Screenings: Wissen und Geschlecht in Musik. Theater. Film. 9783205790389, 9783205785200

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Screenings: Wissen und Geschlecht in Musik. Theater. Film.
 9783205790389, 9783205785200

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MDWÖ'ENDERÖ7ISSENÖ

Band 1

Eine Reihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl und Doris Ingrisch

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

3CREENINGS Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film

Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch :

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78520-0 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Satz: Michael Rauscher Lektorat : Irmgard Dober Umschlaggestaltung : Judith Mullan Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : General Druckerei, Szeged

Inhaltsverzeichnis

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl Screenings Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film. Zur Einführung 

Cornelia Szabó-Knotik Neuer Blick auf »alte Meister «? Musikwissenschaft als Feld der Reproduktion sozialen Geschlechts 

Noraldine Bailer »… sozusagen für alles im Bereich der Musik zuständig«. Über geschlechtstypische Unterschiede im Musiklehrberuf 

Ursula Hemetek Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen. Gender-Aspekte in der Ethnomusikologie 

Anette Baldauf Feminismus und Popkultur 

Susanne Granzer Die Güte der Frauen. Gender-Pirouetten 

Klaus Rieser Gender ist kein Nullsummenspiel. Nicht-normative Männlichkeit und »Feminisierung«  5

Inhaltsverzeichnis

Rainer Winter Fluchtlinien. Gender und Kultur. Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies 

AutorInnen und Herausgeberinnen 

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Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Screenings Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film. Zur Einführung

Der Zusammenhang von Autorenschaft, Kreativität und Subjektivität führte gleichsam zu einer Ausgrenzung »weiblicher Subjektivität«. (Bloß , )

Screenings ? Der Titel Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film mag darauf verweisen, dass mit diesem Band in eine vielseitige künstlerisch-wissenschaftliche Universität hineingescreent, hineingeschaut wird, in die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Screening ist ein englischer Begriff und steht für Durchsiebung, Rasterung, Durchleuchten, steht für ein systematisches Verfahren, das eingesetzt wird, um in einem definierten Bereich bestimmte Eigenschaften zu identifizieren. Ein screening ist – anders ausgedrückt – ein auf bestimmte Kriterien ausgerichtetes Siebverfahren. Die im vorliegenden Band vorgestellten Beiträge/screenings aus Musik · Theater · Film fragen nach der Kategorie Gender, nach der Kategorie des sozialen Geschlechts. Sie sind Spots in große Wissensbereiche und bieten Einblicke in verschiedene Wissensfelder an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) : in die Musikwissenschaft, Musikpädagogik, Ethnomusikologie und in das Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar. Arbeiten aus den korrespondierenden Bereichen Filmwissenschaften und Cultural Studies ergänzen diesen Band und die Diskussion von Gender in Musik · Theater · Film. Der Sammelband Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film ist die Dokumentation, das sichtbare Produkt einer Gender-Ringvorlesung im Sommersemester , der ersten Gender-Ringvorlesung an der Universität für Musik und darstellende Kunst. »Innovationen – Traditionen. Gender Studies« war ihr Titel und konzipiert wie auch umgesetzt wurde diese interdisziplinäre Gender-Ringvorlesung von der Filmwissenschafterin und Vizerektorin für Lehre und Frauenförderung an der mdw Claudia Walkensteiner-Preschl und der Kulturwissenschafterin und Gastprofessorin für Gender Studies an der mdw Doris Ingrisch. Die leitende Idee der Ringvorlesung war es, einerseits Gender-Arbeiten von an der Universität für Musik und darstellende Kunst tätigen KollegInnen einem interessierten Publikum aus Studierenden, Lehrenden sowie Forschenden 7

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vorzustellen, andererseits die Themengebiete durch Beiträge von Gästen (Anette Baldauf, Klaus Rieser, Rainer Winter) zu erweitern und in ihrer Vielfalt und Bandbreite anzudeuten. Im Zentrum stand immer die Kategorie Geschlecht als eine Kategorie, die – auch nach jetzt bereits über  Jahren noch – zumindest in der Musik, weniger in Theater und Film, als neu, als außerhalb des Kernfachs, des musikwissenschaftlichen Kanons empfunden wird. Die Gender-Ringvorlesung wollte da Terrain erkunden und die Diskussion anregen. Wie thematisieren WissenschafterInnen, künstlerisch Lehrende an der Universität für Musik und darstellende Kunst eine Kategorie, die da heißt Geschlecht/Gender ? Was steht bei diesen Zugängen im Zentrum ? Wonach wird gefragt ? Ob es oder warum es keinen weiblichen Beethoven, keinen weiblichen Mozart gegeben habe ? Oder wird gefragt nach einer strukturellen Verfasstheit von Gesellschaft, wird gefragt, wer gehört wird und wer nicht, wem zugehört wird und wem nicht, wer gespielt wird und wer nicht, wer spricht und wer nicht ? An der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) gibt es – und das ist ein Zeichen der Anerkennung des kreativen Schaffens von Frauen – einen Fanny-Hensel-Mendelssohn- und einen Clara-Wieck-Schumann-Saal : benannt nach zwei Komponistinnen, die musikhistorisch und in der Öffentlichkeit lange im Schatten des Bruders bzw. des Ehemannes gestanden sind und die von der Frauen-/Geschlechtergeschichtsforschung ans Licht der Öffentlichkeit geholt und in ihrem Beitrag zur Musikgeschichte gewürdigt wurden. Beide Musikerinnen sind zudem gute Beispiele dafür, was bürgerliche Mädchen- und Frauenerziehung ermöglichte, d. h. in den meisten Fällen Mädchen und Frauen eben nicht ermöglicht hat. Gender-Ringvorlesung – das hieß auch, zu fragen, wie der Einfluss, Ausdruck und die Bedeutung der Kategorie Geschlecht überhaupt relevant sei für musik-, theater-, filmwissenschaftliche und für künstlerische wie auch künstlerisch-wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Musik · Theater · Film. Eine Frage, auf die viele Antworten gegeben werden können und die hier nur kurz angesprochen werden soll, damit deutlich wird, in welchem Kontext sich dieser Sammelband positionieren möchte. Während die Kategorie Geschlecht/Gender in film- und medienwissenschaftlichen, historischen und soziologischen Analysen und Theoriebildungen seit den er-Jahren einen wichtigen Stellenwert in Lehre und Forschung einnimmt, ist in der österreichischen Musikwissenschaft und Musikpädagogik Genderforschung und gendersensibler Musikunterricht erst noch breiter durchzusetzen. Folgt nun man(n)/frau der Vorstellung, dass es keine Welt an sich, sondern nur eine für sich gibt, kommen soziale Kategorien, darunter die Kategorie Geschlecht, 8

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zum Vorschein. Es macht einen Unterschied, es ist bereits eine gesellschaftlich relevante Aussage, woher eine Person kommt (Klasse, Milieu), welches Geschlecht, welche ethnische Zugehörigkeit/race sie hat, wie alt sie ist, welche sexuelle Orientierung sie hat. Menschen sind verschieden und haben unterschiedliche Optionen – dies sichtbar zu machen, das gemeinsame Zusammenleben zu erforschen, zur Diskussion zu stellen, gehört zum Selbstverständnis der Frauen- und Geschlechterforschung, der Gender Studies. Die Genderforschung nimmt den in der Wissenschaftsgeschichte lange ignorierten Tatbestand der Bedeutung des Geschlechts in den Blick, um eine genauere und adäquatere Beschreibung einer so komplexen Gesellschaft wie der postmodernen zu erhalten, sowie die dabei gesellschaftlich wirksamen Einschluss- und Ausschlussmechanismen, die Möglichkeiten und weniger wahrscheinlichen Optionen sowie die grundlegend wirksamen sozialen Strukturkategorien. So entstehen Gender-screenings. Warum ist das wichtig ? Gehen wir davon aus, dass wir in einer gleichberechtigten, einer geschlechtergerechten Gesellschaft leben wollen, ist es wesentlich, zu reflektieren, was da war, was da ist, wie sich die jeweiligen Akteurinnen und Akteure in je spezifischen Situationen und Konstellationen verhalten haben und verhalten, was vielleicht einmal gesellschaftlich mehrheitsfähig bzw. mitgetragen worden war, was aber heute (von vielen Mitgliedern dieser Gesellschaft) nicht mehr akzeptiert wird. Wissen und Geschlecht/Gender zusammen zu denken, zusammen in den Blick zu nehmen, ist – wie der Untertitel ausdrücken soll – ein zentrales Anliegen der vorliegenden Publikation. Das ist gerade für die (österreichischen) Kunsthochschulen, die  zu Universitäten wurden, eine große künstlerischwissenschaftliche wie auch gesellschaftspolitische Herausforderung. Die Kunstproduktion, vor allem die Figur des Künstlers – Künstlerinnen waren lange auf sogenannte reproduzierende Kunstsparten verwiesen – war in der Tradition der Aufklärung assoziiert mit dem Genie(kult) und das Genie war männlich konnotiert. Die Geschichte der Hervor- und Überhebung des künstlerischen Schaffens und dessen Konnotierung mit dem männlichen Geschlecht ist vielfach kritisiert worden und verweist darauf, dass vieles gemacht, aber auch verändert werden kann. Dass von der einflussreichen Psychoanalytikerin Julia Kristeva in den Jahren  und  im französischen Original sowie  und  in deutscher Übersetzung Publikationen über das Genie Hannah Arendt und das Genie Melanie Klein erschienen sind, mag angesichts der massiven feministischen Kritik an diesem Begriff zwar verwundern, deutet gleichwohl darauf hin, dass die Autorin durch die prominente Verwendung des Begriffs »weibliches Genie« (le génie féminin) ein Gegenprogramm setzt, das eine dominante Definitionsmacht unterläuft und herausfordert. 9

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Welche Frauen- und Geschlechterforschung wurde bislang an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, an der mdw, geleistet ? Kolleginnen und Kollegen haben an dieser Universität in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass es Veranstaltungen, Workshops, Seminare, Lehrveranstaltungen und Studien zum Thema Gender gab, dazu kommen die an der mdw betreuten Abschlussarbeiten, die Gender-relevante Fragen stellten und erforschten. Für die Personen, darunter eine Reihe an externen Lehrbeauftragten, und Institute, die mit ihren Aktivitäten und Initiativen zum Werden des Gender-Schwerpunkts an der mdw beigetragen haben, seien exemplarisch einige stellvertretend genannt. Die Beachtung der Kategorie Geschlecht als in der Musik(-ausübung/-praxis) wie auch in der Musikwissenschaft stark wirksamer Moment an Lebens- und Karrierechancen begleitete insbesondere die Forschungsarbeiten der seit den er-Jahren lehrenden Musiksoziologin Elena Ostleitner. Diese Pionierin der österreichischen Frauenmusiksoziologie und -geschichtsschreibung trug und trägt mit ihren Forschungen und ihrer Herausgeberinnentätigkeit der Buch- und CD-Reihe Frauentöne maßgeblich zur Sichtbarmachung des Beitrags von Frauen zum historischen und gegenwärtigen Musikschaffen bei (z. B. Ostleitner/Simek , ). Anliegen und Programm der am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft (IKM) lehrenden Filmwissenschafterin Claudia Walkensteiner-Preschl war und ist es, die feministischen Wissenschaften und hier insbesondere die Filmgeschichtsschreibung in den Kulturwissenschaften an der mdw besser sichtbar zu machen. Der gemeinsam mit Monika Bernold und Andrea Braidt herausgegebene Grundlagenband über Film Fernsehen Feminismus (Bernold/Braidt/Preschl ) wie auch ihre Arbeit über Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der er Jahre (Preschl ) zeugen davon. Die Einrichtung der Gastprofessur Gender Studies im Jahr  war ein Meilenstein und Ausdruck des Vorsatzes, dass es an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien zu einer intensiveren Einbeziehung der Kategorie Geschlecht in Wissenschaft und Kunst kommen kann und soll, das Forschungsprojekt von Doris Ingrisch – Gastprofessorin für Gender Studies an der mdw – nennt sich Wissenschaft – Kunst – Gender (Ingrisch ). Diese Themen werden auch in einer weiteren GenderRingvorlesung aufgegriffen. Der vorliegende Band eröffnet die Buchreihe mdw Gender Wissen und möchte dazu beitragen, dass Gender in Musik · Theater · Film an der Universität für Musik und darstellende Kunst nachhaltig eingeschrieben wird. In ein Neuer Blick auf »alte Meister« ? Musikwissenschaft als Feld der Reproduktion des sozialen Geschlechts zeigt die Musikwissenschafterin Cornelia Szabó-Kno10

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tik am Beispiel der Etablierung von Musik als akademischer Disziplin die Wirkmächtigkeit der Kategorie Geschlecht in diesem Prozess. Die Akademisierung des Wissens im . Jahrhundert (Gründung von Universitäten, Vereinen und Fachgesellschaften) erfolgte unter Ausschluss des weiblichen Geschlechts, Frauen waren bis um die letzte Jahrhundertwende nicht zum Studium zugelassen. Die Autorin diagnostiziert einen nachhaltig wirksamen Konsens in der bürgerlichen Kultur : Frauen seien aufgrund ihres »Geschlechtscharakters« (Hausen ) nicht geeignet, Musikwerke zu schaffen. Sie spricht von einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen den Vorteilen von »Frau Musica« für eine »sittsame« (bürgerliche) Mädchenerziehung einerseits und andererseits der Sorge um eine »verweichlichte/verweiblichte« Musik, wie sie in Kommentaren von Komponisten zum Ausdruck kam. Frauen waren vor allem auf die populäre Produktion von Musik verwiesen, ein »weibliches Genie« findet sich da unter den vielen Wiener Musikgenies nicht. Interessant ist, wie eine gegenderte Musikgeschichtsschreibung eine andere Erzählung, eine neue Stimme zu Wort kommen lässt, die uns zu Auslassungen, Ausblendungen führen, die in der Musikgeschichtsschreibung, in der Gründungsphase der Wiener Musikwissenschaft vor sich gegangen sein werden. Cornelia Szabó-Knotik fordert ein, was es für die österreichische Musikgeschichtsschreibung noch (immer) nicht gibt : eine geschlechtersensible Analyse des Akademisierungsprozesses des Faches Musik und die Offenlegung der dabei wirksam gewordenen Ein- und Ausschlüsse von Personen aufgrund ihres Geschlechts. Der auf einem empirischen Forschungsprojekt basierende Beitrag der Musikpädagogin und -soziologin Noraldine Bailer thematisiert geschlechtstypische Unterschiede im Musiklehrberuf, fragt danach, ob und wie sich Musiklehrerinnen und Musiklehrer in der Ausübung ihres Berufs unterscheiden. So berichten Musiklehrerinnen häufiger als ihre männlichen Kollegen von Schwierigkeiten beim »Fußfassen im Beruf«, erzählen von gleichheitswidrigem Verhalten von Schulleitungen und von Nachteilen durch in Anspruch genommene Karenzunterbrechungen. Auffallend große Unterschiede zeigten sich in der Aneignung popularmusikalischer Praxis – Musiklehrer fanden leichter als Musiklehrerinnen Zugang, Erstere waren auch signifikant häufiger selbst in Popularmusikbands (Popmusik) aktiv. Die Musikethnologin Ursula Hemetek bearbeitet in ihrem Beitrag ein »typisches Frauenthema« : die Hochzeit. Sie fragt nach der Rolle der Braut in drei österreichischen Minderheitenkulturen – bei den Burgenland-KroatInnen, AlevitInnen und Roma. Sie fragt danach, welche Rolle bei der Hochzeit für die Braut vorgesehen ist. Die Musikethnologin wirft zunächst die allgemeine Frage auf, wie 11

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Minderheitenkulturen und die Kategorie Geschlecht/Gender zusammenhängen können. Bislang hätte sich für die Autorin diese Frage nach der Kategorie Geschlecht noch nicht vorrangig gestellt, sie sei aber durch ihr »Material« immer mehr dazu hingeführt worden, sich die Positionierung der Braut bei der Hochzeit genauer anzusehen. Es sind sehr unterschiedliche Settings, die für die Braut in der jeweiligen Minderheit vorgesehen sind. Die Bräute seien – so Hemetek – auch sehr unterschiedlich aktiv. Je mehr Bedeutung einer Braut zukomme, umso mehr dürfe sie sich bewegen, d. h., ihr konkreter Aktivitätsradius ist zugleich Ausdruck ihrer Bedeutung bzw. Nicht-Bedeutung innerhalb der jeweiligen Minderheiten-Community. Die burgenlandkroatische Braut habe es da wohl am besten getroffen – sie dürfe sich am meisten, die alevitische (türkische) Braut dürfe sich noch etwas, die Roma-Braut fast gar nicht mehr bewegen. Eine Begründung für dieses Verhalten sieht Ursula Hemetek in der gesellschaftlichen Ausgesetztheit und Randständigkeit der Roma. Sie betont, je mehr eine gesellschaftlich minoritäre Gruppe stigmatisiert werde, wie z. B. die Roma, umso stärker richte sich deren Verhalten auf den Erhalt der Gruppe und umso weniger gehe es um das einzelne Individuum, umso schwächer sei auch die Position des »zweiten Geschlechts« (de Beauvoir ), der Frauen. Im Beitrag Feminismus und Popmusik gibt die Cultural-Studies-Forscherin Anette Baldauf einen Überblick über die Entwicklung der letzten  Jahre und spricht von einem spannungsgeladenen Verhältnis, von Ambivalenzen zwischen Feminismus und Popmusik. Sie spricht einerseits von der Kritik der Feministinnen der Zweiten Frauenbewegung an den Mainstream-Medien der Popmusik, die sich seit dem Anfang der er-Jahre zu einer »zähen Ambiguität« gewandelt hätte. Die Performativität der Kategorie Geschlecht (Butler ) sei Anfang der er-Jahre von den Popmusikerinnen oft enthusiastischer aufgenommen worden als von feministischen Wissenschafterinnen, so arbeiteten eine Reihe von Musikerinnen, darunter z. B. Liz Phair und P.J. Harvey, an der Dekonstruktion von »Weiblichkeit«, im Bereich der Gender-Performances boten Madonna und Courtney Love Referenzflächen. Zugleich aber brachte die Verknüpfung von (Kultur-)Kapitalismus mit Girl-identifizierten Produkten – so Baldauf – mit der »Omnipräsenz von Barbiepuppen und Kinderwhores neue Standards, die auf den vorbelasteten Körpern der Mädchen abgeladen wurden«, und Baldauf sieht darin teilweise auffällig naive Selbstermächtigungsmythen – »what you want, what you really, really want« (Spice Girls, ). Die aus dem Punk entstandene RiotGirrrls-Bewegung hatte Judith Butlers Angebot der permanenten Performance – die Vorstellung einer (möglichen) immerwährenden Verwandlung – aufgegriffen, mündete dann aber Ende der er-Jahre in eine Bewegung von weiblichen 12

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Teen-Stars wie Brandy, Britney Spears, Christina Aguliera, in der Einflüsse aus der afroamerikanischen Kultur in weiße Schönheitsnormen gegossen wurden, womit ein Revival des »guten, weißen Mädchens« (Good Girl) in Abgrenzung zum Bad Girl (Riot Girrrls) aufgebaut werden konnte. Der folgende Beitrag Die Güte der Frauen. Gender-Pirouetten ist ein wissenschaftlich-künstlerischer Text von Susanne Granzer, der Kunst und Philosophie adressiert und verbinden möchte. Mithilfe von »Gender-Pirouetten« in Literatur/ Philosophie entwickelt die Schauspielerin und Philosophin eine eigene künstlerische Lesart des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, um durch die GenderKritik-Diskurse ins Abseits geratene Qualitäten wie »die Güte der Frauen« wieder besprechbar zu machen. Die Autorin geht auf die Suche nach einer Qualität, die von Feministinnen meist massiv zurückgewiesen wurde/wird, weil sie als dem konstruierten bürgerlichen weiblichen »Geschlechtscharakter« (Hausen ) inhärent angesehen wird : die Güte, manchmal auch als »weibliche Sanftmut« bezeichnet. Die Autorin spielt mit der »Güte der Frauen« in »Gender-Pirouetten« um bekannte Frauenfiguren der Literatur : Diotima, Ariadne, Solveig : es sind die Wartenden, Duldsamen und leise Liebenden der Weltliteratur – Frauenfiguren, wie sie von männlichen Autoren – »Genies« – entworfen wurden ; Frauenfiguren, die dem bürgerlichen weiblichen »Geschlechtscharakter« eine seiner zentralen Konturen gaben. Obwohl Susanne Granzer für eine Bejahung von »Weiblichkeit« plädiert, geht es ihr vor allem um das mögliche Spiel mit Differenzen. Der in Graz lehrende Anglist und Filmwissenschafter Klaus Rieser argumentiert in seinem Beitrag Gender ist kein Nullsummenspiel. Nicht-normative Männlichkeit und »Feminisierung« gegen die viel zu häufige, unreflektierte, Gender festlegende Verwendung des Begriffs »Feminisierung« für nicht-normative Männlichkeit(en). Es könne nicht im Interesse einer feministischen Filmwissenschaft sein, dass nicht-normierte Männlichkeitsbilder unter dem Signum »Feminisierung« rubriziert würden. Durch eine solche Verwendung bliebe das Konzept der »normierten männlichen Männlichkeit« selbst unangetastet und unbeeinflusst, was gerade nicht dazu führe, dass sich – wie es im Sinne von selbstbestimmten Subjekten wünschenswert sei – rigide und festlegende Geschlechtertypisierungen in Richtung weniger normierter Geschlechterperformances öffneten. Der Kulturwissenschafter Rainer Winter thematisiert im abschließenden Beitrag den Konnex zwischen Cultural und Gender Studies und sieht Gemeinsamkeiten in einem in den Cultural wie auch Gender Studies adressierten akteursbezogenen, von einer emanzipatorischen Wissenschaftshaltung geleiteten Forschungsdesign. Rainer Winter gibt einen theoretischen Überblick über die in den letzten  Jahren im deutschen Sprachraum in den Kulturwissenschaf13

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ten stark rezipierte – in Großbritannien aus der Erwachsenenbildungsbewegung nach  entstandene – Wissenschaftsrichtung der Cultural Studies. Die Cultural Studies – situiert zwischen Kulturalismus und Strukturalismus – stehen für einen wissenschaftlichen Ansatz und Anspruch, der Beziehungen zwischen kulturellen Formen und Praktiken im Verhältnis zu anderen Praktiken wie kulturellen und ökonomischen, politischen und ideologischen Instanzen in klar umgrenzten gesellschaftlichen Bereichen untersucht. Die Cultural Studies sind eine Wissenschaftsrichtung, die dezidiert zu einem besseren Verständnis von gesellschaftlich wirksamen Machtverhältnissen beitragen möchte. Dieses Anliegen und diesen Anspruch teilen die Cultural mit den Gender Studies. Rainer Winter weist darauf hin, dass der Ende der er-Jahre kulturwissenschaftlich völlig neue Ansatz der Subkulturstudien die feministische Analyse viel zu wenig zu Wort kommen ließ. Angela McRobbie war eines der wenigen weiblichen Mitglieder der ersten Cultural Studies Working Group in Birmingham und formulierte eine feministische Kritik an den Cultural Studies, insbesondere an den viel rezipierten Subkulturstudien, da deren Forschungsobjekte – wissenschaftlich unreflektiert – meistens männliche Jugendliche waren, weibliche Jugendliche mit ihren Bedürfnissen wenig registriert wurden. Angela McRobbie versuchte durch ihre Arbeiten diesen weiblichen Jugendlichen, den Mädchen, eine Stimme zu geben, sie ins Zentrum des Forschungsinteresses zu stellen. Der vorliegende Band Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film ist zugleich der erste Band der im Böhlau Verlag Wien erscheinenden Reihe mdw Gender Wissen. »mdw« ist das Akronym für »Universität für Musik und darstellende Kunst Wien« und adressiert alle an der Universität für Musik und darstellende Kunst vertretenen Künste – Musik · Theater · Film. Gemeinsam ist diesen Kunstsparten u. a. der performative Charakter ihrer Kunst(felder). Der zweite Teil des Reihentitels – »Gender Wissen« – mag auf die breite Wissenspalette hindeuten, die es im Bereich von Gender in Musik · Theater · Film an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien wissenschaftlich und künstlerisch-wissenschaftlich zu beforschen, zu lehren und zu er-schreiben gilt. Dass nun diese Publikation vor Ihnen liegen kann – werte Leserin, werter Leser –, verdankt sich insbesondere den Autorinnen und Autoren dieses Bandes, denen wir an dieser Stelle nochmals herzlich für ihre Beiträge danken. Zudem möchten wir uns bei denjenigen bedanken, die mit ihrer Arbeit und ihrer Unterstützung dazu beigetragen haben, dass die Idee, mehr »Gender-Wissen« an der Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw) sichtbar zu machen, auch tatsächlich umgesetzt werden konnte : Birgit Murbacher-Sanna und Ulli Huber vom Vizerektorat für Lehre und Frauenförderung haben maßgeblich zur Orga14

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nisation und Realisation dieser ersten mdw-Gender-Ringvorlesung beigetragen, Anita Götterer, Otto Franz Hofecker und Sibylle Zwins haben die Einrichtung der parallel mit der Gender-Ringvorlesung entstandenen »Gender-Bibliothek« am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaften (IKM) unterstützt. Unser Dank gilt auch dem gesamten Rektorat der Universität für Musik und darstellende Kunst und vor allem Rektor Werner Hasitschka, der den Ausbau von Gender Studies und Genderforschung mitgetragen hat und unterstützt. Irmgard Dober hat mit ihrem umsichtigen Lektorat zur Kohärenz des Bandes beigetragen, Petra Weissberg danken wir für eine Übersetzung aus dem Norwegischen. Nicht zuletzt ein Danke für die angenehme Zusammenarbeit an Ursula Huber vom Böhlau Verlag Wien. Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre dieses Bandes und den Gender-Fährten, die in das Feld von Musik · Theater · Film gelegt werden, viel Freude und möchten Sie einladen, die weitere Entwicklung der Gender Studies und Genderforschung an der mdw als Leserinnen und Leser der Reihe mdw Gender Wissen zu begleiten.

Literatur Simone de Beauvoir (), Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Deutsche Erstausgabe. Aus dem Franzöischen Buch I (Fakten und Mythen) : Eva Rechel-Mertnes, Buch II (Gelebte Erfahrung) : Fritz Montfort. Hamburg (frz. Orig.: Le deuxième sexe. Paris ) Monika Bernold, Andrea Braidt, Claudia Preschl (Hg.) (), Screenwise. Film Fernsehen Feminismus. Marburg Monika Bloß (), »Musikwissenschaft«, in : Christina von Braun, Inge Stephan (Hg.), Gender-Studien. Eine Einführung, . aktualisierte Aufl. Stuttgart, – Judith Butler (), Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikan. von Kathrina Menke (= Edition Suhrkamp N.F. Bd  : Gender studies). Frankfurt/Main (engl. Orig.: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York/London ) Robert Harauer, Monika Mokre, Elisabeth Mayerhofer (), Frauen in Kultur- und Medienberufen in Österreich (Forschungsprojekt im Rahmen des europäischen Projektes »Women in Arts and Media Professions – European Comparisons«, koordiniert von ERICArts (Bonn/BRD) und im Auftrag der GD V der Europäischen Kommission), hg. v. Mediacult – Internationales Forschungsinstitut für Medien, Kommunikation und Kulturelle Entwicklung. Wien Karin Hausen (), »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in : Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart, – Doris Ingrisch (), Der dis/kontinuierliche Status des Seins. Über vom Nationalsozialismus aus Österreich vertriebene (und verbliebene) intellektuelle Kulturen in lebensgeschichtlichen Kontexten. Frankfurt/Main u.a.

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Julia Kristeva (), Das weibliche Genie. Das Leben, der Wahn, die Wörter. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Berlin (neu aufgelegt unter dem Titel Das weibliche Genie Hannah Arendt, Hamburg ) Julia Kristeva (), Das weibliche Genie Melanie Klein. Das Leben, der Wahn, die Wörter. Aus dem Französischen von Johanna Naumann (= Bibliothek der Psychoanalyse). Gießen (Originalausgaben : Julia Kristeva (, ), Le génie féminin. La vie, la folie, les mots ; Hannah Arendt, Melanie Klein, Colette, Paris : Hannah Arendt, [Réimpr.]  (Bd. ) ; Melanie Klein, La folie ou le matricide comme douleur et comme créativité,  (Bd. ) ; Colette, Les mots ou la chair du monde,  (Bd. )) Elena Ostleitner, Ursula Simek (), Ist »die« Musik männlich ? Die Darstellung der Frau in den österreichischen Lehrbüchern für Musikerziehung. Wien Elena Ostleitner, Ursula Simek (Hg.) (), »Ich fahre in mein geliebtes Wien«. Clara Schumann – Fakten, Bilder, Projektionen (= Frauentöne Bd. ). Wien Claudia Preschl (), Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der er Jahre (= FilmmuseumSynema-Publikationen Bd. ). Wien

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Cornelia Szabó-Knotik

Neuer Blick auf »alte Meister« ? Musikwissenschaft als Feld der Reproduktion sozialen Geschlechts

Vorbemerkung : gendering Neben »Nation« und »Rasse« ist »Geschlecht« eine der zentralen Kategorien, die die Identität der Menschen symbolisch und sozial in übergreifenden, scheinbar »objektiven« Zugehörigkeiten verankern. (Eickelpasch/Rademacher , )

Die Gegenüberstellung von »Mann« und »Frau« ist nicht biologisch fundiert, d. h., eine solche strikte Unterscheidung ist biologisch nicht möglich. Sondern sie ist kulturell begründet, die Identität von »männlich« und »weiblich« ist das Ergebnis von gesellschaftlichen und kulturellen Zuschreibungsprozessen, die umso nachhaltiger wirken, als sie als »natürlich« und »objektiv« gelten. Das System der Zweigeschlechtlichkeit wurzelt dabei in der Klassifikations- und Benennungspraxis des patriarchalen Systems, als dessen Teil sie hiemit begreifbar ist. Diese Benennungspraxis folgt einem »Kultur«- gegen »Natur«-Schema, das z. B. auch bei Rassenzuschreibungen wirkt : Auf der einen Seite wird männlich mit weiß und Kultur gleichgesetzt sowie mit Eigenschaften wie rational, sachorientiert, beherrscht, zivilisiert, selbstständig, erwachsen assoziiert ; auf der anderen Seite wird weiblich als nicht-weiß konnotiert und symbolisch in die Nähe von Natur gerückt sowie mit Eigenschaften wie emotional, unbeherrscht, instinktgeleitet, unselbstständig, kindlich beschrieben. Diese – in vielen Kulturen anzutreffende – Benennungspraxis, die durch die Naturalisierung des weiblichen Pols der Differenz auch die Differenz insgesamt als »naturgegeben« erscheinen lässt, gehört zum Kernbestand der patriarchalischen Ideologie. Durch die Asymmetrie dieser Bezeichnungspraxis – der Mann bezeichnet, die Frau wird bezeichnet – ist bereits in die Logik der Klassifikation eine Hierarchie, sprich : ein Machtverhältnis, eingeschrieben. Das »Männliche« liefert den Maßstab zur Beschreibung des »Weiblichen«. Frauen unterscheiden sich von Männern, die selbst nicht verschieden sind. Der Mann ist »normal«, die Frau wird als »Nicht-Mann«, als das »andere Geschlecht« konstruiert. (Eickelpasch/Rademacher , ) 17

Cornelia Szabó-Knotik

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat darauf hingewiesen, dass die Arbeit des Differenzierens, Unterscheidens und Klassifizierens alles Mehrdeutige ausschließt, also Verhältnisse einseitig beschreibt, und dass dieses Klassifikationsschema über die Sozialisation tief im Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln der Menschen verankert sei, also auch in jenem von Frauen (Bourdieu , a, b). Das galt auch für die Geschichtsschreibung, die bis zum Aufkommen der Frauengeschichte in den er-Jahren schon durch die Vorstellung ihrer Einheit primär männlich konnotiertes (öffentliches) Tun und Handeln als erinnerungswürdig und repräsentativ ansah. Wie verhält sich jetzt dieser Umstand – auf den meiner Vorlesung zugrunde liegenden Ansatz des gendering angewandt – nicht auf biographische Forschung, sondern auf gesellschaftliche Erscheinungen ? Die Antwort darauf liegt erstens im Verständnis von Gender als sozialem Geschlecht (im Unterschied zum biologischen, im Englischen sex genannt – das eben auch nicht eindeutig ist) und zweitens in einer daraus abgeleiteten Berücksichtigung der Gender-Perspektive in den Kulturwissenschaften : Seit etwa drei Jahrzehnten ist die Katgeorie Geschlecht (Gender) in den Kultur- und Sozialwissenschaften ein Thema, um in der bürgerlichen Tradition stehende Konzepte von Kultur und Natur anzusprechen und zu hinterfragen. Es geht dabei darum, das sogenannte Natürliche zu problematisieren, indem der angeblich naturgegebene Gegensatz von Natur und Kultur in seiner gesellschaftlichen Konstruktion sichtbar gemacht wird. Gender ist also ein historisch wandelbares, gesellschaftlich-kulturelles Phänomen. Gendering bedeutet dabei aber nicht die Ablehnung der sozusagen männlichen Seite der Erscheinungsformen unserer Kultur, sondern ermöglicht das Aufzeigen unterschwellig wirksamer Bedeutungszuschreibungen, um mündig mit Informationen umgehen und eine kritische Wissenschaft betreiben zu können. Es geht beim gendering nicht um die Forderung nach Gleichberechtigung angesichts männlicher Dominanz (das ist zwar wichtig, wird aber hier nicht verhandelt), sondern um die Frage nach den Funktionen und spezifischen Ausformungen der Geschlechterdifferenz in einer Gesellschaft. Gendering ist demnach nicht ein weiterer Forschungsaspekt (neben vielen anderen), sondern kann bzw. sollte jeder Forschung zugrunde gelegt werden. Ich schließe mich hier der von Andrea Maihofer aufgestellten Forderung an, »in der Geschlechterforschung wieder verstärkt eine gesamtgesellschaftliche Perspektive einzunehmen. Dazu muss ein erneuter Versuch zu einer produktiven Verbindung von Geschlechterforschung und kritischer Gesellschaftstheorie unternommen werden« (Maihofer , ). Ziel dieses Artikels ist es also, den Nutzen von gendering als Forschungsperspektive zu diskutieren und das an der Frühgeschichte der Musikwissenschaft 18

Neuer Blick auf »alte Meister« ?

in Österreich, d. h. im . Jahrhundert, zu exemplifizieren.¹ Die Wissenschaftsgeschichte beschreibt die Etablierung der universitären Disziplin Musikwissenschaft sowie die Ausbildung des Kanons musikwissenschaftlicher Methoden und Themen im Gegensatz zum populären »Reden über Musik«. Unter dem Aspekt des gendering kommt die Funktion von Musik im Rahmen der auch im sozialen Spannungsfeld stehenden (bürgerlichen) Frauenbildung des . Jahrhunderts als zusätzliche Betrachtungsebene ins Spiel.

»Frau Musica« – Die weibliche Konnotierung von Musik und ihre Rolle in der Mädchenerziehung Sorgen um die »Verweiblichung« durch Musik gab es bereits im . Jahrhundert und auch das folgende Jahrhundert blieb bei diesem Vorurteil – vor allem im angloamerikanischen Raum (vgl. Scott , –). So berichtete der aus Deutschland stammende Pianist und Dirigent Charles Hallé (eigentl. Karl Halle, –), dass es in London um  als Beleidigung galt, einen Gentleman zu fragen, ob er ein Musikinstrument spiele. Und Hallé zeigte sich () entsetzt, als der Schriftsteller, Maler und Kunsthistoriker John Ruskin bekannte, er bevorzuge Sigismund Thalbergs Variationen des Lieds Home, sweet home gegenüber dessen Beethoven-Interpretationen, weil er Beethoven nie verstehen würde. Umgekehrt findet sich etwa beim amerikanischen Avantgarde-Komponisten Charles Ives eine Verachtung der von ihm so genannten »verweichlichten Ohren«, die er mit betonter Verehrung Beethovens als Komponist »männlicher« Musik noch unterstrich : So schrieb er in einer Notiz zu seiner Three Page Sonata² aus dem Jahr  : »Made mostly as a joke to knock the mollycoddles out of their boxes and to kick out the softy ears.« Die Gegenüberstellung von Beethovens Musik als »männlich« versus Schuberts Musik als »weiblich« zieht sich nicht als biologischer Begriff, sondern als Begriff der Musikkritik bis in die Fachliteratur am Ende des . Jahrhunderts und bildet eine Parallele zum Gegensatz von »schön« versus »erhaben« in der Musikästhetik. Während in einer solchen Lesart davon ausgegangen wird, dass Musik für Frauen, Kinder und nicht-weiße bzw. sozial schlechter gestellte Männer wohltuend und »schicklich« sei, könne Musik hingegen die voll entwickelte, patriarchal dominierende (weiße) Männlichkeit offenbar aufweichen. So könnten Charles Ives’ Tiraden gegen musikalische Verweichlichung auch als Strategie gegen seine Angst interpretiert werden, als Komponist in den Augen anderer Männer als verweiblicht zu gelten (Kramer , –). In der zweiten Hälfte des . Jahr19

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hunderts verfestigten sich diese Vorstellungen über Begriffe der Musikkritik zu als biologisch betrachteten Wahrheiten, indem sie sich mit physiologischen und auch psychologischen Vorstellungen über Frauen, über das weibliche Geschlecht (»weiblicher« versus »männlicher« Verstand, »weibliche« versus »männliche« Körpereigenschaften) verknüpften, also mit dem Zuschreibungssystem eines Geschlechtscharakters, dessen Funktion als soziales Regulativ seit dem ausgehenden . Jahrhundert festgestellt werden kann (Hausen ). In diesem Zusammenhang ist ein Verweis auf die Rolle der Musik in der (Mädchen-)Erziehung angebracht. Musik machen und Musik hören wurde zu einem wichtigen Element der Konstruktion unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhaltensformen, welche jene Differenz der biologischen Geschlechter begründen halfen, deren Naturgegebenheit sie angeblich entsprach (vgl. auch Doff , –). Schon im . Jahrhundert wurde […] der argumentative Dreischritt [entwickelt], wonach die qualitativen biologischen Geschlechtsunterschiede verschiedene psychische Konstitutionen sowie unterschiedliche Fähigkeiten und Eigenschaften von Männern und Frauen begründen und diese wiederum geschlechtsspezifisch unterschiedliche gesellschaftliche Zuordnungen und Arbeitsteilungen (wie z. B. in Familie und Beruf ). (Maihofer , )

Zugleich entwickelte sich der bürgerliche Anspruch, Kunstmusik zu interpretieren, zum Statussymbol. Musik als Kunst gewann großen Wert, es gab Bedarf an Instrumentalschulen für ein breiteres Publikum, und in der Mitte des . Jahrhunderts erschienen Bücher (von Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Joachim Quantz u. a.), in denen vonseiten der Musikästhetik unter dem Stichwort »Rührung« der Körper in die Aufführung mit einbezogen wurde (Schleuning ). Bemerkenswerterweise sind programmatische Ausführungen zur Rolle von Musik in der (bürgerlichen) Frauen- und Mädchenerziehung über ein Jahrhundert ganz vergleichbar, bilden also – wie meine folgenden Beispiele von durchwegs Wiener AutorInnen zeigen werden – eine lange Konstante in der bürgerlichen westlichen Gesellschaft. Musik als wesentlichste weibliche Begabung (1811)³ In einem Haushaltsratgeber und Kochbuch mit dem sprechenden Titel Nützliches Handbuch für Frauen und Mädchen aus dem Jahr  wird eine Reihe an 20

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Themen behandelt, wobei vor den praktischen Anweisungen zur Haushaltsführung (Kochen, Putzen, Heilen, Kinder erziehen) beschrieben wird, wie die Persönlichkeit der Frau zu entwickeln sei. Das beginnt mit »Erster Abschnitt. Erste Abhandlung : Von der nothwendigen Erkenntniß der Religionswahrheiten in Beziehung auf allgemeine und besondere Bestimmung des Weibes«. Danach folgt ein Kapitel, dessen erster Teil »den nothwendigen Talenten und Fähigkeiten der Frauen« und der zweite Teil »der Wahl guter Bücher und der Kunst, sie zu lesen« gilt. Einleitend wird behauptet, dass Talent zu haben für Frauen ziemlich wertvoll sei, weil sie ohne »fremde Beihülfe« sich und ihren Familien unschuldig die Zeit vertreiben könnten. Somit könne Langeweile bekämpft werden, ohne dabei moralische Grenzen zu überschreiten und Talent sei ein sicheres Mittel gegen »Ausschweifungen der Einbildungskraft und gegen täthige Thorheiten«. Das Herz der Frau könne dann andere Freuden empfinden und sei öfter »frohen Muts« bei der Erfüllung ihrer Pflichten. Zu Beginn des . Jahrhunderts galt Musizieren als vorrangigstes Talent für Frauen, gefolgt vom Tanzen, von dem es in diesem Haushaltsbuch heißt, dass es Eltern oft zu Unrecht ablehnten, weil sein Wert für die Körperhaltung und Gesundheit nicht erkannt würde. Der Hauptkritikpunkt an der weiblichen Musikerziehung war, dass Frauen nie lernten, den wahren Wert der Musik zu erkennen, sondern nur »wie ein Goldfink« trainiert würden, Arien oder Sonaten zu reproduzieren : […] und eben, weil es [das Mädchen, C. S.-K.] beynahe nie vom Blatte weg singen oder spielen kann, hängt es bey seiner Verheirathung die Musik an den Nagel, hat also eine Menge Geld und Zeit verschwendet, und dafür das Bedürfniß der Eitelkeit, laut gelobt zu werden, sich für immer angewöhnt, ohne dabey den wahren Vortheil der Musik je gekannt noch empfunden zu haben. (Gartler/Hickmann , )

Musikalisches Genie versus »weibliches« Musizieren (1846)⁴ Die Frauenrechtlerin Marie von Thurnberg behandelte in ihrer im Jahr  erschienenen Schrift Gedanken einer Frau über die angeborenen Rechte des Frauengeschlechts den Gegensatz von »weiblichem« Musizieren und musikalischem Genie und dokumentierte damit die durchaus männlich konnotierte Definition des Geniebegriffs. Die Beschreibung der den HörerInnen vermittelten Macht der Musik des Genies entsprach der damaligen romantischen Ästhetik, die sich bis heute in zum Klischee verfestigten populären Ansichten über Musik dokumentiert. Da21

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gegen wurde Frauen – selbst von einer Frauenrechtlerin wie Marie von Thurnberg – ein von vornherein anderes, niedrigeres Niveau des musikalischen Vortrags zugeschrieben, sie wurden vor Eitelkeit gewarnt, was auf weitgehende Internalisierung der bürgerlichen Geschlechtercharaktere (Hausen ) hinweist : Der Musiker kann eher im jugendlichen Alter zum Künstler werden, weil die Musik mehr im Gebiete der Fantasie als des Verstandes schwebt. […] der Musikkünstler, der uns seine eigenen Compositionen vorträgt, wie sie unwillkürlich seiner Seele zuströmen, sie in Lust und Weh tauchen, ihn der Erde entrücken, während er im Reihe [sic !] der Töne Alles um sich vergessend, wonnevoll schwelgt, reißt auch uns unwillkürlich zum Entzücken – zur Bewunderung hin. […] Hat daher der Musikkünstler die mechanischen Schwierigkeiten besiegt, – und dieß kann er auch ohne besondere Reife des Verstandes – so darf er nur auf den inneren Genius lauschen, der sein Füllhorn von Tönen über ihn ausströmt. […] Derjenige, welcher nur aus Noten Musik machen kann, mag wohl ein Talent sein, ist aber auf jeden Fall kein musikalisches Genie, denn es fehlt ihm die Weihe des geheimnisvollen Reiches, aus dem die Töne kommen. (Thurnberg , – ; Hervorhebungen von C. S.-K.)

Und die Voraussetzungen für eine künstlerische Laufbahn sowie deren Rahmenbedingungen beschrieb sie für ein Mädchen bzw. eine Frau folgendermaßen : Einen Beweis für meine Behauptung, daß die Musik am wenigsten die Reife des Verstandes bedarf, um Vorzügliches zu leisten, finde ich auch darin, daß wir viel mehr musikalische Wunderkinder von jeher bis auf unsere Zeiten zählten als malende und dichtende. […] ich stelle daher die Behauptung auf, daß es nach erhaltenen Vorkenntnissen bei einer Jungfrau erst dann an der Zeit ist, sich einem Talente ausschließend zu widmen, wenn ihre Erziehung vollendet ist und ob ich gleich zugegeben habe, daß der Musikkünstler diese Reife des Geistes nicht abzuwarten nöthig habe, so muß ich doch aus den früher gegebenen Gründen bei der Jungfrau darauf bestehen, um so mehr, da eine so ungewöhnliche Bahn, als die Künstlerlaufbahn für die Jungfrau ist, wieder Eigenschaften voraussetzt, welche eine vollkommene Reife des Geistes erfordern. Ich kann es unmöglich gut heißen, ein Kind, und noch dazu ein Mädchen, als Virtuosin auftreten zu lassen. Die ermüdenden Vorübungen zu einer Produktion, das Auftreten vor einem gefüllten Hause, […] die Aufregung, die ein lautes Beifallsgestürme und Hervorrufen erregen muß, die Leidenschaften, welche durch die tausend dargebotenen, verschiedenartigen Schmeicheleien, oder durch Mißbilligung der Production erweckt werden, dies alles ist zu viel für den 22

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zarten Organismus eines Kindes, es muß zerstörend einwirken, muß Gefühle und Neigungen erzeugen, welche wenigstens auf die Moralität des Kindes nachtheilig wirken. (Thurnberg , – ; Hervorhebungen von C. S.-K.)

Es ist bemerkenswert, wie die Autorin trotz ihres Engagements für die gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen die Vorstellung eines vollkommen unterschiedlichen, in ihrem Wesen begründeten Charakters der Geschlechter verinnerlicht hat und dies mit einem klischierten Bild vom Musizieren als rein intuitiver Begabung verbindet. Über den Wert von Musikunterricht für »ehewillige Mädchen« (1880)⁵ Ausgehend von der Nachricht einer »in wahrhaft erschreckender Weise« zurückgehenden Zahl von Eheschließungen in großen Städten, nennt der Autor meines dritten Beispiels soziale Missstände als Ursache und Bildung als Gegenmaßnahme : »Der höhere Mädchenunterricht trägt dazu bei, dass weniger Frauen ›sitzenbleiben‹« (Wendt/Lintemer , ). Junge Frauen sollten sich den aktiv werbenden Männern möglichst attraktiv präsentieren und diesem Zweck entsprechend wurde in der bürgerlichen Mädchen- und Frauenbildung die musikalische Betätigung funktionalisiert. Im Verlauf des . Jahrhunderts wurde auch die Befassung mit Musik immer mehr unter dem Aspekt ihrer historischen Dimension gesehen und so immer mehr als Wissenschaft betrieben. Dabei ging es von Anfang an nicht nur, aber vor allem um die Musik der Genies, weil sich zugleich mit der Akademisierung der Musik im zunehmend professionalisierten und standardisierten Konzertbetrieb ein Standardrepertoire (der heute so genannte »Kanon der Meisterwerke«) verfestigte.

