Festschrift für Hideo Nakamura zum 70. Geburtstag am 2. März 1996 [Reprint 2013 ed.] 9783110893595, 9783110154603

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Festschrift für Hideo Nakamura zum 70. Geburtstag am 2. März 1996 [Reprint 2013 ed.]
 9783110893595, 9783110154603

Table of contents :
Zum Geleit
Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht. Rechtspolitische Überlegungen zum summarischen Rechtsschutz
Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union
Das Verhältnis von Beweislastumkehr und Umkehr der konkreten Beweisführungslast im deutschen Zivilprozeß
Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht
Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht
Die Bedeutung des EuGVU und des Luganer Abkommens für Drittstaaten
Rechtliches Gehör und Rationalisierung des zivilgerichtlichen Verfahrens in Österreich
Der Einfluß rückwirkender Gestaltungsurteile auf vorausgegangene Leistungsurteile
„Internationalpädagogik“ oder wirksamer Beklagtenschutz ? Einige Bemerkungen zur internationalen Anerkennungszuständigkeit
Deutsche Probleme Internationaler Familienverfahren
Zur materiellen Rechtskraft des Unzuständigkeitsentscheids. Eine rechtsvergleichende Skizze
Grenzüberschreitende Insolvenz : Drei Lösungsmodelle im Vergleich
Probleme bei der Ermittlung ausländischen Rechts in der gerichtlichen Praxis
Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung. Eine zusammenfassende Betrachtung
Rechtsvergleichende Fragen zum „Gesetzlichen Richter“
Wahrheit und Beweis im Zivilprozeß
Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen. Der Gerichtsstand der Wettbewerbshandlung nach autonomem deutschem IZPR
Rechtsprobleme der Vertretung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Zivilprozeß bei Unwirksamkeit von Anteilsübertragungen
Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Die Entwicklung der öffentlichrechtlichen Theorie der Zwangsvollstreckung in Deutschland
Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz. Modell alternativer Streitbeilegung oder Regelung eines Sonderfalles ?
Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft
Zivilprozeß und der Grundsatz der Öffentlichkeit in Ungarn
Direktor des Instituts für Verfahrensrecht. Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts
Rechtssicherheit, Entscheidungsharmonie und Bindung an Vorfrageentscheidungen. Überlegungen zu den objektiven Grenzen der Rechtskraft im österreichischen Zivilprozeßrecht
Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung
Wann ist ein Urteil aufgehoben ?
Dissenting Opinions im Schiedsverfahren
Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich
Ein einheitlicher Europäischer Vollstreckungstitel als Vorbote eines weltweiten Titels
Das französische und englische Zwangsvollstreckungsrecht Reform und Tradition in Europa
Legal Cultures and Models of Civil Justice
Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs
Vorläufiger Rechtsschutz in der Schweiz
Geständnis zu eigenen Lasten und zu Lasten Dritter?
Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece
Seine wissenschaftliche Arbeit
Verzeichnis der Schriften von Hideo Nakamura

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Festschrift für Hideo N a k a m u r a zum 70. Geburtstag

Festschrift für HIDEO NAKAMURA zum 70. Geburtstag am 2. März 1996

Herausgegeben von

Andreas Heldrich

Takeyoshi Uchida

Tokyo 1996 SEIBUNDO

Festschrift für HIDEO NAKAMURA zum 70. Geburtstag am 2. März 1996 hrsg. von Andreas Heldrich; Takeyoshi Uchida Tokyo : Seibundo, 1996 ISBN4-7923-2273-1

©Copyright 1996 by Seibundo Verlag Shinjuku-ku Waseda Tsurumakicho 514 Tokyo Japan 162 Tel. 03-3203-9201 Fax. 03-3203-9206

