruktionen. Er spielt dabei mit unterschiedlichen vergeschlechtlichten Positionierungen. Damit stellt er heteronormative Vorstellungen infrage. Auch wenn er zitatförmig an binäre Geschlechterkategorien gebundene Codes auswählt, verschwimmen beim Betrachten von Reyes’ tänzerischem Verhalten diese visuellen Zuschreibungen, die auf heteronormativ bestimmte Geschlechter verweisen.

4. Voguing on Stage

Ich schlage folgende Lesart vor: Reyes geht auf der Bühne über normierende binäre Handlungen hinaus und nutzt die arbiträre Beziehung zwischen Geschlecht, Geschlechteridentität und Begehren, um eigenwillige und somit neue Geschlechter-Körper zu inszenieren. Dabei spielt neben dem Kostüm und dem Tanz Voguing, dem ‒ wie aufgezeigt wurde ‒ explizit die Möglichkeit vielfältiger Gender Performances inhärent ist, die während der Aufführung erzeugte Gemeinschaft von Akteur und Zuschauer*innen eine bedeutende Rolle. Reyes nutzt das Gender-Wissen aus der Ballroom-Kultur, um tänzerisch geschlechtliche Identitäten auszuloten. Dabei erzeugt er zwischen sich und den Zuschauer*innen ein Beziehungsgeflecht, das von Lust, Berührungen und Körper-Empfinden bestimmt ist.

4.4.6

Ästhetikkonzept: Die Lust am Körper

Die Aufführung The Principle of Pleasure zielt, den Titel des Stücks deutend, auf Freude, Lust und Vergnügen. Dabei wird der Blick auf die spezifische Technik des Voguing gelenkt. Diesem Tanz schreibt Reyes das Potenzial zu, all das zu spielen, was einem in der Gesellschaft nicht zugestanden wird (Kaminski 2016). Mit Voguing könne das Exzentrische gepriesen und die Lust spürbar werden (Sokolowski 2016). Er wolle einen »extroverted character who is not embarrassed about displaying his body or showing self-appreciation« (Reyes in Verstricht 2015) darstellen. Die dem Voguing inhärenten Möglichkeiten der Selbstinszenierung und der Gender Performances offenbaren sich während der Aufführung. In seinem Hybrid von Tanztechniken zeigt sich seine Voguing-Performance in einer spezifischen Eigenart. Die virtuos vollführten Voguing-Bewegungen, die mit dem nackten Körper kontrastiert werden und neben zitierten Verhaltensweisen aus Bars und Nachtclubs stehen, feiern in der Performance der Selbstpräsentation die Lust an Körpern. Dies wird sowohl vom Performer als auch von den Zuschauer*innen erlebt. Allerdings können nur Effekte wahrgenommen werden, wie sie sich im Mitspielen und Mittanzen von Zuschauer*innen zeigen. Reyes’ Lust am Körper interpretiere ich mit dem philosophischen Zugang von Nancy. Ausgehend von der Frage, was ein Körper der Lust sei (Nancy 2016: 125), meint Nancy, dass ein solcher »von seinen Wahrnehmungs- und Funktionsstrukturen losgelöst« (ebd.) sei und handle. Der Körper ist dann »nicht mehr der Welt zugewandt« (ebd.), das Andere und das Selbst treten in ein »Gemenge« (ebd.): »Die beiden (oder vielleicht sind da ja noch mehr) treten in ein Gemenge ein, das nicht nur dem der verschiedenen Körper entspricht, sondern auch einer Vermengung der Differenzierungen, Rollen oder Tätigkeiten innerhalb der jeweiligen Person in Bezug auf die Funktionen, Aktionen und Darstellungen des alltäglichen Lebens – des alltäglichen oder nicht alltäglichen, zu dem auch sportliche

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Anstrengung, der Auftritt auf einer Theaterbühne und intensive Arbeit gehören, die jedoch in jedem Fall auf ein äußeres Ziel gerichtet, ja vielleicht sogar auf dieses ausgerichtet sind.« (Nancy 2016: 125) Nancys Überlegungen eignen sich, um Situationen auf der Bühne zu beschreiben. Der Begriff »Gemenge« (ebd.) zielt auf die Verschmelzung der unterschiedlichen Rollen und ihren Darstellungen. Reyes inszeniert Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens: »Together we will erase the boundaries that divide audience and performer so that we can find ecstasy within and between our bodies« (Programmheft Open Space 2016). In The Principle of Pleasure nutze er »theater as a place capable of transcending limits to share my first pleasure – dancing to the seductive songs of Janet Jackson« (ebd.). Damit drückt er seine Intention aus, das gewöhnlich distanzierte Verhältnis zwischen Akteur und Publikum aufzuheben, um gemeinsam die Lust zu teilen. Seine Wirkungsabsicht erfüllt sich während der Aufführung in den Momenten, in denen Kontakte geknüpft werden, Nähe erzeugt wird oder Zuschauer*innen hingebungsvoll tanzen. Voguing verfügt über das Potenzial, Konstruktionen von fluiden Geschlechteridentitäten auszustellen. Mechanismen der Selbstinszenierung können beim Voguing als Paradigmen von künstlerischen Identitätsentwürfen gelesen werden, für die es gilt, vom Publikum wahrgenommen zu werden. Reyes’ Inszenierung geht über die Infragestellung vermeintlicher Identitäten hinaus, indem er das Publikum auffordert, an seinem Vergnügen teilzuhaben. Nancy beschreibt dieses Zusammenspiel als einen Körper, der »sich auf sich selbst wie auf einen anderen« (Nancy 2016: 126) bezieht. Der Körper der Lust zielt auf das Genießen und Sich-Erfreuen (Nancy 2016: 126). Dennoch ist die Lust nicht in ihrer Finalität zu sehen, sondern als Aufruf und Erregung (2016: 128). Nancy unterscheidet zwei Arten der Erregung: »Erregung ist die Bewegung des Anstoßes durch und der Antwort auf ein äußeres Agens« (2016: 127). Dieses Wechselspiel von durch und auf, Anruf und Antwort, Anstoß und Regung, bestimmt den Bezug zur Welt, zum anderen und zu sich selbst. Folglich ist der Körper der Lust tendenziell ein grenzenloser Körper (ebd.). Dennoch gibt es eine Grenze. Diese verläuft entlang von Berührung und Berührt-Werden, wird als eine beunruhigende Nähe erfahren und lotet das Maß der Lust aus (2016: 129). Indem Nancy die Lust als Wechselspiel von Berührung, die ein Berührt-Sein hervorrufen kann, bestimmt, was meines Erachtens in der Soloarbeit Reyes’ im gemeinsamen körperlichen Agieren von Tänzer und Zuschauer*innen zum Ausdruck kommt, erfahren der Körper Reyes und die Zuschauer*innen-Körper im ständigen Balanceakt des Sich-Näherns unterschiedliche Zustände der Lust. Die Erfahrung von Lust entspringt dabei, so meine Lesart, dem Berührt-sein im Sinne Nancys: »Der berührte und berührende Körper – berührt, weil er berührt, berührend, weil er berührt wird, mit seiner immer woanders befindlichen Existenzberechtigung