Entwicklung der Musikwissenschaft als universitäre Disziplin Zur Geschichte der Musikgeschichtsschreibung Als Basis der Geschichtsschreibung gelten Daten und Fakten, die durch Forschung, Quellenstudium und Recherche zusammengetragen werden. Was aber sind Daten ? Nicht, wie der Begriff sagt, etwas Gegebenes, sondern sozusagen etwas »Genommenes«. So gesehen ist Geschichte eine Reihe von Geschichten, verfasst von Forschern und Forscherinnen auf der Basis dessen, was ihnen Faktum und Datum ist, also was sie als solches (bewusst oder nicht) ausgewählt haben : 23

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Beim Erzählen über die Vergangenheit, auch die Gegenwart, können wir gar nicht anders : Wir müssen aus komplexen, niemals vollständig nachvollziehbaren Lebenszusammenhängen Begebenheiten herausgreifen und diese zu Fakten erheben. Aber nicht nur das. Wir selbst sind eingebunden in unsere Sprache, in soziokulturelle und persönliche Muster. Wir konstruieren die Geschichten nach unseren Voreinstellungen, Überzeugungen und, nicht zu vergessen, unseren Stimmungen. […] Wir machen die Geschichten, die die Vergangenheit gestalten und damit auf die Zukunft wirken. Wir sind diejenigen, die Gleichheit und Differenz zwischen den Geschlechtern feststellen und durch Bewertung hierarchisieren. Jede Wissenschaftlerin, jeder Wissenschaftler geht die Gratwanderung zwischen Konstruktion und Rekonstruktion. Die neutrale, indifferente Haltung angeblicher Objektivität verweist weniger auf ein »so ist es« als auf gesellschaftliche Übereinkunft und den Hintergrund der Forschenden. (Wanke , –)

Als Beispiel für diese Behauptung erinnere ich an Biographien, die niemals allein auf der Grundlage von Dokumenten verfasst werden können, also immer einen Anteil an Fiktion haben (vgl. u. a. Hildesheimer ). Wesentlich ist, hier festzuhalten, dass eine solche wissenschaftliche Position erst seit wenigen Jahrzehnten möglich ist, seit – ausgelöst von der postmodernen Philosophie – Dinge und Sachverhalte als Konstruktionen im Zeichen sozialen Machterhalts in den Blick genommen werden. Ganz im Gegensatz dazu stand die seit dem . Jahrhundert entwickelte Vorstellung, dass Geschichte objektive Sachverhalte zu beschreiben habe. Für jene der Musik wurde im Zuge der französischen Aufklärung erstmals eine auf Quellen basierende, diese korrekt beschreibende und kritische Darstellung gefordert. Ein solches systematisches Forschen unter dem Aspekt der wissenschaftlichen Aufklärung war beispielsweise die Basis für die enzyklopädische Darstellung der Musikgeschichte durch Jean Baptiste de Laborde () bzw. Alexandrine Sophie Baronne de Bawr (vgl. Fürst , –). Als deutsches Beispiel wäre die Arbeit von Martin Gerbert (Gerbert ) zu nennen, ein wichtiges Werk zur Erforschung der mittelalterlichen Musiklehre. Johann Nikolaus Forkel⁶ beschrieb die stufenweise Entwicklung der Musik von ihren Anfängen bis zum Höhepunkt der Gegenwart, wobei der Maßstab seiner Beurteilung auf der Erfahrung der zukunftsweisenden Instrumentalmusik Ende des . Jahrhunderts und der daraus resultierenden Vorrangstellung Deutschlands als Musik-»Nation« (im Unterschied zu einer politischen, die damals noch nicht realisierbar war) beruhte. Während das . Jahrhundert also noch Musikgeschichte als Universalgeschichte im Sinne der Aufklärung als lineare Entwicklung von primitiven Anfän24

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gen bis zum Höhepunkt in der Gegenwart betrieb, setzte sich im . Jahrhundert der Gedanke des organischen Wachstums und der Eigenwertigkeit jeder musikgeschichtlichen Epoche durch. Die neue Zeit erkannte sich aus einem Widerstreit zwischen Gegenwart und Vergangenheit und setzte daher an die Stelle des selbsttätig wirkenden Prozesses der Tradition die Forderung nach Aneignung der Geschichte durch Reflexion. Zur Frühgeschichte der Musikwissenschaft : Eduard Hanslick und Guido Adler⁷ Die »grundsätzliche Historisierung des Wissens und Denkens« (Troeltsch , ) im . Jahrhundert bedeutete, »natürliche« Normen in Frage zu stellen, und in den Künsten eine Relativierung der »Vorstellung, daß bedeutende musikalische Werke aus der Geschichte herausragen und ihren ästhetischen Gehalt unverändert bewahren« (Dahlhaus , Sp. ). Auf dieser Grundlage setzte sich die Auffassung durch, dass (Musik-)Geschichtsschreibung/Musikwissenschaft durch einen objektiven Blick auf historische Tatsachen den Eigenwert jeder Epoche feststellen müsse, indem der Abfolge der Ereignisse nicht eine hierarchische Entwicklung unterstellt werde, sondern die jeweils spezifische Voraussetzung jeder Epoche zu berücksichtigen sei. In einer solchen Vorstellung wurde der Forscher/ die Forscherin als Subjekt weitgehend ausgeklammert, nicht nur unter Vermeidung persönlicher Werturteile, sondern sogar, indem er/sie seine/ihre zeitgebundenen theoretischen Voraussetzungen zur historischen Betrachtung vernachlässigte. Hier wurden die Naturwissenschaften, deren Aufgabe es ist, eine bestimmten Wirkung aus mehreren Ursachen und Bedingungen als Gesetz zu erfassen, zum wissenschaftstheoretischen Vorbild für den geistes- und kulturwissenschaftlichen Bereich. Deshalb auch wurden in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts Begriffe wie Gesetz und Kausalität so häufig im Zusammenhang mit geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen verwendet. Auch die Wissenschaft von der Musik wurde unter diesem Aspekt entwickelt, wie ein Blick auf methodische Aussagen ihrer »Begründer« – Eduard Hanslick und Guido Adler – zeigt. Wir kennen heute Eduard Hanslick vor allem als denjenigen, der im Streit über sogenannte absolute Musik versus Programmmusik die erste – mit dem Namen Johannes Brahms verbundene – Position verteidigte und daher die Musik Richard Wagners abgelehnt hatte. Hanslick gehörte als Musikkritiker zu der das Wiener Musikleben bestimmenden Gesellschaft. Seine Vorlesungen zur Ästhetik der Tonkunst, die er ab seiner Habilitation zum Privatdozenten im Jahr  auf der Grundlage seiner Habilitationsschrift Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der 25

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Ästhetik der Tonkunst () hielt, sind Vorläufer der universitären Musikwissenschaft in Wien. Sein Nachfolger Guido Adler war der erste Inhaber des anschließend eingerichteten Lehrstuhles für Musikwissenschaft. Bereits Eduard Hanslick formulierte in seinem  erstmals erschienenen und seitdem vielfach aufgelegten Buch, aus dem auch die als Motto für die Ästhetik der sogenannten absoluten Musik überlieferte Formulierung stammte, dass nämlich Musik »tönend bewegte Form« zu sein habe, u. a.: Der Drang nach einer möglichst objectiven Erkenntniß der Dinge, wie er in unserer Zeit alle Gebiete des Wissens bewegt, muß nothwendig auch an die Erforschung des Schönen rühren. [Die ästhetische Methode] wird […] sich der naturwissenschaftlichen Methode wenigstens so weit nähern müssen, daß sie versucht, den Dingen selbst an den Leib zu rücken, und zu forschen, was in diesen, losgelöst von den tausendfältig wechselnden Eindrücken, das Bleibende, Objective sei. (Hanslick , )

Guido Adler setzte sich von seinem Vorgänger theoretisch ab, indem er sich nicht mit »dem musikalisch Schönen« beschäftigte, sondern Musikgeschichtsschreibung als wertfreie, den Eigenwert ihres Gegenstandes berücksichtigende Darstellung sah : Die Hauptsache ist, daß der Gesamtwert einer Kunstperiode nicht in Pausch [sic !] und Bogen mit dem einer anderen zusammengestellt, nicht der katholische Choral mit der A-capella-Musik, nicht diese mit der Instrumentalmusik des . Jahrhunderts, ferner nicht die einzelnen Schulen innerhalb eines Abschnittes gegeneinander abgewogen werden. Alles und jedes muß in seiner historischen Stellung richtig erkannt werden, in der Würdigung sui generis. […] Der Grundfehler besteht darin, daß Inkommensurables miteinander gemessen wird. (Adler , )

Weil Guido Adlers Tätigkeit den Beginn einer neuen Wissenschaftsdisziplin bedeutete, musste oder wollte er seinem Fach nicht nur einen spezifischen Gegenstand, sondern auch eine eigene Methode geben, um mit ihr das Kernstück jeder musikwissenschaftlichen Arbeit – nach Adlers Auffassung »die Erforschung und Darlegung des Entwicklungsganges der tonsetzerischen Produkte« (Adler , ) – bewältigen zu können. In seinem  erschienenen Buch Methode der Musikgeschichte ist »Stil« der wichtigste Begriff, der alles enthält, was für die eigentliche Aufgabe des Musikhistorikers bzw. der Musikhistorikerin notwendig sei, nämlich die Erforschung dessen, wie Musik entstanden ist. Adler definiert Stil als : 26

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[…] die ideelle Zusammenfassung all der Momente, die ein Kunstwerk, eine Kunstschule, eine Künstlerindividualität, einen Kunsttypus und eine Kunstoriginalität ausmachen. Es liegt in ihm die höchste Synthese in Einzel- und Gesamterscheinungen. Im Stil wird die gesetzmäßige Entwicklung und die Zufallserscheinung innerhalb des organischen Verlaufes der Kunstgeschichte […] einheitlich erfaßt. (Adler , )⁸

Wenn man die Gesetzmäßigkeiten musikalischer Erscheinungen zu einer bestimmten Zeit oder im Laufe einer historischen Entwicklung aufzeigen wollte, müsste man deren Gemeinsamkeiten abstrahieren und zu einem Begriff zusammenfassen können. Adler verwendete dafür den Begriff des »Typus« (z. B. Psalmodietypus, Liedtypus) und grenzte ihn vom Begriff der »Form« ab. Zum Typus gehörten demnach nicht nur musikalische Kriterien, sondern auch außermusikalische wie etwa die Künstlerpersönlichkeit. Der Typus wird von Guido Adler auch nicht nur zur näheren Bestimmung von Musik verwendet, sondern als Idealmaß angesehen, als erstrebenswertes Ziel der Entwicklung von Musik, wobei dieser Entwicklung der Charakter eines Subjekts mit eigenständigen Intentionen zugeschrieben wurde : Der Idealtypus ist entweder unter dem Vorbild eines dem Kunstideale (der höchsten Vollendung) einer Gattung oder Art entsprechenden, oder nahe oder zunächstkommenden Werkes aufgestellt oder er ist auf Grund von Beobachtungen und Erfahrungen erdacht oder ideell konstruiert, ohne bisher entsprechende Verwirklichung erfahren zu haben oder vielleicht überhaupt finden zu können. (Adler , )

Metaphysische Überlegungen, die sich etwa mit dem Unsagbaren von Musik befassen, spielten für Adlers Methode keine Rolle. Die Ästhetik als Teildisziplin der Philosophie, also das, was Hanslick betrieben hatte, betrachtete Adler mit Skepsis, weil er den Schönheitsbegriff als ungeeignetes Kriterium der Stilkritik ansah. Adlers Position ist also objektivistisch, er sah vom Forschersubjekt ab und isolierte so den beobachteten Gegenstand, den er in keine Beziehung zum Beobachter bzw. zu Beobachterin gesetzt wissen wollte. Von hier wird Adlers Ablehnung der musikalischen Hermeneutik verständlich, wie sie von Hermann Kretzschmar (, ) vertreten wurde, der die Hauptaufgabe der Musikforschung in der Erfassung des Stimmungsgehaltes bzw. der Affekte eines Musikwerks erblickte. Guido Adler hingegen schrieb : »Einer Affektenlehre liegt immer mehr oder weniger die subjektive Deutung zugrunde und die kann nicht Ausgangspunkt der 27

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stilkritischen Untersuchung sein, da sie des festen Haltes der Wissenschaftlichkeit enträt« (Adler , ). Sowohl Hanslick als auch Adler haben als notwendige Voraussetzung einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Musik das niedergeschriebene Musikstück und nicht dessen Aufführung, den Prozess seiner Entstehung bzw. seine Rezeption zum Forschungsgegenstand erklärt. So schrieb Hanslick, dass »für den philosophischen Begriff das componirte Tonstück, ohne Rücksicht auf dessen Aufführung, das fertige Kunstwerk ist« (Hanslick , ). Und Guido Adler betonte, dass die Werke »im Zentrum kunsthistorischer Arbeit« stünden (Adler , ). Deshalb lehnten beide das mit der Musik verbundene Gefühl als Grundlage für eine Ästhetik beziehungsweise Stilkritik ab, weil es unmöglich sei, zwischen einem Gefühl und einer bestimmten Tonfolge einen Kausalzusammenhang herzustellen, also keine wissenschaftlichen Gesetze daraus abgeleitet werden könnten. Und Guido Adler betrachtete in seinem  – das Jahr, in dem er eine Stelle als außerordentlicher Professor an der Deutschen Universität Prag erhalten hatte – veröffentlichten Grundsatztext Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft die »historische Aufeinanderfolge der Gesetze, . wie sie in den Kunstwerken je einer Epoche vorliegen, . wie sie von den Theoretikern der betreffenden Zeit gelehrt werden« (Adler , ), als das Ziel musikgeschichtlicher Forschung. Eduard Hanslick und Guido Adler waren von der Möglichkeit überzeugt, für die Bewertung musikalischer Werke objektive Kriterien anzulegen. Und beide sahen Musik als autonome Kunst an, als ein System, das sich seine Regeln selbst gibt und weitgehend unabhängig von sozio-kulturellen Gegebenheiten ist. Wird Musik als autonom aufgefasst, so bedeutet das für die Musikbetrachtung eine Konzentration auf das Werk und nicht auf seinen Kontext.

Fragen zur Verbindung von »männlichem« Geist und »weiblicher« Kunst Diese (Natur-)Wissenschaftlichkeit versprechenden Methoden sind – wenn man sie auf der Basis der am Anfang dieses Textes angesprochenen sozialen Geschlechterdichotomie betrachtet – »männlich« konnotiert : Das gilt für den Vorrang der Quellenarbeit, das gilt ebenso für die angesprochene Orientierung am Ideal der Naturwissenschaften, die – im Sinn der Dichotomisierung unserer Kultur – bis heute als Exempel »harter«, »objektiver« Wissenschaft des »männlichen« Geistes angesehen werden. Die so vorgezeichnete musikwissenschaftliche 28

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Methode beruht auf empirischen Daten, die zu gesetzmäßiger Verbindlichkeit, beispielsweise zu im Sinn von Gesetzen interpretierten Typen (Personal-, Epochen-, Gattungsstil), führen. Diese Gesetze wiederum dienen als Basis einer wissenschaftlichen Darstellung von Musikgeschichte (im Unterschied zu einem als nicht-wissenschaftlich rubrizierten »weiblichen« Salongeplauder). Als weiterer Schritt in diese Richtung kann der Aufstieg der Musikanalyse zur Methode des . Jahrhunderts verstanden werden. Sie hat sich zu einer Art »Leitdisziplin« für musikwissenschaftliche Fachpublikationen entwickelt, wobei zunehmend häufiger mathematische Modelle einbezogen werden (Huber  u. ). Die Verwissenschaftlichung des Schreibens (und Redens) über Musik hebt diese Beschäftigung aus dem nicht-institutionalisierten »weiblichen« Salon in die institutionalisierte »männliche« Welt akademischer Forschung. Die historische Wissenschaft war für das kulturelle Gedächtnis ein wichtiger Beitrag zur »Invention of Tradition« (Hobsbawm), d. h. trug zur Identitätsbildung im nationalen Sinn bei. Musik war für diesen Nationswerdungsprozess als kulturelle Praxis wie auch als Gegenstand der Musikwissenschaft zentral. Der Zweck der nationalen Identitätsbildung war Machterhalt, also etwas männlich Konnotiertes. Das Wort »Denkmal« bzw. »Monument« wurde in dieser Lesart in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts auf Schriftquellen übertragen : Bis heute gibt es sogenannte Denkmäler-Ausgaben, beispielsweise die Denkmäler der Tonkunst in Österreich. Wie Annette Kreuziger-Herr in ihrer Einleitung zum Band History. Herstory ausführt, ist das »Haus der Musik« – von den handelnden Figuren bis zu den Geschichtsschreibern – männlich bewohnt (Horlacher , ), und wie wir als Schlussfolgerung aus dem soeben Ausgeführten hinzufügen können, gilt dies auch für die angewendeten Methoden. Das gendering der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Musik ist ein Mittel, um die dabei getroffenen methodischen Entscheidungen auf ihre soziale Bedeutung hin zu dekonstruieren, d. h. zu hinterfragen. Aber nicht nur das. So kann der gesamte Prozess der Etablierung der Musikwissenschaft an der Universität Wien unter Einbeziehung der Kategorie Geschlecht anders dargestellt, also dekonstruiert, werden. Und in einem solchen Prozess einer Dekonstruktion könnten die dabei wirksamen gesellschaftlichen Machtverhältnisse beschrieben werden. Gendering Musicology⁹ (Das Gendern von Musikwissenschaft) würde in diesem Sinn zu einer kritischen Analyse der inhaltlichen, ideologischen Ausrichtung einer akademischen Disziplin und zu den Funktionsweisen des »sozialen Systems« Universität beitragen helfen, weil es sich dabei um historisch männlich dominierte Bereiche handelt. Anders als bei einer Frauenforschung, die sich auf Einzelschicksale bezieht und da Gefahr läuft, den männlich konnotierten Ge29

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niebegriff weiterzuschreiben, geht es bei Gendering Musicology um die kritische Befragung, wie sich der Kanon musikwissenschaftlicher Methoden und Themen in der Musikwissenschaft ausbildete im Verhältnis zu einem außeruniversitären, populären Sprechen über Musik, das traditionell als für Frauen »schicklich« angesehen wurde. Eine Untersuchung solcher Fragen stünde unter folgenden Aspekten : − Ausschluss bzw. Einbindung von Frauen durch Inhalte − Rahmenbedingungen und Strukturen des Musikstudiums − Charakteristika des wissenschaftlichen Selbstverständnisses von Musiklehrern und Musiklehrerinnen¹⁰ − Diskussion der Rolle von Musik und Musikwissenschaft in der Geschichte der bürgerlichen Frauenbildung unter Einbeziehung des außeruniversitären (populären) Diskurses über Musik Weitere Fragen wären : − Die Rolle von Musik in der allgemeinen Mädchen- und Bubenerziehung, in der außeruniversitären Bildung von Frauen und in der universitären, lange männlich dominierten Disziplin Musikwissenschaft. Welches Verständnis von Musik lag dem jeweils zugrunde ? Welche Parallelen bestanden zwischen diesen verschiedenen Feldern der Produktion von Wissen, welche Verschiebungen ergaben sich inbesondere dann, wenn eine weiblich konnotierte Befassung mit Musik an der Universität mit einem männlich definierten Verständnis von Wissenschaft zusammentraf ? − Welche Inhalte hatte die musikwissenschaftliche Lehre, welche methodischen Positionen und Ansichten vertraten die Lehrer und Lehrerinnen, in welchem Ausmaß waren sie außeruniversitär (populär) tätig ? Wie wurde das wiederum vom Musikfeuilleton und der populären Musikpublizistik rezipiert ? Dem Stellenwert der Wissenschaft von der seit der Aufklärung vielfach als weiblich bezeichneten Musik – der Musikwissenschaft – im universitären Gefüge käme man besser auf die Spur, wenn man die Pro- und Contra-Argumente für oder gegen die Einführung des Faches Musikwissenschaft an der Universität Wien genauer untersuchte, wenn analysiert würde, wie Lehrer und Lehrerinnen verpflichtet und wie die Gründung des Instituts kommentiert und welche Argumente jeweils angeführt wurden :

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− Wurde in diesen Stellungnahmen ein Verständnis von Musik als »weiblicher« Kunst wirksam ? − Wie wurde Gegnerschaft, wie wurde Zustimmung zum Frauen-Studium charakterisiert ? − Wie wurde die Ko-Edukation, d. h. der für diese Zeit an sich unübliche gemeinsame Unterricht von jungen Männern und Frauen, am musikwissenschaftlichen Institut von Lehrern und Lehrerinnen, Studierenden und Außenstehenden wahrgenommen ? − Welcher Stellenwert wurde in der Musikwissenschaft der Ausbildung von Frauen beigemessen ? Wurde sie unter dem Aspekt der Ausbildung zu einer Lehrerin betrachtet, d. h. als Teil einer die Sozialkompetenz von Frauen betonenden akademischen Bildung, oder galt sie als Teil einer dem weiblichen Geschlecht besonders angemessenen »schöngeistigen« Bildung ähnlich der im Sinne der bürgerlichen Geschlechtercharaktere traditionellen Beschäftigung von Frauen mit Musik – oder verloren sich im wissenschaftlichen Umgang mit Musik solche Funktionsbestimmungen ? − Bestand eine Hierarchie zwischen Studenten und – offiziell nicht zum Musikwissenschaftsstudium zugelassenen – Hospitantinnen ? Gab es auch Hospitanten ? Seit wann war eine GasthörerInnenschaft am Wiener Institut möglich, handelte es sich dabei um ein Spezifikum der Philosophischen Fakultät bzw. der Wiener Musikwissenschaft oder war die Gasthörerinnenschaft für Frauen auf spezielle Vorstellungen und Initiativen des Institutsgründers und ersten Institutsvorstandes Guido Adler zurückzuführen ? Solche Fragen – deren Beantwortung bis heute aussteht – stünden am Beginn einer gendersensiblen, d. h. einer sich des Stellenwerts der Kategorie Geschlecht bewussten, Untersuchung der Geschichte der Musikwissenschaft an der Universität Wien unter ihren konkreten historischen Bedingungen.¹¹

Anmerkungen  

Interessant ist, dass die Musikwissenschaft als »deutsche« Disziplin schlechthin gilt, obwohl sie in Österreich als wissenschaftliches Fach sozusagen »erfunden« wurde, während in Deutschland universitäre Musikensembles am Beginn der Entwicklung des Faches standen. Der Titel des Stücks leitet sich vom Umfang des Manuskripts ab. Wie für den Komponisten typisch sind stark unterschiedliche Teile aneinandergereiht – ein BACH-Motiv, mathematische Permutatorik und mehrere Zwölftonreihen sind nachweisbar, aber es überwiegen der Tonfall von Ragtime und ein Marsch-Charakter. Mollycoddles sind Muttersöhnchen.

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     



 

Gartler/Hickmann . Dieses Buch ist die . Auflage von Gartler  und hat in den folgenden Jahrzehnten regelmäßige Neuausgaben erlebt, war also offenbar weit verbreitet. Thurnberg  »Dr. L. Strauß in Wien« : »Der höhere Mädchenunterricht und die Abnahme der Heiraten«, in : Wendt/Lintemer , – Forkel / : in zwei Bänden, der . Band war als Specialgeschichte der deutschen Musik geplant. Dieser Abschnitt bezieht sich auf : Boisits a, – und Boisits b, –. Auch die folgenden Äußerungen von Hanslick und Adler sind nach diesen beiden Texten zitiert. Alle für eine Komposition bestimmenden musikalischen und außermusikalischen Kriterien sollten im Begriff »Stil« zusammengefasst werden. Und der Stil ist nicht nur ein methodisches Instrument, sondern gleichzeitig der Zweck der Untersuchung, weil sich nicht nur der Künstler, die Künstlerin eines Stils bediente, sondern auch umgekehrt sozusagen der Stil sich des Künstlers, der Künstlerin. Die folgenden Ausführungen stammen aus dem bereits – von Markus Grassl und mir erarbeiteten und in einem internationalen Workshop diskutierten Thema Musikwissenschaft und Frauenbildung in Wien um die Jahrhundertwende, das als Teil eines dann vom österreichischen Forschungsförderungsfonds (FWF) nicht genehmigten Projektantrages zu einer Frühgeschichte der Musikwissenschaft in Wien aus der Genderperspektive gedacht war. Vgl. dazu Cornelia SzabóKnotik . Vgl. zu geschlechtstypischen Unterschieden zwischen Musiklehrerinnen und Musiklehrern heute den Text von Noraldine Bailer in diesem Band. In der gegenwärtigen Situation führt die Erkenntnis vom männlichen akademischen Betrieb zur Forderung des Gender Mainstreaming, gerade auch für Universitäten.

Literatur Guido Adler (), »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft«, in : Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft , – Guido Adler (), Der Stil in der Musik, I. Buch. Prinzipien und Arten des musikalischen Stils. Leipzig Guido Adler (), Methode der Musikgeschichte. Leipzig Barbara Boisits (a), »Ästhetik versus Historie ? Eduard Hanslicks und Guido Adlers Auffassung von Musikwissenschaft im Lichte zeitgenössischer Theorienbildung«, in : dies., Peter Stachel (Hg.), Das Ende der Eindeutigkeit. Zur Frage des Pluralismus in Moderne und Postmoderne (= Studien zur Moderne ). Wien, – Barbara Boisits (b), »Historismus und Musikwissenschaft um «, in : Archiv für Kulturgeschichte , – Pierre Bourdieu (), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main Pierre Bourdieu (a), »Die männliche Herrschaft«, in : Irene Dölling, Beate Kreis (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt/Main

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Neuer Blick auf »alte Meister« ?

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Cornelia Szabó-Knotik

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Noraldine Bailer

»… sozusagen für alles im Bereich der Musik zuständig« Über geschlechtstypische Unterschiede im Musiklehrberuf

Ein Blick auf die österreichische Schulstatistik, aber auch auf die Studierendenstatistik macht deutlich, dass Frauen im Lehrberuf bzw. in Lehramtsstudien zahlenmäßig stark vertreten sind. So beträgt etwa der Anteil der Lehrerinnen an allgemeinbildenden höheren Schulen österreichweit  , an Grund- und Sonderschulen gar über   (vgl. Paseka/Wroblewski , ). Eine so hohe Frauenquote zeigt sich in dieser Ausgeprägtheit nicht bei an allgemein- und berufsbildenden höheren Schulen beschäftigten Musiklehrerinnen und Musiklehrern, es sind aber in den neun Bundesländern mehr Frauen als Männer im Musikunterricht tätig :   der MusikpädagogInnen sind weiblichen und   männlichen Geschlechts.¹ Aber auch das Lehramtsstudium Musikerziehung, welches zum Musiklehrberuf an höheren Schulen qualifiziert, erfreut sich bei Studentinnen größerer Beliebtheit als bei Studenten ; dies sei exemplarisch an den Zahlen der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien veranschaulicht² : Im Zeitraum von / bis / nahmen durchschnittlich   weibliche und   männliche Studierende die musikpädagogische Ausbildung in Angriff.³ Der Frauenanteil erhöht sich bei der Quote der Absolventen und Absolventinnen sogar noch auf  .⁴ In der Fachliteratur werden im Wesentlichen zwei Argumente für die starke Affinität von Frauen zum Lehrberuf ins Treffen geführt : Zum einen gilt die schulische Lehrtätigkeit gemeinhin als familienfreundlich (vgl. Terhart et al. , Rustemeyer ), nicht zuletzt deshalb, weil die strukturellen Rahmenbedingungen (beispielsweise Möglichkeit zur Teilzeitarbeit, flexible Arbeitszeit neben der Unterrichtstätigkeit) eine Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienarbeit begünstigen. Empirische Befunde belegen, dass insbesondere Lehrerinnen diesem Motiv im Kontext der Berufsentscheidung entsprechende Bedeutung beimessen (vgl. Terhart et al. ,  ; Neuhaus ,  ; Wagner , ). Zum anderen macht die Geschichte der (bürgerlichen) Mädchenbildung der letzten Jahrhunderte deutlich, dass der Lehrberuf eine der wenigen gesellschaftlich akzeptierten Tätigkeiten von bürgerlichen Frauen war.⁵ 35

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Trotz der Tatsache, dass die Unterrichtstätigkeit eine lange weibliche Tradition hat, darf nicht übersehen werden, dass Mädchen im . und . Jahrhundert weitgehend vom mittleren und höheren Schulwesen ausgeschlossen wurden und auch im . Jahrhundert mit zahlreichen Benachteiligungen zu kämpfen hatten. Der Zugang zum Lehrberuf gestaltete sich für Frauen wesentlich schwieriger als für Männer. Im Folgenden soll anhand einiger markanter Eckpunkte der Schulgeschichte skizziert werden, mit welchen Hindernissen und Barrieren Mädchen und Frauen auf ihrem Bildungsweg konfrontiert waren.⁶ Im Zuge der von Maria Theresia  proklamierten »Allgemeinen Schulordnung« wurde eine sechsjährige Unterrichtspflicht für Knaben und Mädchen eingeführt ; die SchülerInnen sollten aber nach Geschlechtern getrennt unterrichtet werden. Die Schulreformen der kommenden Jahrzehnte zeigten, dass Mädchen weder die  neu etablierten Realschulen noch die  auf acht Jahre erweiterten Gymnasien, die mit einer Maturitätsprüfung abschlossen, besuchen durften (vgl. Simon b, f.). Basierend auf dem Reichsvolksschulgesetz von  wurde die achtklassige Volksschule – angepasst an die nunmehr achtjährige Unterrichtspflicht – ins Leben gerufen. Mädchen wurden nach einem anderen Lehrplan unterrichtet als Knaben. Nach fünf Klassen Volksschule bestand die Möglichkeit, in die Bürgerschule überzutreten, die »sehr zögernd auch für Mädchen eingerichtet« (Simon b, ) wurde. Einen Meilenstein für Frauen im Kontext des staatlichen Schulwesens bildete die Eröffnung von Lehrerinnen- und Lehrerbildungsanstalten im Jahr  : Nach der Absolvierung dieser Ausbildungsinstitution, einer mehrjährigen Praxis und der Ablegung einer Lehrbefähigungsprüfung waren Frauen wie Männer gleichermaßen qualifiziert, an einer Volks- oder Bürgerschule zu unterrichten. In den er-Jahren gab es für Mädchen einige weitere Bildungschancen im Bereich der mittleren Schulen, wie die auf Initiative des Wiener Frauen-ErwerbVereins  eröffnete private höhere Bildungsschule (eine Mittelschule, deren Lehrplan jenem der Realschule entsprach) oder das im folgenden Jahr gegründete private Mädchenlyzeum in Graz, das in den er-Jahren das Öffentlichkeitsrecht erhielt. Das Faktum, dass aufgrund der Ausdifferenzierung des mittleren Schulwesens nun auch Mädchen mehr Bildungsmöglichkeiten offenstanden, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zulassung von Frauen zu einer universitären Ausbildung noch geraume Zeit in Anspruch nahm : Im selben Jahrzehnt wurde den Mädchen zwar gestattet, als Privatistinnen an einem Knabengymnasium die Maturitätsprüfung abzulegen, diese berechtigte jedoch nicht zur Aufnahme eines regulären Universitätsstudiums (vgl. Simon a, ). 36

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Erst im Jahre  wurde das erste private Mädchengymnasium in den Grenzen des heutigen Österreich errichtet. Da das Curriculum mit jenem der Knabengymnasien vergleichbar war und auch das Unterrichtsfach Latein einschloss, war mit dem Abschlusszeugnis der Zugang zur Universität garantiert. Fünf Jahre später öffneten schließlich die philosophischen Fakultäten an der Wiener Universität ihre Pforten für Schulabgängerinnen mit Gymnasialmatura und Frauen mit absolvierter Maturitätsprüfung konnten sich als ordentliche Hörerinnen einschreiben (vgl. Simon a, ). Auch in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts finden sich zahlreiche Belege, welche die unterschiedlichen Bildungswege von Mädchen und Knaben verdeutlichen. Exemplarisch sei an die Gründung von Frauenoberschulen in den frühen er-Jahren erinnert, die sich insbesondere der Kinderpflege, dem Handarbeiten und der Hauswirtschaftskunde zuwandten. Das Abgangszeugnis dieses Schultyps bot keinesfalls die gleichen beruflichen Chancen wie jenes eines Knabengymnasiums. Im Ständestaat der er-Jahre blieben den Knaben das Gymnasium und die Realschule vorbehalten, für die bildungswilligen Mädchen waren Oberlyzeen und Frauenoberschulen vorgesehen. Zwar ging der Lehrplan des Oberlyzeums weitgehend mit jenem des Realgymnasiums konform, doch »der Fremdsprachenunterricht [sollte] so vereinfacht […] werden, dass ein späterer Übertritt in die Frauenoberschule problemlos gewährleistet war« (Flich , ). Im Nationalsozialismus wurde die »Deutsche Oberschule« eingeführt, die für Mädchen einen sprachlichen und einen hauswirtschaftlichen Zweig bereitstellte. Während im erstgenannten die Fächer Leibeserziehung und Deutsch dominierten, wurde im hauswirtschaftlichen Zweig insbesondere auf »Fächer des Frauenschaffens« Wert gelegt. Für den Besuch eines Gymnasiums mussten Mädchen in der NS-Zeit eine ministerielle Genehmigung einholen (vgl. Flich , ). Der kurz skizzierte Einblick in die Mädchen- und Frauenbildung der letzten zwei Jahrhunderte wäre ohne die Erwähnung der weiblichen Schulorden unvollständig. Es war insbesondere das Engagement der Englischen Fräulein, der Schulschwestern, der Barmherzigen Schwestern und der Ursulinen, das die mangelnden Bildungsmöglichkeiten für Mädchen zu kompensieren versuchte.⁷ Dass Lehrerinnen in den vorangegangenen Jahrhunderten nicht nur im Bildungszugang, sondern auch in ihrer Berufsausübung stark benachteiligt wurden, mögen nachfolgende Beispiele aus der Geschichte des Lehrerinnenberufs veranschaulichen. In einigen Ländern der Monarchie, beispielsweise in Salzburg, Kärnten, Tirol und Vorarlberg, galt das sogenannte »Lehrerinnenzölibat« : Eine Heirat zog das 37

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Ausscheiden aus dem Schuldienst nach sich. Die um  entstandenen Gesetze, die für Lehrerinnen die dienstrechtlichen Konsequenzen, die mit einer Heirat verbunden waren, festlegten – beispielsweise durften in Niederösterreich oder der Steiermark tätige Lehrerinnen heiraten, Lehrerinnen in Oberösterreich mussten hingegen eine Genehmigung einholen –, waren in Tirol, Vorarlberg und Salzburg bis  gültig (vgl. Seebauer , f.). Renate Seebauer weist im Kontext des Kampfes der Lehrerinnen um Gleichbehandlung darauf hin, dass sich in den er-Jahren weibliche und männliche Lehrpersonen nicht nur ungleich auf die Schultypen verteilten, sondern dass sie sich auch im Hinblick auf das berufliche Vorwärtskommen unterschieden : Von den rund  niederösterreichischen Lehrern waren   als Direktoren und Oberlehrer,   als Bürgerschullehrer,   als Volksschullehrer und   als Unterlehrer (Aushilfskräfte) tätig. Unter den rund  Lehrerinnen fand sich eine Oberlehrerin (, ),   waren als Bürgerschullehrerinnen,   als Volksschullehrerinnen und   als Unterlehrerinnen beschäftigt (vgl. Seebauer , ). Da die männlichen Lehrkräfte früher eine definitive Anstellung als Unterlehrer und früher eine Lehrerstelle erhielten, war ihr Einkommen jenem ihrer Kolleginnen um zwei Jahre voraus (vgl. Seebauer , ). Die Sparmaßnahmen der Regierung in den er-Jahren bedingten, dass nicht nur das Schulgeld angehoben wurde und viele Eltern an der höheren Bildung ihrer Töchter sparten, sondern dass im Zuge der »Doppelverdiener-Verordnung« von  Lehrerinnen, die mit einem Bundesangestellten verheiratet waren und deren gemeinsames Bruttoeinkommen über eine bestimmte Höhe hinausging, gekündigt wurden (vgl. Flich , ). Die Schulgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, dass sukzessive an der Gleichberechtigung von Mädchen und Knaben im staatlichen Schulwesen gearbeitet wurde : Das Schwinden von geschlechtsspezifischen Schulbezeichnungen im mittleren und höheren berufsbildenden Bereich, die Umwandlung von mittleren Schulen, die insbesondere von Mädchen besucht werden, in höhere Schulen und die Einführung der koedukativen Unterrichtsführung bilden exemplarische Belege hierfür. Für die Lehrerinnen im staatlichen Schuldienst dauerte es noch bis , bis per Bundesgesetz die Gleichbehandlung von Frauen und Männern und die Förderung von Frauen im Bereich des Bundes verankert wurden (vgl. BundesGleichbehandlungsgesetz vom . Februar ). Nach dem kurzen historischen Exkurs in die Mädchen- und Frauenbildung soll im Folgenden der Blick auf die schulischen MusikpädagogInnen gerichtet werden. Insbesondere wenn es um Musiklehrerinnen an höheren Schulen geht, 38

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ist der Ertrag historischer, aber auch empirischer Forschungsarbeiten recht gering. Auf historischer Ebene ist beispielsweise die Berufsgeschichte der Musiklehrerinnen recht lückenhaft rekonstruiert (vgl. Neuhaus , f.) – dies betrifft das . Jahrhundert, als Frauen nur als Volksschullehrerinnen arbeiten konnten, aber auch die erste Hälfte des . Jahrhunderts. Die Frage, wann Lehrerinnen für den Gesangsunterricht an höheren Schulen – dem Vorläufer des heutigen Musikunterrichts – zugelassen wurden, bleibt ebenso unbeantwortet wie jene nach ihrer Qualifikation. Auf empirischer Ebene ist der Output an Forschung nicht viel ertragreicher. Claudia Wagner weist darauf hin, dass »für die Zusammenhänge Geschlecht und Lehrberuf bzw. Geschlecht und Musik einige theoretische und empirische Studien vorliegen«, dass sich aber »die Schnittstelle zwischen Musiklehrberuf und Geschlecht als relativ unerforschtes Gebiet« (Wagner , ) darstellt.⁸ Dieser Feststellung ist hinzuzufügen, dass ganz allgemein dem Phänomen »Musiklehrerin« bzw. »Musiklehrer« im musikpädagogischen Diskurs der letzten dreißig Jahre – obwohl immer wieder eingefordert (vgl. Richter , Behne , Ott , Niessen ) – geringe Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Nur wenige der empirischen Forschungsarbeiten beziehen in ihre Ausgangsfragestellungen die Kategorie Gender mit ein, sodass geschlechtstypische Charakteristika – wenn überhaupt – nur peripher Erwähnung finden (vgl. Krüger , Niessen ). Dennoch gibt es einige Publikationen, die den Fokus auf die Schnittstelle zwischen Musiklehrberuf und Gender richten. Erwähnenswert scheinen die Beiträge von Ilka Siedenburg (, ), die geschlechtstypische Aspekte in der musikalischen Sozialisation von Lehramtsstudierenden differenziert beleuchtet und die Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchung mit genderspezifischer Literatur in Verbindung bringt. Im Artikel »Früh übt sich… ?« Geschlechtstypische Lernwege von Lehramtsstudierenden mit dem Unterrichtsfach Musik stellt Siedenburg bilanzierend fest, dass die Studentinnen im Unterschied zu ihren Studienkollegen länger Instrumentalunterricht erhielten und »überwiegend in den Bereichen Familie, Schule, Musikschule und in der Kirchengemeinde musikalisch tätig« (Siedenburg , ) waren. Zentrale Bedeutung für die Entwicklung ihres Interesses an Musik kommt den Lehrpersonen und den Eltern zu, deutlich geringeren Einfluss haben Freunde und Freundinnen sowie MusikerInnen auf der Bühne oder in den Medien (vgl. Siedenburg , ). Die weniger linear verlaufenden Lernwege der Studenten zeichnen sich dadurch aus, dass der Instrumentalunterricht um autodidaktisches und informelles Lernen ergänzt wurde. Die Musizierpraxis war nicht nur auf Institutionen beschränkt, sondern bezog auch den Freundeskreis mit ein. Im Unterschied zu ihren Studienkolle39

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ginnen nennen die Studenten vor allem InstrumentallehrerInnen, Freunde und Freundinnen sowie Musiker und Musikerinnen auf der Bühne oder in den Medien, die sie für eine intensive Beschäftigung mit Musik begeisterten (vgl. Siedenburg , ). Der gleichen Zielgruppe – angehenden Musiklehrerinnen und Musiklehrern – wendet sich auch Daniela Neuhaus zu und legt Daten über die Gründe für die Studienwahl, pädagogische Erfahrungen vor bzw. neben dem Studium sowie über die beruflichen Perspektiven der Befragten vor. So arbeitet die Autorin beispielsweise heraus, dass die Studentinnen in ihren Studienwahlmotiven stärkeres Interesse an pädagogischen Fragestellungen zeigen, während die Studenten eine Ausbildung präferieren, die etwas mit Musik zu tun hat (vgl. Neuhaus , ). Die Auswertung der Frage »Was ist Ihnen für Ihren zukünftigen Beruf wichtig ?« verdeutlicht, dass mehr weibliche als männliche BefragungsteilnehmerInnen die Antwortmöglichkeiten »gute Vereinbarkeit mit familiären Aufgaben« und »geregelte Arbeitszeiten« anführen (vgl. Neuhaus , ). Auch im Hinblick auf die beruflichen Pläne divergieren die Geschlechter : Während die Perspektiven der Studentinnen eher auf Beschäftigungen im instrumental- oder gesangspädagogischen Bereich abzielen, finden die Studenten eher an einer Tätigkeit als Chor- und Orchesterdirigent bzw. als freiberuflicher Künstler Gefallen (vgl. Neuhaus , ).