Zum Geleit Die Festschrift zum 70- Geburtstag von Hideo Nakamura ist ein eindrucksvoller Beleg für die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit und seines Lebenswerks. In 37 Beiträgen seiner Weggefährten, Freunde und Schüler aus allen Teilen Europas spiegelt sich die Anerkennung, die er heute in der internationalen Fachgemeinschaft der Prozeßrechtswissenschaft genießt: Als sich unsere Lebenswege zum ersten Mal kreuzten, stand der Jubilar noch ganz im Schatten seines berühmten Vaters Muneo Nakamura, der damals zu den führenden Rechtsgelehrten Japans zählte. Auch er hatte sich wesentliche Anregungen für seine wissenschaftliche Arbeit in einem mehrjährigen Studienaufenthalt in Europa verschafft. Auch er hatte seine wichtigsten Werke zum Teil in englischer und deutscher Sprache publiziert. Seine Karriere war also von vornherein die eines wissenschaftlichen Weltbürgers. Dabei blieb er aber in seinen persönlichen Lebensgewohnheiten durchaus traditionsverhaftet. In seinen Mußestunden beschäftigte er sich mit Kalligraphien alter chinesischer Schriftzeichen. Seiner Familie bereitete er ein Heim in seinem im klassischen Stil eingerichteten Holzhaus mit einem verwunschenen kleinen Garten mitten in Tokio. Seinem Sohn Hideo hatte er offenbar von Jugend auf diese einzigartige Synthese von japanischer Kultur und westlicher Zivilisation als Vorbild vorgelebt. Schon früh trat er — bald ebenso erfolgreich wie sein Vater — in dessen Fußstapfen. Der Beginn seines juristischen Studiums im Jahre 1944 fällt mit dem Anbruch eines neuen Zeitalters in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nahezu zusammen. Die Chancen der fünf folgenden Jahrzehnte der friedlichen Aussöhnung der ehemaligen kriegführenden Mächte nutzte er wie kaum ein anderer zur Vertiefung der Rechtsbeziehungen zwischen Japan und der übrigen Welt. Dabei galt sein besonderes Interesse seit jeher Deutschland und der deutschen Rechtswissenschaft. Vor allem an der Universität Freiburg war er immer wieder zu Forschungsaufenthalten zu Gast. Viele seiner Veröffentlichungen gehen auf die Arbeiten zurück, die er bei diesen Besuchen in Angriff nahm. Besonders hervorzuheben sind dabei die von ihm edierten Übersetzungen der japanischen Strafprozeßordnung und der japanischen Zivilprozeß-

vi

Ordnung in die deutsche Sprache. Hideo Nakamura hat damit wichtige Pionierarbeit geleistet, um die durchaus eigenständigen Züge des modernen japanischen Rechts einem europäischen Leserkreis zu erschließen. Aber auch den Einflüssen des deutschen Rechts auf die Rechtsentwicklung seines Heimatlandes galt sein Augenmerk. Schon frühzeitig hat er der Fachwelt interessante Einblicke in die Geschichte der Rezeption des europäischen Rechts in Japan verschafft. Hideo Nakamura ist so zu einem echten Mittler zwischen den verschiedenen Rechtskulturen geworden. Die ihm gewidmete Festschrift ist der wohlverdiente Dank für seine jahrzehntelangen erfolgreichen Bemühungen um die Verständigung der Juristen über die Grenzen ihrer nationalen Rechtsordnungen. München/Tokio im Januar 1996 Andreas Heldrich

Takeyoshi

Uchida

Inhalt Zum Geleit

V

HANS-JÜRGEN

AHRENS

Dr. jur., Professor an der Universität Osnabrück, Richter am Oberlandesgericht Celle Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht Rechtspolitische Überlegungen zum summarischen Rechtsschutz CHRISTIAN V .

1

BAR

Dr. jur., Professor an der Universität Osnabrück, Direktor des Instituts für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Bencher (Hons.) of Gray's Inn, London. Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union ··· 17 GOTTFRIED

BAUMGÄRTEL

Dr. jur., Dr. jur. h. c. mult., em. Professor an der Universität zu Köln Das Verhältnis von Beweislastumkehr und Umkehr der konkreten Beweisführungslast im deutschen Zivilprozeß KOSTAS E .

BEYS

Dr. jur., o. Professor an der Universität Athen, Direktor des Studienzentrums zur Justizgewährung Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht WITOLD

41

51

BRONIEWICZ

Dr. jur., o. Professor an der Universität Zodi Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht

73

viii

DAGMAR

COESTER-WALTJEN

Dr. jur., Professorin an der Universität München Die Bedeutung des E u G V U und des Luganer Abkommens für Drittstaaten HANS W .