4. Voguing on Stage

als Körper – dieser Körper ordnet sich selbst unter, das heißt jenem Kontakt der Körper, der keinen anderen Zweck verfolgt als den, um seiner selbst willen da zu sein; er ordnet sich auch jenem Kontakt desselben Körpers mit sich unter: Denn genau auf diese Weise hat und ist er kein ›Selbst‹, sondern setzt sich als Ganzes aus.« (Nancy 2016: 130) Liest man The Principle of Pleasure auf der Folie von Nancys Argumentation, so zeigt sich Folgendes: Die Körper erhalten ihre Existenzberechtigung über den Kontakt, der berührt und berührend ist, mit dem Sinn – nicht mit dem Zweck –, als grenzenloser vermengter Kollektiv-Körper Lust zu empfinden. Nancy schließt seinen Gedankengang zum Körper der Lust mit folgenden Worten: »Der Körper der Lust [...] – hebt die Grenzen des Körpers auf« (2016: 131). In der Tanzwissenschaft wird die Philosophie immer wieder »als Nukleus zwischen Tanz und Tanztheorie« (Schellow 2013: 597) wahrgenommen.140 Nancy wird hier herangezogen, um ein Ästhetikkonzept im Anschluss an die künstlerische Arbeit The Principle of Pleasure zu formulieren. Dieses kann dabei als Reaktion sowohl auf den Titel als auch auf die Aufführung selbst gelesen werden. Insofern gleicht dieser Tanz-Diskurs der kritischen Argumentationslinie Schellows: »Er wird tanzpraktisch, tanzwissenschaftlich und philosophisch mit je unterschiedlichen Politiken geführt, die sich zwar berühren und beeinflussen, aber nie deckungsgleich sind« (2013: 602). Schellow fächert die ambivalenten und differenzierenden Ebenen, die in der »Diskursivität und Choreographie interagieren« (2013: 602), auf. In der vorliegenden tanzwissenschaftlichen Argumentation wurden die Aussagen des Choreografen Reyes aufgenommen, um sie am tänzerischen Verhalten widerzuspiegeln. Sie wurden überdies mit philosophischen Aussagen und Konzepten der Geschlechterforschung verbunden, um mittels einer diskursiven Analyse ein Anschauungsmodell zu generieren. Die hier vorgestellte Argumentationskette unterliegt den Logiken der Begriffe und Theorien. Dies kommt sowohl in der Relektüre der Theorien Baileys und Butlers als auch Nancys zum Ausdruck. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Theorien Baileys und Butlers wurde nur punktuell vorgenommen. Vielmehr galt es, entlang von wissenschaftlichen Reaktionen auf die Ballroom-Kultur die Inszenierung einer konkreten Gender Performance zu diskutieren. So zeigt sich bei dieser Analyse im Sinne Foucaults, dass sich »Veränderungen in den fundamentalen Dispositionen des Wissens« (2015b: 462) auf Zeitspannen begrenzen und dazu dienen, späterhin neue Wissensordnungen zu etablieren. 140 Nancy wird oft im Kontext von Tanz und Tanzwissenschaft herangezogen. Exemplarisch werden hierfür folgende Abhandlungen genannt: Ausdehnung der Seele: Texte zu Körper, Kunst und Tanz (Nancy 2017). Denken in KÖRPERn: Grundlegung einer Philosophie des Tanzes (2010) von Miriam Fischer. Philosophie des Tanzes: Denkfestival – eine interdisziplinäre Reflexion des Tanzes (2006) herausgegeben von Miriam Fischer und Mónica Alarcón.

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Voguing on Stage

4.5

Erweiterung der Diskursarena

Zum Abschluss des Kapitels soll noch einmal deutlich werden, wie die Deutungsmuster – Transformationsprozesse, Pose und Catwalk als choreografische Elemente, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen – die Diskursarena erweitern. Ausgehend von den Aufführungen Pose for Me (2018) von Philp, Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (2012) von Harrell und The Principle of Pleasure (2015) von Reyes wird die diskursive Deutungsarbeit zusammenfassend dargestellt. In den diskursiven Aufführungsanalysen wurden tanzwissenschaftliche Aussagen generiert, die vom Verhältnis des In-Beziehung-Setzens von Tanz und Diskurs geprägt sind. In der folgenden Schlussbetrachtung wird darauf eingegangen, welche Diskurse auf der Grundlage der besagten Deutungsmuster und der Aufführungsanalysen eröffnet und geführt wurden. Bedeutsam hierbei ist die Konstruktion von Anschauungsmodellen, die die zugrunde gelegten Deutungsmuster erweitern. Die dargestellten Zuschreibungen, Bedeutungen und Lesarten werden hier zusammengefasst, um Diskurse über ›Voguing on Stage‹ nicht abzuschließen, sondern um aufzuzeigen, dass sich diese, an konkrete Aufführungen gebunden, stets vervielfachen. Die drei analysierten Stücke Pose for Me, Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church und The Principle of Pleasure sind paradigmatische Performances mit und über Voguing. Die Performance Not Punk. Pololo (2014)141 des Choreograf*innenduos Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen kann ebenfalls als paradigmatisches Stück mit und über Voguing betrachtet werden. In diesem Stück wird noch einmal deutlich, was anhand der drei Aufführungsanalysen gezeigt werden sollte: Alle diese Performances sind Aufführungen mit und über Voguing, die eine ästhetische Eigenart erzeugen. In Not Punk. Pololo wird Voguing in Verbindung mit der Pololo-Bewegung auf die Bühne gebracht. Bei dieser handelt es sich um eine Straßenkultur, die der Gangster-Rap-Kultur gleicht (Homepage Gintersdorfer, Klaßen 2019). Bei der Performance erzeugt ein schneller Wechsel von Bühnenbild und Choreografien einen Pop-Kultur-Clash, in dem Musik, Tanz und Bühnenbild miteinander interagieren. Nadine Jessen und Monika Gintersdorfer beschreiben die Performance folgendermaßen: »Es entsteht ein performatives Mobile, ein sich selbst choreografierender popkultureller Kosmos, der assoziative Spekulationen ermöglicht und unbewusste kulturelle Differenzen sichtbar macht« (ebd.). Zusammen mit Musiker*innen der Punk-Band Die Goldenen Zitronen werden Codes des Punk, Pololo und Voguing

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Ich stütze mich für die Beschreibung und Analyse auf die Aufführungen 2015 in der Kaserne Basel und 2016 im E-Werk in Freiburg sowie auf eine Videoaufnahme, die mir von Knut Klaßen für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung gestellt wurde. Das Video zeigt die Premiere am 13.03.2014 im Theater Bremen in Bremen.

4. Voguing on Stage

miteinander verhandelt. Die Tänzerin Cécilia Bengolea bzw. der Tänzer Alex Mugler, die in den verschiedenen Aufführungen auftreten, brachten Voguing in das Stück ein. Jessen und Gintersdorfer charakterisieren Voguing folgendermaßen: »Voguing ist jedoch mehr, als das Nachtanzen von Mode: Hinter jeder Pose steckt eine Attitude« (ebd.). Mit der Performance Not Punk. Pololo von Gintersdorfer und Klaßen soll die exemplarische Reihe von Aufführungsanalysen abgeschlossen werden. Dabei wird ein Bogen zu den Deutungsmustern geschlagen, die am Anfang dieser Untersuchung exemplifiziert wurden. Not Punk. Pololo zeigt Ereignisse, an die sich Aussagen zu den Deutungsmustern Transformationsprozesse, Pose, Catwalk, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen anschließen lassen. Die Spezifika der hier verhandelten Bühnenstücke, die mit der Überschrift ›Voguing on Stage‹ gerahmt werden, zitieren Voguing, etablieren kulturelle Übersetzungen und erzeugen damit spezifische Ästhetiken. Indem unterschiedliche Tanzkulturen aufgenommen und miteinander verbunden werden, zeigen sich Transformationsprozesse. Stilelemente aus Voguing, Pololo und Punk kommen in Not Punk. Pololo zum Ausdruck, um sowohl Verschiedenheiten als auch Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Die differenten tänzerischen Sprachen sind nicht an einzelne Tänzer*innen gebunden, sondern werden wechselseitig von diesen übernommen. Nach Jessen und Gintersdorfer führen sowohl unterschiedliche Sprachen als auch Körpersprachen zu Übersetzungsfehlern, die dann neue Herleitungen mit sich bringen (ebd.). Daran lassen sich die Erläuterungen der Aufführungsanalyse Pose for Me zum Aspekt der kulturellen Übersetzung anschließen. Ausgehend davon, dass durch das Miteinander und den Austausch der Kulturen Beziehungen und Netzwerke entstehen (Ernst, Freitag 2015: 13), wird ein dynamischer Kulturbegriff (Hörning, Reuter 2004: 9) begründet. Wird Kultur als Aktionsmodell definiert, so finden permanent kulturelle Übertragungsbewegungen statt. Die Übersetzung, die in einer Pluralität von Differenz besteht, schließt Situationen von Dialogizität ein. Übersetzungsprozesse ereignen sich dabei sowohl auf der sprachlichen als auch auf der körperlichen Ebene. Sie bringen »Originale in Bewegung« (Wirth 2015: 42) und erzeugen »in-between spaces« (Klein 2012: 253) zwischen Original und Reproduktion, zwischen Treue und Freiheit und auch zwischen Genauigkeit und Ungenauigkeit. In der Performance Not Punk. Pololo werden meines Erachtens Kulturen im Spannungsfeld zwischen Differenz und einem scheinbaren Original inszeniert. Eine vergleichbare Herangehensweise findet sich in Pose for Me wieder. Dabei wurden in der Aufführungsanalyse die kulturellen Übersetzungsprozesse zwischen den Konzepten Hybrid und Pfropfung ausgelotet, um das Weiterentwickeln und die Weitergabe der kulturellen Praxis Voguing als Moment eines dynamischen Kulturgutes, das in die heutige Zeit transformiert wird, erscheinen zu lassen. In der Aufführung Not Punk. Pololo wird noch einmal deutlich, was in der Aufführungsana-