Die Schnittstelle zwischen Musiklehrberuf und Geschlecht im Fokus empirischer Befunde Im Folgenden werden Teilergebnisse eines Forschungsprojekts dargestellt, welches sich zum Ziel setzte, Berufsverläufe von schulischen MusikvermittlerInnen zu analysieren und Berufsphasen mit ihren spezifischen Charakteristika und Problemen zu identifizieren. Anknüpfend an eine vorangegangene Untersuchung, welche die Anfangsjahre im Musiklehrberuf fokussierte (vgl. Bailer ), lag dem Forschungsprojekt Phasen in der beruflichen Entwicklung von Musiklehrerinnen und Musiklehrern die Fragestellung zugrunde, wie die berufliche Entwicklung nach dem Berufseinstieg weiter verläuft und welche Stadien Musiklehrende im Rahmen ihrer »Berufsgeschichte« erleben. Dem interdisziplinären Forschungsansatz gerecht werdend, waren im Projektteam Kolleginnen und Kollegen der Fachrichtungen Allgemeinpädagogik, Musikpädagogik und Soziologie vertreten : Mareike Dreuße, Angelina Kurtev, Eva Niederberger, Michael Parzer, Katharina Pecher-Havers, Claudia Wagner und Noraldine Bailer. 40

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Ein zweigliedriges Forschungsdesign mit einer Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden gewährte, die interessierenden Inhalte adäquat zu erfassen : In einer ersten, explorativen Phase wurden halbstrukturierte Leitfadeninterviews mit Musiklehrerinnen und Musiklehrern geführt. Auf der Basis der ausgewerteten Interviewtranskripte wurde in der zweiten Phase ein Fragebogen konzipiert. Die standardisierte schriftliche Erhebung richtete sich an alle Musikerzieherinnen und Musikerzieher Österreichs, welche an allgemeinbildenden bzw. berufsbildenden höheren Schulen das Fach Musikerziehung unterrichteten. Die Ergebnisse beider empirischer Untersuchungen wurden im Band Musikerziehung im Berufsverlauf. Eine empirische Studie über Musiklehrerinnen und Musiklehrer (Bailer ) dokumentiert. Für den vorliegenden Artikel werden ausschließlich Befunde der qualitativen Erhebung herangezogen. Design der empirischen Untersuchung Im Rahmen der qualitativen Erhebung wurden  Musiklehrerinnen und Musiklehrer interviewt, welche in Wien, Niederösterreich oder dem Burgenland an allgemeinbildenden bzw. berufsbildenden höheren Schulen tätig waren. Die befragten  Frauen und  Männer verfügten über mindestens fünf und maximal  Jahre Berufserfahrung, der Mittelwert der Dienstjahre liegt bei ,. Dem Konzept des »theoretical sampling« (Strauss/Corbin , ff.) folgend, orientierte sich die Auswahl der InterviewpartnerInnen am jeweils gewonnenen Datenmaterial. Diese Strategie der Datenerhebung erlaubte das Zustandekommen einer Stichprobe, das nicht ausschließlich auf der Vorab-Festlegung von Auswahlkriterien beruht. Die auf theoretischen Überlegungen basierenden, vor Beginn der Feldphase determinierten Kriterien (ausgewogenes Geschlechterverhältnis, möglichst heterogene Altersstruktur) wurden im Laufe des Forschungsprozesses um weitere Kriterien ergänzt : Von Bedeutung erschienen insbesondere die Schulform, die Zweitfächer der MusikerzieherInnen sowie der Unterschied zwischen Stadt und Land. Die im Herbst  meist in den Schulen geführten Interviews wurden mit einem MiniDisc-Player aufgezeichnet und wortwörtlich transkribiert. In einem ersten Schritt wurde das Datenmaterial inhaltsanalytisch ausgewertet. Dabei wurde der Fokus noch nicht auf Differenzen zwischen den Geschlechtern gerichtet. Erst in einem zweiten Schritt wurden die Transkripte im Hinblick auf geschlechtstypische Besonderheiten differenziert beleuchtet. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse basieren demnach auf einer Sekundärdatenanalyse. 41

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Forschungsarbeiten im Kontext der Allgemeinpädagogik (vgl. Flaake , Schümer , Terhart et al. , Rustemeyer ), der Musikpädagogik und der Musikwissenschaft (vgl. Pawikovsky , Hoffmann , Busch , Siedenburg , Neuhaus ) boten Impulse, entsprechende Fragestellungen der Analyse der Interviews zugrunde zu legen : So interessierte beispielsweise, ob die Berufsverläufe von Frauen und Männern differieren und wie sich Berufsunterbrechung und Wiedereinstieg in diesen widerspiegeln. Das Erkenntnisinteresse bezog sich aber auch auf die Berufszufriedenheit (mit welchen Faktoren bringen Frauen und Männer ihre Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit in Verbindung, welche Phase[n] definieren sie als Höhepunkt[e] ihrer Berufslaufbahn ?) oder auf eine möglicherweise unterschiedliche musikalische Sozialisation der Geschlechter. Die detaillierten Ergebnisse sind im Artikel der Projektmitarbeiterin Claudia Wagner Berufsbiografien von Musiklehrerinnen und -lehrern unter dem Gender-Aspekt (Wagner , –) nachzulesen. In diesem Beitrag werden neben dem Berufsverlauf die Berufswahlmotive, das Spannungsfeld zwischen KünstlerIn und PädagogIn, die Verwobenheit von Berufs- und Privatleben, der Umgang mit Rock- und Popmusik bzw. Jazz und die Berufszufriedenheit fokussiert. Aus den Analysen von Claudia Wagner geht beispielsweise hervor, dass sich die Berufsbiografien von Musiklehrerinnen – im Unterschied zu ihren männlichen Kollegen – tendenziell durch eine enge Verknüpfung von Berufs- und Privatleben auszeichnen. Diese manifestiert sich bereits in den Motiven für die Wahl des Lehrberufs – für Frauen hat der Kinder- bzw. Familienwunsch große Priorität –, führt über die Verabschiedung von einer künstlerischen Laufbahn und setzt sich im Alltag der Lehrerinnen fort, etwa durch die Reduktion der Lehrtätigkeit und des außerschulischen Engagements (vgl. Wagner , ff.). Für den vorliegenden Artikel wurden vier Themenfelder, welche geschlechtstypische Besonderheiten erkennen lassen, ausgewählt : Berufsverlauf, Höhepunkte und Berufszufriedenheit im Lehrberuf, Vorbilder und ImpulsgeberInnen sowie Umgang mit Popularmusik.⁹

Zum Berufsverlauf von Musiklehrerinnen und Musiklehrern Im Rahmen der Auswertung der  halbstrukturierten Interviews konnten acht Stadien identifiziert werden, welche für die berufliche Entwicklung der Befragten bestimmend sind : »Berufsanfang«, »Fußfassen«, »Positionierung bzw. Etablierung«, »großes berufliches Engagement«, »Frustration und Rückzug«, »Gelassenheit/Stagnation/Gleichgültigkeit« »Überlastung« sowie »Zweifel im 42

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Musiklehrberuf«.¹⁰ Diese Stadien repräsentieren keine klar voneinander abgrenzbaren, statischen Berufsabschnitte, sondern dynamische Prozesse, die einander überlappen können. Die Abfolge der einzelnen Berufsabschnitte ist an keine einheitliche, fixe Struktur gebunden. Am ehesten ist eine Linearität noch in den frühen Berufsjahren gegeben : Nicht selten führt das »Anfangsstadium« (welches den Beginn jeder Berufskarriere markiert) in jenes des »Fußfassens«. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass nicht jede Person alle erfassten Stadien »durchlebt«. Das analysierte Datenmaterial belegt, dass die skizzierten Stadien für Frauen gleichermaßen wie für Männer Gültigkeit haben. Geschlechtstypische Auffälligkeiten können in Hinblick auf Struktur und zeitlichen Ablauf der Stadien »Berufsanfang«, »Fußfassen« und »Positionierung bzw. Etablierung« belegt werden. Stadium des Berufsanfangs Der »typische« Berufsverlauf der befragen Musiklehrerinnen zeichnet sich durch zumindest eine Berufsunterbrechung aufgrund der Geburt eines Kindes aus (nur vier der  Interviewpartnerinnen waren kinderlos). Mit Ausnahme jener Befragten, die ihre Kinder schon zu Berufseintritt hatten, pausierten die Frauen ein- bis dreimal für ein bis fünf Jahre. Konsens herrscht darüber, dass sich nach der Karenzzeit die energetischen Ressourcen verringern, sich die Prioritäten in Richtung Privatleben verlagern und die Schule tendenziell an Bedeutung verliert.¹¹ Mit der Reduktion der Lehrverpflichtung geht auch das Einschränken des zusätzlichen (außer-)schulischen Engagements einher. Für den Berufsverlauf bedeutet dies, dass sich bei jenen Pädagoginnen, die beim Berufseintritt schon Kinder hatten bzw. die bald danach Kinder bekamen, die Phase des »LehrerIn-Werdens« deutlich verlängerte. Die Doppelbelastung von (Lehr-)Beruf und Familienarbeit sowie die Berufsunterbrechung(en) ließen Musiklehrerinnen oft nicht ebenso rasch wie ihre männlichen Kollegen methodische Kompetenzen erwerben und entsprechende Routine im Lehrerhandeln gewinnen. Der Wiedereinstieg in das Berufsleben war in vielen Fällen mit Problemen verbunden : Geklagt wird über veränderte Rahmenbedingungen wie neue Schulleitung und FachkollegInnen, ein neues Schulprofil sowie über die Konkurrenzsituation im Lehrkörper (bedingt durch die Karenzvertretung). So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass sich nach der Rückkehr an die Schule die Stundenverteilung zu Ungunsten der Befragten veränderte oder dass die Direktorin einer Teilzeitbeschäftigung nicht zustimmte. 43

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In manchen Fällen ist die Wiederaufnahme des Berufs auch mit einem Schulwechsel verbunden : Der hohe zeitliche Aufwand, bedingt durch das Pendeln vom Wohn- zum Arbeitsort, und ein nicht familienkompatibler Stundenplan (Nachmittagsunterricht, früher Unterrichtsbeginn) erfordern, sich nach einem anderen Arbeitsplatz umzusehen. Dies bedeutet, sich wieder neu zu orientieren und sich wieder neu positionieren zu müssen. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass der Berufseinstieg nach einer Karenzpause auch mit positiven Aspekten in Verbindung gebracht wird : Die eigenen Kinder werden als »Kraftquelle« bezeichnet, der schulische Erfolgsdruck lässt nach und die Sichtweise auf die Schülerinnen und Schüler verändert sich. Dann kam sozusagen ein Einschnitt : Dann habe ich mein erstes Kind bekommen und bin erst mal ein Jahr zu Hause geblieben, und da hat sich ziemlich viel geändert bei mir. Ich habe also gesehen : Man soll Spaß haben in der Schule, und wenn man nicht sofort weiß, was eine Fuge ist, ist für mich auch nicht sofort die Welt zusammengestürzt. Was vorher schon so war. Vorher dachte ich schon : Die Schüler müssen das wissen. Die gehen raus und können das nicht. Nach dem einen Karenzjahr war es schon so, dass ich das mit ganz anderen Augen gesehen habe. Und dann habe ich sehr viel so gedacht : Wie schaffe ich es, dass die Kinder wirklich Spaß an Musik haben und abschalten können von den Fächern wie Englisch und Mathematik ? (IPw, Z –)¹²

Berufsunterbrechungen spielen im Berufsverlauf von Musikerziehern eine vergleichsweise marginale Rolle. Von den interviewten neun Lehrern mit eigenen Kindern nahmen zwei ein halbes Karenzjahr in Anspruch bzw. waren teilzeitbeschäftigt.¹³ In zwei Fällen war es der Zivildienst, der eine einjährige Berufspause bedingte : Einer der beiden Pädagogen nahm nach dem Jahr die Arbeit an seiner Schule wieder »energiegeladen« auf und wandte sich mit voller Kraft neuen Projekten zu ; der andere hingegen musste sich nach einem anderen Arbeitsplatz umsehen, da der Direktor die Wiedereinstellung zu verhindern wusste. Bei einer Berufsunterbrechung ist demnach auch für Lehrer die Gefahr gegeben, an den bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr zurückkehren zu können. Dieses Problem kommt allerdings in einem weit geringeren Ausmaß zum Tragen, da sich Männer kaum für eine mehr als ein Jahr dauernde Berufspause entscheiden. Stadium des Fußfassens, der Positionierung bzw. Etablierung Musiklehrerinnen berichten deutlich öfter als ihre männlichen Kollegen von Hindernissen beim Fußfassen und Sich-Etablieren an einer Schule. Die Prob44

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leme stehen – wie bereits im Kontext des Anfangsstadiums erwähnt – in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der durch die Karenzzeit bedingten Berufsunterbrechung. So sieht sich beispielsweise eine bereits über mehrere Dienstjahre verfügende Musiklehrerin aufgrund der wenig kinderfreundlichen Rahmenbedingungen an ihrer Schule gezwungen, diese zu wechseln. An ihrem neuen Arbeitsplatz trifft sie auf eine sie wenig unterstützende Kollegenschaft und nimmt die Herausforderung an, unter schwierigen Bedingungen ihre Position im sozialen Gefüge zu finden. Ich hatte sehr, sehr schwierige Oberstufenklassen […], die Kollegen haben mit mir darüber nicht gesprochen, auch nicht auf meine Fragen hin. Ich bin mit den Kollegen auf keinen grünen Zweig gekommen, was die Klassen betrifft, und mir war teilweise unklar : Liegt das wirklich nur an mir, dass diese Klasse alles nur lustig und nebensächlich findet, oder wieso kann ich jetzt da keine Aufmerksamkeit, keine Spannung, kein Interesse wecken ? Da bin ich ganz schön infrage gestellt worden in einem Alter von  Jahren, wo man sich im Normalfall schon gefunden hat. (IPw, Z –)

Neben den mit dem Wiedereinstieg verbundenen Schwierigkeiten wird über den Umstand geklagt, sich gegenüber dominanten MusikerkollegInnen behaupten und um die Anerkennung des schulischen Engagements durch die Schulleitung kämpfen zu müssen.¹⁴ Eine Interviewpartnerin macht auf eine doppelte Benachteiligung als Lehrerin aufmerksam : Nach einer freiwillig ausgedehnten Karenzzeit stieg sie neu an einem Gymnasium mit musischem Zweig ein und fand ihren »Einsatzbereich« vorwiegend in Klassen des naturwissenschaftlichen Zweiges, während ein für das Fach Musik ungeprüfter Kollege die von ihr präferierten Klassen im musischen Zweig übernahm. Als diskriminierende Begründung wurde die Möglichkeit herangezogen, dass sie durch eine weitere Kinderkarenz den Beruf unterbrechen könnte. Mich hat damals der Direktor gefragt : »Wie ist denn das, kannst du noch ein Kind kriegen ?« Und ich habe gesagt : »Ja, natürlich kann ich noch ein Kind kriegen.« – »Na, dann können wir dir keine musischen Klassen geben, weil sonst müssen wir ja einen Lehrerwechsel mit einplanen, das wollen wir nicht.« Mit dem Argument hat man mich kaltgestellt. […] Also es sind Intrigen gelaufen und ich habe gesagt : »Bei nächster Gelegenheit suche ich mir eine andere Schule.« (IPw, Z –) 45

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Bezeichnenderweise thematisierte keine der betroffenen Lehrerinnen das für solche Fälle in Österreich geltende Bundes-Gleichbehandlungsgesetz, in dem es heißt, dass »auf Grund des Geschlechtes – insbesondere unter Bedachtnahme auf den Ehe- oder Familienstand – […] niemand unmittelbar oder mittelbar diskriminiert werden« darf (Bundes-Gleichbehandlungsgesetz , . Abschnitt, § ). Das »LehrerIn-Werden« bzw. das Hineinwachsen in den Beruf scheint sich bei den Musiklehrern friktionsfreier als bei den Musiklehrerinnen zu gestalten. So übernahm ein Interviewpartner bereits nach drei Dienstjahren die Funktion des Kustos und war »sozusagen für alles im Bereich der Musik zuständig«. Er stellte sich der Herausforderung, »große Konzerte zu organisieren«, auch wenn es im Nachhinein betrachtet »nicht immer leicht« gewesen sei ; er sei aber »da ziemlich schnell hineingekommen«. Ein anderer Interviewpartner streicht seinen ungewöhnlich leichten Einstieg hervor : Die von Beginn an freundschaftliche Verbindung zum Direktor brachte mit sich, dass dieser ihm finanzielle Unterstützung für das technische Equipment des Musiksaals und Mitspracherecht bei der Zusammensetzung des MusikerInnen-Teams gewährte. »Wenn der Direktor dann fragt – er ist gleich mit dir per Du – ›Was willst du und was fehlt an technischer Ausstattung ?‹, dann fühlst du dich anders. Da hast du eine Motivation und sagst : »Das ist meine Schule und da kann ich mich verwirklichen« (IPm, Z –). Die analysierten Interviews belegen, dass der Schulleitung insbesondere in den Stadien »Fußfassen« und »Positionieren bzw. Etablieren« zentrale Bedeutung zukommt. Da die Schulleitungsfunktion an höheren Schulen überwiegend von Männern besetzt ist (vgl. Schümer , Rustemeyer , Paseka/Wroblewski ) – an öffentlichen und privaten allgemeinbildenden höheren Schulen in Österreich beträgt der Anteil der Lehrerinnen  , der Anteil der Schulleiterinnen hingegen nur mehr   (vgl. Paseka/Wroblewski , ) –, scheinen junge Lehrer von der gleichgeschlechtlichen Unterstützung mehr zu profitieren.

Höhepunkte und Zufriedenheit im Lehrberuf In der Beantwortung der Frage, welcher Berufsabschnitt im individuellen LehrerInnenleben als der beste bezeichnet wird, zeigen sich Gemeinsamkeiten bei Musiklehrerinnen und -lehrern : Beide Geschlechter verbinden mit ihrer jeweils »besten Berufsphase« eine Zeit, in der sie bereits ausreichend Unterrichtserfahrungen gesammelt und ihren »persönlichen Weg« gefunden haben. 46

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Musiklehrerinnen mit eigenen Kindern setzen die »beste Phase« in Bezug zu ihrer werdenden bzw. bestehenden Mutterschaft : Es sei entweder der Berufsabschnitt vor der Kinderkarenz gewesen, als noch hinreichend Zeit und Kraft für den Beruf zur Verfügung stand, oder jener Berufsabschnitt, als das Kind/ die Kinder älter wurde(n) und sich die Doppelbelastung von Familie und Beruf verringerte. Waren die eigenen Kinder im Alter der Schülerinnen und Schüler, so konnten die Pädagoginnen mit Kind(ern) besser als zuvor auf die Bedürfnisse der Lernenden eingehen. Darüber hinaus machen einige Lehrerinnen das »Hoch« in ihrer Karriere explizit an den Schülern und Schülerinnen fest und führen ihr aufbauendes Feedback und Komplimente von SchulabsolventInnen ins Treffen. In positiver Erinnerung blieb schließlich jener Berufsabschnitt, in dem die Pädagoginnen aufgrund ihres jungen Dienstalters die Beziehung zu den SchülerInnen überaus freundschaftlich und zwischenmenschlich nahe lebten. Auch Terhart et al. weisen in ihrer Untersuchung, in der  Lehrende an Grund-, Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien befragt wurden, darauf hin, dass sich Lehrerinnen im Unterschied zu ihren männlichen Kollegen tendenziell durch eine an den Schülerinnen und Schülern orientierten Arbeitsweise auszeichnen und dass sie nach der Geburt eines Kindes verstärkt Veränderungen im Umgang mit den Lernenden wahrnehmen (vgl. Terhart et al. , ). Bei den Musiklehrern korrespondiert die »beste Phase« des Berufslebens mit musikalischen Schulaufführungen und entsprechend positiven Rückmeldungen, mit Auslandsaufenthalten (Unterrichtstätigkeit in England, Mitwirken an einem EU-Projekt etc.) sowie mit der zufriedenstellenden Trennung von Berufs- und Privatleben.¹⁵ In dem einen oder anderen Fall werden auch die SchülerInnen in die bilanzierende Rückschau auf den Berufsverlauf miteinbezogen (»ich fühle mich sehr wohl mit den Schülern, die ich jetzt habe«) ; kein einziger Musiklehrer bringt diese jedoch mit den eigenen Kindern in Verbindung. Die deutliche Orientierung der Musiklehrerinnen an den Schülerinnen und Schülern wird auch in anderen Teilen der Interviews offenkundig, nämlich dann, wenn sie Faktoren nennen, welche ihre Berufszufriedenheit mitbestimmen. Formulierungen wie »wenn die Schüler lachend aus dem Unterricht gehen«, »den Unterricht kurzweilig erleben« oder »wenn ich mit den Schülern gut umgehen kann und sie mit mir gut umgehen können« verweisen auf die Wichtigkeit des direkten Kontakts mit den Lernenden. Es sind insbesondere kleine, im Klassenzimmer stattfindende Erfolge, die von den Pädagoginnen positiv verbucht werden. Daneben werden Erfolgserlebnisse fern der täglichen Schulroutine wie Schulkonzerte, Auftritte oder gelungene Projekte genannt. Die Kollegenschaft und die 47

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räumlichen Bedingungen in der Schule tragen ebenfalls zum beruflichen Wohlbefinden bei, doch haben sie nicht oberste Priorität. Auch die meisten Musiklehrer messen ihre Berufszufriedenheit an den unmittelbaren Bezugsgruppen ihrer Arbeit : an SchülerInnen und KollegInnen. Wesentlich häufiger beziehen sich Lehrer jedoch auf das Schulklima, die »Obrigkeit« (damit sind Schulleitung, aber auch die Schulverwaltung gemeint) und ihren eigenen Status innerhalb der Kollegenschaft. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben weiters die instrumentale und technische Ausstattung der Schule, die Raumsituation sowie der Stundenplan. Nur wenige Interviewpartner machen ihre Zufriedenheit vorrangig von der direkten Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern abhängig. Für Männer spielt demnach das gesamte Schulsystem eine Rolle : Schulleitung, Kolleginnen und Kollegen, Beziehung zu den SchülerInnen, Schulausstattung und Schulorganisation. Die analysierten geschlechtstypischen Besonderheiten der vorliegenden Untersuchung – Frauen bringen ihre Berufszufriedenheit vorwiegend mit einer positiven sozialen Beziehung zu den SchülerInnen in Verbindung, für Männer ist das Gesamtschulsystem wichtig – korrespondieren mit einem häufig zitierten Ergebnis aus der Fachliteratur : In einer Untersuchung von Karin Flaake, die hessische Lehrkräfte an Hauptschulen und Gymnasien über ihre berufliche Orientierung befragte, stellte sich heraus, dass für Frauen insbesondere eine beziehungsorientierte Ausgestaltung des Berufs von Bedeutung ist ; die Männer hingegen orientieren sich stark an institutionellen Erfordernissen (vgl. Flaake , ). Die weiblichen Lehrpersonen zeichnen sich demnach durch einen stärkeren Bezug zu Schülern und Schülerinnen, die männlichen Lehrkräfte durch einen stärkeren Bezug zu offiziellen schulischen Strukturen aus.

Berufliche Vorbilder und ImpulsgeberInnen In der Beantwortung der Frage, welche Personen für die berufsbiografische Entwicklung richtungsweisend waren, zeigt sich, dass insbesondere Lehrpersönlichkeiten angeführt werden ; Vorbildern im künstlerischen Bereich kommt eine auffallend geringe Bedeutung zu. Die Musiklehrerinnen und Musiklehrer der eigenen Gymnasialzeit dienen sowohl als Positiv- als auch als Negativschablonen : Erinnert werden Musikvermittler und -vermittlerinnen, die über hohe instrumentale und vokale Kenntnisse verfügten, kompetent und »irrsinnig sympathisch« waren, aber auch jene, die dazu motivierten, es einmal anders – nämlich besser – machen zu wollen. Lehrende 48

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anderer Fächer werden vor allem in Hinblick auf ihren Gerechtigkeitssinn, auf die menschlichen Eigenschaften und in Hinblick auf die freundschaftliche Beziehung positiv assoziiert. BetreuungslehrerInnen (dienstältere Kollegen und Kolleginnen, welche den jungen PädagogInnen im Berufseinstiegsjahr zur Seite standen) und mit großem Engagement unterrichtende Kolleginnen und Kollegen werden dann als »LehrmeisterInnen« angesehen, wenn sie zur Entwicklung des eigenen Unterrichtsstils beitragen oder wenn sie »eingefahrene« Unterrichtskonzepte in Frage stellen und zu Veränderungen anregen. Auf universitärer Ebene agieren insbesondere Chorleiter und -leiterinnen, aber auch Instrumentallehrende sowie Lehrende aus dem Bereich der Pädagogik als Identifikationsfiguren. Darüber hinaus werden Elternteile, welche sich in pädagogischen Tätigkeitsfeldern engagieren, als richtungsweisende Personen bezeichnet, wie eine Hauptschullehrerin, die im hohen Dienstalter mit »Begeisterung« unterrichtet und sich durch ihre »großmütterliche Liebe« zu den SchülerInnen auszeichnet, oder ein Hauptschuldirektor, der sich trotz schwieriger Schülerklientel im Unterricht durchsetzte. Eine Analyse des Datenmaterials, differenziert nach den Geschlechtern, macht deutlich, dass sich Frauen und Männer überwiegend an gleichgeschlechtlichen Vorbildern orientieren. Während sich die Musiklehrerinnen noch »offener« zeigen und dem Betreuungslehrer, engagierten Fachkollegen, Lehrerpersönlichkeiten an der Universität oder dem Lebenspartner entsprechenden Einfluss auf die berufsbiografische Entwicklung zuerkennen, führen die Musiklehrer – mit zwei Ausnahmen – ausschließlich männliche Vorbilder ins Treffen : In einem Fall wird auf die dienstältere Betreuungslehrerin, die hundert Schülerinnen und Schüler in einem Chor zu versammeln wusste, verwiesen, und im anderen Fall auf die Lebenspartnerin, die sich als Musikerzieherin insbesondere auf didaktisch-methodischer Ebene auszeichnet. »Meine Frau, die ist ja auch Lehrerin. Von der habe ich auch sehr viel gelernt, weil sie didaktisch viel mehr auf Zack ist als ich. Wenn ich mir ihr Stundenkonzept durchlesen muss, denke ich mir : So würde ich das nie schaffen« (IPm, Z –). An dieser Stelle soll als Vergleich zu dieser eben getätigten Aussage eine Interviewpartnerin zu Wort kommen, die ihren Ehemann (auch als Musiklehrer tätig) als Vorbild bezeichnet. Sie streicht vor allem seine künstlerischen Ambitionen heraus und bekennt fast rechtfertigend, dass er ihr aufgrund der familiären Belastung bei den Unterrichtsvorbereitungen zur Seite stand :

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Hundertprozentig hat mein Mann natürlich auch Einfluss, weil mein Mann auch Musiker ist. Mein Mann war wesentlich früher schon nur auf klassische Musik eingespielt und ein fanatischer Operngänger seit seinem . Lebensjahr, Musiksammler und Notensammler […]. Das war sicher ganz ein großes Vorbild für mich, auch eine Hilfe, das gebe ich zu. Weil es natürlich auch schwer ist mit Familie, mit Kindern. Wir haben uns das so geteilt, dass er mir manchmal etwas vorbereitet hat und ich das im Unterricht verwendet habe. (IPw, –)

Während der Mann (IPm) die didaktisch-methodischen Kompetenzen seiner Ehefrau betont und ihr dafür gewissen Respekt zollt – er kommt allerdings nicht umhin zu betonen, dass er das »Stundenkonzept durchlesen muss« –, bemüht sich die Frau (IPw), die künstlerischen und musiktheoretischen Qualifikationen ihres Ehepartners ins rechte Licht zu stellen, um dann sogleich auf die Aufgaben, die er gelegentlich für sie erledigte, hinzuweisen. Hier zeigt sich die zentrale Bedeutung der jeweiligen Bezeichnungsebene für den jeweils zugeschriebenen Status und die jeweilige Anerkennung – Faktoren, die für einen positiven Karriereverlauf wichtig sind. Als weiteres geschlechtstypisches Charakteristikum kann festgehalten werden, dass für Männer eher »Musikerpersönlichkeiten«, also auf künstlerischer Ebene prägende Personen, und Professoren aus dem Universitäts- bzw. Hochschulbereich als Impulsgeber von Bedeutung sind. Inhaltlich vergleichbar mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung scheinen jene der Studie von Ilka Siedenburg : Sie befragte Lehramtsstudierende, inwieweit bestimmte Personengruppen im Kontext der musikalischen Sozialisation dazu beitrugen, ein besonderes Interesse für Musik zu entwickeln. Die Lehramtsanwärterinnen bezeichnen Instrumentallehrerinnen, Musiklehrerinnen und Freundinnen als wichtige Einflussgruppen, die Lehramtsstudenten verweisen klar auf die Bedeutung männlicher Lehrkräfte und Freunde (vgl. Siedenburg , f.).

»… in mühseliger Kleinarbeit angeeignet« – Über die popularmusikalische Praxis Die Thematik »Klassische Musik« versus »Popularmusik«¹⁶ kommt in den Interviews an verschiedenen Stellen zur Sprache : Etwa dann, wenn es um die musikalische Sozialisation in Kindheit und Jugend geht, oder dann, wenn auf Ausbildungsdefizite im Studium hingewiesen wird. Insbesondere die dienstältere Generation macht darauf aufmerksam, dass in ihrer Ausbildungszeit die klassi50

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sche Musik die dominierende war und Lehrveranstaltungen im Bereich der Popularmusik – wenn überhaupt – einen nur marginalen Baustein im Fächerkanon der Ausbildungsinstitution bildeten. Aber auch die jüngeren Kolleginnen und Kollegen beanstanden, dass die obligatorisch zu absolvierenden Vorlesungen und Seminare den schulischen Anforderungen nicht gerecht wurden. Abseits dieser universitären Rahmenbedingungen, die für beide Geschlechter gleich waren, finden sich zahlreiche Belege, die auf den unterschiedlichen Zugang von Musiklehrerinnen und Musiklehrern zu »klassischer« bzw. populärer Musik hinweisen. Männer bzw. Knaben spielen oft schon in der Jugend- und in der Studienzeit in Bands, interessieren sich eher für elektroakustische Instrumente und die technische Ausstattung, wirken bei Studioproduktionen mit und messen dem autodidaktischen Lernen entsprechende Bedeutung bei. »Autodidaktisch mit  Jahren Gitarre lernen, auf einer Wiese stehen mit einer Band mit selbst gezimmerten Verstärkern, das ist der Anfang gewesen« (IPm, Z –). Selbst wenn sich die Musiklehrer vor Berufseintritt vorwiegend der klassischen Musik zugewandt haben, wird das Defizit im Bereich der Popularmusik rasch kompensiert : Sie beginnen mit dem Gitarre- und E-Bassspielen, setzen die instrumentalen Kenntnisse in einer Band um und eignen sich Basiswissen über popularmusikalische Instrumente an. Dabei kommen ihnen ihre persönlichen Interessen, die nach Angaben einiger Befragter auch in alternativen Berufen wie Elektrotechniker oder Tontechniker hätten münden können, zugute. Popularmusik wird (fast) wie selbstverständlich in den Unterrichtsalltag integriert und erhält – abgestimmt auf die jeweilige Schülerklientel – den entsprechenden Stellenwert. In der Schule X habe ich die ganzen Philharmonikerkinder gehabt. Da war es zum Teil so, dass ich denen nicht erklären musste, dass klassische Musik »leiwand« [umgangssprachlich für »faszinierend«, Anm. d. V.] ist. Sondern sie haben mich gefragt, warum ich die »Solti-Aufnahme« vom »Rosenkavalier« schöner finde als die »Karajan-Aufnahme«. War lustig. Es war einfach ein anderer Level. Hier, auf der anderen Seite [in der anderen Schule, Anm. d. V.], ist der Schwerpunkt sehr auf Popularmusik. Und ich komme mit beidem gut zurecht. (IPm, Z –)

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass einige Musiklehrer die reichhaltige technische und mediale Schulausstattung im Hinblick auf den Musikunterricht betonen : Hervorgestrichen werden Netzwerkcomputer im Musiksaal, die Ausrüstung mit Mikrophonen und der hohe technische Level, der es ermöglicht, auch CDs aufzunehmen. 51

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In den Interviews der Musiklehrerinnen finden sich nur spärlich Belege dafür, dass sie sich vor dem Studium der popularmusikalischen Praxis zuwandten. Auch scheint autodidaktisches Lernen in keinem Fall eine Rolle gespielt zu haben. Die fast ausschließlich im klassischen Musikbereich sozialisierten Frauen sehen sich in ihrem Beruf – ebenso wie ihre männlichen Kollegen – gefordert, sich mit Popund Rockmusik oder Jazz auseinanderzusetzen und erwarben auch entsprechende Kompetenzen. Die unmittelbaren »Auslöser« für dieses Engagement bilden die Schülerinnen und Schüler. Die Aneignung popularmusikalischer Praxis scheint bei manchen Musiklehrerinnen mit entsprechenden Anstrengungen verbunden zu sein : Ich bin in diese Schule gekommen als Klassikerin. […] Ich habe bis dahin klassische Musik gehört, ich habe mich in der Popularmusik überhaupt nicht ausgekannt. Die Schüler wollten aber nicht die Literatur singen, spielen, in der ich mich ausgekannt habe oder für die ich gelebt habe. Dieses popularmusikalische Singen, das Spielen am Klavier, überhaupt popularmusikalische Lieder, das habe ich mir in mühseliger Kleinarbeit in sehr vielen Kursen und Fortbildungen angeeignet. Klavierspielen, das ging dann in den ersten drei Jahren, da habe ich mir sehr viel selber beigebracht. (IPw, Z –)

Eine bekennende »Klassikerin« – als klare Musikpräferenz führt sie »Mozart, Schubert und dann lang nichts« an – betont, im Studium der Popularmusik aus dem Wege gegangen zu sein, auch mit der Konsequenz, in der Schule nicht auf diesbezügliche Kenntnisse zurückgreifen zu können. Das erstmalige Abhören eines Songs der »Backstreet Boys« gemeinsam mit einer Kollegin gibt ihr einen positiven Impuls, doch noch in der gegenwärtigen Situation bezeichnet sie die Popularmusik als ihren tendenziellen Schwachpunkt : »Keine Erfahrung und wenig Gefühl.« Einigen wenigen Interviewpartnerinnen macht das vorrangige Interesse der SchülerInnen an popularmusikalischen Stilen zu Ungunsten der klassischen Musik und der Volksmusik zu schaffen. Frustration macht sich breit, wenn aufgrund des mangelnden Interesses der Schüler und Schülerinnen am klassischen Liedrepertoire der Aufbau eines Schulchors nicht gelingt oder wenn die bei einer Schulfeier präsentierten klassischen Musikstücke auf wenig Resonanz stoßen. Selbstverständlich finden sich auch bei den Lehrerinnen Hinweise darauf, dass sie sich intensiv mit popularmusikalischen Formen – abseits der unmittelbaren Interessen ihrer Schülerinnen und Schüler – auseinandersetzen. So dissertierte eine Interviewpartnerin über das Musical Elisabeth und eine andere begrünte das 52

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in musikalischer Hinsicht »wüste, leere Feld« an ihrer Schule mit der LehrerInnenband »Crazy Teachers« : Die kompensierten popularmusikalischen Defizite machen es mittlerweile möglich, Songs von CDs abzuhören und für die Kollegenschaft zu arrangieren. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die befragten Männer der vorliegenden Stichprobe aufgrund ihrer Sozialisation tendenziell eine größere Nähe zur Popularmusik aufweisen und diese auch problemloser in den Unterricht einbeziehen ; die Frauen fühlen sich mehr dem »klassischen Sektor« zugehörig und sehen vorrangig die Schülerinnen und Schüler als Motivationsquelle für die Beschäftigung mit Rock- und Popmusik oder Jazz. Dieser Tendenz widerspricht nicht, dass in der Befragungsgruppe auch Lehrer identifiziert wurden, die sich ausschließlich für klassische Musik begeistern, ebenso wie es Lehrerinnen gibt, die der Stilpluralität offen gegenüberstehen. Die Befunde der vorliegenden Untersuchung reihen sich nahtlos in jene der Fachliteratur ein. So stellte sich in der bereits erwähnten Studie von Ilka Siedenburg heraus, dass die Lehramtsstudentinnen das Ensemblespiel im Bereich der europäischen Kunstmusik bevorzugen und beim Musizieren in einer Rock- bzw. Popband den männlichen Kollegen den Vortritt lassen : In den letztgenannten Formationen musizieren beispielsweise dreimal so viele Männer als Frauen (vgl. Siedenburg , ). Geschlechtstypische Charakteristika ortet Siedenburg auch beim autodidaktischen bzw. informellen Lernen : Deutlich mehr Männer als Frauen haben schon »oft« Musikstücke anhand einer Aufnahme abgehört, spieltechnische Kenntnisse mit anderen ausgetauscht, eigene Methoden des Übens entwickelt sowie sich Fertigkeiten auf einem Instrument und Kenntnisse in Harmonielehre selbstständig angeeignet (vgl. Siedenburg , ). Die Ergebnisse von Winfried Pape und Dietmar Pickert, welche  AmateurmusikerInnen im Alter von  bis  Jahren über ihre musikalische Sozialisation befragten, weisen in eine ähnliche Richtung : Von jener Subgruppe, die nur in einem Ensemble musikalisch aktiv ist, geben die Frauen klar Sinfonie-/Kammerorchestern, Kammermusikgruppen, Blasmusikorchestern und Zupf-/Akkordeongruppen den Vorzug ; die Männer engagieren sich überwiegend in Rock-/ Popbands, Jazzformationen und Tanzgruppen (vgl. Pape/Pickert , f.). In Hinblick auf die informellen und formellen Lernwege stellen die Autoren fest, dass die Amateurmusiker »beim autodidaktischen Lernen das größere Kontingent bilden« (  der befragten Musiker, aber nur   der Musikerinnen erlernten ihr Hauptinstrument autodidaktisch – vgl. Pape/Pickert , ). Die angeführten empirischen Befunde scheinen die These Freia Hoffmanns, dass Mädchen eher zu institutionalisierten Lernprozessen tendieren, während 53

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Knaben das selbst gesteuerte Lernen leichter fällt (vgl. Hoffmann , ), zu untermauern. Mit den unterschiedlichen Lernstrategien sind auch Erfahrungen bzw. eben mangelnde Erfahrungen mit unterschiedlichen Musikrichtungen verknüpft. Konsens herrscht in der Fachliteratur darüber, dass Frauen im Pop- und Jazzbereich unterrepräsentiert sind. Für dieses Phänomen finden sich verschiedene Erklärungsversuche (vgl. u. a. Hoffmann , ff ; Siedenburg , f., Wagner , ). Zum einen werden Traditionen der geschlechtstypischen Musikerziehung, die bis in die Gegenwart wirken, ins Treffen geführt : institutionalisiertes, personenorientiertes Lernen der Mädchen, mangelnde Erfahrung und wenig Selbstvertrauen im Umgang mit Technik sowie traditionelle Instrumentenwahl. Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass Mädchen in Jugendkulturen und Peergroups, in denen populäre Musik praktiziert wird, weniger integriert sind. Schließlich wird der Mangel an weiblichen Vorbildern genannt – insbesondere bei Instrumentalistinnen¹⁷ –, der vielen Mädchen und Frauen den Zugang zur populären Musik erschwert.

Resümee Mit der Analyse der Berufsbiografien von Musiklehrerinnen und -lehrern unter dem Gender-Aspekt wurde ein kleiner Baustein für das große Mosaik der musikpädagogischen Geschlechterforschung gelegt. Das Ausleuchten der Schnittstelle zwischen Musiklehrberuf und Geschlecht bedarf weiterführender Analysen, um grundsätzliche Fragestellungen – wie : Inwiefern werden Lehrerinnen und Lehrer einer gendersensiblen Vermittlung von Musik im Unterricht gerecht ? –, aber auch um an die Forschungsarbeit anknüpfende Fragestellungen beantworten zu können : − Unterscheiden sich Lehrerinnen und Lehrer in der Auswahl der Unterrichtsinhalte, der Unterrichtsmethoden und in der Einbeziehung verschiedener Lernformen ? − Gibt es geschlechtstypische Auffälligkeiten in der Kommunikation und Interaktion mit Schülerinnen und Schülern ? − In welcher Form tragen Musiklehrerinnen und Musiklehrer dazu bei, »typische« Verhaltensweisen von Mädchen und von Knaben zu verstärken bzw. zu kompensieren ? − Welches Frauen- bzw. Männerbild bringen die PädagogInnen quasi in den Unterricht mit und inwieweit kommt dieses zum Tragen ? 54

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Darüber hinaus schiene eine Untersuchung der dem Musikunterricht beigestellten Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien wichtig : − Inwiefern werden in der Musikgeschichtsschreibung die künstlerischen Leistungen beider Geschlechter vermittelt ? − Welche Rollenbilder transportieren die Lehrwerke in Text und Bild ? Welchen Beitrag leisten sie im Hinblick auf einen geschlechtssensiblen Musikunterricht ? Nachdem nun die Musikwissenschaft und die Musiksoziologie für die Schnittstelle Gender und Musik und die Allgemeinpädagogik für die Schnittstelle Gender und Lehrberuf eine stattliche Anzahl an Literatur bereitgestellt haben, sei nun an die Musikpädagogik appelliert, sich vermehrt der Schnittstelle von Gender und Musiklehrberuf zuzuwenden, sodass die starke Präsenz der Musikerziehungsstudentinnen und der Musiklehrerinnen auch ihren Niederschlag in einschlägigen Forschungsarbeiten findet.

Anmerkungen  

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Diese Daten gehen aus einer im Sommersemester  durchgeführten Fragebogenerhebung hervor, die sich an alle MusikerzieherInnen Österreichs richtete (vgl. Bailer , ). In dem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich einige Forschungsarbeiten gezielt den Studentinnen im historischen Kontext zuwenden, beispielsweise die Dissertation von Lynne Heller »Die Reichshochschule für Musik in Wien –« (Wien ) oder das laufende Forschungsprojekt unter der Leitung von Doris Ingrisch : Innovationen & Traditionen. Schnittstellen von Wissenschaft, Kunst und Gender in kulturwissenschaftlich-historischer Perspektive. Diese Daten basieren auf einer von der Studien- und Prüfungsabteilung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) zur Verfügung gestellten Studierendenstatistik. In diese Berechnung wurden die Studienjahre /–/ eingeschlossen. In dem Zusammenhang wird auch das Argument eingebracht, dass Männern Zugang zur Universität gewährt wurde und ihnen somit zahlreiche berufliche Alternativen offenstanden (vgl. Neuhaus , ). Eine ausführliche Darstellung der Mädchenerziehung und der Frauenbildung findet sich u. a. in : Glumpler , Bremer/Simon , Seebauer . Eine ausführliche Darstellung der Mädchenbildung in Frauenklöstern und weiblichen Schulorden findet sich in Bremer/Simon , –. In dem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass genderspezifische Fragestellungen in der Musikpädagogik etwas mehr Aufmerksamkeit erhalten, wenn der Fokus auf die Schülerinnen und Schüler gerichtet wird. So wurden beispielsweise in den er-Jahren Überlegungen zu einer »mädchenorientierten Musikpädagogik« (Müller ) bzw. zu einem »mädchenorientierten Mu-

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sikunterricht« (vgl. Beiträge in Musik & Bildung /) angestellt und im Jahre  wurde der Band »Geschlechtsspezifische Aspekte des Musiklernens« herausgegeben, in dem einige Beiträge auch die SchülerInnen miteinbeziehen (vgl. Kaiser ). Trotz der Tatsache, dass im musikpädagogischen Gender-Diskurs häufiger SchülerInnen als LehrerInnen fokussiert werden, sei an dieser Stelle die Bilanzierung von Marina Oster festgehalten : »Musikbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen von Mädchen und Jungen (sind) im schulischen […] Musikunterricht kaum Gegenstand von Untersuchungen« (Oster , ). Die dargestellten Ergebnisse basieren mehrheitlich auf den Analysen von Wagner ; sie wurden um Detailaspekte ergänzt und mit vergleichbaren musikpädagogischen Forschungsarbeiten in Verbindung gebracht. Ausführliche Beschreibungen dieser Stadien finden sich in Bailer , –. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum die durch die Kinderbetreuung gewonnenen Managementfähigkeiten von den Lehrerinnen nicht positiver wahrgenommen und explizit thematisiert werden. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass diese spezifischen Kompetenzen von den SchulleiterInnen nicht nachgefragt und auch nicht entsprechend anerkannt werden. Zur Wahrung der den MusiklehrerInnen zugesicherten Anonymität wird bei diesem wie bei den folgenden Zitaten die »Urheberschaft« in kodierter Form angeführt (die Abkürzung IPw steht für die interviewte Person , weiblich). Die Angabe der Zeilennummern (abgekürzt mit »Z«) bezieht sich auf die Interviewtranskripte, die bei der Autorin einsehbar sind. Für die dienstälteren Musiklehrer bestand diese Option noch nicht, da bezahlte Kinderkarenzzeit für Väter in Österreich erst seit  möglich ist. In den Interviews zielte ein Fragenkomplex auf die sozialen Beziehungen im Berufsfeld Schule ab. Die Auswertung des Datenmaterials zeigt, dass sich die MusiklehrerInnen im Wesentlichen mit zwei Konfliktpotenzialen konfrontiert sehen : Zum einen brächten Lehrende anderer Fächer wenig Verständnis für die Durchführung von musikbezogenen Projekten und die damit verbundenen Irritationen im Schulalltag auf. Davon scheinen beide Geschlechter gleichermaßen betroffen zu sein. Den zweiten identifizierten Konfliktherd bekommen allerdings mehr Lehrerinnen als Lehrer zu spüren : den nach einer längeren Berufsunterbrechung oder nach einem Schulwechsel vermeintlichen Statusverlust im schulischen Kontext und die daraus resultierenden Benachteiligungen (vgl. Pecher-Havers , f.). An dieser Stelle erhebt sich die Frage, inwieweit sich die zu Beginn des . Jahrhunderts herauskristallisierenden »bürgerlichen Geschlechtscharaktere« im Musiklehrberuf spiegeln. Karin Hausen weist darauf hin, dass Familie und Hausarbeit sowie Öffentlichkeit und Erwerbsarbeit als Kontrast interpretiert und eindeutig der Frau bzw. dem Mann zugeordnet wurden (vgl. Hausen , f.). Die beiden Begrifflichkeiten rekurrieren auf die auf wissenschaftlicher Ebene kontrovers diskutierte, im Alltag jedoch geläufige Differenzierung zwischen »E-Musik« und »U-Musik«. Mit dem Begriff Popularmusik wird keine Einschränkung auf bestimmte Musikstile vorgenommen, ebenso wie »klassische Musik« nicht nur die Stilistiken der Wiener Klassik umfasst. Die Studierendenstatistik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien fügt sich nahtlos in dieses Bild : Von den im Sommersemester  inskribierten Personen, welche sich für ein instrumental- oder gesangspädagogisches Studium (IGP Bachelor- und Masterstudium) im Bereich der Popularmusik entschieden, sind   männlichen und   weiblichen Geschlechts. Die Männerquote läge ohne die große Repräsentanz der Sängerinnen bei  .

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»… sozusagen für alles im Bereich der Musik zuständig«

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Noraldine Bailer

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Ursula Hemetek

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen Gender-Aspekte in der Ethnomusikologie

Gender in der Ethnomusikologie Whereas sex refers to biological phenomena, sex role or gender denotes their cultural, psychological, and social correlates : the rules, expectations and behaviour appropriate to being male or female within a particular society. (Hanna , )

Ethnomusikologie beschäftigt sich mit Musik im kulturellen Zusammenhang, mit Musik in ihrer sozialen Funktion als Ausdruck von Identität. Gender als kulturelles Konstrukt wäre also logischerweise ein wesentlicher Bestandteil der Betrachtung. Tullia Magrini, eine wichtige Persönlichkeit der Gender-Forschung in der Ethnomusikologie, formuliert die Aufgabe folgendermaßen : »To approach music as gendered culture« (Magrini , ). Der Gender-Forschungsansatz wurde im Fach über lange Zeit ignoriert, wie die Forschungsgeschichte zeigt. Es gab nur vereinzelte Versuche, Gender anzuwenden, allerdings sogar bereits bei Pionieren wie Curt Sachs, wie das folgende Zitat belegt : »If singing is indeed an activity of all our being, sex, the strongest difference between human beings, must have a decisive influence on musical style« (Sachs , ). Sachs bezog diese Aussage auf »tribale« Gesellschaften und belegte seine Theorie, dass die kleineren Schritte beim Tanz von Frauen ihr Äquivalent in kleineren Intervallen beim weiblichen Singen hätten, mit einigen, allerdings sehr wenigen Beispielen. Diese Interpretation ist offensichtlich noch stark von einem Zugang geprägt, der nicht von Gender als kulturell geprägtem sozialen Geschlecht ausgeht, sondern von biologischen Voraussetzungen. Eine Fortsetzung dieses Gedankens – allerdings bereits unter anderen Prämissen – finden wir bei Alan Lomax im Jahr , der in seinem heute sehr umstrittenen »Cantometrix«-System versucht, alle Musikstile dieser Welt einzuordnen. Dazu verwendet er unter anderem die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft als eines der Kriterien und sieht das Resultat in bestimmten Vokaltechniken. Gesellschaften, in denen Frauen unterdrückt werden, produzieren nach Lomax eine nasale, 59

5RSULAÖ(EMETEK

enge und stark ornamentierte Gesangstechnik. Bruno Nettl () kommentiert diesen Ansatz folgendermaßen : His findings are best taken with a grain of salt, for at the least, sampling is uneven, and other factors may not be given enough recognition. But is seems reasonable to believe that the great differences in musical style among the peoples of the world can in good measure be attributed to the way in which people relate to each other, and a major aspect of this relationship concerns gender (Nettl , ).

Nettl unterstreicht damit jenen Aspekt dieser frühen Forschungen, der bis heute interessant erscheint und der auch für die heutige Gender-Forschung im Fach Ethnomusikologie wesentlich ist, nämlich dass musikalische Erscheinungsformen viel mit Beziehungen der Menschen untereinander, aber auch mit Machtverhältnissen in Gesellschaften zu tun haben. Die neuere Geschichte der Gender-Forschung in der Ethnomusikologie wird von Ellen Koskoff (Koskoff , X) in drei sich zum Teil überschneidende Phasen eingeteilt. Die erste sieht sie am Beginn der er-Jahre als women-centric studies, die vor allem von den Defiziten in der Wahrnehmung der Rolle von Frauen in der Musik ausgehen. Die zweite ab den späten er-Jahren beschäftigt sich bereits mit den Gender-Verhältnissen, indem Musizieren in einen breiteren Kontext gesetzt wird. Eine dritte Phase ab den er-Jahren erweitert den Ansatz abermals in drei Richtungen : Es werden lesbische, homosexuelle und Transgender-Identitäten in der Musik wahrgenommen,¹ Methodologien anderer Fächer verstärkt einbezogen und die Verbindung von sozialen und musikalischen Strukturen wird aus der Gender-Perspektive beleuchtet. Koskoff betont auch, dass hier Wissenschaft oft mit politischem und sozialem Engagement Hand in Hand geht. Bruno Nettl sieht die Wahrnehmung der Gender-Aspekte im Fach Ethnomusikologie als eine der beiden prägendsten Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten. Die andere sieht er in der verstärkten Wahrnehmung von Machtverhältnissen : One is the recognition that the understanding of gender as a factor in personal identities, and of gender relations in all aspects of a society, is essential to the interpretation of musical cultures and this is closely related to the second, the realization that virtually all relationships, and all developments in music, among societies, and of groups of people within a society, can be seen as a function and expression of power relationships (Nettl , ). 60

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Methodologische Fragen Es gibt in unserem Fach – und ich meine hier sowohl Ethnomusikologie als auch Volksmusikforschung – historisch gesehen, aber auch bis heute zwei grundsätzliche Ausrichtungen, die beide ihre VerfechterInnen haben, im Grunde sich aber idealerweise in einer Forschung ergänzen sollten. Die eine Richtung hat sich aus der vergleichenden Musikwissenschaft entwickelt, an deren Anfang () Namen wie Guido Adler, Erich Moritz von Hornbostl und Curt Sachs stehen. Sie wird oft die »musikologische« Richtung genannt, in der Musik als »Text« (die Musik an sich) im Zentrum der Betrachtungen steht. Es wird die Musik transkribiert, analysiert und aus den musikalischen Faktoren werden Schlüsse gezogen. Die andere Richtung ist stark von der Anthropologie geprägt – man spricht auch von der »anthropologischen Wende« –, die den kulturellen Kontext der Musik in den Vordergrund stellt. In den USA der erJahre verkörpern zwei Persönlichkeiten des Faches die beiden Pole : Mantle Hood (–) steht für Musik als Text, Allan P. Merriam (–) für Musik im kulturellen Kontext (music as culture). Für Gender-Forschungen bietet sich zunächst der zweite Ansatz an. Tullia Magrinis Forderung »to approach music as gendered culture« ist nur die logische Erweiterung von Merriams »to approach music as culture«. Allerdings finden wir auch in der musikologischen Richtung durchaus Ansatzmöglichkeiten. Der Gegensatz der beiden Richtungen ist vor allem in den USA ausgeprägt, weniger in Europa und insbesondere in Wien kaum vorhanden, weil in den beiden großen Wiener Traditionen der Ethnomusikologie, nämlich der vergleichend-systematischen Musikwissenschaft sowie der Volksmusikforschung, sowohl Text als auch Kontext eine Rolle spielten und nicht als gegensätzliche Zugänge gesehen wurden.² Wesentliche Fragestellungen bezüglich Gender und Musik ließen sich mit Bruno Nettl von beiden Richtungen her beantworten : – – – – –

What has been the role of women, and the contribution of women in the world’s musical cultures ? What is the musical life of women – everywhere – and are there interculturally any regularities ? In what way have women, as a distinct culture group, affected the development of all musical life in human societies ? In what ways does the quality of relationship of men and women in a society affect women ? How have women reacted musically to male domination ? 61

5RSULAÖ(EMETEK

– –

How does music provide for interaction of genders ? Does women’s music sound different from men’s ? (Nettl , ).

