Ratio und Intuition: Wissen/s/kulturen in Musik, Theater, Film 9783205789772, 9783205789055

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Ratio und Intuition: Wissen/s/kulturen in Musik, Theater, Film
 9783205789772, 9783205789055

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mdw Gender Wissen

Band 4 Eine Reihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl und Doris Ingrisch

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Ratio und Intuition Wissen|s|Kulturen in Musik · Theater · Film

2013 Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch:

Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Irmgard Dober Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Generaldruckerei Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-78905-5

Inhaltsverzeichnis Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl Einleitung 7

Andrea Sodomka Algebraische Muster 18

Doris Ingrisch Intuition, Ratio & Gender  ? Bipolares und andere Formen des Denkens 19

Marie-Agnes Dittrich Das große Zickzack  : Der scheinbare Gegensatz von Logik und Zufall (oder Ratio und Intuition) in der Musik 45

Simone Heilgendorff Il vuoto  : Musik an der Schwelle. ) place ( von Giorgio Netti 59

Heike Klippel Tödliche Mischung. Zum Giftmotiv im Spielfilm 93

Helene Maimann Das wahre Bild oder Klio ist eine Muse 117

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Inhaltsverzeichnis

Peter Roessler Das Wissen der alten Meisterinnen. Pionierinnen und Antipodinnen heutigen Theaters. Mit einem besonderen Augenmerk auf Angelika Hurwicz 131

Krassimira Kruschkova Zwischen Intention und Intension. Über die installative Performance »the fault lines« von Philipp Gehmacher, Vladimir Miller und Meg Stuart 159

AutorInnen und Herausgeberinnen 167

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Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Einleitung Das Herz hat seine Vernunft, die der Verstand nicht kennt. Blaise Pascal »Gedanken«

Die Themen Wissen|s|Kulturen und Geschlecht stehen im Zentrum des vorliegenden Bandes, dessen Texte auf die bereits vierte Gender-Ringvorlesung an mdw – der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – zurückgehen. In den Blick genommen werden in dieser Reihe »mdw Gender Wissen« die wissenschaftlichen Disziplinen und Künste Musik/wissenschaft, Theater/wissenschaft und Medien/Film/wissenschaft  : Es sind die künstlerischen Sparten und wissenschaftlichen Disziplinen, die an der mdw gelehrt und erforscht werden. Das zentrale Anliegen der Reihe ist das Sichtbarmachen von Gender-BeForschungen, uns interessiert das Hinschauen und Hineingehen in vielfach unbewusste und daher auch nicht reflektierte gegenderte Pfade in Musik • Theater • Film. Die Autorinnen und der Autor des vorliegenden Sammelbandes sind einerseits Lehrende und Forschende an der mdw, darunter die erste Professorin für Formenlehre/Formanalyse am Haus – Marie-Agnes Dittrich – wie auch die erste Professorin für Gender Studies an der mdw – Doris Ingrisch –, andererseits sind es thematisch bestens ausgewiesene externe Kolleginnen. Die Reihe »mdw Gender Wissen« versteht sich als Diskursplattform für Genderforschung im gesamten (Musik und darstellenden) Kunst-WissenschaftsKontext, sie möchte mit ihren Publikationen auf die Vielfältigkeit, die Bandbreite und die noch ungehobenen Material-Schätze der Genderforschung in Musik • Theater • Film hinweisen, Beispiele vorstellen und die gesamte Thematik weitertreiben. So wählten wir diesmal die Fragestellung »Ratio und Intuition. Wissen|s|Kultu­ ren und Geschlecht in Musik • Theater • Film« als Thema, im Zentrum steht die Frage nach dem Verhältnis der sich wandelnden Beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst. Ratio als das eine, als wichtige Grundlage der Wissenschaft, und Intuition als das andere, als zentrale Grundvoraussetzung für die Kunst. Das eine und das andere. Wie verhalten sich diese beiden Formen von Erkenntnis, 7

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die scheinbar auf ganz unterschiedlichen Grundsätzen basieren, zueinander, was macht die eine, was die andere Form der Erkenntnis  ? Warum assoziieren wir die Wissenschaften mit dem »Rationalen«, ja nennen sie »rational«, die Künste aber assoziieren wir mit dem »Intuitiven«, sämtliche Wahrnehmungsweisen des Menschen erprobend  ? Als wir den Titel »Ratio und Intuition« als scheinbaren Gegensatz wählten, um zentrale Generierungsprinzipien von Wissen besprechbar zu machen, galt unser Interesse zuvorderst den differenten Grundlagen der Wissensgenerierung in den Wissenschaften und den Künsten. Ein Experiment versuchen die ersten beiden Autorinnen, die Wissenschafterin Doris Ingrisch und die Künstlerin Andrea Sodomka  : Sie hielten eine gemeinsame Vorlesung  : Doris Ingrisch begann und Andrea Sodomka folgte zeitversetzt  : Es waren zwei Texte, die sich mit dem Thema – Wissensgenerierung in Wissenschaft und Kunst – auseinandersetzten, und sie wurden ineinander geschachtelt präsentiert, einmal ein Stück des einen und dann wieder ein Stück des anderen Textes, so war einmal die Aufmerksamkeit bei der Künstlerin, dann wieder bei der Wissenschafterin, die Wissensproduktion konnte für die Zuhörenden auf diese Weise da und dort passieren, konnte rational wie auch sinnlich (es gab Hörbeispiele, aber keine Bilder, was den Reiz des Hörens erhöhte  !) erlebt werden. So entstanden zwei differente Interpretationen desselben Themas »Ratio und Intuition«, was ein künstlerisch wie auch wissenschaftlich präsentes Publikum er- und einforderte. Dieses Ineinandergreifen von Ratio und Intuition wollen wir in der vorliegenden verschriftlichten Version weiterführen, indem wir beide Texte parallel laufen lassen  : auf der linken Seite Text und Bildmaterial der Künstlerin, Musikerin und Performerin Andrea Sodomka, die durch diese grafische Parallelschaltung mit dem Text der Wissenschafterin Doris Ingrisch auf der rechten Seite in Kommunikation treten, die sich so gegenseitig immer wieder berühren – wo ist da die Ratio, wo ist die Intuition  ? Die Professorin für Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) Doris Ingrisch gibt in »Intuition, Ratio & Gender  ? Bipolares und andere Formen des Denkens« einen anregenden Überblick über das weite wissenschaftshistorische Feld, in dem Ratio und Intuition zu einem Gegensatzpaar – zu einem Entweder-Oder und zu keinem Sowohl-als-Auch – gemacht wurden, sie diskutiert die Herkunft und das Gewordensein dieser Begriffe, wobei der Ratio in der Wissensgenerierungsgeschichte der letzten Jahrhunderte eine hegemoniale Position zukomme. Die Favorisierung der bestimmten (planvollen) Ratio gegenüber der unbestimmten Intuition unterlau8

Einleitung

fend entfaltet Ingrisch eine Argumentation, die statt eines Entweder-Oder für ein Sowohl-als-Auch, ein Und plädiert. So weist sie Lorraine Daston zitierend darauf hin, dass sich die Begriffe objektiv und subjektiv als Gegensätze erstmals in den 1820er- und 1930er-Jahren in deutschen, französischen und englischen Lexika finden. Die derzeit, vor allem in der bildenden Kunst, praktizierte künstlerische Forschung führe die seit dem Aufstieg der Naturwissenschaften immer stärker dominierende wissenschaftliche Prämisse eines Entweder-Oder von Subjekt und Objekt in der Figur der forschenden Künstlerin, des forschenden Künstlers bzw. von Künstler_innenteams wieder zusammen. Als weitere Gegensatzpaare des Denkens werden von Doris Ingrisch die Körper/Geist-Dichotomie und das Gegensatzpaar Bewusstes-Unbewusstes erkundet. Erst das Aufbrechen dieser hegemonialen bipolaren Konstellationen mache ein vernetztes transdisziplinäres Gender-Denken erahnbar und möglich. Queeres Denken habe nicht zuletzt die mancherorts sogar oder gerade auch in der Genderforschung gelebte bipolare Interpretation der Geschlechter in Bewegung gebracht und der Gap, _, die Lücke, bringe dies sprachlich adäquat zum Ausdruck. Ihren mit vielen Künstlerinnen und Künstlern gemeinsam als alien productions realisierten Kunstprojekten liege – so die Musikerin und Performerin Andrea Sodomka im vorliegenden Text »Algebraische Muster« – die Annahme der engen Verknüpftheit der Geschichte von Industrie und Maschinen mit der technologischen Kunst zugrunde. Maschinen würden in diesen Kunstprojekten zu PartnerInnen, seien nicht nur ein Werkzeug, es »geht nicht um Glorifizierung von menschenähnlichen Robotern oder um maschinelle Imitation von menschlichen Fähigkeiten, sondern um die Maschine als Partnerin mit ihren eigenen Möglichkeiten, Unvollkommenheiten und Bugs –, als Mit- und Zusammenspielerin in einem Teamwork-Prozess«, so Andrea Sodomka über die intellektuelle Basis der Kunstprojekte von alien productions. Mehrere Maschinen-Projekte werden vorgestellt, darunter »die Differenzmaschine – ein Event mit einem Theaterraum«, das von einem Team von KünstlerInnen, TechnikerInnen und WissenschafterInnen erarbeitet wurde. Dieses Projekt war getragen von der Idee des Maschinentheaters, das Friedrich Kiesler in den 1920er-Jahren entwickelt hatte. »Die ZuschauerInnen wurden auf die Bühne geführt und die gesamte Maschinerie, die üblicherweise – selbst unsichtbar – Illusionen erzeugt, wurde so zur eigentlichen Akteurin.« Weitere Maschinen-Projekte von alien productions waren »Algebraische Muster« und »Arbeitsmuster«. In »Arbeitsmuster« wurde die Geschichte des Kunstraums, der bis in die 1980er-Jahre eine Fabrik, eine Weberei, gewesen war, über Videointerviews mit sechs ehemaligen Arbeiterinnen erzählt. Über 9

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e­ inen Webstuhl in diesem heutigen Kunstraum, dem früheren Arbeitsraum, wird ein Lauftext mit Zitaten aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte projiziert. In diesen Ablauf bricht in regelmäßigen Abständen der frühere Alltag der Fabrik in Form von Soundcollagen ein und überlagert die individuellen Geschichten der Zeitzeuginnen. »So pendelt der Raum permanent zwischen ›Geschichten‹ und ›Geschichte‹ und belässt die BesucherInnen in der Uneindeutigkeit dessen, woraus die sogenannte ›Wirklichkeit‹ konstruiert ist.« Trotz intensiver Recherchen gelang es Andrea Sodomka und Eva Ursprung in ihrem Projekt »Künstleringenieure vs. Maschinendivas« nicht, eine dem Künstleringenieur vergleichbare Künstleringenieurin historisch auszumachen. Sie wendeten die Fragestellung und befragten im Rahmen ihres Projekts 16 aktive Künstlerinnen, die auf Internetbühnen, in Space-Art-Projekten und Roboterdarstellungen die Figur der Künstleringenieurin des beginnenden 20. Jahrhunderts transformieren. So führt uns die Künstlerin Sodomka sinnfällig vor Augen, was die Wissenschafterin Ingrisch einfordert … erkunden, Wissen generieren unter Einsatz von logischem Denken wie auch sämtlicher anderer sinnlicher Wahrnehmungsformen, die dem Menschen zur Verfügung stehen … künstlerische Forschung eben. Marie-Agnes Dittrich ist Professorin für Formenlehre/Formanalyse und sie war im Jahr 1993 die erste Professorin, die in diesem Fach an die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) berufen wurde. Sie befasst sich in ihrem Text »Das große Zickzack. Der scheinbare Gegensatz zwischen Logik und Zufall (oder Ratio und Intuition) in der Musik« mit der strukturellen Frage der Dualismen in der Musik und wie diese interpretiert werden können. Die Begriffe »Logik« und »Chaos« u.Ä. deuteten nur »gegensätzliche Assoziationsfelder« an, denn in der Musik seien »›Logik‹ und ihr (wie immer benanntes) Gegenteil oft gerade keine Gegensätze«. In einem solchen Sprechen über Logik wird die klassische mathematische Logik transzendiert, Logik meint da – so verstehen wir Marie-Agnes Dittrich – die spezifische Logik eines spezifischen Systems, das wiederum nicht klassisch »logisch« aufgebaut sein muss, aber auf alle Fälle ein »System« ist. Die Arbeiten des Musikhistorikers Richard Taruskin und des Traumaforschers Wolfgang-Andreas Schultz sind für die Autorin Beispiele dafür, wie im Schreiben über Musik für die Rubrizierung, die Einordnung der Art und Weise, von Kompositionen sogenannte »Zickzack-Bewegungen« ausgemacht werden können  : Der »erste Zick vor dem Ersten Weltkrieg sei eine Fortsetzung des romantischen Maximalismus gewesen […] viele Kompositionen hätten bis an die Grenze des Chaos gereicht.« In Zack-Bewegungen hätte hingegen – so Taruskin – »ein pessimistischer Rückzug dominiert. Der erste Zack sei eine Re10

Einleitung

aktion auf den Ersten Weltkrieg gewesen, da ging es um »Sicherheit, Stabilität und Ordnung«. In ihrem Beitrag ging es der Musikwissenschafterin Dittrich nicht zuletzt um die Frage der Reduzierung von Emotionen in der Musik zugunsten von Logik und Systemen. Sie zitiert Taruskin, der dafür Ernst Krenek als Zeitzeuge anführt  : »Er [Krenek] und seine Zeitgenossen hätten der Inspiration misstraut, weil diese auf Erinnerung, Tradition, Ausbildung und Erfahrung beruhte. Um dem Diktat dieser Geister zu entgehen, würden unpersönliche Mechanismen erfunden.« Und  : »After Hiroshima everyone felt like dirt« sei zentral für die Neue Musik nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen. Dass seit dem 18. Jahrhundert Logik (Ordnung) meist mit dem männlichen Geschlecht, Gefühl (Chaos) hingegen mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werde, darauf weist die Autorin auch hin. Insgesamt interessanter aber als die Frage nach der Logik eines Werkes sei – so Marie-Agnes Dittrich – der Kontext, in dem diese Frage gestellt wird, denn »[w]as sachlich, objektiv oder logisch ist, kann man aber nicht nur in der Musik kaum feststellen«. Die Musikwissenschafterin und aktive Musikerin Simone Heilgendorff führt uns auf sehr indirektem Wege in wesentliche Grundprinzipien der Gender Studies. Sie analysiert ein Stück des italienischen Komponisten Giorgio Netti, das sie mit ihren Kollegen des Kairos Quartetts einstudiert und präsentiert hat. Netti wählte für sein Werk ) place ( eine so erstaunlich offene Form der Komposition, dass die Musikerin und angewandte Musikwissenschafterin Simone Heilgendorff seine Kompositions›philosophie‹ mit dem Verfahren der Gender Studies analogisiert, weil Netti vieles unbestimmt-bestimmt lasse, nichts einsperre, zwar präzise Spiel-Anweisungen gebe, aber doch offen lasse, wie auch die Genderforschung Möglichkeiten der Interpretation eröffnet, Lesarten bereitstellt, auf Denkvarianten hinweist und Potenziale sichtbar macht  : Komposition wie auch Text als offene Angebote zu begreifen erfordert aktive Lesende und aktive Zuhörende. Giorgio Netti schafft ein »eigenes Regelwerk für Klangqualitäten und dazu passende Notationen, um seine intuitiv entstandene Grundidee einem leibhaftigen Streichquartett zur klanglichen Umsetzung zu übergeben«. In dieser Verschränkung von Intuition (Grundidee) und Ratio (durchdachtes, kalkuliertes Regelwerk) führt uns Netti vor Augen, dass es in der Musik beides – Ratio und Intuition – braucht für eine gelungene Gestaltung eines Werkes, das dann auch beides beinhaltet und wirksam werden lässt  : Mit dem Titel – »Il vuoto« (die Leere) und dem Untertitel »Musik an der Schwelle« gibt uns Simone Heilgendorff gewissermaßen bereits den Gral zur Entzifferung des Werkes in die Hand  : Die Leere unter der Brücke zu transzendieren sei das Anliegen von Netti und die 11

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klanglichen Möglichkeiten durch den Ausbau der Stege der Saiteninstrumente zu erweitern, zu verfremden, neu zu erfinden, zu verfeinern und so etwas wie »systematisches Experimentieren« ist eine der herausragenden Anforderungen, denen sich Giorgio Netti bei seiner Komposition ) place ( unterzog  : Der Anspruch »Werk als Zusammenwirken von Komposition und (auch mediatisierten) Aufführungen« führt in den Bereich »Performativitäts-Forschung, szenisches Verstehen und Morphologie«. Dass Kunst das Potenzial hat, »selbst Forschung zu leisten und wissenschaftliche Forschung zu unterstützen« ist eine Schlussfolgerung der Musikwissenschafterin Heilgendorff, die in ihrem Text eindrücklich vor Augen führt, in welcher Weise sich Intuition und Ratio in der Neuen Musik am Beispiel von Nettis ) place ( treffen können und wie in analytischer Betrachtungsweise sämtlicher »Dimensionen eines musikalischen Werkes – kompositorischer Prozess, interpretatorische Erarbeitung, Aufführungen dieser Komposition (leibhaftige und mediatisierte), an denen dann auch Publikum rezipierend beteiligt ist, [und] historische, soziokulturelle und geografische Entwicklung der Interpretationen und Rezeptionen« – eine »dichte Beschreibung« entsteht, die auch Nicht-MusikwissenschafterInnen an der Aufführungserarbeitung des Stückes und seiner theoretischen Einbettung (Reflexion) teilhaben lässt. »Tödliche Mischung« tituliert Heike Klippel, Professorin am Institut für Medienforschung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, ihren Beitrag, in dem sie ihre Überlegungen zum Giftmotiv im Spielfilm mit interdisziplinären Forschungsansätzen verknüpft. Gemeinsam mit der Wissenschaftshistorikerin Bettina Wahrig erforscht sie zur Zeit Giftdiskurse, die zwischen Wissenschaftsgeschichte, Literatur und populären Erzählungen angesiedelt sind und sich durch ein kontinuierlich variiertes Repertoire an Themen und Motiven seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart auszeichnen. Klippel bietet in ihrem Beitrag einen detaillierten Einblick in die verschiedenen Aspekte von historischen Giftdiskursen, in Fragen nach den giftigen Substanzen, nach speziellen Dosierungen wie auch den Giftwirkungen. Den Bezug zum übergreifenden Thema »Ratio und Intuition« sieht sie vor allem im widersprüchlichen Verhältnis von Giftdiskursen zum Begriff des Rationalen, zumal der Giftmord durchgängig ein Motiv darstelle, in dem dunkle Triebe sich einer Art »wissenschaftlichen« Regimes unterwerfen würden. Der Giftmord gilt im Allgemeinen als ein »rationales« Verbrechen, weil er sorgfältig geplant werden muss sowie spezielle pharmazeutische Kenntnisse oder Nachforschungen erfordert. Dennoch berührt der Giftmord auch den Bereich der Intuition, und das vor allem auf der Ebene der Lüge und der Täuschung, weil diese in der Regel aufgrund eines intimen 12

Einleitung

Verhältnisses zwischen MörderIn und Opfer stattfindet sowie die Fähigkeit zur Empathie voraussetzt. Eine Kategorie, die für die Beschreibung des Giftmotivs besonders dienlich ist, sieht Heike Klippel in der von Julia Kristeva in »Pouvoir de l’horreur« entwickelten Idee des Abjekts. Es handelt sich dabei um einen vielschichtigen Terminus, der selbst das Begriffliche infrage stellt. »Mit dem Abjekten versucht Kristeva das zu umreißen, was kulturell nicht allein ausgeschlossen und abgelehnt, sondern gänzlich verworfen wird, sodass ihm selbst die Benennung verweigert wird. Das Abjekt ist nicht Subjekt und kaum noch Objekt, ›es hat nur eine Qualität des Objekts – nämlich dem Ich entgegengesetzt zu sein‹.« Das Giftmotiv im Film ist für Klippel vor allem dazu geeignet, die Ambivalenzen der Giftdiskurse zu analysieren und erschließt zudem einen kulturellen Bereich des fundamentalen Zweifels und der Angst. Anhand von genauen Analysen zeigt sie auf, wie die filmische Inszenierung hierfür spezifische Ausdrucksweisen findet, wie allzu realitätsorientierte Darstellungen von Vergiftungserscheinungen vermieden werden, wie der Giftmörder/die Giftmörderin mit todsicherer Perfidie vorgeht und klassische Attribute von GiftmörderInnen – Feigheit, Schwäche und Hinterlist – oftmals weiblich codiert sind. »Was werden wir nun sprechen  ?« – »Die Wahrheit, wär’ sie auch Verbrechen.« Mit diesem schönen Zitat aus Mozarts »Zauberflöte« zeigt die Historikerin, bekannte Filmemacherin und Autorin Helene Maimann in ihrem Beitrag »Das wahre Bild oder Klio ist eine Muse« unter anderem auf, wie wichtig es sei, Wahrheit zwar als ein offenes Terrain zu begreifen, aber dennoch Wahrheit zu suchen, sie aufzuzeigen. Sie schreibt  : »Unzählige Wissenschaftler und Künstler, Männer und Frauen, haben für ihre Wahrheit mit Verfolgung, viele mit dem Leben bezahlt. Die wenigsten haben eine Publizität wie Andrej Sacharow, Salman Rushdie oder Pussy Riot erreicht.« Maimann lotet historisch versiert die zahlreichen Schnittstellen zwischen Wissenschaftsdisziplinen, Wissensdiskursen und Kunst aus und fordert zudem eine reflexive wie auch ästhetisch-vielseitige, anspruchsvolle Deutung von Zeitgeschichte. Traditionelle wissenschaftliche Beschreibungskategorien – Faktenrepräsentanz, Quellenkritik, Reflexion, Analyse, Schlussfolgerungen – würden zunehmend an den Informations- und Bilderfluten der Neuen Medien scheitern. Im Verhältnis dazu sieht Maimann in den kreativen, künstlerisch und handwerklich versierten Visualisierungen von »Geschichten«, von Erinnerung, Erzählung und Recherche durchaus ein großes Potenzial. Sie schreibt  : »Wenn wir lernen, Bilder zu erzeugen, die sich der komplexen, auf mehreren Ebenen gleichzeitig verlaufenden Realität unserer Welt stellen, ergeben sich viele neue Arbeitsfelder.« Und nicht nur das  : Auch die Grenzen 13

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zwischen Wissenschaft, Kunst und Science Fiction würden sich weiten und die Widersprüche, Ambivalenzen in allen Disziplinen hervortreten lassen. Erfreulicherweise konnten wir für den Theater-Schwerpunkt des Bandes diesmal Peter Roessler, Professor für Dramaturgie am Max Reinhardt Seminar (mdw) gewinnen, der sich dem Thema Ratio und Intuition über die Biographien von Pionierinnen am Theater und ihren Formen des Wissens näherte. Peter Roessler leistet in seinem Beitrag »Das Wissen der alten Meisterinnen. Pionierinnen und Antipodinnen heutigen Theaters. Mit besonderem Augenmerk auf Angelika Hurwicz« einerseits die wesentliche Arbeit, einige Frauen am Theater in Österreich dem Vergessen zu entreißen und damit eine Theatergeschichtsschreibung weiterzutreiben, in der Frauen ein angemessener Platz zugeschrieben wird – d. h., das Wissen über Schauspielerinnen, Autorinnen, Regisseurinnen und Theaterleiterinnen zu komplettieren und sie in den Kanon einzuschreiben, jedoch nicht ohne hier ein kritisches Auge auf die Art und Weise ihrer Repräsentation zu lenken. Andererseits spürt er dem Wissen dieser Akteurinnen nach, indem er nachfragt, was die Quellen darüber berichten können, was diesen bedeutenden Theater-Frauen – Dorothea Neff, Helene Weigel, Therese Giese und Salka Viertel – für ihre Arbeit und ihren Weg wichtig war. Das Wirken der Regisseurin, Schauspielerin und Schriftstellerin Angelika Hurwoicz, die Ende der 1970erJahre, Anfang der 1980er-Jahre als erste Regisseurin am Wiener Burgtheater inszenierte, dient dabei als vielschichtiger Kristallisationspunkt der Problematik von Karrieren von Frauen am Theater und stellt eine Reihe von Aspekten zur Diskussion, die in Bezug auf ihr Wissen immer wieder auf die Untrennbarkeit der Sphären von Intuition und Ratio verweisen. Krassimira Kruschkova, die Performance Studies und Theaterwissenschaft an diversen Universitäten, u. a. an der Akademie der bildenden Künste Wien und an der Universität für angewandte Kunst Wien, unterrichtet, aber auch als Leiterin des Theorie- und Medienzentrums Tanzquartier Wien fungiert, führt uns in die zeitgenössische Performance und ihre aktuellen Fragestellungen ein. Sie tut das sehr konkret anhand der installativen Performance »the fault lines« von Philipp Gehmacher, Vladimir Miller und Meg Stuart. Ihr Text lotet den Titel »Zwischen Intention und Intension« in vielfacher Hinsicht aus. Er führt durch »the fault lines« und lässt sie uns durch Sprache erfahren. Die Performance und somit auch der Text durchmessen das Thema Ratio und Intuition, indem sie – mit ihren jeweiligen Mitteln – das bewusst werden lassen, was zwischen den Polen sein kann, sie lenken den Blick auf das Potenzielle – im Medialen, Politischen und 14

Einleitung

Epistemologischen. In den diese Bereiche verbindenden Metaebenen passiert die Schnittstelle zu den Gender Studies von selbst, in der kritischen Sichtung bisheriger Ordnungen und in der Aufmerksamkeit für das Mögliche. Unser besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und Frau Irmgard Dober für ihr umsichtiges Lektorat. Ihnen – liebe Leserinnen und Leser – wünschen wir bei der Lektüre des vierten Bandes der Reihe »mdw Gender Wissen« viel Freude und Inspiration.

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Andrea Sodomka

Doris Ingrisch

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Andrea Sodomka

Algebraische Muster Wir können völlig zutreffend sagen, daß die analytische Maschine algebraische Muster webt, gerade ebenso, wie der jacquardsche Webstuhl Blumen und Blattwerk webt. […] Angenommen, zum Beispiel, die in der Tonkunst für Harmonielehre und Komposition maßgebenden Grundverhältnisse ließen sich auf diese Weise ausdrücken und zurichten, so könnte die Maschine kunstreiche und systematisch ausgearbeitete Musikstücke jeden Schwierigkeitsgrads und Umfangs komponieren. (Ada Lovelace »Sketch of the Analytical Engine«, 1843, zit. nach Hyman 1997)

Schon 1883 ließ Emil Welte solch eine von Ada Lovelace imaginierte Musikmaschine patentieren, die mit gelochten Papierstreifen betrieben wurde  : das Orchestrion. Seit vielen Jahren beschäftigt sich das KünstlerInnen-Netzwerk alien productions1 in intermedialen Projekten mit der Geschichte der Industrie, der Maschinen und der daraus resultierenden Arbeits- und Lebensbedingungen, mit künstlerisch-technischen Utopien und deren Ausformungen. Maschinen aller Art spielen dabei eine wichtige Rolle. Wir sind der Meinung, dass die Geschichte der Industrie und der Maschinen eng mit der Geschichte einer technologischen Kunst, wie wir sie betreiben, verbunden ist. Und wenn Maschinen als Partnerinnen und nicht nur als ausführende Werkzeuge, nicht nur als Befehlsempfängerinnen, sondern als Teil eines Gesamtorganismus akzeptiert werden, gehen wir einen weiteren Schritt. Es geht nicht um die Glorifizierung von menschenähnlichen Robotern oder um die maschinelle Imitation von menschlichen Fähigkeiten, sondern um die Maschine als Partnerin mit ihren eigenen Möglichkeiten, Unvollkommenheiten und Bugs – als Mit- und Zusammenspielerin in einem Teamwork-Prozess. Unser erstes Maschinen-Projekt war die dreiteilige Produktion »Die Differenzmaschine«. Erarbeitet wurde dieses Projekt von einem Team aus KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und TechnikerInnen, das in permanenter Vernetzung »Die Differenzmaschine« konzipiert, gestaltet und weiterentwickelt hat  : Diese Projektreihe wurde in Modulform an verschiedenen Orten und in verschiedenen Medien realisiert. 18

Doris Ingrisch

Intuition, Ratio & Gender  ? Bipolares und andere Formen des Denkens

Ratio, die Vernunft, gilt als analytisches Vermögen, als epistemisches Instrument und Spezifikum des Menschen. Ihre Erkenntnis erfolgt über analytische Urteile. Vernunft ist die Form des Denkens, durch die wir, so heißt es, Prinzipien, Regeln und Bedeutungen erkennen können. Die ganze westliche Philosophiegeschichte hindurch findet sich dieser Begriff, wenn auch in immer wieder unterschiedlichen Definitionsvarianten. D.h., Vernunft hat ihre sich verändernde Bedeutungsgeschichte. So unterscheidet Platon zwischen noesis und dianoia, dem intuitiven Schauen und der diskursiven Erkenntnis. Aristoteles spricht von logos und phronesis, der denkenden und der handlungsgeleiteten Vernunft. Selbst in der im Mittelalter bei Meister Eckhart und Martin Luther angesetzten Trennung von Vernunft und Verstand, dem intellektuellen bzw. synthetischen sowie dem diskursiven bzw. analytischen Vermögen, werden Vorstellungen von unterschiedlichen Ausformungen des Geistes sichtbar. In der Aufklärung jedoch wird der Vernunft dann eine besondere Stellung zuteil. Nur er, der Geist, so die Ansicht, erlaube ein ›reines‹ Erkennen. René Descartes – seine »Meditationes de prima philosophia« erschienen 1641 – wird denn auch als Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft gesetzt, deren Prinzipien bis heute vielfach Wissenschaft schlechthin verkörpern. Das hier etablierte System hatte Unterscheidungen auf eine klare bipolare Basis gestellt  : Objektivität versus Subjektivität, Ratio versus Intuition, Wissenschaft versus Kunst. Doch auch der Begriff der Intuition wird erst in seiner Geschichte verständlich, welche die historische Gewordenheit des Begriffs in den Blick nimmt. ­Intuitio, lateinisch für die unmittelbare Anschauung, erscheint jedoch bereits als epibolé, das griechische Wort für schlagartiges Erfassen im Ganzen, das bei Epikur eine Rolle spielte. Intuition also bezeichnet ein Erkennen ohne die diskursiven, analytischen, rationalen Schritte des Verstandes. Sie bezeichnet einen uns zur Verfügung stehenden Zugang, um die Welt zu verstehen und sich in ihr zu bewegen. Bezeichnenderweise ist das Intuitive immer wieder Thema der Philosophie und bis zur Aufklärung und darüber hinaus mit hoher Bedeutung versehen. 19

Andrea Sodomka · Algebraische Muster

Abb. 1  : »Die Bühne ist leer«, Installationsansicht

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Doris Ingrisch · Intuition, Ratio & Gender?

Ernst Oldemeyer wies in der Geschichte der Intuition auf unterschiedliche Traditionen hin (Oldemeyer 2005). Eine dieser Traditionslinien, beginnend bei Platon und über Thomas von Aquin, Baruch de Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz und Friedrich Schelling führend, würdigte Intuition als Erkenntnisform, die kontemplative Einsichten ermögliche. Eine zweite Traditionslinie, in der Denker wie Aristoteles oder René Descartes zu nennen seien, betrachtete Intuition als evidente Vernunftseinsicht, das Erfassen dessen, was nicht zu beweisen ist, der Beweise aber auch nicht bedarf. Intuition als komplementärer Modus zum analytischen charakterisiert eine dritte Traditionslinie, der u. a. Henri Bergson und Edmund Husserl zuzuzählen wären. In diesem Kontext wird sie als Grundlage dafür betrachtet, sich selbst und die Welt erfassen zu können, als einfühlendes Verstehen und dementsprechend als wichtige und zu pflegende Methode. Die Mystiken des Orients und Okzidents bilden in dieser Betrachtungsweise den vierten Traditionsstrang. Durch sie würden Einsichten in Weltzusammenhänge ermöglicht, die sich anderen Erkenntnisformen entziehen. Einen fünften Strang sieht Oldemeyer in den Fragestellungen zu den unbewussten Regionen der Psyche in Abgrenzung zum rationalen Bewusstsein, vertreten u. a. durch C.G. Jung oder Sigmund Freud (vgl. Mertens/Obrist/Scholpp 2004 sowie Kettner/Mertens 2010). Zu einem sechsten Traditionsstrang schließlich werden Einsichten zusammengefasst, die aufgrund assoziativer bzw. bisoziativer Verknüpfungen entstehen, also Momente des Schöpferischen, auf die Bereiche der Gestaltpsychologie und Kreativitätsforschung ihre Aufmerksamkeit lenken. Trotz aller Differenziertheit der Betrachtung kommt jedoch den »intuitiven Modi der Welt- und Selbsterkenntnis« (Oldemeyer 2005, 244) weniger Anerkennung zu als den komplementär gedachten »reflexivdominierten Modi«, u. a. durch eine Höherbewertung der Aktivität gegenüber der Rezeptivität oder der Macht gegenüber der Nichtmacht. Gegenwärtig erfahren Intuition und Ratio eine neue Aufmerksamkeit. Einer der Gründe ist in der nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert sich situierenden Skepsis gegenüber dem Begriff der Ratio zu finden und im Bedürfnis, sich anderen Herangehensweisen an die Welt anvertrauen zu können. Die Kritik richtet sich vor allem gegen das Prinzip, das, so Wolfgang Welsch, »für den desaströsen Charakter der Wirklichkeit verantwortlich ist« (Welsch 1996, 140). Theodor Adorno und Max Horkheimer hatten mit der im amerikanischen Exil entstandenen und 1947 erschienenen »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/ Adorno 1947) bereits während der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges eine Diagnose der Veränderungen von Heils-Visionen in Unheils-Realitäten anhand der »instrumentellen Vernunft« vorgelegt. Wenn Ratio21

Andrea Sodomka · Algebraische Muster

Abb. 2 und 3  : »Die Bühne ist leer«, Installationsansichten

Die erste Manifestation dieser Serie war  : »Die Bühne ist leer«, 1996, eine Multimediainstallation von Martin Breindl und Andrea Sodomka (Modul 1). Inspiriert war diese Installation von den Konzepten des Wiener Architekten Friedrich Kiesler (1890–1965) und seinen elektromechanischen Bühnen. Ausgehend von der starken gesamteuropäischen Avantgarde-Strömung in der Kunst der 1920er-Jahre gab es zahlreiche Tendenzen, auch das Theater zu revolutionieren, es aus der Antiquiertheit der Form auf den (inhaltlich-technischen) Stand seiner Zeit zu heben  : weg vom Regie- und Schauspielertheater, hin zum >> Mechanischen, >> Kinetischen oder >> Optophonetischen Theater, einem Gesamtkunstwerk aus Farben, Formen, Klängen und Maschinerie. Einer der führenden Proponenten dieser neuen Theaterinterpretation war Friedrich Kiesler, der sich nicht nur in zahlreichen Manifesten programmatisch dazu äußerte, sondern auch einige seiner Vorstellungen realisierte. Darunter waren eine elektro-mechanische Bühne für Karel Capeks Roboterstück »W.U.R.«, uraufgeführt 1923 in Berlin und an der »Neuen Wiener Bühne« in der Wasagasse in Wien 9, wo Filmprojektionen, Spiegelungen (das sogenannte Tanagratheater), Lichteffekte und mechanisch bewegte Apparaturen zum Einsatz kamen, oder die 22

Doris Ingrisch · Intuition, Ratio & Gender?

nalisierung und Intellektualisierung zur Shoa führten, so seien die Entzauberung der Welt (Weber 1919) und ihre rationale Erklärung, so das Fazit, als gescheitert anzusehen. Vor allem die Überlegenheit der Position, die hegemoniale Dimension des Anspruchs sowie die Universalität des Blicks mittels der Vernunft und der damit einhergehende Machtanspruch wurden dadurch in Frage gestellt. Was wir heute dementsprechend vorfinden, sind diverse Formen, sind Ausgestaltungen, Ausdifferenzierungen des Vernunftbegriffs. Einerseits in eine Auffächerung in Gegensätzlichkeiten, d.h., theoretische und praktische Vernunft wurden ebenso unterschieden wie formale und materiale Vernunft. In der Binnenunterscheidung Vernunft contra Verstand wurde versucht, den widersprüchlichen Erfahrungen geschichtlicher Wirklichkeit Rechnung zu tragen (Kettner 1996). Jürgen Haber­ mas stellte der instrumentellen Vernunft übrigens später die intersubjektive, kommunikative Vernunft entgegen, die auf der Qualität der Anerkennung und dem Prinzip der Herrschaftsfreiheit basiert (Habermas 1981, 30). Wesentliche Aspekte zur Vernunftkritik gingen auch von der feministischen Wissenschaft aus. Hier wurde vor allem die Verbindung von Vernunft, Männlichkeit und Herrschaft zum Angelpunkt. Der Begriff der Objektivität – in der Definition von Erkenntnis frei von Subjektivität und Emotion – wurde hinterfragt und eine Neudefinition angestrebt. Die von Sandra Harding formulierte feminist standpoint epistemology (Harding 1991) schlug vor, die eigene Position des Denkens zu explizieren, um zu verhindern, politische Haltungen und Wertungen unreflektiert in die Forschung miteinfließen zu lassen. In diesem Zusammenhang wird von situated knowledge gesprochen. D.h., ein Bewusstsein darüber zu haben, von welcher Position aus wir sprechen, wir Wissen generieren. Auch das Konzept der transversalen Vernunft ist eine Neuformulierung. Wolfgang Welschs Anspruch war es, inmitten der Kritik ein tragfähiges, die Pluralität von Rationalitäten berücksichtigendes neues Konzept von Vernunft zu entwickeln. Im Wesentlichen ist sie als Medium eines Denkens in Übergängen zu begreifen. Im Zuge des Weiterdenkens des Vernunftbegriffs wurde nicht nur eine Differenzierung von Vernunft in Angriff genommen, auch das Verhältnis von Emotion und Vernunft gelangte in den Fokus (Angehrn/Baertschi 2000). Emotionen galten lange als Irritationspotential des klaren Denkens, die es abzuwehren galt. Heute wissen wir, dass sie nicht zuletzt auch für die Entwicklung von Kognition grundlegend sind (vgl. Heller 1980). Ihre so lange deviante Position innerhalb der Wissensformate hatte jedoch, wie Carola Meier-Seethaler es formulierte, zu einer »Verarmung unseres Erkenntnisbegriffs« (Meier-Seethaler 2000, 51) ge23

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anlässlich der von Kiesler 1924 organisierten »Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik« im Konzerthaus Wien präsentierte »Raumbühne«  : Die Bühne ist leer. Sie wirkt als Raum, als Dekoration befriedigt sie nicht. […] Träger der Bewegung sind  : der Klang, die Gestalt, Gegenstände  ; die Mechanik der gesamten Bühnenmaschinerie  ; das Licht. (Kiesler 1924a  ; zit. nach Lesák 1988, 68)

Die visionäre Präzision, mit der Friedrich Kiesler in seinen theoretischen und praktischen Arbeiten der 1920er- und 1930er-Jahre ästhetisch-technologische Entwicklungen thematisierte, die im Grunde erst heute realisierbar werden, bildete die Basis für die Installation »Die Bühne ist leer«. Durch digitale und analoge Vernetzung von Projektionsgeräten, Klang- und Lichterzeugern verwandelten sich die Realräume zu einer abstrakten virtuell-kinetischen »Raumbühne« (Kiesler, 1924b). Drei digital gesteuerte Diaprojektoren warfen kinetisch aufgetrennte Bilder von Friedrich Kieslers Entwurfsskizzen und Objekten in die Räume. Ein weiterer Projektor, mit einem rotierenden Spiegelsystem ausgestattet, entfernte scannerartig Teile aus diesen Bildern und bewegte sie über die Wände. Ein sich ständig veränderndes Muster traf auf ein mit nachleuchtender Farbe siebgedrucktes, ansonsten unsichtbares Bild. In den Nachbildern wurde für kurze Zeit, kinetisch fragmentiert, ein Portrait Friedrich Kieslers sichtbar (vgl. Abb. 2 und 3). Aus verteilten Lautsprechern erklangen Originalzitate aus den Schriften Kieslers. Assoziative Realklänge – Achterbahn, Dampfzüge, Elektrizität – verdichteten sich zu einer »optophonetischen Spielsymphonie« (Kiesler 1924b). »Die Differenzmaschine – ein Event mit einem Theaterraum«, 1996, von Martin Breindl, Petra Ganglbauer, Norbert Math, Peter Mechtler, Forian Radon, Andrea Sodomka, Peter Walz (Modul 2), handelt vom Erfinder Charles Babbage und der ersten Programmiererin Lady Ada Lovelace. Konfrontiert mit der fortschreitenden Industrialisierung Englands entwarf der Mathematiker, Physiker und Ökonom Charles Babbage Modelle von Rechenautomaten – die Differenzmaschine und später die Analytische Maschine –, die mit Hilfe von Lochkarten für beliebige Rechenoperationen programmiert werden konnten. Und obwohl Babbage aufgrund mangelnder finanzieller Unterstützung seine Modelle nie fertig stellen konnte, bilden sie die Grundlage für den ein Jahrhundert später erfundenen Computer. Im Jahr 1846 entwarf Charles Babbage gemeinsam mit Michael Faraday´(1791–1867) eine automatische Bühnenbeleuchtung und schrieb dafür eigens ein Ballettstück. Das schließt den Kreis zu den Experimenten mit elektro24

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führt. Dementsprechend plädiert sie für eine emotionale Vernunft, ein Einbeziehen von Gefühlen in die episteme, für ein reflektiertes Zusammenwirken der Erkenntniskräfte von Denken und Fühlen. Wir wissen heute, dass das im Bauchbereich situierte enterische Nervensystem eine ähnliche Struktur wie das Gehirn aufweist, ähnlich wie dieses funktioniert und mit dem Gehirn in permanentem Kontakt steht. Dementsprechend arbeiten Psychologie, Bildungsforschung oder auch die Sozialpsychologie an einer Theorie des unbewussten Nachdenkens (vgl. Gershon 2001, Busch 2002 sowie Gigerenzer 2007). Was Intuition für die Spätmoderne so interessant erscheinen lässt, ist vor allem die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge überaus rasch zu erfassen. Bezeichnenderweise lassen sich auch in den naturwissenschaftlich formulierten Modellen über das Denken analoge Änderungen darüber ablesen, wie über das Denken gedacht wird. Und auch hier geht der Trend in Richtung der Berücksichtigung höherer Komplexität. Wiesen die Neurowissenschaften Ende der 1990er-Jahre den Sitz des intuitiven Denkstils der rechten sowie den des rationalen Denkstils der linken Gehirnhälfte zu, als wären sie voneinander getrennt, so besteht heute bereits die Vorstellung des Gehirns als Netzwerk, in dem grundsätzlich immer beide Gehirnhälften aktiv sind (Friederice 1994). Intuition und Ratio. Und Gender  ? Versuchen wir nun der Gender-Komponente in diesen Konstellationen nachzuspüren. Parallel zur Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft, und das heißt zur Vorstellung von Trennung und Widerspruch auf allen möglichen Ebenen – von Rationalität und Irrationalität, von Kultur und Natur, von innen und außen –, begegnen wir nicht zuletzt der Dissoziation der Geschlechter – Frau und Mann. Bezeichnenderweise ist es diese Zeit, in der sich auch zwischen Kunst und Wissenschaft eine Trennung vollzieht. Zwei Bereiche entstehen, die völlig andere Zugangs- und Ausdrucksweisen repräsentieren (vgl. auch Ingrisch 2012b). Wesentlich ist, dass diese Dichotomisierung vor allem durch eine Hierarchisierung und Naturalisierung ihr besonderes Gepräge erhielt. Durch Konnotationen bildeten sich Wertecluster. Begriffen wie Geist, männlich, Kultur wurde mehr Bedeutung zugeschrieben, sie wurden als höher stehend betrachtet als Körper, weiblich, Natur. Auf Basis einer engen Verknüpfung von Geschlechter- und Wissensordnungen entstand ein neues Weltbild. Differenz war zur Ungleichheit geworden. Wir wissen, dass Frauen darin die Sphäre des Privaten, des Hauses zugeschrieben wurde, während Männer die der Öffentlichkeit und der Erwerbstätigkeit repräsentieren sollten. Frauen standen für das Sorgende, Männer für das Explorierende, Frauen für das Gefühl und die Intuition und Männer für den 25

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Abb. 4  : »Die Differenzmaschine – ein Event mit einem Theaterraum«, Dokumentation der Performance

mechanischen und Raumbühnen von Friedrich Kiesler im Wien und Berlin der 1920er-Jahre. Angeregt von Friedrich Kieslers kinetischer Bühne (1924) wurde »Die Differenzmaschine« als kinetisches Theater mit der Bühnenmaschinerie und den BühnenarbeiterInnen des Berliner Ensembles als DarstellerInnen aufgeführt. Dieses Projekt vertauschte die gewohnte räumliche Anordnung des Theaters. Die ZuschauerInnen wurden auf die Bühne geführt und die gesamte Maschinerie, die üblicherweise – selbst unsichtbar – Illusionen erzeugt, wurde so zur eigentlichen Akteurin. Licht, Projektionen, Seilzüge und Hebevorrichtungen, Vorhänge und Klanginstallationen traten in Aktion. Die orchestrale Kinetik aller zusammenwirkenden Ereignisse, teils spärlich über die Raumdistanz kommunizierend, teils in Raum füllendem, wuchtigen Synchronismus, ließ für die ZuschauerInnen das Bild einer Meta-Maschine entstehen – und zwar von innen heraus, als ob sie sich selbst als Teile in ihr befänden. Im Modul 3 »Algebraische Muster« (1996), einer Radiokomposition in Form eines fiktiven Dialoges zwischen Charles Babbage (1791–1871), dem Erfinder 26

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Verstand. Diesen Konnotationen und den ihnen eingeschriebenen Hierarchien – das weiblich Konnotierte war immer das Deviante – haben wir nach wie vor zu begegnen. Der dadurch etablierte Wissensbegriff ließ nur mehr das rational-vernunftmäßige Wissen zu. Dieter Wuttke spricht hier von einem Trenn-Zwang, der sich gegen ein umfassendes Konzept, wie wir es z. B. im Humanismus finden, stellte (Wuttke 2003). Damit thematisieren wir die Herrschaftskonstellationen der Wissensformen. Die Etablierung von Wissenssystemen geht immer mit Macht über die Wahrnehmung Hand in Hand und damit steht nicht zuletzt die Definition von Wirklichkeit auf dem Spiel. Historisch wie gegenwärtig ist es interessant zu verfolgen, wie mit Um- und Neuformulierungen von Begriffen bzw. mit einem Darüberhinaus- und Weiterdenken der Wissensbegriff selbst und die darin vertretenen Wissens- und Geschlechterordnungen zur Disposition stehen. Betrachten wir Objektivität und Subjektivität von dieser Basis aus noch einmal. Lorraine Daston zufolge beinhalten Evidenz, Tatsache und Objektivität, die sie als drei Formen der Rationalität in ihrer unterschiedlichen Geschichte beschrieb (Daston 2001), Qualitäten, die heute eher der intuitiven Seite zugeordnet wären, wie z. B. das Staunen. Dieses aber galt im wissenschaftlichen Denken der frühen Neuzeit als Weg, den Verstand dazu zu bringen, sich mit Aufmerksamkeit den einzelnen Dingen zu widmen (Daston 2000, 24). Auch die immer wieder aufflammende Diskussion über den Anteil von Imagination an der wissenschaftlichen Produktion weist auf die Verhandlungsspielräume zwischen Ratio und Intuition hin. Dass Imagination in beiden Bereichen ein wesentlicher Stellenwert zukam, war allerdings bis zum radikalen etymologischen Bruch im Begriff Faktum Konsens. Abgeleitet von facere, faire und tun verschob sich die Bedeutung des Wortes in Richtung Vermutung, Fiktion. Die auf dieselben sprachlichen Wurzeln zurückgehenden Begriffe Fakt und Artefakt entwickelten sich auseinander und wurden zu Antonymen. Lorraine Daston weist darauf hin, dass sich »objektiv« und »subjektiv« als Gegensätze erstmals in den 1820er- und 1830er-Jahren in deutschen, französischen und englischen Lexika finden (vgl. Daston 2001). Ein weiteres, nicht minder geschlechtlich konnotiertes Begriffspaar finden wir in der Körper-Geist- bzw. body-mind-Dichotomie, die seit der Antike im hochkomplexen Leib-Seele-Problem angesprochen wurde (vgl. Beckermann 2008, Hermanni/Buchheim 2006, Böhme 2003). Anders als in der östlichen Philosophie, die zwar von unterschiedlichen Einheiten, nicht aber von einem LeibSeele-Dualismus ausgeht, werden in dessen Kontext getrennte Pole wie innen und außen, Materie und Form zum Thema. 27