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lyse zur Performance Pose for Me gezeigt werden sollte: Die Performance wirft einen reflexiven Blick auf historische und heutige Situationen des Voguing. Die beiden Performances Pose for Me und Not Punk. Pololo thematisieren die Übernahme der kulturellen Praxis Voguing. In Pose for Me wird dies durch das Format einer LecturePerformance möglich, in der das Vorführen einer Kultur mit dem Sprechen über eine Kultur verbunden wird. Bei der Performance Not Punk. Pololo werden kulturelle Übertragungsbewegungen auch auf den beiden Ebenen der körperlichen Darstellung und der sprachlichen Darlegung reflektiert.142 Die Zuschauer*innen erhalten durch die Verflechtung von Gesagtem und Getanztem Einblicke in die kulturellen Eigenheiten der auf der Bühne zum Ausdruck gebrachten Kulturen Pololo, Punk und Voguing. Die Aufführung ist so konzipiert, dass kulturell geprägte Erfahrungen in den verschiedenen Ausdrucksmitteln Sprache, Musik und Tanz auf die Bühne gebracht werden. Dabei vermischen sich allerdings die Grenzen des Wahrnehmbaren so, dass für die Zuschauer*innen nicht immer ersichtlich ist, aus welchem kulturellen Kontext sprachlich und körperlich zitiert, übersetzt oder etwas hergeleitet wird. Die kulturellen Übersetzungen lassen sich somit in Not Punk. Pololo als choreografierte Auseinandersetzung mit kulturellen Positionen lesen, welche Kulturen erinnern, aufführen, vernetzen und weiterschreiben. Durch diese Überlappungen wird in der Performance Not Punk. Pololo eine spezifische Ästhetik hervorgebracht in dem Sinne, dass das während des performativen Aktes erzeugte Wissen zwar aus dem Kulturvorrat des Pololo, Punk und Voguing hervorgeht, jedoch durch das dort erzeugte Beziehungsgeflecht auf der Bühne neue Sinnebenen eröffnet. Nicht nur Transformationsprozesse können in diesen Aufführungen identifiziert und diskutiert werden, sondern auch die choreografischen Elemente Pose und Catwalk. In Antigone Sr. (L) präsentieren und repräsentieren die Performer mannigfaltige und unterschiedliche Posen und Catwalks. Diese choreografischen Verfahren rekurrieren auf die Kategorien eines Voguing-Balls und betten diese gleichzeitig in die Narration der Tragödie Antigone ein. Außerdem konfrontiert der Choreograf Harrell die tänzerischen Elemente Pose und Catwalk mit Positionen aus dem Postmodern Dance. Die Aufführung gleicht einem Dialog zwischen Voguing und Postmodern Dance. Posen und Catwalks, wie sie im Ballroom stattfinden könnten, überkreuzen sich dabei mit solchen, wie sie bei Modenschauen anzutreffen oder in Konzepten des Postmodern Dance zu verorten sind. Die in der Performance Antigone Sr. (L) identifizierten Ausdrucksweisen oszillieren zwischen »no to camp« (Rainer 1965) und »camp« (Sontag 1966). Die Pose, die gleichzeitig als Bild erzeugend und Bildausdruck, Körperbild und Verkörperungsprozess lesbar ist, erlaubt des Weiteren, Ausdrucksweisen zwischen den Re-Präsentationsmodi Realness und Authentizität zu denken.

142 Minute 55:12‒57:09.

4. Voguing on Stage

Die diskutierten Aufführungen verweisen auf die kulturellen und tänzerischen Praktiken Pose und Catwalk, die im Ballroom vorherrschen. Dabei kommen vielfältige Möglichkeiten, Posen einzunehmen und Catwalks tänzerisch umzusetzen, zum Ausdruck. Der Performer Reyes nutzt den Catwalk nicht nur für einen virtuosen Voguing-Auftritt, sondern auch für seine vielfältigen Selbstpräsentationen. Die von ihm eingenommenen Posen reichen von der Darstellung von Lust bis zur Darstellung von Nacktsein. In Pose for Me werden Posen eingenommen und Catwalks tänzerisch abgeschritten, die sich sowohl auf die unterschiedlichen Kategorien eines Balls als auch auf die unterschiedlichen Stile Old Way, New Way und Vogue Fem beziehen. Der Runway bietet dabei den Performer*innen die Möglichkeit, sich selbst zu präsentieren. In Not Punk. Pololo halten die Performer*innen gegen Ende der Aufführung Plastikwände zwischen den Zuschauer- und Bühnenraum.143 Das Publikum wird aufgefordert, zwischen den Plastikwänden hindurchgehend auf die Bühne zu kommen. Zwei Performer*innen sprechen die Satzfragmente: »Auf dem Laufsteg«, »Der alte Weg begann mit Xtravaganza«, »Wo ist die kleine Bitch?«, »The Old Way of the runway« oder »Der alte Weg auf dem Runway«.144 Nacheinander treten die Performer*innen auf und stellen dabei vielfältiges Bewegungsmaterial des Voguing vor.145 Dabei werden auch Posen aus dem Bewegungsfluss stillgelegt und in der Manier des Old Way, New Way und Vogue Fem dargeboten. Das Deutungsmuster Pose und Catwalk reorganisiert die kollektiven Erfahrungen und Erinnerungen des Ballrooms. Als typische Bestandteile des Voguing stehen sie als tanzkultureller Wissensvorrat und körperliche Praxis für eine individuelle tänzerische Deutungsarbeit zur Verfügung. Dabei zeigt sich in den Performances Not Punk. Pololo, Pose for Me, Antigone Sr. (L) und The Principle of Pleasure, dass Pose und Catwalk als choreografische Elemente auf unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck kommen können. Auch wenn sich das Voguing-Bewegungsmaterial eindeutig identifizieren lässt, erzeugen die vier Aufführungen damit eine jeweils unterschiedliche Ästhetik. Die Pose prägt die spezifische Attitude. Voguing als vestimentäre Performance zu beschreiben, wird in der Aufführungsanalyse zu Harrells Bühnenstück Antigone Sr. (L) dargelegt. Dazu wird das Verhältnis von Körper und Kleid ausgelotet. Für den Umgang mit vestimentären Objekten werden Konzepte sowohl aus der Tanz- als auch Modewissenschaft aufgegriffen, um die Hervorbringung eines bewegten und bekleideten Körpers zu analysieren. Deutungsweisen der Körper-Kleid-Korrelation beziehen sich auf das Ausstellen von Körpern und Kleidern und die Erzeugung fluider Identitäten, wobei die Inszenierung von Kleidung zum performativen Ereignis wird. Der Umgang mit vestimentären Objekten verändert die Körper und die Körper verändern

143 Minute 52:36. 144 Minute 55:12‒57:09. 145 Minute 58:18‒1:06:00.

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durch das Tragen und Inszenieren das Textil. Dieses Zusammenspiel von Körper und Kleid zeigt sich an der Oberfläche und in der Bewegung. Es finden Übertragungsmechanismen vom Kostüm auf den Körper und vom Körper auf das Kostüm statt. Durch das Präsentieren von opulenten Kostümen und Kleidungsstrategien des Sich-Umkleidens, die der Choreografie Antigone Sr. (L) zugrunde liegen, wird das Kostüm als zentraler Bestandteil des Voguing aufgegriffen und durch das Erzeugen neuer Kostümkörper erweitert. Harrell lässt immer wieder über längere Zeiträume, gleich einer Modenschau, Kostüme vorführen. Die Inszenierung der Kostüme zielt hierbei nicht nur auf Bewegungsübertragungen zwischen Körper und Kleid sowie Kleid und Körper, sondern vielmehr auf Reflexionen zu Selbstverkörperungsprozessen und Strategien des Sich-Identifizierens. Identitäten, wie sie beim Voguing eingenommen werden, zeigen sich in Antigone Sr. (L) als theatrales Spiel mit Kostüminszenierungen, dem Vorführen von Kostümen, der Verkörperung von Bewegung, die teils aus dem Tanzkörper, teils aus dem Textil, teils aus dem Zusammenspiel hervorgehen. Dabei verweisen die im performativen Akt erzeugten Kostümkörper auf das ambivalente Verhältnis zwischen Herstellung von Identität durch Kleidung und der Unmöglichkeit, durch bloße Kleidung Identitäten zu produzieren. Die Kostüm-Inszenierungen können als ästhetische Tätigkeit betrachtet werden, die Tanz erzeugen, denn die von Harrell aufgeführten Kleider rufen verschiedene tänzerische Bewegungen hervor und sie können als ästhetische Reflexion bezogen auf die Inszenierung von Identitäten gelesen werden. In der Freiburger Aufführung Not Punk. Pololo tritt Alex Mugler in einem Kostümentwurf von Knut Klaßen und Marc Aschenbrenner auf und tanzt Voguing (siehe Abbildung 8). Die Turnschuhe, Jeans, das weiße T-Shirt, über dem Alexander Cephus ein kleidähnliches Textil trägt, ermöglichen ihm eine große Bewegungsfreiheit. Das Kostüm verweist auf den Kultur-Clash, der auf die Bühne gebracht wird und kann als Beziehungsgeflecht zwischen den ausgestellten Bewegungssprachen, Kostümbewegungen und Kulturbegegnungen betrachtet werden.146 Gender Performances, wie sie in der Aufführungsanalyse von The Principle of Pleasure diskutiert wurden, gründen auf dem Konzept der Performativität. Butlers Konzept der soziokulturellen Kategorie Gender und das dargelegte Gender-System der Ballroom-Community von Bailey sind von Aspekten der Konstruktion und Fluidität bestimmt. Baileys und Butlers Theorien beziehen sich auf den Ballroom und weisen über das Denken von heteronormativen Geschlechterverhältnissen hinaus. Sie untermauern auf sehr unterschiedlichen und sich teilweise widersprechenden Argumentationswegen die Möglichkeit, verschiedene vergeschlechtlichte Identitäten beim Voguing einzunehmen. Auch wenn diese Konzepte eine theoretische Rahmung für Gender-Inszenierungen auf der Bühne ermöglichen, greifen sie zu kurz,