In dieser Zusammenstellung dominiert, wie oft in der Gender-Forschung, die Fokussierung auf den explizit »weiblichen« Aspekt. Dies ist wohl dem großen Nachholbedarf geschuldet, und auch das Beispiel, das ich später anführen werde, geht in diese Richtung. Ich habe in meinem ganzen Studium (–) nie von GenderForschung gehört, und vielen KollegInnen, die zur selben Zeit oder früher studierten, ging es ähnlich, wenngleich die ersten Arbeiten damals bereits erschienen waren. Gerlinde Haid berichtet in der Einleitung zu ihrem Aufsatz Frauen gestalten. Zur Rolle der Frau in der Volksmusik Österreichs und der Alpen von ihrer ersten Begegnung mit einer Einteilung eines Volksliedrepertoires in Frauen- und Männerlieder im Artikel eines griechischen Kollegen (Tsangalas ) und dachte zunächst, Ähnliches in Österreich wohl nicht finden zu können. Nach einem Reflexionsprozess unter bewusster Einbeziehung der Thematik fiel der Befund allerdings anders aus : Ich erinnerte mich weiter an meine ersten Feldforschungen im Schneeberggebiet über Totenlieder, die ich ausschließlich von Frauen hörte, über Neujahrssingen, bei dem wieder ausschließlich Männer beteiligt waren, an die Almschreie der weiblichen Sennerinnen, die Arbeitslieder der männlichen Pilotenschläger, an das männliche »Almern« und das männliche Geigen im Innviertler Landler und noch an vieles mehr. Es gab also auch bei uns selbstverständlich eine traditionelle Trennung zwischen männlicher und weiblicher Musikübung, sie war nur selten zum Thema der Volksmusikforschung gemacht worden (Haid , ).

Auch sie formuliert Themen der Gender-Forschung für den Alpenraum eher vom Ansatz »Frau und Musik« aus : – –



Musikästhetische Phänomene : Frauenstimmen und Männerstimmen Soziologische Phänomene : »Weibliche« Singbräuche ; Frauengesang bei der Arbeit und in der Geselligkeit ; Singen in Frauenorganisationen ; Frauen und Musikinstrumente Literarische Phänomene. Frauenlieder als Textgattung (Haid , –)

Auch meine vorliegenden Ausführungen zur Rolle der Braut bei Hochzeiten beleuchten viel stärker die Rolle der Frau als jene des Mannes, obwohl beide bei einem Ereignis wie einer Hochzeit als komplementär zu sehen sind. Die hier 62

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

angesprochenen großen Fragestellungen werde ich im vorliegenden Text nicht hinreichend diskutieren können, am ehesten beziehen sich meine Beispiele auf Bruno Nettls Frage : »How have women reacted musically to male domination ?« In diesem Zusammenhang interessiert mich der Aktionsradius der Braut bei ihrer eigenen Hochzeit. Meine Beispiele stammen aus Feldforschungen bei Minderheitenkulturen in Österreich. Da es sich um ganz spezifische gesellschaftliche Gruppen, nämlich Minderheiten innerhalb einer Mehrheitskultur, handelt, deren Erforschung nun wiederum in einer ganz spezifischen Forschungstradition innerhalb des Faches Ethnomusikologie steht, möchte ich einleitend noch auf den Aspekt der Parallelen zwischen Gender-Forschung und Cultural Diversity Studies eingehen.

Minderheitenforschung in Österreich und Gender-Aspekte Ich beschäftige mich seit etwa  Jahren mit Minderheitenkulturen in Österreich in Forschung und Lehre. Das Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie (bis  nur Institut für Volksmusikforschung) an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien hat seit  einen Minderheitenschwerpunkt, den ich eingebracht habe und der die Ausrichtung des Instituts auch verändert hat. Davor beschäftigte sich das Institut primär mit österreichischer Volksmusik, die Minderheiten bedeuteten einen neuen Ansatz. Musik von Minderheiten in Österreich brachte »fremde« Sprachen und »fremde« Musikstile in die Forschungslandschaft und erhielt einen Platz in Forschung und Lehre. Dieser neue Fokus war es auch, der  zur Erweiterung des Institutsnamens führte : Die Ethnomusikologie gesellte sich zur Volksmusikforschung. Es ging und geht vorwiegend um ethnische und religiöse Minderheiten. Zur besseren Einordenbarkeit in ein Gesamtbild folgt ein tabellarischer Überblick über die größten Gruppen, zunächst über die sogenannten »alten Minderheiten«, mit Angabe des Ansiedlungszeitraumes, des Zeitpunktes der Anerkennung und des vorwiegenden Lebensraumes, und danach ein Überblick über die größten Gruppen der »neuen Minderheiten«, von MigrantInnen und Flüchtlingen. »Volksgruppe« ist in Österreich eine politische Kategorie und die Anerkennung als Volksgruppe räumt einer ethnischen Gruppe bestimmte Rechte ein, die einerseits in Artikel  des österreichischen Staatsvertrages () und andererseits im Volksgruppengesetz () festgeschrieben sind. Dazu gehört u. a. das Recht auf zweisprachige topographische Aufschriften, das Recht auf Unterricht in der Muttersprache sowie seit  auch die Bildung eines Volksgruppenbei63

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Volksgruppen Volksgruppe/Bundesland

in Ö. seit

Anerkennung als Volksgruppe

16. Jh.

1955

slowenische Volksgruppe in Kärnten

9. Jh.

1955

slowenische Volksgruppe in der Südsteiermark/Graz

9. Jh.

kroatische Volksgruppe im Burgenland

ungarische Volksgruppe im Burgenland

seit 2003 im Volksgruppenbeirat

10. Jh.

1976

ungarische Volksgruppe in Wien

1956

1992

tschechische Volksgruppe in Wien

19. Jh.

1976

slowakische Volksgruppe in Wien

19. Jh.

1976

Roma im gesamten Bundesgebiet

15. Jh.

1993

Nicht als Volksgruppen anerkannt jenische Bevölkerung vorwiegend in Tirol jüdische Bevölkerung im gesamten Bundesgebiet trentinische Bevölkerung in Voralberg

19. Jh.

rates im Bundeskanzleramt, der den Bundeskanzler (und vielleicht auch einmal eine Bundeskanzlerin …) in für die Volksgruppen relevanten Fragen beraten soll. Seit  besteht auch der Anspruch auf eine finanzielle Unterstützung von Vereinen und Organisationen der Volksgruppe. Durch das Volksgruppengesetz von  konnten neben der slowenischen und der kroatischen zusätzliche Volksgruppen anerkannt werden, wobei die Roma  als die bis jetzt letzte Gruppe dazukamen. Die steirischen Sloweninnen und Slowenen wurden  in den Beirat der Kärntner slowenischen Volksgruppe aufgenommen, was de facto einer Anerkennung gleichkommt. Alle anderen Minderheiten-Gruppen genießen keine solchen Rechte, wobei sich religiös definierende Gruppen wie die Juden und Jüdinnen diese auch nicht einfordern, sondern als Religionsgemeinschaft anerkannt sind. Die Jenischen in Tirol haben einen Antrag auf Anerkennung als Volksgruppe gestellt. Ich nenne hier bewusst keine absoluten Zahlen, denn die Volkszählungen werden von Volksgruppenangehörigen zum Teil boykottiert, weil vonseiten der politisch Verantwortlichen oft die Zahl als Argumentation für oder vor allem gegen das Zugestehen von Rechten verwendet wurde und wird. Es existieren allerdings Eigenschätzungen, die stark von den Volkszählungsdaten abweichen (genauer siehe Baumgartner ). Die großen Flüchtlingsbewegungen nach Österreich haben jeweils mit den politischen Ereignissen in den Nachbarländern zu tun, wobei Österreichs geopoli64

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Neue Minderheiten

MigrantInnen/Flüchtlinge

größte Gruppen aus: Ungarn 1956: Flüchtlinge nach der Niederschlagung des Volksaufstandes durch sowjetische Truppen Tschechien/Slowakei 1968: Flüchtlinge nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« durch sowjetische Truppen ehem. Jugoslawien/Türkei ab 1964: ArbeitsmigrantInnen als Folge der Anwerbeabkommen mit der Türkei (1964) und Jugoslawien (1966) Polen 1981: Flüchtlinge nach der Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen Bosnien 1992: Flüchtlinge aufgrund des Bürgerkrieges und der »ethnischen Säuberungen« im ehemaligen Jugoslawien AusländerInnen in Österreich

Österreichische Bevölkerung* gesamt: davon AusländerInnen aus: Serbien: Türkei: Bosnien und Herzegowina: Deutschland: Kroatien: Polen: Rumänien: Ungarn: Mazedonien: Italien: Die weiteren Gruppen liegen unter

8.065.465 155.800 130.100 96.000 74.400 57.600 22.600 18.400 13.000 12.400 10.700 10.000

* Volkszählungsdaten von 2001

tische Position als östlichstes Land, das sich nach  als westlich und neutral definiert hat, eine wesentliche Rolle spielt. Der Mangel an Arbeitskräften in den Industriestaaten Westeuropas machte die Anwerbung von Arbeitskräften erforderlich. Auch hier sind Zahlen nur bedingt aussagekräftig, weil bei Volkszählungen nur die Staatsbürgerschaft erfasst wird. Mehrere Gruppen, die sich ethnisch oder religiös definieren, scheinen in keiner Statistik auf, weil sie nie als Gruppe erfasst werden. Dies sind z. B. die AlevitInnen, eine religiöse Gruppierung aus der Türkei, die dem Islam zugerechnet wird, sich aber selbst nicht als muslimisch definiert (siehe unten). Auch die Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien rangieren in der Statistik meist unter »Serben«. Generell sei noch angemerkt, dass Zuwan65

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derer und Zuwanderinnen unter die stark diskriminierende Ausländergesetzgebung fallen, sofern sie noch nicht eingebürgert sind. Aber auch die Einbürgerung schützt nicht vor dem steigenden Alltagsrassismus. Die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit muss aber nicht der einzige Definitionsinhalt für den Begriff Minderheit sein. Man kann auch von den Machtverhältnissen ausgehen, und dann sind auch andere Gruppen eingeschlossen, u. a. werden soziales Geschlecht oder sexuelle Orientierung zu einer Definitionskategorie. Definition von Minderheit Menschen, die aufgrund ihrer ethnischen, sozialen oder religiösen Zugehörigkeit Diskriminierung erfahren […]. Diskriminierung ist politisch als Ausschluss von bestimmten Rechten zu sehen, sozial als die Erfahrung von Vorurteilen und Ausgrenzungen. Die Grundlage für diese Definition ist nicht ihre geringere Zahl, sondern ihre geringere Macht gegenüber einer hegemonialen Mehrheit (Initiative Minderheiten, Leitlinien).

Diese Definition, die nicht von der Zahl, sondern von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft ausgeht, schließt folgende Gruppen mit ein : ethnische und religiöse Gruppen, Menschen mit Behinderung, Lesben/Schwule/Transgender und andere mehr. Ob nun die Gruppe der Frauen ebenfalls als eine Minderheit bezeichnet werden kann, ist eine offene Frage und wird vielfach als nicht zielführend angesehen, weil Frauen keine Minderheit, sondern in der österreichischen Gesellschaft eine zahlenmäßige Mehrheit darstellen, sind doch meist über   der Wahlberechtigten Frauen. Andererseits ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit immer noch Utopie, genauso wie eine den Zahlenverhältnissen adäquate Repräsentanz in Politik, Wissenschaft und vielen anderen Bereichen der Gesellschaft. Die letzte Ausgabe der Zeitschrift der Initiative Minderheiten diskutiert erneut den Minderheitenbegriff und Hakan Gürses liefert einen wichtigen Ansatz, der zur Klärung dieser Frage hilfreich erscheint : –



»Minderheit« ist keine numerische Kategorie ; sie bezeichnet nicht ausschließlich eine zahlenmäßig unterlegene Gruppe, sondern ein politisches, soziales oder rechtliches Ungleichverhältnis – ein Machtverhältnis (das Südafrika in Zeiten der Apartheid ist ein gutes Beispiel). »Minderheit« ist daher keine bloß ethnische oder religionsbezogene Kategorie, sie umfasst auch »neue« Minderheiten : Lesben und Schwule, Behinderte genauso wie Zugewanderte. 66

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen



»Minderheit« ist nicht ein »Ding an sich« ; sie bezeichnet keine ethnologische oder historische Substanz, sondern eine Relation (Gürses , ).

Die Quintessenz ist : »Minderheit kann es nur im Verhältnis zu einer Mehrheit geben.« (Ebd.) Ich denke, dass in einer solchen Minderheitendefinition Frauen durchaus zu den Minderheiten gerechnet werden könnten. Dieser Ansatz, der Gender in die Minderheitendefinition mit einbezieht, ist ein soziologisch-politischer. Für mich ergeben sich vor allem auf der Ebene der politischen Umsetzung Parallelen zwischen Minderheitenforschung und Gender Studies. Die Gender Studies entwickelten sich aus der feministischen Frauenforschung, in der gesellschaftlich benachteiligte Individuen bzw. ein Geschlecht zum Subjekt und Objekt der Forschung gemacht wurde. Übertragen auf die gesellschaftspolitische Ebene führten diese Forschungen und viele andere zu Gender-Equality-Maßnahmen. Minderheitenforschung ist damit vergleichbar, sie findet ihre politische Entsprechung heute im sogenannten Diversity Management, ein Begriff, der zu verschleiern versucht, dass es eigentlich auch hier um den Abbau von Diskriminierungen und um Gleichstellung von Gruppen mit besonderen Bedürfnissen geht. »Cultural diversity is a process very similar to gender equality«, nannte es beispielsweise Umayya Abu-Hanna, Diversitätskoordinatorin der finnischen Nationalgalerien³. Die vielen neuen Initiativen müssten aber – so Abu-Hanna kritisch – letztlich scheitern, weil sie nicht darauf abzielten, tatsächlich Macht zu verteilen, nämlich sie von der dominanten Gruppe (sowohl ethnisch als auch im Gender-Sinn) an machtpolitisch nachgereihte Gruppen wie Minderheiten und Frauen abzugeben. For a few years, every institution has tried to »celebrate diversity« in so many ways – invested money, time and space. Yet nothing worked. The dilemma is that diversity is nothing to be »celebrated«. Cultural diversity is a process very similar to gender equality. We have all lived with women, loved and respected them. For some reason in spite of all this understanding and shared experience, we don’t pay them an equal salary. In Finland where women are more than   of the University students, less than   of the professors are women. The issue is about power. And so it is with the cultural diversity. »Celebrating« it is hiding the issue and fighting change (Abu-Hanna [], ).⁴

67

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Ethnomusikologische Anmerkungen zu Hochzeiten in drei Minderheitenkulturen und zur Rolle der Braut Die Forderung »to approach music as gendered culture« gilt zweifelsohne auch für Studien zu Minderheitenkulturen. Ich muss eingestehen, dass wir in den bisherigen Forschungsprojekten zu Minderheitenkulturen an unserem Institut⁵ diesem Ansatz viel zu wenig gerecht wurden. Allerdings ermöglicht das archivierte Feldforschungsmaterial, nämlich die Ton- und Videodokumente, zur Musik von Minderheiten auch im Nachhinein eine Interpretation in Bezug auf Gender. Feldforschung ist für mich die wichtigste Methode des Faches, um zu Erkenntnissen zu kommen, deshalb hier eine der vielen möglichen Definitionen : Die Ethnomusikologie in ihrem empirischen Bereich verwendet als Grundlage für wissenschaftliche Ergebnisse das Tondokument oder die Videoaufzeichnung. Diese Dokumente werden in der Feldforschung erstellt, die entweder dokumentarisch oder explorativ ausgerichtet ist (vgl. Schüller , ). Beide sind unverzichtbare und einander ergänzende Teile einer umfassenden Dokumentation bzw. Betrachtung von Kulturen im Allgemeinen und Musikkulturen im Besonderen. Ich sehe Feldforschung als das Erfahren von authentischen Zusammenhängen, in denen Musik eine Rolle spielt, als die Erhebung der Voraussetzungen, Bedingungen und Bedeutungen von Musik und auch deren Bedeutung für die Menschen, die sie produzieren. Durch Ton- oder Videodokumentation werden diese Erfahrungen wiederholbar, belegbar und analysierbar gemacht (Hemetek , ).

Mit »dokumentarisch« ist hier der Ton- oder Video-Mitschnitt eines Ereignisses gemeint, in das der Forscher/die Forscherin nicht eingreift, sondern das er/sie teilnehmend beobachtet, mit »explorativ« ist die Interviewsituation gemeint, wobei in der Ethnomusikologie im Unterschied zur Soziologie wenig mit Fragebögen gearbeitet wird, nur in Ausnahmefällen quantitativ, meist qualitativ, und meist nicht strukturierte Gespräche geführt werden, nach Girtler das sogenannte »ero-epische« Gespräch (Girtler ). Es liegen mir also eine große Anzahl an Feldforschungsaufnahmen verschiedenster Minderheitenkulturen aus -jähriger Forschungsarbeit als Quellen für meine folgenden Überlegungen vor. Ich habe drei verschiedene Kulturen und exemplarisch deren Hochzeiten ausgewählt. Es ist nicht selbstverständlich, als Ethnomusikologin Hochzeiten dokumentieren zu können. Hochzeiten sind interne Familienfeiern, zu denen Familienangehörige und Gruppenangehörige eingeladen werden. Es bedarf eines gewissen 68

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Vertrauensverhältnisses, um einen Zugang und die Erlaubnis zur Dokumentation zu erhalten. Bei den BurgenlandkroatInnen hatte ich dieses im Rahmen meiner Feldforschung zur Dissertation Hochzeitslieder aus Stinatz. Zum Liedgut einer kroatischen Gemeinde des Burgenlandes (Hemetek ) aufgebaut, weil ich mich viel in Stinatz (kroatische Ortschaft im südlichen Burgenland) aufhielt und in der Dorfgemeinschaft mein Interesse bereits bekannt war. Deshalb wurde ich auch nach Abschluss der Dissertation weiterhin zu Hochzeiten eingeladen. Bei den AlevitInnen konnte ich den Kontakt über einen der Musiker, nämlich Mansur Bildik, aufbauen, der oft bei Hochzeiten spielte und der erwirkte, dass ich an alevitischen Hochzeiten/Hennafeiern teilnehmen durfte. Bei den Roma war der Zugang am schwierigsten und der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses dauerte einige Jahre, was sich aus den negativen historischen Erfahrungen mit der unterstützenden Rolle der Wissenschaft bei der Diskriminierung und Verfolgung der Roma ergibt. Die Kalderaš sind jedoch eine Gruppe, die den Gaže (Nichtroma) relativ offen gegenübersteht, weshalb ich auch über Dragan Jevremović, einen Aktivisten der Romabewegung, auf meine Bitte hin mehrere offizielle Einladungen zu Hochzeiten erhalten konnte. Die Bedingung war allerdings, dass ich nur in Begleitung meines Ehemannes auftreten solle, weil eine Teilnahme als alleinstehende Frau als ungehörig empfunden worden wäre. Hochzeiten haben mich bei meinen Feldforschungen immer fasziniert, weil sie offensichtlich so ein einschneidendes Erlebnis sind, insbesondere im Leben von Frauen, was ich aus eigener Lebenserfahrung nachvollziehen kann. Sie haben mich auch immer emotional sehr berührt und ich saß bei vielen HochzeitsFeldforschungen zeitweise tränenüberströmt hinter meinem Aufnahmegerät. Abgesehen von der persönlichen Faszination ist aber auch der wissenschaftlich-vergleichende Aspekt wesentlich. Hochzeiten werden von allen Kulturen der Welt in der einen oder anderen Art gefeiert. Es gäbe viel darüber zu sagen, was Hochzeit alles bedeuten kann, und es wären die rechtlichen und vielfältigen sozialen Bedeutungen zu beleuchten (siehe z. B. Varga , Weber-Kellermann  und , Thiel , Höbart ). Das werde ich hier nicht tun, nur so viel als Ausgangspunkt : Hochzeiten sind in vielen Kulturen der symbolische Akt, das Ritual, welches das Zusammenleben von Mann und Frau initiiert. Im Wesentlichen geht es gesellschaftlich um die Regelung der Fortpflanzung und meist auch um die Kontrolle derselben. Deshalb werden bei Hochzeitszeremonien sehr viele symbolische Handlungen gesetzt, die sich auf das Verhältnis der Geschlechter beziehen. Sehr oft sind diese musikalischer Natur, denn es gibt meines Wissens kein Hochzeitsritual weltweit, in dem Musik nicht in irgendeiner Form eine Rolle spielt. 69

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Ich klammere in meiner Darstellung bewusst die jeweiligen religiösen Rituale aus, weil sie durch die hierarchische Struktur der meisten Religionsgemeinschaften und die daraus resultierenden internationalen Normierungen viel weniger Spielraum für kulturelle Spezifika lassen. Außerdem sind sie, verglichen mit dem nachfolgenden Fest, an dem die Community teilnimmt, in allen mir bekannten Fällen, sowohl was die Zahl der Beteiligten als auch was die Dauer betrifft, von wesentlich geringerer Bedeutung. Ich konzentriere mich also auf das »Hochzeitsfest«. Meine Ergebnisse beruhen auf dokumentarischer und explorativer Feldforschung sowie teilnehmender Beobachtung. Ich war bei den geschilderten Hochzeiten als Gast anwesend und habe sie dokumentiert (Audio-Aufnahmen). Die Fotos wurden von meinem Ehemann Herman Hemetek gemacht, der mich sehr oft bei solchen Forschungen begleitete. Wie bereits erwähnt, hatte ich bei diesen Feldforschungen noch nicht den Gender-Aspekt im Auge. Die Forschungsfrage, die ich nun im Nachhinein an das Material richten möchte, war bereits einigen Transformationsprozessen unterworfen. Mein Ausgangspunkt war zunächst die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit der Braut bei ihrer eigenen Hochzeit als stärkste Augenfälligkeit des Materials (siehe Hemetek ). Inzwischen habe ich mich mehr mit den Frauenrollen in den jeweiligen Communities auseinandergesetzt und diese Erfahrungen ergänzen die beobachteten und dokumentierten Realitäten. Diese Auseinandersetzung basiert einerseits auf wissenschaftlichen Arbeiten aus anderen Fächern, wie z. B. den Arbeiten von Beate Eder-Jordan () und Erika Thurner () zu den Roma oder von Marija Jurić-Pahor () zu den Kärntner Slowenen und Sloweninnen. Auch aus meinem Fach stammen Gedankenanregungen wie z. B. von Dorit Klebe (), die zur türkischen Community in Deutschland publiziert hat, oder von Jane Sugarman () und Carol Silverman () zu den Roma am Balkan. Auch Projektdokumentationen wie jene von Christa Stippinger und Christa Witz, Frauen zwischen den Kulturen (), oder die Roma-Zeitschrift Jekh Čhib zum Thema Roma- und Sinti-Frauen () waren wichtige Inspirationsquellen. Ich gehe deshalb auch heute anders an das Thema heran : Inwieweit korreliert der Aktionsradius der Baut bei ihrer eigenen Hochzeit mit den Geschlechterverhältnissen und Konventionen in der jeweiligen Community und inwieweit hat dies mit der gesellschaftspolitischen Ausgrenzungssituation der Community selbst zu tun ; inwieweit bedeutet Aktivität auch Eigenständigkeit und inwieweit bestimmen patriarchale Strukturen das Hochzeitsgeschehen ? Diese Fragen sollen vor allem anhand von musikalischen Äußerungen und deren Kontext behandelt werden, auch Lieder selbst sind Quellen. Ich versuche also, beide ethnomusikologischen Richtungen heranzuziehen, nämlich jene, die Musik als Text, und jene, die Musik im Kontext betrachtet. 70

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Charakteristika der drei Minderheitengruppen Die drei Minderheitengruppen, die ich für meinen Vergleich ausgewählt habe, fallen in Österreich in unterschiedliche Minderheitenkategorien. Die BurgenlandkroatInnen sind eine anerkannte Volksgruppe, die AlevitInnen eine religiöse Minderheit, aber zugleich auch Zugewanderte aus der Türkei, und die Kalderaš sind eine der vielen verschiedenen Gruppen des Volkes der Roma und aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich zugewandert. Die folgende Tabelle fasst wesentliche Fakten überblicksmäßig zusammen (aus Hemetek ), nämlich die Zahlen (Eigenschätzungen), die Zeit der Zuwanderung, die Herkunftsregion, den derzeitigen Lebensraum in Österreich und kulturelle Merkmale wie musikalische Orientierungen, Sprache und Religion. Minderheitengruppen Minderheitengruppe

Größe (Anzahl)1

Zuwanderung

Lebensraum

kulturelle Merkmale u. Religion

BurgenlandkroatInnen

20–40.000 16. Jh. aus Kroatien

Burgenland, ländlicher Raum

AlevitInnen

15–30.000 ab 1965 aus der Türkei

urbane ArbeitsmigrantInnen; »türkische« Zentren, Wien Kulturmerkmale: Saz als wichtigstes Instrument, Religion als kulturelle Identifikation; Sprachen: Türkisch, Deutsch, Kurdisch; Religion: Islam/Alevismus

Kalderaš

2000–5000 ab 1965 aus Serbien

urbane Zentren

Volksgruppe; »Transkulturation« kroatisch, ungarisch, deutschösterreichisch; Sprache: bilingual (Deutsch, Kroatisch); musikalischer Regionalstil; Religion: röm.-kath.

ArbeitsmigrantInnen; »Roma-Kultur«; serbischer Einfluss; Sprachen: Kalderaš (Variante des Romanes), Serbokroatisch, Deutsch; Religion: serbisch-orthodox

 Die hier genannten Zahlen beruhen auf Eigenschätzungen und sind nur als ungefähre Richtwerte zu verstehen. Ich führe sie hier an, weil es ja um einen Vergleich der drei Gruppen geht.  »Türkisch« soll als Überbegriff für die verschiedenen Regionen und Regionalkulturen der Türkei dienen

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5RSULAÖ(EMETEK

Die kroatische Volksgruppe im Burgenland lebt seit dem . Jahrhundert in ihrem jetzigen Siedlungsgebiet, das damals Westungarn war und seit  zu Österreich gehört. Sie leben vorwiegend im ländlichen Raum, ein Teil auch in Wien. Ihre Kultur ist seit mehreren Hundert Jahren von Transkulturationsmechanismen geprägt. Es finden sich in der Musik kroatische, ungarische und österreichischdeutsche Merkmale. Sie sind meist zweisprachig und die dominierende Religion ist die römisch-katholische (vgl. Baumgartner , Hemetek , Schrujff ). Die Aleviten und Alevitinnen sind aus der Türkei zugewandert und im Zuge der »Gastarbeiterbewegung« nach Österreich gekommen. Ihre kulturelle Prägung entspricht der jeweiligen regionalen Herkunftskultur der Türkei, allerdings ist die religiöse Identifikation sehr wichtig. Der Alevismus ist eine sehr liberale Ausformung des Islam⁶, in der Frauen grundsätzlich gleichberechtigt sind und der Musik im religiösen Ritual eine große Rolle zukommt. Die Saz (türkische Langhalslaute) gilt als heiliges Instrument. In der Türkei muss die alevitische Bevölkerung auf eine lange Geschichte der Verfolgung zurückblicken, sie musste ihre Religion über Jahrhunderte großteils im Verborgenen praktizieren. In Österreich wird sie in mehrfacher Hinsicht diskriminiert : als »türkische« Zuwanderer und Zuwanderinnen durch die österreichische Mehrheitsgesellschaft und als den Alevismus praktizierende Gläubige durch die türkischen SunnitInnen. Einige Angehörige der alevitischen Bevölkerung sind ethnische KurdInnen – ein weiterer Diskriminierungsgrund. Es dominiert Zweisprachigkeit, wobei die Sprachkompetenz im Deutschen bei der ersten Generation der Zugewanderten manchmal nicht sehr hoch ist. Die Kalderaš gehören zum Volk der Roma, das weltweit in verschiedenste Gruppen unterteilt ist und sich kulturell äußerst heterogen darstellt. Kalderaš leben in vielen Ländern der Welt und sind durch bestimmte kulturelle und soziale Merkmale verbunden : durch eine bestimmte Variante des Romanes (Sprache der Roma), durch bestimmte Bräuche und andere kulturelle Praktiken und eine charakteristische Sozialstruktur. Sie sind aus dem ehemaligen Jugoslawien als »Gastarbeiter« zugewandert, allerdings ohne sich nach außen hin als Roma zu identifizieren (und das aus gutem Grund). Die Roma sind jene ethnische Gruppe, die weltweit den meisten negativen Vorurteilen ausgesetzt ist, und das seit Jahrhunderten. Die Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte beginnt mit ihrem ersten Auftreten in Europa im . Jahrhundert und fand ihren grausigen Höhepunkt in der Ermordung von etwa . Roma im Nationalsozialismus.⁷ Bis heute gelten Roma als Feindbild wie auch als Sündenböcke, was sich in einem virulenten Antiziganismus in vielen europäischen Ländern äußert. 72

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Die kulturellen Ausdrucksformen der Kalderaš in Österreich tragen neben den gruppenspezifischen Merkmalen auch serbische Züge, die zum Teil von der serbisch-orthodoxen Religion herrühren, der die Kalderaš angehören. Viele sind dreisprachig, sprechen Romanes, Serbokroatisch und Deutsch. AlevitInnen und Roma sind in Österreich ganz anderen Diskriminierungsmechanismen ausgesetzt als die kroatische Bevölkerung des Burgenlandes. Letztere hat die österreichische Staatsbürgerschaft, lebt seit Jahrhunderten in ihrem Siedlungsgebiet und unterscheidet sich in den Lebensgewohnheiten und in der Gesellschaftsstruktur nicht von den MehrheitsösterreicherInnen. Diskriminierung heißt vor allem eine Verweigerung von Rechten, die der Erhaltung von Sprache und Kultur dienen sollen und auch als solche gesetzlich festgeschrieben sind. Burgenlandkroaten und -kroatinnen fühlen sich vor allem von der »Assimilation« bedroht, die als vollkommenes Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft und als Verlust kultureller Spezifika gesehen wird. Aleviten und Alevitinnen sowie Kalderaš haben als AusländerInnen keinen Zugang zu bestimmten Bürgerrechten, sie unterliegen der Ausländergesetzgebung und werden mit verschiedensten Vorurteilen belegt. Dazu kommt die Diskriminierung am Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Außerdem sind sie, sofern sie sich durch äußere Merkmale von den durchschnittlichen Österreichern und Österreicherinnen unterscheiden, Alltagsrassismen ausgesetzt. Sie sind, im Unterschied zu den BurgenlandkroatInnen, eine sogenannte visible minority. Beide Gruppen haben eine lange Geschichte der Verfolgung hinter sich. Sie haben als Gruppen nur überlebt, weil sie einen starken Gruppenzusammenhalt entwickelt, sich von der Mehrheit abgegrenzt und den jeweiligen Obrigkeiten entzogen haben. Dies äußert sich bis heute z. B. in einer Rechtsautarkie (auf bestimmte Bereiche bezogen, u. a. auch die Eheschließung) oder in der »Geheimsprache« Romanes⁸. Es wird nach wie vor vorzugsweise innerhalb der Gruppe geheiratet. Aus all den genannten Gründen leben Kalderaš und die alevitische Bevölkerung unter völlig anderen Bedingungen in Österreich als die BurgenlandkroatInnen. Ihre Anpassung an die Lebensbedingungen der Mehrheitsgesellschaft ist wesentlich geringer, man könnte in gewissem Sinne von einer »Getto«-Situation sprechen. Alle drei Gruppen sind patriarchale Gesellschaften. In patriarchalen Gesellschaften wechselt die Braut mit ihrer Heirat die Familienzugehörigkeit. Ihr Leben verändert sich meist viel gravierender als das des Bräutigams, vor allem weil sie Kinder bekommen soll, diese meist auch fast alleine aufzieht und den Haushalt führt. Auch die österreichische Mehrheitsgesellschaft ist patriarchal und der Prozentsatz der Väter, die in Karenz gehen und somit aktiv an der Kinderbetreuung mitwirken, ist verschwindend gering (derzeit  ). Der andere, nicht 73

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unwesentliche Aspekt einer Heirat ist eine von den Eltern unabhängige Lebensführung der Frau durch die Gründung einer eigenen Familie. Die Braut und ihr Kranz : Stinatzer Hochzeit Die Gesellschaftsstruktur der kroatischen Volksgruppe im Burgenland unterscheidet sich kaum von jener der Mehrheitsgesellschaft, so auch nicht die Rolle der burgenlandkroatischen Frau in der Gesellschaft. Das Zusammenleben von Männern und Frauen gestaltet sich ähnlich und die Eheschließungs- und Scheidungsraten entsprechen jenen der Mehrheitsgesellschaft. Im ländlichen Gebiet ist der Einfluss der katholischen Kirche allerdings stärker als in den umliegenden deutschsprachigen Gemeinden. Dies bedeutet, dass auf dem Land meist zusätzlich zur standesamtlichen Trauung auch kirchlich geheiratet wird. Ansonsten greifen die Moralvorstellungen der katholischen Kirche bezüglich der Geschlechterverhältnisse nicht mehr wirklich. Es ist durchaus üblich – wie in der Mehrheitsgesellschaft –, dass junge Paare vor der Hochzeit zusammenleben, und ich habe einige Trauungen miterlebt, bei denen bereits die gemeinsamen Kinder aktiv teilnahmen. Allerdings war es z. B. in Stinatz noch in den er-Jahren nicht üblich, dass eine schwangere Braut »in Weiß« heiratete, da die Farbe Weiß Jungfräulichkeit symbolisiert. Ich habe mich in meiner Dissertation mit der Stinatzer Hochzeit beschäftigt (Hemetek ). Stinatz ist eine kroatische Ortschaft im südlichen Burgenland und die Stinatzer Hochzeit ist ob ihrer vielfältigen Bräuche berühmt (siehe Stubits , Gaal/Neweklowsky ). Es sind große Hochzeiten mit bis zu  Gästen, die früher drei Tage lange gefeiert wurden. Heute beginnt eine Hochzeit am Morgen mit dem Abholen der einzelnen Würdenträger (z. B. Brautführer, Brautführerin, Bräutigam, Braut), setzt sich in der Kirche, vor dem Gasthaus und im Gasthaus fort und dauert bis in die Morgenstunden. Es wird viel gegessen, musiziert, gesungen und getanzt.⁹ In einer Langzeitstudie konnte ich die Veränderungsprozesse dokumentieren. Äußerst interessant war dabei die Beobachtung, dass ein Brauch, der deutlich auf die Jungfräulichkeit der Braut Bezug nimmt, sich hartnäckig gehalten hat. Die Braut trägt traditionell einen Kranz, den Brautkranz, der die Jungfräulichkeit ausdrückt. Dieser wird ihr um Mitternacht abgenommen, was symbolisiert, dass sie aus dem Stand der ledigen in den Stand der verheirateten Frau wechselt. Dieser Wechsel von einem Lebenszusammenhang in einen anderen, von der Tochter zur Ehefrau, ist durch diesen Brauch besonders unterstrichen. Die Kranzabnahme geschieht vor den Augen der zahlreichen Hochzeitsgäste, und zwar mit folgendem Ritual : 74

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Abb.  : Burgenlandkroatische Braut mit Brautmutter, die ihr den Kranz abnimmt. Foto : Herman Hemetek, Stinatz 

Der staćilo, der Brautführer, steht mit Messer und Gabel hinter der Braut und fragt sie, was sie lieber hergeben würde, den »Kranz« oder den »Kopf«. Dies bedeutet übertragen ausgedrückt, ob sie lieber ihre Jungfräulichkeit aufgeben oder sterben würde. Sie antwortet zweimal mit »Kopf«, erst beim dritten Mal sagt sie »Kranz«, woraufhin der staćilo ihr den Kranz mit Messer und Gabel abnehmen soll. Manchmal schafft er das nicht, und die Mutter springt helfend ein, um den Kranz abzunehmen, wie es auch auf Abb.  zu sehen ist. Was bei der Stinatzer Hochzeit auch zu finden ist, sind Lieder, die den Brautabschied dokumentieren. Es handelt sich um Klagelieder, die von den unverheirateten Freundinnen der Braut für diese bei der Hochzeit gesungen werden. Die Lieder handeln vor allem von Abschied (von den Eltern, von den Freundinnen, vom unbeschwerten Leben), von Trauer und von den harten Pflichten des kommenden Lebens. Die Braut wird mehrfach mit einer Rose verglichen, deren Blätter nun abfallen. Es ist dies ein sehr trauriger Moment der Hochzeit und es weinen die Braut wie auch viele der Anwesenden.

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Družica lubljena dostala si druga

Liebe Freundin, du hast jemand anderen gefunden

Razlučit se mora od naega kruga

und musst aus unserem Kreis ausscheiden.

Dično jesi cvala sada cvijet otpada

Du hast geblüht, jetzt fällt die Blüte ab

A po cvijeću pride čas željnoga sada

und es folgt die Zeit der Fruchtbarkeit.

Roža jesi roža dokle nima muža

Rose bist du, solange du keinen Mann hast.

Kad dostane muža pada s tebe roža

Wenn du einen hast, fällt die Blüte ab.

Projti će ti, projti protulićno cvijeće

Es wird die Frühlingsblütezeit vergehen.

Nikad ti se nikad već povrnut ne će

Sie wird nie mehr zurückkommen.

Lip vijenac zeleni na glavi s’nosila

Du hast einen schönen grünen Kranz auf dem Kopf getragen.

Veselu se danas tvoj otac i mati

Es freuen sich Vater und Mutter heute,

Kad ne tebi vidu zelen vijenac cvasti

wenn sie den grünen Kranz an dir blühen sehen.

Cvala jesi cvala zimi ino leti

Geblüht hast du im Winter und im Sommer

Kot roža rumena na zelenom vrti

so wie eine rote Rose im grünen Garten.

A sad te je doal jedan mili klinčac

Aber jetzt ist ein lieber Bursch gekommen,

Ki će ti razvezat tvoj zeleni vijenac

der dir den grünen Kranz abnehmen wird.

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Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Počela si stopr kat roža procvitat

Du hast begonnen, wie eine Rose zu verblühn

Jur će ti se vrijeda cvijet doli usipat

und deine kostbare Blüte wird abfallen.

(Hemetek , )

Das Phänomen des Klageliedes als Hochzeitslied ist weit verbreitet und findet sich weltweit in vielen Kulturen. Es ist eng verbunden mit dem Wechsel der Braut in eine andere Familie und in eine andere Lebenssituation. In diesen Liedern wird immer das Schicksal der Braut beklagt. Mir sind keine Lieder bekannt, die die Klage eines Bräutigams beinhalten. Diese Klagelieder stehen in einem krassen Gegensatz zur festlichen Fröhlichkeit, die in vielen medialen Aufbereitungen von Hochzeiten in der westlichen Kultur gern verbreitet wird. Dort ist immer wieder vom »schönsten und glücklichsten Tag im Leben einer Frau« die Rede. Die Klagelieder bei traditionellen Hochzeiten scheinen symbolisch jedoch näher an der weiblichen Lebensrealität in patriarchalen Gesellschaften zu sein. Ein auffallender Unterschied zwischen der Stinatzer Hochzeit und den Hochzeiten in den anderen beiden Minderheitencommunities ist, dass die Braut während der ganzen Hochzeit eine aktive Rolle einnimmt. Sie ist Teil der Bräuche, sie tanzt und steht aktiv im Zentrum. Weiters unterscheidet sich die Partnerwahl bei den untersuchten Communities. Die Stinatzer Braut muss in ihrer Wahl des Bräutigams nur wenig Rücksicht auf ihre Community nehmen. Es wird zwar scherzhaft kritisch kommentiert, wenn eine Stinatzerin einen »Auswärtigen« heiratet, letztlich findet das Paar aber ohne gröbere Einmischungen von außen zueinander. Ob der Bräutigam Burgenlandkroate ist oder nicht, wird zwar als wichtig eingestuft, letztlich sind aber Eheschließungen mit Nicht-Kroaten und Nicht-Kroatinnen durchaus üblich. Die traurige Braut der Aleviten Die Wahl des Partners oder der Partnerin stellt sich in der alevitischen Community ein wenig anders dar. Grundsätzlich besteht Wahlfreiheit, aber die Zugehörigkeit zur selben Religion gilt als wesentlich und wird sogar höher bewertet als die ethnische Zugehörigkeit (siehe Sağlam , ). Eltern und Verwandte müssen grundsätzlich einer Heirat zustimmen, denn es führt zu Konflikten innerhalb der Gemeinschaft, wenn das nicht der Fall ist. Es kommt vor, dass sich ein Paar ineinander verliebt und die Zustimmung zu dieser Verbindung aus verschie77

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densten Gründen nicht gegeben wird. Dann bleibt als Ausweg die Entführung der Braut durch den Bräutigam als gemeinsame Flucht. Braut und Bräutigam verbringen einige Tage und vor allem Nächte gemeinsam, wodurch ein eheähnlicher Status erreicht wird. Die gemeinsame Flucht wird immer noch praktiziert und sie dient dazu, die Gemeinschaft mit Fakten zu konfrontieren, die nicht rückgängig zu machen sind, und so die Zustimmung zu erzwingen. Wenn sich die beteiligten Familien in der Folge einigen können, wird die Hochzeit nachgeholt. Sowohl bei den Roma als auch bei den AlevitInnen sind Familienbande besonders wichtig, weil es sich bei beiden um diskriminierte, verfolgte Minderheiten handelt, die lange Zeit ihre Identität verbergen mussten und deshalb viel mehr auf den Zusammenhalt und die Ressourcen der Gemeinschaft angewiesen sind. Deshalb ist Heirat nicht bloß eine individuelle, sondern auch viel stärker eine kollektive Angelegenheit der Community. Das alevitische Hochzeitsritual weist Parallelen zu Hochzeits-Bräuchen in der Türkei auf bzw. ist es durch die jeweilige Region geprägt. Die zeitliche Trennung in zwei Rituale, in eine Henna-Nacht als Abschied der Braut von den Eltern und in eine Hochzeitsfeier, wird in der Türkei üblicherweise praktiziert, auch von der sunnitischen Mehrheit. Die Henna-Nacht wird von Dorit Klebe () als reine Frauenfeier beschrieben. In einer Migrationssituation wie in Österreich werden beide Ereignisse aus finanziellen und organisatorischen Gründen häufig zusammengelegt und an einem Tag gemeinsam gefeiert. Einige solcher Feiern konnte ich durch Vermittlung des Musikers Mansur Bildik als Hochzeitsgast und Feldforscherin in Wien miterleben (zwischen  und ). Die Hochzeit/Hennafeier beginnt meist am Nachmittag in einem der professionell geführten Hochzeitssäle, die genügend Platz bieten, und zwar zunächst ohne das Brautpaar. Die bis zu  geladenen Gäste¹⁰ treffen nacheinander ein und es beginnt das gemeinsame Feiern, das vor allem aus Musik und Tanz besteht. Dem Essen und Trinken wird nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, es geschieht eher nebenbei. Ich habe einige Feiern erlebt, wo ausschließlich Männer servierten und angeblich auch gekocht hatten, was mir absolut außergewöhnlich erschien. Es wurde mir so erklärt, dass Frauen an diesem Feiertag nicht arbeiten sollten. Ethnomusikologisch interessant ist, dass, wenn Braut und Bräutigam gemeinsam den Saal betreten, man zum ersten Mal das traditionelle Instrumentenpaar Davul und Zurna hört, die auch im weiteren Hochzeitsverlauf zu besonders wichtigen Brauchhandlungen spielen. Beliebt sind sie auch zur Tanzbegleitung.¹¹ Die Braut nimmt nur sporadisch am Tanz teil, meist sitzt sie stumm auf einem gut sichtbaren Platz an der Seite ihres Bräutigams. Es wird von ihr erwartet, dass sie traurig dreinschaut und dass sie häufig weint ; insbesondere beim Brautab78

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Abb.  : Die Hochzeitsgäste der alevitischen Hochzeit tanzen den Halay, einen anatolischen Reihenoder Kreistanz. Foto : Herman Hemetek, 

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Abb.  : Die Henna-Zeremonie bei der alevitischen Hochzeit. Foto : Herman Hemetek, 

schied, der Henna-Zeremonie. Rot ist die Farbe des Glücks, deshalb wird auch Henna verwendet, um die Hand der Braut und die des Bräutigams zu färben. Alle Hochzeitsgäste bekommen einen kleinen Klumpen davon, um auch ihre Hände färben zu können und damit am Glück teilzuhaben. Dorit Klebe schreibt über die Bedeutung von Henna bei der türkischen Hochzeit : »Hennakraut selbst ist grün, auf der Haut färbt es sich rot. Dieser Farbenwechsel symbolisiert den Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen. Die Farbe Grün steht für den Symbolkomplex Hoffnung, Wachstum, Erde, die Farbe Rot für Liebe, Lebendigkeit, auch Opfer« (Klebe , ). Das Tablett mit den Äpfeln und Kerzen, die in der Henna-Masse stecken (siehe Abb. ), wird um Braut und Bräutigam herumgetragen. Die Braut trägt einen roten Schleier. Dazu werden traurige Lieder gesungen, die von Trennung, Trauer und Schmerz, von Abschied handeln. In der Türkei werden diese Henna-Lieder von professionellen Sängerinnen oder weiblichen Verwandten der Braut gesungen. »Die Art des Vortrages und der Inhalt der Klagegesänge sollen die Fähigkeit zur Trauer beweisen und die Braut zum Weinen bringen« (Klebe , ). Diese passive, traurige Rolle der Braut ordnet Dorit Klebe in ihrer Untersuchung nur dem ländlichen Raum in der Türkei zu, 80

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

wobei diese hier in Wien durch die Migration in den urbanen Raum übertragen wird. Braut und Bräutigam nehmen danach die Geschenke mit ernster Miene entgegen, worauf sie bald, meist unbemerkt, das Fest verlassen, das noch bis zum späten Abend andauert. Die Jungfräulichkeit der Braut wird im Ritual überhaupt nicht angesprochen, allerdings wird sie vorausgesetzt, da der Alevismus sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe verbietet. Das tut die katholische Kirche zwar auch, aber der Identifikationsgrad vieler Aleviten und Alevitinnen mit ihrer Religion ist aufgrund der Minderheitensituation wesentlich höher als bei österreichischen KatholikInnen. Die alevitische Braut ist zwar während der Hochzeit sichtbar, sie hat aber eine traurige Braut zu sein und wirkt passiv. Eine fröhliche Braut gilt als ungehörig, weil das hieße, dass sie sich über den Abschied von ihrer Familie freute. Die Hochzeitsgesellschaft hingegen unterhält sich blendend. Dies sind meine Beobachtungen bei den AlevitInnen in Wien. Dorit Klebe () hat bei den Migrantinnen und Migranten aus der Türkei in Deutschland eine andere Entwicklung beobachtet : Junge Frauen aus der Türkei weigern sich zunehmend, die traurige, passive Braut zu sein, weil sie ihre Hochzeit nicht so sehr als Abschied, sondern vor allem als Beginn eines unabhängigen, selbstbestimmten Lebensabschnitts sehen. Die »unsichtbare« Braut der Kalderaš-Hochzeit Ich möchte betonen, dass die folgenden Beobachtungen sich nur auf eine ganz bestimmte Romagruppe, nämlich die Kalderaš, beziehen und daher nicht auf andere Romagruppen zu übertragen sind. Das Volk der Roma ist weltweit äußerst heterogen in seinen Kulturtraditionen und Bräuchen. Diese Heterogenität bezieht sich auch auf die Rollen von Mann und Frau (siehe Eder-Jordan , Thurner , Silverman ). Meine Feldforschungen bei Kalderaš-Hochzeiten stammen aus den frühen er-Jahren. Was bereits für die alevitische Minderheit angesprochen wurde, nämlich dass durch die Diskriminierungssituation und Bedrohung der Existenz einer ganzen Gruppe von Menschen der Gruppenzusammenhalt für das Überleben sehr wichtig ist, gilt bei den Kalderaš umso mehr. Die Fortpflanzung unterliegt in noch höherem Maße der Kontrolle der Gemeinschaft. Den Preis dafür zahlen natürlich die Frauen, denn ihr Sexualverhalten ist es, das kontrolliert werden muss, um Gewissheit über die Abstammung der Kinder zu haben. Deswegen werden Frauen meist sehr jung verheiratet, etwa zwischen  und  Jahren. Meist entscheiden sie nicht selbst, wen sie heiraten. Das Verhältnis der 81

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Abb.  : Bei der Roma-Hochzeit zeigt die Brautmutter den blutbefleckten Unterrock ihrer Tochter als Beweis für deren Jungfräulichkeit. Foto : Herman Hemetek, Wien 

Abb.  : Der Kreistanz Kolo, hier in einer nur von Männern getanzten Variante. Er wird aber auch von Frauen und Männern gemeinsam getanzt. Foto : Herman Hemetek, Wien 

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Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

Familien der Braut und des Bräutigams wird durch die Heirat ein sehr enges. Die Bezeichnung des neuen Verwandtschaftsverhältnisses der Familien zueinander ist xanamik. Die Familienoberhäupter – Männer – entscheiden über die Heirat. Es ist dabei auch Geld involviert. Frauen und Mädchen tragen in einer KalderašFamilie wesentlich zum Familieneinkommen bei. Deshalb verliert die Familie der Braut eine Einkommensquelle, wofür eine Abschlag-Summe bezahlt werden muss. Über den sogenannten »Brautpreis« wird lange verhandelt. Wenn es zu einer Einigung kommt, können die Hochzeitsvorbereitungen beginnen. Es wird ein mündlicher Vertrag geschlossen. Vorausgesetzt sind bestimmte Leistungen beider Familien. Die Familie der Braut garantiert, dass die Braut noch Jungfrau ist, dass sie »ehrenhaft« ist, sich »zu benehmen weiß«, entsprechend den Gesetzen der Kalderaš. Die Familie des Bräutigams garantiert, dass die Braut entsprechend den Gepflogenheiten der Gemeinschaft respektvoll behandelt wird. Bei diesem Vertrag verhandeln Männer über Verantwortungsbereiche von Frauen. Denn dass die Braut gut erzogen und Jungfrau ist, fällt in den Verantwortungsbereich der Mutter. Und in der neuen Familie wird die Schwiegermutter über die Braut bestimmen. Die Jungfräulichkeit, die vor der Hochzeit sichergestellt werden muss, spielt eine zentrale Rolle. Manchmal werden erfahrene Frauen für eine Untersuchung der Braut herangezogen, manchmal auch GynäkologInnen.¹² Bei der Hochzeit selbst zeigt manchmal die Brautmutter stolz den symbolischen Beweis für die Unbeflecktheit ihrer Tochter (siehe Abb. ). Die Hochzeit selbst dauert meist drei Tage. Es werden durchschnittlich etwa  Spanferkel und Lämmer serviert, es sind an die  Gäste geladen, es wird durchgehend musiziert, getanzt (meist im Kolo, siehe Abb. ), gegessen, getrunken und gefeiert, die Gemeinschaft unterhält sich bestens. Was aber ist mit der Braut ? Sie scheint, was ihre Sichtbarkeit betrifft, bei einer Kalderaš-Hochzeit die unwichtigste Person zu sein. Sie ist in keinen einzigen Brauch persönlich involviert, nicht einmal die Geschenke nimmt sie persönlich entgegen. Manchmal ist sie anwesend, manchmal nicht, tanzt kaum und wird wenig beachtet. Niemand scheint sich um sie zu kümmern. Die Gemeinschaft feiert die Hochzeit, die neuen Familienbeziehungen, die Ehre der Braut und ihrer Familie. Die Braut ist das Objekt dieser Feier, aber als Subjekt beinahe unsichtbar. Die Trauer das Abschieds wurde bei den von mir dokumentierten Hochzeiten nicht thematisiert, allerdings gibt es in der Romakultur Klagelieder, in denen unglückliche Ehen aus der Sicht der Frau besungen werden, wie z. B. das Folgende von Ruža Nikolić-Lakatos. Bićindan ma pe lovende : Die Braut klagt ihre Eltern an : »Sie haben mich für Geld verkauft«, was auf den Brautpreis anspielt. Es folgt 83

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die Bitte, sie zurückzuholen und aus der unglücklichen Ehe zu befreien. Das ist ein Lied aus der Vokalkultur einer anderen Romagruppe, der Lovara, in der sogenannte »wahre Begebenheiten« in Liedern besungen werden.¹³ Das geschilderte Schicksal könnte sich aber genauso bei den Kalderaš abgespielt haben.