Andrea Sodomka · Algebraische Muster

Abb. 5  : »Die Differenzmaschine – ein Event mit einem Theaterraum«, Dokumentation der Performance

der Differenzmaschine, und Lady Ada Lovelace (1815–1852), der ersten Programmiererin der Welt, begeben sich die Künstler-AutorInnen Andrea Sodomka, Martin Breindl, Norbert Math und Peter Mechtler auf Spurensuche nach jenen ästhetisch-technischen Visionen, die im 19. und im frühen 20. Jahrhundert Furore gemacht haben, inzwischen aber längst in Vergessenheit geraten sind. Ihre Fragestellung lautete  : »Welch anderes historisches Bild wäre entstanden, hätte man diese Visionen konsequent weiterverfolgt und realisiert  ?« Aus den unzähligen, nie verwirklichten und weiterentwickelten Ideen und Entwürfen des frühen technischen Zeitalters wurden für »Die Differenzmaschine« solche ausgewählt, die als visionäre Zukunftsweiser den Technologien der Neuen Medien schon sehr nahe kommen. »Die Differenzmaschine« ist eine Arbeit, deren inhaltliche Struktur sich erst aus der konsequenten Reflexion und Anwendung jener technischen Möglichkeiten, die sie beschreibt, generiert. »Arbeitsmuster« (2003), ein weiteres Maschinen-Projekt von alien productions, war eine Installation und Performance in den ehemaligen Räumlichkeiten der Teppichfabrik Eybl in Krems. Seit 1868 existierte an diesem Ort eine Manufaktur 28

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Cartesianisch fundiertes Denken privilegierte das rationale Denken gegenüber der Körpermaterialität. Körper wurde dabei immer vergeschlechtlicht und Geschlecht essenzialistisch gedacht. Judith Butlers Behauptung, Körper seien diskursiv hergestellt, stellte in diesem Denken eine große Herausforderung, denn nicht zuletzt einen Bruch mit diesen Vorstellungen, dar. In welchem Ausmaß die Diskurse über Geschlecht dieses konstituierten – ja, dadurch würde der Körper als ein ›natürlicher‹ erst hervorgebracht, so ihr Tenor – gab vehemente Anstöße dazu, Körper anders zu denken. Auch das Denken in Kategorien des Transgenders, der Transsexualität bzw. des Transidentitären, das Denken in Uneindeutigkeiten, verweigert es, den Körper weiterhin als feste, gleich bleibende Materialität zu beschreiben. Grundtenor war nun dessen Formbarkeit geworden, sei es durch Crossdressing, Hormone, Operationen etc. Verändert sich, so das Fazit daraus, die Geschlechterperformance, der Habitus einer Person, so steht auch das Verhältnis zum Körper, zum Körper-Gefühl, zum Körper-Sein, zum KörperWissen und damit auch die body-mind-Dichotomie neu zur Disposition. Eine analoge Konstellation des Dichotomen bietet das Gegensatzpaar Bewusstes–Unbewusstes. Das Bild des Eisbergs, von dem lediglich die Spitze sichtbar ist, geht eigentlich von einem großen verbundenen Ganzen aus, doch in der Logik der Wissenschaft wurde das Unbewusste zum »Anderen« schlechthin stilisiert. Christina von Braun, Dorothea Dornhof und Eva Johach, die seiner Rolle für die Wissensproduktion und die Wissensordnung nachgingen, stellten fest, dass dies unter Erzeugung eines kolonialen Metaphernfeldes und dem Einsatz von Geschlechtercodes passiere (von Braun/Dornhof/Johach 2009, 9). In diesen Konnotationsfeldern wird dann auch das bipolare Begriffspaar Rationalität und Irrationalität verhandelt (vgl. Mersch 2006). Das Rationalitätsideal benötigte Mythen, Träume und damit das Nicht-Rationale, um sich in der Abgrenzung zu definieren. Um die Unterscheide noch deutlicher zu machen, forcierte dieses Ideal die Verbindung zum Dunklen und Weiblichen, dem weniger Wert zugeschrieben wurde. Die Verlockung dieses Nicht-Rationalen, des Intuitiven blieb bestehen, da hier auch die Quelle der Kreativität vermutet wurde. Das Unbewusste in der Wissensordnung zu verankern – Sigmund Freud begann dieses Unterfangen – bedeutete, die Perspektive der Eindeutigkeit, des Homogenen und der Linearität zu verlassen, die das klassische Wissenschaftsbild erforderte. Unbewusstes miteinzubeziehen verlangte, Gegensätzliches nebeneinander stehen zu lassen, Zeitlosigkeit zu akzeptieren (vgl. Kupke 2000), Widersprüche nicht als Gegensätze aufzufassen. Es repräsentierte nicht mehr den Modus des Entweder-Oders, sondern den des Sowohl-als-Auch, des Und (Freud 1961 [1933]). Damit sehen wir auch diesbezüglich ein neues Denken die 29

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Abb. 6  : »Arbeitsmuster«, Installationsansicht

für Grobgewebe und Jalousien. Heute befinden sich dort Kulturinstitutionen wie »die Artothek« oder die Galerie »Factory«. Im heutigen Ausstellungsraum der »Factory« war bis in die 1970er-Jahre die Weberei der Fabrik Eybl untergebracht. Bei unserem Projekt »Arbeitsmuster« haben wir intensiv mit sechs ehemaligen Weberinnen der Fabrik zusammengearbeitet. Unter anderem wurden in Videointerviews die Lebensumstände und Arbeitsbedingungen dieser Arbeiterinnen thematisiert. Ein weiteres inhaltliches Feld eröffnete sich in der Technik des JacquardWebstuhls, der mit Lochkarten gesteuert wurde und als erster programmgesteuerter Automat der Geschichte betrachtet wird. Die Weiterentwicklung dieses Lochkartenprinzips führte über die Differenzmaschine von Charles Babbage und die elektrisch betriebene Zählmaschine von Hermann Hollerith schließlich zur modernen Computertechnologie. Die Gespräche mit den Weberinnen fanden in betont persönlicher Atmosphäre statt, entweder bei ihnen zu Hause oder auch an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz. Das Gesprächsmaterial wurde im zweiten Schritt von den KünstlerInnen gesichtet, editiert und bearbeitet, sodass stimmige »Portraits« der Frauen 30

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Bühne betreten, eine Form, die sich von der einander ausschließenden bipolaren Struktur unseres Denkens verabschiedet. Punktuell einige Aspekte der Entwicklung vom Entweder-Oder zum Sowohl-als-Auch, zum Und, die auch als Entwicklung von Machtverhältnissen zu lesen ist und sicher weniger linear verlief, als sie in dieser fokussierten Zusammenschau erscheinen mag (vgl. auch Ingrisch 2012b). Seit Ende der 1990erJahre hat vor allem die bildende Kunst die Wissenschaften zu einem Thema werden lassen und sich crossovers zugewandt. Installationen fiktiver wissenschaftlicher Arbeitsweisen, Versuchsaufbauten, wie sie auch in den Naturwissenschaften gebräuchlich sind, fanden sich als neue Positionen künstlerischer Arbeitsweisen wieder. Prozesskünstler_innen griffen auf wissenschaftliche Theorien zurück, um ihre Werke kunsttheoretisch zu untermauern, naturwissenschaftliches Fachwissen, Vorgehens- und Präsentationsweisen wurden in künstlerischen Kontexten verwendet. Als Inspiration dieser künstlerischen Positionen dienten wissenschaftsparodistische Strategien in der Kunst der 1910er- und 1920er-Jahre, u. a. von Marcel Duchamps oder Max Ernst, aber auch die Synthese von Kunst und Naturwissenschaft, von rationalen und nichtrationalen Wissensformen, die ab den 1960er-Jahren u. a. von Joseph Beuys thematisiert wurden, zählten dazu (vgl. Müller 1994). Diese neuen künstlerischen Zugänge wirkten jedoch über die Kunst hinaus, da sie Objektivität, Autonomie und Passivität1, also zentrale wissenschaftliche Paradigmen, in Frage stellten. Damit hinterfragten sie zugleich etablierte Grundannahmen wie die Trennung von Natur und Kultur, von Objekt als dem sogenannten Natur-Pol und von Subjekt als dem sogenannten Gesellschafts-Pol. Mit anderen Worten  : Sie hinterfragten den alleinigen Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften (Haag 2003). Klare geschlechtliche Zuordnungen sind nicht zuletzt durch ein queeres Denken in Bewegung geraten. Das Abrücken von bipolaren Zuordnungen weiblich versus männlich zu Transgender bzw. all dem, was zwischen den Eindeutigkeiten zu entfalten möglich ist, strapaziert durch unterschiedliche Strategien des NichtAnerkennens, des Infragestellens oder der Ver-Uneindeutigung herkömmliche Standards (Butler 1995 [1993] sowie Lorber 1999 [1994]). Ein Entweder-Oder entspricht diesem Denken nicht mehr. Der Gap, die Lücke, _, bringt dies auch sprachlich zum Ausdruck. Er gilt als Statement, das Erodieren der Binarität zu dokumentieren und weiterzutreiben. Im Entgrenzen traditioneller Räume wird ein Denken jenseits von Gegensätzen angeregt. Auch in einem anderen Entwicklungsstrang des Denkens über Geschlechter, der Debatte um Intersektionalität, ist die Mehrdimensionalität als Tendenz, Komplexität gerecht werden zu wollen, nachzuzeichnen. Ein Ansatz, der eine 31

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Abb. 7, 8  : »Arbeitsmuster«, Installationsansichten

Abb. 9  : »Arbeitsmuster«, Performanceansicht

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Vielheit soziokultureller Dimensionen als Voraussetzung des Erfassens gesellschaftlicher Ungleichheiten einfordert. Class und race hatten den Fokus auf Geschlecht als holy trinity zwar bereits Ende der 1970er-Jahre einer Erweiterung zugeführt (Andersen/Hill Collins 1997), die über ein additives Und hinausweisenden Verwobenheiten der Kategorien begannen jedoch erst Ende der 1980erJahre, ausgehend vom angloamerikanischen Sprachraum, als interdependente Achsen der Differenz diskutiert zu werden (Klinger/Knapp/Sauer 2007 sowie Walgenbach 2007). Auch am Beispiel des Feldes der Forschung können Veränderungen des bipolaren Denkens vom Entweder-Oder zum Und verfolgt werden. Künstlerische Forschung, Foren wie die artistic research oder arts-based research lese ich als symp­tomatisch für ein neues Denken, in denen es auch um das Aushandeln hegemonialer Ansprüche, um die Verfügung über Ressourcen, um Herrschaft und um Deutungsmacht geht – auf persönlich-individuellen Ebenen ebenso wie auf strukturell-institutionellen oder philosophisch-epistemologischen. Die Nicht-Trennung von Subjekt und Objekt sei, so Henk Borgdorff, Professor für Forschung in den Künsten, ein wesentliches Merkmal der Forschung in der Kunst. Künstlerisches Forschen stellt nicht zuletzt die Trennung von Theorie und Praxis in Frage und damit implizit unsere Vorstellungen von Kunst und Wissenschaft, von Welt. John Dewey  : »Die seltsame Vorstellung, der Künstler denke nicht, … während der Wissenschafter nichts anderes tue.« (Dewey 1988 [1934], 23) Für ihn ist Malen »Denken, und zwar Denken in einer seiner tiefgreifendsten Formen« (Ebd., 59). Der performative turn, der in den 1990er-Jahren erfolgte, allerdings mit Vorläufern aus den 1940er- und 1950er-Jahren, beschäftigte sich u. a. mit den Handlungsdimensionen in Kunst und Wissenschaft und lenkte die Aufmerksamkeit auf Performativität als Wissensgenerierung. Wie artikuliert sich Wissen über tradierte Vorstellungen wissenschaftlicher Wissensgenerierung hinaus  ? Weiterentwicklungen dieser Zugänge werden offensichtlich – Wissen als Prozess oder, wie Elke Bippus es formulierte, Kunst als »epistemische Praxis« (Bippus 2009, 8). Sie öffne den Blick für bislang unbeachtete Formen des Wissens, hybride Mischformen, Mikrologien und plurale Ordnungen des Wissens. Die prozessuale Dimension des Denken, hybrides Denken, ein Denken über Bipolaritäten hinaus, ein postmodernes, vernetztes, ein postdisziplinäres Denken, ein Denken im Trans, ein Postgender-Denken – all das kann als Versuch gelesen werden, die Grenzen des Denkens mit den in ihnen verfestigten Vergeschlechtlichungen und Hierarchien zu verlassen und Möglichkeitsräume auszuloten. Dass das nicht so einfach ist, ist vor allem dann nachzuvollziehen, wenn wir uns die 33

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entstanden. Im Ausstellungsraum wurden die sechs Videoportraits auf Monitoren auf weißen Podesten installiert. Aus den Videos wurde je ein Standbild ausgewählt und so weit am Computer bearbeitet, dass es als Vorlage für ein »gewebtes« Portrait dienen konnte. Die sechs Weberinnenportraits wurden über ein Digitaltransferdruckverfahren auf Teppichgewebe aufgebracht und im Raum analog zum berühmten gewebten Jacquard-Portrait ausgestellt. Joseph-Marie Jacquard (1752–1834) hat nämlich mit etwa 20.000 Lochkarten am Jacquardwebstuhl sein eigenes Portrait automatisch weben lassen. Als »Lauftext« über den Webstuhl projiziert wurden Zitate aus Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie der Medientheorie zu Mechanisierung und Automatisierung, ausgehend vom Jacquard-Webstuhl, der ersten programmierbaren Maschine der Geschichte. In regelmäßigen Zeitabständen bricht für einige Minuten wieder der frühere »Arbeitsalltag« in den Raum ein  : eine Sound- und Videoscape, generiert aus Bild- und Klangaufnahmen von modernen Jacquard-Webstühlen. Es entsteht der Eindruck, als würde man mitten in einer lärmerfüllten Arbeitshalle stehen, die jedes persönliche Gespräch auslöscht. Die Sound- und Videoscape bringt den Raum zum Kippen. Stehen ansonsten die persönlichen Erlebnisse der Arbeiterinnen im Vordergrund, werden diese durch den Einbruch des »Automatisierten«, des »Maschinellen« und der »offiziellen Geschichtsschreibung« für kurze Zeitspannen verdrängt. So pendelt der Raum permanent zwischen ›Geschichten‹ und ›Geschichte‹ und belässt die BesucherInnen in der Uneindeutigkeit dessen, woraus die sogenannte ›Wirklichkeit‹ konstruiert ist. Der in der Installation »Arbeitsmuster« 2003 aufgestellte mechanische Baumwollwebstuhl (Baujahr 1880) wurde für eine Performance in Betrieb genommen  : Eine Weberin fertigte darauf ein Webstück an, während der Webstuhl selbst – mit Pickup-Mikrophonen und Kamera versehen – gleichzeitig auch als Klangund Bilderzeuger diente. Diese »Arbeitsgeräusche« wurden von den KünstlerInnen sowohl akustisch als auch visuell live elektronisch bearbeitet und dienten als Basis für eine Improvisation. Im selben Ausmaß, wie das mechanisch hergestellte Gewebe unter den gewohnten Handgriffen der Weberin entstand, erzeugten die KünstlerInnen mit ihren Geräten einen »Klang- und Bildteppich« – geprägt vom Rhythmus der Maschine, der den Raum erfüllte. »Künstleringenieure vs. Maschinendivas«, eine retro-utopistische Recherche zum Maschinentheater (2007) von Andrea Sodomka und Eva Ursprung, be34

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grundlegenden Strukturen des westlichen Denkens vor Augen führen. Die unser Denken bestimmenden Axiome etablierten Bipolarität auf den und durch die Ebenen der in der Logik formulierten Normen des Denkens. Zur Erinnerung  : A ist gleich A. A ist nicht Nicht-A  ; und ein Drittes gibt es nicht – der Satz der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Über diese Axiome ist hinauszugehen, wollen wir ein neues Denken explorieren. Exemplarisch nun drei Konzepte kurz skizziert, die dafür Inspiration bieten können. Das Präfix Trans, sei es Transversalität, Transdisziplinarität oder Transgender, verweist auf die Intention der Grenzüberschreitung. Damit wird vielfach der Raum zwischen den Polen wichtig – »the interaction term«, wie Basarab Nicolescu, Autor des »Manifesto of Transdisciplinarity« es nennt – oder »the third space«, Homi Bhabhas Konzept von Hybridität als Denkfigur einer Mischform von bislang getrennten Systemen (Bhabha 1994) bildet das erste Beispiel. Der Unterschied solcher Zugänge gegenüber pluralistischen bzw. additiven Herangehensweisen liegt in der Bereitschaft, Berührung und Veränderung zuzulassen, oder genauer formuliert  : diese zu intendieren. Gegenseitiges Lernen ist Voraussetzung und damit eine Haltung, in der das sogenannte Andere wertschätzend betrachtet wird. Transdisziplinäres Denken und transdisziplinäre Praxis finden in einem begrifflichen Instrumentarium des die Bipolaritäten aufbrechenden Und seinen Ausdruck  : Partizipation, Interdependenz, Kooperation, Integration, Permeabilität, Kohärenz, Hybridität etc. sind die für sie geltenden Schlüsselbegriffe. Mit Sabine Hark ist Transdisziplinarität als Remedium gegen das Herrschaftswissen zu bezeichnen (Hark 2005). Als eine neue Basis von Wissensgenerierung ist vor allem das machtsensibilisierende, das reflektierende und das dialogische Moment dieser Herangehensweise bezeichnend. Vielleicht im Sinne von Rosa Braidottis Methoden des cross-boundary oder transversal transfer (Braidotti 2006)  : Als »quest for overcoming dualism and reconnecting life and thought […] it is a joint commitment to re-thinking subjectivity as an intensive, multiple and discontinous process of interrelation« (Braidotti 2002, 69). Im Dialog, dem zweiten Beispiel, ist die Wertschätzung diverser Wissensformen ebenso wesentlich wie das ebenbürtige Gespräch. Charakteristisch ist nicht das Präferieren eines der Pole – das hieße, der dichotomen Struktur verhaftet zu bleiben –, sondern die Intention, etwas Neues entstehen zu lassen. Zurückgehend auf den Quantenphysiker David Bohm und den Religionsphilosophen Martin Buber fand die sich als Gesprächsmethode und neue Form der Wissenskommunikation verstehende Dialogmethode ab den 1980er-Jahren großen Zuspruch. Der Fokus richtet sich darauf, Hierarchie nicht allein auf der inhaltlichen Seite, sondern auch auf der strukturellen Ebene aufzulösen. Anders als bei der analy35

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Abb. 10  : »Arbeitsmuster«, Performanceansicht

schäftigt sich – den erweiterten Theaterbegriff vom Beginn des 20. Jahrhunderts aufgreifend – mit der Rolle von zeitgenössischen Künstlerinnen in der elektronischen Kunst. Als Ingenieure bezeichnet – unter vielen anderen – der Architekt Friedrich Kiesler die Künstler seiner Zeit  : »Der Dichter unserer Zeit ist Ingenieur der mit höchster mathematischen Präzision berechneten optophonetischen Spielsymphonie.« (Kiesler 1924b, II) Die Bezeichnung »Maschinendivas« stammt von Virginia Eubanks, Associate Professor of Women’s Studies, cyberfeminism, USA. Sie verwendete diesen Begriff in einem Interview über die Survival Research ­Laboratories, einer in Kalifornien gegründeten Maschinenperformancegruppe, für die Frauen, die in dieser Gruppe arbeiten. Den Begriff »Retro-Utopismus« verwendet die deutsche Medienkunsttheoretikerin Inke Arns in ihrem Buch »Objects in the mirror may be closer than they appear  ! – Die Avantgarde im Rückspiegel« (2004) und bezeichnet damit das Interesse der KünstlerInnen der 1990er-Jahre an den Utopien und technischen Neuerungen des beginnenden 20. Jahrhunderts. 36

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sierenden, in Bestandteile zerlegenden Diskussion ist im Dialogverständnis die Kunst des gemeinsamen Denkens, wie William Isaacs es formulierte, intendiert, durch (dia) das Wort (logos) in Beziehung zu kommen (Isaacs 2002). Respekt für die anderen, Respekt für sich selbst und Respekt vor den Unterschieden zählen zu grundlegenden Prinzipien der Dialogpraxis. In einer Zeit, in der Wissenschaft wie auch Kunst der Anforderung ausgesetzt sind, die Grundlagen des eigenen Denkens zu reformulieren und damit auch ihre Identitäten neu zu definieren, in diesem Prozess gegenseitiger Einflussnahme und Abgrenzung eröffnen sich epistemisch-ästhetische Transformationen und Neupositionierungen (Ott 2010). Die vom angloamerikanischen Raum ausgehende arts-based research, das dritte Beispiel, ist als Reaktion auf das positivistische Weltbild zu lesen, das die Bipolarität insofern festschrieb, indem es eine unabhängig vom Forschungsprozess existierende, von den Forschenden getrennte Wirklichkeit voraussetzte. Arts-based research involviert künstlerische Prozesse in die Forschung, die Künste werden zu »primary modes of inquiry« (Mc Niff 1998). Aus der Notwendigkeit, auf Fragen zu reagieren, die mit herkömmlichen Methoden nicht zureichend behandelt werden können, entwickelten sich neue Zugänge und Standards. Die Künste, so Patricia Leavy, »at their best, are known for being emotionally and politically evocative, captivating, aesthetically powerful, and moving. Art can grab people’s attention in powerful ways.« (Leavy 2009, 12) Wenn Musik es z. B. möglich macht, dem, was sonst nicht artikuliert werden kann, Ausdruck zu verleihen (Gagel 2010), dann kann sie als Forschungsmethode dienen, sowohl in der Datenanalyse, als auch in der Interpretation oder der Darstellung. Es hieße, die Aufmerksamkeit auf die Form, das Timbre, die Melodie zu lenken – die Form einer Lebensgeschichte, die Bedeutung dieser Form, das Zusammenpassen der einzelnen Teile, die die Form bilden, als Wahrnehmungsebenen einzusetzen. Dem Rhythmus Beachtung zu schenken hieße, die Geschwindigkeit in einer Erzählung, die Tempi und die Beziehung zwischen ihnen zu betrachten und die Bedeutung, die daraus entsteht. Der Aspekt des Timbres reflektiert den Ton, die Klangfarbe. Wie wird etwas gesagt, wie getan  ? D.h., mit welchen Kommunikationsstilen haben wir es zu tun  ? Die Melodie entspräche der Aufmerksamkeit für die plotline, also für die Struktur, auf der inhaltlichen Ebene ebenso wie in der Darstellung. Diese künstlerischen Parameter erweitern das Wissbare, die Evidenzen und deren Repräsentanten. Sie eröffnen Wege, die fluiden Kulturen der Spätmoderne auzuloten und das dafür erforderliche Denken weiterzuentwickeln. In diesen neuen Formen des Denkens, diesen neuen Wissens- und Geschlechterformen, den Ansätzen neuer Wissens- und Geschlechter-Un/Ord37

Andrea Sodomka · Algebraische Muster

Damals überstürzten sich die Forderungen nach neuen Bühnenmaschinerien, neuen Techniken und neuen Theaterräumen. Die FuturistInnen propagierten ein Theater, das dem Leben draußen entsprechen sollte  : Maschinen, Automobile, Flugzeuge als Akteure, Fabriken als Aufführungsorte. Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) forderte ein »théâtre aeroradiotelévisé«  ; Mario Scaparro erfand die »Aerosynthesen«, in denen Flugzeuge die Akteure waren. Velimir Chlebnikov verfasste 1921 sein »Radio der Zukunft«, das die ganze Welt als Aufführungsort hatte. In der 1920–1921 entwickelten »elektro-mechanischen Schau« verwendete der russische Avantgardist El Lissitzky (1898–1941) eine dynamische-optophonetische Bühnenkonstruktion. Laszlo Moholy Nagy entwickelte seine »Mechanische Exzentrik« und Friedrich Kiesler seine »Raumbühne«. Es scheint ja manchmal, als wäre die Beschäftigung mit Maschinen auch heute noch eine Männerfantasie und -realität – zumindest in der Kunst. »Boys with toys« – wie es Virginia Eubanks in ihrer Reportage über die Survival Research Laboratories ausdrückt. Trotz intensiver Recherche ist es uns nicht gelungen, am Beginn des 20. Jahrhunderts eine »Künstleringenieurin« zu finden. Die Spuren dieser Zeit sind heute aber in vielen Projekten von Künstlerinnen zu finden. Dass es jetzt im Gegensatz zu vor 100 Jahren zahlreiche Künstlerinnen gibt, die sich mit diesem Feld auseinandersetzen, ist eine Tatsache, die in diesem Projekt thematisiert wird. Wir nennen sie die »Maschinendivas« des 21. Jahrhunderts. Die Ideen eines kinetischen, elektro-mechanischen, optophonetischen »Theaters«, eines »Theaters« weitergeführt auf die Bühne des Cyberraums, eines »Theaters« im weitesten und weiterentwickelten Sinn, das mit den heutigen Strukturen, Techniken, Gedanken arbeitet, verfolgen und verwirklichen die »Maschinendivas« des 21. Jahrhunderts. Die Positionen und Arbeitsweisen von zeitgenössischen Künstlerinnen in diesem neuen erweiterten »Theaterraum«, vor allem aber ihre Wurzeln wie auch die Beschäftigung mit »Maschinen aller Art« sind Ziel und Thema unserer Recherche. Zwischen Internetbühnen, Space-Art-Projekten und Roboterdarstellern bewegen sich heute diese Frauen, die die Figur des »Künstleringenieurs« des beginnenden 20. Jahrhunderts transformiert und ihr viele neue Formen hinzugefügt haben. Die bulgarische Künstlerin Boryana Rossa im Interview für die »Maschinendivas«  : My rolemodel is the creator, the inventor and the critical thinker. Those are three things that I think have to be combined in me. […] For me the most interesting machines are the rebellious ones or the most interesting robots are the rebellious ones. The word roboter […] was used as a symbol 38

Doris Ingrisch · Intuition, Ratio & Gender?

nungen – und das erscheint mir im Rahmen dieser Vorlesungsreihe nicht zuletzt das Relevante dieser Gedanken-Skizze zu sein – sind Ratio UND Intuition vertreten – nun aber nicht in einer bipolar getrennten Formation, sondern in den unterschiedlichsten Ausprägungen des Und, des beyond, des inbetween.

Anmerkung 1 Gemäß der positivistischen Auffassung, dass sich das Beobachtete mit der Beobachtung nicht verändert. Heute gehen wir vielmehr von einer Interaktion aus.

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Andrea Sodomka · Algebraische Muster

of the rebellious working class in our society. Robot comes from the notion of the rebellious worker. […] These are still my utopias and this is something that I really go forward for […] People have to be creative and technology to be liberating.

Anmerkung 1 alien productions wurde 1997 von Andrea Sodomka, Martin Breindl, Norbert Math und August Black als KünstlerInnen-Netzwerk für Arbeiten in Theorie und Praxis Neuer Technologien und Medien gegründet. Ihre Werke umfassen Medienperformances und -installationen, elektronische Musik, Netzkunst, Radiokunst, Sound Art, interaktive Kunst, Video und bildende Kunst. alien productions steht insbesonders für Kooperationsprojekte mit anderen KünstlerInnen, TechnikerInnen, TheoretikerInnen und WissenschafterInnen aus den verschiedensten Bereichen. alien productions versteht sich als ein offenes Netzwerk, in dem SpezialistInnen verschiedenster Provenienz in interdisziplinärer Weise zusammenarbeiten. http  ://alien.mur.at

Werkverzeichnis »Die Bühne ist leer« Multimediainstallation, 1996 von Martin Breindl, Andrea Sodomka. Mitarbeit  : Bernadette Felber, Markus Lang. FLUSS, Schloss Wolkersdorf, A, 1996  ; Centro de Imagen, México D.F., MEX, 1997  : Otis Gallery, Los Angeles, USA [Austrian Artists Take Space], 1998 »Die Differenzmaschine – ein Event mit einem Theaterraum« Kinetisches Theater, 1996 von Martin Breindl, Petra Ganglbauer, Norbert Math, Peter Mechtler, Florian Radon, Andrea Sodomka, Peter Walz. Berliner Ensemble, Berlin, D [sonambiente. festival für hören und sehen], 1996 »Algebraische Muster« Radiokomposition, 1996 von Andrea Sodomka, Martin Breindl, Norbert Math, Peter Mechtler, Petra Ganglbauer. SprecherInnen  : Sandra Kreisler, Fritz Grieb. Tontechnik  : Anton Reininger. Erstsendung  : Ö1, ORF Kunstradio, ORF Zeitton 21. 11. 1996 »Arbeitsmuster« In-situ-Installation, Performance und Radiokunstarbeit, 2003 von Martin Breindl, Andrea Sodomka. Erstsendung ORF Kunstradio 2. 11. 2003 40

Doris Ingrisch · Intuition, Ratio & Gender?

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Andrea Sodomka · Algebraische Muster

»Künstleringenieure vs. Maschinendivas« Eine retro-utopistische Recherche zum Maschinentheater, work in progress seit 2007 von Andrea Sodomka und Eva Ursprung im Auftrag des IMA – Institut für Medienarchäologie, Hainburg, A  ; abrufbar unter http  ://machinedivas.ima. or.at/  ?page_id=90 (31. 7. 2012)

Literatur und Quellen Inke Arns (2004), Objects in the mirror may be closer than they appear  ! Die Avantgarde im Rückspiegel. Zum Paradigmenwechsel der künstlerischen Avantgarderezeption in (Ex-) Jugoslawien und Russland von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart. Dissertation an der Humboldt-Universität, Berlin Virginia Eubanks (1997), »Machine Divas  : The Women of Survival Research Labs«, Interview, in  : BrilloMagazine  ; abrufbar unter http  ://srl.org/interviews/brillo/srl.htm (24. 7. 2012) Anthony Hyman (1997), Charles Babbage, 1791–1871. Philosph, Mathematiker, Computerpionier, aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Enderwitz. Stuttgart Friedrich Kiesler (1924a), »Schauspieler, Bildbühne, Raumbühne, II«, in  : Berliner Börsen-Courier, 21. März 1924 Friedrich Kiesler (1924b), Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik (Katalog). Wien Barbara Lesák (1988), Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte, 1923–1925. Wien

Bildnachweis Abbildungen am Deckblatt des Beitrages Beide Bilder  : »Die Bühne ist leer«, Installationsansichten, Fotos  : Andrea Sodomka Abbildungen im Beitrag Abb. 1  : »Die Bühne ist leer«, Installationsansicht, Foto  : Bernadette Felber Abb. 2, 3  : »Die Bühne ist leer«, Installationsansichten, Fotos  : Andrea Sodomka Abb. 4, 5  : »Die Differenzmaschine – ein Event mit einem Theaterraum«, Berliner Ensemble, Dokumentation der Performance, Foto  : Clemens Gießmann Abb. 6, 7, 8  : »Arbeitsmuster«, Installationsansichten, Factory Krems, Fotos  : alien productions Abb. 9, 10  : »Arbeitsmuster«, Performanceansichten, Factory Krems, Fotos  : Hans Groiß

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Doris Ingrisch · Intuition, Ratio & Gender?

Max Weber (1919), Wissenschaft als Beruf. München Wolfgang Welsch (1996), Vernunft uns Übergang. Zum Begriff der transversalen Vernunft, in  : KarlOtto Apel, Matthias Kettner (Hg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten. Frankfurt a. M., 139–165 Dieter Wuttke (2003), Über den Zusammenhang der Wissenschaft und Künste. Wiesbaden

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Marie-Agnes Dittrich

Das große Zickzack  : Der scheinbare Gegensatz von Logik und Zufall (oder Ratio und Intuition) in der Musik Vorbemerkung  : Dualistisches Denken Ein Denken in Gegensatzpaaren ist üblich, auch in Bezug auf Musik, die oft als mehr oder weniger rational geplant, logisch usw. eingeschätzt wird. Die verwendeten Begriffe sind im Schrifttum über Musik allerdings nicht klar definiert. Worte wie Chaos, Regellosigkeit, Freiheit, Intuition, Inspiration, Willkür, Phantasie, Zufall werden oft als Synonyma und Gegensatz zu Ordnung, Regelhaftigkeit, Rationalität, Logik, Systematik, Planung u. a. gebraucht. Da die Bedeutung vieler Termini vom Kontext abhängig ist und sich obendrein im Lauf der Zeit verändert hat, kann eine Klärung hier nicht einmal versucht werden. Nur ein Beispiel  : Friedrich Schiller setzt in Schriften über Kunst, etwa im weiter unten erwähnten Beitrag, oft »Freiheit« und »Willkür« gleich und als Gegenbegriff zu »Gesetzmäßigkeit« o.Ä., obwohl für ihn andernorts Freiheit die Willkür geradezu ausschließt (weil Freiheit dann nicht als Möglichkeit verstanden wird, willkürlich etwas tun zu dürfen, sondern als Fähigkeit, etwas zu unterlassen, das zu tun man als unrichtig erkannt hat). Hier sollen Begriffspaare wie »Logik« oder »Chaos« (u. a.) zunächst nur gegensätzliche Assoziationsfelder andeuten. Aber in der Musik sind »Logik« und ihr (wie auch immer benanntes) Gegenteil oft gerade keine Gegensätze.

Taruskins großes Zickzack Der bedeutende amerikanische Musikhistoriker Richard Taruskin beschreibt die Musik des 20. Jahrhunderts als mehrfache Zickzack-Bewegung (Taruskin 2005, 2009). Auf die Irrationalität der beiden Weltkriege, der Revolutionen und des Völkermords habe die Musik mit einer Flucht in streng logische Kompositions-Systeme reagiert. Dies habe wiederum Gegenreaktionen hervorgerufen und den Reiz größtmöglicher Freiheit erhöht. Das erste Zick vor dem Ersten Weltkrieg sei eine Fortsetzung des romantischen Maximalismus gewesen  : Die 45

Marie-Agnes Dittrich

im 19. Jahrhundert entstandenen großen Gattungen hätten, nun in größtmöglicher Besetzung unter Ausreizung von Klangmassierung mit immer raffinierteren Harmonien und Instrumentationen, gewaltige Kräfte und Emotionen freigesetzt. Viele Kompositionen hätten bis an die Grenze des Chaos gereicht  ; als Beispiele nennt Taruskin Igor Fjodorowitsch Strawinskys »Sacre« und Arnold Schönbergs »Erwartung«. Diese Zeit sei vom für Zick-Phasen typischen Optimismus charakterisiert gewesen. In Zack-Zeiten habe dagegen ein pessimistischer Rückzug dominiert. Das erste Zack sei eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg und die Revolutionen gewesen  : Nach der Konfrontation mit dem realen Chaos habe das künstlerische an Reiz verloren. In dieser pessimistischen Zack-Phase sei es um Sicherheit, Stabilität und Ordnung gegangen. Strawinsky sei Neoklassizist und Antimodernist geworden, Schönberg habe mit der Zwölftontechnik eines der strengsten Ordnungssysteme erfunden und damit kleine Tanzformen des 18. Jahrhunderts wie Gavotten und Giguen komponiert. Indem beide auf das 18. Jahrhundert zurückgriffen, blendeten sie das 19. Jahrhundert aus, auf dem das erste Zick beruht hatte. Der Preis, den sie für die Sicherheit zahlten, war laut Taruskin ihr persönlicher Stil. Denn die Musik habe sich wie bei einem wissenschaftlichen Beweis logisch aus einer axiomatischen Prämisse, der Reihe, entwickelt. Da aber die Zusammenklänge ungeregelt blieben, konnten Techniken wie Kanons, die in tonaler Musik anspruchsvoll sind, mechanisch angewandt werden.1 Typisch sei auch die Ironie  : in der Musette aus der Suite op. 25 von Schönberg etwa die Anklänge an bukolische Vorbilder oder die Staccato-Artikulation und die durch die hohe Lage charakterisierte Klangfarbe, die auch von Prokofjew stammen könnten (Taruskin 2005, Bd. 4, 691–704). Das zweite Zick habe auf den Zweiten Weltkrieg reagiert  : Amerikanische Wissenschaftler und Technokraten hatten den Krieg gewonnen und Wissenschaft und Technikglaube hätten nun die Kunst beherrscht. Unter Negierung des ersten Zacks habe man auf das erste Zick zurückgegriffen, und das habe sich auch am Blick auf die damaligen Komponisten gezeigt  : Im zweiten Zick sei Strawinskys »Sacre« bewundert und seine Neoklassik gehasst worden, während der junge Pierre Boulez den Schönberg der »Erwartung« bewundert, aber den Zwölfton-Schönberg für tot erklärt habe. Aber, so Taruskin, es gab keine wirkliche Beziehung zwischen dem ersten und dem zweiten Zick. Die angebliche Kontinuität habe der Legitimierung gedient. Denn um Selbstausdruck und Inspiration sei es jetzt nicht mehr gegangen, die Maximalisierung habe nur die technischen Neuerungen und das Handwerk betroffen. Der Kompositionsvorgang entwickelte sich bei der seriellen Musik wie ein Algorithmus aus der Organisation von Tonhöhe und -dauer, von Rhythmik 46

Das große Zickzack

oder Dynamik als axiomatischer Vorgabe, er war wie ein naturwissenschaftliches Experiment in Analysen prüfbar und führte bei gleicher Versuchsanordnung zu ähnlichen Resultaten. Da Komposition nun als Wissenschaft gegolten habe, sei in den USA damals das (wissenschaftliche) Doktorat (PhD) in Komposition eingeführt worden.2 Obwohl John Cage und seine Anhänger anders als Milton Babbitt oder Pierre Boulez keine Serialisten waren, hätten sie – so Taruskin – sich ebenfalls insofern wie Wissenschaftler verhalten, als auch sie den Kompositionsvorgang automatisiert hätten, allerdings durch andere Mittel, nämlich Zufallsoperationen. Christian Wulff, Schüler von John Cage, habe gesagt, man strebe nach einer Art objektiven, fast anonymen Klangs, in dem sich keine Spur von einem Selbst oder einer Persönlichkeit finden sollte.Das zweite Zack – mit dem Minimalismus und seiner extremen Vereinfachung der Mittel – interpretiert Taruskin als Reaktion auf dieses wissenschaftlich-experimentelle Zick wieder als pessimistisch. Ihrer Ausdruckskraft misstraut er, denn die mitreißende Wirkung genau kalkulierter Höhepunkte hätte eine durchaus manipulierende Wirkung. So weit Taruskins amerikanisch akzentuierter Blick. Seinem Zickzack möchte ich nun noch einen Blick aus europäischer Perspektive gegenüberstellen  : Wolfgang-Andreas Schultz’ Überlegungen »Avantgarde und Trauma« (2005). Schultz sieht in der Neuen Musik Folgen einer extremen Traumatisierung, wie man sie oft bei Kriegsteilnehmern finde. Ein traumatisiertes Erinnerungsvermögen – Schultz verweist auf einschlägige Studien – sei nicht zur erzählenden Wiedergabe fähig, ein schweres Trauma zerstöre den Zusammenhalt des Bewusstseins, für Kampfsoldaten breche der Zeithorizont zusammen. Es komme für sie nur darauf an, das Jetzt zu überstehen. Die Veränderung des Zeitgefühls beginne mit der Auslöschung der Zukunft und umfasse schließlich auch das Auslöschen der Vergangenheit. Folgen seien Empfindungslosigkeit, das Gefühl der Sinnleere und Bedeutungslosigkeit und Verhaltensweisen wie roboterhaftes, nicht von Affekten begleitetes Funktionieren. Die Musik, so Schultz, habe darauf mit Emotionslosigkeit, Distanziertheit, Abstraktion, Kälte und Abtrennung ihrer körperlich-sinnlichen Dimensionen reagiert. Auf Kohärenz des Erklingenden, etwa bei den Zusammenklängen, habe sie verzichtet, und ihr Zeithorizont sei durch Fragmentierung zusammengebrochen. Die Musik spiegle die emotionale Erstarrung, den Verlust des Zeithorizonts und die Dissoziation des Ichs bei Traumatisierten. Die Dissoziierung sei nicht erst durch den Ersten Weltkrieg verursacht worden, denn dieser Aspekt der musikalischen Moderne sei viel älter, aber die Traumata hätten diese Tendenzen vermutlich verstärkt. 47

Marie-Agnes Dittrich

Diesen beiden Texten ließen sich viele andere Erzählungen der Musik des 20. Jahrhunderts entgegensetzen, aber mir geht es hier nur um die in beiden (und vielen anderen) Texten beschriebenen Phasen der Reduzierung von Emotionen in der Musik zugunsten von Logik und Systemen. Dass dabei eine Zeit, nämlich die nach dem Zweiten Weltkrieg, bei Taruskin als Maximalismus der tech­ nischen Mittel (also als Zick) und bei Schultz wegen der Reduktion der Gefühle eher als Zack zu interpretieren wäre, ist nicht wirklich ein Widerspruch, sondern liegt an der unterschiedlichen Akzentuierung dieser beiden Texte. Denn auch Taruskin spricht von dem Wunsch (bzw. laut Ligeti der Zwangsneurose) der Komponisten3 nach der »Stunde Null« jede persönliche Sprache, die künstlerische Verantwortung und die Tradition zu negieren (Taruskin 2005, Bd. 5, 40–43). Der »Schmutz«, von dem Boulez die Musik befreien wollte, habe nicht nur die traditionelle Hörerwartung, sondern auch den persönlichen Ausdruck gemeint, denn, so Taruskin  : »After Hiroshima everyone felt like dirt.« (Ebd., Bd. 5, 43). Taruskin zitiert auch Ernst Kreneks Äußerung, er und seine Zeitgenossen hätten der Inspiration misstraut, weil diese auf Erinnerung, Tradition, Ausbildung und Erfahrung beruhte. Um dem Diktat dieser Geister zu entgehen, würden unpersönliche Mechanismen erfunden.

Materialfortschritt  ? Worum es Taruskin eigentlich geht, sind andere Aspekte. Erstens um die Humanität  : Taruskin findet, es sei im 20. Jahrhundert viel zu wenig Musik komponiert worden, die sich an den ganzen Menschen richte. Meist werde nur das Gehirn oder, wie beim Minimalismus, nur das Rückenmark angesprochen (Taruskin 2009, 14). Zweitens geht es ihm um die Widerlegung der Idee einer einfachen, linearen Entwicklung von einer weniger aufgeklärten Vergangenheit in die bessere Gegenwart, also gegen die Idee, dass der Materialfortschritt4 in einer zur größtmöglichen Logik fortgeschrittenen Technik gipfelte, sodass sich ein Werk oder ein Stil als mehr oder weniger zeitgemäß verorten ließe. (Zeitgemäß wären dann Schönberg, Webern und Stockhausen, aber gewiss nicht Sibelius und schon gar nicht Arvo Pärt). Nun ist schon seit über 200 Jahren bekannt, dass Geschichte eben kein linearer Prozess ist  ; sie wird aus der chaotischen Vielfalt der Ereignisse und ihrer Spuren in der Gedächtnisgeschichte durch Selektion zur Faktengeschichte. Es ist, laut Schiller, der philosophische Verstand, der sich die Geschichte teleologisch (d.h. als sinnvolle, auf ein Ziel gerichtete Entwicklung) vorstellen will. Die 48

Das große Zickzack

Weltgeschichte erscheine uns schon durch den Mangel an Quellen nur als ein Aggregat von Bruchstücken, die erst der philosophische Verstand »zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen« mache  : Eine Erscheinung nach der andern fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen, und sich einem übereinstimmenden Ganzen (das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist) als ein passendes Glied anzureihen. […] Er [d.h. der philosophische Verstand] nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus, und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Princip in die Weltgeschichte. (Schiller 1847a, 374f.)

Die Idee eines Materialfortschritts ist aber in der Musikgeschichte und vor allem in ihrer praktischen Anwendung, z. B. im Kompositionsunterricht, noch sehr aktuell – jedenfalls lässt die Urteilsfindung in den Zulassungs-, Zwischen- und Abschlussprüfungen in Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) darauf schließen. Daher lohnt die Frage, wer die Definitionsmacht hat, einzelne Stile als »zeitgemäß« zu erklären, und zu welchem Zweck außer dem offenkundigen  : der Sicherung eigener (nicht nur ästhetischer) Positionen.

Logik in der Musik Aber auch eine andere Frage drängt sich auf  : Was sind eigentlich objektivierbare Sachlichkeit, Emotionslosigkeit und Logik in der Musik  ? Einem Blick in die Musikgeschichte zufolge müsste sie selten sein. Denn mangelnde Logik bzw. Einheit (der Begriff »Logik« erscheint in der Musik erst im 19. Jahrhundert), Verworrenheit oder Bizarrerie wurden unter vielen anderen Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert oder Arnold Schönberg vorgeworfen. Über Bach hieß es z. B. beim Musikkritiker Johann Adolf Scheibe  : »Dieser grosse Mann würde die Bewunderung gantzer Nationen seyn, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugrosse Kunst verdunkelte.« (Der critische Musicus 14. 5. 1737, zit. n. Bach 1984, 150). An Mozart wurde seine schroffe Kontrastierung von einander widersprechenden Elementen kritisiert  : »[…] weiche Melodien wechseln häufig mit scharfem, schneidendem Tonspiel, Anmuth der Bewe49

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gung mit Ungestüm. Groß war sein Genie, aber eben so groß sein Geniefehler, durch Contraste zu wirken.« Daher zeige seine Musik »Züge einer widerwärtigen Styllosigkeit« (Nägeli 1980 [1826], 157f.). Schubert warf 1816 »einem unserer größten deutschen Künstler« (gemeint war wohl Beethoven) »Bizarrerie« vor, die Tragisches und Komisches, Angenehmes mit Widrigem, das Heroische »mit der Heulerey« und Heiligstes mit dem Harlekin vereine (Deutsch 1964, 45), aber seine eigene Harmonik wirkte später irritierend genug, um Schubert den Vorwurf der »Anarchie« einzutragen (AMZ 1829, Sp. 660f ). Im Falle Schönbergs handelt es sich bei der Unterstellung mangelnder Logik um einen Selbstvorwurf. Er vermisste im ersten Satz seiner 1. Kammersymphonie op. 9 einen Zusammenhang zwischen den beiden ersten Themen. Manfred Angerer hat gezeigt, wie Arnold Schönberg diesen Zusammenhang im Nachhinein konstruierte und dass er dazu nicht nur den Begriff »Logik« umdefinieren musste, sondern auch nicht davor zurückscheute, »eigene frühere Werke analytisch zu vergewaltigen« (Angerer 1990, 24).

Musikalische Logik in Bachs Zahlensymbolik  ? Die Suche nach größtmöglicher Logik in Johann Sebastian Bachs Musik, und dies mit Hilfe scheinbar objektivierbarer Fakten, nämlich von Zahlen, blieb dem 20. Jahrhundert vorbehalten. Man glaubte an eine Zahlensymbolik (von der Bachs Zeitgenossen, sogar sein Sohn Carl Philipp Emanuel, allerdings nichts geahnt zu haben scheinen).5 Ulrich Siegele z. B. zählt in seiner sehr lesenswerten Beschreibung von Bachs dreistimmiger Sinfonia in f-Moll (BVW 795) korrekt zehzn Durchführungen des Themas und fünf Zwischenspiele (Siegele 1981). Problematisch ist aber Siegeles Deutung, die diesen Sachverhalt im Grunde ignoriert. Für Siegele spielt die Zahl 5 für die Zwischenspiele keine Rolle  ; er will nachweisen, dass »die Siebenzahl die thematisch freien Abschnitte bestimmt« (ebd., 144). Zur Zahl 7 gelangt er, indem er die Gesamtsumme der Durchführungs- und Zwischenspieltakte addiert (wobei er den Schlusstakt ignoriert) und die 20 Durchführungs- und 14 Zwischenspieltakte durch zwei dividiert. Die so gefundenen Zahlen 10 und 7 kann er nun den Vorstellungen von Gesetz und Buße, deren Beziehung zu diesem Stück unerklärt bleibt, zuordnen  : Die Zehnzahl ist die Zahl des Gesetzes, die Zahl des Alten Bundes. Die Siebenzahl ist die Zahl der Gaben des Heiligen Geistes, der in der Buße die Heilswahrheit des Neuen Bundes dem einzelnen Menschen persönlich zueignet  ; die Sieben50

Das große Zickzack

zahl ist die Zahl der Buße, darin die Zahl des Neuen Bundes, des Evangeliums. (Ebd., 144)

Gerd Zacher möchte die 154 Takte6 des 1. Satzes der Sonate für Orgel (BWV 529) auf den siebenarmigen Leuchter mit 22 Schalen beziehen  : »Diese 7 Leuchter mit je 22 Schalen ergeben die Zahl 154. Als ordo naturalis wäre dann anzunehmen  : siebenmal 22.« Dass Bach diese Zahlen nicht komponiert hat, deutet Zacher als besonderen »Kunstgriff«, und dies erlaubt ihm, seine Prämisse nicht in Frage zu stellen. Und so beschließt Zacher seine Deutung des Satzes als Verweis auf den Leuchter mit den schönen Worten  : »Dies oder ähnliches wäre jedenfalls zu hoffen.« (Zacher 1993, 94) Die Faszination für Bachs angebliche Zahlensymbolik war in der Zack-Zeit nach der »Stunde Null« besonders groß (besonders einflussreich war der Theologe Friedrich Smend, 1947, auf den sich z. B. Siegele stützt)  ; offenbar sollte bei der Suche nach einer neuen Weltanschauung ihre scheinbare Objektivität auf der Grundlage zählbarer Töne den Nachweis für eine von Gott wohlgeordnete Welt zumindest bei Bach erbringen. Mit derselben Inbrunst beschwor übrigens zugleich der »wissenschaftliche« Materialismus in Johann Sebastian Bach den frühen Sozialisten (Dittrich 2007).