89

FASCHING

DDr. jur., em. o. Universitätsprofessor an der Universität Wien Rechtliches Gehör und Rationalisierung des zivilgerichtlichen Verfahrens in Osterreich 117 H A N S FRIEDHELM

GAUL

Dr. jur., em. Professor an der Universität Bonn Der Einfluß rückwirkender Gestaltungsurteile auf vorausgegangene Leistungsurteile REINHOLD

137

GEIMER

Prof. Dr. jur., Notar in München, Honorarprofessor an der Universität München „Internationalpädagogik" oder wirksamer Beklagtenschutz ? Einige Bemerkungen zur internationalen Anerkennungszuständigkeit 169 PETER

GOTTWALD

Dr. jur., Professor an der Universität Regensburg Deutsche Probleme Internationaler Familienverfahren WALTHER J .

187

HABSCHEID

Dr. jur., Dr. h. c. mult., em. o. Professor an der Universität Zürich, Professeur Honoraire de l'Universite de Geneve Zur materiellen Rechtskraft des Unzuständigkeitsentscheids Eine rechtsvergleichende Skizze 203 HANS

HANISCH

Dr. jur., em. o. Professor der Rechte an der Universität Genf Grenzüberschreitende Insolvenz : Drei Lösungsmodelle im Vergleich 221

Inhalt

ANDREAS

ix

HELDRICH

Dr. jur., Professor an der Universität München, Direktor des Instituts für Internationales Recht - Rechtsvergleichung Probleme bei der Ermittlung ausländischen Rechts in der gerichtlichen Praxis 243 NIKOLAOS K .

KLAMARIS

Dr. jur., o. Professor für Zivilprozeßrecht an der Universität Athen, Stellv. Direktor des Instituts für prozeßrechtliche Studien in Athen, Rechtsanwalt beim Areopag Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung Eine zusammenfassende Betrachtung 253 HARALD

KOCH

Dr. jur., Professor an der Universität Rostock, Richter am Oberlandesgericht Rostock Rechtsvergleichende Fragen zum „Gesetzlichen Richter" 281 DIETER

LEIPOLD

Dr. jur., Professor an der Universität Freiburg, Direktor des Instituts für Deutsches und Ausländisches Zivilprozeßrecht Wahrheit und Beweis im Zivilprozeß 301 WALTER F .

LINDACHER

Dr. jur., Professor an der Universität Trier Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen Der Gerichtsstand der Wettbewerbshandlung nach autonomem deutschem IZPR KARL-GEORG

321

LORITZ

Dr. jur., Professor an der Universität Mainz Rechtsprobleme der Vertretung von Gesellschaften mit beschränkter H a f t u n g im Zivilprozeß bei Unwirksamkeit von Anteilsübertragungen

339

χ

KAZIMIERZ

LUBINSKI

Dr. jur., Professor an der Universität Torun Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit GERHARD

359

LÜKE

Dr. jur., Dr. h. c., em. Professor an der Universität des Saarlandes Die Entwicklung der öffentlichrechtlichen Theorie der Zwangsvollstreckung in Deutschland WOLFGANG

389

LÜKE

Dr. jur., Professor an der Technischen Universität Dresden Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz Modell alternativer Streitbeilegung oder Regelung eines Sonderfalles ? 407 HANS-JOACHIM

MUSIELAK

Dr. jur., Professor an der Universität Passau Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft JÄNOS

423

NFIMETH

Dr. jur., Professor an der Eötvös Loränd Universität Budapest Zivilprozeß und der Grundsatz der Öffentlichkeit in Ungarn 445 HANNS

PRUTTING

Dr. jur., Professor an der Universität zu Köln, Direktor des Instituts für Verfahrensrecht Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts 457 WALTER H .

RECHBERGER

Dr. jur., o. Universitätsprofessor an der Universität Wien Rechtssicherheit, Entscheidungsharmonie und Bindung an Vorfrageentscheidungen Überlegungen zu den objektiven Grenzen der Rechtskraft im österreichischen Zivilprozeßrecht 477

Inhalt

xi

HAIMO SCHACK

Dr. jur., Professor an der Universität zu Kiel, Direktor des Instituts für Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung 491 P E T E R SCHLOSSER

Dr. jur., Professor an der Universität München W a n n ist ein Urteil aufgehoben ? ROLF A .