146 Eine ausführliche Analyse der Kostüme von Not Punk. Pololo steht noch aus.

4. Voguing on Stage

Abb. 8: Not Punk. Pololo (Gintersdorfer & Klaßen 2014), Alexander Cephus, Gotta Depri, Fotograf*in: Knut Klaßen, 2014 Copyright Knut Klaßen.

um die Gender Performances in der Aufführung The Principle of Pleasure vollständig theoretisch erfassen zu können. Diese Aufführung zeigt nämlich, wie das GenderSystem erweitert gedacht werden muss, um verkörperte Geschlechterkonzepte auf der Bühne im jeweiligen performativen Akt fassen zu können. Betrachtet man die Kategorie Geschlecht auf der Bühne als ästhetische Reflexion, so ermöglicht diese Betrachtungsweise Verschiebungen der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit. Die Kategorie Gender kann auf der Bühne vielfältige vergeschlechtlichte Positionen behaupten. Der Choreograf und Tänzer Harrell schlüpft während der Aufführung von Antigone Sr. (L) in die Figur der Antigone und verweist damit auf das Spiel im Theater, Rollen des anderen Geschlechts übernehmen zu können. Er deutet Techniken des Cross-Dressings an und verschiebt auf spielerische Weise normierte Bedeutungen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten. In der Aufführung Not Punk. Pololo wird die Kategorie Gender im Kontext der Tanzgeschichte verhandelt. In einer Szene ist zu sehen, wie zwei Performer*innen Teile der Aufführung Trio A (1966) von Yvonne Rainer zeigen und während dieser Aufführung sagen, dass Choreograf*innen des Postmodern Dance schwul und lesbisch gewesen seien.147 Hier wird die Ka147

Minute 36:00.

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Voguing on Stage

tegorie Gender zu einer Zuschreibungspraxis und in ironischer Art und Weise in Bezug auf den Postmodern Dance verhandelt. Aufzuzeigen wäre außerdem, wie in der Aufführung Not Punk. Pololo die Geschlechterrollen im Kontext heteronormativer Hierarchie dargestellt werden, wie dies in einer übertriebenen Art und Weise in der Fitnessstudio-Szene zum Ausdruck kommt.148 Die Performer*innen stellen dabei Klischees von Männlichkeiten und Weiblichkeiten einer zweigeschlechtlich geprägten Gesellschaft aus. Mit dieser überästhetisierten und theatralen Darstellung geht meines Erachtens eine kritische Haltung gegenüber einfachen Zuschreibungspraktiken einher. Diese Szenen können als choreografierter Diskurs über Gender-Inszenierungen bezeichnet werden und werden hier nur skizzenhaft dargestellt. In der Schlussszene von Not Punk. Pololo, in der Voguing getanzt wird, dominieren meines Erachtens dagegen Präsentationsformen jenseits von heteronormativen Geschlechterzuschreibungen. Auch dies gälte es, analytisch weiter zu vertiefen. Die diskutierten künstlerischen Arbeiten können als für den Tanzstil Voguing spezifische Ereignisse betrachtet werden. Während der Performances werden kulturelle Eigenheiten des Ballrooms aufgegriffen: Die choreografischen Arbeiten nutzen eine laufstegähnliche Bühnenform als Auftrittsfläche für vielfältige Präsentationen. Damit erzeugen sie eine dem Ballroom ähnliche Atmosphäre. Pose for Me findet auf einem erhöhten Laufsteg statt, um den herum sich die Zuschauer*innen versammeln. Im Lauf der Performance feuern diese die Performer*innen immer wieder an. In Antigone Sr. (L) finden auf den laufstegähnlichen Markierungen der Bühnenfläche zahlreiche Catwalks statt. Während der Aufführung verlassen die Performer den Bühnenraum und bewegen sich durch den Publikumsraum. In der Performance The Principle of Pleasure werden die Zuschauenden aufgefordert, den Zuschauerraum zu verlassen und auf die Bühne zu kommen. Dort erwirkt der Performer Reyes, dass die Zuschauer*innen eine Gasse bilden, wodurch eine laufstegähnliche Fläche entsteht. Performer und Zuschauer*innen befinden sich auf einer Ebene und erleben das Voguing-Ereignis hautnah. Auch in der Aufführung Not Punk. Pololo wird am Ende der Aufführung ein neuer Bühnenraum kreiert: Dazu versammeln sich die Zuschauer*innen mit den Performer*innen auf der Bühnenfläche. Zu sehen ist dann Voguing (siehe Abbildung 9).149 Während all dieser Performances wird ein dialogisches Verhältnis zwischen Performer*innen und Zuschauer*innen geschaffen, das Erfahrungsräume ermöglicht und Gemeinschaften herstellt. Diesen Aufführungen dient die Geschichte und Kultur des Voguing als theoretischer und praktischer Referenzrahmen. Ihr tänzerischer und choreografischer Umgang damit ist sehr unterschiedlich. Dadurch stellen diese Stücke eine Vielfalt 148 Minute 14:40. 149 Minute 55:12‒1:06:00.

4. Voguing on Stage

Abb. 9: Not Punk. Pololo (Gintersdorfer & Klaßen 2014), Alexander Cephus, Gotta Depri, Fotograf*in: Knut Klaßen, 2014 Copyright Knut Klaßen.

des Voguing aus. Mit dem Blick auf die Vergangenheit gestalten sie eine Gegenwart und schreiben Voguing auf unterschiedliche Art und Weise fort. Die künstlerischen Arbeiten weisen Eigenheiten auf und erzeugen eine ästhetische Eigenart. ›Voguing on Stage‹ vollzieht sich in den hier verhandelten Aufführungen nicht im Ballroom und nicht innerhalb der Ballroom-Community, sondern auf Bühnen des Theaters. Die Aufführung Pose for Me stellt hierbei eine Ausnahme dar, da sie sich im Freien vor dem Schloss Solitude in Stuttgart ereignete. Dennoch wurde mit dem erhöhten Laufsteg, um den sich die Zuschauer*innen versammelten, auch dort eine theaterähnliche Bühnensituation kreiert. Die verhandelten Aufführungen stellen Beispiele dar, wie die Tanzkultur Voguing präsentiert und re-präsentiert, zitiert und neu entworfen werden kann. Der Mangel eines Originals ist dabei nicht zu beklagen. In den Performances Not Punk. Pololo, Pose for Me, Antigone Sr. (L) und The Principle of Pleasure bleibt das Archiv des Voguing in Bewegung, in ähnlicher Weise wie es Benjamin beschreibt, »daß eine bestimmte Bedeutung, die den Originalen innewohnt, sich in ihrer Übersetzbarkeit äußere« (2015: 8) und gleichzeitig im neuen Zusammenhang zeigt, dass es »für das Original selbst nichts mehr bedeutet« (ebd.).