»Logik« schließt ihr Gegenteil nicht aus Was genau musikalische Logik sein könne, ist im Übrigen keineswegs klar (Nowak 2004/05, de la Motte-Haber/Schwab-Felisch 2005, 169–280), aber sie musste jedenfalls im 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht im Gegensatz zu (scheinbar) spontaner Freiheit stehen. Die Musik stand damals in einem Sinngewebe, das auch die Sprache und die Philosophie umfasste und auf der antiken Rhetorik basierte. Sie unterschied den eigentlichen Inhalt einer Rede von ihrer Präsentation, für die jeder Redner eine andere Form und Sprache wählen würde. Schiller stellt 1795 die Gesetzmäßigkeit der Willkür gegenüber  ; weitere Kontrastpaare sind Notwendigkeit gegen Freiheit oder Begriffe (bzw. Abstraktionen, Erkenntnis, Theorien) gegen Empfindung von Einzelfällen oder Vernunft gegen Sinne oder Festigkeit einer Idee gegen zufällige Verbindung von Einfällen. Bei der »Schönen Rede« etwa, die sich an ein Publikum richtet, das nicht nur belehrt, sondern auch unterhalten werden will, soll nach Schiller die Sinnlichkeit im Vordergrund stehen, denn die Fantasie der HörerInnen wolle »ungebunden und regellos von Anschauung zu Anschauung überspringen und sich an kei51

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nen andern Zusammenhang, als den der Zeitfolge, binden«. Dabei ständen die Anschauungen »in keiner Sachverknüpfung untereinander«, vielmehr schienen sie »als unabhängige Glieder und als eigene Ganze für sich selbst zu bestehen«. Dennoch liege unter der spielerisch freien Oberfläche einer solchen Rede ein genau geplanter geistiger Teil, die »Bedeutung«  ; nur verzichte die schöne Rede darauf, dies zu sehr zu betonen. So werde darin der Verstand »durch Gesetzmäßigkeit befriedigt, indem der Phantasie durch Gesetzlosigkeit geschmeichelt« werde (Schiller 1847b, 135 ff.). In der Musik konnte die Harmonie für das Wesentliche, den einheitlichen Gedanken, stehen, für die Logik und die wohlüberlegte, rational konzipierte Grundidee, während deren konkrete, aber jeweils verschiedene äußerliche und oft auch gefühlvolle Darstellung mit der Melodie assoziiert wurde. So heißt es etwa 1788 bei Johann Nikolaus Forkel  : Harmonie und Melodie sind in einer guten musikalischen Zusammensetzung so unzertrennlich, als Wahrheit der Gedanken, und Richtigkeit des Ausdrucks in der Sprache. Sprache ist das Kleid der Gedanken, so wie Melodie das Kleid der Harmonie. Man kann in dieser Rücksicht die Harmonie eine Logik der Musik nennen, weil sie gegen Melodie ungefähr in eben dem Verhältniß steht, als in der Sprache die Logik gegen den Ausdruck, nemlich sie berichtigt und bestimmt einen melodischen Satz so, daß er für die Empfindung eine wirkliche Wahrheit zu werden scheint. In diesem Verstande würde sich also Harmonie zur Melodie verhalten, wie richtig und wahr musikalisch denken, zum richtigen Ausdrucke musikalischer Gedanken. (Forkel 1967 [1788], § 38/24)

Sehr ähnlich bezeichnet noch 1821 Friedrich August Kanne die Harmonie als »innere Construction« bzw. die Melodie als äußere Form und »Verkörperung aller Gefühle und Leidenschaften« (Kanne 1821, Sp. 507). Bekanntlich bestand auch bei den Reihentechniken des 20. Jahrhunderts das Paradox, wie Ernst Krenek selbst und viele andere, etwa Pierre Boulez, Luciano Berio oder György Ligeti, feststellten, dass sich aus der rationalen Planung unvorhersehbare Situationen und chaotisch wirkende Produkte ergaben, da die minutiöse Organisation nur einzelne Komponenten betraf (Tondauer und -höhe, Klangfarbe, Lautstärke). Die Wirkung wurde aber von ihrem Zusammenklang bestimmt, der sich mehr oder weniger zufällig ergab. Wenn Logik (oder Ratio und ähnliche Begriffe) und Gefühl (oder Freiheit usw.) in der Musik gleichzeitig wirksam werden, muss die Frage also nicht heißen, ob ein Werk logisch sei, sondern eher, mit welcher Absicht logisch bzw. chaotisch 52

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wirkende Musik komponiert wurde. Regelbrüche wie dissonante oder irregulär aufeinander folgende Harmonien oder überbordende Virtuosität konnten Chaos, Fremdheit oder unkontrollierbare Emotionen repräsentieren. Schöne Beispiele sind etwa die Chaos-Darstellungen bei Jean-Féry Rebel (in der Suite »Les Eléments«, 1737) oder in Joseph Haydns »Schöpfung«, viele Arien, besonders Wahnsinns-Arien, in Opern, oder Exotismus- und Naturdarstellungen (über die Carl Dahlhaus sagte  : »Natur ist die Negation der musikalischen Logik«, Dahlhaus 1980, 258).7 Jedoch wurde in der Musik das Chaos durch Auflösung der Dissonanzspannung oder durch das da capo in Arien in einem Rahmen präsentiert, der für Stabilität sorgt, und virtuose Arien setzten beim Vortrag extreme Disziplin voraus und symbolisierten so nicht nur ein scheinbares Außer-sich-Geraten, sondern zugleich die in einer höfischen Gesellschaft so wichtige Affektkontrolle (Leopold 2004, jüngst auch Kesting 2012). Und Gattungen wie Capricci und Fantasien8 balancierten so auf der Grenze zwischen Norm und Ausnahme, dass ihre scheinbare Negation der Regeln ein Kompliment an deren KennerInnen war. Was Sachlichkeit oder Logik sind, scheint also in der Musik schwer zu objektivieren zu sein, zumal schon im 18. Jahrhundert bekannt war, dass Kunstwerke synthetisierend zu betrachten und dabei der Vernunft als dem »Vermögen der Verbindung« zu unterwerfen seien, wie Friedrich Schiller 1793 an Christian Gottfried Körner schrieb (Schiller 1992, 280), und Kanne glaubte, dass Musik gerade dann besonders reizvoll auf uns wirke, wenn sie sich dem unmittelbaren Eindruck nicht sofort erschließe und wenn die Beziehungen etwa zwischen einzelnen Themen erst gesucht werden müssten  : »Denn der menschliche Geist will ordnen, und seine Welt gestalten, und das wunderbare sich aufklären.« (Kanne 1821, Sp. 282) Bekanntlich hat die romantische Ästhetik dies Geheimnisvolle und Unausgesprochene in aller Kunst bewundert und gerade darum die Musik für die schönste aller Künste gehalten. Das hindert uns aber nicht, auf Erklärungen zu drängen  ; im Gegenteil, die Suche nach Systemen, nach Logik, nach dem Warum ist uns Menschen angeboren. Und so suchen auch viele musikalische Analysen nach einer immanenten Logik. Das ist oft durchaus im Sinne der KomponistInnen, kann doch das Unausgesprochene impliziert sein wie bei einem Rätsel, das eine richtige Lösung hat. Und trotzdem zeigt die Geschichte der Analyse, dass die entdeckte Logik auch eher im Auge der Betrachterin oder im Ohr des Hörers liegen kann, dass der Weg zum Werk nicht immer in Form einer sich ihm annähernden hermeneutischen Spirale verläuft und dass Lücken oft nicht völlig zu schließen sind. Interessanter als die Aussage, ein Werk sei mehr oder weniger logisch, scheint demnach die Frage nach der Absicht, die hinter einer solchen Aussage steht, und 53

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nach dem Kontext. Während im 20. Jahrhundert und vermutlich bis heute Logik eher für eine männliche Eigenschaft gehalten wird (Chesler 1972), wurde seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, vielleicht auch unter dem Eindruck des Erdbebens von Lissabon (1755), die Natur als gewaltig, furchterregend und erhaben erlebt, und mit ihr konnten auch Chaos, Spontaneität und Willkür eher männlich konnotiert sein  ; Beispiele bieten der Geniekult, die Ossian-Mode oder die Shakespeare-Rezeption (Schmidt 1985). Zahmes Befolgen von Regeln konnte in diesem Zusammenhang mit weniger bedeutender Kunst oder der Anpassung an die höfische (und oft weiblich geprägte) Mode im Ancien régime assoziiert sein. Schiller konnotiert aber im Zusammenhang mit der Schönen Rede die Gesetzlosigkeit und Fantasie eher mit dem Adel und den Frauen, die Logik hingegen mit Arbeit und der männlichen Sphäre, denn ihm geht es um die Aufwertung des bürgerlichen arbeitenden Künstlers im Unterschied zum nur genießenden Adel. In der Beethoven- und Schubert-Rezeption des späteren 19. Jahrhunderts ist die Inspiration, der allein sich Schuberts Werke angeblich verdankten, eher weiblich, die strenge Logik bei Beethoven eher männlich konnotiert, auch weil Schubert vor allem als Österreicher, Beethoven aber als Deutscher gesehen wurde und man glaubte, Österreicher seien gefühlvoller und weniger rational als Deutsche (Dittrich 1998). In Frankreich dagegen sah man, wenig überraschend, nach den deutschen Angriffskriegen 1870 und 1914, in Logik und Sachlichkeit eine typisch französische Haltung – als Abgrenzung von angeblich typisch deutscher dumpfer Irrationalität und Gefühlsduselei –, wie das Konzept einer Musique blanche oder die französische Wagner-Rezeption bezeugen. Was sachlich, objektiv oder logisch ist, kann man aber nicht nur in der Musik kaum feststellen. Das zeigen auch die Psychologie und die Neurophysiologie. Sie legen die Vermutung nahe, dass als logisch das wirkt, was wir so sehen wollen  : Es fällt unserem Gehirn offenbar leichter, den Anschein von Zusammenhang und Logik zu konstruieren, als Unlogik, Willkür und Zufall zu akzeptieren. Für das Sprechen über Musik scheint also die Beschwörung von Logik zur Begründung eines Werturteils, etwa bei Analysen oder in Kompositionsprüfungen, nicht unproblematisch, denn es kann dabei durchaus auch um die Verteidigung eigener ästhetischer Positionen und um Machtsicherung gehen. Eine gewisse Vorsicht im Umgang mit dem Begriffsfeld »Logik«, »Sachlichkeit«, »Rationalität« usw. und denen, die ihn unkritisch verwenden, ist also dringend anzuraten.

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Anmerkungen 1 Taruskins schöne Formulierung »a poodle with basic twelve-tone training could do so as easily as Schoenberg« macht dies anschaulich (Taruskin 2005, Bd. 4, 695). 2 Anders als im deutschsprachigen Bereich können an vielen Universitäten in den USA nicht nur die Musikwissenschaften studiert werden, sondern auch praktische Musikausbildung und Musiktheorie, die im deutschsprachigen Bereich an Akademien, Konservatorien, Hochschulen und Kunstuniversitäten beheimatet sind. Einige Universitäten in den USA erkennen eine Komposition und eine schriftliche (z. B. musikanalytische) Arbeit als philosophische Dissertation (PhD) an. 3 Die Lektorinnen des Textes schlugen hier die Ergänzung »und Komponistinnen« vor. Jedoch ist in diesem Zusammenhang nur von männlichen Komponisten die Rede, obwohl Taruskin grundsätzlich Frauen in den Blick nimmt. Vgl. dazu sein Kapitel »Women in music  : A historian’s dilemma (Taruskin 2005, Bd. 2, 78-83). 4 Theodor W. Adornos Idee eines Materialfortschritts geht davon aus, dass musikalische Materialien (z. B. Dreiklänge) in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedlich wirken. Was einmal neu war, kann später abgenutzt und trivial werden. Das Material muss sich also mit den gesellschaftlichen Bedingungen verändern, um auf der Höhe seiner Zeit zu sein. Vgl. dazu auch Kapp 1982. 5 Carl Philipp Emanuel Bach schrieb an J. N. Forkel am 13. 1. 1775 über seinen Vater  : »Der seelige war, wie ich u. alle eigentlichen Musici, kein Liebhaber, von trocknem mathematischen Zeuge.«, zit. n. Bach 1984, 197. 6 Der Satz hat 155 Takte  ; den Schlusstakt zählt Zacher nicht mit. 7 Der Begriff »Natur« ist ebenfalls wandelbar. Während im 18. Jahrhundert (etwa in der Kritik an J.S. Bach) »Natur« Verständlichkeit und Logik meint, stellt Dahlhaus »Natur« als Ungeordnetes in einen Gegensatz zur (logisch nachvollziehbaren) motivisch-thematischen Arbeit und Durchführung im 19. Jahrhundert. 8 Capricci und Fantasien, die zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert besonders beliebt waren, sind scheinbar launenhafte, freie Werke, oft für Tasteninstrumente, mit plötzlichen Affektwechseln und Stilbrüchen.

Literatur AMZ (1829), Allgemeine musikalische Zeitung Leipzig, Nr. 40, 7. Oktober 1829, Spalte 660f. Manfred Angerer (1990), »Reflexionen über musikalische Logik«, in  : Mitteilungen der österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft 22, 18–38 Johann Sebastian Bach (1984), Leben und Werk in Dokumenten, aus den Bach-Dokumenten, hg. vom Bach-Archiv Leipzig, zusammengestellt von Hans Joachim Schulze. München/Kassel sowie Basel/London Phyllis Chesler (1997), Women and Madness. New York Carl Dahlhaus (1980), »Exotismus, Folklorismus, Archaismus«, in  : Neues Handbuch der Musikgeschichte, Bd. 6, Die Musik des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden Helga de la Motte-Haber, Oliver Schwab-Felisch (Hg.) (2005), Handbuch der systematischen Musikwissenschaft, Bd. 2. Laaber, Musiktheorie, Kapitel »Tonalität und musikalische Logik«, 169–280

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Il vuoto  : Musik an der Schwelle ) place ( von Giorgio Netti Das Thema »Ratio und Intuition. Wissen|s|Kulturen und Gender in Musik • Theater • Film« setzt bei hochaktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten an, die ohne die Arbeit zu Gender-Themen in den letzten Jahrzehnten nicht stattgefunden hätten bzw. mit diesen verwoben sind. Insbesondere die Verwendung des Begriffs »Gender« im Sinn eines »kulturell geprägten Geschlechts« kommt hier zum Zug.1 Diese Debatten widmen sich Themenkomplexen, deren Terrains methodisch, theoretisch und inhaltlich noch im Werden sind. Sie verabschieden sich von einigen konventionellen Denk- und Handlungsansätzen und von überkommenen Kategorien oder verorten sie zumindest neu. Um diese Terrains zu erkunden, bedarf es Neugier, Flexibilität und Mut. Die entsprechenden Vorgangsweisen sind einerseits hoch innovativ und experimentell, andererseits instabil. Verbindliches wie etwa verlässliche Methodik entwickelt sich erst allmählich. Korrespondenzen zwischen den Künsten und den Wissenschaften spielen hier zusehends eine Schlüsselrolle. Wir können sogar mit der Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick und dem Philosophen Dieter Mersch so weit gehen zu konstatieren, dass die experimentellen Entwicklungen in den Künsten in den 1960er-Jahren in den westlichen Kulturen wesentlich waren für später entstehende offene Denkmodelle in den Wissenschaften wie etwa die »Cultural Turns« und die Performativitätsforschung (vgl. Bachmann-Medick 2007, 108  ; Mersch 2002, 233). Schwellen-Erfahrungen scheinen allgegenwärtig. Mit der Analyse der Komposition ) place ( von Giorgio Netti widmet sich mein Beitrag einer der Sphäre der Neuen Kunstmusik zuzurechnenden Komposition, die ein Exempel statuieren kann als gelungene und von Denken bzw. Forschen und von Emotion bzw. Intuition gleichermaßen durchdrungene Musik. Netti ist mit seiner Musik ein willkommener Herausforderer für die Frage nach Wissenskulturen zwischen Ratio und Intuition. Einem kurzen ersten Eindruck dieser »Musik an der Schwelle« folgen Ausführungen zu methodisch-theoretischen Prolegomena, die dem Verständnis dieser Musik als Exempel von Kunst als Forschung dienen. Zu nennen sind folgende Bereiche  : Kunst und/als Forschung, Musik als (kulturelle) Praxis, ein musikalisches Werk als Zusammenwirken von Komposition und Aufführungen (auch mediatisierte) bzw. Aufnahmen, 59

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Cultural Turns, Performativitäts-Forschung, szenisches Verstehen nach Alfred Lorenzer und Aspekte der musikalischen Morphologie. Auf dieser Grundlage wird anschließend auf Nettis musikalisches Denken sowie auf drei performative Aspekte von ) place ( eingegangen  : auf Nettis kompositorisches Vorgehen, die musikalische Erarbeitung und Interpretation sowie die Rezeption.

Giorgio Netti ) place (, ein erster Eindruck an der Schwelle Das Streichquartett ) place ( des 1963 in Mailand geborenen und heute zurückgezogen in Apulien lebenden italienischen Komponisten Giorgio Netti hat Vorbildcharakter. Dies gilt in allen Hinsichten wie Material, Form, Notation und Wirkung unter den Stücken, die derart grundlegend mit der Neuentdeckung klanglicher Möglichkeiten konventioneller Instrumente der europäischen Kunstmusik experimentieren. Im Publikum wurde es bislang bei den inzwischen rund 20 leibhaftigen Aufführungen vornehmlich sehr interessiert, beeindruckt und inspiriert aufgenommen. Seine assoziationsreiche Klangvielfalt und das enorme Volumen, welches das Stück trotz der stark geräuschhaften Klänge und der mittels Präparationen reduzierten Klangerzeugungsmöglichkeiten der Streichinstrumente offenbar im Raum erreicht, schlagen die Zuhörerschaft in Bann. Das gilt selbst noch für die Hörerfahrung einer Audioaufnahme. Dabei verweist ) place ( auch auf Möglichkeiten elektronischer Musik, wiewohl sie komplett akustisch erzeugt werden. Die Aufführungen vorausgehenden Prozesse des eigentlichen Komponierens und der Einstudierung sind ihrerseits vom extrem ungewöhnlichen Materialfundus geprägt. Die Materialität der Streichinstrumente, das Holz von Resonanzkörper, Steg und Bogen, die Bogenhaare, das Metall der Saiten und deren Möglichkeiten von Spannung und Druck, Reibung und Vibration inspirierten den Komponisten zu Klangexperimenten, welche schließlich in der Idee der »erweiterten Stege« mündeten. Der Steg wurde als Sinnbild der Brücke (bzw. bridge oder ponte), die schwingenden Saiten und den Resonanzkörper verbindend, erweitert. Nicht nur deshalb weisen die beiden Klammern im Titel des Stückes nach außen. Sie öffnen und überwinden Schwellen, umfassen den vuoto, den leeren Ort, den ungemütlichen Ort und dehnen ihn aus. Der schmale Grat der Stege wurde für ) place ( durch eingeschobene Plastikkarten, Holzdämpfer und später im Part der zweiten Violine auch durch Metall-Lamellen erweitert. Giorgio Netti schreibt dazu  : 60

Il vuoto: Musik an der Schwelle

Das Bild von der Brücke geht auf die Antike zurück […] Ich glaube, seine immer noch aktuelle Kraft besteht darin, dass die Brücke ein dritter Ort ist zwischen den beiden, die sie zusammenbringt, ein ›anderer‹ Ort, schwebend, vielleicht exakt der Ort der Entfremdung  : es geht nicht darum, die unterschiedlichen Gewohnheiten des benachbarten Gebietes zu erforschen, auf einer Brücke gibt es keine Gewohnheiten, nur die Leere, die darunterliegt, für einen Augenblick wird sie erfüllt. ( Jeschke 2002a)

Nettis Idee eines vuoto, seine Bestimmung eines Nicht-Ortes fordert heraus. Er ist ein Ort, der zugleich existiert und abwesend ist, als Schwellenbereich fungiert. Die komponierte klangliche Umsetzung findet mittels der erweiterten Stege von Instrumenten der Violinfamilie statt. Nettis Sätze belegen seine risikofreudige Reflektiertheit, seinen Sinn für weltanschauliche Kontexte. Er geht auf dieser Basis in seiner kompositorischen Arbeit systematisch vor, schafft ein eigenes Regelwerk für Klangmöglichkeiten und dazu passende Notationen, um seine intuitiv entstandene Grundidee einem leibhaftigen Streichquartett zur klanglichen Umsetzung zu übergeben. Netti lässt sich inspirieren, er forscht, geht performativ vor, denkt morphologisch, versteht (mit Alfred Lorenzer) szenisch. Der Radius von ) place ( reicht so weit, dass es zwischen dem, was die Ausführenden erleben, und den Erfahrungen des Komponisten, vor allem aber jenen des Publikums eine überraschend große Differenz gibt. Diese hängt – wiewohl ein Grundphänomen musikalischer Wahrnehmung von verschiedenen Positionen aus – bei ) place ( im Wesentlichen mit Veränderungen der Klänge im Raum zusammen, wo diese – sollte er resonant genug sein (eine Grundvoraussetzung für dieses Stück) – offenbar an Dynamik und Kraft der Art zunehmen, die von der Position des Quartetts aus bestenfalls zu erahnen ist. Physisch misst der vuoto in Nettis ) place ( vom Griffbrettende über den mit einem Ausschnitt aus einer italienischen Telefonkarte präparierten gewöhnlichen Spielbereich für den Bogen, den Steg bis zum hinteren Ende eines weiteren Stücks einer Plastikkarte (hier aus dem Hals einer 1,5-Liter-Wasserflasche) (siehe Abbildung 1 rechts oben) 14 cm aus. Die klanglichen Bereiche der neuen Brücke um den Steg herum wurden von Netti selbst exakt erprobt und in Skizzen überblicksartig fixiert. Für die musikalische Notation hat Netti die Topographie dieses neuen Brückenbereichs mit Abkürzungen systematisiert. Sie reichen von »T« für tasto (also das Griffbrett) bis »OP« für oltre il ponticello (hinter dem Steg vor der zweiten Plastikkarte). Der im letzten Teil von allen vier Instrumenten zu verwendende Holzdämpfer wird ebenfalls in Nettis Legende hinsichtlich seiner Maße und Position auf dem Steg definiert. Das Kartenmaterial ist genau beschrieben2 und kann vom Komponisten angefordert werden. 61

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Abb. 1  : Netti  : ) place ( (Partitur), Legende zum Aufsetzen der Karten auf der Viola

Es ist aufgrund dieser Darlegungen schon zu ahnen, wie wesentlich die performativen Aspekte bei dieser Komposition sind. Auch die Umsetzung des Erprobten und Systematisierten in musikalisches Notat für die zukünftigen InterpretInnen ist durch systematisches Experimentieren geprägt. Entstanden ist eine präzise und bei der gebotenen Komplexität benutzerInnen-freundliche Partitur der knapp 26 Minuten dauernden Komposition. In Abbildung 2 ist der Beginn der Partitur von ) place ( zu sehen. Der Kartenschlüssel ersetzt hier für alle vier Stimmen den gewöhnlichen Notenschlüssel. Es handelt sich zu Beginn der Komposition um die Karte hinter dem Steg, da der Schlüssel eine nach oben abgebogene Kante aufweist. Dieser Kartenschlüssel ist in drei Zonen eingeteilt  : an den beiden Enden (1 und 3) und in der Mitte (2) der Karte. Die zu Beginn notierte Position1 ist der obere Rand des kurzen abgebogenen Endes der Karte. Dieser ist leicht aufgeraut und wird durch das Streichen mit dem Bogen in eine Art rasselnder Schwingung versetzt, welches hier zu Beginn auch mit leichten Crescendi auszuführen ist. Die Tonpunkte am nach unten verlängerten Hals stellen Pizzicato-Aktionen3 der linken Hand am hinteren Ende (Pos. 3) der carta morbida dar, also der »weichen« Karte, die im 62

Il vuoto: Musik an der Schwelle

Ordinario-Bereich zwischen die Saiten geschoben wird. Dies klärt Netti verbal mit dem Hinweis »pizz. mano sinistra, carta morbida (punta 3)«4. Mitgeführt werden pro Stimme drei konventionelle Tonhöhensysteme, die aber zu Beginn noch nicht gebraucht werden. Das oberste System ist Teil des Kartenschlüssels, das mittlere fungiert als Griffschrift für Tonhöhengriffe der linken Hand, die aber durch die Präparierung nicht wie gewohnt hörbar, sondern nur über die vertraute Haptik des Greifens setzbar sind und vor allem die Klangfarben beeinflussen. Das untere gewöhnliche Notensystem pro Stimme skizziert jeweils aus den Aktionen resultierende, zum Klingen zu bringende Tonhöhen (vgl. Abbildung 2). Tonhöhen, Intervalle und Harmonik unterstützen die klanglichen Prozesse, treten aber hinter Aspekten des Geräuschspektrums zurück. Zuoberst sind pro Stimme jeweils graphisch die Bogenaktionen notiert, teilweise mit Winkel-Veränderungen, ergänzt durch Zeichen zum Bogendruck, gemäß Legende aufgeteilt in fünf Bereiche von sehr leichtem bis zu extrem reibendem Druck. Auch ob die Bogenstange (legno), das Bogenhaar (crini) oder beides (legno e crini) verwendet werden soll, ist hier angegeben. Die Vorgaben der durchgehend eingesetzten gewöhnlichen Auf- und Abstrichzeichen sind wegen ihrer klanglichen Relevanz strikt einzuhalten und machen zudem in vielen Fällen deutlich, in welcher Geschwindigkeit der Bogen gezogen werden soll. Noch darüber liegt über dem gesamten Stück eine Leiste, welche, mit Kürzeln gegliedert, die jeweilige Verwendung der sieben Materialbereiche (»Seen« [Netti 2004, 189]) der Komposition dokumentiert. Pro Abschnitt dominiert einer dieser Seen und wird zur Satzbezeichnung. In Abbildung 1 ist die Bezeichnung des ersten Satzes als Ostinato zu finden mit den in den ersten Takten verwendeten Materialien aus »o« ( ostinato), »m« ( memoria), »s« ( saturo) und »e« ( espressione).5 Während einiger Passagen notiert Netti in diesem obersten Bereich auch klangliche Resultate wie ein sehr hohes Flirren oder das Rattern beim Streichen in Position 3 der Karte hinter dem Steg. Die Art des Notats könnte mit Erhard Karkoschka als Aktionsschrift bezeichnet werden, denn im Wesentlichen sind die Aktionen fixiert und ihr klangliches Resultat, dessen Darstellung typisch für die Werknotation wäre, kaum abstrakt vorstellbar (vgl. Karkoschka 1966, 3). Nicht nur die kompositorischen, sondern auch die musikalischen und lesenden Umsetzungsprozesse dieser Partitur sind von Schwellenerfahrungen in besonderer Intensität geprägt. Bevor auf all dies näher eingegangen wird, erfolgt eine Grundlegung geeigneter Forschungs-Ansätze.

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Abb. 2  : Netti  : ) place ( (Partitur), T. 1–9

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Prolegomena Als Prolegomena ergeben sich hierfür folgende Bereiche  : Kunst und/als Forschung, Musik als Praxis, Werk als Zusammenwirken von Komposition und (auch mediatisierten) Aufführungen bzw. Aufnahmen, Cultural Turns, Performativitäts-Forschung, szenisches Verstehen und Morphologie. Hinsichtlich der Komposition ) place ( kommt ein mehrdimensionaler Ansatz zur Anwendung, der sie in Prozesse musikalischer Praxis einbettet. Bezüglich der Künste haben uns die jüngeren Entwicklungen kulturwissenschaftlicher Ansätze wie etwa der Cultural Turns und der Gender Studies, aber auch die künstlerischen Aktivitäten selbst eine Rückbesinnung auf die künstlerische Praxis gebracht und damit auch im Bereich der Musik eine gut argumentierte Abwendung von der Dominanz des im 19. Jahrhundert etablierten Werkbegriffs, welcher nur das musikalische Notat als Autorität, als eigentliches Werk gelten lässt. Gemäß diesem Ansatz wird Musik als kulturelle Praxis aufgefasst, als eine Praxis, in der verschiedene Aktivitäten amalgamieren und sich in ständigem Fluss und Austausch befinden. Dieser Praxis-Gedanke wäre ohne die ÖffnungsImpulse der Cultural Turns, insbesondere des Performative Turns kaum entstanden. Bezüglich einer ausnotierten »klassischen« Komposition bedeutet dies z. B., dass mehrere Dimensionen zusammengeführt werden sollten, um sie als »Werk« beschreiben zu können  : Dimensionen eines musikalischen Werkes: 1. kompositorischer Prozess 2. interpretatorische Erarbeitung 3. Aufführungen dieser Komposition – leibhaftige ebenso wie mediatisierte –, an denen dann auch Publikum rezipierend beteiligt ist 4. historische, soziokulturelle und geographische Entwicklung der Interpretationen und Rezeptionen Die Punkte eins bis drei fassen wesentliche Bestandteile eines musikalischen Werkes, von der Entstehung über die Erarbeitung seiner klanglichen Umsetzung bis hin zur Aufführung und/oder medialen Konservierung. Sie sind u. a. chronologisch verbunden. Der/die KomponistIn, der/die musikalische InterpretIn und das Publikum können als die drei Instanzen des musikalischen Werkes verstanden werden. Der vierte Punkt stiftet übergreifende Perspektiven zu den soziokulturellen und sich historisch, geographisch, aber auch ästhetisch wandelnden Bedingungen von Komposition, Interpretation und Aufführung. Es geht um e­ inen 65

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interaktiv geprägten Ansatz, der entsprechend multiperspektivische und bewegliche Resultate erbringt und auch auf nicht (aus)notierte Musik anwendbar wäre. Prozesse werden dabei explizit – ihrer teils flüchtigen, temporären Existenz zum Trotz – in die Forschung einbezogen. Wagte man sich an die leibhaftigen Aufführungen lange nicht heran, vor allem weil sie immer menschlicher Schwäche und Fehlern unterworfen und vergänglich sind, so werden sie zusehends berücksichtigt und Gegenstand expliziter Forschungsziele, vor allem hinsichtlich ihrer mediatisierten Form wie etwa des Konzertfilms.6 Problematisch erscheinen dabei Forschungsprojekte zu musikalischen Aufführungen, welche der Musik selbst keine Beachtung schenken, sondern sie lediglich als per se nicht weiter untersuchungsbedürftiges Medium etwa für die Inszenierung von Ereignissen einbeziehen.7 Die Musik an sich, insbesondere ihre kompositorische und interpretatorische Entstehung, wird jedoch in immer mehr Projekten aus wissenschaftlicher Perspektive auf neue Weise ernst genommen und gewinnt – unterstützt durch Ansätze verwandter Fächer, insbesondere der Medien- und Kulturwissenschaft sowie der Psychologie – eigene forscherische Qualität zurück. Die entsprechende Forschung sucht teilweise explizit den Kontakt zu Komponistinnen und Komponisten sowie Musikerinnen und Musikern wie z. B. das schon erwähnte britische Projekt zu »Musical Performance as Creative Practice«. Diese wiederum zeigen teilweise durchaus Interesse. Dabei geht es einerseits um eine angemessene wissenschaftliche Forschung mit großer Nähe zum Gegenstand, andererseits um die explizite Beteiligung derjenigen, die Musik erst entstehen lassen und sie praktizieren, an den Debatten über künstlerische Entwicklungen. Gerald Bast, Rektor der Universität für angewandte Kunst in Wien und Jurist, wehrt sich in diesem Kontext gegen Dominanzverhalten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bezüglich dessen, was Forschung leisten kann  : Die Tatsache, dass sich Künstlerinnen und Künstler zu diesem Themenkomplex noch in relativ geringer Zahl öffentlich äußern (inwieweit sie Forschung einfach praktizieren, ist eine andere Sache), ist wohl mehr als bezeichnend dafür, wer in der Debatte über künstlerischen Fortschritt das Sagen hat, und sie ist nicht zuletzt ein Beleg für das Fehlen einer Artistic Community, die als Pendant zur Scientific Community mit der autonomen Vernetzung und Bewertung ihrer Produktion auch Entwicklungsmacht in ihrem eigenen Sektor ausüben könnte. Denn die Scientific Community ist es, die mit den »Machtinstrumenten« der Publikation, der gegenseitigen Zitierung und der wechselseitigen Begutachtung wissenschaftlicher Produktion, insbesondere hinsichtlich deren innerer Qualität und ihrer extern wirksamen wissenschaftlichen Erneuerungskraft, den Fortschritt der 66

Il vuoto: Musik an der Schwelle

Wissenschaften (zumindest im Bereich der Grundlagenforschung) kontrolliert, steuert und stimuliert (Bast 2011, 52). Laut Bast soll der geschlossene Kreislauf wissenschaftlichen Agierens durchbrochen werden, die weitgehende Wirkungslosigkeit wissenschaftlicher Forschung außerhalb ihrer selbstreferenziellen Sphäre soll beendet werden. Ein zusätzlicher von Bast nicht erwähnter Aspekt ist, dass auch unter den Wissenschaften, wiewohl sie sich mit überlappenden Themen befassen, oft zu wenig Austausch stattfindet und sie somit nicht nur innerhalb der Wissenschaft, sondern bereits innerhalb ihrer Disziplin selbstreferenziell agieren. Mir scheint diese Differenz besonders zwischen explizit kunstorientierten und soziokulturell orientierten wissenschaftlichen Disziplinen vorzuliegen. Die historische Tatsache der ursprünglich nicht vorhandenen heutigen Teilung von Kunst und Wissenschaft dürfte den Ansatz unterstützen, kunstbasiert zu forschen  : Es gab Zeiten, in denen die Wissenschaften als Teil des Kosmos der Künste gesehen wurden und das Ringen um wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt als künstlerische Tätigkeit. Heute haben wir es mit dem umgekehrten Phänomen zu tun  : Die Wissenschaften haben den Begriff der Forschung für ihren Bereich monopolisiert. Forschung im Zusammenhang mit den Künsten wird in der Regel noch immer als wissenschaftliche (  !) Forschung über Kunst oder bestenfalls als wissenschaftliche Forschung mit künstlerischer Illustration gesehen. (Ebd., 53/53)

Bast bringt die beiden Schlüsselbegriffe der vorliegenden Publikation »Ratio« und »Intuition« ins Treffen und provoziert mit ihrer konventionellen Zuordnung  : In der bisweilen heftig geführten Diskussion, ob »künstlerische Forschung« überhaupt eine zulässige Begriffskombination sei, wird häufig angeführt, dass wissenschaftliche Forschung durch Objektivität, Rationalität und Systematik gekennzeichnet sei, während die Kunst durch Subjektivität, Emotionalität und Intuition charakterisiert werde, weshalb die Begriffe »Kunst« und »Forschung« einander ausschließen würden. (Ebd., 53)

Auch diese kaum haltbare geteilte Zuordnung – Rationales der Wissenschaft, Intuitives der Kunst – entspringt nicht zuletzt dem Machtanspruch der Wissenschaft gegenüber ihrem Gegenstand, der Kunst, sowie der westlichen Idee, dass Ratio zur Bewältigung der Welt erstrebenswerter sei als Intuition. Längst dürfte unbestritten sein, dass Wissenschaft nicht ohne Intuition und künstlerisches Schaffen nicht ohne rationale Komponenten ablaufen. Was dann letztlich als 67

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Forschung zu bezeichnen ist, aus welcher Quelle es auch immer kommen mag. Bast ist sich der weiterreichenden Problematik durchaus bewusst und gibt zur Einschätzung möglicher forscherischer Leistung Folgendes an die Hand  : Die wirklich relevante Frage, ob es sich bei einem wissenschaftlichen bzw. künstlerischen Erkenntnisgewinnungsprozess um Forschung handelt oder nicht, liegt darin, ob der Prozess zur Erlangung neuen wissenschaftlichen oder künstlerischen Wissens dokumentiert und damit nachvollziehbar ist. (Ebd.)

Für meine Untersuchung zu Nettis Komposition ) place ( wesentlich ist die Prämisse, dass Kunst das Potenzial hat, selbst Forschung zu leisten und wissenschaftliche Forschung zu unterstützen. Es ist sinnvoll, zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung zu unterscheiden. Zu Recht will nicht jede bzw. jeder in der Kunst Aktive auch forschen, das sei ihr bzw. ihm unbenommen. Essenziell ist, Aktive der Kunst, wo sie es tun, als Forschende ernst zu nehmen. Längst ist durch neurowissenschaftliche Forschung erwiesen, dass rationale, sprachgesteuerte Hirnaktivität immer durch die intuitiv bildhaft emotional agierenden Bereiche des Gehirns hindurch muss, dass also sogenanntes rationales Handeln ohne die Intuition nicht stattfände. Auch die Bedeutung der Haptik für Verstehensvorgänge – als praktische Routine ebenfalls im Gehirn gespeichert – wird oftmals unterschätzt. Die Schwellen des Hirns werden bei vielen Handlungen permanent überschritten, seine Struktur ist in andauernder Veränderung begriffen. Es wird in diesem Kontext von der Plastizität des Gehirns gesprochen (vgl. dazu etwa Spitzer 1996). Die Körperlichkeit solcher Vorgänge und die Möglichkeit, sie mittels bildgebender Verfahren darzustellen, verknüpft sie mit morphologischen Perspektiven auf musikalische Prozesse. Diese werden dann nicht mehr in erster Linie konventionell musiktheoretisch-analytisch begleitet, sondern – mit einem Focus auf die Gestaltung der Musik – phänomenologisch entlang der auf Papier visuell notierten und bei Aufführungen oder mittels elektronischer Mediatisierungen visuell-auditiv erlebbaren Musik verfolgt. Hierzu wären auch die visualisierten Darstellungen von Frequenzgängen zu zählen. Morphologische Ansätze gewinnen derzeit in der musikalischen Analyse Raum.8 Einige zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten befassen sich für ihre Musik ebenfalls mit morphologischen Komponenten und übernehmen damit einen wissenschaftlich entwickelten Ansatz in ihre künstlerische Arbeit, unter ihnen Giorgio Netti. Auf diese Weise sind morphologische Prozesse bereits bei der Entstehung der Kompositionen im Spiel. Sie dienen, so Netti, der Entdeckung von Konstanten innerhalb einer Struktur, die dabei unterstützen, 68

Il vuoto: Musik an der Schwelle

ihr immanente Ordnungen und Hierarchien zu verstehen (vgl. Netti 2004, 178). Zwischen morphologischen und performanzästhetischen Ansätzen in der Folge der Cultural Turns bestehen aufgrund der mehrdimensionalen prozessorientierten Vorgehensweisen enge Verbindungen. Dabei hat der Begriff der Schwelle besondere Relevanz (vgl. Bachmann-Medick 2007, 38). Schwellen können vielfach erscheinen  : zwischen Klängen, zwischen Verstehensprozessen, zwischen Stille und Klingendem, zwischen Räumen, als Zone für Veränderung oder auch für Befreiung von sinnentleerten Verhaltensweisen. Sie können entstehen zwischen Arten der Aufmerksamkeit und Zugewandtheit bis hin zur Abgewandtheit oder offenen Anfeindung, als Zone für Veränderungen, von denen unbekannt ist, woher sie genau kommen und wohin sie genau gehen … Schwellenerfahrungen oder auch Erfahrungen der Liminalität gelten inzwischen als bestimmend für die Grundverfasstheit unserer Zeit. Sie werden im Rahmen der Untersuchungen zu Cultural Turns, darunter insbesondere des Performative Turn verortet. Schwellenerfahrungen, wissenschaftlich zunächst vor allem mit Ritualen verbunden (vgl. Turner 1982 sowie 1986), greifen ganz besonders in der Musik, denn diese enthebt uns bestimmten Determinanten der alltäglichen Realität und transferiert Menschen in eine eigene interaktive Welt, wo sie im Schutzraum zweckfreien Handelns Inszeniertes erfahren. Je nach RezeptionsBedingungen erlangt die Musik dabei starke Präsenz. Performanzästhetische Ansätze, wie sie seit einigen Jahren u. a. von der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte und dem Philosophen Dieter Mersch weiterentwickelt werden, erlauben Einblicke in interaktive und auratische Aspekte bei Live-Aufführungen. Diese können im Sinn von Alfred Lorenzers Theorie psychoanalytischer Kulturforschung ergänzt werden  : Musik erlaubt ein symbolisch umfassendes »szenisches Verstehen« konnotierter und im Schutzraum womöglich ausagierter Interaktionen bzw. Erfahrungsstrukturen im künstlerischen Erleben und ohne Fixierung auf die vermeintliche Deutungshoheit der Wortsprache, bei Gleichstellung anderer sinnlicher Interaktionsformen etwa visueller oder auditiver Konvenienz. In Lorenzers System hat die Kunst in der Gesamtheit aller Erfahrungsmöglichkeiten eine wichtige Sonderstellung  : Aus der Fülle der Gegenstände heben sich einige hervor, die keine andere Funktion haben als die, auf meine ›szenischen‹ Wünsche zu antworten, eine ›ästhetische Bedeutung‹ anzuzeigen, ›Bedeutungsträger‹ meiner Erlebniserwartung zu sein. Herkömmlicherweise werden diese Gegenstände, die ausschließlich oder vorwiegend diese Funktion erfüllen, versammelt unter dem Begriff ›Kunstwerke‹. (Lorenzer 1984, 20) 69

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›Szenisch‹ meint bei Texten nicht das dramatisch Entfaltete und bei ›gegenständlichen Bedeutungsträgern‹ nicht bloß die Inszenierung, sondern muß beide Male die vom Alltagsverständnis gezogenen Grenzen durchbrechen  : Die undramatisch stillen Bilder romantischer Gedichte (die ›Wälder‹, ›Täler‹, ›Blumen‹) ›bedeuten‹ szenisch entfaltete Zuständlichkeit, weil sie Formeln sozialer Spielfiguren, Entwürfe menschlicher Umgangsweise mit der Welt und mit anderen Menschen sind, sie wie ein nüchtern abgegrenzter Gegenstand wie ein Stuhl als ›Bedeutungsträger‹ diesen Gegenstand immer als Teil einer menschlichen Verhaltensszene repräsentiert. (Ebd., 165)

Alle dargestellten Ansätze erlauben, ja verlangen die Auffassung von Musik als Praxis. Unter dieser Prämisse steht im Folgenden Nettis musikalisches Denken im Zentrum.

Nettis musikalisches Denken Giorgio Netti erhielt seine musikalische Ausbildung am Mailänder GiuseppeVerdi-Konservatorium, darunter im Fach Komposition bei Sandro Gorli. Er besuchte – ebenfalls in Mailand – Kurse an der Civica Scuola di Musica bei Brian Ferneyhough, Gérard Grisey, Emmanuel Nunes, Wolfgang Rihm und Iannis Xenakis. Als weitere wichtige musikalische Impulsgeber nennt er John Cage, Luigi Nono und Helmut Lachenmann. Seine Musik wurde bei einigen internationalen Festivals und Reihen Neuer Musik aufgeführt. Seine Musik gilt als Geheimtipp und manche Neue-Musik-VeranstalterInnen wagen sich an die Programmierung seiner Musik nicht heran. Sie ist nicht nur von hoher handwerklicher Qualität, sondern auch von einem berührenden Eigensinn geprägt. Netti reflektiert seine Arbeit philosophisch und poetisch. Dabei wandelt er selbstverständlich zwischen forschendem und musikalisch-schöpferischem Duktus als musikalischer Forscher – systematisch reflektiert und zugleich kreativ spontan, nicht nur bezüglich seiner Kompositionen sondern als Lebensprinzip, getragen von einer Haltung und Disziplin, die er der Praxis des Yoga abgewinnt. Dabei beherrscht wohl das systematisch-disziplinierte Prinzip die kreativen und freiheitsliebenden Energien. In seinen Texten und Interviews, insbesondere in seinem Text zur musikalischen Morphologie (Netti 2004), legt er Spuren zu seiner musikalischen Arbeit und übermittelt die philosophisch-poetische Durchdringung seiner letztlich überaus sinnlichen Stücke. Für Netti sind die gerade in der Neuen Musik vielfach problematisierten Ebenen der Material-, Form- und 70

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Abb. 3  : Giorgio Netti ( Juli 2012), Foto  : privat

Strukturfindung in einer für ihn eigenen Weise unproblematisch und selbstverständlicher Teil seines Lebens, des Daseins überhaupt. Kaum etwas ist für ihn wohl wesentlicher als die Idee sich stets wandelnder, interaktiver Umgebungen und Daseinsformen. Dabei nimmt er die »Struktur« als Reservoir für den Fluss des »Lebens« in der alles erst ermöglichenden und bestimmenden »Zeit« (vgl. ebd., 184  ; Übertragungen aus dem Englischen ins Deutsche jeweils v. d. Autorin). Das aufmerksame Hören, das Zuhören (englisch listening) ist bei Netti als Herzstück »morphologischer Praxis« (ebd., 178) von zentraler Bedeutung. Das Hören verbindet zugleich die drei Instanzen des musikalischen Werkes  : die Komponistin/den Komponisten, die musikalischen InterpretInnen und das Publikum. Das Zuhören fungiert als Tor zur – nicht nur klingenden – Welt und ist immanenter Bestandteil von Nettis Komponieren. Netti schreibt von einem »äußeren« (»outer«) und einem »inneren« (»inner«) Zuhören (ebd., 181), beide schwellenartig miteinander verbunden, da sie Varianten des Hörens sind. Mittels dieses Hörens, dieser Praxis des Hörens, gewinnt, ja destilliert er Materialien, Strukturen, Musik. Hören ist für Netti eine Aktivität, Interaktion, Impulsgeber für kompositorische Prozesse. Das »äußere Zuhören« agiert – erstens mittels Fokussierung auf die »Präsenz klarer, aber ungewöhnlicher Klänge«, 71

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– zweitens als analytische, diverse Aspekte umspannende Wahrnehmung von Schichtungen und – drittens als »schwebendes Hören« (vgl. ebd.  : »suspended listening«), welches offener und möglichst unvoreingenommen und wenig kontrolliert stattfindet. Diesem Hören setzt Netti das »innere Hören« entgegen als eines, das »befreit« ist, das »die Stille braucht« (ebd.), die Leere, den Nicht-Ort, um seinerseits als Raum fungieren zu können. Netti forscht über das »äußere Zuhören«, während ihm das »innere Hören« eine gewissermaßen meditative Haltung ermöglicht, die ihn durchlässig macht für das Unerwartete und Neue. Struktur und Form seiner Musik entwickelt Netti in offenen und umfassenden Forschungsprozessen und arbeitet gewissermaßen im Sinn des szenischen Verstehens, erkennt das Potenzial nicht rationaler Kräfte. Er charakterisiert seine Materialien gerne als »Plätze« (»places«) (vgl. ebd, 182). Diese Plätze sind zugleich fixe und nicht fixierbare Orte, existent und doch immer in Veränderung, als »Vuoto« ( Jeschke 2002a, 1) (Vakuum) nicht fassbar und doch auf nicht erklärbare, aber machbare Weise begehbar. In seinem Streichquartett ) place ( manifestiert Netti seine Auffassungen in beispielhafter Weise. Sein Titel verweist mit den beiden nach außen gekehrten Klammern sowohl auf die Eigenart von Plätzen als auch auf Alberto Giacomettis Skulptur »place (Komposition mit drei Figuren und einem Kopf )« (Bronze bemalt, 1950, Museum Ludwig/Köln). Über seine Begegnung mit Giacomettis Skulptur berichtet Netti  : Eines Tages in einem Museum, hinter meinem Rücken, nahm ich etwas wahr, das mich im nächsten Raum erwartete. Ich drehte mich um und sah dort den winzigen, riesigen Platz. Seine Grundfläche betrug nicht mehr als 50 cm2, aber die drei Figuren und der Kopf ohne Körper, seine einzigen Bewohner, dehnten ihn mehr aus als im Freien. Der Kopf wurde ein Violoncello, zwei Violinen und die Viola die drei stehenden Figuren. Das Violoncello hat dementsprechend eine hervorgehobene Rolle in dem Streichquartett erhalten. ( Jeschke 2002b, 22)

Giacometti fertigte ab ca. 1948 mehrere »Plätze« dieser Art mit bis zu acht Figuren auf kleinstem Raum und versuchte damit eine neue Art des Erfassens der ihn umgebenden physischen Realität, von der er wiederholt feststellte, dass sie ihm bei der Übersetzung in seine Skulpturen entglitt. Mit seiner Beschreibung von Giacomettis sehr kleinem Platz, der zugleich massiv nach außen dringt, stellt Netti eine Verbindung zu seiner Idee des vuoto her. Der Maßstab von Giaco72

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Abb. 4  : »place« (1950) von Giacometti

mettis Platz hat für Netti eine physisch-reale sehr kleine und eine wahrnehmungsbedingte extrem ausgedehnte Dimension. Die Skulptur kann von einem erwachsenen Menschen in die Hand genommen werden und doch übersteigt ihr visueller Eindruck, so Netti, die Grenzen eines durchschnittlichen Platzes. Die offensichtliche Maßstabsverkleinerung trägt dazu erheblich bei. Der Platz selbst fungiert als Schwellen-Bereich.9 Mittels wahrnehmender Interaktion greift die Zeit in die Skulptur ein, gibt ihr ein sich in der Zeit bewegendes Leben. Über die philosophische Dimension, die er mit den beiden nach außen geschwungenen Klammern kenntlich macht, schreibt Netti  : 73

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Der Platz ist kein fester Punkt, er ist eine Leere [vuoto], die man mitteilt und abgrenzt. Er ist der Raum, der für die Begegnung der Menschen untereinander und insbesondere für die Begegnung zwischen der Natur und dem Artifiziellen da ist  : er öffnet sich dorthin, wo das Zerstreute zusammengehalten wird, wo das bewegliche Fragment wieder Teil eines Mosaiks wird, zur Strömung wird, die sich verlangsamt und ausbreitet. […] Der Platz schweigt, er ist ein gespanntes Trommelfell, das beim Hören Klang wird. (Ebd., 22/23)

Netti geht von Interaktionen an diesem Platz, dem vuoto, aus, der oftmals ein imaginärer ist, eine Folie, wie das Trommelfell, auf das der Klang trifft, wodurch über das Gehirn im Körper Aktivitäten entstehen. Er zielt darauf, diese Interaktionen aus überkommenen Kontexten zu befreien und neu, aber mit »Respekt für die Präsenz des Mysteriums« (Netti 2004, 177) zu transformieren. Vertrauen benennt er als eine erforderliche Grundbedingung solchen Komponierens. Viewed morphologically, I view a piece of music as a plot of interacting relationships, more similar to an organism than to an object to be taken apart. […] One must learn to recognize (identify, distinguish, admit) and to observe (in two senses – look attentively/examine carefully and respect/not disobey (violate) the presence of the mystery where it exists. Not to weaken it but, on the contrary, to concentrate its force, separating it out from the platitudes into which it is routinely reduced. Every new probing work carves out a form inside the mystery, stealing mystery from the mystery, on the one hand, but circumscribing it and giving it greater definition, on the other. (Ebd.)