515

SCHÜTZE

Prof. Dr. jur., Rechtsanwalt in Stuttgart Dissenting Opinions im Schiedsverfahren

525

D A P H N E - A R I A N E SIMOTTA

Dr. jur., o. Universitätsprofessorin an der Karl-Franzens-Universität Graz D i e Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Osterreich 539 M A R C E L STORME

Dr. jur., Vorsitzender des interuniversitären Zentrums für Prozeßrecht ( B e l g i e n ) , President der internationalen Vereingung für Prozeßrecht Ein einheitlicher Europäischer Vollstreckungstitel als Vorbote eines weltweiten Titels 581 R O L F STÜRNER

Dr. jur., Professor an der Universität Freiburg, Direktor des Instituts für Deutsches und Ausländisches Zivilprozeßrecht Das französische und englische Zwangsvollstreckungsrecht Reform und Tradition in Europa

599

M I C H E L E TARUFFO

Dr. jur., Full Professor o f University o f Pavia Legal Cultures and Models o f Civil Justice

621

xii

H A N S ULRICH

WALDER

Dr. jur., Rechtsanwalt, em. Professor an der Universität Zürich Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs 639 GERHARD

WALTER

Dr. jur., Professor an der Universität Bern, Direktor des Instituts für Schweizerisches und Ausländisches Zivilprozessrecht Vorläufiger Rechtsschutz in der Schweiz 657 MANFRED

WOLF

Dr. jur., Professor an der Universität Frankfurt Geständnis zu eigenen Lasten und zu Lasten Dritter ? PELAYIA

685

YESSIOU-FALTSI

Dr. jur., The Dean of the School of Law and Economics Aristotle University of Thessaloniki Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece •••697 TAKEYOSHI

UCHIDA

Professor an der Waseda Universität Hideo Nakamura Seine wissenschaftliche Arbeit

717

Verzeichnis der Schriften von Hideo Nakamura

731

Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht Rechtspolitische Überlegungen zum summarischen Rechtsschutz

von

Prof. Dr. Hans-Jürgen Ahrens

Osnabrück

Professor an der Universität Osnabrück Richter am Oberlandesgericht Celle

2

Inhaltsverzeichnis

I. Verfahrensbeschleunigung durch summarischen Rechtsschutz II. Grunddaten der UWG-Verfahren III. Abhängigkeit und Selbständigkeit des Eilverfahrens 1. Gründe und Kennzeichen der Summarietät 2 . Gesetzliche Konsequenzen der Summarietät 3 . Unsicherheiten des Bestandes der Verfügungsentscheidung a. Zeitlich unbegrenzte Aufhebbarkeit b. Weitreichende Aufhebungesgründe IV. Bausteine der Bestandssicherung : Abschlußerklärung statt Rechtskraft V. Ausbau des Eilverfahrens zu einem summarischen Hauptsacheverfahren ? 1. Das Interesse am Eil verfahren 2. Tauglichkeit des Eilverfahrens zur endgültigen Streitentscheidung 3. Dringlichkeitssperre a. Bedeutung des §25 UWG b. Beibehaltung der Sperre ? 4 . Eilverfahren als alternative summarische Verfahren ? 5 . Übergang ins Hauptsacheverfahren ? 6. Zuständigkeitsänderungen ? 7 . Zurückdrängung von Beschlußverfügungen ? 8. Sonstige Änderungen

Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht

I. Verfahrensbeschleunigung

durch

3

summarischen

Rechtsschutz Beschleunigung des Verfahrens ist eine Zielsetzung, die Juristen mit Interesse am Zivilprozeßrecht in Deutschland und in anderen Staaten immer wieder nach dafür geeigneten Mechanismen Ausschau halten läßt. Das deutsche Bundesjustizministerium fördert Forschungen zur Strukturanalyse der Rechtspflege, die die Leistungsfähigkeit der Justiz dauerhaft sichern helfen sollen. Ein erster Band einschlägiger Veröffentlichungen unter dem Titel „Neue Methoden im Zivilverfahren" (1991, Hrsg. Blankenburg/Leipold/Wollschläger) befaßt sich mit Modellen vereinfachten Prozessierens. Der Schwerpunkt liegt auf summarischen Verfahren. Ausländische Prozeßrechte sind in die Untersuchung einbezogen worden, nämlich das Kort Geding des niederländischen Rechts, das Refere-Verfahren des französischen Rechts und der in der Reform befindliche einstweilige Rechtsschutz des japanischen Rechts. Die zusammenfassende Würdugung von Blankenburg/Leipold hat für das deutsche Recht die Frage untersucht, ob summarischer Rechtsschutz als Alternative zum Normalverfahren in Betracht kommt 1 , und zeigt Bedingungen auf, unter denen eine vorsichtige Entwicklung vor allem des Verfahrens der einstweiligen Verfügung diese Aufgabe übernehmen könnte. Nicht allen analytischen Befunderhebungen und Schlußfolgerungen kann ich aufgrund der Erfahrungen mit einstweiligen Verfügungen in Wettbewerbssachen zustimmen. Angesichts der weitgehenden Ubereinstimmung der Normen zum deutschen und zum japanischen einstweiligen Rechtsschutz mag es für den Jubilar und die japanischen Prozeßrechtswissenschaft von Intersse sein, wie die deutschen Normen in einem Teilgebiet des materiellen Wirtschaftsrechts so gehandhabt werden, daß das summarische einstweilige Verfügungsverfahren das zugehörige Hauptsacheverfahren in großem Umfang verdrängt hat, und welche Reformüberlegungen sich daran knüpfen lassen.

1 Neue Methoden im Zivilverfahren, S. 109 ff.

4

II. Grunddaten

der

UWG-Verfahren

Wettbewerbsrecht umfaßt nach neuerem Verständnis das Recht gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) und das Kartellrecht (Recht gegen Wettbewerbsbeschräkungen, GWB). Meine Bemerkungen beziehen sich nur auf das UWG und seine Nebengesetze (RabG, ZugabeVO) 2 . Für das Kartellrecht gelten andere Grundbedingungen. Der wichtigste Rechtsbehelf, mit dem Wettbewerbsverstöße bekämpft werden, ist der in die Zukunft wirkende Unterlassungsanspruch. Seine Durchsetzung zur Erlangung eines Unterlassungstitels erfolgt nach groben Schätzungen zu ca. 70-80% im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Für den Rest der Streitigkeiten werden von vornherein ordentliche Verfahren eingeleitet. Einige wenige Streitigkeiten werden im Eilverfahren begonnen; ihnen folgt — zeitlich versetzt — ein Hauptsacheverfahren nach, d. h. es kommt zu einer Verfahrensverdopplung. Neuere Zahlen der Zivilkammer 15 des LG Hamburg, die mir von ihrem Vorsitzenden übermittelt worden sind, und die den Geschäftsanfall einer auf UWG-Sachen spezialisierten Kammer betreffen, sehen für das Kalenderjahr 1992 etwas anders aus: Von 665 Sachen insgesamt entfielen über 400, also gut 60%, auf einstweilige Verfügungen. Von den verbleibenden ca. 260 ordentlichen Verfahren betrafen ca. 50 bis 60 den Gegenstand eines gleichzeitigen bzw. bereits abgeschlossenen Verfügungsverfahrens. Zu berüchsichtigen ist bei der Bewertung, daß bei dieser Kammer ordentliche Verfahren schnell terminiert werden, bei entsprechender Bitte sogar so zügig wie in einem Eilverfaren mit mündlicher Verhandlung. Außerdem sind in der Gesamtzahl auch Verfahren des gewerblichen Rechtsschutzes enthalten, in denen seltener einstweilige Verfügungen beantragt werden. Die Daten belegen, daß das Eilverfahren in nennenswertem Umfang die alleinige Funktion der Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes 2 Literatur sum UWG-Verfahren: Ahrens, Wettbewebsverfahrensrecht, 1983 ; Gloy (Hrsg), Handbuch des Wettbewerbsrechts, 2. Aufl. 1996, 3. Teil Verfahrensrecht; Jacobs/Lindacher/ Teplitzky, Großkommentar zum UWG, 1991 ff., Vorbem. vor § 13 UWG ; Melullis, Handbuch des Wettbewerbsprozesses, 2. Aufl. 1995 ; Pastor, Der Wettbewerbsprozeß, 4. Aufl. 1996 ; Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche, 6. Aufl. 1992.

Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht

5

übernimmt, also das Hauptsacheverfahren faktisch verdrängt. Nicht voll zu bestätigen ist jedoch die Feststellung von Blankenburg/Leipold, „überwiegend" oder „meist" finde in Wettbewerbssachen kein Hauptsacheprozeß statt 3 . Die Parteien stören sich nicht daran, daß der Instanzenzug im Eilverfahren beim Oberlandesgericht endet. Würden die Streitigkeiten als ordentliche Verfahren betrieben, könnten sie wegen ihres Streitwertes häufig in die Revisionsinstanz, also zum BGH, gebracht werden; der BGH wäre dann allerdings quantitativ völlig überlastet. Eine wichtige Vorbedingung für die Hauptsacheersetzung ist darin zu sehen, daß die Gerichte den Unterlassungstitel im Eilverfahren mit dem gleichen Inhalt wie im ordentlichen Verfahren tenorieren. Der Unterlassungsgläubiger erlangt also im Eilverfahren die gleiche Urteilsformel wie im Hauptsacheverfahren und damit das Maximum dessen, was bei materiellrechtlicher Begründetheit des prozessualen Begehrens möglich ist. Derartige Verfügungstitel werden zur Kennzeichnung ihrer Besonderheit auch Befriedigungsverfügung genannt. Zu der Vorwegnahme des vollen Unterlassungstitels gibt es keine Alternative, wenn man den Unterlassungsgläubiger nicht temporär schutzlos lassen will. Die faktische Eignung des Eilverfahrens zur endgültigen Erledigung des Rechtsstreits drückt sich in der Festsetzung des Verfahrensstreitwertes aus, von dem die Höhe der Verfahrenskosten, nämlich der Gerichtskosten und der Anwaltsgebühren, abhängt. Während grundsätzlich für Eilverfahren ein starker Abschlag vom Hauptsachewert vorgenommen wird — Festsetzung u. U. auf 1/10 des Hauptsachewertes — fallen die Abschläge in UWG Sachen geringer aus: Die Werte betragen nach der unterschiedlichen Praxis in den einzelnen Gerichtsbezirken 1/3 bis 1/2 des Hauptsachewertes ; einige Gerichte setzen sogar den vollen Wert an. Prüfen läßt sich dies vor allem an der Festlegung des Gebührenwertes für das Abschlußschreiben, mit dem der Rechtsanwalt des erfolgreichen Verfügungsklägers zur Abgabe der Abschlußerklärung auffordert; die Bestandssicherung der Eilentscheidung wird schon dem dadurch vermiedenen Hauptsacheverfahren zugeordnet. Das Eilverfahren wird in der Gerichtspraxis als völlig selbständiges Verfahren behandelt. Es erhält eine eigene Geschäftsnummer und wird aktenmäßig gesondert geführt. Die zu erlassende gerichtliche Entscheidung wird mit einer eigenen Kostengrundentscheidung versehen; die 3 N e u e M e t h o d e n i m Z i v i l v e r f a h r e n , S . 111.

6

Kostenfestsetzung erfolge in einem dem Eilverfahren zugehörigen Festsetzungsverfahren.

III. Abhängigkeit

und Selbständigkeit

1. Gründe und Kennzeichen der

des

Eilverfahrens

Summarietät

Einstweilige Verfügungen sind summarischer Natur. Das beruht einerseits auf dem zeitlichen Entscheidungsdruck des Gerichts und der Zeitknappheit der für die Beibringung des Streitstoffes zuständigen Parteien. Zum anderen ist die Entscheidungsgrundlage unsicherer als im ordentlichen Prozeß. Nach § 920 Abs. 2 ZPO reicht bloße Glaubhaftmachung des Tatsachenvortrags aus, was nach § 294 Abs. 1 ZPO die Möglichkeit der Einreichung eidesstattlicher Versicherungen bedeutet. Auch die Parteien selbst sind zur eidesstattlichen Versicherung zugelassen, obwohl sie im ordentlichen Verfahren nach den Regeln des Strengbeweises nur sehr einschränkend als Beweismittel in Betracht kommen (ParteiVernehmung, §§445 ff. ZPO). Gemäß § 294 Abs. 2 ZPO dürfen nur präsente Beweismittel verwertet werden. Das erlaubt zwar eine Vernehmung sistierter Zeugen in einer angeordneten mündlichen Verhandlung, bedeutet in der Praxis aber doch eine Präsentation von Zeugenaussagen in der schriftlichen Form der eidesstattlichen Versicherung. Deren Qualität hängt von den sprachlichen Ausdrucksfähigkeiten und den Möglichkeiten des Verständnisses schriftlicher Texte ab, auch wenn die Formulierung von einem Anwalt vorgeprägt wird. Zum Teil sind derartige Qualitätseinbußen sogar gerade auf zu frühe anwaltliche Hilfestellung zurückzuführen. Durch strengere inhaltliche Anforderungen ließe sich die Qualität geringfügig heben. 2. Gesetzliche Konsequenzen der