NB  Bićindan ma pe lovende Gesang : Ruža Nikolić-Lakatos, Gitarre : Mišo Nikolić Aufnahme : Mehmet Emir, anlässlich eines Auftritts im Interkulttheater am . .  Transkription : Ursula Hemetek, Quelle : Hemetek /

Text in Romanes :

Übersetzung :

. Jaj de bićindan ma pe lovende pe love l’Amerikake jaj de bićindan ma strajinonge nas tuke milo dade misto mande nas tuke mila mamo misto mande.

. Sie haben mich für Geld verkauft, für amerikanisches Geld. Sie mich an Fremde verkauft und du, Mutter, hast kein Mitleid gehabt.

. Jaj de si ma jekh Rom kon marel ma taj o sokro našavel ma pe vulici l’Amerikake naj lenge mila mamo pala mande naj lenge mila dade misto mande.

. Ich habe einen Mann, der mich schlägt, und mein Schwiegervater jagt mich in den Straßen Amerikas, und es tut ihnen überhaupt nicht leid um mich.

Apal phendas :

Und wiederum sagte sie :

. Jaj de vi maren ma vi kušen ma

. Sie schlagen und schimpfen mich und 84

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

mamo paća von či den ma jaj de vi ģesenca vi raćanca ušćav taj da ma tele e asvenca ušćav taj da ma tele e asvenca.

lassen mir keinen Frieden, nicht Tag und Nacht. Ich stehe auf und lege mich zu Bett, immer mit Tränen in den Augen.

. Jaj de žutin mamo, žutin dade na muken man te xasajvav ! Aventar ta ingeren ma taj strajinonge mamo na muken ma taj strajinonge mamo na muken ma.

. Mutter, Vater, helft mir, lasst mich nicht zugrunde gehen ! Kommt und bringt mich weg von hier, lasst mich nicht bei den Fremden.

Dieses Lied ist ein dramatischer Appell eines verheirateten Romamädchens an ihre Eltern, sie nicht im Stich zu lassen. Ich habe es zum ersten Mal  von Ruža Nikolić-Lakatos bei einer explorativen Feldforschung gehört. Sie erzählte mir, dass es sich um eine wahre Geschichte handle, die sich bei einer anderen Romagruppe zugetragen habe. Sie singt es seither oft bei öffentlichen Auftritten und erklärt dazu, dass es sich um ein tragisches Frauenschicksal handelt. Es wurde zu einem sehr beliebten Lied, auch innerhalb der Gruppe der Lovara, und es weist darauf hin, dass es in der Roma-Tradition ein Wissen über die oft sehr schwere Situation von jung verheirateten Frauen gibt.

Resümee Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den drei von mir untersuchten Fall-Beispielen. Gemeinsam ist allen, dass der neue Lebensabschnitt, in den die Frau eintritt, durch unterschiedliche Rituale zelebriert wird. In der Symbolik dieser Handlungen, Lieder und Texte wird – aus der Sicht der Braut – eher die Trauer betont, als dass sie Ausdruck von Freude wären : Bei den BurgenlandkroatInnen wird in einem Lied die Tragik des Abschieds geschildert, bei der alevitischen Hochzeit ebenfalls. Bei den Roma findet der individuelle Seelenzustand der Braut wenig Beachtung, weil es – für Frauen wie auch für Männer – als die selbstverständliche Erfüllung des Lebens gesehen wird, eine Familie zu gründen (vgl. Eder-Jordan , Schindegger ). Und es gibt sehr wohl Lieder, die das Unglück einer Braut schildern, aber ich habe sie noch nie auf einer RomaHochzeit gehört. Der Aspekt der Trauer, die dem Wechsel der Lebensumstände innewohnt, ist in der österreichischen Mehrheitskultur fast vollkommen verloren gegangen. Wenn Sie meine Beispiele mit den vielen Traumhochzeit-Shows 85

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vergleichen, die uns als das virtuelle Ideal im Fernsehen begegnen, so sind das vollkommen verschiedene Welten. Natürlich handelt es sich bei Fernsehshows nicht um die Realität, aber ich konnte in Diskussionen mit Studentinnen und Studenten immer wieder feststellen, dass die im Fernsehen vermittelten Bilder doch als Vorlage für die Gestaltung der eigenen Hochzeit gesehen werden. Ich meine, dass das Thema Ehe in den von mir geschilderten Hochzeits-Ritualen wesentlich realistischer behandelt wird, zumindest was die Rolle der Frau betrifft. Die Ehe dient der Reproduktion der Gesellschaft, ist ein Instrument, die Gattung Mensch zu erhalten. In patriarchalen Gesellschaften dient sie dazu, die Fortpflanzung und damit die Sexualität der Frau zu kontrollieren. Mit Romantik hat das nur wenig zu tun. In gewissem Sinne sind die musikalischen Hochzeitsbräuche dem Thema zuzuordnen, das Bruno Nettl folgendermaßen anspricht : »How have women reacted musically to male domination ?« Die Trauerlieder auf den Hochzeiten könnten als Ausdruck des weiblichen Widerstands gelesen werden, als Reaktion auf eine patriarchale Welt, die Frauen in ungewollte Partnerschaften zwingt, in denen sie von Ehemännern dominiert werden. Ebenso kann aber auch der Rollenwandel von der passiven, traurigen Braut zur aktiven fröhlichen als eine solche Reaktion auf die männliche Dominanz gesehen werden. Eine aktive Braut drückt aus, dass die selbst die Gestaltung ihres zukünftigen Lebens in die Hand nimmt. In der Stinatzer Hochzeit ist die geschilderte Symbolik bei der Hochzeit als eine Reminiszenz und als ein Festhalten an überlieferten Bräuchen im Sinne der Traditionspflege zu sehen. Sie hat mit der aktuellen Lebensrealität wenig zu tun. Bei den Migrantinnen aus der Türkei scheint sich offenbar ein beginnender Rollenwechsel von Frauen abzuzeichnen, der bei der Hochzeit symbolisch reflektiert wird (siehe Klebe ). Bei den Kalderaš könnte die Unsichtbarkeit der Braut als ein Symbol dafür gedeutet werden, dass das Kollektiv bedeutender ist als das Individuum. Insofern ist das Annehmen dieser Rolle eine Anpassung an eine traditionelle Gesellschaftsordnung. Auch hier bieten Lieder die Möglichkeit, die traditionelle Frauenrolle zu hinterfragen und zu kritisieren. Die Thematisierung von Frauenrollen in Hochzeitsritualen bei Minderheitencommunties in Österreich hat neben der Gender-Perspektive auch eine gesellschaftpolitische Dimension anderer Art : Die ethnomusikologischen Befunde stehen in einem krassen Gegensatz zu medial und politisch-populistisch produzierten Vorurteilen diesen Gruppen gegenüber. Dies betrifft insbesondere die alevitische Gemeinschaft und die Roma. AlevitInnen werden in der öffentlichen Wahrnehmung unter »Muslime« subsumiert und sind somit allen Facetten der islamophoben Klischees ausgesetzt : fundamentalistisch, die Frauen unterdrückend, 86

Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

rückständig, integrationsunwillig. Das Bild, das sich bei genauerem Hinsehen ergibt, ist ein völlig anderes. Mit den Roma wird seit Jahrhunderten Kriminalität und sexuelle Freizügigkeit assoziiert. Gerade letztere Assoziation ist das genaue Gegenteil meiner Beobachtungen. Ich plädiere für eine differenzierte und genaue Betrachtungsweise von Frauenrollen in verschiedenen Kulturen, die sowohl Parallelen als auch Unterschiede aufzeigt. Frauen in patriarchalen Gesellschaften wählen unterschiedliche Formen, wie sie mit männlicher Dominanz umgehen. Die Wissenschaft ist gefordert, die historischen, politischen und kulturellen Hintergründe aufzuzeigen, um die spezifischen Strategien einordenbar und verstehbar zu machen. Die ethnomusikologische Gender-Forschung ist ein möglicher Weg dazu.

Anmerkungen     

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Es wird das sogenannte »dritte Geschlecht« als Kategorie eingeführt, wodurch die Uneindeutigkeit des Geschlechtes benannt werden soll. Zur Entwicklung des Faches speziell in Wien siehe Hemetek . Der Text ist publiziert (siehe Abu-Hanna []), allerdings findet sich anstelle eines Titels nur die Funktion der Autorin, nämlich Cultural-Diversity-Koordinatorin aus Finnland. Weitere Gedanken zu diesem Thema finden sich z. B. in Gender und Minderheiten . Forschungsprojekte : – : Traditionelle Musik von Minderheiten in Österreich, – : Traditionelle Musik der Roma in Österreich, – : Musik der Bosnier in Österreich, / : Einwanderer-Musikkulturen in Wien, / : Modul bei Embedded industries – migrantische Kulturunternehmer in Wien ; Feldforschungen zu Musik von MigrantInnen in Salzburg (), Innsbruck (), Vorarlberg () und zur Musik der Steirischen Slowenen (–) Zur Religion der AlevitInnen siehe genauer Erol , Reiser . Zur Geschichte der Roma siehe genauer Heinschink/Hemetek , Halwachs . Zur Rechtsautarkie bei den Roma siehe Schindegger , bei den AlevitInnen siehe Reiser . Genauer siehe Hemetek . Die hohen Kosten einer solchen Hochzeit werden von beiden Eltern gemeinsam getragen und können zum Teil durch die Hochzeitsgeschenke, die zum Großteil aus Bargeld bestehen, abgedeckt werden. Näheres dazu siehe Hemetek . Meine Informationen stammen in diesem Fall aus Interviews, Gesprächen und teilnehmender Beobachtung. Sehr ausführlich und detailliert beschreibt Paloma Gay y Balsco () in ihrer faszinierenden Studie Gypsies in Madrid die Bedeutung der Jungfräulichkeit sowie auch die Methoden der Überprüfung derselben bei Gitanos in Spanien. Genauer dazu siehe Hemetek /, Hemetek , Fennesz-Juhasz .

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Die Rolle der Braut bei Hochzeiten in Minderheitenkulturen

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Feminismus und Popkultur ¹

In den er-Jahren verbrannten Feministinnen öffentlich ihre Büstenhalter. Mitte der er-Jahre präsentierte Madonna ihren im Fitnessstudio gestählten Körper in einem spitzen Gaultier-Korsett und die chronisch rebellische Courtney Love bezeichnete ihre Brüste als »well done«. Kathleen Hanna von »Bikini Kill« schrieb sich »Hure« auf den Bauch und nannte sich Riot Grrrl. Auch Ende der er-Jahre war das Korsett eine populäre Requisite auf den Bühnen der Popkultur – die Akteurinnen waren dabei im Durchschnitt sieben Jahre jünger, fünfzehn Kilo leichter und um einige Farbtöne blonder. Teen-o-mania schrieb ein neues Kapitel in der Geschichte der Popkultur, Headline : Barbie Realness. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen legte die blonde Brigade der TeenagePerformerinnen selten eine ironische Handhabung traditioneller Weiblichkeitskonzepte an den Tag. Vielmehr präsentierte sie eine Hypersimulation von Weiblichkeit : so jung, frisch und sauber wie möglich.  passieren die Ikonen der Popkultur noch immer gerne den Laufsteg in einem Korsett : Die zumindest theoretisch in Sachen Feminismus versierte Carrie aus der TV-Serie Sex and the City überraschte ihre Fangemeinschaft mit einem Korsett aus Fasanenfedern und Swarovski-Kristallen. Kostenpunkt :  Dollar. Körperpolitik ist seit Längerem ein explosives Minenfeld im Kontext feministischer Bewegungen : Populären Historiografien zufolge suchte die Zweite Frauenbewegung (angeblich) die Rückkehr zur natürlichen Weiblichkeit, während die Grrrls der Dritten Frauenbewegung die Künstlichkeit ihrer auffällig inszenierten Posten feiern.² Während Erstere die Schönheitsindustrie als Instrument patriarchaler Unterdrückung zurückwies, zelebrierte Zweitere den Beautycase als künstlerische Werkzeugkiste zur Realisierung des stilisierten Körpers : Der Erkenntnistheorie zahlreicher Protagonistinnen zufolge sind Körperarbeit, Mode und Style eine »Technik des Selbst«, mit deren Hilfe sich das Subjekt nicht Ausdruck verschafft, sondern sich erst vielmehr hervorbringt (McRobbie , Gonick , –, Karp/Stoller ). So stellt Körperpolitik heute eine jener prekären Schnittflächen dar, an denen die lange Zeit als Parallelen gedachten Koordinaten Popkultur und Feminismus aufeinanderstoßen und dabei eine Serie an Widersprüchen, Ambiguitäten und Fragen provozieren : In welchen sozialen, politischen und theoretischen 91

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Kontexten sind diese Inszenierungen des sogenannten »populären Feminismus« (McRobbie ) verortet, auf welche Referenzflächen und Angriffspunkte verweisen sie ? Können wir sie als ein Zeichen der Selbstermächtigung lesen oder verweisen sie auf die verdichtete Kontrolle von Geschlechterfluidität und Zwangsheterosexualität ? Welche Erkenntnis bieten sie uns im Hinblick auf die Analyse des aktuellen Verhältnisses zwischen Popkultur und Feminismus ? Popkultur und Feminismus verbindet seit vielen Jahren ein spannungsgeladenes Verhältnis : Während in den er-Jahren das Verhältnis zu MainstreamMedien oft von tiefer Skepsis und radikaler Ablehnung gekennzeichnet war und Begriffe wie »Subversion« und »Widerstand« oft relativ leicht über die Lippen kamen, kämpfen seit den frühen er-Jahren viele feministischen Aktivistinnen mit einer zähen Ambiguität : Einerseits wissen sie um die Dynamiken der Unterwerfung, der Verführung und Zensur durch große Medienkonzerne, sie wissen um die Transformation von Kritik und Rebellion in konsumierbare Waren. Andererseits aber leben sie in und mit Pop, zelebrieren dessen Ästhetik und Style, Ikonen und Fankultur und sehen Popkultur nicht nur als Transportmittel, das sie zu einer breiten Zielgruppe bringt, sondern auch als kreative und lustvolle Oberfläche, mit der und gegen die sie arbeiten. Dieses heute revidierte Verhältnis zwischen Feminismus und Popkultur ist eingebettet in ein Phänomen, das vielfach als »postmoderne Kulturlandschaft« bezeichnet wird, d. h. die Reorganisation einer vormalig vertikal organisierten Kartografierung von Kultur (Hochkultur/Kunst – Massenkultur/Pop – Subkultur) in horizontal organisierte kulturelle Felder. Eingebettet in die Merkmale des Postfordismus (Flexibilisierung, Produktionsverlagerung in Billiglohnländer, Justin-time-Produktion, Nischenmarketing etc.) wird hier suggeriert, dass sich diese Bereiche nicht mehr primär über ihr Verhältnis zur Kulturindustrie – z. B. alternativ, independent, high und low brow – definieren lassen, sondern über Knotenpunkte in Teilbereiche organisiert sind. Diese sogenannten Nischen orientieren sich primär an Faktoren des Life Style.

Revolution Girl Style In den USA erfasste das Konzept der Geschlechtsinstabilität das Umfeld des Punkrock und Hip-Hop in den frühen er-Jahren. Frauenbands eroberten die Bühnen der Jugendkultur und instrumentalisierten diese zur Dissemination ihrer Botschaften : Riot Grrrls, Hot Chicks, Ghetto Divas, Rock Queens, Gangsta Bitches und Hardcore Dykes verbreiteten lautstark Songs über Begeh92

Feminismus und Popkultur

Abb.  : Revolution Girl Style

Abb.  : Revolution Girl Style Now

ren, Sexismus, Homophobie und Gewalt. Sie kratzten an den phallozentrischen Meistererzählungen des Rock ’n’ Roll und exponierten deren oftmals zwischen rebellischer Misogynie und mythischem Verehren der Mutter/Erde schwankendes Verhältnis zu Weiblichkeit (Reynolds/Press ). Gestärkt vom affirmativen Kontext feministischer Theorie und Praxis entwickelten die Töchter der Protagonistinnen der Zweiten Frauenbewegung ein Werkzeug zur Konfrontation von rigiden Weiblichkeitsbildern. Die später unter dem Label Girl Culture zusammengefasste popkulturelle Gegenerzählung arbeitete dabei an der Herausforderung mehrerer Angriffsflächen : Sie wandte sich gegen die dominante Politik der sexuellen Abstinenz, wie sie von vielen Neokonservativen und scheinbar progressiven PolitikerInnen wie Hillary Clinton (»Just say ›No‹ until you are  …«) verfolgt wurde, und die Bewegung zur Rücknahme des in der Verfassung festgelegten Rechts auf Abtreibung. Sie forderte traditionelle Konzepte des Feminismus heraus, kritisierte die Prüderie der Anti-Pornografie-Bewegung und die Etabliertheit institutionalisierter Frauenforschung, und sie stellte traditionelle Konzepte der Subjektposition »Mädchen« und die Gleichsetzung von Mädchenkultur mit affirmativer Massenkultur, Angepasstheit und Häuslichkeit in Frage (Baldauf/Weingartner ). Girl Culture war deutlich von einer postmodernen Sensibilität geprägt, die der Theorie von Lawrence Grossberg zufolge eingebettet war in einen ironi93

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schen Nihilismus und eine authentische Inauthentizität. In den er-Jahren prägten Dekonstruktionsansätze nicht nur akademische Diskurse, sie schlugen sich auch im allgemeinen Common-Sense-Verständnis nieder. Distanz, argumentierte Grossberg, setzte sich als Haltung gegenüber einer Realität durch, die keinen Sinn mehr machte. Diese Distanz erschloss den AkteurInnen einen Raum, der es ihnen ermöglichte, sich selbst als Performer und Performerinnen und ihre Aktionen und Haltungen als Performances zu definieren. Abgelegt wurden dabei universell gültige Referenzen, mit denen diese Haltungen verglichen und evaluiert werden könnten. »If every identity is equally fake, a pose taken, then authentic inauthenticity celebrates the possibilities of poses without denying that that is all they are«, schrieb Grossberg in seinem Buch We Gotta Get out of This Place. Popular Conservatism and Postmodern Culture (, ). Während die Performances einer »inauthentischen Authentizität«, wie Grossberg sie beispielsweise von KünstlerInnen wie Bruce Springsteen oder Tracy Chapman verkörpert sah, eine dezidierte Ehrlichkeit für sich in Anspruch nahmen, wiesen die ironischen, sentimentalen und hyperrealen Performances der »authentischen Inauthentizität« seiner Theorie zufolge jeglichen Anspruch auf Wahrheit zurück. Vielmehr negierten sie die Möglichkeit eines einheitlichen, zentrierten Subjekts. Mehr noch, sie begrüßten deren Abgang : »I put my man size leather boots on – can you hear my voice now ?«, fragte P. J. Harvey im Song Man Size (Harvey ). So zeigten sich in den frühen er-Jahren Musikerinnen im Umfeld von Punkrock und Hip-Hop vermehrt an Performances interessiert, welche die Inszenierung fragmentierter, inauthentischer Subjektivitäten reflektierten : Die Punkrock-Girls folgten vielfach den Spuren der Heroinnen der er-Jahre – Pattie Smith, Joan Jett, Poly Styrene, Siouxsie Sioux, Lydia Lunch, Debbie Harry oder Chrissie Hynde. Sie zelebrierten Dilettantismus und Do-it-yourself-Ästhetik, veröffentlichten eigenhändig erstellte Zines und Musik-Kassetten.³ Auf Pionier-Bands wie »The Slits« und »The Runaways« in den er-, Pop-Ikonen wie Madonna und Cindy Lauper in den frühen er-Jahren und die mütterliche Pflege durch die Indie-Rock-Idole Kim Deal und Kim Gordon Anfang der er-Jahre folgte eine akustische Explosion, deren Schallwellen quer durch den Underground bis in die Charts drangen. »Babes in Toyland«, »Hole«, Liz Phair und P. J. Harvey laborierten an der Dekonstruktion von Weiblichkeit in postmoderner Manier ; Girl-Metal-Bands wie »L« zelebrieren Machisma, und etwas außerhalb des grellen Scheinwerferlichts arbeiteten Gruppen wie »Bikini Kill«, »Lunachicks«, »Bratmobile«, »Tribe «, »Team Dresch« und » Year Bitch« an der »Revolution Girl Style« im sogenannten Grassroots-Verfahren. 94

Feminismus und Popkultur

Auch die rebellischen Töne, die seit den frühen er-Jahren von jungen Frauen im Umfeld des Hip-Hop angeschlagen wurden, setzten auf eine lange Tradition weiblicher Idole : Bessie Smith und Billie Holiday, die »Ronettes« und die »Supremes«, Aretha Franklin, Tina Turner und Janet Jackson ebneten den Weg für ein breites Spektrum afro-amerikanischer Frauenstimmen. »In einem von Machismo dominierten Genre wie Hip-Hop wird Weichheit und Femininität immer als Schwäche interpretiert. Musikerinnen wie McLyte, Queen Latifah und Abb. : Fist ›Salt ’n’ Pepa‹ repräsentierten daher zutiefst maskuline Persönlichkeiten«, kommentierte Tricia Rose, Autorin von Black Noise : Rap Music and Black Culture in Contemporary America (). Einige Jahre später, in den frühen Neunzigern, etablieren sich neben den lautstarken Rapperinnen auch ostentativ stilisierte Queens wie Mary J. Blige, »En Vogue« und die Megastars »TLC«. Viele der Musikerinnen fanden den Rohstoff für ihre Bearbeitungen in den verkrusteten Strukturen der Misogynie, des Sexismus, der Homophobie und, seltener, des Rassismus. Ihre Techniken griffen auf Taktiken der Parodie, der hyperbolischen Übertreibung, des umgekehrten Negativismus, der Demystifizierung oder der Imitation männlicher Rituale und Maskerade zurück. Die Performancekünstlerinnen zerrten weibliche Stereotypen auf die Bühne und exponierten deren Konstruiertheit. Ihre Performances übertrieben Klischees, stellten diese auf den Kopf, trieben sie in den Exzess und versuchten so die Überdeterminiertheit des Weiblichkeitskonzepts bloßzustellen. Huren, wilde Weiber, verträumte Teenager, Schlampen, folgsame Mädchen, schutzbedürftige kleine Dinger, verklemmte Jungfrauen, Opfer, erlebnishungrige Ausreißerinnen, zornige Furien und konsumgeile Gören stellten dominante Verobjektivierungen von Mädchentypen/-bildern dar. Sie dienten der Beschreibung und Klassifizierung, erleichterten den Umgang mit dem Objekt und schafften gleichzeitig Rollenbilder, in die sich die Mädchen selbst einordnen und mit denen sie sich identifizieren können. Das vorgegebene Spektrum, entlang der 95

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Achse »Sexualität« organisiert, baute auf die Zweiteilung des Lagers in gute und böse Mädchen, auf die jahrhundertealte Dichotomie Heilige und Jungfrau versus Hure und Schlampe. Es präsentierte eine verkrustete Form von Sexismus, die die Mädchen mit der Waffe der Sexualität selbst bekämpften. Sie zerrten Sexualität und geschlechtsspezifische Normen des repressiven Diskurses, vermeintlich diskret gehandelte Privatangelegenheit, ins grelle Licht der Öffentlichkeit. Dazu Hip-Hop-Künstlerin Rosanne Shante in einem Interview mit Katharina Weingartner : I still remember that line the first time I ever used it. In Philadelphia at the »Spectrum«. Walked on stage and I said »Turn the music down, turn the lights down. Because I am one bad bitch, so throw your hands up.« […] It takes away the power of the word if you use it yourself and you make up your own meaning for it. So when it is inflicted upon you, you don’t feel the hurt from it. Therefore you must find something else to call me because that one does not work anymore (Baldauf, Weingartner , ).

Eingebettet in den Streit um De- und Recodierungen exemplifizierte Girl Culture die komplexe Verstrickung von Macht und Sprache, Ideologie und Subjekt/-ivierung. Nach dem Vorbild afro-amerikanischer Rückeroberungsversuche an Begriffen wie nigga und black, aktivistischer Lesben- und Schwulenorganisationen wie »Act Up« und »Queer Nation« sowie »No More Nice Girls«, »Guerilla Girls« und »Women’s Action Coalition« im feministischen Kontext laborierte diese Generation von jungen Frauen an der Resignifizierung von besetzten Termini, die zu fixieren versuchten, was unter einem »Girl« zu verstehen ist. Im Bereich von Gender-Performance und Körperarbeit bildeten Madonna und Courtney Love prominente Referenzflächen. Beide teilten ein Interesse an Körperpolitik und deren künstlerischen Bearbeitung. Beide inszenierten eine auffallende Inauthentizität, vermarkteten ihren Körper als Ergebnis physischer Arbeit und materieller Investitionen. Beide versuchten, die traditionelle Beschuldigung, Frauen seien künstlich, ohne Tiefe und fehlerhaft, auf den Kopf zu stellen und dieses Klischee als Waffe einzusetzen. Madonnas Film Truth or Dare () versprach das private Leben des Stars zu enthüllen, zeigte aber lediglich eine nächste Schicht intimerer Performances, die Camille Paglia als »nothing but masks« zelebrierte (Paglia , ). Courtney Loves Inszenierungen rekonstruierten den versteckten Produktionsprozess der Starpersona, die Arbeit und Investition, die in das Produkt fließt, das Frau genannt wird : »I have hemorrhoid cream under my eyes and adhesive tape on my butt and I had to scratch and claw 96

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and [deleted words that appear to be ›blow my way‹] to the top, but I won Miss Congeniality. And that’s the essence of sickness in this culture that I’d like to capture« (zit. in Dieckmann , ). Die Irritation Loves war primär auf die kapillare Metamorphose ihrer Persona zurückzuführen, die sowohl in der Boulevardpresse als auch in den Magazinen des Undergrounds diskutiert wurde : Am Anfang war eine wütende, relativ korpulente Teenage Whore (Hole ) ; dann gab es die blondere, dünnere, vollbusigere und weniger aggressive Courtney des Live Through This (Hole ), das von vielen Musikmagazinen zum besten Album des Jahres gewählt wurde. Schlussendlich, als ihr Abb.  : Riots not Diets idiosynkratischer Stil – der sogenannte Kinderwhore-Stil mit kurzem, sexy, zerrissenem Kleidchen und blondem Haar mit Spangen – in den Shopping Malls eingezogen war, verwandelte sie sich in die chirurgisch adaptierte, sozial mehr oder weniger angepasste Hollywood-Prinzessin mit Designerkleidung (Stoller , –).

Exkurs : Judith Butlers Gender Trouble  präsentierte Judith Butler ihre vernichtende Kritik der Naturalisierung des Geschlechts. In Abgrenzung zu Simone de Beauvoir, die noch zwischen dem biologischen Geschlecht sex und dem sozialen Geschlecht gender differenziert hatte, argumentierte Butler, Sex sei keine physische Angelegenheit. Im Gegenteil, Butler sah in dem Konzept des biologischen Geschlechts das Ergebnis einer kontinuierlichen, zitierenden Praxis, die ein Gesetz wiederholt, dessen Autorität lediglich über den Prozess des Zitierens immer wieder hergestellt wird, ohne dabei über eine reale Grundlage zu verfügen. Ziel dieser zitierenden Praxis, so Butler, ist die Fortschreibung einer verpflichtenden Heterosexualität. Geschlechterperformati97

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vität bringt der Theorie Butlers zufolge als einen Effekt jenes Subjekt hervor, das zum Ausdruck zu bringen sie vorgibt. Mit dieser Theoretisierung enthob Butler das Regime der Heterosexualität jeglicher stabiler Grundlage : Die Tatsache, dass das Regime von der zitierenden Praxis abhängig ist, bedingt laut Butler die kontinuierliche Gefahr der Destabilisierung und Irritation : Butler sah in den Performances von Drag Kings und Drag Queens, also den hyperbolischen Inszenierungen der Dissonanz zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, wichtige Fehler in der Naturalisierung des Konzepts der Heterosexualität. Auch die parodistische Wiederholung der heterosexuellen Matrix, wie sie beispielsweise in den Performances von butch und femme in lesbischen Beziehungen zu finden sind, schrieb Butler, »brings into relief the utterly constructed status of the so-called original, but it shows that heterosexuality only constitutes itself as the original through a convincing act of repetition. The more that ›act‹ is expropriated, the more the heterosexual claim to originality is exposed as illusory« (Butler , ). Butlers Aufruf zur Denaturalisierung löste im akademischen Umfeld eine Lawine an feministischer Kritik aus. Die ausgedehnte Butler-Rezeption griff die Einsichten in die Technologien der Naturalisation begeistert auf, besonders Butlers Theorie von drag als Subversion wurde enthusiastisch rezipiert. Angesichts zahlreicher naiver Lesarten, die im Spiel mit Geschlechternormen ein legeres Rollenspiel sahen, warnte Butler vor der Gleichsetzung von Performativität und Voluntarismus. Performative Akte seien immer auf die Wiederholung von Normen angewiesen, betonte sie. Diese Normen liegen niemals ausschließlich im bewussten Entscheidungsbereich, da das Zeichen der Homosexualität (oder des Geschlechts) weniger eine Einladung als einen Befehl in der Kontrolle der Geschlechter darstellt : »Performativity has to do with repetition, very often with the repetition of oppression and painful gender norms to force them to resignify. This is not freedom but a question of how to work the trap that one is inevitably in« (zit. in Kotz , ). Dennoch : Die Konzeption des Geschlechts und des Körpers als konstruierte, produzierte Entitäten wurde im popkulturellen Bereich euphorisch aufgenommen. Was konstruiert ist, so die vielfach strapazierte Logik, kann auch herausgefordert, hinterfragt und zerlegt werden. Aufbauend auf den Grundpfeilern der Punkrock-Philosophie des »do it yourself« wurden »How to …«-Anleitungen zur Gründung einer Band, eines Labels oder zur Herausgabe eines Zines bald von Anleitungen zur De- und Rekonstruktion des Körpers und unerwünschter Effekte begleitet.  feierten »Salt ’n’ Pepa« im Song Ain’t Nuthin’ but a She Thing die neue Freiheit der Frauen : »It’s a She Thing/So you go girl/It ain’t no man’s world/You 98

Feminismus und Popkultur

Abb.  : Letter to Butler⁴

can do anything/Do what you feel« (Salt ’n’ Pepa ).  veröffentlichte die Girl-Band »Spice Girls« ihren größten Hit Wannabe (Spice Girls ), erklomm die Charts und expandierte ihre Produkte in die Bereiche der Kaugummi- und Barbiepuppenproduktion : Sporty Spice, Scary Spice, Baby Spice, Ginger Spice und Posh Spice versammelten die Palette vorstellbarer Girlie-Personae in einer bald global vermarkteten Band. Mit der Dissemination Girl-identifizierter Produkte in verschiedenste Felder der Popkultur brachte die Omnipräsenz der Barbiepuppen und Kinderwhores bald neue Standards, die auf den vorbelasteten Körpern der Mädchen abgeladen wurden. Diese sollten nun nicht nur sexy, sondern auch ständig in flux sein. Es gab neue Modelle, Imperative, Normen und natürlich auch Requisiten, die sich die Girls in den Konsumtempeln der Shopping Malls aneignen konnten. »Die Geschichte der Girlverwertung […] ist ein einzigartiges Schlachtfeld«, diagnostizierte Jutta Koether in der Zeitschrift Spex, »wo unkontrollierte, unkodierte und souveräne Energien mit den verfremdendsten, entfremdendsten und kostümierendsten Praktiken der kapitalverwertenden Kultur aufeinanderstoßen« (Koether , ). 99

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Eine pessimistische Interpretation der Girl-Interventionspolitik weist darauf hin, dass der Imperativ »Entwirf dich selbst !« eine neue Version des altbekannten »amerikanischen Traums« darstellte. Ein naiver Individualismus schlummerte in den Selbstermächtigungsmythen, die Geschlecht und Sexualität zu Variablen reduzieren, die leicht dekonstruiert, spielerisch rearrangiert, neu zusammengesetzt oder auch außer Kraft gesetzt werden können. »What you want, what you really, really want« (Spice Girls, ). Hatte sich ein Teil der Zweiten Frauenbewegung der Prämisse der verpflichtenden Authentizität unterworAbb.  : Watch Out What Hit You fen, feierten einige der dekonstruktivistisch orientierten Gegenerzählungen der Dritten Frauenbewegung das neoliberale Credo der Machbarkeit und Veränderbarkeit (Grimm/Rebentisch ). Im Gegensatz zu dem in den er-Jahren prägenden Diskurs, der um den Imperativ des »Entdecke dich selbst !« kreiste, strapazierte die Gender Fuck-Debatte der er-Jahre das Versprechen unendlicher Möglichkeiten, eine Freiheit ohne Grenzen und Selbstermächtigung, jenseits von Sexismus, Rassismus und Klassensegregation. Und so verdichtete sich dieses Kräftefeld bald zu einer weit komplexeren Konstellation (Baldauf ).

Von Brandy zu Britney  veröffentlichte Brandy Norwood ihr erstes Album – und zündete eine TeenExplosion mit einer bis dahin unbekannten Ausdehnung. Die -jährige Brandy besetzte mit dem Debütalbum Brandy den sechsten Platz in den R&B-AlbumCharts und verkaufte über , Millionen Alben. Das B-Girl mit dem gesunden Image mixte Rhymes von Queen Latifah, MC Lyte und Yo Yo, trat in diversen TV-Shows auf und erhielt zahlreiche Nominierungen der Plattenindustrie.  nahm Brandy gemeinsam mit Soul-Sängerin Monica das Duett The Boy is Mine auf, das die Allzeit-Nummer-Eins weiblicher Duette in der US-Chart100

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Geschichte wurde und über drei Millionen Exemplare verkaufe (Brandy/Monica ). Ihrer Plattenfirma zufolge ist Brandys Lieblingsmusikerin Whitney Houston, ihr Lieblingstänzer Michael Jackson. Es mag ein Zufall sein, dass der Vorname des folgenden populärsten weiblichen Teenstars ähnlich klingt, doch ist es mit Sicherheit kein Zufall, dass sich beide mit den gleichen Ikonen identifizieren. Die -jährige Britney Spears veröffentlichte im Jänner  ihr erstes Album ; von … Baby One More Time (Spears ) waren bald mehr als zwölf Millionen Exemplare verkauft. Der Klon Oops … I Did it Again im März  war nicht weniger erfolgreich (Spears ). Wie Brandy verehrte auch Britney Whitney Houston und Michael Jackson sowie Mariah Carey, die vielfach als Whitney der er-Jahre bezeichnet wurde. In vielerlei Hinsicht war Britney die »weiße« Version von Brandy : eine blondes Mädchen mit einem Vokal- und Tanzrepertoire, das »schwarz« konnotiert war. Retrospektiv betrachtet löste der Erfolg des ehemaligen Kinderstars der DisneyTV-Serie The Mickey Mouse Club eine Lawine an jungen Blondinen aus, die Einflüsse aus der afro-amerikanischen Kultur in weiße Schönheitsnormen gossen. Im August  erklomm der Hit Genie in a Bottle die Spitze der Pop-Charts, die -jährige Christina Aguilera verkaufte in der Folge mehr als sechs Millionen Exemplare ihres Albums (Aguilera ). Während Spears und Aguilera sich am Imagerepertoire des altbewährten Lolita-Spiels bedienten, präsentierte Jessica Simpson, ein anscheinend gutes, christlich erzogenes Mädchen aus Texas, im selben Jahr eine besonders raffiniert inszenierte Assimilation von Rhythm & Blues (R&B) : Die präsentierte Leidenschaft der ehemaligen Cheerleaderin wirkte künstlich überzogen, blank und ohne affektive Investition. Ihre Performances erinnerten an eine natural-born Drag Queen, ihre manirierten Gesten wirkten eigenartig vergrößert, wie vom Stroboskop sezierte Bestandteile einer hyperbolisch inszenierten Weiblichkeit. Simpsons Plattenfirma beschrieb das auf der Website allerdings mit anderen Worten : »In an era of pre-fabricated wind-up divas, she is refreshingly honest, remarkably focused and positive, and true to her self, her beliefs and her heart« (Columbia Records )⁵. Diese Beschreibung war bezeichnend, da sie Simpson auf subtile Art über ihre Differenz zu den »anderen« zu definieren versuchte. Diese Identifizierung verdeutlichte, was letztendlich alle Teen-Performances begründet : dass die Inszenierungen der Teengirls auf einem »konstitutiven Außen« gründeten, einem differenzierten und verschobenen anderen, auf dem die Identität der guten Mädchen aufgebaut werden konnte. In den er-Jahren galt Mary J. Blige als die perfekte Personifizierung einer Soul-Diva. Ihr war es gelungen, sich von ihrem Image der Ghetto Queen zu distanzieren, ihre Persona vereinte die Stärken von Aretha Franklin und Whitney 101

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Houston in einer voll entfalteten Diva, die ein menschliches Gesicht und eine Geschichte hatte. Blige befand sich oft in Begleitung von zwei »kleineren« Divas, Berühmtheiten im Überlappungsfeld des Musik- und Modebereichs : Lil’ Kim und Foxy Brown präsentierten das Spektakel der Weiblichkeit mit Vorliebe in Pelzmänteln und Federboas. Sowohl vom hetero- als auch vom homosexuellen Publikum verehrt, reinszenierte Lil’ Kim das Konzept einer übertrieben in Szene gesetzten sexy cat (Lil’ Kim ). Diese Inszenierungen von Spears, Aguilera oder auch Simpson machten deutlich, dass sich diese Teenagekultur der späten er-Jahre an einem Prozess der selektiven Mimikry beteiligte : Während ihre Performances eine Verlängerung des Gesangs- und Tanzrepertoires der schwarzen Popkultur suggerierten (Michael Jackson, Whitney Houston etc.), betonten sie gleichzeitig die Reinheit des blonden Mädchens. Im Gegensatz zu den sexuell expliziten Hip-Hop-Inszenierungen von Lil’ Kim, Foxy Brown, MC Lyte, »TLC« oder »Salt ’n’ Pepa« suggerierten ihre Performances wholesomeness, d. h. Ganzheit und Unschuldigkeit. Indem sie jegliche Assoziation mit badness zurückwiesen, differenzierten sie ihre Identität zudem an einer weiteren Front : Sie grenzten sich von den PunkrockGrrrls der er-Jahre ab, die einst versuchten, die im Rock ’n’ Roll populäre Gleichung von badness und Männlichkeit herauszufordern, indem sie ihre eigene, sexuell definierte Rebellion bestätigten (Baldauf , –). Die Persona der Teenstars der späten er-Jahre war nicht die einer Hure oder einer Schlampe, sondern die einer Jungfrau, des Good Girls. Die neuen Teenstars präsentierten weniger eine ironische Handhabung von Weiblichkeit als deren Hypersimulation : Noch mehr Frau als andere Frauen verkörperten sie die Phantasmagorie der heterosexuellen Weiblichkeit, die durch ihr junges Alter und ihre symbolische Jungfräulichkeit verstärkt wurde. Bühnen und Covers von Teenund Erwachsenenmagazinen stellten ihre Reinheit aus. Die betonte Maniriertheit und sichtbare Künstlichkeit ihres Stils war das Produkt einer gestörten »Technologie des Geschlechts« (de Lauretis ), die aufgrund diverser Reibungen im Verhältnis zwischen race und Geschlecht in ihrer Aufgabe zur Naturalisierung von Geschlecht versagte : Auf der einen Seite wiesen die jungen Frauen kontinuierlich die Bezugspunkte ihrer Performances aus – schwarzer Pop, der selbst in Soul- und Gospelmusik wurzelt –, auf der anderen Seite wehrten sie jegliche Assoziation mit badness ab. Da jedoch im aktuellen US-Kontext Referenzen auf afro-amerikanische Kultur unausweichlich auch Bilder der (Hyper-)Sexualisierung evozieren, oszillierten die Sprechakte der Good White Girls zwischen Hyper- und Entsexualisierung. Diese Überdetermination war auch die Ursache, weshalb die Performances von Britney, Christina und Jessica entgegen ihrer Intention, Reinheit 102

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Abb.  : Riot Grrrl World

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und Natürlichkeit zu kommunizieren, fabriziert und überzogen wirkten. Denn die komplexe Verschränkung von race und Geschlecht, was Gayle Rubin mit »the traffic in women« beschrieb, bedingte, dass ihre exzessive Weiblichkeit geradezu prothetisch aussah, fast wie ein special effect (Rubin , –). Die Verbreitung der Good Girls war also weder ein frei schwebendes Phänomen noch bloßes Indiz für einen Backlash gegenüber Frauen. Hatten die Bad Girls im Hip-Hop und Punkrock ihre Identitäten über eine Positionierung als being bad konstruiert, bauten die folgenden Teenstars auf die Betonung des Wahren und Guten. Der Unterschied war nicht ein qualitativer, sondern ein quantitativer : Das Pendel schwang von einer Seite zur anderen – von der kathartischen Veröffentlichung des Privaten hin zur puritanischen Zurückhaltung. Sexualität blieb der zentrale Maßstab, an dem die Mädchen gemessen wurden. Und es war auch jener Maßstab, der in den folgenden Jahren einige dieser Mädchen, so wissen wir heute, medial ausgeschlachtet zu Fall bringen sollte.