Mehrfach wird das Mysterium genannt. Als Bereich des Wirkungsvollen, aber nicht bis zuletzt Erklärbaren oder Verstehbaren ist es omnipräsent, gerade im Umgang mit Künsten, mit Klang, mit Musik. Netti möchte es mit seiner Musik finden, darstellen, übermitteln, zusammen mit dem Respekt und dem Vertrauen, welche Unerklärlichem, aber Magischem gebühren. Dies ist zwingend für seine Arbeit und seinen Austausch mit Menschen und mit der Umwelt. Seine Forschungs- und Ausdrucksmittel sind weniger Worte, sondern in erster Linie Klänge.10 Solches Komponieren kann als Erkenntnisprozess verstanden werden. Es bedeutet interaktive Erforschung (»exploration«) neuen Territoriums und »Expansion« einer approximativen »Topographie« des zu komponierenden Stückes, seiner »Plätze« (vgl. Netti 2004, 182). Dabei wird die Identifikation und Unterscheidbarkeit der individuellen Plätze genauestens beachtet und gewissermaßen kompositorisch paraphrasiert, in eine neue Klanglichkeit übersetzend. Aus dem 74

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in der Person Giorgio Netti vereinten Zusammenspiel seiner haptischen Erfahrungen auf den Instrumenten, seines Umgangs mit »mystischen« Energien neuer Territorien und der immens kreativen Gestaltung der daraus resultierenden Stücke erklärt sich ihre starke energetische Präsenz. Seine Musik ist in grundlegender Weise an ihre Aufführungen gebunden und bedarf dafür intensiv resonierender, also eher überakustischer Orte, sie ist im besten Sinn performativ im Sinne Fischer-Lichtes, interaktiv im Sinne Lorenzers und auratisch im Sinne Merschs.

) place (, der Kompositionsprozess ) place ( nimmt als umfassende und grundsätzliche Umsetzung der Weltanschauung und des musikalischen Denkens von Giorgio Netti sowie als seine kompositorische Stellungnahme zur Königs-Gattung Streichquartett in seinem kleinen Oeuvre eine Sonderstellung ein und schafft dies auch in der Gattung selbst, unter zigtausenden neuen Streichquartetten der letzten Dekaden. Sein von Giacomettis Skulptur angeregtes Ziel, vuoti zu komponieren und damit ein aufmerksames und offenes Hören herauszufordern, setzt er mit diesem Quartett systematisch um. Am Beginn, so Netti, stand das »innere Zuhören«, also die Suche nach Vorstellungen und Hörerfahrungen, die über die Oberfläche hinaus in das Gehörte eindringen  : Erstens im Kontext der eigenen experimentellen Erforschung der drei Streichinstrumente Violine, Viola und Cello, zweitens kombiniert mit einer Spurensuche in Musik, die bei Netti in jener Zeit den »größten Eindruck« hinterließ, nämlich jener von Beethoven, Schubert, Bartòk, Webern, Nono, Ferneyhough, Xenakis, Lachenmann und Rihm. Auf der Suche nach klanglichen Prozessen, die seiner Idee eines offenen und zugleich determinierten Mysteriums in Kombination mit systematischer Gestaltung entsprachen, befasste sich Netti also – wie meistens – zunächst gründlich mit den einzusetzenden Instrumenten. Dabei experimentierte er in diesem Fall mit Präparationen der Saiten und entdeckte die Möglichkeit, verschiedene Karten hindurchzuwinden. Diese reduzieren per se das klangliche Spektrum und schieben den Parameter Tonhöhe in den Hintergrund zugunsten eines ausdifferenzierten Geräuschspektrums. Er hatte also mit dem Ziel einer optimalen Grundausstattung zu entscheiden, wie groß und dick sie sein sollten und wie viele von ihnen wie, wann und wo zu positionieren wären. Die dynamische Skala wurde der Präparierung angepasst und reicht von pppp (vierfachem Pianissimo) bis maximal mf (Mezzoforte), wobei die mittleren Werte von ppp bis mp dominieren. 75

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Durch die für die eingesetzten Instrumente fremde Klangwelt und die dynamische Reduktion erreicht Netti nicht nur die Entwicklung eigener nie gedachter Konzepte, sondern auch eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Ausführenden und seitens des Publikums. Das Hören, aber auch das Sehen wird in diesen Momenten wesentlich. In den rund 26 Minuten entspinnt sich ein anregender assoziationsreicher klanglicher Prozess, der sich Kategorien konventioneller Hörgewohnheiten weitgehend verweigert und sich teilweise regelrecht ungeübt linkisch anfühlt. Die Aufmerksamkeit richtet sich durch den Verfremdungseffekt auch auf die physischen Prozesse der Ausführung, die performativen Anteile des Quartetts sind enorm präsent. Fehlt es jemandem an Neugier und Energie, kann er oder sie dem Stück nicht folgen und ihm nichts abgewinnen. Dem metrischen Parameter fällt für die Entfaltung der Prozesse eine koordinierende Rolle zu. Er ist daher einfach gehalten, bei einem Grundtempo zwischen 54 bis 72 Vierteln mit dem Hauptzeitmaß 60 in überwiegend einfachen 5/8- bis 4/4-Takten. Nur an einer Stelle, in dem dem Nichts und dem Jenseits besonders nahen Tempelgesang der »Tanpura« in ppp (T. 446), der den sechsten Teil »curvo atemporale« mit der Himmelfahrt »apparizione« im VII. Teil verbindet, wird die Metrisierung durch eine an die 80 Sekunden dauernde offene Klangfläche mit zarten richiami (= Rufen) im Cello ersetzt. Aus diesem systematischen Experimentieren geht die Strukturierung und die Entwicklung des groben Formablaufs bis hin zu einer – wie Netti betont – möglichst MusikerInnen-freundlichen und »neutralen« Notation (Netti 2004) hervor. Dies geht so weit, dass er für die vier Stücke aus dem »Ciclo dell’assedio« (Zyklus der Belagerung), dessen erstes das Quartett ist, als Referenz für die MusikerInnen alle Partien auf dem eigenen Instrumentarium eingespielt hat.11 Die Basis-Spielweisen der Streichinstrumente – alle mittels der Präparierung mit den verschiedenen Karten und dem Dämpfer – teilte Netti in fünf Gruppen ein. In den Skizzen findet sich ein eigenes A3-Blatt mit diesen fünf Gruppen, verknüpft mit der dazu von ihm entwickelten jeweiligen musikalischen Notation (siehe Tabelle 1). »5 gruppi«, die fünf Basisspielweisen in ) place ( I. soffio [Hauch] II. altezza [Tonhöhen] III. vibrazioni complesse (intonate) [complesso = komplex] IV. grattati [Reibungen] IV. rimbalzini [rimbalzo = Abprall]

Tab. 1  : Quelle  : Netti o.J., Skizzenblatt Nr. 3

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Die knapp kommentierten Notationen zu den fünf Gruppen sind in den Abbildungen fünf bis neun dokumentiert. »lg« bezieht sich auf das Bogenholz, »cr.« auf die Bogenhaare. Alle notierten Aktionen sind mit dem Bogen auszuführen. Die Zusammenstellung lässt erahnen, mit welcher Differenziertheit Netti in alle Vorgänge seiner Klangerzeugung auf den drei Instrumenten hineingehört haben muss, wie gezielt er dann die verstecktesten Klänge thematisiert und physisch spürbare Grundphänomene wie die Vibrationen beim Streichen besonders hervorhebt.

Abb. 5  : Notations-Fundus der Basisspielweise »soffio« (Hauch/Wind), Quelle  : Netti o.J., Skizzenblatt Nr. 3

Abbildung 5  : In der ausgearbeiteten Partitur ist zu erkennen, dass diese Basisspielweise mit leichtem Bogen zumeist auf der Mitte der Karten oder in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft durchzuführen ist. Drei Intensitätsgrade sind unterscheidbar, vom zarten Hauch bis zur relativ präsenten Klanggebung.

Abb. 6  : Notations-Fundus der Basisspielweise »altezza« (Tonhöhe), Quelle  : Netti o.J., Skizzenblatt Nr. 3

Abbildung 6  : Diese Angaben zu den Tonhöhen sind mehrheitlich Resultate der übrigen Basisspielweisen und als solche größtenteils im obersten Bereich jedes 77

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Stimmen-Systems notiert. Die übrigen teils mikrotonal identifizierbaren Tonhöhen spielen offenbar bezüglich der fünf Basismaterialien nur eine periphere Rolle und sind in der fertigen Partitur jeweils ins unterste Notensystem jeder Stimme gesetzt.

Abb. 7  : Notations-Fundus der Basisspielweise »vibrazioni complesse«, Quelle  : Netti o.J., Skizzenblatt Nr. 3

Abbildung 7  : Diese Gruppe bedarf zumeist etwas erhöhten Bogendrucks und sehr langsamen Ziehens des Bogens beim Spiel mit den Haaren (crini).

Abb. 8  : Notations-Fundus der Basisspielweise »grattati«  ; Quelle  : Netti o.J., Skizzenblatt Nr. 3

Abbildung 8  : Die Reibungsklänge sind vornehmlich auf den Kartenrändern mit viel Bogendruck bei Nutzung der Bogenhaare zu erreichen.

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Abb. 9  : Notations-Fundus der Basisspielweise »rimbalzandi«  ; Quelle  : Netti o.J., Skizzenblatt Nr. 3

Abbildung 9  : Diese Effekte des Rückfederns entstehen bei relativ konzentriertem nicht zu langsamen Streichen mit normalem Bogendruck, sowohl mit dem Bogenholz als auch mit der Bogenstange. Die fünf Materialgruppen und ihre Basisnotate kommen bei der Ausarbeitung der Form zum Einsatz. Es kristallisierten sich, so Netti, mittels weiterer Experimente und Transformationsprozesse die schon erwähnten sieben künstlichen Seen (»seven artificial lakes«) heraus (vgl. Netti 2004, 189/190). Zu den verschiedenen Stadien liegen mehrere Skizzenblätter vor, darunter auch ein graphisch angelegter, in Sekunden und Materialschichten gegliederter siebenteiliger Formplan (siehe Tabelle 2). »la forma dispiegata« Bezeichnung

Zahl der Abschnitte

O[stinato]   M[emoria]   E[spressione]   S[aturo]   C[uore]   ∞ curvo atemporale   Tanpura (80”) u. apparizione   Gesamtanlage  :

Dauer in Min.

5   4:04 3   2:14 7   4:23 6   3:37 4   3:06 1   4:00 2   4:00

28

25:24

Tab. 2  : Quelle  : Netti o.J., Skizzenblätter Nr. 10 und 10a (dispiego = Aufgebot)

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Netti stellte fest, dass es zwischen diesen sieben Bereichen Grenzgebiete (»border zones« [ebd., 190]) – man könnte sie auch Schwellen nennen – gibt, die es verunmöglichen, sie spezifisch zu trennen. So entwickelten sich sieben Teile, die jeweils von einem der »Seen« dominiert sind. Die sieben Teile sind nach dem sie jeweils dominierenden »See« betitelt  : ostinato (hartnäckig), memoria, espressione, saturo (satt), cuore, ∞ curvo atemporale und Tanpura/apparizione. En detail hat jeder Teil abschnittweise jeweils ein weiteres Element aus den übrigen »Seen« aufgenommen. »Espressione« ist der einzige Teil, der alle sechs anderen Elemente Abschnitt für Abschnitt mitführt. Letztlich ergaben sich für die Gesamtform insgesamt 28 Abschnitte, die Netti als »Hörpunkte« bezeichnet, bei sieben Teilen, die er »Hörstrukturen« nennt (ebd., 191). Für die sieben Teile bzw. Hörstrukturen fertigte Netti in einem nächsten Schritt eine grafische Skizze an, die entlang eines sekundengenauen Zeitrasters in der Horizontalen die einzusetzenden Materialien spezifiziert (Netti o.J., Skizzenblatt Nr. 10). Auch der Dichtegrad der Ereignisse ist gut zu erkennen. Es ist naheliegend, dass die Ereignisdichte bei »espressione« mit den sieben Hörpunkten am größten ist. Sie reicht bis zur »∞ curvo atemporale«, der Signifikation für Unendlichkeit, wo die Dichte gleich null ist. Der Plan zeigt auch, dass Netti zwar über ein offenes und vertrauensvolles Hören und Erfahren – gewissermaßen also intuitiv – zu seinen kompositorischen Materialien findet, ihre Formgebung dann aber detailliert systematisch kalkuliert, hier also sozusagen rational agiert. Sowohl in seinem Text »D’istante la durata« (2004) als auch in seinen Skizzen finden sich charakteristische Merkmale der sieben »Seen« beschrieben, darunter auch die Ausarbeitung des Stückes mittels der schon genannten fünf Grundmaterialien soffio (Hauch), altezza (Tonhöhen), vibrazioni complesse (komplexe Vibrationen), grattati (Reibungen) und rimbalzandi (Rückpraller) in diversen Kombinationen zur Gestaltung der sieben Teile. Diese erhielten dadurch ihre entscheidenden klanglichen und ästhetischen Orientierungen. Der Teil »cuore« (Herz) weist beispielsweise eine starke Tonhöhenorientierung auf, erreicht durch Materialien aus den Bereichen »soffio« und »altezza«. Alle reibenden, physisch besonders präsenten Klänge treten in »cuore« zurück. Im Teil »ostinato«, dem Beginn des Stückes, ereignet sich Gegenteiliges  : rimbalzandi, grattati und vibrazioni complesse dominieren das Geschehen. Diverse Skizzenblätter, Nettis Text und auch das schon erwähnte Interview von 2002 geben über formalisierte Abläufe hinaus Auskunft zum jeweils intendierten Ausdruck, zur Aussage der Teile und Abschnitte. Es ist daher für die Beschreibung des Stückes eine der schwierigsten Aufgaben, seine Kernaussagen zu den sieben Teilen von ) place ( auf Basis der Skizzen zu destillieren. Folgende 80

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Zusammenstellung (aus Netti o.J., Skizzenblätter, Netti 2004, Jeschke 2002b) resultiert aus diesem Prozess  : • O s t i n at o    : l’attrito [Reibung] che genera la durata, la segmentatione del tempo, il f i u me – ac qua [hartnäckige Wiederholung eines Motives, das zu einem h y p n o t is c h e n P u l sier en neigt] • M e m or i a   : l’articolarsi della transformazione, le duratesi   ?  ?  ?, le mani, la trasformazione (Il calore generato), il f uo c o (… dige s t i vo …) [in diesem Fall als Synchronie (gleichzeitiges Klingen) gedacht, G l e ic hze i t igk e i t von j e t z t u n d da m a l s, dazu breiter Gesang] • E spr e s sion e    : la discontinuità, preferia i n f i n i t à, p oe si a , la forma nei framenti, (… l’essere (dell’uomo) …) [die Augenblicke, die das Ganze enthalten, dieser Z u s ta n d höc h s t e r K om m u n ik at ion der M at er ie , in dem ein einzelner Klang zur Wiedererkennung der Musik reicht, in der er enthalten ist] • S at u ro /S at u r a z ion e    : composto, tenuto, t r at t e n u t o g l i spa z i (discontinuità degli) l a m at er i a r ag gu m ata – t er r a [maximale materielle Dichte in Abwesenheit von Rhythmus und Pulsation, t en denz iel l u n durchsich t ig] • C uor e   : la continuità, nella Trasformazione, la grande curva contenuta (l a f l e ssion e de l Tu t t o), la mobilità, sempre tendenzialmente glimato (… L’a r i a …) [die Beweglichkeit des Streichinstruments, seine Fähigkeit, ohne Unterbrechung die klassischen Parameter von Klangfarbe (Abstand zum Steg, aber nicht nur), Höhe (durch die Abwesenheit von Tasten) und Dichte zu transformieren, schließlich seine fast gänzliche Unabhängigkeit vom Atem  ; und das Quartett, indem es vier in einem ist […], verursacht die Summe, die Subtraktion, das Produkt der einzelnen Teile und bringt sie dennoch immer wieder zur Einheit] • Curvo ate mp or a l e ∞  : v uo t o at tr av er s a men t o, tutti sordina, la sordina sará il cuore di Tutto gli altri soffi, respiri, venti, presenze, come promessa  : il respiro armonico [bedeutet für mich das Jenseitige, den Raum innerhalb und hinter jeder Form, die A bw e senhe it e iner Spur , zu der jede Form/Individualität fliehen möchte und auf die sie verweist]

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• A ppa r i z ione   : »c ome chi a m ata« [das Auftauchen, die Manifestation von etwas in sich Vollendetem, »r e i n e P r ä se n z «, die jede Beziehung von Ursache und Wirkung auslöscht und damit auch das Frühere und das Folgende, hebt uns zu einem J e t z t ohne Grenzen]

) place ( in performativer Perspektive  : Interpretation und Rezeption. Die Interpretation Das Kairos Quartett Berlin, ein auf Neue Musik spezialisiertes Streichquartett, dessen Bratschistin ich bin, erhielt den Auftrag, ) place ( im November 2001 bei den Zürcher Tagen für Neue Musik uraufzuführen. Allerdings wurde Netti nicht fertig. Lediglich Teil 1 bis 3 (»ostinato«, »memoria« und »espressione«), knapp die Hälfte des Stücks, konnten gespielt werden. Wir kamen daher im November 2002 nochmals nach Zürich, um dann das vollendete Stück in der stark resonierenden12 Halle des Stadthauses uraufzuführen. Für uns war es fast eine Erlösung, dass wir 2001 nur knapp die Hälfte zu lernen hatten, war diese »Sprache« und ihre wenn auch noch so logische Notation doch sehr hermetisch. Wir waren vor allem mit den spieltechnischen Herausforderungen des Stückes befasst, seine Konstruktion und Aussage stand zunächst im Hintergrund. Die Erforschung der Klänge auf unseren Instrumenten war zunächst wesentlicher als die Vorstellung der resultierenden Klangereignisse und ihrer Herkunft oder ihrer Bedeutung. Struktur und Form blieben bei der Einstudierung zunächst verdeckt. Nettis gestückelte eigene Einspielungen aller vier Stimmen gaben für alles genaue klangliche Vorgaben. Dies zeitigt allerdings zwei Probleme  : Zum einen sprechen gerade experimentell erzeugte Klänge nicht auf jedem Instrument gleich gut an (die von Netti eingesetzten Instrumente und Bögen sind von klanglich minderer Qualität). Zum anderen nutzte er als experimentierfreudiger Nicht-Profi Wege der Klangerzeugung, die den professionellen Ausführenden total fremd sind und wie eine eigene Sprachlichkeit und Technik komplett neu zu erlernen sind. Erhöhte Aufmerksamkeit für die performativen und interaktiven Aspekte unseres Spiels und ein besonders zugewandtes Hören hatte er also sicher bei uns erreicht. Wir brauchten ihn mehrfach, um mit uns unmittelbar an unseren Instrumenten zu arbeiteten, zuerst im November 2001. Dennoch war es uns und ist es teils bis heute noch schwer möglich, die Aktionsschrift des Stücks unmittelbar mit klanglichen Resultaten zu verknüp82

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fen, vor allem die Ereignisse der anderen Stimmen während des eigenen Spiels. Außerdem entstanden auf unseren Instrumenten oftmals ganz andere Klänge als auf den einfachen Instrumenten, die Netti benutzte. Insbesondere die an einigen Stellen im unteren Notensystem jeder Stimme notierten resultierenden Tonhöhen lagen oftmals bis zu einer Quinte tiefer als vorgesehen. Wir suchten mit Nettis Aufnahmen als Referenz auch experimentell sowie in Proben mit dem Komponisten nach alternativen Ausführungs-Varianten für die Klanghervorbringungen. Bei meiner Viola ist es besonders extrem, ich habe daher möglichst viele Konzerte auf Nettis kleiner Bratsche auf uralten Saiten mit einem sehr schwächlichen Geigenbogen gespielt. Der klangliche Radius der Instrumente ist wie schon beschrieben bei diesem Stück stark verengt und innerhalb dieses Raums extrem ausdifferenziert. Überraschend stark veränderte daher eine nur geringe Änderung eines spieltechnischen Parameters bereits das Ereignis. Das Spielgefühl war also einige Zeit etwas unsicher und in Proben und Aufführungen nur durch ein sehr konsequentes Dirigieren der ersten Violine zu stabilisieren. Erst nach einigen Aufführungen wandelte sich für das Quartett das Notat der Partitur ganz allmählich von einer Aktionsschrift zur Resultatnotation, die es ermöglicht, uns die Klänge vorzustellen. Bis heute ist ein Lesen dieser Partitur nicht mit der eines klassischen Kammermusikwerkes vergleichbar. Es bleiben hohe Schwellen zu überwinden. Zugleich hatte uns das Stück schon früh in seinen Bann gezogen, seine systematische Konsequenz und seine Klanglichkeit waren frappierend. Netti hat dieses Befremden seitens des Quartetts nicht kalkuliert, es dürfte ihn sogar eher überrascht haben, obwohl er um die Schwierigkeit seiner Stücke weiß. Am 7. Mai 2005 spielten wir ) place ( im Schömerhaus in Klosterneuburg. Der damalige Mitschnitt dient mir für diesen Vortrag als Referenz. In Tabelle 3 stelle ich die geplanten Dauern der kompositorischen Teile jenen der Aufführung gegenüber. Die Abweichungen sind tolerabel.

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Übersicht der geplanten Dauer und der realen Aufführungs-Dauer am 7. 5. 2005 Teil geplante Dauer Aufführungsdauer ostinato   4  : 04   4  : 27 T. 110 memoria   2  : 14   2  : 37 T. 158 espressione   4  : 23   4  : 24 T. 243 saturo   3  : 37   3  : 33 T. 321 cuore   3  : 06   3  : 39 T. 383 curvo atemporale   4  : 00   3  : 50 T. 446 Tanpura (80”) u. apparizione   4  : 00   4  : 22 Gesamtlänge  :

25  : 24

26  : 52

Tab. 3  : Die geplanten Dauern wurden den Skizzenblättern 10 und 10a (»la forma dispiegata«) entnommen. Die realen Aufführungsdauern beruhen auf dem Mitschnitt des Konzerts des Kairos Quartetts am 7. 5. 2005 im Schömerhaus Klosterneuburg

Der Bereich »cuore« (Partiturausschnitt in Abbildung 10), welcher den fünften Teil dominiert, entpuppte sich in Nettis Stück schließlich als innerster Referenzbereich, als sein Herzstück zur Geschichte des Streichquartetts. Während unserer Proben im Herbst 2001 konnte ich mir aus den persönlichen Kommentaren Nettis zum wohl gesanglichsten und tonhöhenorientiertesten See »cuore« notieren  : »classical, a string quartet in the other room«. In Abbildung 10 (S. 86) ist das Notat des Übergangs von der »curvo atemporale« zur »Tanpura«, die den Schlussteil einleitet, zu sehen. Hinsichtlich der »curvo atemporale« sprach er von einem »traveler in the other world«. Dies ergänzt auch den auditiven Eindruck der Passage, die ja den Übergang zum Schlussteil »apparizione« darstellt. In den 80 Sekunden der meditativen »Tanpura« ruft das Cello leicht auf- und abglissandierend zum Bordun von Violine 1 und Viola mit einem feinen hohen Kartenakkord. In der zweiten Violine findet dazu der Wechsel von der carta morbida zur lamella13 statt, die den Übergang zum zweiten Stück des »assedio«-Zyklus’, zum Streichtrio »rinascere sirena« (2003), vorbereitet. In Abbildung 11 (S. 87) ist ein Ausschnitt aus der Schlusspassage von „cuore“ zu sehen, wo ab T. 372 der Übergang in die im Wesentlichen auf Holzdämpfern erzeugte stark tonhöhenentfärbte Klangwelt der „curvo atemporale“ vorbereitet wird. Speist man die klangliche Umsetzung dieser Partitur-Passage in eine Tonbearbeitungs- oder Analysesoftware wie beispielweise die Freeware „Sonic Visualizer“,14 dann zeitigt etwa das Tondokument zur Aufführung des Kairos Quartetts vom 7.5.2005 eine bildliche Darstellung der Hüllkurven, Tonhöhen- und Dynamikverläufe, die jener der Partitur verblüffend ähnelt. Selbst das nahezu vollständige Verebben der Tonhöhen bei kaum noch zu ahnenden, aber weiterhin präsenten auditiven Ereignissen wird sichtbar. 84

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Das Publikum Bei seinen Aufführungen geht von ) place ( eine starke suggestive Energie aus, es ist für die Beteiligten kaum möglich, sich nicht einnehmen zu lassen. Die Reaktionen aus dem Publikum auf die Aufführungen von ) place ( waren nahezu ausnahmslos positiv. Es wurde übermittelt, dass man etwas Außergewöhnlichem begegnet war, eine Schwellenerfahrung gemacht hatte. Nur eine sehr aufmerksame und konzentrierte, zugleich offene Haltung ermöglichte offenbar eine konstruktive Begegnung mit diesem Stück. Die leibhaftige Erfahrung der vier StreicherInnen, die auf ungewohnte und merkwürdige Weise die facettenreiche Klanglichkeit und schlüssige Form des Stücks erzeugten, war vielfach von einer solchen Intensität, dass sie zu assoziationsreichen Kommentaren führte. Auch der Ausdruck von Respekt und Bewunderung für die Leistung der MusikerInnen über den Applaus hinaus zählt dazu. Einige ZuhörerInnen interessierten sich dafür, wie solche Klänge notiert sind, und beugten sich intensiv über die Partituren des Quartetts, konnten anfängliches Befremden und Irritation aber nicht rasch überwinden, brachten verständlicherweise die Aktionsschrift und die klanglichen Resultate nicht zusammen. Viele ahnen, wie tief wir in dieses Stück eingetaucht sein müssen, ahnen aber nicht, wie wenig wir zuweilen bis heute – parallel zu den eigenen – von den Aktionen der anderen drei KollegInnen anhand des Notats mitverfolgen können, dass wir uns teilweise immer noch wie AkrobatInnen beim Hochseilakt fühlen. Die (dafür) überlebensnotwendige konzentrierte Wachheit übermittelt sich bei jeder Aufführung und sie trägt viel zum nachhaltigen Eindruck bei. Auffallend sind Diskrepanzen der Wahrnehmung zwischen Publikum und Musizierenden, denn im Raum, wenn er stark genug resoniert15, hat ) place ( wohl den Effekt einer komplett akustisch erzeugten elektronisch anmutenden Klangwelt. Von einer Konserve abgespielt bleibt unklar, wer diese Musik wie erzeugt, ob sie eventuell wirklich elektronisch ist. Dennoch belegt gerade ) place (, dass die Aufführung rein elektronischer Musik mit der Differenziertheit und Macht akustischer Klangerzeugung nicht konkurrieren kann. Für das Quartett als eigentliche Schallquelle ist es bei seinen Aufführungen leider nicht möglich, diese Intensivierungseffekte des Stückes so zu erleben. Im Gegenteil, am Ort der Klangproduktion erscheinen alle Ereignisse im Moment ihrer Entstehung hoch differenziert und fein im insgesamt eher ultraleisen bis mittelleisen dynamischen Spektrum. Das aufmerksame Hören und Sehen des Publikums reflektiert also kaum dieses reduzierte dynamische, sondern das in der Reduktion ausdifferenzierte klangliche Spektrum, seinen Ablauf und die unkonventionel85

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Abb. 10  : Netti, ) place (, T. 446 (Teil VII Beginn, Tanpura)

len Modi seiner Hervorbringung, aber auch die akustische Anreicherung der Klänge im Raum. Das Publikum reagiert auf die Konsequenz und den Ausdrucksreichtum von ) place (, welche wohl zugleich die morphologisch verankerten intuitiven und durchdachten Vorgehensweisen Nettis beim Komponieren widerspiegeln. Netti legt großen Wert darauf, dass sein Stück am besten gleich nach der Aufführung eines sehr sonoren, tonhöhenorientierten anderen Quartetts erklingt wie etwa nach dem auf der Resonanz von Obertonspektren aufgebauten zweiten Streichquartett von Georg Friedrich Haas. Erst nach einer solchen Hörerfahrung satter tonhöhenorientierter Klanglichkeit besteht die Chance, dass sich die Klangwelt von ) place ( für das Publikum optimal entfalten kann. Am Verhältnis von Nettis Quartett zu anderer Musik des gleichen Kon86

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Abb. 11  : Netti, ) place (, Übergang zu T. 372 (von »cuore« zu »curvo atemporale«)

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zerts lässt sich besonders plastisch erleben, wie sich Stücke eines Konzertabends gegenseitig beeinflussen. Zur Uraufführung in Zürich 2002 gibt es einige Kritiken, unter denen mehrere die Rumpf-Aufführung aus dem Jahr zuvor erwähnen. Thomas Meyer etwa weist darauf hin, dass der »Live-Eindruck entscheidet« und dass es zu bedauern sei, wie selten es bei Neuer Musik eine Chance gebe, etwas nochmals zu hören und damit vertrauter zu werden. Er weist darauf hin, dass Radio und CD am Bedarf nach Live-Erfahrungen nur wenig ändern (Meyer 2002a, 58). Meyer bestätigt auch die spezifische Intensität der Erfahrung  : Von einem Wiederhören profitierte bei diesen Tagen für Neue Musik Zürich immerhin das Streichquartett ) place ( des Italieners Giorgio Netti  : 2001 war es im Festivalprogramm noch spurlos vorbeigezogen, diesmal wurde es am Eröffnungsabend, solo präsentiert, zum Erlebnis. Das Kairos Quartett erzeugt durch die Präparation der Saiten mit Plastikkarten und Metallen ungewöhnliche geräuschhafte, aber faszinierende Klänge. Verschiedenste Stricharten wurden verlangt, kaum ein richtiger Ton erschien, aber dafür gelang es Netti, gleichsam ins Innere der Instrumente vorzudringen. Man glaubte den Hohlraum, das Holz, die Saite materiell zu hören. Und plötzlich entfalten sich diese Obertöne und Nebengeräusche auch in der hohen Halle des Zürcher Stadthauses. (Meyer 2002b, 31)

Besonders treffend formulierte Jürg Huber, indem er, ohne es wissen zu können, unmittelbar Bezug nimmt auf Nettis poetisch-philosophisches Konzept  : Doch am Anfang steht der Klang als Erregung der Materie  : Holz, Haar und Harz des Bogens reiben sich am Metall der Saiten. Diese Reibungswärme bleibt im weiteren Verlauf des Stückes erhalten, wenn sich die Musik gleichsam in ihr Inneres zurückzieht  ; so glimmt auch in den Klängen die vorher aufgebaute energetische Ladung unterschwellig weiter. (Huber 2002)

Knapp und prägnant schrieb Torbjörn Bergflödt für den Südkurier »[Nettis Streichquartett ›) place (‹] geriet beim Kairos Quartett aus Berlin zu einem veritablen Ohrenöffner« (2002).

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Fazit Netti hat mit ) place ( eine Komposition geschaffen, die seinem Anspruch, das innere und das äußere Hören zu vernetzen, gerecht wird. Er statuiert damit ein Exempel für die Möglichkeiten künstlerischen Forschens zwischen Intuition und Ratio. Er schafft eine liminale Musik16, die wie ein Gefäß im Moment ihres Erklingen Anwesendes und Abwesendes aufnimmt und eines hohen Maßes an Zugewandtheit bedarf. Mittels seiner Musik erwartet er Veränderung, Abschied von Gewohnheiten, Offenheit für Neues. Mit ihr kultiviert er Prozesshaftes, Körperhaftes, agiert morphologisch. Er fordert aufmerksames und zugewandtes Wahrnehmen ein, ohne dies ist seine Musik nicht rezipierbar. Das heißt, sie ist auf ihr Erklingen angewiesen, sie bedarf der Erfahrung des Erklingens, um verstanden werden zu können. So ist Nettis Arbeit zutiefst performativ, bedarf eines performativen Werkbegriffs, welcher die KomponistInnen, die MusikerInnen und das Publikum einbezieht, und bedarf auch einer entsprechenden wissenschaftlichen Reflexion, die sich mit Akkulturationsthemen der Gender Studies berührt. Durch die Netti eigene Gründlichkeit stellt seine Arbeit ein besonders reichhaltiges Reservoir für solche Ansätze dar. Im Kontext der Erfahrung von Nettis Musik erscheint der Haiku-Charakter seines Satzes »Der Platz schweigt, er ist ein gespanntes Trommelfell, das beim Hören Klang wird.« sinnvoll. Für Netti ist all dies zutiefst natürlich und selbstverständlich, korrespondiert mit seiner Yoga-Praxis. Das Mysterium ist notwendiger und willkommener Teil des Ganzen und erhält in Musik wie der »curvo atemporale« und der »Tanpura« von Nettis ) place ( sakrale Qualität.

Anmerkungen 1 Vgl. »Bauplanung« in Kreutziger-Herr/Losleben 2009, o.S. (Einleitung). 2 Siehe Abb. 1 links oben. Da auch italienische Telefonkarten für das Festnetz inzwischen rar werden, wird das entsprechende Depot des Komponisten zukünftig wichtiger werden. Die Verschiedenheit klanglicher Charakteristiken nationaler Telefonkarten ist frappierend. 3 Pizzicato  : »Zupfen« der Saite. 4 Netti  : ) place ( (Partitur), T. 1. Pizzicato mano sinistra  : Zupfen mit der linken Hand. 5 ostinato  : insistieren/beharren  ; memoria  : Erinnerung  ; saturo  : gesättigt  ; espressione  : Ausdruck/ausdrucksvoll. 6 Ein Zentrum dieser Forschung befindet sich in England, wo 2004 das AHRC Research Center for the History and Analysis of Recorded Music (Host Institution  : Royal Holloway, University of London) mit großzügiger Unterstützung aus öffentlichen Mitteln gestartet wurde. Diesem folgte

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2009 ein weiteres fünfjähriges Projekt  : das AHRC Research Center for Musical Performance as Creative Practice (Host Institution  : University of Cambridge).   7 Das würde etwa für Casting-Shows gelten, vgl. Roth-Ebner 2008 . Ein weiteres Beispiel ist die kultursoziologische Analyse der Praxis populärer Musik, z. B. des Hip-Hop, ohne musikalische Analyse. Vgl. Winter 2004.   8 Vgl. 1) Musical Morphology (2004), 2) FWF-Projekt  : »A Context-Sensitive Theory of Post-tonal Sound Organization«   9 Fast könnte man annehmen, dass Giacometti eine musikalische Umsetzung des menschlichen Lebens, wie er es mit seinen Skulpturen nie erreicht zu haben glaubte, beglückt haben müsste. Erlaubt sie doch, den ewigen Fluss, die ewige Veränderung darzustellen. »The human’s interior force, which Giacometti felt so vividly, represented the crux of his frustration with sculpture. He was never satisfied with his sculptures, constantly revising their plaster casts so much that at times they had to be taken from his hands in order to be cast into bronze. His goal was to convey the energy of the human in outward appearance, an energy that was not only overwhelmingly powerful, but also in a constant state of flux. To capture effectively the life-force of the human was impossible for Giacometti. Such a definite and permanent summation was antithetical to the formless, shifting, and unconquerable force of life, which could only occur in or after death, when it stopped its movement. Thus, Giacometti had to reconcile himself to the fact that he was attempting an impossible task and could never be satisfied with his work. Despite this realization, he valiantly continued in his quest to find the essential in the human form.« Claire Ittner auf  : http  ://sites.davidson. edu/commonplaces/2010/09/01/the-personal-vision-of-alberto-giacometti/ (20. 7. 2012) 10 Vgl. dazu  : »I think this is the point  : for sharing an experience, but we can also call it ›sense‹, we need a language, a powerful language able to not be destroyed by the intense energy of every new sense that modifies the precedent ones  ; language does not mean verbal explanation, also poetry escapes that, I’m speaking about an oriented plot (trama) in which don’t exist isolated details but a capillary branching of an only source.« (E-Mail �������������������������������������������������������� vom 25. 4. 2012 von Giorgio Netti an die Verfasserin) 11 Diese Einspielungen sind eine Spezialität Nettis. Er hält sie für seine Solostücke, auch jenes für Saxophon, und für seine Kammermusik bereit. 12 Resonanz ist das Mitschwingen eines Systems in seiner Eigenfrequenz. 13 Die lamella ist die Metallkarte, die im Streichtrio, dem zweiten Teil des »Ciclo d’assedio«, eingesetzt wird. 14 Diese hilfreiche und relativ leicht zu bedienende Analyse-Software kann kostenfrei unter folgender Webadresse heruntergeladen werden  : http  ://www.charm.rhul.ac.uk/analysing/p9_0_1.html (20. 7. 2012) 15 Resonanz bezeichnet hier das Mitschwingen eines Systems in seiner Eigenfrequenz. 16 D.h. eine Musik, die Erfahrungen des Übergangs, der Ränder und ihrer Schwellen betont.

Literatur Doris Bachmann-Medick (2007), Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg Gerald Bast (2011), »Können Künstler Forscher sein  ?«, in  : ÖMZ 66/6, 2011, 52–55

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Torbjörn Bergflödt (2002), Kritik im Südkurier Nr. 264/2 vom 14. 11. 2002 Erika Fischer-Lichte (2003), »Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen«, in  : Performativität und Praxis, hg. v. Jens Kertscher und Dieter Mersch. München Erika Fischer-Lichte (2004), Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. Jürg Huber (2002), »Schimmernde Klangwelten. Tage für Neue Musik. Eröffnungskonzert«, in  : Neue Zürcher Zeitung vom 9./10. 11. 2002 Anouk Jeschke (2002a), Interview über ) place ( mit Giorgio Netti im April 2002, Übersetzung der Antworten aus dem Italienischen  : Pietro Cavalotti, transkribiert als Text, Fragen auf Englisch, Antworten auf Italienisch  ; abrufbar unter http  ://www.giorgionetti.com (30. 8. 2009) Anouk Jeschke (2002b), »Giorgio Netti ) place (, in  : Programmheft zum Konzert »KOMPLEX« der Reihe »Fünf Fenster auf Neue Musik für Streichquartett« des Kairos Quartetts am 13. 5. 2002 in der Kulturbrauerei Berlin, 8–25 Erhard Karkoschka (1966), Das Schriftbild der Neuen Musik. Bestandsaufnahme neuer Notationssymbole. Anleitung zu deren Deutung, Realisation und Kritik, Celle Annette Kreutziger-Herr, Katrin Losleben (2009), History Herstory. Alternative Musikgeschichten. Wien/Köln/Weimar Alfred Lorenzer (1984), Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, 2. Aufl. Frankfurt a. M. Dieter Mersch (1997), »Ereignis und Aura. Zur Dialektik von ästhetischem Augenblick und kulturellem Gedächtnis«, in  : Musik und Ästhetik 3/1997, 20–36 Thomas Meyer (2002a), »Energie- und Ruhepunkte«, in  : Tages-Anzeiger vom 12. 11. 2002 Thomas Meyer (2002b), »In den Schluchten des Festivals. Anmerkungen eines Kritikers nach Begegnungen mit Neuer Musik in Zürich und Donaueschingen«, in  : Dissonanz 78, Dez. 2002 Musical Morphology (2004), hg. v. Claus-Steffen Mahnkopf, Frank Cox und Wolfram Schurig (New Music and Aesthetics in the 21st century, Vol. 2). Hofheim Giorgio Netti (2004), »D’istante la durata«, in  : Musical Morphology 2004, hg. v. Claus-Steffen Mahnkopf, Frank Cox und Wolfram Schurig (New Music and Aesthetics in the 21st century, Vol. 2). Hofheim, 177–195 Caroline Roth-Ebner (2008), Identitäten aus der Starfabrik  : jugendliche Aneignung der crossmedialen Inszenierung »Starmania«. Opladen u. a. Manfred Spitzer (1996), Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Heidelberg Victor Turner (1982), From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play. New York Victor Turner (1986), The Anthropology of Performance. New York Rainer Winter (2004), »HipHop als kulturelle Praxis in der globalen Postmoderne. Die kultursoziologische Perspektive der Cultural Studies«, in  : Ansgar Nünning, Roy Sommer (Hg.) Stella Butter (Mitarbeit), Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven. Tübingen, 215–230

Musikalien Giorgio Netti (2001/02), ) place (. Selbstverlag des Komponisten Giorgio Netti (o .J.), Skizzenblätter zu ) place (, im Besitz des Komponisten, Kopien im Besitz der Autorin

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Simone Heilgendorff

Internetquellen Website des Komponisten Giorgio Netti  ; abrufbar unter http  ://www.giorgionetti.com (19. 7. 2012) FWF-Projekt  : »A Context-Sensitive Theory of Post-tonal Sound Organization«  ; abrufbar unter http  ://musiktheorie.kug.ac.at/projekte/ctpso-a-context-sensitive-theory-of-post-tonal-soundorganization.html (21. 4. 2012). AHRC Research Center for the History and Analysis of Recorded Music  ; abrufbar unter http  ://www. charm.rhul.ac.uk/index.html (20. 7. 2012) AHRC Research Center for Musical Performance as Creative Practice  ; abrufbar unter http  ://www. cmpcp.ac.uk/index.html (20. 7. 2012)

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Tödliche Mischung Zum Giftmotiv im Spielfilm

Einleitung Die folgenden Überlegungen zum Giftmotiv im Spielfilm sind Teil eines gemeinsamen interdisziplinären Forschungsprojekts mit der Wissenschaftshistorikerin Bettina Wahrig zu Giftdiskursen in Pharmaziegeschichte, Literatur und Film. Der interdisziplinäre Zusammenhang ergibt sich direkt aus dem Gegenstand heraus, denn Giftbegriffe haben eine lange Geschichte der Einbindung in narrative Figuren, die weit mehr umfassen als ›rein wissenschaftliche‹ Konzeptionen dessen, was Gift ist. Giftdiskurse bewegen sich zwischen Wissenschaftsgeschichte, Literatur und populären Erzählungen und zeichnen sich aus durch ein kontinuierlich variiertes Repertoire an Themen und Motiven, die seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart wirksam sind. Im 20. Jahrhundert haben sich wissenschaftliche und populäre Diskurse in vielen Bereichen voneinander entfernt, sodass Giftnarrative vor allem in den Massenmedien weiter tradiert und modifiziert werden. Der Film nimmt hier eine besondere Rolle ein  : Er greift nicht nur Geschichten auf, sondern verleiht ihnen einen audio-visuellen Ausdruck, der Bedeutungsfelder intensiviert, erweitert und neue Schwerpunkte setzt. Ein zentrales Problem für Giftdiskurse ist die Definition und Fixierung von Giften – also die Frage danach, was eine giftige Substanz ist und worin ihre schädliche Wirkung besteht. Da immer auch Dosierung und Art der Verabreichung eine Rolle bei der Giftwirkung spielen, sind sowohl das »was« als auch das »wie« relevant für die Vergiftung. Aussagen wie »dies ist ein Gift« oder »diese Menge führt zur Vergiftung« können oft nicht eindeutig getroffen werden. Vergiftungen können unterschiedlich lange andauern, zu vorübergehenden oder chronischen Schäden, aber auch zum Tode führen. Eine der Schwierigkeiten besteht in der Unterscheidung einer Vergiftung von Krankheitserscheinungen oder Schädigungen, die auf anderen Ursachen beruhen, eine weitere im Nachweis eines Giftes bzw. einer Vergiftung. Die nach wie vor bestehenden Unsicherheiten über Gift bringt z. B. unser derzeitiges Populärlexikon Wikipedia einmal mehr auf den Punkt, wenn unter den Beispielen verschiedener Giftwirkungen Folgen93

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des aufgeführt wird  : »Die Einnahme von 10 Litern Wasser auf einmal […] kann für einen Erwachsenen tödlich sein. Es kommt zur Hyponatriämie (Unterversorgung mit Natrium durch osmotischen Entzug). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine toxische Wirkung des Wassers an sich, sondern um einen schädlichen Verdünnungseffekt.«1 Dass hier eine Schädigung, die gar keine Vergiftung ist, unter »Giftwirkungen« aufgeführt wird, und noch dazu eine, die durch das unschuldige lebenserhaltende Wasser hervorgerufen wird, zeigt, in welcher Weise die Problematik des Giftbegriffs einem Generalverdacht Vorschub leistet, der sich durch die Verkleidung im Fachvokabular einen wissenschaftlichen Anstrich gibt. Der Bezug zur übergreifenden Thematik »Ratio und Intuition« liegt vor allem im widersprüchlichen Verhältnis von Giftdiskursen zum Begriff des Rationalen  ; der Aspekt der Intuition ist eher implizit. Der Giftmord ist ein historisches und narratives Motiv, in dem dunkle Triebe sich einer Art ›wissenschaftlichen‹ Regimes unterwerfen  : Im Gegensatz zu physisch konfrontativen Mordformen gibt es beim Giftmord keine Spontaneität  ; er muss sorgfältig geplant werden und erfordert spezielle Kenntnisse oder Nachforschungen. Er gilt, wie aus den folgenden Ausführungen noch weiter deutlich werden wird, als ein ›rationales‹ Verbrechen, häufig als das Verbrechen der Intellektuellen. Immer wieder assoziiert sich der Giftmord mit Hybris, denn aufgrund ihres überlegenen Wissens wird GiftmörderInnen ein Selbstbild zugewiesen, in dem sie sich als HerrIn über Leben und Tod setzen. Den Bereich der Intuition berührt der Giftmord auf der Ebene der Lüge und der Täuschung  ; die Vergiftung findet in der Regel im Privatraum der Familie statt und erfordert eine intime Nähe des Mörders/der Mörderin zum Opfer. Zum Bild des Giftmörders/der Giftmörderin gehört die Fähigkeit, die eigene Intuition zu instrumentalisieren und sich in das Opfer einzufühlen, um dessen emotionale Wahrnehmung nicht zu verunsichern. Darstellungen des Giftes selbst sind immer auch von irrationalen Vorstellungen geprägt, die es zwischen Magie und Wissenschaft situieren. Ebenso wie der oder die GiftmörderIn ist das Gift eine trügerische Substanz, deren Wirkung berechenbar, aber bis zu einem gewissen Grad unerklärlich bleibt. All diese Elemente stehen wiederum in Beziehung zu negativen Phantasien und Vorurteilsstrukturen über Weiblichkeit. Im Folgenden wird es darum gehen, die Widersprüchlichkeiten von Giftdiskursen in diesem Spannungsfeld zu skizzieren und ihre Darstellung im Spielfilm zu veranschaulichen.