Summarietät

Die Verdrängung des Hauptsacheverfahrens durch das Eilverfahren beruht nicht nur auf Gepflogenheiten der Rechtspraxis. Der Gesetzgeber hat das Eilverfahren in einer Weise ausgestaltet, die dessen Verselbständigung begünstigt. Es fehlen Elemente, die eine automatische Instabilität der Verfügungsentscheidung mit sich bringen. Hinzuweisen ist vor allem

Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht

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auf die Regelung in §§ 926, 936 ZPO: Die Geltung der Verfügungsentscheidung wird nicht an die Einleitung eines nachfolgenden ordentlichen Verfahrens gebunden. Auch ist keine Befristung der Geltungsdauer vorgeschrieben (anders für einstweilige Anordnungen des Bundesverfassungsberichts, § 32 Abs. 3 S. 1 BVerfGG). Vielmehr bleibt es der Initiative des Antragsgegners Uberlassen, den Antragsteller zur Erhebung der Hauptsacheklage zu zwingen, indem der Gegner ihm dafür eine gerichtliche Frist setzen läßt (§ 926 Abs. 1 ZPO). Selbst ein Unterlassen der Klageerhebung führt automatisch zu Nachteilen. Aufgehoben wird die Verfügungsentscheidung wegen Versäumung der Frist zur Erhebung der Hauptsacheklage erst auf einen weiteren Antrag des Antragsgegners hin (§ 926 Abs. 2 ZPO). Dies gilt auch für „einseitige" Verfügungsentscheidungen (ex parte-Entscheidungen), die ohne vorherige mündliche Verhandlung durch Beschluß erlassen werden. Bei ihnen wird sogar die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht von einer entsprechenden Initiative des Antragsgegners abhängig gemacht; er muß gegen die Beschlußverfügung gem. § 924 ZPO Widerspruch einlegen. Trotz dieser stabilitätsfördernden Regelungen geht das Gesetz von einer institutionellen Abhängigkeit des Eilverfahrens vom Hauptsacheverfahren aus. Die einstweilige Verfügung kann nach § 927 ZPO jederzeit wegen veränderter Umstände aufgehoben werden. Zu diesen Umständen gehört insbesondere eine gegenläufige Hauptsacheentscheidung. Allerdings soll die rechtskrätige Hauptsacheenscheidung nicht ex lege die Wirkungen der Verfügungsentscheidung beseitigen; dazu bedarf es vielmehr der Durchführung eines speziellen Aufhebungsverfahrens nach § 927 ZPO. Der Gesetzgeber hat die Summarietät der Verfügugsentscheidung mit einigen ergänzend zu nennenden Vorschriften bedacht: Nach § 929 Abs. 2 ZPO bedarf die Eilentscheidung der Vollziehung durch den Antragsteller, was bei wettbewerblichen Unterlassungsverfügungen zumeist durch fömliche Zustellung auf Veranlassung der Partei geschieht. Nach § 945 ZPO hat der Antragsteller dem Gegner den aus der Vollziehung der Eilentscheidung erwachsenen Schaden zu ersetzen, und zwar unabhängig von einem Verschulden.