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Fazit

Den zentralen Referenzpunkt der vorliegenden Untersuchung bilden choreografische Arbeiten mit und über Voguing: In den analysierten Stücken wird Voguing getanzt, gezeigt und verhandelt. Die Choreograf*innen Georgina Philp, Trajal Harrell, Gerard Reyes, Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen wenden sich bewusst dem Voguing zu, reflektieren dessen Geschichte und Tanzsprache und kreieren damit neue künstlerische Arbeiten. Ausgehend von einer Quellen- und Literaturrecherche wurden die soziokulturellen und historischen Hintergründe des Voguing erforscht, um – von den Performances in der Ballroom-Szene ausgehend – Voguing als tänzerisches Artefakt auf der Bühne zu betrachten. Dazu wurden tanz-, mode- und kulturwissenschaftliche Theorien, Aspekte der Gender Studies sowie philosophische Überlegungen herangezogen. Die vorliegende Arbeit fragte nach der Geschichte des Voguing, nach Wissensbeständen und Deutungsmustern, die in der Voguing-Community vorherrschen, nach Übersetzungsprozessen, die bei der Verlagerung von Performances vom urbanen Raum hin zum Bühnenraum stattfinden, nach Bedeutungszuschreibungen für die choreografischen Elemente Pose und Catwalk und nach vestimentären Performances und Gender-Inszenierungen auf der Bühne. Diese Fragen wurden unter zwei Perspektiven betrachtet. Die erste Perspektive auf das Phänomen Voguing folgte Foucaults forschungsmethodischem Ansatz, das Archiv als Instrument zu betrachten. Die Arbeit mit dem Archiv ermöglichte eine soziokulturelle und historische Einbettung des Voguing. Hierfür wurden wissenschaftliche Abhandlungen, Filme, Bildbände, journalistische Beiträge und die von Charmatz inszenierte Tanzgeschichte 20 Dancers for the XX Century einer seriellen Geschichtsbetrachtung unterzogen. Damit konnten zum einen die differenten Dokumente nacheinander betrachtet und zum anderen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Auch wurden die spezifischen Verhaltensweisen, Rituale und Handlungen der Voguing-Kultur wie beispielsweise die ästhetischen und tänzerischen Praktiken der Voguing-Performer*innen, die Houses sowie die in einem Ball vorherrschenden Kategorien identifiziert. Zentrale Referenzen, die das Sprechen über Voguing prägen, konnten benannt und kritisch betrachtet werden.

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Voguing on Stage

Durch die Arbeit mit dem Voguing-Archiv konnten historische Diskurse über Voguing ins ›Jetzt‹ überführt werden. Diese Betrachtungsweise und die historische Kontextualisierung brachten zum Vorschein, dass Voguing eng an einen spezifischen soziokulturell geprägten Raum gebunden ist. Zusammenfassend kommt dies besonders eindrücklich in einem Zitat von Bailey zum Ausdruck: »For most, the Ballroom scene becomes a necessary refuge and a space in which to share and acquire skills that help Black and Latino/a LGBT individuals survive the urban world« (Bailey 2016: 7). Neben soziokulturellen und geschichtlichen Ereignissen wurde auch ein kritischer Blick auf Aneignungsprozesse geworfen. Die Arbeit mit dem Archiv mündete in das Ästhetikkonzept ›Voguing als Ausdruck einer ästhetischen Existenz‹. Im Sinne Foucaults wurden die Erfahrungen der VoguingPerformer*innen in ihrer Singularität, ihrer ästhetischen Eigenart und ihrer sozialen Kontextualisierung begrifflich erfasst. Die Arbeit mit dem Archiv zielte auf keine chronologische Geschichtsschreibung des Voguing, sondern vielmehr auf die Reaktivierung von Dokumenten, um Ereignisse des Voguing in Erscheinung treten zu lassen. Dazu wurden exemplarisch Fotografien einer tanzfotografischen Analyse unterzogen, um quellenkritische Aussagen zu Kostüm und Pose zu formulieren. Die punktuelle Aufarbeitung von deutschsprachigen journalistischen Texten ermöglichte nicht nur die Darstellung zentraler Themen des Voguing, sondern auch die Offenlegung der Rezeptionsweisen. Den Medien Text und Fotografie wurde eine augenfällig andere Geschichtsbetrachtung zur Seite gestellt, nämlich die Inszenierung von Geschichte in der Performance 20 Dancers for the XX Century von Boris Charmatz. Das Archiv als Instrument zu nutzen, erwies sich als produktiv, da dadurch ganz unterschiedliche Blickwinkel auf das Phänomen Voguing eingenommen werden konnten. Für die Tanzwissenschaft ist das Kapitel ›Voguing und sein Archiv‹ im Sinne einer diachronen Tanzgeschichtsschreibung von Bedeutung, für die einschlägige Dokumente herausgegriffen und dargestellt wurden. Im Hinblick auf die Erforschung von Tanzstilen, Tanzepochen oder Tanzströmungen zeigte sich, dass das Phänomen Voguing bisher in der deutschsprachigen Tanzwissenschaft kaum Beachtung gefunden hat. Diese Untersuchung leistet somit einen Beitrag zur Tanzgeschichtsschreibung. Die zweite Perspektive dieser Untersuchung folgte dem forschungsmethodischen Vorgehen einer Expert*inneninterviewanalyse. Ausgehend von leitfadengestützten Expert*inneninterviews mit Voguing-Performer*innen aus dem urbanen Raum wurde die Voguing-Szene beforscht. Die Analyse der Expert*inneninterviews zielte darauf, empirische Erkenntnisse von kulturellen Wissensbeständen und von Körperpraktiken des Voguing zu gewinnen. Die Wissensbestände über Voguing wurden dargestellt und darüber hinaus Deutungsmuster rekonstruiert. Diese methodische Vorgehensweise erlaubte eine Fokussierung auf die Performer*innen im urbanen Feld und half nicht nur, den Fokus auf tänzerische

Fazit

Praktiken zu richten, sondern auch die Bedeutsamkeit der soziokulturellen Verortung des Voguing wahrzunehmen. Außerdem spiegelt dieser diskursanalytische Blick auf die Voguing-Szene auch das Vorgehen der Choreograf*innen wider. Um Voguing auf der Bühne tanzen, nachahmen oder reflektieren zu können, suchten diese die Szene auf und erlernten Voguing bei namhaften Protagonist*innen. So steht Georgina Philp in enger Verbindung mit Archie Burnett (keepondancin 2012) und der Choreograf Trajal Harrell arbeitete mit Alex Mugler Cephus und Lasseindra Ninja zusammen, wenn es darum ging, Voguing zu erforschen und zu erlernen (Harrell 2017: 159). Der Tänzer und Choreograf Gerard Reyes erlernte Voguing im Rahmen einer Künstler-Residenz ebenfalls bei Archie Burnett, aber auch bei Javier Ninja, Benny Ninja, Danielle Polanco und Amazon Leiomy (Homepage Reyes). Das Choreografenduo Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen wiederum arbeitete mit den Voguing-Performer*innen Cécilia Bengolea und Alex Mugler Cephus zusammen (Homepage Gintersdorfer, Klaßen). Die in der Analyse der Expert*inneninterviews rekonstruierten Deutungsmuster repräsentieren »kollektive Erfahrungen« (Keller 2006: 134), die sowohl Einblicke in kulturell geprägte Regelsysteme der Ballrooms gewähren als auch in tänzerisch geprägten Körperpraktiken zum Ausdruck kommen. Die Funktion von Deutungsmustern besteht darin, sie für bedeutungsgenerierende und diskursspezifische Anliegen zu nutzen (2006: 133‒134). Dieses Vorgehen hat sich als produktiv erwiesen, denn zum einen äußern die Expert*innen ihr Wissen über die Voguing-Kultur und zum anderen ermöglichen ihre Aussagen, Deutungsmuster zu rekonstruieren. Die Analyse stellt ein Bindeglied zu den Aufführungsanalysen dar. Denn die rekonstruierten Deutungsmuster lenkten bei den Aufführungsanalysen den Blick auf die kulturellen, choreografischen und ästhetischen Muster des Voguing. Als Ausgangspunkt für die Aufführungsanalyse ermöglichten sie Bedeutungszuschreibungen und eröffneten die Diskursarena. Die wissenssoziologisch geprägte Diskursanalyse der Expert*inneninterviews konnte im Verlauf der Untersuchung fruchtbar für die Aufführungsanalysen genutzt werden. Das Denken im diskursanalytischen Sinne von Foucault prägt somit die methodischen Zugangsweisen aller in dieser Untersuchung zugrunde gelegten Analysewerkzeuge. Dieses Vorgehen ermöglichte es, die Deutungsmuster im Laufe der Aufführungsanalysen zu erweitern und vielfältige Bedeutungszuschreibungen zu entfalten. Die Äußerungen der Performer*innen zu soziokulturellen und choreografischen Ordnungen des Voguing konnten so als bedeutungsgenerierende Muster in der Analyse der Aufführungen aktualisiert und im jeweilig spezifischen Kontext bestimmt werden. Die Deutungsmuster wurden den Performances analytisch getrennt zugeordnet, dabei wurde ›Voguing on Stage‹ hinsichtlich kultureller Transformationsprozesse befragt, wurden choreografische Elemente des Voguing wie Pose, Catwalk