McRobbie und ihre Theorie des populären Feminismus Im Kontext von Cultural Studies beschäftigt sich die britische Soziologin Angela McRobbie seit mehr als dreißig Jahren mit dem Phänomen Mädchenkultur. Bereits in den er-Jahren hatte McRobbie auf eine grundlegende Verschiebung innerhalb mädchenkultureller Zeitungen hingewiesen : In ihrem Vergleich zwischen Jackie, einer Mädchenzeitschrift der er-Jahre, und Just Seventeen, einer Mädchenzeitschrift der er-Jahre, kontrastierte McRobbie den romantischen Individualismus von Jackie – da standen das Mädchen und ihr Märchenprinz im Zentrum – mit den zelebrierten hedonistischen Vergnügen von Pop, Mode und Musik in Just Seventeen. Mit Verweis auf die Fluidität hegemonialer Weiblichkeitsbilder und -ideologien diagnostizierte McRobbie optimistisch eine dramatische »Ent-fixierung« der Biografien junger Frauen in England und sah darin einen Indikator der Aufweichung und Umformulierung vorherrschender Definitionen von Weiblichkeit (McRobbie , ). Im Pop sah McRobbie immer eine produktive Kraft – das bestätigte letztendlich auch ihre Analyse der Girl Culture der er-Jahre : In den Texten der Girlbands und auf den Seiten der nun sexuell expliziten Mädchenzeitschriften und Zines ortete McRobbie Mitte der er-Jahre die Manifestation eines »populären Feminismus«, welcher Selbstbehauptung, Kontrolle und den Genuss von Sex für sich in Anspruch nahm und sich über diese frivole Mischung aus Kommerz und Sex von der Generation der feministischen Mütter abgrenzte. Vor dem Hin104

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tergrund der von der Labour Party initiierten Wiederaufwertung traditioneller Familienwerte las McRobbie den betonten Hedonismus als Zeichen einer »tiefer greifende(n) Bewusstseinsveränderung«. Die »Semi-Struktur von Gefühlen«, kommentierte sie in Anlehnung an Raymond Williams, »ist ein sicheres Zeichen dafür, dass eine tief greifende und offensichtlich unwiderrufbare breite Veränderung im Gange ist. Diese findet in der Konsumkultur junger Menschen ihren symbolischen Ausdruck – und speziell in der Kultur junger Frauen« (McRobbie , ). Es ist eine von McRobbies beeindruckenden Stärken, dass sie ihre Arbeit kontinuierlich an den Schwächen ihrer vorangegangenen Interpretationen wachsen lässt (Baldauf , –).  revidierte McRobbie die, wie sie meinte, voreiligen Schlüsse, die sie aus der Integration feministischer Themen in die Mainstream-Medien gezogen hatte. In ihren frühen Studien, betonte sie, hätte ihr Interesse an der Repräsentation von Mädchen ihren Blick auf jene symbolische Gewalt gelenkt, die dazu eingesetzt wurde, Mädchen als passive, konformistische Opfer einer romantischen Ideologie darzustellen. Als populäre Medien begannen, die feministischen Topoi der neuen, auch ökonomisch definierten Unabhängigkeit in ihre Narrationen einzubauen, begrüßte sie die befreienden Potenziale dieses populären Feminismus. Aber, so schloss McRobbie aus retrospektiver Sicht, ein weniger aus der Perspektive des schwärmerischen Fans verfasster und mehr von Foucault inspirierter Ansatz hätte ihr Augenmerk auf jene Machtverhältnisse gelenkt, die die Bedingtheit der antizipierten weiblichen Freiheiten deutlich gemacht hätten (McRobbie , – und , –). Mit Verweis auf konkrete popkulturelle Manifestationen argumentierte McRobbie in der Folge, dass die Berücksichtigung des Feminismus (»taking account of«) in populären Medien- und Warenzusammenhängen primär der Wiedereinschreibung geschlechtshierarchischer Konzepte und Unterordnungen diente und damit letztendlich das Ziel einer Annullierung des Feminismus (»undoing feminism«) verfolgte. Mit meist ironischem Augenzwinkern bedienen sich die Medien der Bausteine feministischer Erzählungen : Sie beschwören die »Ethik der Freiheit« und konstruieren damit eine Geschichte, die letztendlich dazu eingesetzt wird, den Anachronismus dieser Ideenwelt deutlich zu machen. TV-Serien wie Sex and the City greifen nach Ansicht von McRobbie aktuelle feministische Debatten auf : Sie wissen um die von Feministinnen wie Judith Butler (, ) oder Judith Halberstam () diskutierten Definitionen von Weiblichkeit als Konstruktion und Geschlecht als instabile und in der Entstehung befindliche Kategorie. Aber am Ende der Erzählung werden die Geschlechterinszenierungen immer wieder auf altbekannte Weise im abgesicherten 105

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Kontext weißer, normierter Heterosexualität und den exzessiven Vergnügungen des Shopping verortet. So ist Carries Präsentation des Korsetts eine anscheinend augenzwinkernde Wiederaneignung eines Instruments der Unterdrückung, aber eben auch eines für den Großteil der Bevölkerung nicht erschwinglichen Konsumartikels. Ähnlich, nur sadistischer, operiert nach Ansicht von McRobbie das Geschlechterregime von Komödien wie The Diaries of Bridget Jones () : Hier bezahlt die Protagonistin ihre feministische Sozialisation mit sozialer Ächtung und einer endlosen Serie an deprimierenden, verkaterten Sonntagen (McRobbie , –). McRobbies Interpretation zufolge beruht die Instrumentalisierung des Feminismus durch die Medien- und Warenwelt auf einer doppelten Verschränkung (»double entanglement«) : In der postfeministischen Epoche sind die Ideen und Forderungen des Feminismus zwar Bestandteil des Common Sense, d. h. allgemein bekannt und lesbar, sie sind aber eindeutig negativ konnotiert und werden bitter verschmäht. In Erzählungen wie The Diaries of Bridget Jones werden sie regelrecht gehasst. Angesichts dieser Konstellation greifen jene feministischen Analysen zu kurz, die die Versprechungen der Medien- und Warenwelt rezitieren und Freiheit und Macht euphorisch abfeiern. Unangebracht sind aber auch jene Analysen, die nostalgisch verklärt auf die Zweite Frauenbewegung zurückblicken und aus der Perspektive der moralischen Überlegenheit jungen Frauen und ihrem Interesse an Popkultur jeglichen Raum zur Artikulation neuer feministischer Positionen absprechen. Diesem aufgeladenen Konflikt kann, so argumentiert McRobbie, mit einer fundierten Kapitalismuskritik begegnet werden, die die Instrumentalisierung des Feminismus als Ressource der Innovation und Dynamisierung der Konsumkultur kritisch beleuchtet und die verhängnisvollen Verheißungen der Konsumwelt in den Alltag sozialer Polarisierung und Disziplinierung stellt.

Anmerkungen  



Ein Großteil der folgenden Überlegungen entstand im Zuge der engen Zusammenarbeit mit Katharina Weingartner Ende der er-Jahre : Thanks. Feministische Geschichtsschreibungen unterscheiden traditionell drei Frauenbewegungen : Die Erste Frauenbewegung Anfang des . Jahrhunderts mit der Forderung nach Wahlrecht, dem Recht auf Erwerbsarbeit und Bildung, die Zweite Frauenbewegung im Kontext der gesellschaftlichen Umbrüche um  und die Dritte Frauenbewegåung als Reaktion auf den weit verbreiteten Antifeminismus der er-Jahre. Zines (Abkürung für Fanzine) sind Zeitschriften, die nach dem Do-it-yourself-Prinzip von meist

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Einzelpersonen verfasst, in kleiner Auflage herausgegeben und dann an andere Fans weitergegeben werden (Baldauf/Weingartner , –). Die kopierten und meist geklammerten Hefte stellten innerhalb der Girl Culture ein wichtiges Kommunikationsmedium dar : In Anlehnung an das von der Zweiten Frauenbewegung entworfene Diktum »Das Private ist politisch« verfolgten hier junge Frauen oft die kathartische Veröffentlichung des dezent Privaten : Sie beschrieben ihre Erfahrungen und präsentierten, zumindest punktuell, ihre Kritik an gesellschaftlichen Bedingungen. So waren Zines sowohl ein Instrument als auch ein Ausdruck feministischer Politik (Kailer/ Biermann , Gottlieb/Wald , Erharter/Zobel , –). Der Text lautet übersetzt : »Wir stehen hinter *Judith Butler*. Sie ist fantastisch und irrsinnig gescheit. Ihre Bücher Gender Trouble und Bodies that Matter sind das theoretische Fundament der Queer-Bewegung. Sie hat sich unserer Bewegung angenähert, mit dem Begriff Geschlecht auseinandergesetzt und ist zur Überzeugung gekommen, dass zwischen biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender) unterschieden werden muss. Die meisten glauben, dass es dasselbe ist. Sie glauben außerdem, dass es nur zwei Geschlechter gibt – ♂/♀– schwarz/weiß. Sie glauben sogar, dass die sozialen Eigenschaften abhängig sind davon, ob sie einen Penis oder eine Vagina haben. so ist es nicht. Danke Judith Butler, du hast es der Welt gezeigt !« Übersetzung aus dem Norwegischen : Petra Weissberg Zit. in www.sonicnet.com, Zugriff Oktober 

Literatur Anette Baldauf (), »Good White Girls. Weiblichkeit als Spektakel«, in : Rosa Reisamer, Rupert Weinzierl (Hg.), Female Consequences. Wien, – Anette Baldauf (), »Angela McRobbie : Mädchenkultur und Kreativwirtschaft«, in : Andreas Hepp, Friedrich Krotz, Tanja Thomas (Hg.), Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden, – Anette Baldauf, Katharina Weingartner (), Lips. Tits. Hits Power ? Feminismus und Popkultur. Wien/Bozen Judith Butler (), Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York/London Judith Butler (), Bodies That Matter : On the Discursive Limits of »Sex«. New York/London Katherine Dieckmann (), »Courtney Love«, in : Barbara O’Dair (Hg.), Rolling Stone Book of Women in Rock. New York, – Christiane Erharter, Elke Zobl (), »Mehr als die Summe der einzelnen Teile«, in : Rosa Reitsamer, Rupert Weinzierl, Female Consequences. Wien, – Marnina Gonick (), »Between ‹Girl Power’ and ‹Reviving Ophelia’: Constituting the Neoliberal Girl Subject«, in : NWSA / (Sommer ), – Joanne Gottlieb, Gayle Wald (), »Smells Like Teen Spirit. Riot Grrrls, Revolution und Frauen im Independent Rock«, in : Cornelia Eichhorn, Sabine Grimm (Hg.), Gender Killer. Texte zu Feminismus und Politik. Berlin/Amsterdam, – Karen Green, Tristan Taormino (Hg.) (), A Girl’s Guide to Taking Over The World. New York Sabine Grimm, Juliane Rebentisch (), »Befreiungsnormen. Feministische Theorie und sexuelle Politik«, in : Texte zur Kunst , November, – Lawrence Grossberg (), We gotta get out of this place. Popular conservatism and postmodern culture. New York/London

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Anette Baldauf

Judith Halberstam (), Female Masculinity. Durham Katja Kailer, Anja Bierbaum (), Girlism. Feminismus zwischen Subversion und Ausverkauf. Berlin Marcelle Karp, Debbie Stoller (Hg.) (), The Bust Guide to New Girl Order. New York Jutta Koether (), »Girlism«, in : Spex /, – Liz Kotz (), »The Body you want«, in : Artforum, November, – Teresa de Lauretis (), Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction. Bloomington Angela McRobbie (), Postmodernism and Popular Culture. London Angela McRobbie (), »Muskelpakete und Schwänze«, in : Anette Baldauf, Katharina Weingartner (Hg.), Lips, Tits, Hits and Power ? Feminismus und Popkultur. Wien/Bozen, – (ursprünglich veröffentlicht in : Soundings : A Journal on Culture & Politics (Spring ), –) Angela McRobbie (), »Feminism and the Third Way«, in : Feminist Review , – Angela McRobbie (), »Postfeminism and Popular Culture«, in : Feminist Media Studies /, –  Angela McRobbie (), »Young Women and Consumer Culture«, in : Cultural Studies /, –  Camille Paglia (), Sex, Art, and American Culture. London Simon Reynolds, Joy Press (), The Sex Revolts. Gender, Rebellion and Rock ’n’ Roll. Cambridge, – Tricia Rose (), Black Noise : Rap Music and Black Culture in Contemporary America. Hanover, NH Gayle Rubin (), »The Traffic in Women : Notes on the ‹Political Economy’ of Sex«, in : Rayna Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women. New York, – Debbie Stoller (), »Love Letter«, in : Anette Baldauf, Katharina Weingartner (Hg.), Lips. Tits. Hits. Power ? Feminismus und Popkultur. Wien/Bozen, –.

Songs, Singles und Alben Christina Aguilera (), Genie in a Bottle (RCA Records) Babes in Toyland (), Spanking Machine (Restless Records) Brandy/Monica (), »The Boy is Mine«, in : Brandy, Never Say Never (Atlantic Records) P. J. Harvey (), Rid of Me (Island) Hole (), »Teenage Whore«, in : dies., Pretty on the Inside (Caroline Records) Hole (), Live Through This (DGC Records) L (), Bricks Are Heavy (Reprise/Wea) Lil’ Kim (), Hard-Core (Big Beat Records) Lunachicks (), Binge & Purge (Safe House) Salt ’n’ Pepa (), Ain’t Nuthin’ but a She Thing (London Records) Liz Phair (), Exile in Guyville (Matador) Britney Spears (), … Baby One More Time ( Jive) Britney Spears (), Oops … I Did it Again (Sony Music)

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Bratmobile (), Pottymouth (Kill Rock Stars) Tribe  Fist City (), Alternative Tentacles Team Dresch (), Personal Best (Chainsaw Records)  Year Bitch (), Sick ‹Em (C/Z Records) Spice Girls (), Wannabe (Virgin Records)

Bildmaterial Das in diesem Text verwendete Bildmaterial sind Riot-Grrrls-Zeichnungen aus den er-Jahren, Ort des Auffindens : öffentliche Räume und das Internet. An dieser Stelle ein Danke an die anonymen Künstlerinnen, die diese Zeichnungen geschaffen haben.

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Susanne Granzer

Die Güte der Frauen Gender-Pirouetten

Vor-Spiel Die Güte der Frauen. Warum ausgerechnet Güte in Verbindung mit Frauen als Thema eines Beitrags zu »Innovationen und Traditionen. Gender Studies« wählen ? Da zuckt so manche/r unwillkürlich zusammen. Warum inmitten feministisch, poststrukturalistischen Zeiten den Verdacht eines Gender-Backlash riskieren, provozieren, evozieren ? Aus Konservatismus ? Aus Ironie ? Aus Dummheit ? Der rebellisch gewordene feminine Geist hat sich über die Jahre hin, in meiner eigenen Biographie¹, mit der Figur der Schauspielerin gepaart. Beide wollen sich keinen Autoritäten mehr beugen, die die Spielregeln der Kreativität verletzen könnten. Das heißt in anderen Worten, sie wollen sich keinen Vor-Schriften beugen, die das Gesetz möglicher Zukunft unterbinden könnten. So ist es beiden fast unmöglich geworden, Vorgaben einfach zu referieren, sie einfach zu wiederholen. Das ist mit Widerstand besetzt. Es geht ihnen wider den Strich. Es sträubt sich ihnen der Sinn. Eine Katze, der man das Fell gegen seine Richtung streicht, wird rasch vom Schoß springen und das Weite suchen. Der Sprung vom Schoß, das Suchen der Weite, der Akt der Freiheit kann als der Akt differenzieller Wiederholung charakterisiert werden. Alles differenzielle Wiederholen macht sich aus dem gesicherten, festgeschriebenen Ort auf und davon und überschreibt dabei notgedrungen alte und neue Markierungen. L’actrice et la femme wenden sich daher gegen alles, das einengend zum feministischen Auftrag ihres Geschlechts und einengend zum performativen Auftrag ihrer Kunst wirken könnte. Also gegen alles, was Kreativität hemmt, behindert, verhindert, einsperrt, zur Zucht mahnt, und so kann keine Rücksicht auf Gebote oder Verbote von Wörtern genommen werden, die das »falsche« oder das »richtige« Signal senden, weil sie zurzeit so oder so markiert sind. Kein Diskurs besitzt ewiges Copyright. Auf ihre Art emanzipationshörig hat sich die doppelt weibliche Gestalt² dem perspektivischen Charakter³ des Denkens und Schreibens und Spielens verspro111

Susanne Granzer

chen. Natürlich immer auf dem Humus der Archive des bereits Gewesenen, des geschichtlich Gewachsenen. Aber primär sind ihr die Potenzen und Möglichkeiten im Sinn und daher das Weiterschreiben der Geschichte der Frauen und ihrer besonderen Qualitäten. Das ist mit ihrem Begehren besetzt. Daher lockt der unzensurierte, sublime, erotische Charakter einer Aus-ein-ander-setzung mit einem unzeitgemäßen Thema wie die Güte der Frauen und er verlockt in den Sprachspielcharakter der Sprache. »Es gibt da eine Maschine, eine Textmaschine, […] welche die Wörter auf der Ebene des Spiels des Signifikanten bewohnt ; der Signifikant löst […] das reflexive und dialektische Modell auf.«⁴ Das freie Kombinieren und Aufpropfen der Signifikanten zu zensurieren, hieße sie ihrer Zukunft berauben, hieße, ihren performativen Charakter unterbinden. Aber das Performative eines Textes will gerade dem definitiv Begrifflichen einen Riss zufügen, will es durchreißen, porös machen, dass es unter die Haut geht, dass es widersprüchlich wird, zum Widerspruch reizt, dass es das Unvorhergesehene, das Unvorhersehbare zulässt. Es aufführt. Hat nicht jede Aufführung generell amourösen Charakter ? Ist sie nicht erotisch, begehrlich, kupplerisch ? Ein geglückter performativer Akt ist immer eine Kopulation, eine Kopula⁵, ein Band, ein Bund, eine Amour fou. Eine Amour four hat kein Feigenblatt. Sie ist lüstern und ungeniert. Verdächtigt man sie, aus Konservatismus Güte mit Frauen zu kombinieren, raunt sie in das Ohr des Lesers und der Leserin : »Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt : das ist mein ›böser Blick‹ für diese Welt, das ist auch mein ›böses Ohr‹.«⁶ So Nietzsche in seinem Buch Götzen-Dämmerung. – – – Zum Verdacht der Dummheit gibt Nietzsche den Hörer, die Hörerin an eine Weggefährtin Judith Butlers aus Berkeley weiter, an die New Yorker Feministin Avital Ronell und an ihr Buch Stupidity : »Die Dummen sind nicht in der Lage, Brüche zu vollziehen oder Abbrüche ; sie sind zudem auf einem bestimmten rhetorischen Niveau gehemmt, denn sie können nicht mit grammatischen Lücken oder metonymischer Diskontinuität umgehen. Sie sind nicht fähig, allegorisch Bezug zu nehmen oder die Verzögerung zu begrüßen.«⁷ Sie würden sich alleine innerhalb der Parameter sanktionierter »Religionen« bewegen. Allerdings begnügt sich Stupidity mit diesem »bösen Blick«, mit diesem »bösen Ohr« nicht. Die Dummheit macht eine Kehre. Sie erfährt einen radikal affirmativen Umschlag, wenn es da heißt : »Dummheit ist etwas, an dem wir alle teilhaben ; die kapitale Anlage, an der wir existenziell alle beteiligt sind – aufgetürmt auf dem Abgrund unserer Urteilskraft.«⁸ Ob daher nicht die Dummheit (französisch »bêtise«, in der Folge »bête«, Dummkopf, Tier, Bestie), »die ›Bestie‹ Dummheit der abgründige Schoß unseres 112

Die Güte der Frauen

Denkens ist ?«⁹ – – – Bleibt zuletzt die Frage nach der Ironie offen. Ob die Wortkombination Die Güte der Frauen vielleicht ironisch zu lesen wäre. – O ja. Dosiert, in feinen Dosen ist Ironie immer willkommen. Sie hält den Ernst im Spiel. – – – Mit Spiel fällt das rechte Stichwort im rechten Zeitpunkt. – – – Es hat schon dreimal zum Beginn der Vorstellung geläutet. – – – Rasch noch einen Blick in das Programmheft, wer aller mitspielt. Aha. Da stehen neben den Hauptrollen der im Text auftretenden Figuren jede Menge weiblicher Stereotypen und Klischees. Die drängen und drängeln bereits hinter dem Vorhang hervor.

. Akt : Auftritt der Stereotypen und Klischees Ewig lockt das Weib. Eva und der Apfel. Paris und der Apfel. Die Qual der Wahl. Das Paradies. Die Sünde. Das durch die Verführung verlorene Paradies. Immer diese Frauen ! Der Gesang der Sirenen. Er lockt die Seefahrer in die Arme des Todes. Lorelei auf ihrem Felsen, ähnlich fatal. Raub der schönsten Frau, Raub der Helena. Zehn Jahre wird der Krieg, um ihrer Gunst willen entbrannt, um Trojas Mauern toben. Venus von Willendorf. Lange ältester Fund weiblicher Fruchtbarkeit. Jüngst getoppt durch einen ähnlichen prähistorischen Fund, . Jahre älter. Beide weiblichen Skulpturen Symbole überquellender Üppigkeit ohne Gesicht. Ein russisches Sprichwort meint folgerichtig : »Ein Mann wird sich doch nicht auf einen Knochen werfen !« Mutter Erde. Die Trapp-Familie. Kaiserin Sissy. Madame Butterflys Liebestod. Madonna. Das Gemälde einer Madonna. Die Skulptur einer Madonna. Ihre Grazie, ihre Anmut. Unergründlich das Lächeln der Mona Lisa. Gesicht der Großmutter mit der »Freundlichkeit am Herzen«¹⁰. Undines messerscharfe Schmerzen in den Beinen. Liebes-Preis der Nixe an den jungen Fischer beim Tausch für ihren Fischschwanz. Unschuld des Herzens. Heilige. Hure. Heilige Hure. Nymphe. Muse. Anima. Vergebender Engel. Das ewig Weibliche zieht uns hinan. Goethe und sein Bettschatz. Schützend stellt sich Christiane Vulpius vor den Dichterfürsten, als plündernde französische Soldaten in das Haus eindringen. Er wird sie nur wenige Tage später, nach  Jahren Zusammenleben, jetzt doch heiraten. Apropos. Im Tanz mit den Klischees ist für das Güte-Siegel der Frau unbedingt noch, in mehrfacher Hinsicht genüsslich, das Wort Köchin unterzubringen. Denn muss nicht ganz mit Wilhelm Busch einig, über die Generationen der Geschlechter hin, gestanden werden : »Jeder Jüngling hat nun mal ’nen Hang fürs Küchenpersonal.« Übrigens hat Wilhelm Busch diesen Spruch mit Die Verführe113

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rin übertitelt. Ergo, Köchin, Küchenmagd, Dienstmädchen, Hausfrau, selbstlose Mutter, Mutter Theresa, Krankenschwester auf Abruf, Nonne mit Flügelhaube im weißen Habit. Mutter Gottes. Szenenwechsel zum Theater. Aus Wien stammend, drängt sich das Tableau der allesamt zu Liebes-Diensten bereiten namenlosen Frauen aus Arthur Schnitzlers einst skandalösem Reigen auf. Im Kreislauf rundum und im Wechsel der Bilder versammeln sich : Die Dirne, das Stubenmädchen, die junge Frau, das süße Mädel, die Schauspielerin und wieder die Dirne. – Zwei Kostproben : »Komm mein schöner Engel«¹¹, so die Dirne zum Soldaten zu Beginn des Stückes. »Strizzi ! Fallott !« wird sie ihm kurz darauf nachschreien, nachdem er sie um ihren Lohn geprellt hat. »Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn«, bedauert wenig später in den dunklen Praterauen das Stubenmädchen in seinen Armen. »A was – G’sicht«¹², ist die lakonische Antwort. Black out. Wie geht es, dramatisch klassisch, weiter ? Von Goethe war schon die Rede. Auf keinen Fall darf in diesem fiktionalen Spiel um Die Güte der Frauen Gretchen aus seinem Faust fehlen ; auch nicht Klärchen aus Egmont, die vergeblich die Bürger zu den Waffen ruft, um ihren Geliebten vor dem sicheren Tod zu retten ; natürlich nicht Luise, die unschuldig den Kabalen des Hofes und der jugendlichen Leichtgläubigkeit Ferdinands zum Opfer fällt ; ebenso wenig das Kleist’sche Käthchen von Heilbronn das, bis zur scheinbaren Tollheit, unbeirrbar in ihrem Lieben, ihrem Hohen Herrn hinterherläuft, bis zu einem irrealen, märchenhaft glücklichen Ende ; fehlen darf bestimmt auch nicht Solveig aus Ibsens Peer Gynt, dem Faust des Nordens. Solveig, die im Warten ein Leben lang Peer Gynt den Weg zum Heimkommen offen hält. Die Skala gütiger Frauen in der Literatur/fiction ist lange. Gegenwärtig ist sie wohl ins Stottern geraten. Ins Abseits. Da wird meistens abgepfiffen. Um das zu vermeiden, könnte man natürlich eine ganz andere »Mannschaft« aufs Spielfeld schicken. Eine mit furchterregenden Frauen, solchen wie Elektra, Medea, Penthesilea, Lady Macbeth bis hin zu Ulrike Maria Stuart. Aber diese Protagonistinnen gehören in einen Text, der aus der Verneinung seine Kraft schöpft, der sich und die anderen mit Schuld und Rache wund und totschlägt. Dieser Text hingegen hat sich der Bejahung verschrieben. Einer Bejahung, die ihr Spiel mit den eigenen Differenzen treibt und nicht mit denen, die sich aus ihrem Gegenteil ergeben. Als wäre zum Beispiel die Güte der Frau bloß das andere Geschlecht zu ihrem Gegenteil, dem Mann. 114

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Worauf das hinauswill ? Soweit es die Grammatik zulässt und mit dem ständigen Risiko, sich zu verschreiben, versucht dieser Text, sich der Dialektik als Negation der Negation, diesem ewigen Ja kontra Nein, zu entziehen. Er versucht, davon abzuweichen. Er hat keine Lust, am Drama der Entgegensetzungen das n-te Mal zu leiden. Schon gar nicht bei Gender-Fragen. Daher ist insgeheim seine Hoffnung, dass in einer Bejahung, die an keine Negation mehr gebunden ist, mitunter die Aura¹³ »femininer Güte« aufblitzt. In ihrer sublimen Qualität könnte sich, vielleicht, ein Zwischenraum öffnen. Ein weißer Fleck, eine unbesetzte Zone. Ein Ausblick/Einblick in ein Niemandsland, das keinem oder allen gehört. In ihm wäre eine Güte oder Generosität wirksam, die ohne Opponieren auskommt und trotzdem nicht in die Falle der Spaltung von Aktivität und Passivität tappt. In ihrem Areal stünden einander das diskursiv-logisch »Männliche« und das affektiv-poetisch »Weibliche« nicht monumental entgegen und wären trotzdem in ihren besonderen Tugenden nicht harmonisierend entkräftet und blass verwischt. Vielmehr wäre im Ereignis gütigen Überflusses alles neuzeitliche Subjekt-Objekt-Gefüge¹⁴ gesprengt. Ohne Kampf, ohne Krampf, ohne Parolen, ohne Fahnenschwingen, ohne Barrikaden. Ohne das alte Gezerre um Herrschaft und Knechtschaft/Magdschaft. Sie hätten sich »entschrieben«. Was das bedeutet ? Man muss der Wortschöpfung Jean-Luc Nancys eher nachhören, als sie begrifflich zu packen versuchen, steht sie doch gerade für das, was sich von Bedeutung entfernt : »Das Entschreiben vollzieht sich im Spiel eines un-bezeichnenden Zwischenraums : dasjenige, das die Wörter stets aufs Neue von ihrem Sinn loslöst und sie ihrem Ausgedehnten überlässt.«¹⁵

In diesem Spiel warten jetzt noch zwei Frauen, exemplarisch, um ihrer besonderen Qualitäten willen, auf ihren Auftritt : Diotima und Ariadne.

. Akt : Diotima und Ariadne Nein, nicht Friedrich Hölderlins, nicht Hyperions Diotima. Auch nicht jene Diotima, in deren (Diskurs-)Salon die berühmte, sinnleere Parallelaktion von Musils Kakanien stattfindet und die in Wahrheit Ermelinda Tuzzi hieß und in Wirklichkeit sogar nur Hermine Tuzzi¹⁶. Sondern Diotima von Mantineia aus Platons Symposion. 115

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Warum Diotima von Mantineia ? Weil ihr der Philosoph Platon im männlichen Sprachreigen des Gastmahls das entscheidende, rechte Wissen über das Wesen des Eros zueignet ? »Die Rede der Diotima schließt Frauen aus der ›richtigen Liebe‹ aus«, schreibt Alice Pechriggl folgerichtig in ihrem Buch über den Eros, und daher sei es dahingestellt, »ob Platon diese Worte einer Frau in den Mund legt, um damit den Ausschluss der Frauen besser zu legitimieren«¹⁷. Allerdings wäre das Rätsel um die Figur der Diotima bisher durch keine der vorliegenden Hypothesen gelöst, und solange ein Rätsel bestünde, gäbe es Lösungsversuche. Auch das wäre ein Nachhall der Struktur des platonischen Eros. Im vorliegenden Testlauf rund um Diotima geht es weder um einen philosophischen noch um einen historisch-kritischen Lösungsversuch. Er versucht sich vielmehr in Pirouetten, in tänzerischen Annäherungen, in angedeuteten theatralen Skizzen. So als müsste der Text szenisch fabuliert und zur Aufführung gebracht werden. Wie in jedem Stück sind dann die Redner des Symposions erstmal im geschriebenen Text verschlüsselt und verborgen. Werden sie aber aufgeführt, gewinnen sie Fleisch und Blut. Sie haben plötzlich diesen oder jenen Körper, dieses oder jenes Gesicht, diese oder jene Stimme. Es wird geblickt und erblickt, es wird agiert und reagiert, es wird gesprochen und geantwortet, die Sätze haben diesen oder jenen Ton und die Mienen der Akteure werden ebenso gut zur Antwort wie ihre Worte und der Ton ihrer Worte. Auf dem Papier ist das alles nicht verzeichnet. Warum es nicht freigemut phantasieren ? Ob nun als Fake oder als Hommage, Platon gibt unvermutet dem Weiblichen in Dingen der Liebe den Vorrang vor dem Männlichen. Ad personam tritt Diotima zwar nicht auf, sondern Sokrates fungiert als ihr Sprachrohr, indem er in seiner Rede über den Eros Diotimas Lehre berichtet. Aber ergibt das nicht eine pikante Vorstellung ? Durch die Maske eines hässlichen Silenen hindurch wird ein schöner weiblicher Mund laut, der alleine um das Daimonische des Eros weiß – als Medium, Mitte, Mittler und Vermittler zwischen Weisheit und Unwissenheit, zwischen Erscheinungen und Ideen, zwischen dem Unsterblichen und dem Sterblichen. Der große Daimon Eros fülle »die Kluft aus, sodass das All in sich verbunden ist«¹⁸. ––– Chora¹⁹, klingt es in der Stille fast unhörbar nach. ––– Diotima entwickelt zunächst Schritt für Schritt, in »männlich« dialektischer Ma116

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nier – where is the problem ? – ihre Lehre. Schließlich kommt sie zum Höhepunkt – o Hymen ! o Logos ! – ihres Wissens. Immer noch spricht der Silen, der Satyr mit der Stimme einer Frau. Es könnten übrigens tatsächlich die Passagen Diotimas mit einer Frauenstimme gesprochen werden. Das ist machbar und wurde schon realisiert. Der Darsteller des Sokrates muss nur lippensynchron seine Worte mit denen der eingespielten Frauenstimme koordinieren. Ein Playback sozusagen. Dann spräche tatsächlich aus dem Körper eines Mannes die Stimme einer Frau. Ergäbe das nicht eine feinsinnige, erotische Verschiebung ? Eine delikate Verwirrung ? Ein Zusatz über die Potenzen des Daimon Eros ? Diotimas Timbre wäre (natürlich) voll und dunkel und bei dem Höhepunkt ihrer Rede durchaus ironisch gefärbt, wenn sie Sokrates durch seine eigene Maske hindurch so anspricht : »In diese erotischen Mysterien kannst vielleicht auch du, Sokrates, eingeführt werden. Die letzten Weihen aber, die höchste Schau, auf die das hinausgeht, wenn einer den richtigen Pfad beschreitet – da weiß ich nicht, ob du dazu fähig bist.«

Dieser kleine Biss war sicher von ihrem anmutigsten Lächeln begleitet. Vielleicht ist sie sogar, um ihre letzten Worte besonders schmackhaft zu machen, abschließend mit ihrem schönen Gesicht sehr nahe an das seine hässliche herangetreten. So nahe, dass der Hauch ihres Atems fast zu einem Kuss wurde, als sie sagte : »Ich will sie [die erotischen Mysterien] nun aber vortragen, […] und es an gutem Willen nicht fehlen lassen. Und du versuche zu folgen, wenn du dazu imstande bist.«²⁰

Cut Wie auch immer. Wie auch immer es gewesen sein könnte. Cut. Das Enigma eines Textes und das Enigma des Femininen bleiben begehrlich vieldeutig und vielstimmig in ihrem erotischen Wechselspiel. Cut. 117

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Fehlt zuletzt noch Ariadne. Die mit den kleinen Ohren. Also des Philosophen Friedrich Nietzsches Ariadne. Ähnlich wie bei dem Namen Diotima soll durch Ariadnes Namen ein bestimmtes Feld in Schwingung versetzt werden. Aber vorerst nicht das tränenreiche Feld einer um den Geliebten (Theseus) klagenden Frau, der sie alleine (auf Naxos) zurückgelassen hat. Sondern ganz im Gegenteil. Ein hochzeitliches, ein dionysisches Feld soll aufgerufen werden. Der Titel von Nietzsches wohl bekanntesten Zeilen über Ariadne lautet zwar ausgerechnet Klage der Ariadne – – – ihr dithyrambischer Ruf ist jedoch ein einziger Aufschrei nach dem Gott Dionysos und sicher keiner nach einem weltlich verlorenen Geliebten. Dionysos wird Ariadnes Ruf folgen. Im Blitz erscheint er : »Sei klug, Ariadne ! …«, wird er zu ihr sprechen, »du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren : / Steck ein kluges Wort hinein ! – / Muss man sich erst hassen, wenn man sich lieben soll ?« – und in gesperrter Schrift steht abschließend : »Ich bin dein Labyrinth …«²¹

Drei Punkte folgen auf das Wort Labyrinth. Also kein Endpunkt, kein Schlusspunkt. Die Interpunktion hebt das Gesagte in die Schwebe. In eine unausgesprochene, unaussprechbare Zukunft ? Stehen diese drei Punkte, die ins Offene führen, steht diese Lücke nicht für die Entführung der Ariadne durch Dionysos ? In welche labyrinthischen Gänge wird er sie entführen und welches Wort soll Ariadne dort sprechen ? Ein kluges Wort soll es sein, eines, das ihnen beiden gleichermaßen in den verwandten Ohren klingt. Was meint das ? »Was willst du, Wegelagerer, von – mir ? …«²², wird Ariadne Dionysos aufgebracht fragen. Dionysos erinnert Ariadne an ihr Jawort, das sie lange schon gegeben hat. Auf ihren Ruf hin verlangt er nun seine Wiederholung. Er ist erschienen für ein Ja, das sich selbst bejaht, für ein Ja, das ihnen beiden entspricht und um dessentwillen sie immer schon hochzeitlich zusammengehören. Dieses Ja entspringt nicht mehr aus Nein. Es ist nicht mehr an seinen Gegensatz gekettet. Es nimmt sich vielmehr aus der Folge von Lieben und Hassen heraus und steht für sich selbst. Ein Ja zum Ja, ein doppeltes Ja ist der Bund zwischen Dionysos und Ariadne, zwischen Ariadne und Dionysos. Das ist der hochzeitliche Ring, den sie sich schenken, und als Zeichen dafür ist zu lesen : »Denn ich liebe dich, o Ewigkeit !«²³.

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Nietzsche spricht nicht oft explizit von Ariadne, und wenn, wenig. Trotzdem nimmt sie, die Frau an der Seite des Dionysos oder/und umgekehrt er, der Mann Dionysos an der Seite Ariadnes, in seinem Denken einen mysteriösen Rang ein. »Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist !«²⁴ In seiner autobiographischen Schrift Ecce Homo, untertitelt mit Wie man wird, was man ist, an der er bis zu seiner Umnachtung arbeitete, nennt Nietzsche den Namen Ariadnes an einer bemerkenswerten, besonderen Stelle. Ariadnes Name verbindet dort gleichsam als Schwelle eine der schönsten und eine der zentralsten Passagen seines Werkes, die er in Ecce Homo, diesem großen Zusammenschrei seines Denkens, noch einmal rekapituliert : Im Abschnitt Also sprach Zarathustra rankt sich um Ariadnes Namen erst sein Nachtlied, »die unsterbliche Klage [Zarathustras], […] verurteilt zu sein, nicht zu lieben«²⁵ – – – und unmittelbar nach dem Nachtlied folgt, dicht auf dicht, der heimlichste und tiefste Gedanke Zarathustras, der Gedanke Von der Erlösung.²⁶ Inmitten dieser beiden Stellen eine Frau. Ariadne. Ein Weib wird umarmt von den Sehnsuchtsworten eines Philosophen. Aber kann das Nachtlied, das Lied eines Liebenden, kann diese Kluft des Einsamsten, wie Nietzsche seinen Zustand nennt, inmitten des erotischen Fluidums der Anrufung einer Frau noch als unüberbrückbar gelesen werden ? Hat nicht Diotima begütigend Eros als den beschrieben, der die Kluft im All ausfüllt, sodass Zwiesprache zwischen den Sterblichen und den Unsterblichen möglich ist ? Ist Dichtung nicht Zwiesprache und Atemwende ? »Nacht ist es : nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. / Nacht ist es : nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. / Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir ; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe. / Licht bin ich : ach, dass ich Nacht wäre ! Aber dies ist meine Einsamkeit, dass ich vom Licht umgürtet bin ! / Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig ! Wie wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen ! […]«²⁷

Unmittelbar nach diesen Zeilen, die vielleicht zu den schönsten deutschsprachiger Dichtung gehören, lässt Nietzsche, gezielt dramaturgisch platziert, Ariadne auftreten. Sie hat den Sehnsuchtsruf seines Nachtlieds gehört, sie folgt ihm, sie kommt. – – – Deshalb schreibt er in Ecce Homo : »Die Antwort auf einen solchen Dithyrambus der Sonnen-Vereinsamung im Lichte wäre Ariadne.«²⁸ 119

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Ariadne. Hingeschrieben, hingedichtet steht sie da – – – inmitten von Nietzsches schönster Dichtung und seinem tiefsten Gedanken, dem doppelten Ja, der großen Affirmation, dem Jasagen bis zur Erlösung auch alles Vergangenen : »Die Vergangenen zu erlösen und alles ›Es war‹ umzuschaffen in ein ›So wollt ich es !‹ – das erst hieße mir Erlösung.«²⁹

Erlösung wäre demnach nicht als christliche Himmelfahrt in ein Jenseits zu lesen. Sie wäre auch nicht das ewig Weibliche, das die faustisch männliche Seele dem Pakt mit dem Teufel letztlich doch noch entreißt und Gott zuführt. Sondern Erlösung hieße Erlösung von der Irreversibilität der Zeit. Ein unerhörter Gedanke.³⁰ Alles Vergangene wäre nicht ein für alle Mal zu Ende. Wir wären nicht ohnmächtig in ein definitiv Abgeschlossenes verdammt. Sondern Vergangenes hätte in alle Zeit hinaus Zukunft, da es ständig wiederholt wird und die Erinnerung nichts Festgeschriebenes ist. Das Vergangene müsste also nicht notwendigerweise widerwillig in immer derselben Schleife traumatisch erinnert werden, sondern es wäre frei, differenziell wiederholt zu werden. Es hätte ad infinitum Potenz neu und weitergeschrieben zu werden. Weitergedichtet. »Und wie ertrüge ich es Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Räthselrather und Erlöser des Zufalls wäre ?« ³¹

Die Bejahung verleiht der Vergangenheit performativen Charakter, sodass sie schwanger mit Zukunft bleibt. In anderen Worten, ihre Bedeutung kann kreativ gewandelt und erlöst werden im großen, generösen Ja. Diese Bejahung ist der Faden im Labyrinth des Daseins, sein Geheimnis, das Ariadne verkörpert.³² Post Scriptum : Ein kleines Nach-Spiel auf der Insel Naxos. In einem jener berühmten Zwiegespräche auf Naxos, die voll von erheiternd, erotisch vorwitziger Stimmung waren, wollte Ariadne einmal von ihrem philosophischen Liebhaber wissen : Ariadne : »Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren ?« Dionysos : »Ich finde eine Art Humor in deinen Ohren.« Ariadne : »Warum sind sie nicht noch länger ?«³³ 120

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An-Stelle einer Pause : Warten Das Liebespaar Ariadne/Theseus steht für eine ganz andere Geschichte. Diese Liebe ist assoziiert mit Unglück, mit Trauer, mit Tränen und vergeblichem Warten. Ariadne, die Tochter des kretischen Königs Minos, hatte dem Griechen Theseus geholfen, das Ungeheuer Minotauros zu töten, dem tödlichen Labyrinth und den Verfolgern von den kretischen Schiffen zu entkommen. Wie versprochen, nimmt Theseus Ariadne auf seiner Flucht mit, lässt sie dann aber auf der Insel Naxos alleine zurück. Einsam wartet sie da unter sehnsüchtigen Klagen auf seine Rückkehr, und der Mythos erzählt, in einer seiner Variationen, dass Ariadne vor Trauer starb. Ja, dass sie aus Trauer Selbstmord beging. Frauenlos ? Frauenschicksal ? Die Idiosynkrasie weiblicher Emanzipation fletscht die Zähne. Medea lässt grüßen und öffnet ihre alte, verschlossene Truhe aus Kolchis. Verbannt auf eine Insel, verbannt in das Pathos des Wartens, verbannt in ein Warten als passives Erleiden zeigt sich für die Liebende als letzter Ausweg aktiven Handelns der freiwillige Tod. Dem Geliebten nachsterben. Um zumindest im Tod als verbliebenem Horizont seiner geglückten Rückgewinnung mit ihm vereint zu sein. Ach ! Alkmenes resignatives Ach, Schlusswort des Kleist’schen Lustspiels, nachdem sie erkennt, welch skrupelloses Liebesverwechslungsspiel der höchste Olympier Jupiter um einer Liebesnacht willen mit ihr getrieben hat. Ein letzter Atemzug, ein Ach, ein Seufzer der Resignation als Antwort auf Leben und Lieben ? Besteht die Odyssee der Frau also tendenziell in einem passiven Erleiden von Welt, die ihr Glück gewährt oder verweigert ? Im Gegensatz zur Odyssee des Mannes, der in aktiver Irrfahrt durch die Weite der Welt sein Glück selbst zu bestimmen sucht ? Damit wäre das sensitive Terrain des Dispositivs »Opfer« betreten, das Welt und Lieben nicht anders als ohnmächtig zu erfahren vermag. Machtlos darauf wartend, was geschehen wird. Ergo Warten als eine Form des Pathos von Handlungsunfähigkeit. Warten als Mangel. Warten als Ermangelung an Möglichkeiten, aktiv in das eigene Schicksal eingreifen und den Gang des Lebens mitbestimmen zu können. Ariadnes Eiland könnte dafür als passende Metapher gelesen werden : auf einer Insel vom Festland isoliert, in die Einsamkeit verbannt, vom Meer als einer Art Kerkermauer umgeben, die sie nicht sprengen, die sie nicht selbstständig über121

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winden kann. Da sitzt sie nun an ihrem Spinnrad, eine wartende Frau, spinnt Wollfaden um Wollfaden, kann nicht vor, kann nicht zurück, kann nichts anderes tun als warten, hilflos abwarten, was auf sie zukommen wird. Ein Warten, das sie verdüstert, weil es nicht endet. Ein Warten ohne Aussicht, das ihr alle Freude am Leben nimmt. Ein Warten, aus dem sie nur der Geliebte befreien könnte. Ergibt diese Skizze nicht immer noch, wenn auch widerwillig, quasi automatisch wider Willen, eine Figur, die vertraut klingt, weil wir sie verinnerlicht haben und weil unsere erste Natur³⁴ sich spontan innerhalb der beschriebenen weiblichen Festschreibung auskennt, da wir noch keine zweite, relevante Natur stabilisiert haben ? Ist eine wartende Frau deswegen nicht noch immer ein Klassiker, der sich durch Mythos, Literatur, Gazetten, TV, Schundromane wie Leben zieht ? Sie wartet zu Hause auf die Rückkehr des Geliebten, bis er heimkommt. Heim von der Arbeit, den Geschäften, den Geschäftsessen, den Geschäftsreisen. Heim von der anderen. Heim vom Krieg. Heim von welch immer gearteter Odyssee, die das Fürchten lehrt. Was würde passieren, wenn man, bloß so zum Spiel, die Geschlechter in der Geschichte Ariadne/Theseus umkehrte und den Platz der wartenden Frau mit einem wartenden Mann besetzte ? Also Theseus wird von Ariadne alleine und »hilflos« zurückgelassen. In Zeiten von geschichtlich werdender und schon geschichtlich gewordener Rekontextualisierung der Geschlechter erscheint es müßig, ein solches Spiel zu treiben. Warum überhaupt die alte Schleife der Klischees immer wieder aufrollen ? Die Emanzipation der Frauen ist weltweit in Bewegung geraten und zu einem der großen Themen der Moderne geworden. Sie reicht vom Öffentlichen bis ins Private. Sie reicht von philosophisch-feministischer Literatur wie der von Luce Irigaray, Hélène Cixous und Judith Butler bis hin zu politischen Maßnahmen unter dem Stichwort Frauenquote ; sie reicht von grammatikalischen Vorgaben als Gender-gerechter Schreibweise bis hin zur Trivialität von TV-Serien. Weibliche Kommissare haben in den beliebten Abend-Krimis die männliche Domäne dieses Genres abgelöst und amerikanische Serien à la Xenia, deren Super-Heldin ein weiblicher Siegfried sein könnte, haben Kultstatus. Also – was soll ein Spiel mit dem Tausch der Plätze von Theseus und Ariadne ? Zum einen macht es theatralischen Gemütern Vergnügen, sich auszumalen, wie das gewesen wäre, wenn … Ein Vergnügen, das, zugegeben, nicht weiblicher Güte 122

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entspringt, sondern der Lust an der Travestie eingefleischter Seh- und Denkmuster, der Lust am Kippen von Normen. Außerdem eignet dem Spiel immer auch ein unvorhersehbares Extra, das sich ungefragt einmischt. Dieses Extra weicht von der Skala des schon vorher Gewussten ab und zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht vorgestellt, nicht berechnet, nicht kalkuliert werden kann. Ein Surplus, das sich mit einem Mal spielerisch ergibt. Ein plus esse, das sich unerwartet schenkt. Das Risiko der Überraschung dieses Extras kann allerdings auch darin bestehen, dass man sich plötzlich selbst am Schlafittchen gepackt fühlt. Zum Beispiel war beim Vorschlag, Was würde passieren, wenn man die Geschlechter in Ariadnes Geschichte umkehrte und ihren Platz mit einem wartenden Mann besetzte ? Also Theseus wird von Ariadne alleine und »hilflos« zurückgelassen, eine interessante Beobachtung zu machen. Beim Tippen des Wortes hilflos in die Tasten des Computers meldeten sich wie von selbst Anführungsstriche, die dazugeschrieben werden wollten. Zum eigenen Erstaunen erzeugte offensichtlich das Wort hilflos in der Kombination mit dem Mann einen leisen Widerstand und verlangte quasi automatisch, von sich aus, relativiert, also entkräftet zu werden. Während sich Zeilen vorher, in der Kombination mit der Frau, dieser Widerstand nicht regte. Was sagt man dazu ? Was man sagt, wissen wir nicht, aber was sie, die Schreibende sagt : Diese niedergeschriebene Beobachtung über zwei Gänsefüßchen dreht eine kleine, grazile Pirouette um Nietzsches Worte von der ersten Natur, von der er uns zu verstehen gibt : »[…] da wir nun einmal Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen ; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen.«³⁵

Zwar selbst erwischt, aber ohne jede Spur von schlechtem Gewissen, ebbt die Lust am Spiel nicht ab. Sie treibt den Platztausch zwischen Mann und Frau weiter, zieht den Kreisel der Frage nach der Rolle der Geschlechter und somit auch nach der Güte der Frauen auf, bis sie so richtig in Schwung kommt, lässt sie hüpfen, lässt sie tanzen – kreisum rundherum, kreisum rundherum, die Welt ist rund –, bis der kreiselnden Frage ganz übermütig zu Mute wird und sie ausgelassen einen extra Hüpfer³⁶ macht, aus der Bahn springt, die Logik der Gegensätze verlässt und in völlig anderes Terrain gerät. Trunken vom Tanz hopst und taumelt 123

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sie noch ein wenig vor sich hin – ein bunter Drehkreisel eines Denkens, das ausläuft –, bis sie schließlich zur Ruhe kommt und Stille eintritt.

. Akt : Incipit silentium Silentium bedeutet Schweigen, Stillschweigen, Stillstand, Ruhe, schließlich auch Muße. – Nietzsches Ariadne spitzt ihre kleinen Ohren, was da in der Stille, in der Gunst der Stunde nicht auf Gänsefüßchen, sondern auf Taubenfüßchen daherkommt. Das Un-Erhörte ? Horchend wartet sie. Zuallererst Stille. Nichts als Stille. Sie ist frei vom Lärm, frei von der Schwere des Alltäglichen, schwebend, voll Leichtigkeit, voll von beflügelnder Fruchtbarkeit. Es ist eine wohlwollende, begütigende Zeit. Die Labyrinthe der Irrtümer, die so gerne mit Schuld und Beschuldigung arbeiten, verlieren ihre Rachsucht, und die Antagonismen, deren Sackgassen so schnell in Wut und Angst versetzen, treten aus dem Schema ihrer destruktiven Konkurrenz. In der Muße schweigt die Dynamik der Psyche. Keine Nebenbuhlerschaft treibt sie mehr um, der quälende Widerstreit der Differenzen ist verflogen. Im Gegenteil. Die Differenzen werden attraktiv. Sie werden erotisch. Denn die Muße, diese Lücke im Korsett allen Geschehens, macht porös. Sie versetzt in das weltweite Offene. An ihr Ohr dringt das Musikalische, nicht das Berechenbare der Zahl. Ihr Ort ist weder das Kalkül noch das Resultat, sondern der Kairos der Zeit. In ihm beschwört sie die Musen, nicht die Moiren. Also nicht die Not eines Geschicks, das blindlings über uns verhängt ist, sondern die Freude über ein Amor fati³⁷, die Freude über die Stimmigkeit der Verhältnisse des Schicksals, das der Zuspruch der Musen gewährt. Von der Warte der Musen aus gesehen, geraten daher auch die Negativa des Widerstreits unter den Geschlechtern außer Kraft. In ihrer Aura müssen sich feminine und maskuline Tugenden nicht gegeneinander ausspielen, sich nicht automatisch bekriegen, sich nicht automatisch vom Sockel stoßen, um frei atmen zu können. Vielmehr stimmen die Musen die Gemüter beider Geschlechter für eine großzügige Erwartung, was das Feminine und Maskuline seinem Vermögen und seiner Zusammenkunft nach einmal geworden sein könnte.