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Giftdiskurse und Abjekt Bettina Wahrig hat herausgearbeitet, dass sich in Giftdiskursen immer wieder die drei folgenden Strukturen finden, über die die Ambivalenzen des Giftbegriffs organisiert werden  : 1. »Formen des Paradoxen, so z. B. ein Missverhältnis zwischen kleiner Menge und immenser Wirkung, aber auch zeitliche Paradoxien« (Wahrig 2011, 10). Die übermächtige Wirkung einer kaum wahrnehmbaren kleinen Giftmenge erzeugt eine Entmaterialisierung des Tötungsaktes und gleichzeitig den Verdacht auf ungreifbare/unbegreifliche Widerwärtigkeit/Bösartigkeit. »Für […] das zweite Missverhältnis mag man etwa […] an das Konzept der schleichenden Vergiftung oder den unerwarteten Wirkungseintritt lange Zeit nach der eigentlichen Giftbeibringung [denken]. […] 2. [D]as Motiv der Mischung  : Zentral […] ist [hier die Idee des] […] Unreine[n], das Motiv der Verschmutzung. Der/die kriminelle GiftherstellerIn wird häufig als GiftmischerIn tituliert. Umgekehrt ist die Identifikation giftiger Substanzen verbunden mit Prozeduren der Reinigung, häufig auch der Sublimation […].« (Ebd.) 3. Die Unterminierung von Identität  : Charakteristisch für das Gift sind Lüge und Täuschung, denn dem Gift merkt man seine tödliche Wirkung nicht an – und schon gar nicht dem Getränk oder der Speise, der es beigemischt ist. Ebensowenig ist die Giftmörderin/der Giftmörder das, was sie/er zu sein scheint  : Versorgung und Pflege werden tödlich pervertiert, Harmloses ist gefährlich, Liebe verbirgt Hass und Vernichtungswillen, Schwäche verbindet sich mit Macht, Wissen erzeugt Zerstörung. Eine Kategorie, die als zentral für die Beschreibung des Giftmotivs herangezogen werden kann, ist die Idee des Abjekten, wie sie von Julia Kristeva in »Pouvoirs de l’horreur« (»Powers of Horror«) entwickelt wurde (Kristeva 1982 [1980]). Es handelt sich dabei um einen nach vielen Seiten hin interpretierbaren Terminus, der selbst kein fester Begriff ist und zugleich das Begriffliche grundsätzlich infrage stellt. Mit dem Abjekten versucht Kristeva das zu umreißen, was kulturell nicht allein ausgeschlossen und abgelehnt, sondern gänzlich verworfen wird, sodass ihm selbst die Benennung verweigert wird. Das Abjekt ist nicht Subjekt und kaum noch Objekt, »es hat nur eine Qualität des Objekts – nämlich dem Ich entgegengesetzt zu sein«2 (ebd., 1). Die Charakteristika, die seinen Ausschluss aus dem Kulturellen begründen, sind die des Ungehörigen, des Undifferenzierten, 95

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Vermischten und des Unsauberen. Versucht man, drei Themenkreise zu benennen, die das Abjekte umfassen, so wären dies die folgenden  : Das erste Begriffsfeld ist das, in dem Kristeva das Abjekte als dasjenige fasst, das sowohl zur Subjektivität als auch zur Objektivität im Widerspruch steht. Das Abjekte ist ein Unaussprechliches, das sich der Identifizierung entzieht und das nur anhand von Spuren nachgewiesen werden kann  ; diese sind z. B. Körperflüssigkeiten, Abfälle, unstrukturiertes organisches Material, Fäulnis, Verwesung und letztlich der Tod. – Ein zweiter wichtiger Aspekt des Abjekten ist sein Bezug zum Archaisch-Mütterlichen, ebenfalls eine Kategorie der vor-identischen Undifferenziertheit. – Das dritte Motiv ist das des oder der schlechthin widerwärtigen Kriminellen, der bzw. die weder das Gesetz offen bricht noch es verleugnet, sondern sich verlogen und betrügerisch um das Gesetz herumwindet und es missbraucht. Sie schreibt  : Es ist also nicht der Mangel an Sauberkeit oder Gesundheit, der die Abjektion/ Verwerfung hervorruft, sondern das, was Identität, System und Ordung stört. […] Das Dazwischen, das Mehrdeutige, das Zusammengesetzte. Der Verräter, der Lügner, der Kriminelle mit einem guten Gewissen, der schamlose Vergewaltiger, der Mörder, der behauptet, er sei ein Retter.3 (Kristeva 1982 [1980], 4)

Dies repräsentiert sich für Kristeva insbesondere im Faschismus, dessen Infamie sich in der Entstellung des Gesetzes zeigt  : »Das Abjekte ist pervers, weil es Verbote oder Regeln weder aufgibt noch akzeptiert  ; stattdessen verdreht es, führt in die Irre und korrumpiert. Es benutzt das Gesetz zu seinem Vorteil. […] Es tötet im Namen des Lebens […].«4 (Ebd., 15/16) Damit bezeichnet das Abjekt nicht allein die Infragestellung von Grenzziehungen, sondern eine Art Perversion, die die gesellschaftliche Ordnung und das Gesetz kennt und sich dessen parasitär für Zwecke bedient, die das Definierte und das Identische in die Verwerfung ziehen. Es ist nicht das Andere der Identität, sondern das, was sie unterminiert und damit in einer Weise Abscheu und Aggression auf sich zieht, dass es in das Reich des Unaussprechlichen verwiesen werden muss. Von dort droht es, Subjektivität zu zersetzen/zu zerstören, aber es bezeichnet auch den Ort, von dem aus eine Überschreitung von Identität möglich erscheint. Als destruktiv gebrandmarkt und von diskursiven Artikulationen ausgeschlossen, wird damit auch seine Produktivität verworfen, sodass diese nur noch mit abgewehrten Erscheinungen wie etwa Auswurf, krankhaftem Wuchern, schleichen96

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dem Verrotten, innerer Zersetzung in Verbindung gebracht wird. All dies sind Qualitäten des Prozesshaften, denen kulturell kein Raum zugestanden wird.

Film Daraus, dass die Giftdiskurse in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte das Phänomen des Giftes kulturell dem Verborgenen, Geheimen, Unzugänglichen und Unergründlichen zuordnen, ergeben sich für die filmische Darstellung spezifische Herausforderungen. Der Film ist ein Medium, das sich durch einen Exzess an Sichtbarkeit auszeichnet, und so stellt sich vor allem das Problem der Repräsentation des Giftes bzw. der Sichtbarmachung desselben. Wie ist die Beziehung zwischen Motiv und prekärer visueller Darstellung zu sehen  ? In welchem Verhältnis steht die Unmöglichkeit der Visualisierung des Gifts zur Ausprägung von filmischen Giftmotiven  ? Lässt sich von einer spezifischen Ästhetik des Gifts sprechen, einer besonderen Art der Darstellung des Undarstellbaren  ? Insofern ist das Giftmotiv dazu geeignet, das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarem im Film zu analysieren. In einem visuellen Medium übersetzt sich die »kleinste Menge« in ein Unzeigbares/Unerklärliches – letzlich ein Nichts, das zugleich von tödlicher Wirkung ist, und es entsteht das Paradox des »gewaltlosen Mordes«. Darüber hinaus gibt das Giftmotiv Aufschluss über visuelle und narrative Repräsentationen des Abjekten und seine subversive Produktivität. Vermischung, Verschmutzung und Verwechslung erzeugen jenseits des expliziten Horror-Genres Darstellungsformen des »Unaussprechlichen«, deren manifeste Erscheinung inhärente Beziehungen zum latenten Verworfenen unterhält. Damit erschließt das Giftmotiv einen kulturellen Bereich des fundamentalen Zweifels und der Angst. Weder das Gift noch seine Verabreichung noch die Vergiftungssymptome sind in ihrer Fatalität klar erkennbar und definierbar, sondern erscheinen häufig in harmlosen oder unverdächtigen Formen. Die filmische Inszenierung muss hierfür spezifische Ausdrucksweisen finden. Darstellungsformen Schaut man aus der Perspektive der Giftdiskurse auf das Kino, so kann zunächst einmal festgestellt werden, dass das Giftmotiv im Film aus dem gesamten Reservoir tradierter Vorstellungen zu Gift und Giftmord schöpft und dass diese in wiederkehrenden, je nach dem ästhetischen Anspruch des Films auch in stereotypen Formen umgesetzt werden. Ebenso ist festzustellen, dass die filmische 97

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Darstellung deutlich geprägt ist von den Ambivalenzen, die sich aus den genannten Paradoxien ergeben. Insbesondere die Unsichtbarkeit und die mangelhafte Definiertheit des Giftes sind ein grundlegendes Problem für den Film als visuelles Medium, denn sie stehen im Widerspruch zur Inszenierung im Bild. Die Darstellung von Vergiftungserscheinungen orientiert sich an bestimmten Vorstellungen über ihren Ablauf. Die ›realistische‹ Inszenierung einer Arsenvergiftung, der im Film beliebtesten Vergiftungsform, müsste Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Siechtum, Bettlägerigkeit und Schwäche bis zur körperlichen Desintegration zeigen – eine Art Krankheit also von wenig spektakulärem, aber durchaus unappetitlichem Charakter. Dem steht die Vorstellung vom schlagartig eintretenden Gifttod gegenüber, bei dem die vergiftete Person leblos in sich zusammensinkt. Das heißt also, einmal gäbe es Unangenehmes zu sehen, das andere Mal nichts. Vergiftung lässt sich nicht wie andere Mordformen, etwa Erschießen oder Erstechen, stilisiert und mit hohem Schauwert inszenieren. Krankheitserscheinungen sind ganz allgemein negativ besetzt und werden nur in bestimmten Fällen, wenn sie für die Narration eine besondere Rolle spielen, als solche inszeniert.5 Das Gleiche gilt für Vergiftungssymptome  ; auch sie werden nur in Einzelfällen in Szene gesetzt.6 Bisweilen werden metaphorische Übersetzungen auf körperlicher Ebene gefunden, aber der schnelle Gift-Tod wird in der Darstellung bevorzugt. An die Stelle von Gift und Vergiftung im eigentlichen Sinne treten die Repräsentationen von MörderIn und Opfer. Die Attribute des Gifts verschieben sich vor allem auf diejenigen, die das Gift verabreichen, und diese Filmfiguren verkörpern unterschiedliche Eigenschaften und Spezifika dessen, was man als »das Giftige« bezeichnen könnte. Die Charakteristika der Opfer können ebenso den Bereich der Konnotationen des »Vergifteten« bzw. Vergiftungswürdigen entfalten, aber auch den der Schwächlichkeit.7 Während eine realitätsorientierte Darstellung von Vergiftungserscheinungen die Gewalttätigkeit dieser Mordmethode durchaus deutlich werden ließe, ist der filmischen Gift-Inszenierung generell daran gelegen, dieses Moment der Rohheit herunterzuspielen. Vergleichbares hat Ian Burney für die Giftnarrative des Viktorianismus herausgearbeitet, in denen der Giftmord als niedrig und feige, zugleich aber auch als raffiniertes Produkt einer verfeinerten Zivilisation, als spezifisch modern, erscheint (vgl. Burney 2006, 12ff.). Damit tritt das Gift in einen Gegensatz zum archaischen, dafür aber ›ehrlichen‹ Erschlagen und zur direkten physischen Auseinandersetzung. Gift als Tötungsmethode hat immer Opfer zur Folge, keine Verlierer, Besiegte oder Gefallene, denn es gibt keinen Kampf. ›Gewaltlosigkeit‹ und Unsichtbarkeit dienen dazu, die kulturhistorische Funk98

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tion des Giftes zu symbolisieren  : »Das Gift, und ebenso der Giftmörder, hat die Fähigkeit zur Verstellung und Verkleidung. Das ideale Gift war geschmacklos, geruchlos, farblos – eine Substanz ohne greifbare Eigenschaften.«8 (Ebd., 17) Und hierzu lässt sich ergänzen, dass die ideale Vergiftung die ist, bei der das Opfer gleich nach der Aufnahme des Giftes ohne weiteren Widerstand mit einem Schlag stirbt. Das Gift wird damit zum Unfassbaren, Undarstellbaren und ist zugleich eine zielgerichtet eingesetzte Substanz. Jemanden zu vergiften erfordert im Prinzip zumindest ansatzweise pharmazeutische Kenntnisse – im Film aber geht dieser Bezug der Gift-Thematik zur Naturwissenschaft weitgehend verloren, da sich die komplexen Zusammenhänge, die beim Umgang mit giftigen Substanzen und deren Nachweisbarkeit eine Rolle spielen, narrationsökonomisch nur schwer vermitteln lassen.9 Stattdessen werden Motive gewählt, die den pharmazie- und literaturhistorischen Diskurs als Hintergrund haben, diesem aber sozusagen Extrakte entziehen. So gilt als gegeben, dass der/die GiftmörderIn mit todsicherer Perfidie vorgeht und das Gift verlässlich wirkt (z. B. Hitchcock 1947). Kombiniert wird dies bisweilen mit ProtagonistInnen, die ein starkes wissenschaftliches Interesse haben, die aber keinen professionellen Weg in den Naturwissenschaften verfolgen oder diesen verfehlt haben (z. B. Chaplin 1947  ; Ross 1995). Diese Muster haben eine Vielzahl von Variationen ausgeprägt. So äußert sich z. B. die ›Kälte der Wissenschaft‹ häufig nicht in einer direkten wissenschaftlichen Betätigung, sondern in einer besonderen, berechnenden Mitleids- und Empathielosigkeit der GiftmörderInnen, in der Art der Planung des Vorgehens, die selbst beim Antrieb durch Leidenschaft immer eine gewisse experimentelle Distanz erfordert und nicht im Affekt geschehen kann, wie dies bei anderen Mordformen möglich ist. Es findet eine Transformation wissenschaftlicher Werte und Kategorien in emotional-persönliche Verhältnisse und entsprechende Bildwelten statt.10 Beim Blick auf konkrete Inszenierungen von Gift in Spielfilmen fällt als Erstes auf, dass sie sich durch überwältigende Schlichtheit auszeichnen. Das Milchglas, das Cary Grant in »Suspicion« (Hitchcock 1941) so elegant die geschwungende Treppe hinaufträgt, kann als klassisches Symbol für die Giftdarstellung gelten. Die harmloseste aller Substanzen wird mit sorgender Geste von einem zweifelhaften Ehemann serviert und zieht höchsten Verdacht auf sich  : Der Gatte wirkt verdächtig, weil er ein Spieler ist, vom Geld seiner Frau lebt und in der Szene als dunkle Schattengestalt erscheint, und die Milch erscheint verdächtig giftig, weil eine Lampe im Milchglas platziert ist, wodurch es sich vom düsteren Chiaroscuro der Umgebung überdeutlich abhebt. Die zweite 99

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exemplarische Szene für die Darstellung einer tödlichen Substanz, noch bekannter als jene in »Suspicion«, ist die Selbstmordszene in »Citizen Kane« (Welles 1941). Auch wenn es sich hier nicht um eine böswillige Vergiftung handelt, so ist das Bild doch typisch  : Übergroß und klar fokussiert steht im Vordergrund die geöffnete Medizinflasche, daneben das leere Glas mit dem Löffel. Auf der mittleren Ebene liegt die Tote, stark überschattet, mit zur Seite gesunkenem Kopf, und im tiefenscharfen Hintergrund stürzen die beiden Männer zur Tür hinein. Die erste Szene arbeitet mit einer Bildkomposition und speziellen Effekten, die die vermeintlich oder tatsächlich giftige Substanz sofort innerhalb der Gesamtanordnung erkennbar machen und hervorheben, während die zweite Szene die Größenverhältnisse betont  ; die unsichtbare Macht des Giftes wird in Quantität übersetzt. Die Gestaltungsmittel dieser beiden Szenen wiederholen sich endlos in anderen Inszenierungen von Gift. Während Speisen nur selten vorkommen, konzentriert sich die Giftdarstellung auf Flüssigkeiten, und so werden unzählige kleine Behältnisse, Flaschen und Trinkgefäße als Gift ausgewiesen. Die Fläschchen haben bisweilen Etiketten, die auf die Gefahr hinweisen, mehrheitlich aber haben sie täuschende, verharmlosende oder gar keine Aufschriften. Dafür sind sie so platziert, dass sie durch ihre zentrale Position im Bild und/oder eine auffällige Farbgebung und Ausleuchtung die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ebenso häufig ist das Close-up, und so präsentiert sich das Gift im Film als eine Parade übergroßer Kaffeetassen und Weingläser, vorzugsweise mit Rotwein. So differenzierte und technisch ausgefeilte Kompositionen wie in »Suspicion« und »Citizen Kane« sind allerdings selten (selbst bei Hitchcock)  ; die meisten Filme beschränken sich auf die Betonung des giftigen Elements innerhalb der Gesamtkomposition oder auf dessen Isolierung durch Großaufnahmen. Ohne Kontext- oder Vorwissen betrachtet, fallen diese Bilder auf die Banalität der gezeigten Gegenstände zurück. Das Totenkopfetikett ist noch eindeutig, auffällig leuchtende Flaschen wirken noch verdächtig, aber die meisten sind doch nur Flaschen, Tassen und Gläser, eine Geschirr-Sammlung, und nicht einmal eine besonders interessante. Im filmischen Ablauf aber werden sie oft mit bedrohlicher Musik unterlegt und vor allem werden sie oft genug wiederholt, sodass kein Übersehen möglich ist. Eine solch plakative Inszenierung gilt herkömmlicherweise als ästhetisch defizitär  ; man kennt sie von Soap Operas, die einfallslos mit dem Zaunpfahl winken, um klare und eindeutige Botschaften auszusenden. Wenn die Giftdarstellung auch diese oberflächliche Penetranz hat, so verdankt sie sich jedoch nicht der Ökonomie. Es geht nicht darum, möglichst schnell und mit wenig Aufwand die 100

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Abb. 1–6  : Gift, Quellen sämtlicher Abbildungen siehe Bildnachweis

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Handlung voranzutreiben, sondern es liegt vielmehr eine Leerstelle, ein Problem hinter der Großaufnahme der Kaffeetasse. Das Gift soll möglichst banal und unauffällig sein, um in seiner ganzen Verlogenheit, Hinterlist und Täuschung bloßgestellt zu werden – zugleich soll es eine tödliche Waffe sein, darüber ­hinaus noch ambivalent-verlockend. Einem Messer oder einer Pistole sieht man die Gefahr an, aber der Tod nach einem Schluck Kakao muss durch eine gefährliche Tasse motiviert werden. »Gift« ergibt sich also aus der Kombination von Größenverhältnissen, zentraler Anordnung und Musikuntermalung und wird ergänzt durch narrative Einbindungen, die zu seinem Genuss einladen  : Die tröstliche Tasse Tee, die wohltuende Medizin, der edle Rotwein, beliebt sind auch der süße Kakao oder die würzige Speise. Dennoch können diese Inszenierungen einer täuschenden Substanz nie völlig darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Kompromissbildungen handelt. Die Bemühung um übertriebene Eindeutigkeit hält letztlich an der Diskursfigur der Unfassbarkeit des Giftes fest, und gleich einem Vexierbild kippt sie immer wieder ins Nichts, oder besser, in das nichts­ sagende Bild einer Kaffeetasse. Die Ordnung in den Kompositionen dieser Bilder und ihre häufig überaus gekonnte Ausleuchtung stehen in einem eklatanten Missverhältnis zu den eingangs skizzierten Ambivalenzen des Giftdiskurses, insbesondere zur Vorstellung des Abjekts. Ebenso wenig verweisen sie auf die Wissenschaft von den Giftwirkungen oder auf die Perversion des Giftmischens und der Tötungsabsicht. In ihnen vereinen sich vielmehr Klarheit, Regelmäßigkeit und häusliche Ordnung. Das Giftfläschchen ist deutlich gekennzeichnet, ist ins Regal geräumt, und die Kaffeetasse oder der Wein glänzen verlockend, selbst wenn sie verdächtig umschattet sind. Dieser Eindruck der Beständigkeit modifiziert sich, wie bereits erwähnt, durch den Kontext und die Gestaltung der Filmfiguren, von denen solche Getränke und Medikamente gereicht werden. Kurz seien hier einige Beispiele aufgeführt  : Ein Mann bringt die Frau um, die er nur des Geldes wegen geheiratet hat, und nimmt danach selbst Gift, um das Dienstmädchen, das ihm auf die Schliche gekommen ist, durch eine Anklage wegen versuchten Giftmordes loszuwerden (Lubin 1955). Ein bürgerliches Mädchen im 19. Jahrhundert möchte sich ihres nicht standesgemäßen Liebhabers entledigen. Sie hat eine sexuelle Beziehung zu diesem Mann, der sie nun dazu zwingen will, ihn zu heiraten, um ihm den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, während sie sich inzwischen für einen ihrer sozialen Schicht entsprechenden Gatten entschieden hat – ob sie den Liebhaber tatsächlich vergiftete, wird nie geklärt werden (Lean 1950). Eine Frau vergiftet sich selbst, um eifersüchtig das Leben ihrer Schwester und ihres Man102

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nes zu zerstören  ; sie hat vor ihrem Selbstmord alles perfekt inszeniert, um ihre Schwester als Mörderin zu überführen (Stahl 1945). Ein Heiratsschwindler und Serienmörder möchte seine nächste Gattin vergiften und bietet erst einmal einer Frau, die er auf der Straße aufgabelt, vergifteten Wein an, um die Wirkung auszuprobieren – eine experimentelle Vergiftung sozusagen (Chaplin 1947). Ein Mann, der zu feige ist, seiner Frau zu gestehen, dass er sie betrügt, beschließt aus »Mildtätigkeit«, sie zu vergiften, um ihr den Schmerz des Verlassenwerdens zu ersparen (Sachs 2007). Ein masochistischer Faschist vergiftet zusammen mit seiner dominanten Mutter seine Frau, weil sie versuchte, ihn auszuspionieren (Hitchcock 1946). Eine Gruppe linksliberaler StudentInnen vergiftet serienweise Ultrakonservative, um die Welt vor ihnen zu retten – nach dem Motto »kill somebody whose death makes the world a better place« (Title 1995). Vergiftet wird wegen sexueller Begierden, aus Habgier, Rache oder Enttäuschung, und dabei paart sich eine abgründige Emotionalität mit kalter Berechnung. Die glänzenden Tassen, Gläser und Fläschchen maskieren diesen Sumpf und verleihen ihm eine geordnete Oberfläche – als sei Vergiften eine saubere Lösung, die bei ausreichender Sorgfalt sicher gelingt. Auch wenn es noch nicht dezidiert ausgeführt wurde, so dürfte in der bisherigen Darstellung längst deutlich geworden sein, dass ein grundlegendes Charakteristikum all dieser Strukturen in ihrem impliziten Bezug auf angstbesetzte Vorstellungen von Weiblichkeit liegt. Zunächst einmal gehört ein großer Teil des Bedeutungsspektrums des Abjekten zur Phantasmagorie des Weiblichen und bezeichnet den unsäglichen Horror im Hintergrund der bekannten Rhetorik der Täuschung und Enttäuschung durch die Weiblichkeit. Die paradoxen Strukturen der Giftdiskurse sind zugleich Abwehrfiguren, die sich mit Weiblichkeit assoziieren  : Die fatale Wirkung eines Unsichtbaren, Verborgenen – die Vermischung, Verschmutzung, bis hin zur Verdrehung des Gesetzes – das Nicht-Identische und das trügerische Sich-Verstellen. So gilt denn auch das Vergiften als typische Mordmethode nicht nur von gesellschaftlichen Außenseitern, sondern vor allem von Frauen. Auch wenn sich das nicht durch empirische Daten belegen lässt, so haben »namhafte Toxikologen […] seit dem 19. Jahrhundert diese Legende von der giftmordenden Frau immer weiter verbreitet«, schreibt Bettina Wahrig (2009, 453) – und von Erika Eikermann11 (2004) bis zur »Freundin« findet sich nach wie vor die Behauptung, dass »Morden mit Gift […] typisch weiblich«12 sei. Im Film sind es durchaus nicht nur weibliche Figuren, die sich des Gifts bedienen, aber ›richtige Männer‹ sind in keinem Fall Giftmörder. Die Giftmörder sind vielmehr durch eine misslungene männliche Rolle gekennzeichnet, was sich immer wieder darin repräsentiert, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst 103

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verdienen und von Frauen abhängig sind. Die klassischen Attribute von Giftmördern – Feigheit, Schwäche und Hinterlist – sind weiblich codiert, und mit den Giftmörderinnen teilen sie darüber hinaus eine Masslosigkeit der Begierden. Gleichzeitig wird dem/der GiftmörderIn immer wieder ein überzogener Machtanspruch zugewiesen, der sich weigert, sich an der Realität zu messen – eine Art Hybris der tödlichen Kaffeetasse. Filmbeispiel Im Folgenden möchte ich nun den Aspekt der weiblichen Codierung des Giftmords an einem Film untersuchen, der eine geradezu exemplarische Giftmörderin zur Hauptfigur hat, nämlich »The Paradine Case« von Alfred Hitchcock (1947). Zunächst sei kurz die Handlung zusammengefasst  : Mrs Paradine wird verhaftet, da sie ihren Mann, den erheblich älteren blinden Colonel Paradine, vergiftet haben soll. Ihr Rechtsbeistand, Sir Simon, vermittelt ihr einen jungen erfolgreichen Anwalt, Anthony Keane. Keane, Sir Simon und der Richter, Lord Horfield, sind auch privat miteinander bekannt und diskutieren kontinuierlich den Fall Paradine. Jedem dieser Männer ist eine Frau zugeordnet  : Keane hat eine brave blonde Gattin  ; Sir Simon hat eine dunkelhaarige, wissbegierige Tochter, und Lady Horfield ist eine ältere Dame, die von ihrem sadistischen Gatten dauernd zurechtgewiesen, und wie ein unmündiges Kind behandelt wird. Mrs Paradine ist eine unwiderstehliche dunkelhaarige Schönheit und alle drei Männer sind von ihr fasziniert  : Keane, der sich in sie verliebt, will sie retten, Lord Horfield will sie bestrafen und Sir Simon ist ein väterlicher Beobachter. Während die Männer Mrs Paradine ergeben sind, sind die Frauen wie folgt positioniert  : Gay Keane ist ihre Gegenspielerin, die hilflos zusehen muss, wie ihr Mann sich verliebt, und die ihn mütterlich in ihre Arme schließt, als er unglücklich zu ihr zurückkommt  ; Sir Simons Tochter ist Mrs Paradines profanes Spiegelbild, und Lady Horfield sympathisiert mit ihr und hat großes Verständnis dafür, dass eine Frau ihren Mann vergiftet. Auf sein Drängen hin erzählt Mrs Paradine Keane von ihrer Vergangenheit. Sie kommt aus den Armenvierteln von Neapel und hat bereits mit fünfzehn Jahren mit einem verheirateten Mann gelebt  ; »I took advantage of him«, gibt sie zu. Danach hat sie sich von weiteren Männern aushalten lassen, bis der blinde Colonel Paradine ihr schließlich ein ›anständiges‹ Leben ermöglichte. Da die Indizien gegen Mrs Paradine sprechen, führt Keane eigene Recherchen in ihrem Umfeld durch. An dem Abend, als Colonel Paradine vergiftet wurde, hielt sich außer ihr 104

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Abb. 7  : Gegenspielerin (oben links) Abb. 8  : Double (oben rechts) Abb. 9  : Sympathisantin (rechts)

nur der Diener André Latour im Hause auf, und Keane reist ihm auf das Landgut der Paradines hinterher, um Wege zu finden, den Verdacht auf ihn zu lenken. Dies zum einen, weil die Verteidigung wenig andere Möglichkeiten bietet, zum anderen, weil er eifersüchtig auf Latour ist. Latour hasst Mrs Paradine, während sie eindringlich darauf besteht, dass Keane ihm auf keinen Fall durch ihre Verteidigung schadet. Den dramatischen Höhepunkt des Films bildet die Gerichtsverhandlung, die 70 Minuten der Filmzeit einnimmt  : Keane setzt Latour so sehr unter Druck, dass er schließlich zugibt, mit Mrs Paradine ein Verhältnis gehabt zu haben, äußert dies aber mit großem Abscheu. »It was she who dragged us both down. I hated every moment with her. […] I know now what I did. I can’t live with the memory of what I’ve done. […] I lied because I didn’t want the world to know what she was – his wife, my Colonel’s wife.« (Hitchcock 1947, 1.24f.) Am nächsten Tag werden alle von der Nachricht überrascht, dass Latour sich in der Nacht erhängt hat – offensichtlich, weil er mit dem Treuebruch seinem Colonel gegenüber nicht leben konnte. In diesem Moment gibt Mrs Paradine zu, dass sie 105

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Latour liebte und dass ihr eigenes Leben ihr nun nichts mehr wert sei. Latour habe sich geweigert, ihr bei ihrem Plan zu helfen, und so habe sie den Colonel selbst vergiftet, in der Hoffnung, danach mit Latour leben zu können. Die Vergiftung selbst findet also gar keine Visualisierung mehr in diesem Film, sondern wird als schlichtes Faktum vorausgesetzt. Die ambivalenten Strukturen des Giftbegriffs konzentrieren sich vielmehr ganz auf die Giftmörderin und werden in die Inszenierung dieser Figur transferiert. Mrs Paradines Geliebter, André Latour, erscheint geradezu besessen von der Bösartigkeit Mrs Paradines und warnt Keane eindringlich vor ihr  : You have only known Mrs. Paradine since she was in prison. […] Then how can you know her  ? If you did, I should not need to tell you that only the almighty God or the black devil himself knows what’s going on inside that head of hers. […] I know her, and I will tell you one thing more […]  : She is bad, bad to the bone. If ever there was an evil woman, she is one. (Ebd., 0.38)

Wie wird nun diese Frau inszeniert, die angeblich dem Teufel ebenbürtig ist  ? Wir sehen sie zum ersten Mal zu Beginn des Films, als ihr das Eintreten des Polizeiinspektors angekündigt wird, der sie dann des Mordes beschuldigt. Sie wirkt ruhig und elegant, perfekt gekleidet und frisiert, eine makellose Erscheinung mit scharf ausgeleuchteten, ebenmäßigen Gesichtszügen  ; schön, aber kalt. Als sie vor dem Spiegel ihr Haar zurechtrückt, so tut sie das weniger, um zu kontrollieren, ob noch alles sitzt, sondern vielmehr, um dies zu bestätigen. Sie spiegelt sich ihre Autorität zurück, nicht ein Gefallen an sich selbst. Vor dem Spiegel steht eine kleine schwarze Büste mit einem antiken Frauenkopf, und Mrs Paradines Hochsteckfrisur assoziiert sich sofort mit der Idee klassischer Schönheit. Bei der Anschuldigung erscheint sie dann in einer Weise bewegt, die ambivalente Zuschauer-Erwartungen wecken soll, ein Schwanken zwischen beleidigtem Stolz und Betroffenheit. Während Mrs Paradine sich vom Inspektor abwendet, fährt die Kamera immer näher an sie heran und beginnt sich um sie zu drehen. Der Effekt ist, dass ihr Gesicht uns gewissermaßen entgegenschwebt und gleichzeitig eingekreist wird, als ob es auf diese Weise etwas preisgeben würde. Dabei wird aus der hellen Ausleuchtung eine profilierte Modellierung, die sie wie eine steinerne, düstere Schicksalsgöttin erscheinen lässt. Im weiteren Verlauf des Films ist es vor allem die emotionale Unbewegtheit und Undurchschaubarkeit, die die Figur zunehmend zur Inkarnation des Bösen gerinnen lässt. Immer arbeitet die Beleuchtung die Wangenknochen aus der Fläche des Gesichts heraus und gibt den Augen einen stumpfen, in sich gewand106

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Abb. 10  : Vor dem Eintreten des Inspektors

Abb. 11  : Anschuldigung

ten Ausdruck. Sie erscheinen nicht leuchtend, sondern glimmend, oft leer. Dies lässt die Figur unnahbar, fast unheimlich erscheinen, vor allem deshalb, weil sich wenig als weiblich codierte Gefühlsregungen ermitteln lassen. Trauer, Schmerz, Freude oder Liebe zeigen sich nicht, da sie selten lächelt, nie weint und im körperlichen Ausdruck immer eine statueske Ruhe behält. Dies lockert sich nur in den kurzen Momenten, in denen sie, gebremst und kalkuliert, Gefühle produziert, um ihr Gegenüber für sich einzunehmen. Das Abgründige dieser Figur liegt darin, dass sie als weibliche Maske von absoluter Undurchdringlichkeit inszeniert ist. In gewissem Sinne erinnert die selbstbezogene, kühle Schönheit an die exquisiten, harmlos scheinenden Kaffeetassen. Klarheit und Gefasstheit sind offensichtlich so überdeutlich inszeniert, um gerade den Gegensatz zu den niedrigen Begierden der Figur zu betonen. Hinzu kommt die völlige Abwesenheit von weiblicher Anpassung und Unterordnung. Mrs Paradine erscheint unbeugsam und nur sich selbst verpflichtet  ; sie will nie gefallen, sondern ist sich ihrer Macht gewiss. Die sie umgebenden Frauenfiguren unterstreichen dies noch einmal in besonderem Maße  : Indem die Liebe sie ohnmächtig und passiv macht, erfüllen sie ihre weibliche Rolle. Die Gender-Codierung des Giftthemas in der Figur der Mrs Paradine kann deshalb nicht einfach als weiblich bezeichnet werden, sondern sie reduziert die Figur auf eine Schablone von Weiblichkeit, die wiederum mit männlichen Attributen kombiniert wird. Im Gegensatz zu traditionellen Darstellungsformen, in denen Weiblichkeit, wenn auch oft als Täuschung, so doch als gefühlsbestimmt repräsentiert und dadurch in einen Gegensatz zur männlichen, berechenbaren Verstandesbestimmtheit gesetzt wird, agiert Mrs Paradine konsequent kontrolliert. Die darunter liegende Leidenschaft wird nur in seltenen Momenten sicht107

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bar und existiert in erster Linie als Verweis auf ein Verborgenes. Darin verkörpert sich ein Paradox des Giftes, das unsichtbar und unbemerkt seine geheime, fatale Wirkung entfaltet. Der Aspekt der prekären instabilen Identität, der eingangs benannt wurde, artikuliert sich zunächst über die biographische Konstruktion der Figur. Mrs Paradine ist nicht allein promisk und ausbeuterisch Männern gegenüber, sondern überschreitet die Grenzen von Klasse und Nation. Sie ist ein Emporkömmling, die sich den guten Namen ihres Mannes erschleichen konnte, da er blind war. Seine Blindheit wird zwar vom Anwalt Keane dahingehend interpretiert, dass sie sich opferte, da der Colonel ihre Schönheit nicht würdigen konnte, aber dies ist eine Verkennung. Die Blindheit des Gatten bedeutet, dass er ihr wahres Wesen nicht sah und auf diese Weise einen Parasiten einschleppte. Noch dazu ist sie Ausländerin, mit Akzent und neapolitanischer Vergangenheit, und damit bedrohlich ›unenglisch‹. Diese Frau verfällt nun einem latent homosexuellen Schönling, vergiftet einen hohen englischen Militär und erniedrigt Keane, ein angesehenes Mitglied der Klasse der Vertreter des englischen Gesetzes. Ihr wird damit eine staatszersetzende Wirkung zugewiesen und hinter ihrer glatten Fassade lauert das Abjekt. Exterritorialisiert, erkennt sie nur ihre eigenen Regeln an und vergiftet alles, was mit ihr in Berührung kommt. Exemplarisch für ihre Machtausübung ist die Szene, in der ihr Anwalt Keane Mrs Paradine dazu überreden möchte, die Schuld André Latour zuzuweisen. Sie verweigert jede Auskunft über ihr Verhältnis zu Latour und verweist Keane streng des Raumes. Erst als er sich mit gesenktem Kopf entschuldigt (»I apologize – deeply. If you forgive me, I … I shall do my best to defend you,« [Ebd., 0.52]), wendet sie sich ihm kurz zu und akzeptiert ihn wieder als ihren Anwalt. An dieser Inszenierung fällt zunächst auf, dass Mrs Paradine nicht die einzige Frau in der Szene ist, sondern im Doppel auftritt. Die Gefängniswärterin trägt die gleiche Frisur und die gleiche Kleidung und erscheint damit wie eine leblose Spiegelung von ihr, ein düsteres Alter Ego, beobachtend und reflektierend. Zusammen mit Keane ist Paradine in einer strengen Kadrierung von Fensterkreuzen und Gittern verortet. Während er aufgewühlt wie ein Tier im Käfig hin und her läuft, sind Paradines Bewegungen rational beherrscht und auf ein Minimum beschränkt. Die Gitter sind ihr kein Gefängnis, sondern Insignien ihrer erdrückenden Macht. Sobald sie ein wenig Raum zwischen sich und Keane bringt und droht, ihn zu verlassen, unterwirft er sich auf der Stelle, um wieder in ihren Bannkreis aufgenommen zu werden, und als sie sich ihm wieder zuwendet, ist er schon durch die Berührung ihrer Hände ausreichend belohnt. Ihr geisterhaft ausgeleuchtetes Gesicht, dessen Augen ihn nie richtig wahrzunehmen scheinen, 108

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Abb. 12  : Abwendung

Abb. 13  : Zuwendung

ist ihm Verheißung genug. Dabei übersieht er, dass Mrs Paradines Double im Hintergrund wissend die Augenbrauen hochzieht, als er um Vergebung bittet. Es ist die klassische Inszenierung einer Domina, die nichts anderes tun muss, als mit dem Entzug ihrer Herrschaft zu drohen. Während die Giftmischerin sich pharmazeutischer Kenntnisse bedient, um ihr Opfer zur Strecke zu bringen, berechnet Mrs Paradine die Wirkung der Mischung von Emotionen, denen sie ihr Gegenüber aussetzt. So gezielt, wie sie sie einsetzt, scheinen sie mathematisch durchkalkuliert, um mit minimalem Aufwand den gewünschten Effekt zu erzielen. Dies reflektiert sich in der Kargheit der Umgebung. Trug Mrs Paradine in der ersten Szene noch Abendkleid und Schmuck, so ist sie im restlichen Verlauf des Films nur noch in schlichten Kleidern und mit einfacher Frisur zu sehen, vor dem Hintergrund dieser Gittermuster, die an ein aufgespanntes Koordinatennetz erinnern. Dennoch ist dies ausreichend, damit sie ihre überwältigende Wirkung entfalten kann. Wie elaboriert ihre Kunstfertigkeit tatsächlich ist, zeigt sich in ihren Räumen im Landhaus. Sie sind leer, da sie selbst ja im Gefängnis ist, und Keane unternimmt eine Reise in dieses Reich des Verbotenen, um ihr näherzukommen. Auch hier findet sich wieder das Käfigmotiv, und auch das obligatorische Double in Form einer strengen älteren Aufseherin, deren Frisur der von Mrs Paradine gleicht, tritt wieder auf. Der Käfig ist allerdings reichhaltig ornamentiert und verbindet strenge Formen mit Auspolsterungen und dicken Stoffen. Dicker, gefälteter Stoff ist an der Tür angebracht, ein schwerer Vorhang verkleidet die Wand hinter dem Bett, und der Boden ist ganzflächig mit flauschigem weißem Schaffell bedeckt, das sich sogar im Badezimmer fortsetzt. Im Gegensatz dazu stehen die holzvertäfelten Wände, deren stumpfe Oberfläche wiederum von den 109

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Abb. 14–19  : Mrs Paradines Räume

Kristall-Leuchtern kompensiert wird. Dieser Raum bietet im wahrsten Sinne des Wortes alles, wobei die Polsterungen und Gitter darauf verweisen, dass dieses Zimmer von dem, der es betritt, nicht mehr verlassen werden soll  ; es ist von der Außenwelt abgeschottet. 110

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Mrs Paradine ist zwar nicht tatsächlich anwesend, aber physisch und geistig präsent. Ihre Pelze und seidene Unterwäsche provozieren Keanes Begierde, und mehr noch verlockt das Badezimmer  : Palast und Schmuckkästchen zugleich, dient es dazu, den kostbaren nackten Körper von Mrs Paradine zu umglänzen und zu bespiegeln. Im Zentrum des Ganzen steht ihr überlebensgroßes Portrait in einer Art ornamentalen Schlangennests als Ausdruck ihrer Herrschaft. Gleich einem Magnet zieht es Keane an, und wohin er sich auch bewegt, das Portrait verfolgt ihn, er kann sich nicht von ihm abwenden. Ein Schal, wiederum an Schlangen erinnernd, umweht das Gesicht und erzeugt eine Bewegung, die in einem Gegensatz zur statuengleichen, strengen Schönheit mit dem dunkel lodernden Blick steht. Hitchcock selbst stellt die Verbindung zu einem Grabstein her, wenn er sagt  : [W ]hy would one want a larger than life portrait of one’s self over one’s own bed  ? Actually I thought it was like those ceramic ovals with the portrait of the deceased in Italian cemeteries. I wondered how one could sleep or do the other things one does in the bedroom under such a grotesquely over-stated image hovering over the proceedings. But it looked good in […] [that] bedroom. (Hitchcock/Rapaport 2004)

Da Colonel Paradine blind war, zielt diese Inszenierung allein auf die Besitzerin der Räume selbst und auf (notwendigerweise) illegitime Liebhaber ab. Diesen wird eine Falle bereitet, deren Verlockung jeden Fluchtimpuls ersticken soll – und die Grabstein-Assoziation macht deutlich, dass es eine Todesgöttin ist, die aus dem Jenseits ihre Herrschaft ausübt. Es handelt sich dabei nicht um eine klassische Femme fatale, denn diese setzt dezidiert Sexualität als Element eines Warentausches ein, um ihre Ziele zu erreichen. Die Giftmörderin dagegen benötigt keine Tauschgeschäfte, denn sie herrscht immer schon. Dazu benutzt sie Kalkül und Verstand und verweist nur abstrakt auf ihren Körper als Prämie. Die unkontrollierbare Leidenschaft, die sie dabei antreibt, macht ihre Rationalität um so gefährlicher. Damit vermischen sich in der Giftmörderin Aspekte des Überirdischen und der Unterwelt – abgründige, schamlose Begierden brodeln unter der Oberfläche einer antiken Statue, deren Ideal durch diese Verbindung beschmutzt wird. Die wiederholte Begleitung durch die älteren Frauen verweist nicht allein auf eine gespaltene Identität, sondern macht die Giftmörderin zu einem Abkömmling der Erinnyen, die als alte Frauen dargestellt werden, in der Unterwelt lebend, in graue Gewänder gekleidet, mit Schlangen als Haaren, denen giftiger Geifer aus den 111

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Augen fließt und denen ein widerwärtiger Geruch zugeschrieben wird. Sie verkörpern Rache und Wut in einem Maße, wie sie den Menschen nicht zustehen. Ihre Hässlichkeit wird in der Figur der Mrs Paradine mit einer Schönheit kombiniert, die im Wesentlichen formal bleibt. Angesichts dieser Assoziationen wird erklärlich, warum der Liebhaber gegenüber seiner Geliebten so viel Abscheu und Ekel artikuliert. Abschließend kann festgehalten werden, dass diese Inszenierung der Giftmörderin aus heterogenen Elementen zusammengesetzt ist, deren Einzelbestandteile widersprüchlich sind, sich aber vor dem Hintergrund der Idee des Abjekten zu einem Gesamtbild fügen. Hierzu gehören Aspekte, in denen sich Ratio und Intuition auf eine Weise mischen, die als grundlegend negativ aufgefasst werden kann  : Ratio und Intuition fallen zusammen und sind nicht mehr voneinander unterscheidbar. Die äußerst erfolgreiche Berechnung der eigenen Wirkung13 scheint intuitiv zielsicher und unfehlbar und zugleich ökonomisch durchkalkuliert. In der maßlosen Leidenschaft, die sich auf den Geliebten richtet, artikuliert sich dagegen ein völliges Versagen jeder Intuition, das sich in der barocken Ausstattung des Käfigs reflektiert. Hier tritt der wirkungsvollen Sparsamkeit der Manipulation die Manie der Dominanz um jeden Preis gegenüber. Es handelt sich um die Konstruktion einer weiblichen Figur, die nichts dem Zufall überlässt und die ihre intellektuellen und emotionalen Kräfte ganz und gar in den Dienst ihres Willens stellt. Da es selbst während des Gerichtsverfahrens niemandem gelingt, Mrs Paradine zu beeinflussen oder gar zu kontrollieren, kann schließlich der Richter in höchster sadistischer Selbstzufriedenheit am Ende sagen  : »As long as I sit on that bench […], I shall continue to do my duty, and I have performed a duty today. The Paradine woman will be hanged after three clear Sundays.« (Ebd., 1.45) Die Giftmörderin repräsentiert offensichtlich eine abgründige, übermächtige Bedrohung, gegen die es nur ein Mittel gibt, den Tod.

Anmerkungen 1 http  ://de.wikipedia.org/wiki/Gift (16. 3. 2012) 2 »The abject has only one quality of the object – that of being opposed to I.« (Dt. Übers. HK) 3 »It is thus not lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. […] The in-between, the ambiguous, the composite. The traitor, the liar, the criminal with a good conscience, the shameless rapist, the killer who claims he is a saviour.« (Dt. Übers. HK) 4 »The abject is perverse because it neither gives up nor assumes a prohibition, a rule, or a law  ; but turns them aside, misleads, corrupts  ; uses them, takes advantage of them […]. It kills in the name of life […].« (Dt. Übers. HK)

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  5 So z. B. in »Outbreak« (Petersen 1995), in dem es um eine Virus-Epidemie geht. Selbst bei Stoffen wie der Kameliendame finden Krankheitserscheinungen oft nur eine zurückhaltende Darstellung  ; eine Ausnahme bildet die Verfilmung des Stoffes von 1981, in der die Tuberkulose-Krankheit der Hauptfigur deutlich inszeniert ist  ; vgl. »La storia vera della signora dalle camelie« (Bolognini 1981).   6 Ein Beispiel für eine solche Ausnahme ist »The Young Poisoner’s Handbook« (Ross 1995), der auf der Fallgeschichte Graham Youngs (1947–1990) basiert und mit zum Teil quälender, zum Teil grotesk überzogener Deutlichkeit die durch Thallium hervorgerufenen Vergiftungserscheinungen inszeniert.   7 So verteidigt Heinrich Heine beispielsweise Madame Lafarge, die ihren Gatten vergiftet hatte, mit den Worten »Rattengift für eine Ratte  !« (Heine 1972 [1840], 337) In dem später in diesem Beitrag noch analysierten Filmbeispiel »The Paradine Case« (Hitchcock 1947) ist der Gatte der Giftmörderin bereits durch seine Blindheit als machtlos ausgewiesen und die Vergiftung bestätigt dies.   8 »Poison, like the poisoner, was capable of deceitful, disguised appearances. The ideal poison was tasteless, odourless, colourless – a substance without manifest quality.« Dt. Übers. HK.   9 Hier sei auf das Filmbeispiel »White Oleander« (Kosminsky 2002) verwiesen, in dem dezidiert auf die Erklärung des Giftmords verzichtet wurde. Die Vergiftung wird in diesem Film durch das Ausmalen eines Raumes mit einer giftigen Farbmischung verursacht. Laut Audio-Kommentar der DVD-Ausgabe wurden Szenen gedreht, in denen die Mischung der Farbe mit Oleander-Saft und dem Arzneimittel DMSO (Dimethylsulfoxid  ; ein Transportvermittler, der dafür sorgt, dass das Gift über die Haut leichter in den Organismus eindringt) gezeigt wurde. Bei Probevorführungen wurde dies dem Publikum nicht ausreichend verständlich, ebenso wenig wie der Nachweis dieser sorgfältig geplanten Vergiftung. Da eine ausführliche Erklärung zu viel Raum eingenommen hätte, reduzierte man die Vergiftung auf Symbole  : auf eine weiße Oleanderblüte in einem Milchglas sowie die wiederholte Erwähnung des Kaufs des in den USA nicht zugelassenen Medikaments DMSO in Mexiko. 10 Diese Form des Persönlichkeitsdefizits der GiftmörderInnen ist insofern spezifisch, als es sich häufig mit einem grundsätzlichen Scheitern verbindet. So finden wir hier z. B. nicht die Figur des Mad Scientist, der zunächst eine Karriere hatte und dann auf Abwege gerät, sondern vielmehr Protagonisten, denen der angestrebte Weg zum Wissenschaftler gar nicht erst gelingt. Der/die GiftmörderIn ist in der Regel zu schwach, um über eine Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen seine/ihre Ziele zu erreichen (z. B. Hitchcock 1946). Zum Bild des Giftmörders/der gefühllosen Giftmörderin existiert zugleich das Spiegelbild der versorgenden, empathischen Figur, bei der Feinfühligkeit und kalte Berechnung nebeneinander existieren. Als entsprechende Entwürfe im Film können z. B. die alten Damen in »Arsenic and Old Lace« (Capra 1944), »Die Apothekerin« (Kaufmann 1997) oder die Giftmörderin in »Gosford Park« (Altman 2001) interpretiert werden. 11 Bettina Wahrig kommentiert diese Publikation wie folgt  : »Die ansonsten sehr verdienstvolle Studie übernimmt die Vermutung, dass Frauen mehr zum Giftmord neigen als Männer, kann allerdings die These weder belegen noch entkräften, da sie nicht vergleichend vorgeht.« (Wahrig 2009, 453, FN 4) 12 http  ://www.freundin.de/Artikel/Wenn-Frauen-toeten-Morden-mit-Gift-ist-typisch-weiblichTaeterinnen-entwickeln-eine-eigene-Moral_358781.html (16. 3. 2012) 13 Mrs Paradine schlägt nicht allein die Männer in ihren Bann, sondern ebenso die Frauen.