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Voguing on Stage

und vestimentäre Performances anhand einer konkreten Aufführung bestimmt und Gender Performances auf der Bühne ausgelotet. In der Analyse von Pose for Me wurden Transformationsprozesse identifiziert. Dabei wurden im Rückgriff auf kulturwissenschaftliche Theorien die Begriffe Transformation, kulturelle Übersetzung und Vermittlung von Kultur geschärft. Als fruchtbar erwies sich hier die Diskussion zum Begriff Original, der bei der Weitergabe von Tanz eine große Rolle spielt. Der Begriff verweist zunächst auf eine historische Perspektive, die meist mit einem scheinbaren Ursprung verbunden wird. Davon ausgehend und erweitert von Wirth zu »Originale in Bewegung« (Wirth 2015: 42) konnten kulturelle Übersetzungsprozesse fokussiert werden. Mit der Bestimmung von Übertragungsbewegungen als Hybrid (Klein 2017, 2009) war es möglich, auf Spuren der Veränderung und Prozesse der Vermischung zu verweisen, wie sie sich im Tänzer*innenkörper niederschlagen und vollziehen. Übertragungsbewegungen mit dem Modell der Pfropfung (Wirth 2015) zu betrachten, erlaubte es, die Perspektive der Zuschauer*innen aufzunehmen. Formen der kulturellen Vermittlung von Tanz und Formen der Darstellung bzw. Vorführung von Tanz flossen in die Aufführungsanalyse Pose for Me ein und ermöglichten es, das Format einer Lecture-Performance als Übersetzung bzw. Transformation der kulturellen Praxis Voguing zu thematisieren und zu reflektieren. In der Analyse wurden kulturelle Übersetzungsprozesse zwischen den Konzepten Hybrid und Pfropfung als Tanz-Kultur-Vermittlungsmodell ausgelotet. Durch die Darstellung und die Demonstration erfahren die Zuschauer*innen während der Aufführung Pose for Me Voguing als eine dynamische, sich in permanenter Bewegung befindende Kultur. Die Reflexionen zu den choreografischen Elementen Pose und Catwalk sowie zu vestimentären Performances, wie sie in der Aufführungsanalyse zum Stück Antigone Sr. (L) vorgenommen wurden, erlaubten in einem Rekurs auf die Matrix ›Voguing meets Postmodern Dance‹ einerseits, die spezifische Ausdrucksweise, die durch das gleichzeitige Aufführen der beiden Tanzströmungen entsteht, im Stück selbst zu bestimmen, und andererseits, tanz- und modewissenschaftliche Theorien zu verbinden. Auf der Grundlage des Konzepts der Performativität, das beiden wissenschaftlichen Disziplinen zugrunde liegt, wurde die Hervorbringung bekleideter Körper und deren Implikationen fokussiert. Zentral für diese Betrachtungsweise ist der Konnex Körper – Kleid. Dieses Relationssystem ermöglicht es, das Aufführen von Körpern und Kleidern hinsichtlich der Erzeugung fluider Identitäten zu bestimmen. Außerdem wurden die Körper-Kostüm-Kunstwerke als Artefakte gedeutet, die unterschiedliche tänzerische Bewegungen hervorrufen. Die Argumentationslinie, die während der Analyse entwickelt wurde und sich explizit auf die Aufführung Antigone Sr. (L) bezieht, lotet das Verhältnis der beiden RePräsentationsformen Realness und Authentizität im Kontext des Voguing und des Postmodern Dance aus. Zudem konnten mit dem Deutungsmuster vestimentä-

Fazit

re Performances Körper-Kostüm-Experimente analysiert werden, die mit Gestaltungskonventionen brechen und/oder die Ambivalenz des Verhältnisses Kleidung und Identität ausloten, Strategien der Körpererweiterung mittels des Kostüms zeigen und Kleiderwechsel als Offenlegung von Konstruktionsprozessen auf der Bühne ausstellen. Dabei wurde die Relation Körper – Kostüm zur Reflexionsebene. Posen und Catwalks werden in Antigone Sr. (L) als kultureller Wissens- und Praxis-Vorrat des Voguing zitiert und stellen zentrale choreografische Elemente der Performance dar. Die diskursive Analyse der Pose ermöglichte eine Rahmung dieses choreografischen Elements zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Bewegungsbild und Attitude, zwischen Bewegungssprache und Ausdrucksweise. Die Reflexionen zum Catwalk erlaubten, diesen als Position zwischen Tanz, Defilee und Modenschau zu betrachten. Durch die diskursive Analyse von Pose und Catwalk als choreografische Elemente konnten entsprechende Ausdrucksweisen in Antigone Sr. (L) als Re-Präsentationen des Ballrooms gelesen und gleichwohl als spezifische ästhetische Präsentationsformen interpretiert werden. Die Aufführungsanalyse zum Stück The Principle of Pleasure von Gerard Reyes fokussiert die soziokulturelle Kategorie Gender auf der Bühne. Im Anschluss an historische Diskurse von Judith Butler, die sich explizit auf Rezeptionen der BallroomSzene beziehen, wurden Betrachtungsweisen zu Gender-Inszenierungen auf der Tanzbühne diskutiert. Die Untersuchung Baileys (2016) gewährte Einblicke in die Ballroom-Szene und lieferte Erkenntnisse zum dort vorherrschenden GenderSystem. Mit diesen differenten Ansätzen und Bezugspunkten konnte der Diskurs über Gender-Inszenierungen weitergeführt werden. Dabei flossen Sichtweisen, die sich nicht explizit auf den Theaterraum beziehen, mit ein und wurden mit der Position einer tanzwissenschaftlichen Betrachtungsweise von Gender Performances verschränkt. Diese Perspektive ermöglichte sowohl eine kritische Reflexion von soziokulturellen Implikationen, wie sie im Ballroom vorherrschen, als auch von Gender-Inszenierungen auf Theaterbühnen. ›Gender on Stage‹ eröffnet Sichtweisen jenseits heteronormativer Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und jenseits von Gender Performances, die das Gender-System prägen. Die Gender Performances weisen über diese Begrifflichkeiten hinaus und lassen sich nur im Kontext einer konkreten Aufführung bestimmen. In der Analyse der Aufführung The Principle of Pleasure wurde davon ausgegangen, dass das auf der Bühne dargestellte Geschlecht eine Konstruktion ist. Eingebettet in das theatrale Ereignis einer Aufführung finden Auseinandersetzungen mit der soziokulturellen Kategorie Gender statt, die sich im tanzenden Körper materialisieren. Somit wurden Gender Performances im Kontext von tänzerischen Praktiken und choreografischen Verfahren als Konstruktionen gelesen. Die dabei erzeugte Körperlichkeit, auch gerade in Verbindung mit dem Kostüm, wurde zum ausschlaggebenden Aspekt, um Gender Performances zu diskutieren. Auf der Bühne und in den Aufführungsanalysen verschränken sich diskursive Be-

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trachtungsweisen zum Körper mit der Sichtweise, den Körper als Materialität und gleichzeitig als Möglichkeit von Materialisierungsprozessen zu begreifen. Voguing erlaubt Gender-Inszenierungen im Sinne von fluiden geschlechtlichen Identitäten. Eine Aufführung als Gender Performance zu lesen, lenkt den Blick auf Verkörperungsprozesse, die die Möglichkeit bieten, Fragen zur Aneignung und Subversion sowie zu Entnaturalisierung und Reidealisierung zu stellen. Die im Kontext des Voguing analysierten Gender-Inszenierungen erweitern den bisher in der Tanzwissenschaft eingenommenen Blick dahin gehend, dass jenseits heteronormativer Zuschreibungen vielfältige Geschlechterrollen auf der Bühne beschrieben werden können. Die gewählten Aufführungen erwiesen sich als geeignet, um die unterschiedlichen künstlerischen Darstellungsweisen von und über Voguing zu betrachten. Sowohl die Voguing-spezifischen als auch die ästhetischen Eigenheiten konnten aufgezeigt werden. Die Singularität der einzelnen Performances kommt in den jeweiligen Aufführungsanalysen und den herausgearbeiteten Ästhetikkonzepten zum Ausdruck. Mit Letzteren konnten der ästhetische Überschuss der künstlerischen Herangehensweisen und die kritische Distanz der Forscher*innenposition zum Ausdruck gebracht werden. Der Facettenreichtum der hier verhandelten choreografischen Arbeiten spiegelt sich im Abschnitt ›Erweiterung der Diskursarena‹ wider. Darin wurde anhand des vierten Beispiels Not Punk. Pololo (2014) von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen zusammenfassend aufgezeigt, dass in der konkreten künstlerischen Inszenierung Voguing sowohl als spezifischer Tanzstil sichtbar wird als auch die Eigenheiten der künstlerischen Umsetzungen ersichtlich werden. Für die aktuelle Forschung ergeben sich aus dieser Untersuchung Aussagen über historische Implikationen, soziokulturelle Hintergründe, tänzerische Körperpraktiken und ästhetische Herangehensweisen des Voguing. Die hier vorgenommene diskursanalytische Forschung brachte wissenschaftliche Aussagen hervor, »unter denen sich ein bestimmter Gegenstand als Gegenstand tanzwissenschaftlicher Forschung« (Schellow 2016: 264) erst konstituiert. Für die tanzwissenschaftliche Theoriebildung ergeben sich folgende Resultate: Die Reflexionen des Voguing im urbanen Raum auf der Grundlage von Expert*inneninterviews erweisen sich als ein für die Tanzforschung anwendbares methodisches Verfahren, um das Wissen von Voguing-Performer*innen zu ermitteln. Dieses Voguing-Wissen erschließt sich somit über die Akteur*innen der Szene selbst. Die in dieser Untersuchung vorgenommene Verschränkung von tanz- und modewissenschaftlichen Zugängen ist für eine tanzwissenschaftliche Theoriebildung von Bedeutung, da sie dazu beiträgt, das Verhältnis von Körper und Kostüm in Bewegung zu bestimmen. Der hier unternommene Vergleich von diskursiven Praktiken der Tanz- und Modewissenschaften ermöglicht es, das Konzept der Performativität als gemeinsame Grundlage der jeweiligen Forscher*innenperspektive zu identifizieren. Die in dieser Untersuchung gezogenen Verbindungslinien zur soziokulturell konstruierten Kategorie Gender