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Et vide ! Nietzsches Ariadne lacht. Unerhört ! Vom Pfeil des Amor fati getroffen, gibt die Gleichheit freiwillig ihren Siegeskranz an die Andersheit weiter, als sie hört, was die Musen sprechen. Wir, die Musen »gedenken nicht eines Mangels, sondern eines Zusatzes, und zwar einer Offenheit, nicht nur über die Gegenwart, sondern auch über die einfache Vergangenheit und Zukunft hinaus.«³⁸

Bleibt zuletzt noch eine Frauengestalt, die eingangs genannt wurde. Solveig, norwegisch, der Sonnenweg. Solveig aus Ibsens dramatischem Gedicht Peer Gynt. Solveig wartet ihr Leben lang auf Peer Gynt. Auf Peer, den Lügenpeter, auf Peer, den Taugenichts und Phantasten, auf Peer, der faustisch getrieben auf der Suche nach dem großen Glück die Weltmeere umrundet und von einem Scheitern in das nächste taumelt. Gelassen und mit aller Zeit ihres Lebens wartet sie unverdrossen. Singend ruft sie ihn über die Jahre in immer ein und demselben Lied : »Vielleicht geht der Winter, und der Frühling folgt nach, / und der Sommer dazu, und das ganze Jahr ; – / Aber einst wirst du kommen, das, weiß ich, ist wahr ; / Und ich werde warten, wie ich Dir’s versprach.«³⁹ Alt geworden, am Ende, kehrt Peer Gynt tatsächlich zurück. Nach einem verspielten Leben in der leeren Hand. In allem hat er sich selbst verfehlt. Aus diesem Grund soll er nun um- und neu gegossen werden, wie Ibsens dramatisches Gedicht erzählt. An einem Kreuzweg im tiefen Wald wartet der Knopfgießer mit seiner großen Schmelzkelle, Peer unbarmherzig in das Nichts einzuschmelzen. Außer, außer er fände jemanden, der ihm bescheinigt, dass er in seinem ganzen Leben sich selbst treu geblieben sei. Aber weder der greisenhafte Trollkönig noch der Teufel in Gestalt des Mageren stehen für ihn gerade. Er wäre weder ein wirklicher Satyr noch ein wirklicher Bösewicht gewesen. Nur Schalen einer Zwiebel⁴⁰, ohne Substanz. Peer steht hilflos vor seinem Ende. Vor einem Tod als radikal vernichtendem Faktum. Stolpernd erreicht er, einen letzten Ausweg suchend, in der Morgendämmerung die Hütte Solveigs. Mühelos löst Solveig die Bedrohung mit der Freundlichkeit ihres Herzens, die auch Generosität oder verschwenderische Güte genannt werden könnte. Güte als Offenheit für den Anfang, der sich nicht verschließt. Güte als Offenhalten für ein infinites ankommen Können, das nicht verweigert wird, sondern das im Ja der Liebe zu allen Zeiten freiwillig re-signiert wird. Ein Ja, das wartend wacht, immer wieder rechtzeitig gesprochen und nicht versäumt zu werden. 125

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Weit entfernt von aller Resignation, die sich ohnmächtig in ihr Schicksal ergeben hat, sondern mit der kreativen Potenz großer Affirmation meint sie schlicht : Er wäre doch immer der gewesen, der er einmal geworden zu sein versprochen hatte. Wo ? Wo ? Wo ?, schreit Peer ihr entgegen. »Oh, das Rätsel ist leicht. In meinem Glauben, meinem Hoffen und meinem Lieben.«⁴¹ Solveig, eine Figur der Verkitschung weiblicher Güte ? Eine unerträglich abgeschmackte Apotheose der Frau ? As you like it. Kein Gender-Clubzwang. Gut. Dann soll Solveig in die Nähe von Nietzsches Ariadne gerückt werden. Was ist ihr Ja zu Peer anderes, als alles Vergangene in großer Affirmation zu bejahen ? Ihr zweites Ja ist der rettende Ariadnefaden im Labyrinth von Peers Leben, seine Rettung vor dem Nichts. In der Wiederholung ihres Ja ist der Anfang mitgesprochen, den die Liebe ad infinitum regeneriert. In der Güte Solveigs ereignete sich das Unerhörte : die Auflösung des Nihilismus in der musischen Lücke der Zeit.

Anmerkungen  



   

Siehe Kurzbiographie in diesem Band und Æ http ://personal.mdw.ac.at/granzer/ Alice Pechriggl verweist explizit in ihrem Buch Eros, im Abschnitt über Platons Symposion, auf die drei Arten achtgliedriger Kugelmenschen (Frauen, Männer und die ausgestorbenen Androgynen), aus deren Geschick der Komödiendichter Aristophanes die Herkunft des Eros entfaltet. »In ihrem Übermut forderten sie die Götter heraus, wofür sie bestraft wurden.« Alice Pechriggl (), Eros. Wien, – »Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, … das kann, wie billig, auch durch die fleißigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekt nicht ausgemacht werden : da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehen und nur in ihnen zu sehen … Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden : insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationsmöglichkeiten in sich schließt.« Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, , f. Nietzsches Werke werden zitiert nach der Kritischen Studienausgabe in  Bänden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montenari, München/Berlin/New York , mit Angabe von Werk, KSA, Bandnummer und Seitenzahl. Avital Ronell (), Dummheit,  J.F.W. Schelling (), Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Frankfurt/Main,  Friedrich Nietzsche, KSA, ,  Avital Ronell (), Dummheit, 

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Die Güte der Frauen

           

               

Arno Böhler (), »Über die Dummheit. Einblick in den Ab-Grund des Denkens«, in : Yvanka B. Raynova, Susanne Moser (Hg.), Das integrale und das gebrochene Ganze. Frankfurt/Main,  Ebd.,  Friedrich Hölderlin (), »In lieblicher Bläue«, in : ders., Gedichte. Stuttgart,  und Martin Heidegger (), »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«, in : ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Gesamtausgabe, Bd. . Frankfurt/Main, – Arthur Schnitzler (), Reigen und andere Dramen (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Das dramatische Werk, Bd. ). Frankfurt/Main,  Ebd.,  Walter Benjamin : »[Aura] definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« In : Walter Benjamin (), Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main,  Dieter Mersch (), Ereignis und Aura. Frankfurt am Main, – Jean-Luc Nancy (), Corpus. Berlin,  Robert Musil (), Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg,  Alice Pechriggl (), Eros. Wien,  Platon (), Symposion. München,  Jacques Derrida : »Der Mythos bringt folglich eine Form von Logik ins Spiel, die man – im Kontrast zur Logik des Nicht-Widerspruchs der Philosophen – eine Logik des Zweideutigen, des Zwiespältigen, der Polarität nennen kann.« Mit diesem Zitat Jean-Pierre Vernants aus Der Mythos in : Jean-Pierre Vernant (), Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland. Frankfurt, beginnt Derrida sein Buch Chora. »Chora kommt zu uns, und zwar als der Name. Und wenn ein Name kommt, sagt er gleich mehr als der Name, sagt er das Andere des Namens und das Andere schlechthin, dessen Hereinbrechen er rechtens verkündet.« Jacques Derrida (), Chora. Wien,  Platon (), Symposion. München, – Friedrich Nietzsche, KSA, ,  und Gilles Deleuze (), Nietzsche und die Philosophie. München, – Friedrich Nietzsche, KSA, ,  Ebd.,  Ebd.,  Ebd.,  Ebd., – Friedrich Nietzsche, KSA, ,  Friedrich Nietzsche, KSA, ,  Ebd., – Arno Böhler (), Singularitäten. Wien, – Friedrich Nietzsche, KSA, , – Gilles Deleuze (), Nietzsche und die Philosophie. München , – und Giorgio Agamben (), Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Berlin, –  Friedrich Nietzsche, KSA, , – Friedrich Nietzsche, KSA, ,  Ebd.

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Susanne Granzer

     

Platon (), Nomoi, , dt. Übs. Hieronymus Müller. Reinbek,  (Original . Jh. v. Chr.) Gilles Deleuze (), »Der Würfelwurf«, in : ders., Nietzsche und die Philosophie. München, –  Hans-Dieter Bahr (), Der baylonische Logos. Wien,  Henrik Ibsen (), Peer Gynt, hg. v. d. Schaubühne am Halleschen Ufer. Berlin, . Akt, Szene  (Textfassung der Schaubühnen-Inszenierung Berlin ) Ebd., . Akt, Szene  Ebd., . Akt, Szene 

Literatur Giorgio Agamben (), Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Berlin Hans-Dieter Bahr (), Der baylonische Logos. Wien Walter Benjamin (), Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main Arno Böhler (), »Über die Dummheit. Einblick in den Ab-Grund des Denkens«, in : Yvanka B. Raynova, Susanne Moser (Hg.), Das integrale und das gebrochene Ganze. Frankfurt/Main, – Arno Böhler (), Singularitäten. Wienag Gilles Deleuze (), Nietzsche und die Philosophie. München Gilles Deleuze (), »Der Würfelwurf«, in : ders., Nietzsche und die Philosophie. München Jacques Derrida (), Chora. Wien Martin Heidegger (), »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«, in : ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Gesamtausgabe, Bd. . Frankfurt/Main Friedrich Hölderlin (), »In lieblicher Bläue«, in : ders., Gedichte. Stuttgart Henrik Ibsen (), Peer Gynt, hg. v. d. Schaubühne am Halleschen Ufer. Berlin Jean-Luc Nancy (), Corpus. Berlin Dieter Mersch (), Ereignis und Aura. Frankfurt am Main Robert Musil (), Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg Friedrich Nietzsche (), Kritische Studienausgabe in  Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montenari. München/Berlin/New York Alice Pechriggl (), Eros. Wien Platon (), Nomoi, , dt. Übs. Hieronymus Müller. Reinbek,  (Original . Jh. v. Chr.) Platon (), Symposion. München Avital Ronell (), Dummheit, Berlin J.F.W. Schelling (), Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Frankfurt/Main Arthur Schnitzler (), Reigen und andere Dramen (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Das dramatische Werk, Bd. ). Frankfurt/Main Jean-Pierre Vernant (), Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland. Frankfurt

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Klaus Rieser

Gender ist kein Nullsummenspiel Nicht-normative Männlichkeit und »Feminisierung«

Mann ist nicht gleich Mann. Anders als für den klassischen Filmhelden gelten für jugendliche Männer, für alte und kranke Männer, ja auch für kindliche, liebenswürdige oder verspielte Männer eigene Repräsentationskodierungen, die (in Medienanalysen) zumeist unter dem Begriff »Feminisierung« subsumiert werden. Die Darstellung von a-normativen und alternativen Männlichkeiten wird damit schon fast reflexartig als »Feminisierung« abgetan, obwohl das Genderspektrum damit verkürzt, ja verzerrt wird. Denn sehr oft sind es keineswegs »feminin« konnotierte Elemente, die hier eingesetzt werden – vielmehr handelt es sich meist um Inszenierungen der Unterwerfung von Männern unter das üblicherweise Frauen vorbehaltene visuelle Regime.¹ Hier soll daher explizit die Tauglichkeit von »Feminisierung« als Werkzeug für Filmanalyse und für eine (pro-)feministische Theorie kritisch untersucht werden. Als Ausgangspunkt wird die feministische Filmtheorie genommen, wie sie seit den er-Jahren entwickelt wurde.² Dies erstens, weil in der Filmwissenschaft feministische Theorie und Analyse das zentrale Paradigma stellt, und zweitens, weil die dabei eingesetzten Theorien und Methoden (im Regelfall eine Zusammenschau von feministischer Subjekttheorie, Semiotik, Psychoanalyse, Marxismus, Foucault, Queer Theory und Cultural Studies) eine komplexe Erörterung der gesellschaftlichen Konstruktion von Gender zwischen medialen Texten, außermedialen Faktoren und den rezipierenden bzw. Bedeutung ko-kreierenden ZuseherInnen erstellt haben. Diese Studien (zum Beispiel von Mulvey, Doane, Kaplan, Modleski, Silverman und anderen) haben einen Paradigmenwechsel in der Filmwissenschaft weg von der reinen Textanalyse des auf der Leinwand Dargestellten hin zur Untersuchung des gendering im Publikum generiert. Sehr oft wird dabei die Konstruktion von Identifikation, Begehren und Mangel anhand der Frage nach der Blickmacht dargelegt. Ab den er-Jahren wurde dabei auch besonders die Frage von Männlichkeit, oft unter dem Postulat einer »Krise« der Männlichkeit, thematisiert.³

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Klaus Rieser

Beispiele In Nachfolge des legendären Artikels von Laura Mulvey Visual Pleasure and Narrative Cinema () hat der profeministische Filmwissenschafter Steve Neale konstatiert, dass nicht nur Frauen als Objekte eines männlichen Blicks fungieren können. Rock Hudsons Körper, so Steve Neale, sei beispielsweise häufig Schauobjekt für den erotischen Blick. Diese Zur-Schau-Stellung funktioniere aber anders als bei Frauen – so Neale –, z. B. indem der betroffene Männerkörper oft gewalttätig malträtiert und damit seine sonst eventuell vorhandene erotische Funktionsweise unterminiert wird. D. h., der Körper wird häufig in Gewaltszenen verwickelt, damit er nicht gänzlich dem skopophilen Regime (der Fassung als passives Schauobjekt) unterworfen ist. Neales Analyse in diese Richtung ist stringent und überzeugend. Er behauptet aber auch, dass der Männerkörper dabei feminisiert würde : »[…] Hudson’s body is feminized in those moments, an indication of the strength of those conventions, which dictate that only women can function as the objects of an explicitly erotic gaze. Such instances of ‹feminization’ tend also to occur in the musical […]« (Neale ,  ; Hervorhebung von K. R.). Hier zwei Bildbeispiele zu dieser Behauptung : ein publicity still von Rock Hudson (Abb. ) und ein Standbild aus einem Musical mit Fred Astaire (Abb. ). Meines Erachtens stellt die Bezeichnung »Feminisierung« für das Schauobjekt Männerkörper einen Zirkelschluss dar : Dies würde implizieren, den Schauobjektstatus grundsätzlich der Weiblichkeit zuzuordnen und davon ausgehend männliche Schauobjekte als »verweiblicht« anzusehen. Hingegen zeigt das erste Bildbeispiel (Rock Hudson, vgl. Abb. ), dass Männlichkeit auch in der Zurschaustellung sehr wohl erhalten bleiben kann, das zweite (Fred Astaire, vgl. Abb. ), dass sie mit einer Gegenüberstellung zu Weiblichkeit (einer Inszenierung von Heterosexualität) erhalten werden kann. In einem anderen Zusammenhang postuliert Christine Gledhill ganz ähnlich, und meines Erachtens ebenso irreführend, der romantische Held sei »in many ways like her [the heroine] – he is feminised« (Gledhill , ). Ebenso reklamiert Gill Branston eine Feminisierung für den Knaben im Film : »The male youth can be considered as feminized because he is not yet fully mature and he presents an ambivalent figure […]« (Branston , ) Und dasselbe gälte nach Judith Doneson auch für die Figur des jüdischen Manns : »Schindler‹s List perpetuates the image of a weak, feminized Jew […]« (Doneson , ), eine Analyse, die auch auf die Woody-Allen-Persona angelegt wurde. Gill Branston sieht sogar den Mörder Leary ( John Malkovich) im Film In the Line of Fire im Gegen130

Gender ist kein Nullsummenspiel

Abb.  : Rock Hudson (publicity still)

Abb.  : Fred Astaire und Ginger Rogers in Carefree ()

Abb.  : Leary ( John Malkovich) in In the Line of Fire ()

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Klaus Rieser

satz zum männlichen Helden Horrigan (Clint Eastwood) als feminisiert. Hier sei wiederum ein Beispiel angeführt, um diese Analyse in Frage zu stellen bzw. zu widerlegen : Leary (Abb. ) erscheint hier keinesfalls feminisiert, selbst wenn er als Zielpunkt der phallischen Waffe dargestellt wird. Auch die Narration lässt eine Behauptung einer Feminisierung dieser Person nur bei sehr weiter Dehnung oder Verfälschung des Begriffs zu, da Leary durchaus machtvoll agiert. Dieser kurze Abriss soll aufzeigen, dass die Konstruktion von ambivalenter, untergeordneter oder marginalisierter Männlichkeit zwar normativen Männlichkeitskonstrukten widerspricht, aber deshalb nicht unbedingt in deren patriarchales »andere« (Lacan), nämlich »Weiblichkeit«, analytisch übergeführt werden sollte. Anders gesagt : »Andere« Männer sind nicht notwendigerweise unmännliche Männer und schon gar nicht »weiblich«. Mehr hierzu weiter unten.

Theoretisierungen Anders als in den oben angeführten Beispielen von Filmanalysen weisen die Filmliteratur und die ihr zugrunde liegenden Texte auch durchaus sinnvolle Operationalisierungen des Begriffs auf. Zum Beispiel gibt es innerhalb mancher filmischer Texte tatsächlich das patriarchale Muster, nicht-normative Männer diskursiv zu feminisieren, um sie zugleich – die patriarchale Hierarchie nutzend – unterzuordnen und sie auch schlicht einer akzeptablen Kategorie zuzuordnen. So hat Asuman Suner konstatiert, die Feminisierung der Kolonialisierten und die Kolonisierung des Femininen seien verknüpfte Bestandteile des Orientalismusdiskurses. Daneben – nie frei von diesen Strategien – nehmen auch mediale Darstellungen von »effeminierten« Männern zu, also solchen, die traditionell weiblich konzipiertes Benehmen, Bewegungen, Kleidungen etc. an den Tag legen (Suner ). Beispielsweise hat Alexander Doty angeregt, eine schwule Weiblichkeit zu konstatieren, welche von der Weiblichkeit heterosexueller Frauen zu unterscheiden sei (Doty ). In anderen Worten, für Männerfiguren mit weiblichen Attributen kann durchaus der Begriff »Feminisierung« gebraucht werden, insbesondere wenn damit eine kulturelle Kategorienzuweisung gemeint ist. Der Begriff »Feminisierung« hat auch seine Nützlichkeit in Konzepten, die die Freud’sche Terminologie aufgreifen. So hat etwa der psychoanalytische Filmwissenschafter D. N. Rodowick daran erinnert, dass im Freud’schen Denksystem Weiblichkeit nur einer von mehreren Aspekten der Genderkonstruktion (vgl. den untenstehenden Raster) und überdies nicht exklusiv Frauen zuzuordnen ist : »[T]he concept of ›femininity‹ is nowhere in Freud’s work exclusive to the psy132

Gender ist kein Nullsummenspiel

chology of women, nor is ›masculinity‹ exclusive to the psychology of men« (Rodowick , ). masculine … feminine

MASCULINEFEMININE

RELATIONALE ÖSOZIALÖDEFINIERTEÖPSYCHISCHEÖ+ATEGORIEN

MENkWOMEN

6IELFALTÖGELEBTERÖ'ENDERERFAHRUNGEN

MANWOMAN

PATRIARCHALEÖ$ICHOTOMIE

MALEÖuÖFEMALE

BIOLOGISCH MEDIZINISCHERÖ$ISKURSÖMITÖ:WISCHENBEREICHÖVONÖ(ERMAPHRODIEÖETC

ACTIVE↔ PASSIVE

'ESCHLECHTSTRIEBÖ$ÖH Ö/BJEKTWAHLÖPR¦DETERMINIERTÖNICHTÖDASÖSOZIALEÖ'ESCHLECHTÖ

Eine originäre und vielversprechende Analyse des Konzepts von Weiblichkeit bei Männern findet sich im Werk von Kaja Silverman. In Male Subjectivity at the Margins unterscheidet sie »moral male masochism« von »sexual (feminine) male masochism« (Silverman ). Dabei sieht sie den moralischen Masochismus sehr nahe an normativer Männlichkeit, z. B. ausgedrückt in der Figur von Lawrence of Arabia. Zweiterer, der sexuelle Masochismus, hingegen sei marginalisiert, weil er mit Femininität behaftet sei. Es handelt sich also wieder um eine hegemoniale Zuweisung eines Genderstatus’ (bzw. eines Genderwechsels), hier aufgrund einer sexuellen Disposition oder Praxis. In diesem Zusammenhang ist tatsächlich eine Feminisierung dieser Form des männlichen Masochismus, und damit dieser Männer, postulierbar.

Kritik am Terminus »Feminisierung« Die Verwendung des Begriffs »Feminisierung« außerhalb der soeben diskutierten, nachvollziehbaren Verwendungsweisen generiert einige grundlegende Probleme sowohl analytisch-akademischer als auch politischer Natur, denen hier kurz nachgegangen werden soll. Immer dann, wenn in der Analyse von nicht-normativen Männlichkeiten von Feminisierung gesprochen wird, wird die patriarchale Tendenz zur Binarisierung von Gender affirmiert. Es handelt sich um den (schon angedeuteten) Zirkelschluss : Was nicht eindeutig hegemoniale Männlichkeit ist, muss weiblich sein. Im Gegensatz dazu hat Harry Brod () darauf hingewiesen, dass, um Männlichkeit adäquat zu fassen, mindestens zwei Hierarchisierungen zu beachten seien, nämlich jene zwischen Männern und Frauen und jene zwischen Männern. Der Terminus »Feminisierung« deute in solchen Fällen eine Hierarchisierung von ver133

Klaus Rieser

schiedenen Männlichkeiten in einen Gender-Kategoriewechsel um. Etwas komplexer erscheinen jene Fälle, in denen Feminisierung als gender switching bei gleichzeitiger Beibehaltung des biologisch männlichen Geschlechts betrachtet wird. Auch dies ist allerding problematisch, impliziert es doch, Gender sei einfach zu verändern (wie das Wechseln eines Kleidungsstücks), während das biologische Geschlecht als stabiler gefasst wird (siehe Butler ). Schließlich besteht noch das Dilemma, dass gewisse gesellschaftlich marginalisierte Aspekte der Weiblichkeit zugeschlagen werden. So werden etwa oft skurrile, infantilisierte Männer als »feminisiert« bezeichnet (vgl. Abb. ). Hierbei wird die (marginalisierte Abb.  : Pee-Wee Herman (Paul Ruben), und reprimierte) Form von InfantiliFilmplakat für Pee-Wee’s Big Adventure () tät als inkompatibel mit Männlichkeit verstanden, hingegen quasi-natürlich der Weiblichkeit zuordenbar. Neben der generellen Problematik einer Binarisierung droht eine Konzeption von »Feminisierung« die tatsächliche Komplexität von Männlichkeiten zu reduzieren. Wenn alternative Männlichkeiten und deren mediale Repräsentationen als feminisierte gedacht werden, dann erscheint Männlichkeit als monolithischer, unveränderlicher und machtvoller, als sie tatsächlich ist. Tatsächlich ist Männlichkeit auch in patriarchalen Zusammenhängen diversifiziert, widersprüchlich und brüchig. So erregte Elvis Presley weltweit die Gemüter, als er seinen Körper explizit als spektakuläres Schauobjekt inszenierte. Diese Abweichung von der damals noch strikteren weißen patriarchalen Norm, welche den Mann als Schausubjekt und die Frau als Schauobjekt konzipiert, bedeutet meines Erachtens aber keine Feminisierung. Denn den Skandal gab es deshalb, weil Elvis sich als männliches Sexualobjekt dem weiblichen (und auch dem männlichen) Blick dar- und anbot. Wenn wir Elvis also als feminisiert begreifen, wird dieser für das Phänomen Elvis geradezu konstitutive Bruch überdeckt. 134

Gender ist kein Nullsummenspiel

Besonders häufig wird »Feminisierung« auf afro-amerikanische Männer angewandt. Und tatsächlich finden sich mediale Feminisierungsstrategien als Aspekte von racializing (der gutmütige, entmännlichte schwarze Onkel Tom als Gegenpol zum »schwarzen Vergewaltiger« ; schwarze Komiker mit Kastratenstimmen etc.) und schwarze Männer werden wie Frauen von der Macht ausgeschlossen. Der vorschnellen Konstatierung einer symbolischen Kastration (Feminisierung) muss jedoch nach Robyn Wiegman nicht analytisch gefolgt werden : If the black male must be physically, psychologically, and/or symbolically castrated, then his construction in the guise of the feminine evinces not simply an aversion to racial difference but a profound attempt to negate masculine sameness, a sameness so terrifying to the cultural position of the white masculine that only castration can provide the necessary disavowal. (Wiegman , )

Wiegman weist also darauf hin, dass schwarze Männer in den USA tatsächlich Feminisierungsstrategien unterworfen waren (und sind), welche historisch nicht nur auf der Ebene der Repräsentation, sondern auch tatsächlich (lynching, Kastration) stattgefunden haben. Aber, und das ist wesentlich, diese Feminisierung muss auch verstanden werden als patriarchale und rassistische Negation des schwarzen Mannes innerhalb der Kategorie »Männlichkeit«. Wiegman folgend darf die Verleugnung der schwarzen Männlichkeit nicht analytisch reproduziert werden, sondern muss im Gegenteil herausgestrichen werden. Hinter »Feminisierung« kann sich auch ein noch ganz anderer Aspekt verbergen, der geradezu im Gegensatz zur gerade diskutierten realen oder symbolischen Kastration steht. Denn in der medialen Repräsentation finden sich zunehmend auch männliche Figuren, die weibliche Positionen einnehmen. Zum Beispiel hat Maurizia Boscagli in ihrer Untersuchung medialer Konstruktionen des sensiblen Manns () festgestellt, wie öffentliche Tränen von Männern (im Film Unforgiven, aber auch von General Schwarzkopf im Fernsehen) eine Ausweitung von Männlichkeit bzw. eine Naturalisierung derselben bewirkt hätten, ohne dass deshalb eine relative konventionelle Konstruktion von Männlichkeit (General !) in Frage gestellt worden wäre. Öffentlich weinende Männer sind – wie dieses Beispiel zeigt – nicht notwendigerweise feminisiert, sondern können, insbesondere dann, wenn sie aus machtvollen Positionen heraus agieren, weibliche Aspekte integrieren, usurpieren und damit eventuell sogar ihre Macht oder gesellschaftliche Akzeptanz steigern. In anderen Worten, sogar wenn Männer (öffentlich) ein vorwiegend der Weiblichkeit zugeordnetes Verhalten an den Tag legen, so führt dies nicht so sehr zu einer Verweiblichung, sondern diese melodramatischen Zei135

Klaus Rieser

chen männlicher Emotionalität helfen Männern vielmehr, weibliche Positionen zu usurpieren und damit ihr gesellschaftliches Wirkungsspektrum zu erweitern. Eine solche Entwicklung hat auch im Genre buddy f ilm stattgefunden. Hierbei wurde zunehmend eine MannMann-Konstellation an die Stelle einer Mann-Frau-Konstellation gesetzt. Während in der Frühzeit des Genres noch eine Frau außerhalb des Männerpaares (meist marginalisiert und oft als »Preis« für einen der beiden) aufschien, so wurde sukzessive auf die Frau verAbb.  : Jon Voight und Dustin Hoffman in zichtet (vgl. Abb. ). Dabei sind wohl Midnight Cowboy () »Feminisierungen« eines der beiden oder beider Männer zu beobachten, aber der Begriff »Feminisierung« verschleiert, dass es sich hierbei um den Ausschluss von Frauen in einem Genre zugunsten einer homosozialen (vgl. Sedgwick ) Männerbeziehung handelt. Schließlich produziert die übereilte Kategorisierung von alternativen Männlichkeiten als »Feminisierung« auch selbst Heterosexismus. Denn damit wird, wie schon weiter oben erwähnt, das biologische Geschlecht über das soziale gesetzt. Judith Butler hingegen hat dargelegt, dass eine solche Sex/Gender-Unterscheidung das biologische Geschlecht auf Sexualität und darin letztlich auf Reproduktion zurückführt (Butler ). Die scheinbare Abweichung (feminisierter Mann) löst nicht die Definition von biologischer Männlichkeit (maleness) auf, denn diese rekurriert auf Sexualität, nicht auf Genderverhalten als primäre Begründung der Sex- und Genderbinarität. Laut Butler ist somit nicht nur die Heteronormativität, sondern auch das Patriarchat selbst – noch vor der Geschlechterbinarisierung – eine Negation von Homosexualität. Demzufolge ist die Fassung von homosexuellen Männern als feminisiert dieser Grundkonstellation zuzuschreiben. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass »Feminisierung« als Bezeichnung für nicht-normative Männlichkeit politisch problematisch und akademisch oft schlichtweg falsch ist. Denn wenn »Feminisierung« nicht explizit definiert wird – was selten der Fall ist –, dann bleibt die Bedeutung und damit die Gültigkeit dieser Bezeichnung unklar : a) Weist die Figur sogenannte weibliche Aspekte 136

Gender ist kein Nullsummenspiel

(Stimmlage, Kleidung, weiche Bewegungen) auf ? b) Oder wird eine nicht-normative (z. B. schwarze, schwule oder »weiche«) Männlichkeit im Text als Femininität dargestellt und eventuell desavouiert ? c) Oder scheint eine Männerfigur medial in einer Position auf, welche üblicherweise für Frauenfiguren reserviert ist (insbesondere als passives Schauobjekt) ? Im ersten Fall (a) kann durchaus von einer Feminisierung gesprochen werden. Im zweiten Fall (b) handelt es sich um ein patriarchales Muster des Umgangs mit marginalisierten oder unterdrückten Männlichkeiten, welches konstatiert und analysiert werden kann und soll, wobei aber diese Deutung nicht analytisch nachvollzogen werden sollte, sondern in das kritische Potenzial zurückzuführen wäre. Im dritten Fall (c) ist es besonders heikel, von einer Feminisierung zu sprechen, denn dabei würden oben angesprochene Tendenzen aufgebaut (Binarisierung, Verschleierung von Differenz etc.). So würde dabei die Gleichsetzung von Frau mit Passivität, Schauobjekt, NichtSubjekt reifiziert, ohne dass dies einer weiteren Überprüfung standhielte. In ihrer kritischen Analyse von männlichem Masochismus merkt Carol Siegel dementsprechend an, dass weibliche Dominanz hinter einer Repräsentation und Analyse von männlichem Masochismus als »Feminisierung des Mannes« zum Verschwinden gebracht werden kann. Mögliche weibliche Macht verschwinde da aus dem Blickfeld : »Where feminine can only mean passive/receptive and heterosexual can only mean male-dominant, female dominance must be both culturally represented and read as feminization of man.« (Siegel , )

Alternativen Entgegen einer vorschnellen Konstatierung von Feminisierung bieten sich einige Alternativen an. Grundsätzlich gilt, wie oben erwähnt, für die jeweilige Zuordnung zu entweder »Feminisierung« oder »De-Maskulinisierung« besondere Sorgfaltspflicht in der Analyse. Es ist auch die Kategorie der Transmaskulinität (spielerischer Umgang mit Gender-/Sex-Signalen) zu bedenken. Als weitere Option steht die Konzeption eines third sex/third gender zur Disposition, insbesondere eine historische Betrachtungsweise der Entstehung von »femininen Männern« und der »Erfindung des Homosexuellen« (vgl. Foucault , Herdt ). Einige weitere Strategien zur Überwindung der im Feminisierungs-Diskurs impliziten Dualität oder Skalarität zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit sollen in der Folge detaillierter aufgezeigt werden. Raewyn Connell (früher Robert Connell) etwa unterscheidet »hegemoniale« Männlichkeit von »marginalisierter« (African American men), »subordinierter« 137

Klaus Rieser

(schwule Männer) und von »komplizitärer« Männlichkeit (Connell ). Zu dieser Unterscheidung möchte ich noch »exemplarische« Männlichkeit als Denkfigur hinzufügen, nicht zuletzt, weil sie in den Medien besondere Bedeutung erlangt. So sind in Medien »exemplarische« Männer oft nicht strikt der hegemonialen Form zuzuordnen (etwa weil sie, wie Rambo, der Arbeiterklasse angehören), sondern stärken nur den hegemonialen Mythos von Männlichkeit (Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Gewaltbereitschaft etc.). Statt von Feminisierung wird in diesem Modell also von Marginalisierung und Subordinierung gesprochen. Connell weist darauf hin, dass Homosexualität neben anderen Funktionen gesellschaftlich fungiert als »the repository of whatever is symbolically expelled from hegemonic masculinity, items ranging from fastidious taste in home decoration to receptive anal pleasure« (Connell , ). Einen anderen Zugang wählt Chris Straayer. Statt einer immer weiter präzisierten Operationalisierung der Begrifflichkeiten rund um nicht-normative Männlichkeiten fokussiert sie auf den gender overlap. Wohl akzeptiert Straayer, dass in zeitgenössischen Transvestiefilmen Männer, die sich als Frauen verkleiden, als feminisiert gelesen werden können. Interessanter aber sei es, solche Figuren als bivalent zu verstehen, dass also beide sozialen Geschlechter in einer Figur vereint werden, auch wenn der Filmtext zwischen »tatsächlichem« genetischen Geschlecht und »gespieltem« sozialen Geschlecht differenziert. Am deutlichsten tritt diese Bivalenz im Kuss zutage : Wenn ein als Frau verkleideter Mann von einem anderen Mann geküsst wird (im Film gerne als Skandal inszeniert), dann handelt es sich laut Straayer zugleich sowohl um einen – basierend auf den extradiegetischen Geschlechtern – homosexuellen Kuss als auch, auf diegetischer Ebene, um einen heterosexuellen Kuss. Noch weiter geht Straayer in ihrer Analyse des she-man, welche/n sie als noch radikalere Verknüpfung der etablierten Geschlechter ansieht. Solche Figuren haben sich, von feministischer Analyse und Performancekunst ausgehend, vermehrt in den Mainstream bewegt. Figuren, welche nicht zwischen den Geschlechtern (androgyn) zu konzipieren sind, sondern als Kombination der beiden, stellen auf der Ebene der Repräsentation die Geschlechtergrenzen in Frage, ohne sie in Feminitäts-Maskulinitäts-Binarität zu reduzieren. »[T]he She-man is not a gay figure, nor an effeminate male, nor a hermaphrodite. The She-man, as enacted by both gay and straight performers, is a fully functional figuration signifying woman/man« (Straayer , –). Eine ähnliche Verknüpfung von maskulin und feminin hat eine der Schlüsselfiguren der Queer Theory, Eve K. Sedgwick, aus eigenem Erfahrungshintergrund analysiert. Sie befindet ein Zusammentreffen dieser beiden, ansonsten separierten, Attribute nicht als Abwertung für die betreffende Figur, sondern im Gegenteil als 138

Gender ist kein Nullsummenspiel

Abb.  : Johnny Depp als Jack Sparrow in Fluch der Karibik

Aufwertung, als »sexy« beziehungsweise »gendery« (Sedgewick ). Die doppelte Aufladung verleihe den Figuren eine machtvolle Aura, beispielsweise Gender-»Bomben« wie Madonna, Frank ’N’ Furter (Rocky Horror Picture Show) oder Johnny Depp als Captain Jack Sparrow (Fluch der Karibik) (Abb. ). Die queere Ästhetik von Depp und Sparrow, die auch von Filmkritiker Roger Ebert konstatiert wurde, beweisen meines Erachtens, dass gender-extension oder gender-play zu einer queeren Strategie gehören, welcher ein vergleichsweise unilinearer Begriff wie »Feminisierung« nicht gerecht wird. Abgesehen von einer queeren Analyse⁴ von nicht-normativen Männlichkeiten bzw. der Verschmelzung oder Verwirrung von hegemonialen Geschlechterkonzepten kann aber Männlichkeit und Weiblichkeit doch auch kategorial gefasst werden. Eve K. Sedgwick argumentiert, basierend auf soziologischen Studien von Sandra Bem, dass Gender sowohl in der gesellschaftlichen Realität als auch in Repräsentationsformen keine binäre, sondern eine Denkfigur mit (vielen) unabhängigen Variablen sei. Ich habe diese Einsicht in eine grafische Darstellung gefasst : Wenn, wie Bem () schreibt, Männlichkeit und Weiblichkeit unabhängige Variablen sind, dann bedeutet das, dass Personen nicht nur den klassisch-norma139

Klaus Rieser

tiven Positionen »richtiger Mann« (viel Männlichkeit, wenig Weiblichkeit) und »richtige Frau« (viel Weiblichkeit, wenig Männlichkeit) zuzuordnen sind. Männlich/Weiblich

Sie sind auch nicht auf die Skala der Zwischentöne beschränkt (mehr oder weniger Männlichkeit und Weiblichkeit). Männlich Weiblich

Sie können vielmehr als »Plus-Variante« viel Männlichkeit und viel Weiblichkeit in sich vereinen – ebenso aber in der »Light-Variante« wenig Männlichkeit und wenig Weiblichkeit (vgl. Grafik ). Die oben angesprochenen she-men und deren Mainstream-NachfolgerInnen wären dabei in der rechten oberen Ecke anzusiedeln ; klassische Männerfiguren (von John Wayne bis Arnold Schwarzenegger) links oben ; klassische Frauenfiguren (von Marilyn Monroe bis Scarlett Johansson) rechts unten ; androgyne Figuren, insbesondere, wenn sie wie die oben erwähnten infantilisierten Figuren als asexuell dargestellt werden, links unten. Dazwischen befindet sich ein weites, offenes Feld, in dem wir unsere alltägliche Kombination von gesellschaftlich normierten, aber nie hermetisch kontrollier- und manifestierbaren Männlichkeiten und Weiblichkeiten ausleben bzw. diese medial konstruieren und rezipieren. Natürlich wäre diese Kategorisierung noch zumindest um die Dimension der Sexualität zu erweitern und natürlich kommt eine solche Grafik der Realität von Gender als Performativität (Butler ) oder als Prozess nicht einmal nahe. Dennoch zeigt schon diese Erweiterung auf, dass Gender im gelebten Alltag und in der medialen Repräsentation wohl normiert (die Achse von links oben nach rechts unten in der Grafik ), aber wesentlich differenzierter ist (das gesamte Feld außerhalb dieser Achse). »Feminisierung« beschreibt nur die private oder gesellschaftliche Konvention einer scheinbaren Bewegung von VielMännlichkeit-und-wenig-Weiblichkeit zu weniger Männlichkeit (vgl. Grafik ). Selbst dieser Prozess kann aber verschiedene Ausprägungen erfahren : Handelt es sich nur um eine Entmännlichung (auf der Grafik eine Bewegung senkrecht hinunter) oder wird sie mit einer Ergänzung durch weibliche Attribute versehen (dann verläuft die Bewegung nach unten und nach rechts zugleich) ? Viele andere Prozesse repräsentieren aber eine Kombination von Konventionen der 140

Gender ist kein Nullsummenspiel

Männlichkeit und Weiblichkeit auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Feldern.

Männlichkeit Johnny Depp

John Wayne Normiertes (binäres) Modell von Gender

Weiblichkeit

Pee Wee Herman

Marilyn Monroe

Graphik 

Eine solch präzisierte Konzeption des Verhältnisses von Männlichkeiten und Weiblichkeiten erlaubt es nicht nur, mediale Repräsentationen von Gender adäquater zu analysieren, sondern eröffnet auch mehr Spielraum und Komplexität für die Plastizierung der allzu einengenden/repressiven Gender-Konstruktionen.

141

Klaus Rieser

Männlichkeit

Entmännlichung und Feminisierung

Weiblichkeit Entmännlichung

Graphik 

Anmerkungen  

Hierzu mehr weiter unten im Text. Kurz gesagt geht es um den Mangel an Blickmacht, narrative Passivität und die Konstruktion als Schauobjekt. Der Rahmen dieses Artikels erlaubt es nicht, die komplexe Geschichte von feministischen Filmtheorien nachzuzeichnen. Der Beginn der modernen, akademischen feministischen Filmtheorie wird in den er-Jahren bei Artikeln des englischen Filmmagazins Screen angenommen. Besonders häufig wird dabei Laura Mulveys Artikel Visual Pleasure and Narrative Cinema als Ausgangspunkt erwähnt. Es handelt sich jedenfalls um eine Abkehr von soziologischen »Rollen«theorien hin zu einem Theoriekomplex, der sich besonders aus Semiotik, Marxismus, Psychoanalyse und feministischer Theorie gespeist hat. Sehr schnell hat dieses Paradigma, das bis heute m. E. seine Gültigkeit hat, auch Erweiterungen, Kritiken und Alternativentwürfe hervorgebracht, deren Darstellung hier nicht möglich ist. Im hier angedeuteten und von mir geschätzten Paradigma wird der

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Gender ist kein Nullsummenspiel





Film als Mittel gesehen, um Männlichkeiten und Weiblichkeiten nicht nur darzustellen, sondern diskursiv bei den ZuseherInnen zu kreieren. Dabei wurde, stark vereinfacht dargestellt, versucht zu belegen, dass im narrativen Mainstreamfilm Schaulust, die fürs Filmvergnügen essenziell ist, gemeinsam mit narrativen Mustern Weiblichkeit mit Passivität, Schauobjektstatus und Fetischisierung besetzt, während die ZuseherInnen-Identifikation über männliche Paradigmen (Kastrationskomplex, Narzissmus etc.) geleitet wird. Einen guten Einstieg in die (englischsprachige) feministische Filmtheorie und -analyse bietet die Anthologie von E. Ann Kaplan (). Für den deutschsprachigen Raum sind die Exemplare der Zeitschrift Frauen und Film (gegründet ) empfehlenswert, in denen neben eigenständigen Artikeln auch zentrale Texte, insbesonders aus dem anglo-amerikanischen Raum, in Übersetzung erschienen sind. Auch Bernold u. a.  ist ein sehr guter Einstieg in die Thematik. Schon , als das Thema »Männlichkeit und Film« erst im Entstehen begriffen war, erschien ein Heft von Frauen und Film : Heft  »Männer, die ins Auge gehen«. Darin z. B. Texte von Richard Dyer (in Übersetzung), Karsten Witte, Heide Schlüpmann. Eine umfangreiche Bibliographie zum Thema »Masculinities and Film« findet sich in der Online-Men’s Bibliography Mit queerer Analyse ist hier gemeint, »männlich« und »weiblich«, »aktiv« und »passiv«, »hetero-« und »homosexuell« nicht zu reifizieren, sondern bewusst aufzulösen oder ihren Überlappungen und Verwirrungen nachzugehen.

Literatur Sandra L. Bem (), »The Measurement of Psychological Androgyny«, in : Journal of Consulting and Clinical Psychology /April, – Sandra L. Bem (), »The Theory and Measurement of Androgyny : A Reply to the Pedhazur-Tetenbaum and Locksley-Colten Critiques.«, in : Journal of Personality and Social Psychology / June, – Monika Bernold, Andrea B. Braidt, Claudia Preschl (Hg.) (), Screenwise. Film. Fernsehen. Feminismus. Wien Maurizia Boscagli (), »A Moving Story : Masculine Tears and the Humanity of Televised Emotions«, in : Discourse ., – Gill Branston (), »… Viewer, I Listened to Him … Voices, Masculinity, In the Line of Fire«, in : Pat Kirkham, Janet Thumim (Hg.), Me Jane : Masculinity, Movies and Women. New York, – Harry Brod (), »Some Thoughts on Some Histories of Some Masculinities : Jews and Other Others«, in : ders., Michael Kaufman (Hg.), Theorizing Masculinities. Thousand Oaks, – Harry Brod (), »Masculinity as Masquerade«, in : Andrew Perchuk, Helaine Posner (Hg.), The Masculine Masquerade : Masculinity and Representation. Cambridge, Mass., – Judith Butler (), Bodies That Matter : On the Discursive Limits of Sex. New York/London Robert W. Connell (), Gender and Power. Cambridge Robert W. Connell (), Masculinities. Berkeley Mary Ann Doane (), »Film und Maskerade : Zur Theorie des weiblichen Zuschauers«, in : Frauen und Film /Mai, – Mary Ann Doane (), Deadly Women, Epistemology and Film Theory. New York

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Klaus Rieser

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Rainer Winter

Fluchtlinien, Gender und Kultur Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies

Sowohl Cultural Studies als auch Gender Studies sind in den letzten Jahrzehnten zu etablierten und wegweisenden Diskursen geworden, mit denen Hoffnungen auf gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen verbunden werden. In diesem Beitrag möchte ich ausgehend von der Entwicklung und den Perspektiven der Cultural Studies Gemeinsamkeiten, Verbindungen und Beeinflussungen aufzeigen. Wie eng diese beiden Forschungsrichtungen miteinander verknüpft sind, wird bereits dann deutlich, wenn wir uns den konstruktionistischen Charakter von Cultural Studies vergegenwärtigen. Sie gehen nämlich davon aus, dass die Rahmen, mit denen wir die Welt wahrnehmen, klassifizieren und interpretieren, soziale Konstruktionen sind. So erscheinen uns die Eigenschaften, dass wir eine weiße Hautfarbe haben, ein Mann oder eine Frau sind, in der Regel als natürlich. Cultural Studies stellen nun diese Natürlichkeit in Frage, dekonstruieren essenzialistische Auffassungen und problematisieren Grenzen sowie Grenzziehungen. Sie zeigen die historischen und kulturellen Ursprünge unserer sozialen Kategorien auf, um deren kontingenten Charakter sichtbar zu machen und Alternativen in der Gestaltung unserer Lebensverhältnisse aufzuzeigen. Cultural Studies möchten sowohl zu neuen Rahmungen der Wirklichkeit beitragen als auch durch gesellschaftliche sowie kulturelle Interventionen Differenzen erzeugen. Diese Eigenschaften teilen sie mit den Gender Studies, die die sozial konstruierte Kategorie der Geschlechter und die damit verbundenen Grenzziehungen in Frage stellen. Sie kritisieren und verwerfen jede Form von Naturalisierung, indem sie zeigen, dass Gender sozial und kulturell geschaffen wird. In dieser Perspektive sind Gender Studies eine Fortsetzung und Erweiterung der Cultural Studies. Beide Forschungsrichtungen teilen eine transdisziplinäre und kritische Orientierung, verbinden theoretische Analysen und empirische Untersuchungen mit politischen Interventionen in gesellschaftliche Felder, die kulturelle und soziale Ungleichheiten abbauen und agency fördern sollen. Die Produktion von Wissen soll bestehende Positionen, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse legitimieren, in Frage stellen und delegitimieren. Dabei werden Formen des Widerstandes und Fluchtlinien aus einschränkenden und repressiven Verhältnissen eruiert, be145

Rainer Winter

schrieben und erprobt. Gender Studies und Cultural Studies geben marginalisierten und unterdrückten Personen und Gruppen Stimmen und bemühen sich, für soziale Bewegungen anschlussfähig zu sein. So soll bzw. kann die Forschung in politischen und kulturellen Aktivismus münden. Der politisch-interventionistische Charakter muss aber nicht immer explizit formuliert werden. Er kann auch nur implizit vorhanden sein z. B. in der Problembeschreibung oder Fragestellung einer Studie. Entscheidend für diese beiden intellektuellen Richtungen ist aber, dass sie die Kultur in ihrer Pluralität, Komplexität und Gestaltungskraft ernst nehmen und ihr in ihren Analysen gerecht zu werden versuchen.