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Literatur Ian Burney (2006), Poison, Detection, and the Victorian Imagination. Manchester Erika Eikermann (2004), Heilkundige Frauen und Giftmischerinnen. Eine pharmaziehistorische Studie aus forensisch-toxikologischer Sicht. Nat. Diss. Bonn Heinrich Heine (1972 [1840])  : Lutetia. Artikel XX, 1. Oktober 1840, in  : Werke und Briefe, Bd. 6. Berlin, Weimar Alfred Hitchcock, Mark Rapaport (2004), »When I made ›The Paradine Case‹«, in  : Rouge, Nr. 4  ; abrufbar unter http  ://www.rouge.com.au/4/paradine_rappaport.html (1. 5. 2012) Julia Kristeva (1982 [1980]), Powers of Horror. An Essay on Abjection [Pouvoirs de l’horreur]. New York Bettina Wahrig (2011), Prekäre Identitäten – wissenschaftliche Giftdiskurse 1750–1929. DFG-Antrag vom 20.7.2011, unveröff. Mskr. Bettina Wahrig (2009), »Zweifelhafte Gaben. Die andere Pharmazie und das Weib«, in  : Christoph Friedrich, Joachim Telle (Hg.), Pharmazie in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart, 453–468

Filme Gosford Park (Robert Altman, USA 2001) La storia vera della signora dalle camelie (Mauro Bolognini, F/I 1981) Arsenic and Old Lace (Frank Capra, USA 1944) Monsieur Verdoux (Charles Chaplin, USA 1947) Suspicion (Alfred Hitchcock, USA 1941) Notorious (Alfred Hitchcock, USA 1946) The Paradine Case (Alfred Hitchcock, USA 1947) Requiem for Murder (Douglas Jackson, Canada 1999) Die Apothekerin (Rainer Kaufmann, D 1997) White Oleander (Peter Kosminsky, USA 2002) Madeleine (David Lean, UK 1950) Footsteps in the Fog (Arthur Lubin, UK 1955) Outbreak (Wolfgang Petersen, USA 1995) The Young Poisoner’s Handbook (Benjamin Ross, UK 1995) Married Life (Ira Sachs, USA 2007) Leave Her to Heaven ( John M. Stahl, USA 1945) The Last Supper (Stacey Title, USA 1995) Citizen Kane (Orson Welles, USA 1941)

Bildnachweis Abb. 1 (S. 101 li. o.)  : Lean 1950 Abb. 2 (S. 101 re. o.)  : Chaplin 1947

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Abb. 3 (S. 101 li. mi.)  : Sachs 2007 Abb. 4 (S. 101 re. mi.)  : Title 1995 Abb. 5 (S. 101 li. u.)  : Kaufmann 1997 Abb. 6 (S. 101 re. u.)  : Jackson 1999 Abb. 7–19 (S. 105, 107, 109, 110)  : Hitchcock 1947

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Das wahre Bild oder Klio ist eine Muse Für Barbara Tuchman (1912–1989) Neun Musen kennt die griechische Mythologie als Schutzgöttinnen der Künste. Nach Hesiod (6. Jh. v. Chr.) waren sie die Töchter der Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung, und des Zeus  : • Klio, die Muse der Geschichtsschreibung • Melpomene, die Muse der Tragödie • Terpsichore, die Muse für Chorlyrik und Tanz • Thalia, die Muse der Komödie • Euterpe, die Muse der Lyrik und des Flötenspiels • Erato, Muse der Liebesdichtung • Urania, die Muse der Astronomie • Polyhymnia, die Muse des Gesangs mit der Leier • Kalliope, die Muse der Epik, Rhetorik, Philosophie und Wissenschaft

Sprich, Erinnerung Seit der Antike werden die Töchter der Mnemosyne angerufen. Klio nahm den ersten Platz ein, denn ohne Gedächtnis, Erinnerung, Wiederholung und Weitererzählung gibt es kein Erkennen und Wiedererkennen, keine Kunst, keine Wissenschaft. Vladimir Nabokov nannte seine Autobiografie »Sprich, Erinnerung, sprich« (»Speak, Memory«). Die alten Griechen beschäftigten sich intensiv mit dem Problem, was und wie mit welchen Mitteln erinnert, rekonstruiert, bewahrt und weitererzählt wird. Wenn es einen gemeinsamen Topos der europäischen Kultur gibt, dann ist es dieser. Er herrschte jahrhundertelang nach überlieferten Regeln, kodifizierte die Künste und die Wissenschaften. Bis zum Endes des 18. Jahrhunderts waren die beiden nicht getrennt. Es gab ein ständiges Wechselverhältnis von Miteinander und Nebeneinander, auch im Anspruch, die Welt zu gestalten und zu interpretieren. Noch um 1800 wurde intensiv von Philosophen und Dichtern nach der Verbindung zwischen Ratio und Imagina117

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tion gesucht. Mit der Aufklärung und dem Anbruch der Moderne drifteten die Methoden, Aufgaben und Funktionen von Kunst und Wissenschaft auseinander. Wobei im Deutschen der Begriff »Wissenschaft« sich für alle Disziplinen einbürgerte – im Gegensatz zum englischen Sprachraum, der zwischen science und humanities unterscheidet. Zugleich mit der ersten großen Industrialisierung entwickelten sich die Spezialisierungen, wobei sich die Wissenschaften, vor allem die Naturwissenschaften, als »objektiv« von den »subjektiven« Künsten abhoben, als rational agierend gegen den gefühligen, intuitiven, aus schwer zu bestimmenden Quellen gespeisten Gegenpol. Die Wissenschaften im Sinn von science erforschten die physische Welt, mit Theorien, Experimenten, mess- und nachvollziehbaren Ergebnissen, die von der gesamten einschlägigen Wissenschaftlergemeinde, der community, als wahr und richtig anerkannt werden. Die Kultur- und Geisteswissenschaften, vor allem die Historiker und Germanisten, versuchten ebenfalls, einen strikten Wissenschaftsanspruch durchzuziehen. Es bildete sich rasch ein Pool mit verschiedenen Richtungen, die, vom Positivismus beeinflusst, die Faktenrepräsentanz in das Zentrum ihres Interesses rückten und ebenfalls das Attribut »wahr« für sich in Anspruch nahmen. Ein (ausschließlich von Männern definierter) Prozess der Rationalisierung von Wissen und dessen Vermittlung kam in Gang. Dabei veränderten Wissenschaften und Künste gerade im 19. Jahrhundert die Welt grundlegend  : Beide verfügten über das Potenzial, Grenzen zu überwinden und die Wahrnehmung der Wirklichkeit fundamental in Frage zu stellen.

»Was werden wir nun sprechen  ?« »Die Wahrheit, wär’ sie auch Verbrechen« 1791, am Scheitelpunkt dieser Entwicklung und der Französischen Revolution, entstand Mozarts »Zauberflöte«. Viel ist über das Narrativ dieser Oper, ihre mythischen und mystischen, gleichzeitig freimaurerischen und freidenkerischen Bezüge nachgedacht und geschrieben worden. Die »Zauberflöte« spricht das gesamte Drama des Menschen an  : Die Liebe, den Tod, den Hass, die Rache, die Prüfung, die Gefahr, die Schuld, die Verführung, die Macht, die Verzweiflung, die Sehnsucht, die Bewährung, Feuer und Wasser, die Überwindung aller Hindernisse durch das sich im freien Willen füreinander entscheidende Paar. Die Oper erzählt, wovon seit der Antike in den Künsten der Alten Welt die Rede war (und woraus Freud seine Themen geholt hat). Sie inspiriert seit je Regie und Ausstattung zu fantastischen Höhenflügen. 118

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Das Libretto ist ein einziges Durcheinander, im ersten Akt ein Märchen, im zweiten ein Initiationsritual. Beide lassen keine lineare Deutung zu und sind für viele Versionen und Interpretationen offen  : Ob sie jetzt in der Tradition des Altwiener Zaubertheaters stehen wie die Pariser Inszenierung von 2001, die mir die liebste ist, oder der großartige Wurf in Bochum 2003, der ein aufwühlendes Seelendrama daraus machte, ob sie im Ersten Weltkrieg angesiedelt ist wie in der Verfilmung von Kenneth Branagh aus dem Jahr 2006, die politisch ambitioniert war und mich eher kühl ließ, oder in der Salzburger Fassung von 2012, in einer Kombination aus Internat und Irrenhaus angesiedelt, die ich für ein kolossales und leider auch langweiliges Missverständnis halte … Es ist immer dasselbe Libretto von Schikaneder und die Musik Mozarts. Das ist die Modernität dieser Oper. Ihr Thema ist die innere Verwandlung des Menschen hin zur Menschwerdung. Das Wo und Wann dieser Geschichte ist unwichtig, sie ist universell angelegt. Und sie verfügt über die vielleicht dynamischeste und selbstbewussteste Frauenfigur der Opernliteratur  : die Königin der Nacht. Sie erscheint im ersten Akt als liebende, im zweiten als wütende, rachsüchtige Mutter und lässt ohne Weiteres psychoanalytische und feministische Deutungen zu. Es gab vor und nach der »Zauberflöte« keine andere Oper, die derart durch Zeit und Raum fliegt und nirgendwo festzumachen ist. Die jeweilige Erzählweise ist natürlich definiert durch den Ort und den Zeitpunkt der Inszenierung. Aber die Oper selbst hält sich an keine Gesetze einer konsistent erzählten, von einer inneren Logik definierten Geschichte, sie gibt nicht einmal vor, das zu tun. Ihre Botschaften sind bis heute nach jeder Richtung deutbar. »Was werden wir nun sprechen  ?«, fragt Papageno, als der gefürchtete Sarastro naht. »Die Wahrheit, wär’ sie auch Verbrechen«, antwortet Pamina. Wahrheit ist ein offenes Terrain und gilt einer Despotie als Verbrechen. Unzählige Wissenschaftler und Künstler, Männer und Frauen, haben für ihre Wahrheit mit Verfolgung, viele mit dem Leben bezahlt. Die wenigsten haben eine Publizität wie Andrej Sacharow, Salman Rushdie oder Pussy Riot erreicht.

Reines Urteil, wahres Bild Die Forderung nach der objektiven Wahrheit, nach dem wahren Bild, setzte ein Vierteljahrhundert nach Mozarts Tod ein, als die Maschinen begannen, den Takt zu schlagen, und der Ruf nach Struktur, System, Übersicht, Ordnung und Überprüfbarkeit alle Wissensbereiche umstürzte. Die überliefernde, erzählende Geschichte war (wie die Oper, die Literatur, das Theater und später das Kino) Fik119

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tion, dazu gemacht, die Gefühle des Publikums zu stimulieren. Bei Schopenhauer heißt es, »Die Geschichtsmuse Klio ist mit Lüge so durch und durch infiziert wie eine Gassenhure mit Syphilis.« Was die Geschichte erzählt, schreibt er, sei in der Tat nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit. Oder wie Theodor W. Adorno 1958 apodiktisch festhielt  : »Die Trennung von Wissenschaft und Kunst ist irreversibel.« Geschichte müsse sich von allem abgrenzen, was nicht unzweifelbar belegbar ist. Alles andere sei »historische Belletristik«. Leopold von Ranke revolutionierte die (deutschsprachige) Geschichtsschreibung mit einer Methodik, die das weite und weit ausladende Feld der erzählenden Geschichte mit neuen, möglichst objektivierbaren Grundlagen und einer zunehmenden Professionalisierung zu einem Fach disziplinierte. Der Historiker habe die Aufgabe, aufzuzeigen, »wie es eigentlich gewesen« ist. Ranke geht es um möglichst große Objektivität bei der Wiedergabe der Geschichte. Seither hat die Kontroverse nicht aufgehört, was unter objektiv zu verstehen ist. Für Ranke war übrigens die Ästhetik der Sprache genauso wichtig wie der Inhalt. Aber der Inhalt musste nachprüfbare, strikt faktenorientierte, durch Quellen belegte, eindeutige Ergebnisse liefern. Es war ihm durchaus bewusst, dass das eine schwierige und komplexe Operation erforderte. »Ein reines Urteil« schrieb er in seiner »Englischen Geschichte«, »ist nur möglich, wenn man jedweden nach dessen eigenem Standpunkt, nach dem ihm innewohnenden Bestreben würdigt«. Rationalismus prägte auch die Politik, die als Wissenschaft von den Lebensinteressen des Staates gesehen wurde, Gesetzen unterworfen, die ähnlich funktionierten wie die materielle, physikalische Welt. Klemens Fürst von Metternich, österreichischer Staatsmann und Zentralfigur der europäischen Politik, schrieb in seinem politischen Testament  : »Ich bin zum Historiker und nicht zum Romandichter geboren, und wenn ich errate, so geschieht dies, weil ich weiß. Die Erfindungen sind die geschworenen Feinde des historischen Elements  ; auf seinem Gebiet sind nur Entdeckungen möglich, was aber nicht existiert, kann nicht entdeckt werden.« Henry A. Kissinger, der sich gründlich mit Metternich befasst und sich dessen Prinzip, kalt und beherrscht über den Dingen zu stehen, wohl zu eigen gemacht hat, kommentiert dessen Handlungsprinzip als das eines philosophierenden Staatsmanns, »der seinen Aufgaben aber nur verhalten nachkam, denn sie lenkten ihn von der Quelle der einzigen wahren Freude ab, dem Nachdenken über die Wahrheit. Er war nur seinem Gewissen und der Geschichte verantwortlich. Dem Gewissen, weil es sein Bild von der Wahrheit barg, und der Geschichte, weil nur sie allein über die Richtigkeit entschied.« Die Möglichkeiten, die die Oper und der Film haben, eine physische Realität in Szene zu setzen, zu inszenieren, zu beleuchten, zu montieren, die Mu120

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sik so einzusetzen, dass sich das Opernhaus oder das Kino in einen magischen Raum verwandeln, haben die Historiker des 19. Jahrhunderts mit Misstrauen erfüllt. Für sie zählte das eine, das wahre Narrativ, also eine bestimmte definierte Geschichtserzählung, die sie in einem vehement geführten quellengestützten Diskurs verteidigten. Die verschiedenen mentalen und psychologischen Ebenen, wie sie die Oper und der Spielfilm enthalten, der Wechsel der Sichtweisen und Narrative wurden (und werden) außerhalb des geschützten Raumes einer wissenschaftlichen Konferenz (und oft nicht einmal dort) ungern angehört, geschweige denn zugelassen. Dazu kommt, dass sich die Oper wie auch das Kino vereinfachter Erzählmuster und starker Reize bedienen, die ein akademischer Diskurs ausschließt. Nicht ausreichend wissensbasierte Hypothesen oder hypothetische Fragestellungen haben keinen Platz. Diese traditionelle Wissensvermittlung entlang analytischer Texte mit zahlreichen Verweisen und einer intensiv ausgebreiteten Quellenzitation hat erst seit wenigen Jahren begonnen, nichtschriftliche Quellen als Ressource überhaupt zuzulassen. Literarischer Anspruch oder ein schwungvoller Schreibstil erzeugen große Skepsis. Die dramatische Kraft und der symbolische Gehalt, den die Kunst – die Literatur, das Theater, die Oper, der Film – erzeugt, werden in das Reich der Gefühle und der Unterhaltung abgeschoben. Da es sich bei den Kulturwissenschaften um keine exakten, sondern um interpretatorische Wissenschaften handelt, wurde (und wird) der Anspruch durch möglichst rationale, von jedem fiktionalen Beiwerk frei gehaltene Vermittlungstechniken durchgetragen. Ich möchte diese Methodik als durchaus männlich konnotiert bezeichnen, auch wenn sie von beiden Geschlechtern, Männern und Frauen, bedient wird. Seit dem 19. Jahrhundert bestimmen Männer den akademischen Diskurs mit seinen Codes, seiner Hierarchie und seiner elitären Sprache und halten einen großen Anpassungsdruck aufrecht, was unterschiedliche Narrative und einen Wechsel der Perspektive nur langsam und gegen großen Widerstand entstehen lassen. Dabei werden sie von der literarischen Produktion und dem Kino mühelos überflügelt, die ihre eigenen Narrative liefern, oft entgegen dem, was als wahres Bild der Fachhistorie gilt.

Die Macht des Narrativs Zwei Beispiele. Die Ereignisse nach der Staatsgründung Israels 1948 haben nicht nur einen tiefen politischen und gesellschaftlichen Konflikt, der bereits ein halbes Jahrhun121

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dert gewährt hatte, offen ausbrechen lassen. Der sofort nach Abzug der britischen Mandatstruppen von neun arabischen Staaten eröffnete Krieg begründete zwei höchst unterschiedliche Narrative, die der Israelis und der meisten Juden in der Diaspora und jene der Palästinenser und der meisten Araber. Das israelische bzw. jüdische Narrativ war bis in die 1980er-Jahre das im Westen allgemein anerkannte. Es hat sich im Roman »Exodus« von Leon Uris (1924–2003) und in dessen Verfilmung manifestiert. »Exodus« beruht auf einer mehr journalistischen als klassischen, quellengestützten Recherche, zeugt aber davon, dass Uris sein Thema sehr gut kannte und es dann mit großer Verve im klassischen amerikanischen Reportagestil beschrieb. Die »Exodus« war ein Schiff (von vielen, ähnlichen Blockadebrechern), beladen mit Überlebenden der Konzentrationslager, die 1947 das britische Empire durch einen Hungerstreik zwangen, sie aus den Flüchtlingscamps in Zypern nach Palästina ausreisen zu lassen. Diese Geschichte ist zum Gründungsmythos des Staates Israel geworden, und sie wurde es erst, als Uris Ende der 1950er-Jahre seinen Roman herausgebracht hatte. Es hat lange gedauert, bis es den Palästinensern gelang, diesem Narrativ das eigene entgegenzusetzen und weltweit Geltung zu verschaffen. Der israelisch-palästinensische Kampf ist vor allem ein Kampf der Narrative, ausgetragen mit Waffen, Blut und endlosen Verhandlungsrunden, mit fanatischen Verfechtern auf beiden Seiten, die in ihrem jeweiligen Blick den Anspruch auf Wahrheit zu zementieren gewillt sind. Den Tag im Frühjahr, den die jüdischen Israelis als Yom Ha’atzmauth, als Unabhängigkeitstag, feiern, begeht die palästinensische Bevölkerung als Tag der Nakba, der Katastrophe. Seit die europäischen Geschichtsschreibungen im 19. Jahrhundert begannen, nationale Identitäten zu stiften und die passenden Narrative zu liefern (und wie wir wissen, hat das zu den furchtbaren Verwüstungen des 20. Jahrhunderts beigetragen), wird um das wahre Bild der Geschichte gerungen. Ein komplexes Beispiel ist der Streit um die gegensätzlichen Narrative der Völker Ex-Jugoslawiens, um einander ausschließende, von Geschichtsmythen unterfütterte Sichtweisen der Serben, Kroaten, Bosnier oder Mazedonier. Die Balkankriege der 1990er-Jahre machten es dem Beobachter schwer, zu verstehen, was da vor sich ging. Und wieso es zu einem derart verstörenden Ausbruch von irrationalem Hass und verheerendem Blutrausch kommen konnte. Es gab eine Anzahl genau recherchierter Reportagen und Filmdokumentationen, zusammengestellt aus Tausenden Interviewstunden mit allen handelnden Personen und erstklassigem Archivmaterial, ohne dass das Geschehen in seiner Wesenheit, in seiner inneren gleichzeitigen Kohärenz und Inkohärenz zu erfassen gewesen wäre. Aus welchen Quellen sich die Selbstzerstörung Jugoslawiens speiste und was der historische 122

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Humus in seiner Überhöhung als historischer Mythos anrichten kann, wenn er nach Jahrzehnten der Vergrabenheit wie eine Tretmine hochgeht, fasste der bosnisch-serbische Regisseur Emir Kusturica in ein dreistündiges, fiktives Epos über seine vom Krieg untergrabene und zerfressene Heimat. »Underground« (1995) ist ein klassisches Beispiel für eine Geschichtsdeutung, die dort anfängt, wo die Historiker mit ihrer Repräsentation von Vergangenem nicht mehr weiterkönnen. Kusturicas Figuren überdauern fünfzig Jahre seit der deutschen Okkupation, um dann, 1991, auf die killing fields Jugoslawiens losgelassen zu werden.

Spiegelbilder Alle großen Kontroversen um die Geschichte kreisen um das Wesen des wahren Bildes und des sicheren Urteils angesichts der Fülle von oft nicht komparativen, einander widersprechenden Quellen, die in ein Dispositiv von konkurrierenden Interessen eingespannt sind. Im »Sneewittchen« der Brüder Grimm heißt es  : Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie  : Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land  ? So antwortete der Spiegel  : Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land. Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte.

Der Zauberspiegel, mit dessen Hilfe man sehen kann, was sich zugleich an verschiedenen Orten abspielt, und mit dem man in Vergangenheit und Zukunft blicken kann, ist ein uralter Menschheitstraum. Im Märchen und in vielen magischen Techniken dient der Spiegel als Instrument der Wahrheitsfindung. Wie immer die äußere Wirklichkeit aussieht – der Spiegel spricht die Wahrheit, er geht den Dingen auf den Grund, deckt Verschüttetes, Vergangenes auf, transzendiert die Augen der Menschen und zeigt das Bild, wie es in Wahrheit ist. Die klassische Geschichtsschreibung begegnet dem Spiegel und der magischen Anziehungskraft der bewegten Bilder des Films mit gleich tiefer Skepsis. Wir wissen, dass der Film wie auch ein Spiegel sehr unterschiedliche Bilder werfen. Sie wechseln je nach Perspektive. Sie ändern sich mit Zeit und Raum. Im Vorwort ihres Bestsellers »Der ferne Spiegel« (»The distant mirror«) über das dramatische 14. Jahrhundert, publiziert 1978, legte die amerikanische Histo123

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rikerin Barbara Tuchman ein Bekenntnis zu unterschiedlichen Perspektiven ab. »Der ferne Spiegel« entwirft kein einfaches, durchgängig erzähltes, sondern ein vielfach schillerndes, facettenreiches Bild. Tuchman schreibt  : Man kann getrost davon ausgehen, dass jede Feststellung über das Mittelalter mit einer gegenteiligen oder zumindest andersartigen Behauptung einhergeht. […] Widersprüche aber sind ein Teil des Lebens und können nicht nur auf unterschiedliche Erkenntnisse zurückgeführt werden. Deshalb möchte ich den Leser bitten, Widersprüche zu erwarten und keine Einförmigkeit. Kein gesellschaftlicher Teilbereich, keine Gewohnheit, keine Bewegung und keine Entwicklung ist frei von Gegenströmungen. Hungernde Bauern in Hütten lebten neben wohlhabenden Bauern, die in Federbetten schliefen. Kinder wurden vernachlässigt und geliebt. Ritter sprachen von Ehre und wurden zu Räubern. Mitten im Massensterben und Elend existierten Extravaganz und Luxus. Kein Zeitalter ist ordentlich und einfärbig, und keines ist aus bunterem Stoff als das Mittelalter.

Barbara Tuchman wäre im Jänner 2012 hundert Jahre alt geworden. 1962, mit 50, publizierte sie ihren ersten großen Wurf über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs  : »August 1914« (»The Guns of August«). John F. Kennedy soll seine Strategie in der Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Sowjetunion begann, Raketen auf Kuba zu stationieren, nach der Lektüre von Tuchmans Buch festgelegt haben  : Es ging in dieser brandgefährlichen Situation darum, den Russen die Möglichkeit des Rückzugs offenzulassen und nicht die beiden Supermächte durch eine Kette von Missverständnissen und Eskalationen in einen Krieg zu verwickeln, den beide vermeiden wollten. Wenig später erhielt Tuchman dafür ihren ersten Pulitzerpreis – einen zweiten, 1972, mit »Stilwell and the American Experience in China, 1911–1945«. Das war nicht dazu angetan, akademische Anerkennung zu erlangen. Ihre Kollegen an den Universitäten warfen ihr vor, sie sei eine Geschichtenerzählerin, keine Historikerin. Ihre Sprachmächtigkeit, ihre kunstfertigen Texte und ihre Lust, großformatige, detailverliebte Zeitgemälde herzustellen, farbstarke Bilder zu entwickeln und sich nicht zu scheuen, sich weniger mit Strukturen, Epochen und Zyklen und mehr mit den Lebenswelten der Menschen zu befassen, brachten ihr ein Millionenpublikum ein. Als Historikerin blieb sie umstritten. Eine zu begabte Erzählerin, zu literarisch, zu experimentell. Die Historiografie beschäftigt sich nur ungern mit einem grundlegenden Dilemma ihrer Profession  : mit der Unschärfe zwischen dem, was sie als wahres Bild entwirft, und dem, was die Literatur oder eine literarisch vorgehende Geschichtsschreibung daraus macht und damit ein großes Publikum gewinnt. Noch 124

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schwerer fällt es ihr, mit Mythen und Mythenproduktion umzugehen, wie sie das Kino erzeugt. Und dann ist da auch noch der Hang des Publikums zur Trivialisierung. Denn was auf der Leinwand zu sehen ist, wird meist ohne Weiteres als Wahrheit anerkannt. Es bedarf eigener Operationen, um diese »Wahrheit« in Frage zu stellen. Die naivste Möglichkeit, das zu tun, ist der Appell an die kritische Rezeption des magischen Vorgangs auf der Leinwand. Die vielleicht konsequenteste Möglichkeit war jener Weg, den Luis Buñuel und Salvador Dalí 1928 in ihrem Film »Le chien andalou« wählten, in dem sie die allgemein verbindlichen Prinzipien der Bildsprache im Kino zertrümmerten und das Vertrauen in die Kinorealität mit realen, also gefilmten und nicht getricksten, Bildern erschütterten. Der Film hat als Medium einen viel direkteren und leichteren Zugang zu Phantasie und Vorstellungskraft als jeder Text. Der amerikanische Filmhistoriker James Monaco schreibt  : »Ein Bild hat eine direkte Beziehung zu dem, was es bezeichnet, ein Wort hat das nur selten.« Das Lesen eines Textes kreiert das Bild im Kopf, das Betrachten eines Films nicht, man bekommt es vorgesetzt und muss lernen, die laufenden Bilder zu »lesen« und zu interpretieren. Ebenso wie dem Auge der Kamera zu folgen und auch das Nichtgezeigte zu »sehen« und zu akzeptieren und sich nicht etwa zu wundern, wenn eine Person plötzlich aus dem Bild geht und durch den Filmschnitt das Kameraauge ununterbrochen seine Position wechselt. Während im Theater und in der Oper der Fortgang oder der Verlauf der Ereignisse durch Wechsel der Szenerie erzählt werden müssen, schafft das der Film mit einem Schnitt. Das ist ja das Revolutionäre des Films  : das bewegliche Auge der Kamera, die Lichtregie (die die Bühne teilweise übernommen hat) und die phantastischen Möglichkeiten des Schnitts, aus beliebig vielen, nacheinander gedrehten Einstellungen ein wahres, nämlich real gedrehtes, durch den Schnitt verdichtetes, simuliertes  Bild von Wirklichkeiten herzustellen, das im Dunkel des Kinos seine volle Wirkung entfalten kann. Seit »The Kid« von Chaplin (1920) oder Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) und vielen anderen Meisterwerken des frühen Kinos schafft es der Film, seine Bilderwelt als wahr zu kommunizieren. Da der Film uns zugleich eine so große Annäherung an eine Realität, also wahre, nämlich gedrehte (und heute oft digital erzeugte) Bilder vermitteln kann, macht er eine Abstraktionsleistung, wie es sie das Lesen erfordert, nicht mehr notwendig. Die Selbstdisziplin des Lesens, das sequenzielle Denken, eine kreative Leistung, wird überflüssig. In dem Moment, in dem das Bild, und noch dazu ein bewegtes, ins Spiel kommt, nimmt die Überzeugungskraft sprunghaft zu. Das gilt auch für digital animierte Bilder. 125

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Diese Illiteralität des Films hat ihm seit seinem Bestehen die Abneigung vieler eingebracht, die von Berufs wegen mit der Produktion und Rezeption von Schrift und Sprache beschäftigt sind. Das ändert nichts daran, dass der größte Goldgräber auf dem Ruinenfeld der Geschichte das Kino ist. Im Dunkel des Kinos werden Geschichtsbilder ganzer Generationen konstituiert. Wir wissen, wie sehr Bilder, einmal geschaffen und in die Welt gesetzt, unsere Vorstellung prägen. Kein Buch von ihm selbst und auch keine der vielen Biografien haben das Bild von T.E. Lawrence so geprägt wie David Leans Film »Lawrence von Arabien« (1962).

Feuer, nicht Asche Das Kino wird als Kunstform ernst genommen, aber erst allmählich als Kon­ strukteur und Dekonstrukteur von Geschichte. Es hat von Anfang an die Fäden aufgenommen, die bereits der historische Roman gesponnen hatte. Im Nachwort zu den »Füchsen im Weinberg«, seinem großen Werk über Beaumarchais und die Vorgeschichte der Französischen Revolution, schrieb einer der Großen der Branche des letzten Jahrhunderts, Lion Feuchtwanger, unter dem Hinweis, dass Klio eine Muse sei  : »Die künstlerische Darstellung der Geschichte ist wissenschaftlicher und ernsthafter als die exakte Geschichtsschreibung. Die Dichtkunst nämlich geht im Kern um das Wesen, während der exakte Bericht nur Einzelheiten aneinanderreiht.« Für Lion Feuchtwanger waren seine intensiven wissenschaftlichen Studien – ganz im Sinn des Postulats von Ranke, ad fontes, an die Quellen, zu gehen, und in deutlicher Kritik an diesem – die Voraussetzung für seinen subjektiven, »wahrheitsfördernden« literarischen Zugang. In den »Füchsen« heißt es  : »Er sucht in der Geschichte nicht die Asche, er sucht das Feuer.« Die verstörende Mischung von fiction und faction im historischen Roman, die Vermittlung von Geschichte entlang ihrer künstlerischen Umsetzung, das jeweilige Verhältnis von ficta und fabulae beherrscht die Diskussion über Wissenschaft und Dichtung seit der Antike. Es gehört zum Erfolgsrezept des historischen Romans, keine Scheu vor dem epischen Zugriff auf Realität und Mythos zu zeigen. Aber er ist viel mehr als eine literarische Gattung. Er ist Spiegel, Parabel, Gleichnis, manchmal auch ein Ort der Dekonstruktion, manchmal ein Ort der Utopie. Die Autoren der Zwischenkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts begannen, die geschlossene Ordnung der linearen Darstellung aufzuheben, offene Handlungsfelder mit mehreren Perspektiven einzuführen, psychologische Zugänge zu eröffnen und die Schnitt- und Montagetechnik des Films auf ihre 126

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Erzähltechnik zu übertragen. Die Sehnsucht des Publikums nach eindeutigen, kohärenten, in sich geschlossenen Geschichten wurde zunehmend durchkreuzt, das Bedürfnis nach Harmonie durchbrochen. »Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler«, schreibt Robert Musil im »Mann ohne Eigenschaften«. »Sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, dass ihr Leben einen ›Lauf‹ habe, irgendwie im Chaos geborgen.« Der historische Roman erlebte einen Modernisierungsschub, indem er zeigte, dass wir keine chronologische Geschichte, keine time line des Nacheinanders, sondern eine Geschichte der Gleichzeitigkeiten leben und sie auch darstellen können. Ein großes unbestrittenes Feld der Literatur ist natürlich die Biografie. Mit ihr hat das Lesepublikum eine nicht nachlassende Liebesgeschichte, denn nichts ist so interessant wie das Leben der anderen. In diesem Sinn lese ich »Hammerstein oder der Eigensinn«, in dem Hans Magnus Enzensberger fiktionale, gleichwohl genau recherchierte Dialoge mit seinen längst verstorbenen Protagonisten führt. Oder  : Christoph Ransmayers »Der Schrecken des Eises und der Finsternis«. »Eine Geschichte von Liebe und Finsternis« von Amos Oz. Hilde Spiels »Fanny von Arnstein oder die Emanzipation«. Oder die Arbeiten von Dieter Kühn wie »Ich Wolkenstein« oder »Die wilden Gesänge der Kaiserin Elisabeth«, in denen biografische Möglichkeiten, Varianten zum tatsächlichen Lebenslauf, vorgestellt werden.

Mix & Match Dass Geschichte im historischen Roman und Spielfilm explizit, implizit aber in jeder Kunstproduktion konstituiert wird, hat der amerikanische Geschichtstheoretiker Hayden White seit 1973 (»Metahistory«) immer wieder thematisiert. Whites radikaler Ansatz besteht darin, Geschichtsschreibung als multimedialen dynamischen Diskurs, als gesellschaftliche Identitätssuche und Selbstbestimmung zu verstehen. White interessiert sich vehement für die Bildmedien  : Kino, Dokudrama, Soaps, Musikvideos. Hier wird Geschichte außerwissenschaftlich, und vielleicht deshalb so wirksam, inszeniert. Eine Soap wie die ARD-Serie »Lindenstraße«, die seit dem Dezember 1985 den Alltag der Familie Beimer und ihrer Nachbarn Woche für Woche erzählt und darüber hinaus das Leben und Sterben weiterer Hunderter Leute »dokumentiert«, ist ein fester Bestandteil des Lebens weiterer Hunderttausender Menschen geworden – man sehe sich nur einmal die entsprechenden Fanclub-Websites an. 127

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Die »Lindenstraße« ist weit mehr als eine filmische Quelle deutscher Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Sie konstituiert Geschichte. Keineswegs kompakt oder kausal, wie es die traditionellen Kategorien verlangen, sondern widersprüchlich, mit offenen Optionen. Also genau so, wie es der Lebenserfahrung der Postmoderne entspricht, und sie ist daher eine wöchentliche Folie der Identifikation für ein Massenpublikum. Das Kino geht durch seine digitalen Möglichkeiten noch einen Schritt weiter  : Sein mix-matching von Fakt und Fiktion wird durch die neuen digitalen Möglichkeiten ins fast Unabsehbare erweitert. Oliver Stones KennedyFilm »JFK« (1991) und vor allem Robert Zemeckis »Forrest Gump« (1994) vernetzten als Erste dokumentarisches mit fiktionalem Material zu einer Deutung von Zeitgeschichte entlang des kollektiven Gedächtnisses der Amerikaner. Traditionelle wissenschaftliche Beschreibungskategorien – Faktenrepräsentanz, Quellenkritik, Reflexion, Analyse, Schlussfolgerungen – scheitern inzwischen an den Informations- und Bilderfluten der Neuen Medien und ihren Bearbeitungstechniken, wenn keine Methoden entwickelt werden, wie diese einzuordnen sind und wie man sich ihrer bedienen kann. In der kreativen, künstlerisch und handwerklich versierten Visualisierung von Erinnerung, Erzählung und Recherche liegt ein großes Potenzial. Sei es nun als Text, als Installation, als Film oder als digitales Bild. Wenn wir lernen, Bilder zu erzeugen, die sich der komplexen, auf mehreren Ebenen gleichzeitig verlaufenden Realität unserer Welt stellen, ergeben sich viele neue Arbeitsfelder. Denn es geht vor allem auch darum, dorthin zu gehen, wo noch keiner oder keine war – und auch, neue Sprach- und Bildwelten zu entwickeln. Die Grenzen von Wissenschaft, Kunst und Science Fiction fließen ineinander. Kein wahres Bild weit und breit, sondern Gleichzeitigkeiten, Widersprüche, Ambivalenzen, in allen Disziplinen. Ich möchte dies als eine weibliche Form des Zugangs zu den Wirklichkeiten unserer Welt bezeichnen  : die Auseinandersetzung mit den vielen Narrativen und kulturökonomischen, sozialhistorischen, feministischen Diskursen, die heute mit unterschiedlichen Medien erzeugt, vernetzt und weltweit kommuniziert werden und geschichtsmächtig werden können. Und dazwischen gehen wir ins Kino, um Geschichten erzählt zu bekommen.

Zum Nachlesen Theodor W. Adorno (1958), »Der Essay als Form«, in  : Noten zur Literatur I. Frankfurt a. M., 9–49 Lion Feuchtwanger (1947/1962), Die Füchse im Weinberg [ursprünglich  : Waffen für Amerika, das Nachwort entstand 1952]. Berlin

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Lion Feuchtwanger (1961), Das Haus der Desdemona oder Größe und Grenzen der historischen Dichtung. München/Wien Johann Holzner, Wolfgang Wiesmüller (Hg.) (1995), Ästhetik der Geschichte [darin v. a. Hugo Aust, »Die Ordnung des Erzählens oder Die Geburt der Geschichte aus dem Geiste des Romans«  ; Burghart Schmidt, »Das Geschichtsproblem der postmodernen Ästhetik«]. Innsbruck Henry A. Kissinger (1986), Das Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812–1822. Zürich Helene Maimann (1983), »Geschichts-Bilder. Zum Verhältnis von Geschichte und Bild-Medien«, in  : Geschichte als demokratischer Auftrag. Wien, 277–300 Clemens von Metternich (1880), Aus Metternich’s Nachgelassenen Papieren. 8 Bände, hg. von Alfons von Klinkowström, Bd. VII. Wien James Monaco (2000), Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Reinbek Robert Musil (1978), Der Mann ohne Eigenschaften. Zwei Bände. Reinbek Leopold von Ranke (1868), Englische Geschichte, vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. München Jörn Rüsen (1976), Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft. Stuttgart Arthur Schopenhauer (1889), »Über Geschichte«, in  : Die Welt als Wille und Vorstellung. Berlin Helmut Scheuer (1979), »Kunst und Wissenschaft«, in  : Biographie und Geschichtswissenschaft (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 6). Wien, 81–110 Barbara Tuchman (1980), Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert. Düsseldorf Hayden White (1994), Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a. M. Als letztes Beispiel meiner biografischen Arbeiten entlang des hier skizzierten methodologischen Zugangs siehe den Text »Über Kreisky« (2001) in  : Über Kreisky. Gespräche aus Distanz und Nähe. Wien, sowie den Film »Bruno Kreisky. Politik und Leidenschaft« (DOR-Film 2011). Ich danke Hazel Rosenstrauch für die inspirierenden Gespräche über das Thema und die Zurverfügungstellung ihres Vortrags am Symposium »Program Arts Versus Sciences = Emotion Versus Ratio  ?« an der Universität Leiden, September 2010. Ihr Vortrag »Excursions with the flying turtle. From paintings to face-lifting« soll demnächst in einem Tagungsband publiziert werden.

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Peter Roessler

Das Wissen der alten Meisterinnen Pionierinnen und Antipodinnen heutigen Theaters Mit einem besonderen Augenmerk auf Angelika Hurwicz

Vorbemerkung Die Geschichte der Schauspiel- und Regietheorien ließe sich durchaus mittels der Begriffe »Ratio« und »Intuition« befragen. Obwohl sie anders lauten und im historischen Prozess ihre Funktion wechseln können, geht es doch immer wieder um das Verhältnis zwischen dem, was beide Termini jeweils bezeichnen mögen. Dabei lässt sich freilich bei genauerem Hinsehen gar nicht so leicht sagen, was sie denn für Schauspiel und Regie bedeuten und worauf sie sich eigentlich beziehen. Zumindest werden sie dort gerne als Gegensatz verstanden, der aber, wie die Philosophie uns lehrt, eine Einheit bilden kann. Die entsprechenden Schauspielund Regietheorien lägen mit den einschlägigen Anthologien (vgl. Roselt 2005), kundig kommentiert, zur Untersuchung bereit und man könnte sich also – was ja schon öfter getan wurde – in die ordnende Erkenntnis und bald in die Verwirrung stürzen. Würde man sich der stets ungeordneten Theaterpraxis – weniger den Selbstaussagen der Akteure und Akteurinnen – zuwenden, so fände sich ohnehin eine verwirrende Mischung, die in die überhistorisch anmutende Evidenz münden könnte, dass es immer auf beide Begriffe ankäme. In der Genderforschung wurden, von den feministischen Klassikerinnen bis zu den jüngeren Arbeiten,1 in verschiedener Weise die Zusammenhänge benannt und analysiert, die der angenommenen Polarisierung von »Ratio« und »Intuition« zugrunde liegen konnten. Die umfassenden Analysen und verwickelten Darstellungen haben dabei Perspektiven eröffnet, die niemand mehr leichthin übersehen kann. Ich möchte hier über einige Frauen des Theaters schreiben, deren Wissen um die Verhältnisse ihrer Zeit sehr weitreichend war, und mich dabei dem Thema dieses Buches auf indirektem Wege annähern. Ihr Wissen konnten sie in der Theater-Arbeit zum Ausdruck bringen, ohne dass sie sich immer dazu deutend äußern mussten. Nicht alles kann am Theater erklärt werden, das gilt ebenso für 131

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das Schreiben über diese Frauen  ; die Begriffe tauchen auf und verschwinden, aber die Bewegungen des Konkreten können uns dennoch zu Erkenntnissen tragen, die nicht in die bereitliegenden Formeln münden. Das Wissen über diese Frauen hat sich, mit den Schichten der Zeit, verändert, wenn es nicht ganz verloren gegangen ist. Obwohl sich zwischen den Personen vielfältige Verbindungen herstellen lassen, bilden sie doch keine Gruppe, eher werden sie hier kurz zum Gruppenbild gebeten. Sie mögen in Bezug auf die heutige Arbeit von Frauen am deutschsprachigen Theater als Pionierinnen angesehen werden – da gewisse Widerstände sich nunmehr abgeschwächt oder verloren haben –, ließen sich aber ebenso als Antipodinnen gegenwärtiger Erscheinungen verstehen  ; Letzteres allerdings waren sie bereits zu ihrer Zeit. Den Spuren ihres Wissens zu folgen, heißt auch, nach einigen Momenten ihrer Arbeit zu fragen, die noch zu erkennen sind. Zu beginnen ist also mit der Frage nach der Erinnerung.

Theatralisierte Erinnerung (Dorothea Neff) Die Erinnerung an ehemalige Ensemblemitglieder gehört nicht unbedingt zu den Gepflogenheiten des Theaterbetriebs. Wenn die Ehrengalerie des Burgtheaters mit ihren Portraits – darunter zahlreiche von Schauspielerinnen – als Ausnahme erscheint, so galt sie letztlich doch mehr der Heroisierung einer Institution und hat überdies auch diese Funktion längst verloren. Darüber können sogar die Versuche der jüngeren Zeit nicht hinwegtäuschen, den Gemälden durch eine Ausstellung außerhalb des Theaters2 neue Bedeutung zu geben oder die Galerie mit modernen Konterfeis aktueller Stars weiterzuführen. Für die Erinnerung auf der Bühne wiederum wäre die Form der Gedenkmatinée möglich, in der durch das Erzählen von Geschichten, die Lesung aus Briefen oder Kritiken ein Direktor oder Regisseur, weniger schon ein Schauspieler oder gar eine Schauspielerin, vergegenwärtigt werden soll. Diese Veranstaltungen, durch die das Wissen über die Vergangenheit ebenso befördert werden kann wie das Entstehen neuer Legenden, sind allerdings inzwischen selten geworden. Ein Gemälde in den Pausenräumen, öfter noch ein Foto, eine Erwähnung im hauseigenen Theaterbuch oder mitunter auch die Totenmaske scheinen die Auftritte zu sein, die jemandem posthum an seinem oder ihrem Theater gewährt werden. Geradezu als unerhörte Begebenheit kann angesehen werden, dass ein Theater einem Autor den Auftrag erteilt, ein Stück über ein ehemaliges Ensemblemitglied und noch dazu ein weibliches zu schreiben. Eine solche Ausnahme fand 132

Das Wissen der alten Meisterinnen

Abb. 1  : Dorothea Neff als Mutter Courage und Ernst Meister als Feldprediger, Volkstheater 1963, Regie  : Gustav Manker

am Volkstheater in der Spielzeit 2011/12 mit der Inszenierung des Stücks »Du bleibst bei mir«3 von Felix Mitterer statt, das dem Leben der Schauspielerin Dorothea Neff4 (1903–1986) gewidmet ist, die dem Volkstheater ab 1939 angehört und dort mit Unterbrechungen viele Jahrzehnte bis in die 1960er-Jahre gespielt hatte, sich schließlich aber aufgrund ihrer Erblindung vom Theater zurückziehen musste. Obwohl das Stück auch vom Theater handelt, hat es seine stofflichen Anlässe außerhalb von diesem  ; es hat im Wesentlichen zwei Themen  : Erstens zeigt es, wie Dorothea Neff ihre jüdische Freundin Lilli Wolff von 1941 bis 1945 in ihrer Wohnung versteckte und damit vor der Deportation und Ermordung durch die Nationalsozialisten rettete. Die zentrale Szene ist in die Form dramatischer Entscheidung gefasst und führt vor, wie die Figur der Dorothea Neff – während sie noch für ihre Freundin den Koffer packt – sich spontan dazu entschließt, diese bei sich zu behalten. Der entscheidende Satz wurde denn auch zum Titel des Stücks  : »Du bleibst bei mir«. Zweitens wird die spätere Erblindung von Dorothea Neff gezeigt  ; dieser Teil des Stückes, der zugleich das wei133

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tere Schicksal der Lilli Wolff erzählt, erhält epische Züge, es geht nicht mehr um eine dramatische Entscheidung, sondern um das Verhalten innerhalb einer nicht aufzuhaltenden persönlichen Katastrophe. Im Schlussbild ist die Figur der Neff in der Rolle der Mutter Courage zu sehen (die sie 1963 tatsächlich spielte, womit sie wesentlich zum Ende des Brecht-Boykotts beigetragen hatte)  ; die erblindete Neff zieht den Marketenderinnen-Wagen und singt – ein sentimentales Ende – das Schlusslied der Courage  : »Das Frühjahr kommt  ! Wach auf, du Christ  !« Es sind übrigens Fotos erhalten, auf denen Dorothea Neff als Mutter Courage zu sehen ist, Szenenfotos, die erahnen lassen, mit welcher Intensität sie die Rolle gespielt hat.5 Hier ist nicht der Ort, eine Analyse des aus dokumentarischem Material gezimmerten Stücks von Felix Mitterer zu leisten oder gar die Frage zu stellen, ob ein derartiges Geschehen überhaupt darstellbar ist. Nur ein Aspekt sei hervorgehoben  : Während die mutige Tat der Dorothea Neff spätestens seit 1980 öffentlich bekannt war6, werden mit dem Stück nunmehr, als Aufsehen erregende Novität, Liebe und intime Beziehungen zwischen Frauen – vor allem zwischen Dorothea Neff und Lilli Wolff, später zwischen Dorothea Neff und Eva Zilcher – thematisiert. Daraus entsteht gleichsam das Milieu des Stückes, in das – eine Volte der Political Correctness – die zu Voyeuren gewordenen Zuschauerinnen und Zuschauer blicken. Weite Teile der Handlung, in dem der nationalsozialistische Terror überdies in seltsamer Harmlosigkeit überwiegend durch eine erpresserische Hausmeisterin verkörpert wird, wirken wie eine Strindberg-Tragödie zwischen Frauen. Die Ausstellung der Frauen-Beziehungen bewirkt hier, dass die politische Haltung von Dorothea Neff und ihrer späteren Partnerin Eva Zilcher (1920–1993) verdeckt wird, ebenso wie ihre Intelligenz, ihre Interessen, ihre intellektuellen Freundschaften und ihr Mut auch in der Zeit des Kalten Krieges, als Widerspruch, Engagement und ein Denken, das von der Möglichkeit einer anderen Welt ausging, dem Verdacht ausgesetzt werden konnte, »kommunistisch« zu sein. Verlässt man im Volkstheater den Zuschauerraum und gelangt in die Pausengänge, so bekommt man unweigerlich die Totenmaske von Dorothea Neff zu sehen. Dass diese hier seit Jahrzehnten ausgestellt wird, erweist sich als ein älteres Zeichen der Ehrung eines bedeutenden Ensemblemitgliedes. Als Schauspielerin hatte sie das Pathos des alten Theaters mit der modernen Sachlichkeit und Prägnanz, die dem Brecht’schen Theater zu entstammen schien, auf seltsame Weise verbunden. Das war noch zu hören, als sie in den 1980er-Jahren im Radio – zu einer Zeit also, da sie dem Theater schon längst entsagen hatte müssen – über ihre mutige Tat erzählte und über das Theater im Nationalsozialismus sprach (vgl. 134

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ORF 1985). Der große Eindruck, den sie dabei stets hinterließ, ihre Entschiedenheit und Stärke, die sie, durch ihre Erblindung ganz dem Akustischen zugewandt, im Tonfall ausdrückte, hatte wohl bewirkt, dass die aktuelle Ausstrahlung der Person mögliche Theatererinnerungen an sie überlagerte. Die Totenmaske im Theater wirkt als eine Ehrerbietung, die das Lebendige des Theaters seltsam kontrastiert, und obwohl es einige Totenmasken von Schauspielerinnen gibt, war solches doch weitgehend den Männern vorbehalten. Totenmasken von Schauspielern konnten Kultstatus erhalten, als würden die Lebenden durch sie Kraft gewinnen  ; bei der Totenmaske des Josef Kainz etwa, von der zahlreiche Abzüge existieren, handelt es sich um einen Fetisch dieser Art. Die Totenmaske der Dorothea Neff ist von solchem Status entfernt, aber die Maske scheu betrachtend könnte man sich eine Galerie bedeutender Frauen am Theater ausdenken, die wie Neff über eine politische Haltung verfügten, welche nicht so einfach zu beschreiben ist, und bei denen wohl »Ratio« und »Intuition« in höchster Einheit verbunden waren. Bei aller Verschiedenheit haftet ihnen manch Gemeinsames an, das nur erfahrbar ist, wenn man ihre Arbeit und ihr Leben in ihrer Eigentümlichkeit studiert.