Fazit

erweitern eine tanzwissenschaftliche Betrachtungsweise, die es ermöglicht, Gender Performances on Stage an Körper, Körperlichkeit und Verkörperungsprozessen gebunden, betrachten zu können. Bezogen auf Voguing rückt die Bedeutung des Körpers als Aushandlungsort der Kategorie Gender in den Fokus. Der Stellenwert von körperlicher Materialität im Prozess von geschlechtlicher Identitätskonstruktion im Kontext von Voguing zeigt sich dabei als unhintergehbare Größe. Der Körper wird als Ort des Diskurses begriffen. Die Vernetzung von kulturwissenschaftlichen und tanzwissenschaftlichen Aussagen ist für eine tanzwissenschaftliche Theoriebildung von zentraler Bedeutung, denn sie erlaubt die Betrachtung von Tanz als Tanzkultur. Daraus erwächst ein unverzichtbarer und respektvoller Umgang mit der Voguing-Kultur und ein Problembewusstsein bezüglich des Aspekts der kulturellen Übernahme wird geschaffen.

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Ausblick

An die Ergebnisse dieser Arbeit lassen sich Studien anschließen, welche mit weiteren Fragestellungen verbunden sind, die im Rahmen dieser Arbeit nicht mehr beantwortet werden. Eine diskursanalytische Betrachtung des Voguing-Archivs wirft die Frage auf, inwieweit diese Bewegungskultur unter einer historiografischen Perspektive betrachtet werden könnte. Die Aufarbeitung des New York Times Archivs steht noch aus sowie weitere Reflexionen zur Tanzfotografie. Auch die Methode der Oral History in dem Sinne, dass Voguing-Performer*innen selbst Geschichten des Voguing mündlich darlegen, wäre zu verfolgen. Das Erkenntnispotenzial einer solchen Tanzgeschichtsschreibung ließe sich im Sinne einer bestimmten Deutungshoheit betrachten. Dabei würde den Voguing-Performer*innen selbst die Macht zugesprochen werden, zu benennen, welche Wirkungen und Deutungen Voguing impliziert und hervorruft. Damit würden Geschichtserzählungen der Protagonist*innen selbst hervorgebracht werden. Außerdem wäre es im Anschluss an diese Arbeit möglich, die transkulturellen Übersetzungen der Bewegungskultur Voguing im urbanen Raum zu erforschen. Mögliche Subjektivierungsprozesse, lokale Aneignungsprozesse und das Verhältnis zu Protagonist*innen der Ballroom-Szene wären zu beobachten und zu untersuchen. Dabei wäre es unumgänglich, auch postkoloniale Dimensionen zu betrachten. Außerdem würden weitere Diskurse zu ›Voguing on Stage‹ den hier begonnenen fortschreiben und das Interesse an der Auseinandersetzung mit Voguing auf der Bühne fördern. Voguing als eine Bewegungssprache, die Pose und Catwalk für die Hervorbringung einer spezifischen Attitude nutzt, mittels vestimentärer Performances vielfältige Selbstinszenierungen ermöglicht, und die Machbarkeit verkörperter Geschlechtsdarstellung in Gender Performances zum Ausdruck bringt, verweist auf die Verschränkung der Voguing-Kultur mit der Voguing-Kunst als bestehendem Referenzrahmen.   Anlass für eine weiterführende Untersuchung wäre die Frage, ob Voguing als Element ästhetischer Bildung Möglichkeiten zur Reflexion der Kategorie Gender eröffnen kann. Diese wird, ausgehend von den Erkenntnissen der vorliegenden Untersuchung, im Folgenden als mögliche Fallstudie anvisiert. Dazu wird in

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einem ersten Schritt die Diskussion zum Diskurs von Geschlecht und der Unhintergehbarkeit von Körpern eröffnet. In einem zweiten Schritt wird Bildung als Handlungsfeld bestimmt, in dem das Verhältnis zwischen Bildung und Gender vermessen wird. Diese Überlegungen münden allerdings nicht in ein Konzept über Voguing als Beitrag zur Geschlechterbildung, sondern in eine skizzenhafte Darstellung. Eine Diskussion zum Begriff der ästhetischen Bildung, wie sie von Saskia Bender (2014), Diana Lohwasser und Jörg Zirfas (2014) sowie Yvonne Hardt und Martin Stern (2014) geführt wird, kann hier nicht dargestellt werden. Wie können Prozesse initiiert werden, in denen die diskursive Konstruktion von Geschlecht mit der körperlichen Konstituierung durch Voguing verschränkt wird? Bezogen auf Voguing rückt die Bedeutung des Körpers als konkreter Aushandlungsort der Kategorie Gender in den Fokus. Nach dem von Bailey dargestellten Gender-System ist es möglich, fluide geschlechtliche Identitäten zu verkörpern. Der Stellenwert von körperlicher Materialität im Prozess von geschlechtlicher Identitätskonstruktion im Kontext von Voguing zeigt sich dabei als unhintergehbare Größe. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet somit die Verwobenheit von Konstruktion von Geschlecht und Unhintergehbarkeit von Körpern. Folgende Positionen untermauern dies: Cornelia Koppetsch und Sven Lewandowski legen dar, dass die Einschreibung von Geschlechtsidentitäten vor allem über den Körper geschieht (Koppetsch, Lewandowski 2015: 7). Karen Wagels stellt fest, dass der Körper das Terrain darstellt, »auf dem gesellschaftliche Positionen angewiesen wie auch durchquert werden« (Wagels 2013: 249). Sie geht von einer Doing-Gender-Perspektive aus, die Praktiken von »Körperstilisierungen« (2013: 31) beinhaltet. Daran lassen sich die Überlegungen von Nina Schuster zu Techniken der Herstellung von Geschlecht anschließen, wie sie in Drag-Workshops typisch sind: »Im Zentrum der Techniken der Herstellung von Geschlecht steht der Körper« (Schuster 2010: 186). Schuster argumentiert bezogen auf Bühnenperformances, dass mithilfe der verschiedenen körperlichen Merkmale und Kleidungsstücke die Bühnendarsteller*innen die Machbarkeit verkörperter Geschlechtsdarstellung und des Wechsels zwischen den Polen männlich und weiblich (bzw. von geschlechtlicher Uneindeutigkeit) demonstrieren (2010: 193). Diese exemplarisch dargestellten Untersuchungen verweisen explizit auf Verkörperungsprozesse, Einschreibungen in den Körper und Herstellungsprozesse von Geschlecht durch den Körper. Wie dies in der Aufführungsanalyse zum Stück The Principle of Pleasure diskutiert wurde, kann Voguing als Gender Performance gelesen werden, die die Konstruktion von Gender offenlegt und Möglichkeiten zur Verkörperung bietet. In einem künstlerischen, performativen Akt ermöglicht Voguing die bewusste Inszenierung von theoretischen Reflexionen und konkreten körperlichen Praktiken bezogen auf die Kategorie Gender. Daraus kann abgeleitet werden, dass die geschlechtliche Identitätsfindung und -inszenierung an körperliche Praktiken gekoppelt betrachtet werden kann.