Entstehung und Perspektiven der Cultural Studies Die dominierende Richtung in den Cultural Studies, die wesentlich zu ihrer akademischen Institutionalisierung beigetragen hat, ist Ende der er-Jahre in Großbritannien entstanden, nämlich in den Arbeiten der Literaturwissenschaftler Richard Hoggart und Raymond Williams sowie des Historikers Edward P. Thompson. Seine ursprüngliche Verwendung fand der Begriff in den er- und erJahren am von Hoggart gegründeten Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS), an dem Theorie, Kultur und Politik miteinander verknüpft wurden. Die in diesem institutionellen und experimentellen Freiraum entwickelten theoretischen Ansätze sowie die sowohl textuell (literaturwissenschaftlich) als auch ethnographisch (soziologisch) orientierten Forschungsperspektiven sind zu einer Art lingua franca der inzwischen weltweiten Bewegung geworden : »The common ground from which debate, teaching and research can proceed, albeit without being an overarching monopoly« (During , S. ). Der paradigmatischen Arbeit des CCCS, die sich der kulturellen Dimension der Gesellschaft zuwandte (vgl. Hall ), kommt nicht nur als theoretische Grundlage eine wichtige Bedeutung zu, sondern auch, weil sich in Birmingham eine kollektive, transdisziplinäre, politisch engagierte, radikal kontextuelle und den Problemen der Gegenwart verpflichtete Form der Kulturanalyse herausbildete, die bis heute Vorbildcharakter hat (Grossberg ,  ; Winter , Kap. ). So wird Kultur immer im Kontext von Machtverhältnissen analysiert, als der Bereich, durch den Macht ausgeübt und in dem um Macht gekämpft wird, beginnend mit der Aneignung von Louis Althussers Ideologietheorie und Antonio Gramscis Hegemonieanalyse über Michel Foucaults Analytik von Macht und Widerstand bis hin zur Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus und der neoliberalen Globalisierung. So gab es Arbeitsgruppen und kollektive Buchprojekte, die sich mit Jugendkulturen, feminis146

Fluchtlinien, Gender und Kultur

tischen Fragestellungen oder der hegemonialen Macht der Medien beschäftigten. Diese Arbeiten, in denen gemeinsam das Projekt der Cultural Studies entwickelt und ausbuchstabiert wurde, sind bis heute programmatisch, weil sie zeigen, wie an der Universität kritische Forschung von gesellschaftlicher Relevanz betrieben werden kann. Dabei sind die Probleme und Fragestellungen in der Regel mit lebensweltlichen Erfahrungen verknüpft. Die Attraktivität der Cultural Studies ist auch darin begründet, dass sie früh ihre Aufmerksamkeit und ihr intellektuelles Engagement Themen wie der Populärkultur und jugendlichen Subkulturen zuwandten, die bis dahin in der Forschung vernachlässigt worden waren. Hinzu kommt, dass sie je nach Fragestellung verschiedene Methoden miteinander kombinierten, um der Herausforderung eines Problems gerecht zu werden. Raymond Williams folgend, der gefordert hatte, dass die Kulturanalyse die »Beziehungen zwischen den Elementen einer ganzen Lebensweise« (Williams , ) zum Thema habe, analysieren Cultural Studies Kultur nicht als eine separate oder sekundäre Praktik, sondern primär die Beziehungen zwischen allen sozialen Praktiken in einer Gesellschaft, wobei die Kultur die Summe dieser Beziehungen und Verknüpfungen darstellt. Zentral für Cultural Studies ist deshalb, dass Kultur und Gesellschaft nicht konzeptuell getrennt werden und die von anderen wissenschaftlichen Disziplinen aufgestellten Grenzziehungen beständig missachtet sowie rückgängig gemacht werden (vgl. Frow/Morris ). In ihren theoretischen Studien und ihrer empirischen Forschung sind Cultural Studies selbstreflexiv organisiert. Sie analysieren ihre eigene Perspektive im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse, reflektieren seit ihren Anfängen in der Erwachsenenbildung in Großbritannien ihre Position im universitären Feld und in Bezug auf außerakademische Institutionen (Couldry  ; During ,  ; Winter ). Cultural Studies verfolgen eine Pädagogik, die auf dem Dialog zwischen Lehrenden und Studierenden aufbaut. Sie weisen die technokratische und marktorientierte Rationalität im Lehren und Lernen, die in das neoliberale Phantasma von der Universität als Unternehmen mündet, zugunsten einer demokratischen Aneignung von Wissen und kulturellen Texten zurück (Giroux et al. ), die ein wesentliches Element einer gut funktionierenden Öffentlichkeit sein soll. Cultural Studies begreifen sich – wie die Gender Studies – als eine der Demokratie verpflichtete intellektuelle Tradition. Sie untersuchen das Wirken von kulturellen Formen und Praktiken im Alltagsleben, ihren Beitrag zur Reproduktion, zur Infragestellung und zur Transformation von Strukturen sozialer und kultureller Ungleichheit. Ihr Ziel ist es, ein Wissen zu produzieren, das zu einem besseren Verständnis der Machtbeziehungen in einem partikularen Kontext beiträgt und damit auch Möglichkeiten eröffnet, diesen zu 147

Rainer Winter

verändern. »Das heißt, sie trachten nicht nur danach, die Organisationen von Macht zu verstehen, sondern auch die Möglichkeiten von Überleben, Kampf, Widerstand und Veränderung« (Grossberg , S. ). Ihr Interesse gilt primär den Bedeutungen und Prozessen affektiver Ermächtigung, die Personen und Gruppen helfen können, ihre Interessen zu artikulieren, Freiräume zu entfalten, Fluchtlinien zu finden und ihre Handlungsfähigkeit zu erweitern. Cultural Studies möchten Zusammenhänge zwischen den einzelnen Momenten der Selbstermächtigung und den umfassenderen kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen herstellen. Hierzu ist auch eine Kritik an den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und medialen Repräsentationsordnungen erforderlich sowie eine Analyse der Möglichkeiten demokratischer Transformation. Für Cultural Studies sind Herausforderung, Widerstand und Eigensinn der im Alltag Handelnden wesentliche Elemente der gesellschaftlichen Wirklichkeit (vgl. Winter ). Sie müssen nicht in jeder Situation verwirklicht sein, aber ohne sie wäre kritische Arbeit nicht möglich. Cultural Studies begreifen ihre theoretische Perspektive und ihre eingenommenen Positionen stets als provisorisch, weil sie immer Antworten auf die Eigenschaften spezifischer Kontexte darstellen. Gerade ihr radikaler Kontextualismus unterscheidet sie von anderen kritischen Projekten. »Cultural Studies sind ein rigoroser Versuch, politische und intellektuelle Arbeit zu kontextualisieren. Dies bedeutet, dass Cultural Studies sich mit ihrem Kontext verändern müssen, einem Kontext, der einerseits sowohl geschichtlich und politisch, andererseits institutionell und politisch ist« (Grossberg , ). Die Brauchbarkeit von Theorien wird pragmatisch bestimmt. Sie ist dann gegeben, wenn diese ein »besseres« Verständnis von Kontexten und Formen der Intervention ermöglichen (vgl. Leistyna ). In gewisser Weise wird die Theorie also »entsakralisiert«, sie wird zu einer ebenfalls kontingenten strategischen Ressource, wie Grossberg () feststellt. Auch wenn es für einen Außenstehenden oft schwer ist, lässt sich in den verschiedenen Formationen eine »Einheit-in-Differenz« identifizieren, die darin begründet ist, dass Cultural Studies als eine kritische und engagierte Praxis betrieben werden. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie diese Forschungsrichtung ihre spezifische Gestalt am Birmingham Centre gewann.

Zwischen Kulturalismus und Strukturalismus : Das Feld der Cultural Studies In seinem die Arbeit am Birmingham Centre resümierenden Artikel Die zwei Paradigmen der Cultural Studies (Hall dt. , orig. ) beschreibt Hall, wie in 148

Fluchtlinien, Gender und Kultur

diesem Arbeitszusammenhang versucht wurde, zwischen dem Kulturalismus von Williams (aber auch von Thompson und Hoggart) und dem Strukturalismus, am stärksten durch Althusser repräsentiert, zu vermitteln, die Schwächen des Kulturalismus zu überwinden und in diesem Kontext gleichzeitig eine eigene Position zu entwickeln, was vor allem durch die Rezeption der Arbeiten von Gramsci möglich wurde. Dies führte erstens zu einer entschiedenen Abgrenzung von der humanistischen Kulturdefinition, die unter Kultur Texte und Artefakte versteht, durch die Werte und Ideale ausgedrückt werden, mit denen gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen kritisiert werden können. Diese Vorstellung erschien als zu abstrakt, da sie Werten eine Universalität unterstellt, obwohl sie selbst immer Ausdruck spezifischer sozialer und historischer Kontexte sind. Ebenso wurde es als eine Fetischisierung betrachtet, wie Hall (a, ) schreibt, Texte unabhängig von ihrer Entstehung, den sozialen Praktiken und Institutionen, die sie produziert haben, zu betrachten. Dies blendet die auswählenden und eine Hierarchie herstellenden Kräfte in einer kulturellen Ordnung aus (vgl. Williams ). Um diese Fehler zu vermeiden, wurden zwei Schritte notwendig. Wie in der Anthropologie wurden unter Kultur alle kulturellen Praktiken verstanden. Gleichzeitig wurden diese nicht als universal begriffen, sondern in ihrer jeweils historischen Ausprägung betrachtet, indem ihre Bezüge zur Sozialstruktur, zu Herrschaftsverhältnissen und zu sozialen Auseinandersetzungen betrachtet wurden. Zweitens wurden im Bemühen, eine materialistische Definition der Kultur zu entwickeln, die Beziehungen zwischen kulturellen Praktiken und anderen Praktiken, zwischen kulturellen und ökonomischen, politischen und ideologischen Instanzen (im Sinne Althussers) in klar umgrenzten sozialen Strukturen untersucht. Fasste Claude Lévi-Strauss () Klassifikationen und Rahmungen unter dem Begriff der Kultur, betont Althusser (), dass Menschen durch Ideologien (Bilder, Repräsentationen, aber auch Rituale, Gewohnheiten oder regelmäßige Verhaltensweisen), die unbewusste Kategorien sind bzw. unbewusst sich vollziehen, ihre (Lebens-)Bedingungen repräsentieren und leben. Zusammenfassend meint Stuart Hall, dass der wesentliche Unterschied zwischen dem kulturalistischen und dem strukturalistischen Paradigma innerhalb der Cultural Studies im Folgenden liegt : Während im »Kulturalismus« Erfahrung das Fundament – der Bereich des »Gelebten« – war, auf dem sich das Bewusstsein und die Bedingungen überschnitten, betonte der Strukturalismus, dass »Erfahrung« per definitionem nicht das Fundament von irgend etwas sein könnte, weil man seine Existenzbedingungen nur in und durch die Kategorien, Klassifikationen und Rahmen der Kultur »leben« und erfahren könnte. (Hall , ) 149

Rainer Winter

Exemplarisch möchte ich an dieser Stelle¹ an den Jugendstudien zeigen, wie das Centre in dieser Zeit kulturalistische und strukturalistische Perspektiven verknüpfte. In dem Gemeinschaftswerk Resistance Through Rituals. Youth Subcultures in Post-War Britain (Hall/Jefferson , dt. Teilübers. Clarke et al. ) wird Kultur zunächst im Sinne des Kulturalismus bzw. der interpretativen Soziologie als Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Prozessen und den Individuen bzw. den sozialen Gruppen bestimmt : Mit dem Wort »Kultur« meinen wir jene Ebene, auf der gesellschaftliche Gruppen selbständige Lebensformen entwickeln und ihren sozialen und materiellen Lebenserfahrungen Ausdrucksform verleihen. Kultur ist die Art, die Form, in der Gruppen das Rohmaterial ihrer sozialen und materiellen Existenz bearbeiten. […] Die »Kultur« einer Gruppe oder Klasse umfasst die besondere und distinkte Lebensweise dieser Gruppe oder Klasse, die Bedeutungen, Werte und Ideen, wie sie in den Institutionen, in den gesellschaftlichen Beziehungen, in Glaubenssystemen, in Sitten und Bräuchen, im Gebrauch der Objekte und im materiellen Leben verkörpert sind […] Kultur ist die Art, wie die sozialen Beziehungen einer Gruppe strukturiert und geformt sind ; aber sie ist auch die Art, wie diese Formen erfahren, verstanden und interpretiert werden. (Clarke et al. , f.).

Gesellschaft und Kultur, verstanden als die symbolische Ordnung des sozialen Lebens, werden also als gleichursprünglich betrachtet. Als Mitglied einer Gesellschaft befindet man sich in einer Konfiguration von Bedeutungen, die Zugang zur Kultur verschaffen und den Einzelnen in der Gesellschaft lokalisieren. Vertieft wurden diese Definitionen durch ein Anknüpfen an Gramscis Überlegungen zur dominanten bzw. herrschenden Kultur. »Die Welt erscheint mit den Begriffen und durch die Strukturen klassifiziert und geordnet, welche am unmittelbarsten die Macht, die Position, die Hegemonie des Machtinteresses in dieser Gesellschaft ausdrücken« (Clarke et al. , ). Ziel des Machtblocks in der Gesellschaft ist es, die Kulturen, das Denken und die Erfahrungen der untergeordneten Gruppen und Klassen in seinen Bereich einzubeziehen, sodass diese ihre Welt und ihre Erfahrungen in einer von der dominanten Kultur vorgegebenen Weise konstruieren und erleben. Gramsci betont den unaufhörlichen Kampf um die kulturelle Macht, der zwischen den sozialen Klassen vonstatten geht, die, so die damalige Prämisse in der Arbeit des Centre, die grundlegenden Gruppen in modernen Gesellschaften und damit auch die wichtigsten kulturellen Konfigurationen sind.

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Fluchtlinien, Gender und Kultur

In ihren Analysen zeigten Clarke et al. (), dass die jugendlichen Subkulturen der Arbeiterklasse, die Mods, Teddie-Boys, die Skinheads etc., mittels der unterschiedlichsten Gruppenstile und Rituale die Problemsituationen ihrer Klasse (Arbeitslosigkeit, Erosion des sozialen Zusammenhalts der Arbeiterklasse, konsumistische Lebenseinstellung etc.) verarbeiteten und bemüht waren, einen symbolischen und sozialen Zusammenhalt herzustellen, den die sich im Prozess der Desorganisation befindliche Arbeiterklasse nicht mehr bieten konnte. So konstituierten sie durch ihr Handeln im Bereich der Mode, der Sprache, der Musik und im Territorialverhalten Sinn, der gemeinschaftsbildend wirkte und zudem widerständig zur herrschenden Ordnung war. Ihre subkulturellen Strategien konnten die realen Probleme nicht strukturell, sondern nur imaginär in Prozessen der Selbsterfahrung als untergeordnete Klasse und in der kreativen Verarbeitung dieser Situation in spezifischen Stilen lösen. Da diese Lösungen auf einer symbolischen und nicht auf einer konkret materiellen Ebene versucht wurden, waren sie ohne Erfolgsaussicht. Die Mitglieder des CCCS eigneten sich also die Althusser’sche Ideologietheorie an, gleichzeitig »rehumanisierten« (vgl. Grossberg , ff.) sie diese Konzeption im Sinne von Williams (und Thompson). Denn die jugendlichen Subkulturen waren wohl ideologische Konstrukte, aber auch konkrete soziale Formationen, in denen sich eine kollektive Reaktion auf die aktuellen Lebensbedingungen ihrer Klasse ausdrückte, die durch Widerstand, Eigensinn und kreative Handlungsmächtigkeit gekennzeichnet war. Für die Cultural Studies waren sie also in dieser Phase Subjekte, die im Sinne des Kulturalismus als aktive Produzenten von Bedeutung begriffen wurden, durch ihre Stellung in einem System gesellschaftlicher Differenzen (in diesem Fall die Klassenverhältnisse) bereits positioniert und somit in die soziale Auseinandersetzung um Bedeutung eingebunden waren, bevor sie das Feld der Ideologie betraten. Vor diesem Hintergrund konnte der Widerstand der Subkulturen auf der ideologischen Ebene als authentischer Protest begriffen werden. Jedoch droht immer die Gefahr, dass er durch die Kultur- und Konsumindustrie symbolisch entschärft und inkorporiert wird, wie es Dick Hebdige () für die Punkbewegung eindringlich gezeigt hat. Die Geschichte der Subkulturen und Widerstandsformen zeigt, dass dies in der Regel so ist. Die feministische Kritik an den Subkulturstudien in Birmingham monierte, dass diese zu sehr aus einer männlichen Perspektive heraus konzipiert seien (vgl. McRobbie/Garber ), sodass weibliche Subkulturen nicht in den Blick kämen. Es wurde gerade nicht untersucht, wie Mädchen eine eigene Kultur schaffen.

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Rainer Winter

Kontext, Artikulation und die feministische Perspektive Wie die Jugendstudien veranschaulichen, waren die Diskussionen der erJahre am CCCS nicht nur durch eine intensive Begegnung zwischen den Cultural Studies und dem strukturalen Marxismus gekennzeichnet, sondern seit der zweiten Hälfte des Jahrzehnts durch eine intensive Auseinandersetzung sowohl mit Gramsci, der wichtiger als Althusser werden sollte, als auch mit dem Poststrukturalismus. Schließlich entstanden eine neue Sichtweise des Sozialen sowie des Verhältnisses von Kultur und Sozialstruktur. Auch die Gender Studies bildeten sich in diesen Auseinandersetzungen heraus. Diese Arbeit vollzog sich nun nicht nur in Birmingham, sondern auch an anderen Orten in Großbritannien wie z. B. an der Open University in Milton Keynes, in Kanada, Australien und den USA. Während Althusser die Vorstellung einer die Gesellschaft durchdringenden und bestimmenden Ideologie vertrat (und von einem Kampf zwischen der Wissenschaft des Marxismus und der Ideologie ausging), ermöglichte es die Beschäftigung mit Gramsci, den veränderlichen und vorläufigen Charakter einer hegemonialen Ordnung zu untersuchen, die gewonnen und verloren werden konnte. So zeigte z. B. Angela McRobbie () in einer Analyse der Zeitschrift Jackie im Anschluss an Althusser, dass deren Bilder und Diskurse, die idealisierte Konzeptionen von Weiblichkeit transportieren, Mädchen in patriarchale Weisen des Denkens einüben. Sie begreift die Zeitschrift als »a massive ideological block in which readers were imprisoned« (McRobbie , ). Gleichzeitig weist sie aber darauf hin, dass diese kulturelle Hegemonie von den Mädchen aufgebrochen werden kann, auch wenn ihre Möglichkeiten eher eingeschränkt sind, weil sie nur einen begrenzten Zugang zur Öffentlichkeit hatten. Die Formen erfinderischer und kreativer Aneignung waren vornehmlich auf den privaten Raum beschränkt. Insbesondere der in England lehrende argentinische Politologe Ernesto Laclau, der – an Gramsci, Foucault und Derrida anknüpfend – Althussers abstrakte und universelle Vorstellung von Ideologie kritisierte und eine nicht reduktionistische Theorie der Ideologie entwarf, wurde für die Cultural Studies von entscheidender Bedeutung. Die Pluralität und Geschichtlichkeit von Ideologien sowie ihre Manifestation in kulturellen Texten rückten ins Zentrum ihrer Analysen. Laclau und Chantal Mouffe () verabschieden in ihrer Dekonstruktion des Marxismus jede Vorstellung von Determination. Es gibt keine determinierte Beziehung zwischen Ideologie und Sozialstruktur. Die Konzeption einer radikalen Nicht-Bestimmtheit ideologischer Diskurse führte in ihrer Aneignung durch die Cultural Studies zu einer neuen Ausrichtung ihrer Studien. Der Bezug von Kultur und Klassenzugehörigkeit wird nun nicht mehr als vorrangig behandelt (wie in den 152

Fluchtlinien, Gender und Kultur

Jugendstudien oder im encoding/decoding-Modell), sondern das Geschlecht², die ethnische Zugehörigkeit³, die Subkulturen werden sowohl in Bezug auf die Kategorie Klasse untersucht als auch in ihren differenten Artikulationsbeziehungen miteinander, ohne eine der Kategorien zu privilegieren. Sie werden als eigensinnige Felder sozialer Auseinandersetzungen betrachtet. Auch wenn es keine notwendigen Korrespondenzen zwischen Sozialstruktur und Kultur gibt, so lassen sich jedoch immer reale und effektive Korrespondenzen finden, die in der Analyse genauer bestimmt werden müssen. Die Bedeutung, Effekte und Politik bestimmter sozialer Ereignisse, Texte, Praktiken und Strukturen (was wir tatsächlich mit deren »Identität« meinen) sind nie garantiert, weder kausal (durch ihre Wurzeln, so verschoben auch immer) noch durch Einschreibung (als wären sie selbst-determiniert). (Grossberg , S. ) Zentrale Bedeutung bei der Analyse gewinnt der Kontext, der nicht einfach ein Rahmen ist, in dem ein Objekt situiert ist, oder der soziale Praktiken, die sich innerhalb seiner Grenzen ereignen, lediglich beeinflusst und bestimmt. Vielmehr konstituieren die Praktiken und Identitäten den Kontext, in dem sie Praktiken und Identitäten sind. Grossberg (, ) schreibt hierzu : »Understanding a practice involves theoretically and historically (re-)constructing its context«. Der Kontext ist am Anfang der Analyse nicht (vollständig) gegeben, sondern er ist ihr Ziel und Produkt. Was die Analyse kultureller Texte betrifft, so muss ihre Artikulation mit Kontexten untersucht werden, wobei die Differenz zwischen Text und Kontext – wie die zwischen Praxis und Struktur – lediglich eine Frage der Abstraktion ist. Für Cultural Studies bedingen sich Theorie und Kontext gegenseitig, ihr Wissen ist immer kontextspezifisch und Kontexte können nie vollständig repräsentiert, sondern nur unter verschiedenen Perspektiven konstruiert werden. Ziel der Cultural Studies ist es deshalb, mit den jeweils verfügbaren theoretischen Ressourcen und empirischen Forschungen kulturelle Prozesse besser zu verstehen und in einem zweiten Schritt zu einer Veränderung ihrer Kontexte beizutragen. Dies bedeutet, symbolische Auseinandersetzungen, den Kampf um Bedeutungen und Formen des (symbolischen) Widerstands zu bestimmen und Wissen bereitzustellen, damit die Beteiligten diese Prozesse besser verstehen können. Dabei zeigen Cultural Studies, dass Marginalität, Ungleichheit und soziale Exklusion in den sozialen und kulturellen Kontexten ihrer Entstehung betrachtet werden müssen. »Far from being inevitable, these conditions reflect the interweaving of cultural, social, economic and political forces and the positioning of individuals in relation to them« (Rojek , ). 153

Rainer Winter

Des Weiteren modifizieren die Cultural Studies, an Gramscis Überlegungen zur Infragestellung hegemonialer Ideologien anknüpfend, Althussers Vorstellung, dass Ideologien die Kraft haben, Subjektpositionen zu determinieren. Dies ist möglich, aber keineswegs zwangsläufig gegeben. Stattdessen muss, so Hall, eher geklärt werden : […] which individuals as subjects identify (or do not identify) with the »positions« to which they are summoned ; as well as how they fashion, stylize, produce and »perform« these positions, and why they never do so completely, for once and all time, and some never do, or are in a constant, agonistic process of struggling with, resisting, negotiating and accommodating the normative or regulative rules with which they confront and regulate themselves. (Hall a, )

Eine Theorie der Artikulation hält an der Vorstellung eines handlungsmächtigen Subjekts fest, das nie in einer sozialen Position oder in einem Machtverhältnis fixiert ist. Es gibt immer eine Pluralität von Positionen und eine Vielfalt von Möglichkeiten, wie Bedeutungen, Erfahrungen, Identitäten, Interessen und Machtverhältnisse miteinander artikuliert werden können. In diesem Zusammenhang weist Hall (b, ) auch darauf hin, dass soziale Praktiken und Herrschaftsverhältnisse immer durch sexuelle Identitäten und Positionierungen gestützt und aufrechterhalten werden. Diese Einsicht führte in den Cultural Studies zu einer Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen Sexualität und Kultur sowie zu neuen Formen der Forschung. »For cultural studies […] the intervention of feminism was specific and decisive. It was ruptural. It reorganized the field in quite specific ways« (Hall c, ). Im Anschluss an Foucaults Mikrophysik der Macht plädierten die Feministinnen für einen umfassenden Machtbegriff, um die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen von Sexualität und Gender untersuchen zu können. So wurden auch Fragen der Konstitution von Subjektivität und der Formation von Identitäten zu zentralen Anliegen. Der feministische Slogan »Das Persönliche ist politisch« intensivierte im Kontext von Cultural Studies das Bemühen, alltägliche Problemzusammenhänge kulturell und gesellschaftlich zu kontextualisieren. Auch bei den Versuchen, Formen des Widerstandes und Fluchtlinien in kulturellen und sozialen Kontexten aufzuzeigen, treffen sich Gender Studies und Cultural Studies. Ihr Interesse gilt der Macht von unten, die sich in den Mikrosituationen des Alltags entfaltet.

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Fluchtlinien, Gender und Kultur

Widerstand, Subversion und Ermächtigung. Die Beiträge von John Fiske und Judith Butler Im Anschluss an Laclaus Dekonstruktion des Klassenbegriffs gehen deshalb viele Vertreter und Vertreterinnen der Cultural Studies davon aus, dass der zentrale Widerspruch in den postmodernen Gesellschaften nicht der zwischen Klassen ist, sondern auf der Ebene der Gesellschaftsformation jener zwischen dem power-bloc und the people. Dabei wird die Einheit der people nicht durch ihre Beziehung zu den Produktionsmitteln bestimmt, sondern durch ihren Bezug auf diskursive Ideologien, kulturelle Praktiken und ihre Opposition zum power-bloc. So schreibt John Fiske : It is a poststructural opposition because its categories are not stable nor structurally set, but mobile, strategically and tactically formed and dissolved according to the perceived exigencies of the issue involved and its situating conditions. The »powerbloc« and the »people« are not social categories, but alliances of social interests formed strategically or tactically to advance the interests of those who form them. (Fiske , )

Diese Opposition darf man sich also nicht als fixierte Struktur, sondern als ein prozesshaftes Geschehen zwischen den Strategien des power-bloc und den Taktiken der people vorstellen. Am deutlichsten kommt dies in den Arbeiten von Fiske selbst zum Ausdruck, der in seinen Analysen des Populären in der Gegenwart eng von Foucaults () Unterscheidung zwischen Macht und Widerstand beeinflusst ist. Widerstand kann in spezifischen historischen Situationen im Verhältnis von diskursiven Strukturen, kultureller Praxis und subjektiven Erfahrungen entstehen. Fiske begreift den Alltag als kontinuierliche Auseinandersetzung zwischen den Strategien der »Starken« und den Guerillataktiken der »Schwachen« (vgl. Fiske , – ; Fiske ). Im Gebrauch der »Ressourcen«, die das System in Form von medialen Texten und anderen Konsumobjekten zur Verfügung stellt, versuchen die »Konsumenten« ihre Lebensbedingungen selbst zu definieren und ihre Interessen auszudrücken. Fiske interessiert sich nicht für die Aneignungsprozesse, die zur sozialen Reproduktion beitragen, sondern für den heimlichen und verborgenen Konsum, der in Sinne de Certeaus () eine Fabrikation, eine Produktion von Bedeutungen und Vergnügen ist, in der den KonsumentInnen ihre eigenen Angelegenheiten klar werden und sie ihre Position, wenn auch oft in verkleideter Form, artikulieren. Wie in anderen Studien der Cultural Studies (Radway  ; Willis ) stellt sich jedoch auch bei Fiske die Frage, welche über den unmittelbaren Kon155

Rainer Winter

text hinausgehende Bedeutung diese symbolischen Kämpfe haben können. Eine oft geäußerte Kritik lautet, dass widerständiger Medienkonsum, wie Fiske () ihn z. B. in seiner berühmt gewordenen Madonna-Studie aufzeigt, ineffektiv bleibt, weil er die patriarchalen Herrschaftsstrukturen nicht ändert (vgl. Kellner ). So zu argumentieren heißt jedoch, nicht sehen zu wollen, dass Fiske dies zum einen nicht behauptet. Zum anderen geht es ihm gerade darum, die Bedeutungen, die ein Madonna-Fan zu sein für junge Mädchen hat, ernst zu nehmen.⁴ Er will zeigen, wie die Identifikation mit ihr und die performative Stilisierung nach ihrem Vorbild zumindest zu einem (temporären) Empowerment führen. Vor allem in seinen späteren Studien arbeitet er die Singularität kultureller Erfahrungen und Praktiken in spezifischen Kontexten heraus, ohne überhaupt den Anspruch auf Generalisierung oder unmittelbare Transformation von Herrschaftsstrukturen zu stellen. Allerdings entgeht auch Fiske nicht der Kritik, dass er als Forscher vorgibt, die Bedeutung der Praktiken der Untersuchten besser zu verstehen als diese selbst. Diesem für die Forschungen zum Widerstand charakteristischen Dilemma versucht man in neueren Arbeiten dadurch zu entgehen, dass Phänomene aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden und auf diese Weise das methodologische Instrumentarium sensibler für die Erfahrung der anderen werden soll. So wird untersucht, welchen Einfluss Widerstandspraktiken in einem spezifischen Kontext auf Ereignisse und Prozesse in anderen Bereichen haben, wie sie mit diesen artikuliert sind. Zudem werden Erfahrungen, Praktiken und Diskurse in multiplen lokalen Kontexten analysiert, sodass sich verschiedene Formen von Subordination und Widerstand aufzeigen lassen (Saukko ). Innerhalb von Cultural Studies spielt die Analyse subversiven Medienkonsums also weiterhin eine wichtige Rolle, auch wenn die damit verbundenen optimistischen Hoffnungen nicht mehr im Zentrum der Betrachtung stehen. Im Anschluss an die poststrukturalistische Machtanalyse hat sich vor allem Judith Butler im Bezug auf Gender mit subversiven Praktiken und der Handlungsmächtigkeit der Subjekte beschäftigt. Es gelingt ihr eindringlich, die Perspektive der Cultural Studies zu untermauern und auszubauen, indem sie den unnatürlichen Charakter von Gender herausarbeitet. Dabei geht sie, Nietzsche folgend, davon aus, dass das Subjekt sich erst in den Praktiken konstituiert. Das doing, die Tat, ist das Entscheidende. So ist Gender immer performativ zu verstehen. »There is no gender identity behind the expressions of gender ; that identity is performatively constituted by the very ‹expressions’ that are said to be its results« (Butler , ). Gender entsteht durch sich wiederholende und zitathafte Praktiken geschlechtlicher Codierung. So wird Heterosexualität durch einen rigiden, 156

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regulatorischen Rahmen hervorgebracht. Subversive und widerständige Praktiken sind dann möglich, wenn Praktiken Normen anders wiederholen und kreativ transformieren. Gerade auf der Verweigerung von identifizierenden Anrufungen im Sinne Althussers gründet sich die Handlungsfähigkeit. Vor allem parodistische Übertreibungen und Vervielfältigungen geschlechtlicher Identitäten, wie sie z. B. durch Drag Queens in Shows oder Filmen aufgeführt werden, stellen dann subversive Prozesse der Entnaturalisierung dar.

Schluss Cultural Studies untersuchen Kultur in ihrem vielgestaltigen Zusammenhang mit sozialen Praktiken sowie ihrer Einbettung in spezifisch artikulierte Kontexte. Sie begreifen Kultur als eine Reihe von Prozessen, Praktiken und Ereignissen, als nicht vorab bestimmbar, als inkonsistent, widersprüchlich, komplex und, was ihre Bedeutung betrifft, als umstritten und umkämpft. Vor allem die Arbeiten von Judith Butler, die das exzessive Potenzial der Iteration von Sexualität hervorheben, zeigen dies. Sie machen auf radikale Weise deutlich, dass die Kulturanalyse die Genderkategorie angemessen berücksichtigen muss. Cultural Studies und Gender Studies knüpfen an die lebensweltlich vorhandenen Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen an. Sie möchten mit ihren Kompetenzen und ihrem Wissen dazu beitragen, dass Subjekte ihre Lebensumstände besser verstehen und ihnen klar wird, wie sie diese selbst miterschaffen und verändern können. Freilich zeigen gerade die Arbeiten von Butler, dass Widerstand nicht willentlich beabsichtigt sein muss, sondern ein Effekt von scheinbar unendlichen und zu einem gewissen Grad unkontrollierbaren Praktiken der Wiederholung ist. Cultural Studies und auch Gender Studies geht es um eine selbstreflexive und engagierte Deutung der Gegenwart in transformativer Absicht. »What is also desperately needed is the capacity for people to self-reflexively invent common grounds within which situated social futures can be imagined and worked towards together with an increasingly wide range of differently positioned others« (Ang , ). Sie treten für eine Zukunft ein, in der Ungleichheit und Ungerechtigkeit überwunden sind. Diesen utopischen Impuls teilen sie sowohl mit internationalen Nichtregierungsorganisationen, die für soziale Gerechtigkeit und kulturelle sowie soziale Inklusion eintreten, als auch mit den vielfältigen Versuchen, mehr Demokratie zu verwirklichen, die sich z. B. im Internet finden (vgl. Winter ). »It is why Cultural Studies [und Gender Studies – R. W.] must 157

Rainer Winter

ultimately be ranked as a contribution to that best of all human practices : emancipation« (Rojek , ).

Anmerkungen 

  

Auch Stuart Halls berühmt gewordenes encoding/decoding-Modell (b), das am Anfang der ethnographischen Erforschung der Rezeptions- und Aneignungsprozesse medialer Texte steht, lässt sich als Versuch begreifen, zwischen dem Kulturalismus und dem Strukturalismus zu vermitteln (für eine umfassendere Diskussion der Medienforschung der Cultural Studies vgl. Winter , Kap. ..), indem Althusser mit den Augen von Gramsci gelesen wird. Hall zeigt, dass die Medien nicht die Wirklichkeit widerspiegeln, sondern gemäß hegemonialer Vorgaben kodieren. Zur frühen feministischen Diskussion am CCCS siehe als Beispiele die Arbeit der Women’s Studies Group () und die gesammelten Aufsätze von Angela McRobbie (), die u. a. die Vernachlässigung der Rolle von Mädchen in den Jugendstudien des CCCS kritisierte. Die Untersuchung des Rassismus wurde zu einem zentralen Thema der Cultural Studies (vgl. exemplarisch die gemeinsame Publikation des CCCS The Empire Strikes Back von  und The Black Atlantic von Paul Gilroy (). Auch  kann der Besuch eines Konzerts von Madonna noch zum Empowerment von Mädchen und jungen Frauen beitragen, wie ein Besuch ihres Konzerts in Belgrad zeigte. Ich danke Reinhard Kacianka für diese Beobachtungen.

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AutorInnen und Herausgeberinnen

Noraldine Bailer, Mag. art. Dr. phil., ao. Univ.-Prof. am Institut für Musikpäda-

gogik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Lehrbeauftragte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte : Evaluierung von musikpädagogischen Studien, Berufsbiografie- und Berufsfeldforschung, Mitarbeit am Forschungsprojekt »Bi-Musikalität und interkultureller Dialog« (im Rahmen des Förderungsprogramms »kultur :wissen :vision« an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien). Publikationen (Auswahl): Musikerziehung im Berufsverlauf. Eine empirische Studie über Musiklehrerinnen und Musiklehrer. Wien  (Hg.) ; »Von der Ausbildung zum Beruf : Der Start in die Musiklehrerkarriere. Erste Ergebnisse einer komparativen Studie zwischen Österreich und England«, in : Musikerziehung, Oktober , – (mit Nigel A. Marshall) ; Musik lernen und vermitteln. Das Studium der Musikerziehung und seine Absolventen. Wien . Mehr Informationen, Kontakt : http ://www.musiceducation.at/das-institut/personen.html ; E-Mail : [email protected] Anette Baldauf studierte Erziehungswissenschaften an der Universität Wien und

Soziologie an The New School University in New York. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte : Sie beschäftigt sich in Print-, Audio- und Videoformaten mit postindustriellen Stadtformationen, Pop- und Alltagskultur und sozialen Bewegungen und unterrichtet an verschiedenen in- und ausländischen Universitäten. In ihrer kontinuierlichen Kooperation mit KünstlerInnen interessiert sie sich für eine stärkere Anbindung sozialwissenschaftlicher Forschung an künstlerische Praktiken. Ihre Veröffentlichungen umfassen Buchprojekte wie : Entertainment Cities. Unterhaltungskultur und Stadtentwicklung. Wien  oder Lips. Tits. Hits. Power ? Feminismus und Popkultur. Wien  (mit Katharina Weingartner) und Dokumentarfilme wie Der Gruen Effekt (ORF/Pooldoks, Wien ) oder Knock Off. Die Rache am Logo (Arte/ORF, Wien/New York , mit Katharina Weingartner). Kontakt : E-Mail : [email protected]

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AutorInnen und Herausgeberinnen

Andrea Ellmeier, Mag. Dr., Historikerin und Kulturwissenschafterin, Lehrbeauf-

tragte an den Universitäten Wien, Innsbruck und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Österreichischen Kulturdokumentation, Koordinatorin der Forschungsplattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck und ist Koordinatorin für Frauenförderung und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte : Konsum- und Konsumentinnenforschung, Cultural Diversity, Kultureller Arbeitsmarkt – prekäre Arbeitsverhältnisse, Europäische Kultur- und Medienpolitik(en). Publikationen (Auswahl): »›Wie im ganz normalen Leben auch !‹ Gleichbehandlung in Kunst und Kultur ?«, in : Erna Appelt (Hg.), Gleichstellungspolitik in Österreich. Innsbruck/Wien/Bozen , – ; »S/he : The Making of the Citizen Consumer. Gender und Konsumgeschichte/feministische Konsumgeschichte revisited«, in : L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, , / : Geschlechtergeschichte, gegenwärtig – ; Differing Diversities. Eastern European Perspectives. Transversal Study on the Theme of Cultural Policy and Cultural Diversity, Phase . Strasbourg  (mit Béla Rásky). Mehr Informationen, Kontakt : http ://www. mdw.ac.at/ikm E-Mail : [email protected] Susanne Granzer, Univ.-Prof. Mag. Dr., Ausbildung zur Schauspielerin am MaxReinhardt-Seminar Wien. Anschließend  Jahre lang Engagements in zentralen Rollen am Theater in der Josefstadt, Volkstheater Wien, Theater Basel, Düsseldorfer Schauspielhaus, Schauspielhaus Frankfurt, Schillertheater Berlin und Burgtheater Wien. Parallel zur den Engagements Studium der Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Wien. Promotion .  Gründung der wiener kulturwerkstätte GRENZ_film gemeinsam mit dem Philosophen Arno Böhler : zahlreiche Lecture-Performances Philosophy On Stage. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte : Seit  Professorin im künstlerischen Fach Rollengestaltung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Max-Reinhardt-Seminar. Veröffentlichungen : Ereignis Denken. Wien  (hg. zusammen mit Arno Böhler) ;  DVD-Bücher Philosophie im Bild (), und Philosophy On Stage (Wien ). Diverse Artikel in Sammelbänden, u. a.: »Being On Stage«, in : Arno Böhler, Susanne Granzer (Hg.), Ereignis Denken. Wien , – ; »Absenz. Erfahrungen der Abwesenheit«, in : Rolf Kühn, Karl H. Witte (Hg.), Existenz und Gefühl (= psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur, Bd. ). Freiburg , –. Mehr Informationen, Kontakt : http ://personal.mdw.ac.at/granzer/ ; E-Mail : [email protected] 162

AutorInnen und Herausgeberinnen

Ursula Hemetek, ao. Univ.-Prof. am Institut für Volksmusikforschung und Eth-

nomusikologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.  Dr. phil. Musikwissenschaft,  Habilitation an der Universität Wien (Ethnomusikologie im Rahmen der Musikwissenschaft). Forschungsschwerpunkte : Musik von Minderheiten in Österreich, insbesondere Roma, burgenländische KroatInnen und BosnierInnen. Verleihung des Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich . Engagement auf internationaler Ebene u. a. im ICTM (International Council for Traditional Music) als Chair Person der Study Group »Music and Minorities« und als Präsidiumsmitglied. Aktuelle Forschungsprojekte : Einwanderermusikkulturen in Wien (Projektleitung –), Bi-Musikalität und interkultureller Dialog (Projektleitung –). Lehrtätigkeit »Ethnomusikologie« und »Musik der Minderheiten in Österreich«. Intensive Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit im interkulturellen Bereich, politisches Engagement u. a. als Obfrau der »Initiative Minderheiten«. Publikationen : Zahlreich zum Thema »Ethnomusikologie und Minderheiten«. Reihenherausgeberin von Edition Minderheiten und klanglese (gem. mit Gerlinde Haid). Als Autorin : Mosaik der Klänge. Musik ethnischer und religiöser Minderheiten in Österreich. Wien . Mehr Informationen, Kontakt : http ://www.mdw.ac.at/ive/ E-Mail : [email protected] Doris Ingrisch, Univ.-Doz. Dr., studierte Geschichte, Germanistik und Soziologie an der Universität Wien. Sie ist Dozentin für Zeitgeschichte, freiberufliche Wissenschafterin sowie derzeit Gastprofessorin für Gender Studies am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Arbeits- und Forschungschwerpunkte : Cultural sowie Gender Studies, Wissenschaftsgeschichte, Exil/ Emigrationsforschung sowie Qualitative Methoden. Veröffentlichungen (Auswahl): »Hinter den Fassaden des Wissens«. Frauen, Feminismus und Wissenschaft – eine aktuelle Debatte. Wien  (mit Brigitte Lichtenberger-Fenz) ; Der dis/kontinuierliche Status des Seins. Über vom Nationalsozialismus aus Österreich vertriebene (und verbliebene) intellektuelle Kulturen in lebensgeschichtlichen Kontexten. Frankfurt/Main u. a.  ; »Anschluss« und Ausschluss . Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien. Wien/ Berlin  (mit Herbert Posch und Gert Dressel). Mehr Informationen, Kontakt : http ://www.mdw.ac.at/ikm/ E-Mail : ingrisch@ mdw.ac.at

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AutorInnen und Herausgeberinnen

Klaus Rieser, Mag. Dr., ist ao. Univ.-Prof. am Institut für Amerikanistik der Universität Graz, das er seit  leitet. Arbeits- und Forschungschwerpunkte : Film, Gender, Ethnizität und Cultural Studies. Speziellere Forschungsschwerpunkte innerhalb dieser Gebiete umfassen die Darstellung von Migration im Film und deren kulturelle Signifikanz ; Männlichkeit im Film, US-amerikanische Ikonen. Publikationen (Auswahl): »American Studies : A Brokeback Discipline ?«, in : Dorothea Steiner, Sabine Danner (Hg.), Exploring Spaces : Practices and Perspectives. Wien , – ; »For Your Eyes Only : Some Thoughts on the Descriptive in Film«, in : Werner Wolf, Walter Bernhart (Hg.), Description in Literature and Other Media. Amsterdam/New York , – ; Borderlines and Passages : Liminal Masculinities in Film. Essen  ; US Icons and Iconicity. Münster  (hg. mit Walter W. Hölbling und Susanne Rieser) ; Mitherausgeber der Reihe American Studies in Austria. Mehr Informationen, Kontakt : htpp://www.uni-graz.ac.at/amst/ E-Mail : klaus. [email protected] Cornelia Szabó-Knotik ist habilitierte Musikwissenschaftlerin, arbeitet seit 

an der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien und leitet (gemeinsam mit Markus Grassl) das Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik. Arbeits- und Forschungschwerpunkte : Rezeptionsgeschichte als Beschreibung der vielfältigen (historischen) Wirkungen von Musik und verbundenen Vorstellungen inklusive der Bedeutung neuer Medien (Film) für den Umgang mit der musikalischen Tradition. Publikationen (Auswahl) : »Zwischen Rückbesinnung und Aneignung – Bedeutungszuschreibungen von Aufführungen alter Musik in Wien zur Zeit der Ersten Republik«, in : Barbara Boisits, Ingeborg Harer (Hg.), Alte Musik in Österreich. Forschung und Praxis seit . Wien , – ; »Zwischen Heldensaga und Home-Story. Österreichische Komponistenfilme als Dokumente der Identitätsstiftung«, in : Manfred Mittermayer, Patric Blaser, Andrea B. Braidt, Deborah Holmes (Hg.), Ikonen. Helden. Außenseiter. Film und Biographie. Wien , – ; »Franz Schubert und die österreichische Identität im Tonfilm der er Jahre«, in : Michael Kube, Walburga Litschauer, Gernot Gruber (Hg.), Schubert und die Nachwelt. I. Internationale Arbeitstagung zur Schubert-Rezeption. Wien , Kongressbericht. München/Salzburg , –. Mehr Informationen, Kontakt : http ://www.iatgm.erg.at/iatgm-szaboknotik.shtml E-Mail : [email protected]

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AutorInnen und Herausgeberinnen

Claudia Walkensteiner-Preschl, Ass.-Prof., Dr., studierte Theaterwissenschaft

an der Universität Wien. Seit  Hochschulassistentin und seit  Assistenzprofessorin am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Seit  Vizerektorin für Lehre und Frauenförderung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte : Filmgeschichte und -theorie, feministische Filmgeschichtsschreibung, Frühes Kino, Frauen- und Geschlechterforschung. Publikationen (Auswahl) : Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der er Jahre (= Filmmuseum-Synema-Publikationen Bd. ). Wien  ; »Die Schlager der Groteske«, in: Heide Schlüpmann, Eric de Kuyper, Karola Gramann, Sabine Nessel, Michael Wedel (Hg.), Unmögliche Liebe. Asta Nielsen, ihr Kino (= Asta Nielsen, Bd. ). Wien , –; »Publikumsgeschmack und soziales Engagement«. Zur Pionoerin Louise Veltée/Kolm/Fleck aus filmhistorisch-feministischer Perspektive, in: Doris Kern, Sabine Nessel (Hg.), Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino. Festschrift für Heide Schlüpmann. Basel/Frankfurt/Main , –. Mehr Informationen, Kontakt : http ://personal.mdw.ac.at/preschl/index.html E-Mail : [email protected] Rainer Winter ist Soziologe (Dr. habil.) und Psychologe. Seit  ist er Professor

für Kultur- und Medientheorie an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt. Arbeits- und Forschungschwerpunkte : Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kultursoziologie, qualitative Methoden und Filmanalyse. Er hat sechs Bücher und zahlreiche Artikel publiziert sowie mehr als  Bücher herausgegeben. Er ist außerdem Herausgeber der Buchreihe Cultural Studies im transcript-Verlag (Bielefeld), in der seit  mehr als  Bände erschienen sind. Veröffentlichungen : Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Weilerswist  ; Widerstand im Netz. Das Internet und die Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit. Bielefeld,  ; Die Zukunft der Cultural Studies. Bielefeld . Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess (zweite durchgesehene und erweiterte Auflage). Köln . Mehr Informationen, Kontakt : http ://www.rainer-winter. net E-Mail : [email protected]

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Auch Wissen hat ein Geschlecht. Für die Wissenschaft von der Antike bis in die Gegenwart ist Geschlecht eine Kategorie von grundlegender Bedeutung. Das Handbuch der Gender-Theorien, das hier in einer überarbeiteten und erweiterten Auflage vorgelegt wird, führt in die zentralen Begriffe und Bereiche des Wissens ein und zeigt, wie diese geschlechtlich codiert sind. Ö­"%2!2"%)4%4%Ö5.$Ö%2'Ã.: 4%Ö!5&,!'%ÖÖÖ3Ö"2ÖÖ8ÖÖ-- )3".Ö    

„Dieses anspruchsvolle Hand- und Arbeitsbuch gibt zahlreiche Denkanstöße und ist insofern ein unverzichtbares und lange überfälliges Nachschlagewerk für die Wissenschafts- und Geschlechterforschung.“ H-Soz-u-Kult „[Ein] fast schon unverzichtbares Arbeits- und Handbuch der GenderTheorien […]. Dies gilt umso mehr, als sich die AutorInnen ausnahmslos auf der Höhe der von ihnen behandelten Diskurse befinden, deren Felder sie sicheren Schrittes abschreiten.“ Literaturkritik.de

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