Spuren in Bildern (Helene Weigel, Therese Giehse) und autobiografisches Schreiben (Salka Viertel) In einer solchen Galerie, die nicht an ein bestimmtes Theater gebunden zu sein bräuchte, hinge das Portrait von Helene Weigel (1900–1971), geborene Wienerin, Schauspielerin in Berlin, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben7 und nach ihrer Rückkehr Leiterin des Berliner Ensembles. Vermutlich fänden sich aber vor allem Fotografien, die ihre schauspielerische Arbeit zeigen, denn die Fotografien gehörten zur Arbeit des Berliner Ensembles, sie sollten bekanntlich Brechts Theaterarbeit modellhaft dokumentieren. Diese Dokumentationen wurden wesentlich von Fotografinnen geleistet. Heute mögen sich die Fotografien der Helene Weigel (ebenso wie die Tonaufnahmen)8 gegenüber den Texten Brechts, in denen er ihre Arbeit beschreibt, verselbstständigt haben. Immer wieder hat er über ihr Spiel geschrieben, es naiv zu fassen und zugleich zu theoretisieren gesucht. Aus der Diktion der Bewunderung, die Brecht in seinen Texten über Weigel anschlägt, ist die Genugtuung darüber herauszuhören, dass seine Ideen von einer, seiner Schauspielerin umgesetzt werden  ; auch dort, wo er ihr Denken lobt, klingt es mitunter so, als würde sein eigenes rationales Konzept fast intuitiv verwirklicht.9 Manches davon mag in die Fotografien eingegangen 135

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sein  : Eine Schauspielerin führt die Gedanken des Meisters aus  ; aber dennoch ist unverkennbar ihre eigene Kraft zu spüren. Die Verselbstständigung der Fotografien erfolgte allerdings vorwiegend durch die Veränderung des Zusammenhangs, also durch die Herauslösung aus dem ursprünglichen Kontext der Modellbücher Brechts und die Herausgabe gesonderter Sammlungen in hagiografischen Fotobänden (Tenschert 2000). Die Bilder der Helene Weigel erlangten etwas Herrschaftliches. Neben ihrer Bedeutung als Schauspielerin hing dies mit ihrer Funktion als Theaterleiterin zusammen, das Wissen darum floss in die Präsentation und Rezeption der Fotografien ein. Darüber hinaus konnte durch die Rolle der Hüterin des Werkes, die Helene Weigel nach dem Tod Brechts zugefallen war, sowie durch die gewandelte Funktion des Berliner Ensembles in der DDR die Normierung der eigenen Arbeit in eine dirigistische Rationalität des Konzeptionellen münden, die den Raum für das Unkontrollierte verengte. Lässt sich dies sehen  ? Es ist schwierig, in jenen faszinierenden Fotografien etwas zu lesen, was nicht zuvor von uns in sie hineingelegt wurde  ; dies gilt selbst für den »Mutter Courage«-Film (Palitzsch/Wekwerth 1961), der dem Theater entsprungen ist, aber die leibhaftige Darstellung nur gefiltert weitergeben kann. Das schauspielerische Wissen bleibt stets nur allgemein erahnbar und ist doch im besonderen Augenblick der Szene erkennbar  ; auch in seiner unverkennbaren »Volkstümlichkeit«, die uns hier entgegenkommt, ohne das Einverständnis zu suchen. In der Galerie fände sich wohl ebenso die andere bedeutende Darstellerin der Mutter Courage abgebildet  : Therese Giehse (1898–1975). Auch bei ihr lebte das Wissen in den Figuren auf, die sie darstellte, Klassifizierungen in »Stile« lehnte sie ab10, und nur selten sah sie sich veranlasst, die eigene Arbeit zu kommentieren. Wenn sie darüber sprach, konnte sie die Bedeutung des Wissens und Denkens für die schauspielerische Arbeit hervorheben, man müsse wissen, was in einer Situation los sei, die man spiele,11 »mangelnde Intelligenz« galt ihr als »ein großer Talentfehler«12. Maria Becker – deren Portrait ich ebenfalls in jener Galerie suchen würde – hat berichtet, wie Therese Giehse, die Lesende, ihr, der jungen Schauspielerin, in der Zeit des Exils am Zürcher Schauspielhaus immer Bücher empfahl (Becker 2005, 44). Auch bei Therese Giehse mögen es, neben der auf Tonträgern aufbewahrten Stimme, die Szenenbilder sein, von denen wir annehmen, dass sie uns etwas über ihre Arbeit vermitteln, und es sind die laufenden Bilder des Films  : der antifaschistische Film »Die letzte Chance« (1945) von Leopold Lindtberg etwa, in dem wir jene soziale Genauigkeit der Giehse, die niemals in die Schematik umkippt, erkennen  ; eine spezifische Darstellung des Menschlichen, der die Bindung 136

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an den gesellschaftlichen Augenblick immanent war. Ihre politische Positionierung – die als sozialistisch bezeichnet werden kann, wenn man dafür heute überhaupt einen Begriff findet – hat sie, die Zurückhaltende, nicht verborgen und an ihr stets festgehalten (Müller 1999, Giehse 1973). Nach dem Exil spielte sie unter anderem an den Münchner Kammerspielen, erneut am Zürcher Schauspielhaus, und am Berliner Ensemble, wo sie 1951 auch Kleists »Zerbrochnen Krug« inszenierte. Die Film-Aufzeichnung der »Mutter« von Bertolt Brecht nach dem Roman von Maxim Gorkij, in der revolutionär gestimmten Inszenierung von Peter Stein (1970), mit der die Schaubühne am Halleschen Ufer eröffnet wurde, zeigt sie als Darstellerin der Pelagea Wlassowa inmitten des jungen Ensembles. Mehr noch als bei Helene Weigel war es bei Therese Giehse das »Volkstümliche«, von dem ihr Spiel bestimmt war, das ihr aber auch zugeschrieben wurde und seine eigentliche Popularisierung im Unterhaltungsfilm, namentlich im Medium der TV-Serie bayrischen Kolorits, erfuhr. Der Typus der Volksschauspielerin, der so schwer zu beschreiben ist, scheint gleichsam a priori dem Intuitiven zugeordnet, als sei dies eine Fähigkeit, die jemand sich gar nicht zu erarbeiten habe, die spontan aus einer Verbundenheit mit den Zuschauerinnen und Zuschauern erwächst. Dies freilich wäre hier bereits eine Ideologisierung und würde das Hergestellte, die Intelligenz ihres Spieles verkennen. Denn das Wissen ist bei Therese Giehse kunstvoll präsent, blitzt auf im Witz und lebt in allen Mitteln fort, mögen wir sie nun der »Ratio« oder der »Intuition« zuordnen. Bei der Schauspielerin und Drehbuchautorin Salka Viertel (1889–1978) – auch sie würde in die Galerie gehören – ist das Schreiben der Autobiografie wesentlicher Teil ihres Werkes. Dem trüben Medium der Schauspieler-Memoiren, in denen die Arbeit am eigenen Nachruhm eine Art von scheinbarem Wissen über Leben und Arbeit erzeugt, das zum Triumph der Apologie gerät, diesem Genre hatten einzelne Exilanten und Exilantinnen ihre Autobiografien entgegengestellt, in denen gerade die Thematisierung von Vertreibung und Verfolgung ein gänzlich anderes Bild bot als in den Verklärungen der Theaterwelt üblich. Vor allem wurde hierin nicht einer Irrationalisierung des Berufs das Wort geredet, als wäre das Denken oder das Wissen dieser Tätigkeit entgegengesetzt. In Salka Viertels kluger Autobiografie »Das unbelehrbare Herz« (2011 [1970]) ist das Erzählen der eigenen Geschichte wesentlich mit dem Erzählen über andere verbunden (zu Viertel vgl. Prager 2007). Das genaue Hinsehen, ohne Illusionen, aber hoffnungsvoll, ist von einer besonderen Fähigkeit zur Empathie begleitet, und die Formulierung vom »unbelehrbaren Herzen«, die am Ende des Buches steht und den Titel gab, bringt ungefähr Folgendes zum Ausdruck  : Was immer an Belehrung über die Schlechtigkeit der Menschen vorgebracht wird und 137

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in eine Vernünftigkeit des rücksichtslosen Kampfs um das eigene Fortkommen mündet, all das ist nicht der Weg der Autorin, deren Herz eben in dieser Hinsicht unbelehrbar bleibt. Aber diese Unbelehrbarkeit gründet gerade auf einem Wissen um die Verhältnisse der Epoche. Das wurde nicht immer verstanden, denn das Haus in Santa Monica, in dem die Gast- und Menschenfreundlichkeit Salka Viertels ihren Ort hatte, in dem das antifaschistische Exil etwas wie ein Zuhause fand, wurde lange Zeit im Rückblick zu Salkas »Salon« verkleinert, als wäre es ihr darum gegangen, bekannte Persönlichkeiten um sich zu versammeln.13 Ein spätes Foto, um 1960, zeigt vier Personen, darunter Salka Viertel und Helene Weigel, sie haben offenkundig eine Fotografie herumgereicht (die für uns nicht genau zu erkennen ist), Salka Viertel und Helene Weigel lächeln.14 Wer war auf der Fotografie abgebildet, die sie betrachtet haben  ?

Angelika Hurwicz – Regisseurin, Schauspielerin, Schriftstellerin Befände sich nun die Galerie hervorragender Frauen des Theaters in Wien, so würde darin gewiss eine Person fehlen, die doch so maßgeblich in eben dieser Stadt gewirkt hat  : die Schauspielerin und Regisseurin Angelika Hurwicz (1922– 1999).15 Diese ist in Wien vergessen, obwohl sie für die Geschichte des Burgtheaters von größter Bedeutung ist. Man muss aber nicht in Wien bleiben, um das Vergessen zu konstatieren  : In einem Buch mit dem Titel »Regie-Frauen. Ein Männerberuf in Frauenhand«, das zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Theatermuseums München erschien, fehlt der Name Angelika Hurwicz tatsächlich (Haberlik 2010). Mit dem Band, in dem die Fotografie – in Form des Portraits oder des Szenenfotos – eine große Rolle spielt, liegt eigentlich eine Galerie von Regisseurinnen in Buchform vor. Helene Weigel wird darin sogar im Kapitel »Pionierinnen« angeführt, da sie Theaterleiterin war und auch die »Probenleitung der dokumentierten Brecht-Inszenierungen nach seinem Tod« übernommen hatte (ebd., 14). Die Gründe, warum Angelika Hurwicz vergessen ist, sind sicher vielschichtig und nicht ganz aufzulösen – und wohl Teil jener trüben Normalität, die hier schon beschrieben wurde. Aber es gibt verschiedene Momente im Konglomerat der Gedächtnislosigkeit, die benannt werden können. Angelika Hurwicz war nie eine Person der Medien, aus denen sogar dann Bedeutsamkeit gespeist wird, wenn es um die Behauptung von Geschichtsschreibung geht  ; und im Unterschied etwa zu Helene Weigel, die auch medial zur Symbolfigur eines Theaterka138

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pitels wurde, war Hurwicz von einer solchen Repräsentationsrolle weit entfernt. Nie hatte sie sich überdies irgendwelchen Kreisen des Wiener Kulturbetriebs angeschlossen, deren Mitglieder sich ihre gesellschaftliche Wichtigkeit gegenseitig zu versichern suchen. Ein von ihr bevorzugter Ort war die Österreichische Nationalbibliothek, in der sie ungestört lesen und studieren konnte.16 Nicht zuletzt hängt das Vergessen damit zusammen, dass sie während einer Periode am Burgtheater arbeitete, die weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde, nämlich der Direktions-Zeit von Achim Benning (1976–1986).17 Von diesem war sie engagiert worden und sie wurde dadurch zur ersten Frau, die am Burgtheater inszenierte, wovon sie aber, ebenso wie die Direktion, kein Aufhebens machte.18 Das klingt in einem Text über Achim Benning an, den Angelika Hurwicz 1986 geschrieben hat  : »Die Tatsache, daß Benning mich ohne die geringste öffentliche Bemerkung über mein Geschlecht als erste Frau am Burgtheater inszenieren ließ, empfand ich als charakteristisch für seinen Führungsstil. Dieses sein Understatement war mir große Anerkennung und Förderung zugleich.« (Abgedr. in Burgtheater intern 1986, 29) Es ist vielleicht aufschlussreich, den besonderen Weg von Angelika Hurwicz mit einem Phänomen zu konfrontieren, das während dieser Jahre am Burgtheater auftauchte. Dort hatte sich eine Arbeitsgruppe »Frauen des Burgtheaters« konstituiert  : Die Schauspielerin Elisabeth Augustin war in die Ensemblevertretung gewählt worden, sie war dort die einzige Frau und organisierte eine Versammlung, zu der sie alle weiblichen Mitglieder des Ensembles eingeladen hatte, um über die Situation und die Probleme der Frauen am Theater zu sprechen.19 Durch den Erfolg dieser Veranstaltung sah sich Elisabeth Augustin motiviert, daraus eine Einrichtung zu machen, die dann von 1979 bis 1981 existierte. Mit Unterstützung oder Duldung der Direktion entstanden sogar einige künstlerische Programme zu Frauen-Themen20, und vor allem gab es regelmäßige Treffen – zweimal im Monat –, bei denen über die schwierige Besetzungslage von Schauspielerinnen (für die es aufgrund der Dramenliteratur weniger Rollen als für Männer gibt) gesprochen wurde, Inszenierungen diskutiert und auch Regisseure zum Gespräch gebeten wurden. Es ging um Fragen der beruflichen Situation und um den Versuch, Veränderungen herbeizuführen, was sich etwa in einem Aufruf an Schriftsteller und Schriftstellerinnen manifestierte, Stücke zu schreiben, in denen es größere Rollen für Frauen gäbe. Die »Frauen des Burgtheaters« veranstalteten Gesprächsrunden, in denen erfolgreiche Schauspielerinnen über ihre Biografien und darüber, wie sie sich am Theater durchgesetzt hatten, sprechen sollten. Zu einer dieser Veranstaltungen war auch Dorothea Neff eingeladen worden, die in Begleitung von Eva Zil139

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cher kam und über ihr Leben erzählte. Offenkundig gab es eine gewisse Tendenz, bei der Frage nach den Karriereverläufen von den jeweiligen Positionen zu abstrahieren  : Unter den Eingeladenen waren Paula Wessely, Hilde Wagener, Hortense Raky. Letztere (deren Portrait auch in die imaginäre Galerie gehören könnte) war, im Unterschied zu den beiden anderen Genannten, im Exil – in der Schweiz – gewesen und als politisch bewusste Schauspielerin bekannt, die einige »Frauen des Burgtheaters« sogar zu einer Lesung vor den Insassinnen des Frauengefängnisses Schwarzau anregen konnte. Die Arbeitsgruppe »Frauen des Burgtheaters« kann im Kontext der damaligen feministischen Bewegungen betrachtet werden und ist damit auch Ausdruck des Bewusstseins einer jüngeren Generation von Schauspielerinnen, die von Achim Benning ans Burgtheater engagiert worden waren. Für Angelika Hurwicz ist bezeichnend, dass ihre Arbeit nicht im Zusammenhang mit diesen feministisch inspirierten Aktivitäten stattfand. Aus den wenigen Äußerungen zu ihrem Verständnis als Regisseurin wird erkennbar, dass ihre Auffassung von Gleichberechtigung sie nicht von einer besonderen Rolle als Regie führende Frau ausgehen ließ und sie ihren Weg nicht unter der Fragestellung »Frauen am Theater« betrachtete. Journalistisch wurde sie allerdings bereits vor ihrer Arbeit am Burgtheater mit diesen Fragen konfrontiert, da sie in den 1970er-Jahren als Frau, die Regie führte, tatsächlich eine Ausnahme war. Das wurde von außen gelegentlich zu kurzfristiger Auffälligkeit gebracht, obwohl gerade sie auf andere Weise auffällig war, nämlich in der Zurückhaltung und Bescheidenheit, die im Metier des Theaters eine Ausnahme bildet (Roser 2012). Auf die Frage nach ihrer Ausnahmesituation und etwaigen Widerständen antwortete Angelika Hurwicz 1974 in einem Interview für die Zeitschrift »Theater heute«  : Mir hat eine Äußerung der französischen Filmregisseurin Agnès Varda besonderen Spaß gemacht. Die hat gesagt  : » Die Frauen probieren es ja gar nicht, Regie zu führen.« Ich kann nur sagen  : als ich es gewollt habe, Regie zu führen, als ich mich darum bewarb, sind mir keine Widerstände entgegengesetzt worden. (Hurwicz 1974, 32).21

Allerdings verwies Angelika Hurwicz auf die besonderen Umstände ihres beruflichen Werdegangs, nämlich darauf, dass sie dem Berliner Ensemble angehört hatte, und hob hervor, dass man ihrem Wunsch, zu inszenieren, in »dieser fortschrittlichen Atmosphäre […] keine Widerstände entgegengesetzt« habe. Das Berliner Ensemble und die Prägung durch Bertolt Brecht galten ihr als Voraus140

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setzung für ihren Weg zur Regie, der – ein Jahr vor Brechts Tod – dort mit einer eigenen Inszenierung begonnen hatte. Und auch die weiteren Möglichkeiten als Regisseurin sah sie – wie sie im Interview offen aussprach – darin befördert, dass sie »einen gewissen Namen aus [ihrer] langen Zugehörigkeit zum BrechtEnsemble« hatte  : »Diese Starthilfe haben wahrscheinlich unbekannte Frauen nicht.« (Ebd.) Es existiert ein kurzer Text, den Angelika Hurwicz in Erinnerung an ihre erste Inszenierung verfasst hat, und dieser ist thematisch ganz auf die Schilderung konzentriert, wie Brecht auf einer Probe eingriff und eine kleine, ihrer Ansicht nach aber wesentliche, Veränderung vornahm. Der Titel ihres Beitrags – veröffentlicht in einem Band, der Brechts Theaterarbeit gewidmet ist – lautet  : »Der Federstrich eines Meisters« (Goedhart 1964, 34f.). Vom »Meister« Brecht also und von anderen »Meistern« hatte Hurwicz gelernt, Frauen als Regisseurinnen standen ihr als Vorbilder nicht zur Verfügung, außer vielleicht Therese Giehse mit ihrer erwähnten Inszenierung am Berliner Ensemble. Jenes kleine Buch, das – neben Texten von Lion Feuchtwanger, Manfred Wekwerth, Alan Schneider und Käthe Rülicke – den Beitrag von Angelika Hurwicz über Brechts Proben-Hilfe und seine dabei gezeigte »meisterliche Akzentuierung« (ebd., 35) enthält, ist primär als eine Sammlung von Fotos konzipiert, auf denen Brecht zu sehen ist. Die Fotografin Gerda Goedhart22, Lebenspartnerin von Angelika Hurwicz, hat diese »Bertolt Brecht Porträts« herausgegeben, chronologisch geordnet – von 1946 bis 1956 – und dazu ein kurzes Nachwort geschrieben, das ihre fotografische Arbeit skizziert, besser  : das Verhältnis Brechts zur Fotografie  : »Brecht war ein großer Liebhaber von Photos. Aber er war kamerascheu und erlaubte wenigen, ihn zu photographieren«, schreibt Goedhart, und sie setzt fort, dass Brecht »unkonventionelle Porträts« liebte, die »nicht gestellt« waren (ebd., 34). Zwei dieser Fotos – sie scheinen tatsächlich nicht gestellt – zeigen Brecht und Hurwicz am Regiepult sitzend (ebd., 37  ; auch  : Pintzka 1960, 95). Die Aufnahme entstand anlässlich der Generalprobe von Ostrowskijs Stück »Die Ziehtochter« – der Inszenierung von Angelika Hurwicz am Berliner Ensemble, bei der Helene Weigel die Rolle der Wassilissa spielte. Brecht sitzt auf jedem der beiden Fotos seitlich am Regietisch, breit, einen Arm auf den Tisch gelegt, er blickt erheitert über den szenischen Vorgang Richtung Bühne, als wäre es seine Inszenierung, dominierend, mit dem Habitus eines Meisters, der das Geschehen beobachtet und gleich eingreifen wird. Hinter ihm, auf den Tisch gestützt, sitzt Angelika Hurwicz, man könnte sie für die Dramaturgin halten, als die sie ja auch am Berliner Ensemble gewirkt hat, sie blickt ebenfalls erheitert in Richtung Bühne, bescheiden, konzentriert – und eigenständig. 141

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Ein ganzes Fotobuch zeigt die schauspielerische Arbeit von Angelika Hurwicz am Berliner Ensemble. In dem Band wird Brecht mit einer Notiz aus seinem Arbeitsjournal von 1954 zitiert  : »Rollen wie der Azdak und die Grusche können in unserer Zeit nicht durch Regiearbeit gestaltet werden. Nicht weniger als fünf Jahre am Berliner Ensemble waren nötig, der außerordentlichen Angelika Hurwicz die Voraussetzungen zu geben.« (Zit. n. Pintzka 1960, 7)23 Der Band bietet – der Manier des Berliner Ensembles folgend – Fotos von Gerda Goedhart, die das Wesentliche einer Szene dokumentieren oder die gar so montiert sind, dass deren Ablauf erkennbar wird  : Angelika Hurwicz als Grusche, als stumme Kattrin und in vielen anderen Rollen. Das Buch hat einen lehrhaften Zug  ; die Fotos sollen den »Gestus« der Figur zeigen – ein Begriff, der für Angelika Hurwicz auch später bei der Regiearbeit von Bedeutung blieb24 – und den »Widerspruch« hervorheben, in dem die Figur agiert. Einer dieser Widersprüche ist in einem Text Bertolt Brechts festgehalten, der die Darstellung der stummen Kattrin durch Angelika Hurwicz beschreibt  : »Tapferkeit, welche die Furcht überwindet.« (Zit. n. ebd., 63) Es geht dabei um die Szene, in der Kattrin auf dem Scheunendach die Trommel schlägt, um die Kinder der Stadt Halle zu retten. Kattrin mit der Trommel auf dem Dach, die Menschlichkeit der Außenseiterin – kann man bei diesen Fotos oder bei den Kattrin-Szenen des »Courage«Films gleichgültig bleiben  ? Die schauspielerische Arbeit von Angelika Hurwitz basierte auf dem umfassenden Verständnis einer Situation. Wie sehr ihr Spiel, das ob seiner Körperlichkeit und Naivität gelobt wurde, vom »Intellekt gelenkt« und »klug ausgedacht« war, hat bereits Karin Cerny hervorgehoben (Cerny 2000). Günstige Bedingungen, wie sie diese am Berliner Ensemble erlebte – das sie 1958, zwei Jahre nach Brechts Tod, verließ, da ihr die Verhältnisse dort und in der sie umgebenden Gesellschaft nicht mehr günstig vorkamen –, konnte Angelika Hurwicz in anderer Weise noch ein zweites Mal erfahren, nämlich am Burgtheater in Wien. Achim Benning hatte dort zahlreiche Veränderungen erreicht, ohne diese stets programmatisch anzukündigen oder sie zur Selbstrepräsentation zu nutzen  ; eine Haltung, die Angelika Hurwicz entgegenkam. Eine der Neuerungen dieser Burgtheater-Periode bestand in der Einrichtung einer Dramaturgie, die zur intellektuellen Partnerin der Direktion sowie der Regisseure wurde. Rudolf Weys war der Dramaturg, mit dem Angelika Hurwicz meist zusammenarbeitete, seine Programmhefte25, die stets mit Akribie und Schärfe durch die jeweilige Thematik führten, in denen er gelegentlich auch eigene Essays veröffentlichte, vermitteln heute noch eine gewisse Ahnung von diesem vielseitigen und vielsprachigen Gesprächspartner der dramaturgisch denkenden Regisseurin. 142

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Abb. 2  : Bertolt Brecht und Angelika Hurwicz (rechts hinter ihm sitzend) auf der Generalprobe von Alexander N. Ostrowskijs »Die Ziehtochter«, Berliner Ensemble, 1955, Regie  : Angelika Hurwicz. Foto  : Gerda Goedhart

Abb. 3  : Angelika Hurwicz als stumme Kattrin in »Mutter Courage und ihre Kinder« von Bertolt Brecht. Berliner Ensemble 1949, Regie  : Erich Engel und Bertolt Brecht. Foto  : Gerda Goedhart

Angelika Hurwicz war von Achim Benning als Hausregisseurin ans Burgtheater engagiert worden  ; sie, die die DDR verlassen, im »Westen« als Regisseurin an verschiedenen Theatern26 gearbeitet und ihren Hauptwohnsitz in Holland gefunden hatte, gehörte zu jenen »Linken«, die ihr Zuhause verloren hatten. Der damalige Begriff der »heimatlosen Linken« (die im »Westen« lebten und sich geistig nicht an ein System banden) wäre wohl nicht die richtige Bezeichnung27 für sie, vielmehr könnte man von ihr und anderen im Rückblick als von den gescheiterten Kommunisten und Kommunistinnen sprechen, und dieses Scheitern war konkret. Es bestand darin, dass die Ansprüche an politisches Bewusstsein und Verhalten, an Intellektualität und Integrität, diese Personen in eine Außenseiterposition gebracht hatten, die ihre Arbeitsmöglichkeiten verengte oder sie selbst die Voraussetzungen als zu beengt empfinden ließ. Gingen diese politisch denkenden und empfindenden Menschen in den »Westen«, so gerieten sie hier oft erneut in eine schwierige Lage und blieben Außenseiterinnen und Außensei143

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ter. Achim Benning engagierte einige Regisseure, die sich dieser Kategorie zuordnen ließen, dazu gehörten außer Angelika Hurwicz auch Adolf Dresen oder Peter Palitzsch  ; sie bildeten keine Einheit, waren sehr verschieden und wirkten an diesem Haus übrigens neben Regisseuren, die weiterhin in der DDR arbeiteten, sei es als Außenseiter wie Christoph Schroth28, sei es als Person des offiziellen Kulturbetriebs wie der Direktor des Berliner Ensembles Manfred Wekwerth. In den Kampagnen gegen die Burgtheaterdirektion, die im Parlament von FPÖ, Teilen der ÖVP sowie publizistisch sowohl in der »Kronen Zeitung« als auch in der Zeitung »Die Presse« betrieben wurden, ging es in nicht unerheblichem Ausmaß darum, diese und noch andere Regisseure als »DDR-Regisseure« zu verunglimpfen, sie wurden beschuldigt, das Burgtheater kommunistisch zu unterwandern. Im antikommunistischen Kulturkampf des Kalten Krieges wurden keine Unterschiede zwischen Biografien gemacht. Angelika Hurwicz, deren Name in diesen Kampagnen-Reden gegen »DDR-Regisseure« genannt wurde, war bald den Angriffen etwas entzogen, da ihre Vergangenheit am Berliner Ensemble als Darstellerin der stummen Kattrin, die sie nie hervorhob, eine gewisse Legendenbildung begünstigte.29 Zur Konzeption der Direktion Benning gehörte, dass Stücke in den Spielplan aufgenommen wurden, die bislang am Burgtheater, vielfach aus politischen Gründen, nicht oder selten gespielt worden waren. Unter den Autoren, deren Werke somit zur Aufführung kamen, waren Carl Sternheim sowie Jacob Michael Reinhold Lenz, dessen Dramen bis dahin noch niemals am Burgtheater zu sehen gewesen waren. Angelika Hurwicz inszenierte – zwischen 1978 und 1985 – »Tabula Rasa«, »1913«, »Das Fossil«, »Der Snob«, von Carl Sternheim, »Der Hofmeister« von Lenz in der Bearbeitung von Bertolt Brecht, »Professor Bernhardi« von Arthur Schnitzler, »Die Besessenen« von Albert Camus, und »Die Frau vom Meer« von Henrik Ibsen.30 Es ist nicht möglich, die Regiearbeiten von Angelika Hurwicz mittels irgendwelcher Etikettierungen festzuschreiben, wohlmeinend wurde dies etwa mit dem Wort von der »Brecht-Schülerin« versucht.31 Das war nicht falsch, ließ aber stets Raum für allerlei verengte Vorstellungen, wie sie ebenso über Brecht gang und gäbe waren und noch sind. Der Zusammenhang der Theaterarbeit von Angelika Hurwicz mit Brechts Theater ist evident, aber ebenso ihre Kritik an einem Brecht-Verständnis, das bloß einige Begriffe schematisierend aufgriff, um einem Dogmatismus zu frönen, der dem Unkontrollierbaren des Theaters mit scheinbar rationalen Systemen den Garaus machen sollte. 1955, also noch zu dessen Lebzeiten, hatte Angelika Hurwicz über »Brechts Arbeit mit dem Schauspieler« geschrieben (Hurwicz 1966). In dem kleinen Aufsatz, der von den eigenen 144

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Erfahrungen ausgeht, ist jegliche regelhafte Verallgemeinerung vermieden  : Es könne doch, meint Hurwicz, »einmal von Nutzen sein, Brechts theoretisches Werk, das ›Kleine Organon‹, beiseite zu lassen und nur von Eindrücken aus der praktischen Zusammenarbeit mit Brecht zu berichten« (Hurwicz 1968, 172).32 Die damals gängige Behauptung eines starren Gegensatzes zwischen Stanislawski und Brecht widerlegend, hebt sie hervor, dass Brecht in einer »Diskussion über seine Regiearbeit mündlich verlauten« lassen habe, es käme ihm darauf an, »die Verhaltensweise von Menschen in bestimmten Situationen zu zeigen, ob der Schauspieler dabei heiß oder kalt wäre, bliebe ihm gleich« (Ebd., 173).33 Dieser frühe Text von Angelika Hurwicz, der durchaus noch seine schematischen Seiten hat, opponiert gegen die Stil-Postulate und öffnet dadurch den Blick auf das Inhaltliche und Politische. Für die Frage von »Ratio« und »Intuition« mag auch ihre Beschreibung von Brechts Probenarbeit aufschlussreich sein, in der sie das »Unwägbare von Brechts persönlichem Geschmack« und »das Unmessbare der schauspielerischen Persönlichkeit« hervorhob (Hurwicz 1964, o. S.). Das Burgtheater unter Achim Benning war in vielen Dimensionen ein politisches Theater, es war ein Theater, bei dem die Literatur eine große Rolle spielte, an das wesentliche Regisseure des gesamten deutschen Sprachraums geholt wurden. Dass es hier nicht um äußerliche Stil-Fragen ging, passte ebenfalls zur künstlerischen Haltung von Angelika Hurwicz. Erhalten hat sich ein kurzes Radio-Interview von 1978, das Angelika Hurwicz vor der Premiere von Carl Sternheims »Tabula Rasa« gegeben hat, ihrer ersten Burgtheater-Inszenierung (im Akademietheater), für die sie die Kainz-Medaille erhielt. In den unprätentiösen Erläuterungen der Regisseurin zeigt sich jene Verbindung von Intelligenz und Bescheidenheit, die ganz der Sache zugewandt ist und die eigene Person nicht in den Vordergrund zu bringen sucht, sie spricht nicht über ihre Arbeit, sondern zu ihrer Arbeit  : Ich glaube, man muss zunächst vermeiden, dass man an einen Sternheim-Stil glaubt und […] plötzlich das Ganze des Fleisches entkleide[t], denn hinter dieser komprimierten Sprache [ist] ein ungeheures Wissen um Wirkungen von Theater und es stehen ganze Menschen da. Das haben die Schauspieler selbst auch bei der Arbeit gemerkt, wie das Stück sie trägt. (ORF 1978)

In diesen Sätzen, die für den Moment Auskunft geben sollen, wird über den konkreten Anlass hinaus eine allgemeine Arbeitshaltung erkennbar. Das gilt auch für ihre Ausführungen über die Frage des »Humors« bei Sternheim  : Die Regie, so Angelika Hurwicz, solle nicht irgendwelche »Gags« erfinden, sondern 145

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müsse dem »feineren Humor« folgen, dürfe diesen nicht »unterschlagen« und ein »trockenes Lehrstück« daraus machen. Die Schwierigkeiten des Stückes wurden von Angelika Hurwicz also nicht stilistisch übertüncht, was das Ausweichen in einen Regie-Manierismus zur Folge gehabt hätte, sondern über die Möglichkeiten der menschlichen Darstellung durch die Schauspieler und Schauspielerinnen bewältigt. Wenn sie die Brecht’schen Fragen nach dem »Gestus« stellte, kam sie zu szenischen Lösungen, in denen die Schauspieler und Schauspielerinnen gleichsam das strenge dramatische Gerüst mit ihren Mitteln füllen konnten. In den Stücken Sternheims – mit ihren stenogrammartigen Dialogen, die zwar die Kollisionen, nicht aber deren breite Entfaltung bieten – ist gerade in der dramatischen Abbreviatur das Ganze des Gesellschaftlichen und Menschlichen enthalten. Schockartig wirken die ausgestellten Kämpfe zwischen den egoistischen Individuen, deren Eigenschaften den materiellen Interessen entspringen, die sie durchzusetzen haben. Die Ausdehnung des Ichs führt zu dessen Abstraktion und diese ist zugleich die reale Abstraktion des Profitdenkens. Meist steht bei Sternheim das sich aufblasende bürgerliche oder aristokratische Subjekt im Zentrum, das um den Gewinn von Stärke kämpft (Sternheim selbst verherrlichte in seinen Äußerungen zu den Stücken wiederholt diese Stärke)  ; oder es agiert das zwischen den Interessen der sozialen Protagonisten lavierende Subjekt in seiner Schwäche, ausgestattet mit lauernder Anpassungsbereitschaft, so wie es Otto, eine Figur im »Fossil«, sagt  : »Alles Boxkampf und Kommando. Nur wir in der Mitte passen uns an, fließen.« (Sternheim, 1963 [Bd. I], 18). Die kämpfenden Subjekte sind vorwiegend Männer, können aber auch Frauen sein, die mit den selben Mitteln um ihre Vorteile ringen  ; die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern heizen nur diese Kämpfe um Rang und Ausbreitung an, verschleiern sie allenfalls, wenn schöne Worte fallen. In dieser Dramaturgie, deren Komplexität gerade durch die Vereinfachung der Konflikte entsteht, ist auch das Geschlechtliche mit dem Gesellschaftlichen untrennbar verbunden, alles ist so rational komponiert und verweist dadurch auf die Irrationalität einer Gesellschaft. Die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern hat Angelika Hurwicz nicht vorab zu einer bestimmenden Thematik ihrer Arbeiten gemacht, auch ging es ihr nicht um das generelle Anliegen, die Situation der Frau via Drama sichtbar werden zu lassen, obwohl sie den Frauenfiguren große Beachtung beimaß. Stets von den Konstellationen des Stückes ausgehend, suchte sie eher die sozialen Bedingungen in den szenischen Geschlechterverhältnissen. 1985 schrieb sie in einem Brief an Achim Benning über Ibsens »Rosmersholm«, das sie für eine Inszenierung vorschlug und das ihr als politisches Stück galt  : 146

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[E]s geht um den Kampf zwischen Freisinningen und Konservativen mit harten Bandagen, auslösendes Moment eine Frau aus sogenannt[en] kleinen Verhältnissen, die ebenfalls mit harten Bandagen kämpft und zerstört wird durch das lebensuntaugliche Ideal vom Adelsmenschen. Brecht würde sagen  : herrschende Klasse ruiniert Dienstmädchen. So kraß meine ich es natürlich nicht. Aber dies »Rosmersholm« ist nicht so verblasen, wie es wohl immer aufgefaßt wird. Herr Rosmer verlangt schließlich den Tod von Rebekka West.«34

Vielleicht lassen sich Angelika Hurwicz’ Deutungen im Zusammenhang mit Ibsen und darüber hinaus so fassen  : Die Frauenfiguren waren für sie an ein Allgemeines gebunden, das Gesellschaft bedeutete, sie galten ihr als Teil, an dem die gesamte Situation der Menschen kenntlich wird. In ihrem Konzept zur »Frau vom Meer« schrieb sie  : Daß nun das große Thema der Freiheit und der Zivilisation bei Ibsen an Frauenschicksalen abgehandelt wird, lag an der damaligen Situation der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft und mutet doch modern an, da wir wissen, daß die ökonomische Unfreiheit der Frau ein Teil der allgemeinen ökonomischen Unfreiheit ist.35

Als Beleg zitierte sie aus der berühmten Rede Ibsens (beim Fest des norwegischen Vereins für die Sache der Frau), in welcher dieser die Huldigung zurückweist, für die »Frauenfrage« eingetreten zu sein, es scheine ihm zwar wünschenswert, diese »zu lösen«, aber nur »so nebenher«, seine Aufgabe sei »die Menschenschilderung«.36 Im Konzept von Angelika Hurwicz findet sich indes auch eine Sammlung von Zitaten, die sie als »anarchistische Bemerkungen Ibsens« kennzeichnet. Gleich das erste Zitat enthält folgende Sätze – von Ibsen im Zusammenhang mit seinem Stück »Die Wildente« notiert  : Die moderne Gesellschaft ist keine menschliche Gesellschaft, sie ist eine Männergesellschaft. – Wenn die Freiheitsanhänger die soziale Stellung der Frau verbessern wollen, erkundigen sie sich erst, ob die öffentliche Meinung, die Männer, damit einverstanden ist. Das ist dasselbe, als wollte man die Wölfe fragen, ob sie neue Schutzmaßnahmen für die Schafe billigen.«37

Es bleibt ungenügend, die Intentionen der Regisseurin aus Briefen und Konzepten herauszulesen, denn ihre Absichten waren in Bewegung, immer mit der Analyse der jeweiligen Stücke in Verbindung und auf die Inszenierung gerichtet. Das zeigt sich auch in ihren Arbeitsnotizen zur »Frau vom Meer«, die 147

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sie im Programmheft veröffentlichte und die darauf abzielten, die mystischen Züge des Stückes zu negieren, um verstärkt die – wie Angelika Hurwicz formulierte – »tiefe Kulturphilosophie Ibsens« hervorzuheben, dass »die bürgerliche Gesellschaft« nur »durch Abgrenzung, Abtötung eines Teils der Persönlichkeit möglich« sei (Hurwicz 1985, o. S.). Die Sehnsucht nach Freiheit und der Verzicht darauf schienen ihr am Schicksal der Hauptfigur des Stückes, der Ellida, besonders anschaulich zu werden  ; ihre Arbeitsnotizen kreisen darum und sind von höchstem Anspruch getragen. Eine Aufführung der »Frau vom Meer« gehörte übrigens zu den Jugendeindrücken von Angelika Hurwicz und hatte, wie Achim Benning schrieb, »ihren brennenden Wunsch, Schauspielerin zu werden, entfacht« (Benning 2012, 221). Die Arbeitsnotizen lassen ihre Begeisterung erkennen, dieses Stück nunmehr zu realisieren, aber auch ihre Schwierigkeiten dabei vermuten  : Vermeiden in der Dekoration jede realistische Landschaftsschilderung. Nicht die Berge sind es, nicht der enge Fjord, die Ellida bedrücken. Nicht das reale Meer ist es, das sie erlösen kann. Real dürfen nur sein des Ehegatten Haus, der eingrenzende Zaun, die die Zivilisation vertreten. Real ist der Gartenpavillon, in dem die Frau vom Meer ein wenig Eigenleben sucht. Aber der ist zum Vogelkäfig geraten. (Hurwicz 1985, o. S.)

Das jeweilige Drama stand immer am Anfang ihrer Überlegungen, ihm blieb Angelika Hurwicz verpflichtet, straffte allenfalls den Text für die Fassung.38 Nach Festlegung des Stückes waren ihr aber die Besetzung39 und die schauspielerischen Fragen von größter Wichtigkeit. Das ist etwa in einem Brief an Paul Hoffmann nachzulesen, in dem sie die martialische Figur des Generals von Beskow aus Sternheims »Fossil« differenziert erklärt, alle karikaturhaften Lösungen, die sich anbieten, ablehnend (Hurwicz 1986). Die Vermeidung des Karikaturhaften, bei gleichzeitiger Akzentuierung des Kritischen und Komödienhaften, war auch an ihrer Inszenierung des »Hofmeisters« (1979) zu sehen. Dass das Burgtheater dieses Stück von Jakob Michael Reinhold Lenz in den Spielplan nahm, wirkte wie ein Kontrapunkt zur Ideologie der »Klassiker«-Pflege, die in Parlamentsreden von Abgeordneten der FPÖ und der ÖVP beschworen wurde, kostümiert als Klage über den Mangel an »Klassikern« im aktuellen Spielplan und unverkennbar als Teil der politischen Kampagne gegen die Direktion. Durch die Brecht’sche Bearbeitung forciert, wird im »Hofmeister« – überdreht und überspitzt – das knechtische Bewusstsein des deutschen Intellektuellen entlarvt. Auch hier richtet sich das männliche Subjekt nach der Interessenslage, aber es 148

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bläst sich nicht auf, wie bei Sternheim, sondern unterwirft sich, bis hin zur faktischen und zugleich symbolischen Selbstkastration. Der dramatische Weg des Hofmeisters widerstrebt der konventionellen Auffassung einer konstanten Persönlichkeit, die die Bildungsideologen des Kalten Krieges noch mit Hilfe der »Klassiker« für ihre Gegenwart reklamieren zu können glaubten. Angelika Hurwicz ging es hier wiederum nicht um die Erfüllung einer stilistischen Norm  ; im Spiel der Schauspieler und Schauspielerinnen war jenes Überschießende, das nicht zu definieren ist, in den Dienst der Komödie gestellt, wie sich am Spiel von Robert Meyer, dem Darsteller des Hofmeisters, ersehen ließ – komödiantisch und tragisch zugleich. Gleichfalls fern der Konventionen und Klischees angesiedelt war die Inszenierung von Arthur Schnitzlers »Professor Bernhardi« (1981). Angelika Hurwicz war schon von ihrer deutschen Herkunft nicht das, was in Wien als SchnitzlerExperte angesehen wurde (Expertinnen gab es auf dem Gebiet der Regie ohnehin noch nicht). Zudem bot Hurwicz eine Lesart, die mit den Gewohnheiten des Nachkriegstheaters brach. Auf diesem nämlich war Bernhardi als eine Art moderner Nathan erschienen  ; ein Missverständnis, das mit philosemitischen Absichten und Gesten der Wiedergutmachung zusammenhing, sich aber auch mit Auffassungen des Exils verbinden konnte. Angelika Hurwicz brach nun mit dieser zur Norm gewordenen Interpretation, was sich allein schon in der Besetzung der Figur des Professor Bernhardi durch den Schauspieler Norbert Kappen zeigte, der keineswegs einen per se edlen Menschen spielte. Norbert Kappen – ebenfalls aus Deutschland stammend – erzeugte mit seinem Spiel zudem gewollte Assoziationen zum Ostjudentum, wodurch Bernhardi zu einem erkennbaren Außenseiter wurde.40 Das widersprach auf andere Weise dem Stück, war diesmal eher eine von außen hineingetragene Idee und weniger dem Werk entsprungen. Im Programmheft zu »Professor Bernhardi« sind »Arbeitsnotizen« von Angelika Hurwicz abgedruckt, die einen Eindruck von der sorgsamen Vorbereitung und dem genauen Durchdenken aller Probleme vermitteln. Die Regisseurin hatte das Stück in die 1880er-Jahre zurückverlegt  : in die Jahre, da der reale Vorfall um Schnitzlers Vater sich ereignet hatte, und zudem schien ihr diese Zeit unheimlicher als »der nostalgische Schick der Mode kurz vor dem 1. Weltkrieg«, der Periode also, in der diese »Komödie« (in der übrigens, abgesehen von der Krankenschwester Ludmilla, nur Männer in ihren Berufen vorkommen und deren private Verhältnisse kaum zur Sprache gebracht werden) eigentlich spielt. Das Unheimliche des Stücks lag für sie auch in der Vorwegnahme späterer Ereignisse, die sich – wie sie meinte – durch die Verlagerung in die frühere Periode leichter erkennen ließ. Die Folgen des Geschehens sollten dabei gedanklich 149

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Abb. 4  : Angelika Hurwicz – Regisseurin am Burgtheater während der Direktion von Achim Benning. Privataufnahme, Wien 1978

präsent sein, ohne dass sie jedoch auf der Bühne in Szene gesetzt werden mussten  ; Hurwicz betonte, dass der Inszenierung »nicht das entsetzliche Schicksal der jüdischen Nazi-Opfer angeklittert« werden dürfe. »[I]n dem Stück › Professor Bernhardi‹«, so schreibt Angelika Hurwicz, Brecht paraphrasierend, »ist der Schoß, aus dem es gekrochen ist, schon aufzuspüren.« (Hurwicz 1981, o. S. ) Ihre Arbeitsnotizen enden in der Gegenwart, denn Angelika Hurwicz hat antisemitische Schmierereien, die sie auf Holzlehnen in Wiener Straßenbahnen sowie bei einem Spaziergang sehen musste, notiert und damit die Leserinnen und Lesern des Programmheftes mit einem typischen Phänomen konfrontiert, das zum Alltag Wiens gehört  : »12. 10. 1980 auf einem Baum auf dem Weg vom Cobenzl zur Jägerwiese  : Hakenkreuz-Schmiererei.« (Ebd., o. S.). Es war 1980, vermutlich also zu der Zeit, da sie die Inszenierung des »Professor Bernhardi« vorbereitete, als Angelika Hurwicz an einem langen Abend über die Erfahrungen ihrer Jugend erzählte. Anwesend waren unter anderem Leopold Lindtberg, Manès Sperber, Manfred Inger und Achim Benning  ; dieser hat später darüber geschrieben (Benning 2012, 216–221). Angelika Hurwicz war es unter dem NS-Regime als sogenannter »Mischling ersten Grades« – ihr Vater war Jude – von vornherein verwehrt gewesen, die Schauspielschule des Deut150

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schen Theaters in Berlin zu besuchen. Das wurde ihr (Ende der 1930er-Jahre) auf eine telefonische Anfrage hin mitgeteilt, verbunden mit dem Rat, doch Privatunterricht zu nehmen. Sie, die von ihrem Traum nicht abließ, konnte schließlich Unterricht bei der Schauspielerin Lucie Höflich erhalten, der sie ihre jüdische Herkunft entdeckte und die sie im zweiten Jahr sogar kostenlos unterrichtete. Um sich abzusichern, beauftragte Lucie Höflich indes ihre Schülerin, bei der Reichstheaterkammer anzufragen, ob sie überhaupt zur staatlichen Abschlussprüfung zugelassen sei. Die Schülerin erhielt die Auskunft, dass es ihr erlaubt sei, anzutreten, sie aber niemals Mitglied der Reichstheaterkammer werden könne, was einem Arbeitsverbot gleichkam. Bei der Abschlussprüfung füllte sie im Fragebogen der Reichstheaterkammer die Rubrik »Arische Abstammung  ?« absichtlich schwer leserlich aus, bestand die Prüfung und erhielt darüber einen Bescheid in Form eines Diploms. In den folgenden Jahren schlug sie sich, fernab der Zentren, die Gesetze des Regimes umgehend, im Erzgebirge als Schauspielerin bei kleinen Theatertruppen durch. Sie hat – soweit erkennbar – nicht oft, und wenn, dann nur im Kreis Vertrauter davon erzählt, aber sie hat über die Erfahrungen dieser Jahre ein Buch mit dem Titel »Die Nische des Insekts« geschrieben, das 1999, kurz vor ihrem Tod, erschien (Hurwicz 1999).41 Darin schreibt sie über die unglaublichen Erlebnisse bei den Theatertruppen und ihren Prinzipalen und Prinzipalinnen  ; läse man daraus nur einige Passagen, würde man das Geschehen einer anderen Epoche zuordnen. Aber man wäre bald aus dem Theaterroman gerissen, denn die Geschichten über diese Theatergesellschaften erzählen nicht nur vom Glück des Spielens, das die junge Schauspielerin trotz allem dort erlebte, sondern zugleich von der bedrohlichen Lage, in der sie sich befand, und von den Einfällen, die nötig waren, um der nationalsozialistischen Bürokratie auszuweichen. Es ist das Buch einer Überlebenden, die von ihrem Überleben so lakonisch wie dramatisch berichtet  : »Mir ist es gelungen, durch Mimikry der Schlachtung zu entgehen.« (Ebd., 6) Die Vorstellung vom »Dasein des Bösen als eine[r] Art Ursuppe« – wie Angelika Hurwicz formuliert – ist durch das geschilderte Geschehen belegt, Erstaunen weckt mehr ihr beharrliches Nachdenken über das »Gute«  : »Wie andere über die Existenz und Bedeutung des Bösen grübeln, so grüble ich unaufhörlich über das rätselhafte, unbegreifliche Dasein des Guten.« (Ebd., 81) Der Vorschlag, eine Lesung aus dem Buch »Die Nische des Insekts« zu veranstalten und damit an die verstorbene Angelika Hurwicz zu erinnern, wurde vom Burgtheater 1999 abgelehnt.42 Zehn Jahre zuvor war der kleine Band »Legenden des 20. Jahrhunderts« erschienen, in dem Angelika Hurwicz eine Reihe von parabelartigen Erzählungen miteinander verbunden hatte, bei denen es oftmals um die Entscheidung von 151

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einzelnen Menschen geht. Diese – es handelt sich um männliche Figuren – sind dann in eine Situation geraten, in der ihr Denken und Empfinden zur alleinigen Instanz geworden ist, die darüber entscheidet, wie sie sich in einem ethischen Konflikt verhalten, ob sie an dem Verbrechen mitwirken oder sich diesem entgegenstellen (Hurwicz 1989). Das erinnert an Brechts Exilstücke, in denen das Motiv der Entscheidung – meist bei Frauenfiguren – so stark in den Vordergrund gerückt ist. Es lässt sich darüber nachdenken, ob Brecht damit dem Zug zur Anpassung, der sich in seiner Epoche in aller Grauenhaftigkeit entfaltete, schreibend Widerstand leistete oder ob die entsprechenden Szenen bloß Illusionen über die Entscheidungsmöglichkeiten des Menschen und ein Gutes in der Welt erzeugen. Die Situationen und Figuren aber erhalten ihre unleugbare Wirkung, auch für die Skeptiker  : Die stumme Kattrin, die eine ganze Stadt, oder die Grusche, die ein Kind rettet. Jene Fotografien in den Fotobänden, die Angelika Hurwicz zeigen, wie sie diese Figuren spielt, mögen uns auch beim Lesen ihres anders gelagerten Legenden-Buches vor Augen treten, das nicht nur von den inneren Konflikten der zur Entscheidung Genötigten, sondern zugleich von den Folgen ihres Handelns erzählt, auch wenn es manchmal nur um die Wahl zwischen zwei schlechten Möglichkeiten geht und auch wenn sich nichts ändert. Das ist das große Thema dieser schnörkellosen Erzählerin, deren Leben und Werk nicht durch einige Zitate zu kennzeichnen wären. Am Schluss aber möge doch noch ein Zitat stehen, keine Legende, sondern eine persönliche Notiz, die mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zusammenhängt. Achim Benning hatte Angelika Hurwicz 1997 die Reproduktion einer jüdischen Neujahrskarte geschickt, auf der ein Fahrrad abgebildet war.43 Angelika Hurwicz antwortete ebenfalls mit einer Karte  : Welch ein hübscher Zufall, daß Sie mir ein Fahrrad aus dem jüd. Museum mit maseltov geschickt haben. Denn ich denke jetzt natürlich viel an Vergangenes. So fuhr ich nach Kriegsende von meinem Dorf nach Karlsbad auf dem Fahrrad, ohne es zu können, d.h., ich ließ mich die Berge hinabgleiten, zurück schob ich. Ich wollte einen PROP U SK von den Russen zur Rückkehr nach Berlin haben. Das glückte, ich sah so meinen ersten Russen, er stempelte, ohne hinzusehen. Was für Zeiten. Hier in Holland habe ich natürlich dann Fahrradfahren gelernt  : Aber nach Jahren vieler glücklicher Ausflüge bekam ich ohne Grund furchtbare Ängste, bildete mir ein, ich könne nicht absteigen. Es war eine richtige Neurose, wahrscheinlich ein Überlebenssyndrom, denn eine Tante von mir, die fanatisch gern Rad fuhr, ist in Auschwitz umgekommen. Ich bin noch nicht richtig los davon, aber kämpfe, steige jeden Tag, wenn auch nur kurz, aufs Rad.44 152

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Anmerkungen   1 Vgl. etwa allgemein oder auf das Theater bezogen  : Hausen 1976, Bovenschen 1979, Möhrmann 1989, Braun/Stephan 2009, Hochholdinger-Reiterer 2011.   2 Vgl. die vom Wien Museum 2012 in der Hermesvilla präsentierte Sonderausstellung von Portraits aus der Ehrengalerie des Burgtheaters  : »Burg Stars – 200 Jahre Theaterkult«.   3 Vgl. Fassung der Inszenierung am Volkstheater (Mitterer 2011a) sowie Endfassung des Autors (Mitterer 2011b). Der Autor selbst schrieb zum Auftrag  : »Hier geschieht etwas sehr Ungewöhnliches, noch nie da Gewesenes. Ein Theater ehrt eine Schauspielerin, die an diesem Haus viele Jahre lang tätig gewirkt hat, mit einem eigenen Theaterstück.« (Mitterer 2011/12, o. S.). Eine weitere posthume Ehrung von Dorothea Neff durch das Volkstheater erfolgte mit der Umwidmung des Karl-Skraup-Preises in den Dorothea-Neff-Preis, der erstmals 2011 verliehen wurde.   4 Die Figur der Dorothea Neff wurde von Andrea Eckert dargestellt, die Schauspielschülerin von ihr und Eva Zilcher war.   5 Vgl. Dorothea Neff im Volkstheater-Archiv, ZPH 1344, Archivbox 187, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung.   6 Dorothea Neff wurde dafür am 21. Februar 1980 die Ehrenurkunde des Yad Vashem verliehen. Die Verleihung fand auf ihren Wunsch hin im Akademietheater statt. Vgl. dazu die Rede von Achim Benning (Benning 2012, 85).   7 Zum Thema »Schauspielerinnen im Exil« vgl. Goetzinger/Hansen-Schaberg 2008  ; zur Thematik »Frauen im Exil« vgl. Bolbecher 2007.   8 Die auf Tonträgern festgehaltene Stimme der Helene Weigel vermochte noch lange nach ihrem Tod ein Publikum zu erreichen (Kaiser 2001). Ist ihre Wirkung nunmehr verebbt  ?   9 Vgl. z. B. das Gedicht »Beschreibung des Spiels der H. W.« (Brecht 1989ff., Bd. 14, 372). 10 Vgl. Äußerungen von Therese Giehse und Maria Becker in der TV-Dokumentation »Therese Giehse. Portrait einer Schauspielerin« (Sperr/Roth 1964, wieder gezeigt am 100. Geburtstag im Jahr 1998, 3 Sat). Zu Therese Giehse biografisch vgl. Schmidt 2008. 11 Vgl. Äußerung von Therese Giehse in der TV-Dokumentation »Therese Giehse. Portrait einer Schauspielerin«. 12 Vgl. Gespräch mit Therese Giehse (Theaterarbeit 1961, 335). 13 Vgl. Gespräch des Autors mit Hans und Thomas Viertel am 26. September 1993. 14 Vgl. den Abdruck des Fotos in  : Viertels Welt. Der Regisseur, Lyriker, Essayist Berthold Viertel. Katalog zur Ausstellung im Österreichischen Theatermuseum (= Aufrisse 1988, 49). 15 Einen sehr persönlich gehaltenen ausführlichen Beitrag, der zahlreiche Erinnerungen enthält, schrieb Hans-Dieter Roser (2012), der mit Hurwicz eng befreundet war. Hans-Dieter Roser leitete in der Direktionszeit von Achim Benning das Direktionsbüro des Burgtheaters und war zuletzt Künstlerischer Betriebsdirektor der Deutschen Staatsoper Berlin Unter den Linden. Ihm habe ich auch für ein längeres Gespräch über Angelika Hurwicz zu danken. Wesentliches über Angelika Hurwicz lässt sich weiters bei Cerny 2000 sowie Benning 2012 lesen. 16 Gespräch des Autors mit Hans-Dieter Roser am 23. März 2012. 17 Die Gründe hierfür sowie einiges über diese Direktions-Periode habe ich in meinem Beitrag »Erkundungen. Über Achim Benning« (in Benning 2012) darzustellen versucht. 18 Gespräch des Autors mit Hans-Dieter Roser am 23. März 2012 und mit Achim Benning am 24. März 2012.