Ausblick

Wie kann in Bildungsinstitutionen ein Raum für die Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Identität und Gender-Inszenierungen geschaffen werden? Wie können Bildungseinrichtungen als Möglichkeitsraum genutzt werden, um bestehende und utopische Entwürfe von Geschlecht zu verkörpern? Ausgangpunkt der Beantwortung dieser Fragen ist die Annahme, dass Möglichkeiten des Ausprobierens geschlechtlicher Identitäten zur Verfügung gestellt werden müssen. Dabei folge ich Überlegungen, wie informelle Lernprozesse in die formale Bildung integriert werden können. Betrachtet man den Ballroom als Ort des informellen Lernens, in dem die sozialen Beziehungsgeflechte der sogenannten Houses zentral für die Vermittlung des Voguing und des Gender-Systems sind, so stellt sich die bildungstheoretische und -praktische Herausforderung, wie das dort vorherrschende Gender-Wissen in formale Bildung überführt werden kann. Dabei folge ich den Begriffsrahmungen einer informellen und formalen Bildung. Eine reflektierende Sichtweise auf diese Begriffe kann hier nicht geleistet werden. Allgemein wird informelles Lernen an Orten außerhalb von Institutionen angesiedelt, formales Lernen hingegen an Institutionen, die eigens für Lernprozesse eingerichtet worden sind (Harring, Witte, Burger 2018: 18), wobei diese Begriffsdefinitionen keine klare Trennung darstellen (2018: 19), sondern vielmehr in einem reziproken Verhältnis zueinanderstehen (ebd.). Exemplarisch für die breit gefächerte Diskussion in Bezug auf Jugendliche und ihre Lebenswelten sei auf Cathleen Grunert (2018) und Wilfried Ferchoff (2018) verwiesen. Grunert fokussiert im Kontext des informellen Lernens individuelle Lernprozesse im Gegensatz zu intendierten (Grundert 2018: 328) und fragt nach den Bedingungen in den verschiedenen Lebenswelten Jugendlicher, die zu einem Bildungsprozess beitragen (2018: 329). Ferchoff betrachtet informelle Lernprozesse aus der Sicht von Jugendgruppen (Ferchoff 2018: 398) und wertet die dort stattfindenden Lernprozesse hinsichtlich der gesellschaftlichen Kategorien Hoch- und Subkultur aus (2018: 407). Betrachtet man Voguing als kulturelle Praxis, die im Kontext informeller Lernprozesse vermittelt wurde und wird, bedarf es vielfältiger Übersetzungsprozesse, um sie als Tanzstil mit soziokulturellen Implikationen in die formale Bildung zu überführen. Dabei steht das konkrete körperliche Agieren im Sinne von Gender Performances im Vordergrund. Die Bühne wird dabei in Anlehnung an die Aufführung Antigone Sr. (L) als Möglichkeitsraum betrachtet, auf der sowohl Stylingcorner als auch Präsentationsräume vorhanden sind. Versteht man Bildung auch als eine Bildung für Toleranz und Vielfalt im Sinne der Geschlechtervielfalt, in der »die Verunsicherung der Ordnung heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit und der Widerstand gegenüber sexuell begründeten Diskriminierungen« (Paul, Tietz 2016: 9) überwunden werden, so können im Kontext Voguing kulturell und gesellschaftlich geprägte Geschlechterkonzeptionen hinterfragt werden. Eine Abhandlung über den Stand der Forschung zur Geschlechterbildung kann in dieser skizzenhaften Darstellung nicht vorgenommen werden. Mögliche Referenzpunkte sind

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Voguing on Stage

Robert Krajnik (2016), Kerstin Bueschges (2015), Judith Krämer (2015), Lotte Rose und Marc Schulz (2007). Beim Voguing können normierende Zuschreibungslogiken aufgebrochen, überschritten und infrage gestellt werden. Diese Annahme könnte Ausgangspunkt eines Konzepts zu Gender-Inszenierungen im Kontext formaler Bildungsangebote sein. Die Logik eines solchen Bildungskonzepts müsste meines Erachtens der Logik dieser Arbeit entsprechen. Damit meine ich, dass ein bildungstheoretisches Konzept zur Reflexion und Verkörperung von geschlechtlicher Identität auf der Geschichte des Voguing gründet, Transformationsprozesse betrachtet und Prozesse der Verkörperung mittels Pose, Catwalk und vestimentären Objekten erlaubt, um Erlebnisräume zur Reflexion der soziokulturellen Kategorie Gender zu schaffen. Voguing würde dann im Rahmen einer formalen Bildung, ausgehend vom informellen Erlernen in Ballrooms, Clubs und den Houses über Workshops in Tanzstudios, unter anderem vermittelt von Mitgliedern des House of Melody, Reflexionen zur Geschlechtervielfalt erlauben. Dies wäre in einer empirischen Studie zu erforschen. Hierzu müssten auch Fragen im Bereich der Tanzvermittlung zur Wirksamkeit von Tanz in Bildungsprozessen gestellt werden. Dabei wäre ein respektvoller Umgang mit der Voguing-Kultur unverzichtbar. Außerdem müssten »Passungsproblematiken als erhöhte Reflexionsanforderungen« (Bender 2014: 250) zwischen ästhetischen Erfahrungen und Bildungseinrichtungen kritisch bedacht werden. Voguing als Choreografie für Gender Performances zu betrachten, bedeutet, dass durch die Vermittlung von körperlichen Praktiken des Voguing Reflexions- und Wahrnehmungsprozesse in Gang gesetzt werden, die eine sinnlich-ästhetische Erfahrung erlauben.

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Pose for Me (Philp 2018), House of Melody: Valeria Melody, Leo Melody, Christopher Melody, Fotograf*in: Lutz Capeller, 2018 Copyright Lutz Capeller. ....................................120 Abb. 2: Pose for Me (Philp 2018), House of Melody: Leo Melody, Valeria Melody, Christopher Melody, Ray, Fotograf*in: Lutz Capeller, 2018 Copyright Lutz Capeller............................... 121 Abb. 3: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Harrell 2012), Rob Fordeyn, Steven Thompson, Thibault Lac, Fotograf*in: Bengt Gustafsson, 2012 Copyright Trajal Harrell. .........................................................................................158 Abb. 4: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Harrell 2012), Trajal Harrell, Steve Thompson, Fotograf*in: Miana Jun, 2012 Copyright Trajal Harrell... 170 Abb. 5: Antigone Sr. (L)/Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (Harrell 2012), Thibault Lac, Fotograf*in: Bengt Gustafsson, 2012 Copyright Trajal Harrell. ............... 175 Abb. 6: The Principle of Pleasure (Reyes 2015), Gerard Reyes, Fotograf*in: David Romero, 2015 Copyright Gerard Reyes. ..................................................................................196 Abb. 7: The Principle of Pleasure (Reyes 2015), Gerard Reyes, Fotograf*in: David Romero, 2015 Copyright Gerard Reyes. .................................................................................. 197 Abb. 8: Not Punk. Pololo (Gintersdorfer & Klaßen 2014), Alexander Cephus, Gotta Depri, Fotograf*in: Knut Klaßen, 2014 Copyright Knut Klaßen. ................................................ 227 Abb. 9: Not Punk. Pololo (Gintersdorfer & Klaßen 2014), Alexander Cephus, Gotta Depri, Fotograf*in: Knut Klaßen, 2014 Copyright Knut Klaßen. ................................................ 229

Aufführungen

Charmatz, Boris (Berlin 2014, Hannover 2016): 20 Dancers for the XX Century. Gintersdorfer, Monika; Klaßen, Knut (2014): Not Punk. Pololo. Harrell, Trajal (2012): Antigone Sr. (L)/ Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church. Philp, Georgina (2018): Pose for Me. Reyes, Gerard (2015): The Principle of Pleasure.

Filme

Busch, Wolfgang (2006): How do I Look, New York City: Art from the Heart. Jordenö, Sara (2016): Kiki, USA/Schweden: IFC Films. Livingston, Jennie (1990): Paris is Burning, USA: LOVE FILMS. Zwaan, Reijer; Gould, Ester (2016): Strike a Pose, Belgien/Niederlande: CTM Docs & The Other Room.

Interviewleitfaden

1. Fragen zum ersten Kontakt: Please share your impressions of your first encounter with voguing. Where did it take place and how was it set up? What did you find most interesting, fascinating or even irritating?   2. Fragen zum Erlernen/Training: How did you get started with voguing and where/how did you train? Which voguing dancers did you meet?   3. Fragen zur Geschichte/Historical background knowledge: Please outline your historical background knowledge of voguing. Which rumors about its historical development have you heard about?   4. Fragen zum ästhetischen Konzept/zur Bewegungssprache: In your opinion, which aspect of voguing is most eye-catching and special? Please describe the voguing poses. Which message do they portray? Which relationship occurs between intuitive, improvised motions and a set choreography? Which stylistic elements are used? Which aesthetical concepts can you name? What is the socio-cultural background of voguing or which socio-cultural setting comes into play? Which relationship between gender and sex in general can be found in voguing? Which role does fashion and costumes play?   5. Fragen zum Aufführungsort: Which differences occur when voguing takes place on streets, in clubs or on stage? Which effects does the chosen site, like performances on the street/in clubs/on stage, have on the dancer’s body movements and body language? Please describe the interaction between the audience and the voguing dancers?

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Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) 2019, 280 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5

Manfred Brauneck

Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7

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Theater- und Tanzwissenschaft Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Mateusz Borowski, Mateusz Chaberski, Malgorzata Sugiera (eds.)

Emerging Affinities – Possible Futures of Performative Arts 2019, 260 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4906-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4906-6

Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon (Hg.)

Staging Gender – Reflexionen aus Theorie und Praxis der performativen Künste 2019, 264 S., kart., 9 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4655-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4655-3

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