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19 Die folgenden Auskünfte entstammen einem Gespräch, das ich mit Elisabeth Augustin am 16. April 2012 geführt habe. Elisabeth Augustin blieb die treibende Person dieser offenen Gruppe, im Gespräch nannte sie mir u. a. folgende Schauspielerinnen, die sie unterstützt hatten bzw. die regelmäßig zu Treffen gekommen waren  : Lotte Ledl, Hella Ferstl, Ulli Fessl, Sylvia Lukan, Lena Stolze, Gabriele Schuchter, Hilke Ruthner, Trude Ackermann, Heidi Baratta, Gusti Wolf, Brigitta Furgler, Elisabeth Orth, Maresa Hörbiger. Weiters erwähnte sie auch Berta Kammer vom Künstlerischen Betriebsbüro des Burgtheaters. Elisabeth Augustin führte Protokoll über die Gesprächsrunden, zu denen übrigens auch manchmal Männer eingeladen wurden (etwa Achim Benning oder der Regisseur Horst Zankl). Die Unterlagen sind derzeit im Burgtheater nicht auffindbar. 20 Vgl. die Matinée »100 Jahre ›Nora‹. Gedanken, Lieder, Szenen zur Situation der Frau, ausgewählt und dargestellt von Schauspielerinnen des Burgtheaters«, am 2. Dezember 1979. 21 Auf veränderter Basis tauchte das Thema in den Medien immer wieder auf. 1984 etwa schreibt Angelika Hurwicz in einem Brief an Hans-Dieter Roser, dass das »deutsche Fernsehen […] Aufnahmen« mit ihr »für eine Sendung über weibliche Regisseure« machen werde. (23. 3. 1984, Sammlung Hans-Dieter Roser). 22 Zu Gerda Goedhart, ihrem Leben, ihrer Arbeit, auch zu ihrem Exil vgl. Cerny 2000. 23 Weitere Anmerkungen Bertolt Brechts zur Schauspielerin Angelika Hurwicz vgl. etwa in  : Brecht 1989ff., Bd. 23 u. 24. 24 Dass der Begriff des »Gestus« für Angelika Hurwitz auch bei ihrer Arbeit mit den Schauspielern und Schauspielerinnen am Burgtheater relevant blieb, hat Elisabeth Augustin hervorgehoben (vgl. Gespräch vom 16. April 2012). 25 Die Programmhefte des Burgtheaters sind in der Wienbibliothek im Rathaus zugänglich. 26 Etwa Hannover, Wuppertal, Köln. 1973/74 war sie Direktoriumsmitglied der Kölner Bühnen. Auf Einladung von Jonathan Miller, der ihre Inszenierung am Akademietheater gesehen hatte, inszenierte Angelika Hurwicz 1988 in London am Old Vic den »Hofmeister« (»The Tutor«) von Brecht/Lenz. 27 Vom Gefühl des Aufbruchs nach 1945 zeugt – in Bezug auf das Theater – ein Artikel von Angelika Hurwicz (Start 1946). Aus einem kurzen Brief an Hans-Dieter Roser, den Angelika Hurwicz kurz vor ihrem Tod geschrieben hat, werden nebenher nochmals einige Personen des Theaters genannt, die für sie von Bedeutung geblieben sind. In dem Schreiben kommentiert sie ein »Interview mit den neuen Schaubühne-Herren«, das sie in der »Zeit« gelesen hatte  : »Nur Adorno- und Habermas-Sprache, so haben unsere Herren schon vor 25 Jahren (so lange ist es schon her) im Kölner Direktorium geredet«  ; sie kritisiert die Absage an die Verbalisierung von »Utopie« und resümiert  : »Armer Brecht, armer Gerhart Hauptmann. Armer Otto Brahm, Piscator«. (Brief vom 25. April 1999). 28 In dessen Inszenierung von »Mutter Courage und ihre Kinder« 1986 am Burgtheater Angelika Hurwicz als Bäuerin auftrat. 29 Vgl. dazu die Sammlung von Kritiken zu den Inszenierungen im Archiv des Burgtheaters. 30 Die Regie der Uraufführung des Stückes »Die Versuchung« von Václav Havel (1986) legte Angelika Hurwicz während der Proben zurück. 31 Vgl. Volksstimme, 22. Jänner 1980 (Archiv des Burgtheaters). 32 Vgl. ausführlicher zur Theaterarbeit Brechts auch Hurwicz 1964. 33 Der behauptete Gegensatz zwischen »kaltem« und »warmem« Schauspieler (der nicht immer mit dem Konstrukt Stanislawski versus Brecht zusammenfallen musste) hat sich übrigens hartnäckig

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über viele Jahrzehnte erhalten und wirkte auf andere Weise noch nach 1989 in der Vorstellung von »kalten« »Ost«-SchauspierInnen und »warmen« »West«-SchauspielerInnen weiter. Zur Geschichte und Kritik dieser angenommenen Polarität vgl. Klöck 2008. 34 Brief von Angelika Hurwicz an Achim Benning, 1. April 1985 (Sammlung Achim Benning). 35 »Angelika Hurwicz, Die Frau vom Meer«. Masch.-schriftl. Manuskript, S. 2. Die undatierte siebenseitige Konzeption war einem Brief an Achim Benning vom 7. September 1984 beigelegt (Sammlung Achim Benning). Es handelt sich um einen Durchschlag, woraus sich schließen lässt, dass die Konzeption bereits früher entstanden ist. 36 Vgl. Angelika Hurwicz, Die Frau vom Meer (Konzeption), S. 2. 37 Angelika Hurwicz, Die Frau vom Meer (Konzeption), S. 5. 38 Gespräch des Autors mit Achim Benning am 24. März 2012. Zu den Fassungen vgl. etwa die Soufflierbücher zu »Tabula Rasa«, »Das Fossil«, »Der Hofmeister«, »Professor Bernhardi« (Archiv des Burgtheaters). Zur Inszenierung der »Frau vom Meer« fanden sich keine Unterlagen im Archiv. 39 Vgl. Brief von Angelika Hurwicz an Achim Benning, 7. September 1984 (Sammlung Achim Benning). 40 Die Inszenierung wurde vom ORF aufgezeichnet. 41 Marcel Reich-Ranicki berichtet in seiner Autobiografie über die Begegnung mit Angelika Hurwicz Ende der 1930er-Jahre  : »Wir wussten beide, dass unsere Pläne weltfremd waren, dass es sich um absurde Träumereien handelte. Wir lebten ja mitten im ›Dritten Reich‹, wo Juden nicht studieren durften und überhaupt keine beruflichen Chancen hatten. Aber schwärmen und phantasieren konnten wir sehr wohl  : Sie sprach von den Rollen, die sie spielen, ich von den Dichtern, über die ich schreiben wollte.« (Reich-Ranicki 2012, 149) 1952 trafen die beiden einander wieder. 42 Direktor des Burgtheaters war Klaus Bachler. Vgl. Gespräche des Autors mit Hans-Dieter Roser am 23. März 2012, mit Achim Benning am 24. März 2012 und mit Isabella Suppanz am 4. Juni 2012. 43 Die Reproduktion der um 1900 hergestellten Karte stammte aus dem Braunschweigischen Landesmuseum, Abteilung Jüdisches Museum (Ähnliche Karten in der Sammlung Achim Benning). 44 Vgl. Ansichtkarte von Angelika Hurwicz an Achim Benning, 14. 1. 1997 (Sammlung Achim Benning).

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Bildnachweis Abb. 1  : Abb. 2  : Abb. 3  : Abb. 4  :

© Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus. Box  : Volkstheater Bertolt-Brecht-Archiv, Akademie der Künste, Berlin. © Suhrkamp Verlag Bertolt-Brecht-Archiv, Akademie der Künste, Berlin © Barbara Brecht-Schall © Achim Benning

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Krassimira Kruschkova

Zwischen Intention und Intension Über die installative Performance »the fault lines« von Philipp Gehmacher, Vladimir Miller und Meg Stuart Als könnten Intention und Intension einander augenblicklich ausschließen, ausschalten. Als würde die zeitgenössische Tanz- und Performanceszene immer wieder fragen, woher die Oppositionen rational/intuitiv, konzeptuell/emotional, intentional/energetisch, minimalistisch/affektiv etc. kommen, indem sie diese Oppositionen erneut aufgibt, indem sie ihnen auf den Grund geht. Statt Affekte bloß zu rehabilitieren oder Emotionen Konzepten entgegenzusetzen bzw. Intuitionen Intentionen entgegenzuhalten, versucht diese Szene das immer schon emotive Gefüge des Performativen gerade im Zug des Minimalen auseinanderzunehmen und neu zusammenzufügen. Sie versucht, die unlesbaren Figurationen des Gefühls zu defigurieren, seine allzu blinden Konstruktionen zu dekonstruieren – und im Wissen um seine referenzielle Unentscheidbarkeit auszuharren. Die Frage nach dem Potenzial der Spannung zwischen Intention und Intension setzt sich auch mit der Hauptregel des Szenischen auseinander – mit der Sichtbarkeit. Dieses Hinterfragen der Voraussetzungen eines Mediums ist auch politisch zu denken – gegen die Ideologie des Sentiments nämlich, gegen die Parolen einer positivistischen Auffassung, die die Evidenz des Sichtbaren postuliert. Die szenische Emotion verbleibt dagegen im Zittern, im Oszillieren des Potenziellen – nicht aktualisiert, nicht präsent, sondern in markierter Absenz, in den fault lines, in den Verwerfungslinien des Performativen. In der Atemnot, in der stillstehenden Unruhe des Anfangs von Meg Stuarts, Philipp Gehmachers und Vladimir Millers installativer Performance »the fault lines« wird etwas vorweggenommen und zugleich zurückgenommen – etwas, was gewesen sein wird. Fault lines  : Etwas wird da geschehen sein und die tektonischen Risse zwischen den Körpern, zwischen den Medien werden es – gerade in ihrer paradoxen Leere – rekonstruieren, erinnern. Anfangs flirrt bereits ein Dispositiv des Gewesenen, das auch ganz anders gewesen sein könnte, gewesen sein wird. Eine Szene im Zeichen des Abschieds, die in die merkwürdig melancholische Unruhe von technical challenges – choreographischen und medialen – übergehen wird. Gleißendes Aufleuchten der Neonröhren am Boden, die paradox eine 159

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Art Rampe für den white cube markieren und zugleich die Szene in Laborlicht eintauchen lassen. Keine black box, ein Ausstellungsraum als Ort dieser installativen Performance.1 Eine Tanzperformance, die in eine Art Video-Installation übergeht, die allerdings frontal zum Publikum passiert. So gibt es auch den Vorhang, der allerdings nicht als Trennung zwischen Bühne und Auditorium, sondern der linken weißen Wand des Bühnenraums entlang gespannt ist – ein Vorhang, hinter dem eine Wand ist, sonst nichts. Und auch hinter den performativen Gesten wird womöglich nichts stehen, sie werden für nichts stehen – und immer mehr Nichts enthüllen, sehnsüchtig unbeteiligt, womöglich. Wir hören das Atmen des Raums, das Flüstern der Soundinstallation von Vincent Malstaf, die später in die stotternde Akustik von einem Filmsoundtrack übergehen wird. Wir sehen Philipp Gehmacher, Meg Stuart und den Videokünstler Vladimir Miller (auch bereits on stage), alle zunächst unbewegt, weit voneinander entfernt. Ausgesetzt. Und ausgestellt. Ausgestellt auch das Projektionsequipment, der goldene Beamer, die goldenen Kabel. Die tektonischen Risse. Dann werden Meg Stuart und Philipp Gehmacher einander nicht in die Arme fallen, vielmehr übereinander herfallen, in kämpfender Umarmung, heftig, wiederholt, in zerstreuter Entschlossenheit – und es wird sich doch flüchtig eine unentscheidbare Zärtlichkeit, eine inaktive Anteilnahme einstellen. Bereits im Zeichen der Trennung, im Begriff des Abschieds werden sich die Performer, der Mann und die Frau, für verschwindend kurze Momente einander zuwenden, um sich sogleich voneinander abzuwenden. Die Bewegungen werden im still verharren, im Bild, doch nicht als Bild. Idiosynkratisch. Eine vereitelte Verausgabung, die in keinem Akt zu aktualisieren ist. Eine Bewegung, die lieber keine sein will, die prefers not to. Entrückte Berührungen an den Rändern der Gewalt, heftig, haltlos und zugleich beiläufig, selbstvergessen. Amnesie der Gesten, Kontingenz der Berührung. Die beiden werden später für längere Zeit auf dem Boden liegen bleiben, als könnten sie einschlafen, und Vladimir Millers Zeichnungen direkt auf der Projektionsfläche, die die beiden im still verharrenden Körper virtuell doublieren, werden sie auch nicht wecken, nur ihre Bilder streicheln. Diese Zeichnungen werden die stattgefundenen Bewegungen nicht nachzeichnen, nicht fortsetzen, vielmehr werden sie nur geträumte Berührungen weiter imaginieren  : Als wären sie kleine Wirbelwinde und Flammenzungen, Wucherungen in all der Kontingenz von Liebkosungen oder Landschaftsstrukturen, notieren diese Zeichnungen die fault lines der Berührungen zwischen chaotischen Strukturen, ihre kontingenten, vielleicht vorläufigen und nicht nachträglichen Spuren – als, so Giorgio Agambens »Bartleby o della contingenza«, »Erinnerung an das, was 160

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nicht war«. Meg Stuart wird sich kurz auf dem Boden umdrehen, schief lächeln, fast unmerklich, vom Stift des Videokünstlers gekitzelt – nicht sie, ihr Bild. Vladimir Miller wird später den Raum durchblättern, indem er leicht die Position der Projektion so ändert, dass er den Live-Körper der Performerin virtuell mitnimmt und ins Zweidimensionale wendet. Die paradoxe, zitternde Flächigkeit der Live-Körper, die anfangs so intensiv einander zu verfehlen scheinen, indem sie real aufeinanderstoßen, wird von der medialen Manipulation immer mehr auseinander gesetzt, seziert. Die Projektionen der live einander nahe positionierten Figuren werden virtuell getrennt – als artikulierte das mediale Geschehen etwas, was das Live-Geschehen gar nicht zu formulieren vermag, auch wenn es nur live stattfinden kann  : It takes place when it doesn’t. Wie die Berührung. Zwischen den Körpern, zwischen den Körpern und ihren Bildern, zwischen den singulären Körperoberflächen und deren pluralen Projektionsflächen. Jean-Luc Nancy schreibt in »Singulär plural sein«  : Das Gesetz des Berührens ist Trennung, und mehr noch, es ist die Heterogenität der Oberflächen, die sich berühren […] insofern die eigentliche Kraft eines Körpers in dessen Eigenschaft besteht, einen anderen Körper zu berühren (oder sich zu berühren), was nichts anderes ist als seine De-Finition als Körper. (Nancy 2004, 25)

So wird Vladimir Millers mediale De-Finition, Entfinalisierung der Körper, seine Artikulation, mediale Berührung des Live-Geschehens – gerade in der Heterogenität dieser Berührung differenter Darstellungs- und Projektionsflächen – nicht illustrativ sein, sondern erstaunlich illusive, in aller Offenheit und Offenbarung der Illusion, die sich ihrem eigenen techné aussetzt und erst so, buchstäblich potenziell, das Reale ins Mögliche wendet. Wörtlich ausgestellte, sichtbar gemachte Illusion und trotzdem oder vielmehr gerade deshalb magisch. Der Videokünstler, der on stage seine Apparatur performt, wird zum Teil seines Apparatus. Der exponierte Weg der Bilder und der elektronischen Impulse durch die goldenen Kabel wird paradox zwischen Illusion und Desillusion oszillieren, an- und abwesend zugleich, sichtbar illusive  : Reale Virtualität statt virtueller Realität. Das Flirren der Projektionen wird die projizierten Live-Körper (und nicht nur ihre Projektionen) erzittern lassen. Vergleichbar anders in Meg Stuarts »Alibi« (2001) und »Visitors Only« (2003)  : Kurze Erinnerung, so etwas wie fault lines zwischen den Arbeiten  : Meg Stuarts »Visitors Only« fängt mit dem Vibrieren der Körper an, mit dem ihre vorige Arbeit »Alibi« geendet hat. Diesmal sind es in durchsichtige Regenmäntel ge161

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kleidete Körper, deren langes Zittern die Sichtbarkeit der Szene erschüttert. Wie rieselnde, vibrierende Regentropfen falten die Körper in transparenten Mänteln die Transparenz der Sicht. Der virtuelle Regenschleier versetzt die szenische Luft in einen anderen Aggregatzustand. Intension statt Intention. Die zitternde Choreographie lässt den Raum vibrieren und sich falten  : reale Bewegung, die den realen Raum allerdings virtualisiert. Und wenn die vibrierenden Körper gegen Ende der Szene hin und wieder auf der Stelle springen, als rückfedernde Kugelschreiberminen, ist das so, als reiße die gestische Spannung dieser Sequenz kritisch der Choreographie das Schreibzeug aus der Hand. Kritisches Optionieren statt klinisches Repräsentieren auch in »the fault lines« – sei es mit einem ganz anderen medialen Einsatz, einer Art virtueller Regenbogen nach dem virtuellen Regenschleier. Eine Choreographie in Kursiv statt in Fett – als zitierte sie nur den tanzenden Körper, dessen Kontur wie gesträubte Haut, wie Gänsehaut sich gegen jede Präsenz sträubt, als wären die Körper nur zitternde Zitate ihrer selbst, in Gänsefüßchen gesetzt, als wären sie nicht da. Dies ist die starke gegenseitige, gegenläufige Affinität zwischen den Choreographien von Meg Stuart und Philipp Gehmacher, dem Autor von »in the absence« (2003), »mountains are mountains« (2003), »incubator« (2004), »like there’s no tomorrow« (2007), um nur einige seiner Arbeiten zu nennen. Was sucht die Choreographie dieser beiden der spannendsten Persönlichkeiten des zeitgenössischen Tanzes so leidenschaftlich darzustellen, indem sie sich längst schon der Undarstellbarkeit von Leidenschaften konzeptuell verschrieben hat  ? Was erschüttert, was lässt die Körper auf der Bühne so erzittern – auf der Suche nach einem Alibi für die eigene Bewegung, für das eigene Bewegtsein, nach dem Begreifen der eigenen Ergriffenheit  ? Was berührt sie noch, indem sich jeder feste Grund dafür ihren Füßsen entzieht, als schwebten sie – wie am Ende von »Visitors only« – über einen Abgrund  ? »There is no falling in love, no falling out of love«, heißt es in Meg Stuarts und Benoit Lachambres »Forgeries, love and other matters« (2004). Die Verwerfungslinien des Fehlens, Verfehlens, Fallens  : failing/falling, falling in love, falling out of love. »There is no dance in this place, there is no reason to stay in this place«, heißt es in »Forgeries, love and other matters«. Und das Stück endet doch mit den Worten  : »I’m staying here forever.« »Maybe forever« nennen Meg Stuart und Philipp Gehmacher ihre erste, 2007 entstandene, gemeinsame Performance, die sie 2010 in »the fault lines« fortsetzen – um weitere konfuse Verwerfungslinien und Linien der Verwerfung, der fehleranfälligen, vermessenden, vermessenen, vermissten linearen Berührung des Anderen zu ziehen. 162

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Gemeinsame künstlerische Recherche darüber auch zwischen dem Videokünstler Vladimir Miller und dem Choreographen Philipp Gehmacher  : in den choreographischen Videoinstallationen »dead reckoning« (2009), »at arm’s length« (2010) und dem Gruppenstück »in their name« (2010). Choreographie und Videoinstallation, Körper und Bilder gehen hier aneinander entlang – sie stürzen ineinander, tauchen ineinander, sie tauchen ein und unter. Was nicht nur die Live-Figuren, sondern auch die verschiedenen Projektionsflächen zu trennen scheint, verbindet sie – wenn sie überhaupt etwas verbinden könnte. Körper und ihre Geschichten, von sich selbst abgelegt, die aber auch nicht anderswo sind, die am Rand ihres Spiegelbildes verweilen, ohne das Glas zu zerbrechen. »Man gelangt an eine Grenze, nicht indem man sie durchquert, sondern indem man sie berührt«, schreibt Jean-Luc Nancy in »Corpus« (2003, 17). Fault lines  : Körper, die die Grenze zueinander berühren, ohne sie zu durchqueren, die diese Grenze sind. Ausgesetzte Körper, der Berührung ausgesetzt, in all ihrer Unermesslichkeit, Unberechenbarkeit – und Verletzbarkeit. Als wären sie ein Phantomschmerz, ein schmerzendes Nichts, ganz dem Anderen ausgesetzt. In einer Berührung als Zuwendung und Abstand zum Anderen. Denn es gilt, »die Unmittelbarkeit und Ununterbrochenheit der Berührung zu unterbrechen«, so Jacques Derrida in seinem Buch »Le toucher  : Jean-Luc Nancy« (2002, 137). Diese Chance der stets möglichen Unterbrechung, der unterbrochenen Unmittelbarkeit in all der haltlosen Melancholie jeder Geste in »the fault lines«, diese Chance, die die Szene mit der Optik des Optionalen, des Offenen versieht. Die Kamera schärft das Auge fürs Live-Geschehen, für die unsichtbaren Distanzen innerhalb der Live-Berührungen. Doubles, Spiegelungen, Oberflächen, Schichten. Körper, die aus sich selbst ausgezogen sind, Körper im Entzug, die zugleich sich selbst zitieren, in Kursiv setzen, jede Geste sträubt sich gegen sich selbst – und geht in die pixelartige Gänsehaut der Projektionen von Vladimir Miller über. Mediale Wiederholungen, die erst die Live-Körper in ihre reale Virtualität wieder holen. Stills, die die choreographische und mediale Bewegung stets durchsetzen. Was bleibt, ist das Nie-Gezeigte, der performative Rest der Absenz, die performative und mediale Geste des Unzustellbaren. Gesten, die zugleich zu groß und zu klein sind, die den Rest des Unausdrückbaren markieren, die sich nur verhalten verhalten – wenn überhaupt. Der reservierte Gestus von Pathos und Melancholie, so typisch für die Choreographie von Philipp Gehmacher, verhandelt hier in höchster ästhetischer Strenge das Inkommensurable des Anderen. Das Zuviel/Zuwenig der szenischen Gesten als Rest. The rest is silent. Und die melancholische Selbstvergessenheit dieser Gesten, die den Ausnahmezustand des Tanzes beschwören, exstatisch reg163

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los oder stotternd beredet, existenziell und verausgabend. Gesten, so klein, dass sie ihre Abwesenheit berühren, als wären sie noch gar nicht da. Gesten, so groß, dass sie reißen. Fault lines. Die Körper von Meg Stuart und Philipp Gehmacher werden einander und sich selbst verlassen – während der Berührung. Was verweilen wird, werden ihre Konturen gewesen sein. Auch nachdem sich die beiden kämpfenden/sich umarmenden Körper voneinander trennen, wird einer in der unterbrochenen Geste der Berührung verharren. Eine Umarmung mit leeren Händen. Und Meg Stuart wird nicht so sehr ihren Partner streicheln, vielmehr die Konturen seines Körpers nachzeichnen – eine Linie entlang seines Körpers, fast als wäre es ein zärtliches Konturieren eines toten Körpers am Tatort. Nicht zufällig diese Geste auch in »Maybe forever«. Die Choreographie als Epitaph, als Berühren des Flüchtigen. Irgendwann in »the fault lines« wird wiederum ER ihre Leiche, ihren unbewegten Körper vor sich hinschieben. Und nochmals wird SIE seine Konturen streicheln, ihre Grenze zu ihm berühren, nicht so sehr den Körper, vielmehr die Berührung ausschneiden. Auch die Gucklochprojektion, mit der Vladimir Miller die nun wieder unbewegten beiden Körper sanft spionieren, abtasten wird, schneidet – ganz anders – die Live-Körper oder vielmehr die Distanz ihrer Berührungen aus, um sie zu fokussieren  : Allerdings als punctum, als Überblenden eines Unsichtbaren, im Sinne von Roland Barthes punctum (vgl. Barthes 1989, 106) der Photographie, des unberechenbar unterbrechenden und zugleich schmerzenden Punktierens des Flüchtigen, das den wörtlichen Entzug des Bildlichen aufzeichnet, als eine Art blind spot im Auge des Hurrikans. In »Die Tode von Roland Barthes« präzisiert wiederum Jacques Derrida den punctum des Vergänglichen, aus Anlass von Barthes’ Tod eben, als die »sichtbar gemachte Unabgeschlossenheit«, die »punktierte, aber offene Unterbrechung« (1987, 7f.). Nochmals die Unterbrechung, statt narrativer plots narrative spots  : Das Guckloch der Projektion, ihre spot lights punktieren virtuell das Live-Geschehen. Die virtuelle Berührung des Realen punktiert, isoliert, fokussiert, unterbricht, schmerzt es. Auch sie – eine Berührung im Modus I prefer not to. Wie die performative Heftigkeit anfangs, als die beiden Performer einander berühren, um sich zu trennen – ihren gegenläufigen Bruchlinien entlang. Als sie aufeinander losgehen, um voneinander loszulassen, abzulassen, als sie aufeinander zugehen, um auseinander zu gehen. Körper, die auseinandergehen. Sie wenden sich einander zu, um sich voneinander abzuwenden. Die Live-Berührung wütet, geht die Wände hoch, wird an die Wand gespielt. Eine wörtlich brutal und schmerzlich sich an die Wand werfende Berührung der beiden Körper anfangs, die ihre Umarmung intensiv scheitern lassen – und später auch ihre Projektion an die Wand werfen. Eine Projektion, die die Live-Figuren 164

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vibrierend übermalt. Die Folie, die Vladimir Miller vor dem Projektor hält, als Vorhang vor der Projektion, bringt die projizierten Körper zum Schimmern, lässt sie ins Virtuelle eintauchen. Der Regenbogen der Bewegungen, die ineinander übergehen, wird virtuell vom lyrischen Regenbogen glitzernder Farben doubliert, die Miller an die Wand werfen wird, während der Filmsoundtrack etwas dramatischer wird. Wie in einem Gedicht von Friederike Mayröcker, wie ein Tropfen Himmel wird sich die Berührung zum Anderen niederwölben – ohne ihn anzutasten. Und immer kurz bevor sich die miteinander, aneinander wütenden Körper gegen die Wand schmeißen, wird sein Körper den Stoß ihres Körpers abfedern. Er wird sie schützen. Zu sehr  ? Vladimir Millers making of der Performance. Und immer wieder wird einer im Arm des Anderen liegen. Unberührt. Gegen Ende werden Philipp Gehmacher und Meg Stuart vor dem Vorhang an der weißen Wand, hinter dem nichts als Wand ist, auf dem Boden nebeneinander sitzen und große Kreise mit den Armen um sich zeichnen. Zwei Umarmungen ohne Umarmtes, gezeichnete Umarmungen, zwei Kreise, die einander schneiden. Die leere Schnittmenge der Umarmung. Die Arme sind verschränkt, doch in einer frontalen Zeichnung einer nie stattgefundenen Umarmung. Eine Verschränkung von zwei Semaphoren, zwei Winksignalen, zwei Uhrwerken, die ganz eigen ticken, statt zu signalisieren. Vladimir Miller wird die Glitzerfolie über die Projektion dieses Bildes ziehen, die Figuren pixelartig schimmern lassen, sie dadurch ganz woandershin versetzen, unheimlich die pointillistische Distanz zwischen den beiden vergrößern. Und nochmals wird er virtuell nur die Projektion von Meg Stuart isolieren, die nun – entpixelt – eine Parallelwelt zu bewohnen scheinen wird. Der unterbrechende, schmerzende, unsichtbare punctum der Berührung im Bild des Finales, die Parallelwelten der Berührung werden innehalten – in einer geradezu transzendentalen Sehnsucht. Philipp Gehmacher wird seine long arms, seine singuläre Geste jener Gespanntheit nach außen inzwischen zitiert haben. In die Choreographie – als eine punktuelle Temporisation und Verräumlichung von Berührungen – schreibt sich vielmehr das Unberührbare ein. Das Unberührbare in Figuren des Berührens, Figuren ohne Gestalt. Choreographie als Technik der Grenzen. Und die Grenzen als Figuren des Berührens. Wo die Choreographie die szenischen Körper und Blicke mit ihrem Takt- und Tastsinn spaltet, wird kein Körper und kein Blick mehr intakt gewesen sein. Im Spalt dieses versehrten und sehnsüchtigen Sehens und Tastens tritt das Haptische mit dem Optischen in Kontakt, kontaminiert es, ohne dass beide jemals eines werden. Das Berührende einer szenischen Berührung wird ihr Potenzial, ihre starke Schwäche gewesen sein, zu berühren, ohne zu berühren, ohne Limits zu überschreiten, 165

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ohne Oberflächen zu vermischen, vielmehr die Grenzen berührend, tangierend, tangential, kontingent  : in all der Kontingenz eines Kontakts, der sich ereignet, zufällt, zuteil wird – erst in der Teilung, erst im Nicht-Intakten der taktilen Erfahrung, die keine unversehrten Subjekte betrifft, die keine Unmittelbarkeit als gegeben hinnimmt, die ästhetisch, ethisch, politisch dem »Berühren« die Anführungszeichen öffnet und schließt – als wären sie Wimpern eines immer distanzierten, unterbrochenen Blicks. Keine Unmittelbarkeit, Ununterbrochenheit, Kontinuität, Symmetrie. Die Technik des Berührens betrifft vielmehr die Zäsuren, die Synkopen, die fault lines. Als wäre unsere Welt auf fault lines aufgebaut, auf Verwerfungslinien, auf diesen unterirdischen Rissen und Spalten in tiefen Gesteinsschichten, die verantwortlich sein sollen für unsere Aggressionen und Depressionen, für unsere heftigen stills und zärtlichen Distanzen. Fault lines – vielleicht jene Bruchlinien, Störzonen, Linien des Verworfenen, an denen wir stets verweilen, haltlos und verhalten, in unserer gegenseitigen, gegenläufigen Sehnsucht, die Linien, an denen wir einander – erst in unserer Inkonsistenz, Gebrochenheit – berühren könnten. Als könnten Intention und Intension einander augenblicklich kurzschließen.

Anmerkung 1 Die Tanzquartier-Wien-Aufführung fand am 4. und 5. Januar 2011 im MUMOK statt.

Literatur Roland Barthes (1989), Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M. Jacques Derrida (1987), Die Tode von Roland Barthes. Berlin Jacques Derrida (2002), Le toucher  : Jean-Luc Nancy. Paris Jean-Luc Nancy (2003), Corpus. Berlin Jean-Luc Nancy (2004), Singulär plural sein. Berlin

Link http  ://www.philippgehmacher.net

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AutorInnen und Herausgeberinnen Marie-Agnes Dittrich, o. Univ.-Prof.in Dr.in, Studium der Geschichte sowie der

Historischen und Systematischen Musikwissenschaft an der Universität Hamburg, Promotion mit einer Arbeit über Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern. 1983–1993 Dozentin für Musikwissenschaft und Musiktheorie am Hamburger Konservatorium. Seit 1993 o. Prof.in für Formenlehre/Formanalyse an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Einige Jahre in einem Studienprogramm US-amerikanischer Studierender in Wien tätig. Publikationen über die Musik Norddeutschlands, Schubert, Mozart, Fragen der musikalischen Analyse  ; Publikationsschwerpunkt  : Vermittlung musikalischer Sachverhalte in leicht verdaulicher Form, z. B. im Mozart- und im SchubertHandbuch (Bärenreiter) oder in zwei Büchlein der Reihe »Bärenreiter Basiswissen«. Näheres unter http  ://www.erg.at/iatgm/iatgm-dittrich.shtml Andrea Ellmeier, Mag.a Dr.in, Historikerin, Koordinatorin für Frauenförderung

und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), zuvor Koordinatorin der Plattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck, Lehrbeauftragte. Forschungsinteressen  : gegenderte Konsumgeschichte, Geschlechterdemokratie und Sprache, Arbeitsverhältnisse in Kunst und Kultur. Publikationen  : Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film (mdw Gender Wissen Bd. 3), Wien 2012 (hg. mit Doris Ingrisch und Claudia Walkensteiner-Preschl)  ; »mdw goes gender. Koordinationsstelle für Frauenförderung und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw)«, in  : Sarah Chaker, Ann-Kathrin Erdélyi (Hg.), Frauen hör- und sichtbar machen – 20 Jahre »Frau und Musik« an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Wien 2010, 131–138  ; »›Wie im ganz normalen Leben auch  !‹ Gleichbehandlung in Kunst und Kultur  ?«, in  : Erna Appelt (Hg.), Gleichstellungspolitik in Österreich, Wien/Innsbruck 2009, 91–103. Näheres unter http  ://www.mdw.ac.at/gender Simone Heilgendorff, Univ.-Prof. in Dr.in, Musikwissenschaftlerin und Brat-

schistin. Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Psychologie (Dr. phil. 167

AutorInnen und Herausgeberinnen

1999, Humboldt Universität zu Berlin) sowie der Viola (Master of Music 1991, University of Michigan Ann Arbor/USA) in Freiburg i. Br. (D), Zürich (CH), Ann Arbor (USA) und in Berlin (D). 2007 bis 2013 Universitätsprofessorin für Angewandte Musikwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt am Wörthersee (A), dort Leitung der Abteilung Musikwissenschaft und des von ihr entwickelten Studiengangs »Angewandte Musikwissenschaft« (BA, MA). Bratschistin des auf Neue Musik spezialisierten Kairos Quartetts (Streichquartett, Berlin). Mitglied des wissenschaftlich-künstlerischen Beirats der John-CageOrgelstiftung (Halberstadt) und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Österreichischen Musikzeitschrift (ÖZM). Arbeitsschwerpunkte in der Neuen und der barocken Musik, zu kulturellen und kulturpsychologischen Kontexten von Musik, zur Americana um John Cage, zur musikalischen Analyse sowie der musikalischen Aufführungspraxis bzw. Interpretationskultur. Neuere Publikationen  : »Neue Musik als populäre Kultur  ? Zur Interaktion zweier Sphären am Beispiel von John Cage«, in  : Ereignis und Exegese – Musikalische Interpretation  ; Interpretation der Musik, hg. v. Camilla Bork, Tobias Robert Klein, Burkhard Meischein u. a., Schliengen 2011, 708–720  ; »Glossolalic Voices. Political Ethos, Self-Awareness, and Play in Dieter Schnebel’s Experimental Compositions of the 1960s and ’70s«, in  : http  ://searchnewmusic.org, Ausgabe Winter 2009/10  ; Näheres unter http  ://www.simone.heilgendorff.info Doris Ingrisch, Univ.-Prof.in Dr.in, Professorin für Gender Studies am Institut für

Kulturmanagement und Kulturwissenschaft (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte  : Cultural sowie Gender Studies, Wissenschaftsgeschichte, Exil-/Emigrationsforschung sowie Qualitative Methoden. Veröffentlichungen u. a.  : Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film (mdw Gender Wissen Bd. 3), Wien 2012 (hg. mit Andrea Ellmeier und Claudia Walkensteiner-Preschl)  ; Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne. Künstlerische Lebens- und Arbeitsformen als Inspirationen für ein neues Denken, Bielefeld 2012 sowie Wissenschaft, Kunst und Gender. Denkräume in Bewegung, Bielefeld 2012. Näheres http  ://www.mdw.ac.at/ikm/  ?PageId=2998 Heike Klippel, Dr.in phil., Professorin für Filmwissenschaft an der Hochschule

für Bildende Künste Braunschweig. Mitherausgeberin von »Frauen und Film«. Derzeitiges Forschungsprojekt  : »Das Giftmotiv im Film«. 168

AutorInnen und Herausgeberinnen

Veröffentlichungen zu Themen feministischer Filmtheorie, Zeit, Film und Alltag, u. a.  : »The Art of Programming« – Film, Programm und Kontext (Hg.), Münster 2008  ; zuletzt  : Zeit ohne Ende. Essays über Zeit, Frauen und Kino, Frankfurt a.M. 2009. Kontakt  : [email protected] Krassimira Kruschkova, Dr.in habil., Professorin für Theater- und Performance-

theorie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Seit 2003 Leiterin des Theorie- und Medienzentrums/Tanzquartier Wien  ; 2002 Habilitation an der Universität Wien. Gastprofessuren am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien und am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Publikationen (Auswahl)  : Tanz anderswo. Intra- und intermedial (mit Nele Lipp) 2004  ; Ob  ?scene  : Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film (Hg.), 2005  ; It takes place when it doesn’t. On dance and performance since 1989 (mit Martina Hochmuth, Georg Schöllhammer), 2006  ; Dies ist kein Spiel. Spieltheorien im Kontext der zeitgenössischen Kunst und Ästhetik (mit Arno Böhler), 2009  ; Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft/Uncalled. Dance and performance of the future (mit Sigrid Gareis), 2009. Kontakt  : [email protected] Helene Maimann, Dr.in, Historikerin, Autorin und Filmemacherin, unterrichtet

an der Filmakademie der Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw). Sie entwickelte in Österreich das Berufsfeld der angewandten Geschichte für alle Medien  : Publikation, Ausstellung, Radio, Dokumentarfilm, und arbeitet in allen diesen Branchen der Vermittlung von Wissen an die Öffentlichkeit. Sie unterrichtete von 1980 bis 1994 an den Universitäten Wien und Salzburg, schrieb Bücher, Essays und Zeitungsartikel, kuratierte mehrere große Ausstellungen zur österreichischen Zeitgeschichte, arbeitete ab 1991 als Redakteurin für den ORF und war dort bis 2007 für mehrere Dokumentarfilm-Leisten verantwortlich. Schwerpunkt ihrer Filme, Bücher und Texte sind methodologische und biografische Themen, Exil und Überleben, Mentalitätsgeschichte sowie jüdische Identitäten. 2011/12 entstanden die TV-Filme »Bruno Kreisky. Politik und Leidenschaft«  ; »Massel und Schlamassel. Über den jüdischen Witz«  ; »Die Zeit, die uns bleibt« und »Arik Brauer. Eine Jugend in Wien«. Kontakt  : [email protected] Peter Roessler, Univ.-Prof. Dr.  ; Studium in Wien und Berlin (Theaterwissen-

schaft, Germanistik, Philosophie und Geschichte). Professur für Dramaturgie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), Max Reinhardt 169

AutorInnen und Herausgeberinnen

Seminar. Redakteur von Zeitschriften  ; Ausstellungen, Symposien, zahlreiche Vorträge  ; Vorstandsmitglied der Theodor Kramer Gesellschaft, Mitglied des Beirates der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung. Publikationen  : Beiträge zu Dramaturgie, Regie- und Schauspielkunst, Exil- und Nachkriegstheater, Theaterpublizistik, Rückkehr, Fragen des zeitgenössischen Theaters, Film. Aufsätze u. a. zu Paul Kalbeck, Berthold Viertel, Robert Musil, Alfred Polgar, Ferdinand Bruckner. Mitherausgeber der Essays Berthold Viertels sowie von Büchern über Berthold Viertel, Exiltheater, Theater und Geschichte, Wiener Theater nach 1945, Rezeption des Exils, Geschichte des Max Reinhardt Seminars, Erinnerung. Zuletzt Herausgeber von  : Achim Benning  : In den Spiegel greifen. Texte zum Theater, 2012  ; Mitherausgeber von  : Subjekt des Erinnerns  ? (mit Helene Belndorfer, Siglinde Bolbecher und Herbert Staud), 2012. Kontakt  : [email protected] Andrea Sodomka, Mag.a, Komponistin, Medienkünstlerin und Kuratorin alien

productions, Diplom an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien, Institut für Elektroakustik (1987) und Diplom an der Hochschule für angewandte Kunst, Wien (1989). Gründung des KünstlerInnen-Netzwerks alien productions für Arbeiten in Theorie und Praxis Neuer Technologien und Medien (1997) gemeinsam mit Martin Breindl (A), Norbert Math (I) und August Black (USA). Arbeiten in den Bereichen Intermediaperformance und -installation, Soundart, Radiokunst, Interaktive Kunst. Produktionen/Aufführungen für  : NTT InterCommunication Center [ICC], Tokyo ( J), Österreichisches Kulturforum Praha (CZ), Künstlerhaus Wien (A), Musikprotokoll im Steirischen Herbst (A), Radiokulturhaus Wien (A), ICMC International Computer Music Conference (USA), Festival International de Musique Expérimentale, Bourges (F), MITO Settembre Musica (I), hamburger musikfest (D), Konzerthaus Wien (A), Wiener Festwochen (A), Berliner Ensemble (D), Festival de Música de Alicante (E), Ars Electronica Festival (A), EBU-European Broadcasting Union, ORF Kunstradio, ORF Zeitton, RNE Radio Nacional de España, BBC, RAI Radiotelevisione Italiana, RTP Rádio e Televisão de Portugal u.v. a. Näheres zu alien productions unter http  ://alien.mur.at Claudia Walkensteiner-Preschl, Univ.-Prof.in Dr.in für Medien- und Filmwissen-

schaft an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), Institut für Film und Fernsehen (Filmakademie Wien). 2010 Habilitation an der Universität Frankfurt am Main. 2007–2011 Vizerektorin für Lehre und Frauenför170

AutorInnen und Herausgeberinnen

derung an der mdw. Seit 2010 Mitherausgeberin der Buchreihe »Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film« (Böhlau-Verlag). Publikationen  : Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der 1910er-Jahre (Filmmuseum-Synema-Publikationen Bd. 8), Wien 2008  ; »Publikumsgeschmack und soziales Engagement. Zur Pionierin Louise Veltée/Kolm/Fleck aus filmhistorisch-feministischer Perspektive«, in  : Doris Kern, Sabine Nessel (Hg.), Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino. Festschrift für Heide Schlüpmann, Basel/ Frankfurt a. M. 2008  ; »Die Schlager der Groteske«, in  : Karola Gramann, Eric de Kuyper, Sabine Nessel, Heide Schlüpmann, Michael Wedel (Hg.), Sprache der Liebe. Asta Nielsen, ihre Filme, ihr Kino 1910–1933, Wien 2009  ; »Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino. Nachempfunden an Douglas Sirks Universal-Filmen, in  : Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film, Wien 2012. Kontakt  : [email protected]

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MDW GENDER WISSEN HERAUSGEGEBEN VON ANDREA ELLMEIER, DORIS INGRISCH UND CLAUDIA WALKENSTEINER-PRESCHL

mdw Gender Wissen ist eine Buchreihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/mdw. Die Publikationen dieser Reihe tragen dazu bei, die Wirkmächtigkeit von Gender (soziales Geschlecht) in Wissens- und Kunstproduktionen sichtbar zu machen. BAND 1: SCREENINGS

BAND 3: KULTUR DER GEFÜHLE

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

THEATER. FILM

THEATER. FILM

2010. 165 S. DIV. GAF. U. S/W-ABB. BR.

2012. 166 S. 14 S/W-ABB. BR.

ISBN 978-3-205-78520-0

ISBN 978-3-205-78783-9

BAND 2: GENDER PERFORMANCES WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK. THEATER. FILM 2011. 184 S. ZAHLR. S/W-ABB. BR. ISBN 978-3-205-78651-1

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

ANNA BOHN

DENKMAL FILM BAND 1: DER FILM ALS KULTURERBE BAND 2: KULTURLEXIKON FILMERBE

Im 18. Jahrhundert begeisterten sich auch viele Mönche des Stiftes Melk für die Ideen der Auf klärung und stellten die jahrhundertealte Tradition des Klosters in Frage, was zu heftigen Konflikten führte. Der Übergang zu einer literarischen Kultur, die sich als Teil einer kritischen Öffentlichkeit verstand, brachte auch ein neues Konzept selbstverantworteter Autorschaft mit sich, das von den Geistlichen erprobt wurde. Die literaturinteressierten Mönche wurden zu informierten Lesern und Briefeschreibern. Der Autor beleuchtet die Entwicklung des österreichischen Literaturbetriebes vom Barock über die Auf klärung bis zur nachjosephinischen Ära der Napoleonischen Kriege anhand Blindtextes. 2012. 880 S. 157 S/W-ABB. UND 54 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-20990-2

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

HELMUT PESCHINA (HG.)

HÖR ! SPIEL (MASKE UND KOTHURN, JG. 58, HEFT 3/2012)

Die Geschichte des Hörspiels beginnt mit einem Stromausfall. Gleichsam blind , sollten die Hörerinnen und Hörer aufmerksam den im Dunkel des Bergwerks agierenden dramatis personae lauschen. Seit am 15. Jänner 1924 von BBC-London das erste Hörspiel ausgestrahlt wurde, wird der radiophonen Kunstgattung in einem Intervall von fünf bis zehn Jahren ihr Ende prophezeit. Doch das Hörspiel lebt ungeachtet solcher Prognosen fort. Flankiert von wissenschaftlichen Reflexionen berichten Hörspielschaffende von gegenwärtigen Arbeitsprozessen und Hörspielschreibende von ihrer Passion für dieses Medium. 2013. 134 S. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78892-8

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