8

з. Unsicherheiten des Bestandes der a. Zeitlich

unbegrenzte

Verfügungsentscheidung

Aufhebbarkeit

Die Beseitigung einer Verfügungsentscheidung setzt zwar voraus, daß eine gesonderte Aufhebungsentscheidung ergeht. Sie ist dafür aber zeitlich unbegrenzt anfällig, weil die Verfügungsentscheidung nicht in Rechtskraft bezüglich des gesicherten Anspruchs erwächst; ob Eilentscheidungen überhaupt einen Streitgegenstand haben und mit Wirkung nur für das Verfügungsverfahren rechtskraftfähig sind, ist von Heinze sogar bestritten worden4. Aufhebungsgründe können einerseits im Anordnungsverfahren vorgebracht und berücksichtigt werden. Nach Erlaß einer Beschlußverfügung kann der Gegner zeitlich unbegrenzt Widerspruch gem. § 924 ZPO einlegen, was ein Rechtfertigungsverfahren vor dem erlassenden Gericht auslöst. Ist eine Urteilsverfügung erlassen worden, also von vornherein aufgrund vorheriger mündlicher Verhandlung entschieden worden, steht и. U. noch die fristgebundene Berufungsmöglichkeit zur Verfügung. An die Berufung ist auch zu denken, wenn die Anordnung im Beschlußwege erfolgt und danach Widerspruch eingelegt wurde. Aufhebungsgründe können ferner in selbständigen Aufhebungsverfahren (mit umgekehrten Parteirollen) vorgebracht werden. Für den Aufhebungsgrund des § 926 Abs. 1 ZPO steht das Verfahren des § 926 Abs. 2 ZPO zur Verfügung. Im übrigen ist § 927 ZPO für die Berücksichtigung veränderter Umstände bestimmt. b. Weitreichende

Aufhebungsgründe

Veränderte Umstände können sich aus einer veränderten materiellen Rechtslage ergeben. Ein wichtiger Grund ist die Anspruchsverjährung, die im Wettbewerbsrecht für den Unterlassungsanspruch sehr schnell eintritt, nämlich schon nach 6 Monaten (§ 21UWG). Dabei ist zu beachten, daß der Verfügungsantrag die Verjährung nicht unterbricht, was bereits für manchen Rechtsanwalt eine unliebsame Überraschung bedeutet hat. Verändern kann sich auch die prozessuale Situation. Ist das Vollziehungserfordernis des § 929 Abs. 2 ZPO übersehen worden, wird die Verfügung zunächst einmal unerbittlich aufgehoben. Ein veränderter Um4 Münchener Kommentar zur ZPO/Heinze, vor §916 Rdnr. 54.

Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht

9

stand ergibt sich vor allem aus einer abweichenden ordentlichen Entscheidung zwischen den Parteien. Sie kann auch darauf beruhen, daß das Gericht sich die Entscheidung bei gleichem Streitstoff anders, nämlich reiflicher überlegt hat. Zu einer ordentlichen Entscheidung kommt es nicht nur, wenn sich der Antragsteller des Verfügungsverfahrens — freiwillig oder nach § 926 Abs. 1 ZPO erzwungen — zur Hauptsacheklage entschließt. Auch der Antragsgegner kann die Initative ergreifen und den Gegenangriff über eine negative Feststellungsklage einleiten, also den vom Antragsteller behaupteten Unterlassungsanspruch im ordentlichen Verfahren negieren.

IV. Bausteine der Bestandssicherung : Abschlu&erklärung statt

Rechtskraft

Verdrängen läßt sich das Hauptsacheverfahren nur, wenn der Antragsteller unliebsame Überraschungen ausschaltet und den Bestand der Verfügungsentscheidung gegen eine nachträgliche Aufhebung absichert. Will er dazu kein in Rechskraft erwachsendes ordentliches Verfahren einleiten, was die Rechtspraxis im übrigen zur Vermeidung einer nachträglichen Verfahrensverdopplung zu verhindern sucht, muß er einen anderen Weg beschreiten. Wollen die Parteien am Ergebnis der Verfügungsentscheidung festhalten, wäre es am einfachsten, die Verfügungsentscheidung nachträglich mit prozessualer Rechskraft auszustatten. Darüber sind vertragliche Vereinbarungen jedoch nicht zulässig. Statt dessen sucht man eine vertragliche Bestandssicherung über eine Abgabe von Verzichtserkläurngen des Antragsgegners herbeizuführen. Er soll auf die Einlegung der ihm möglichen prozessualen Rechtsbehelfe verzichten. Da umstritten ist, in welchem Umfang auf das Recht aus § 927 ZPO verzichtet werden kann — diese Bestimmung übernimmt partiell die Funktion der Vollstreckungsgegenklage des § 767 ZPO —, wird zum Teil empfohlen, die prozessualen Verzichtserklärungen um ein materiellrechtliches Anerkenntnis des Unterlassungsanspruchs zu ergänzen. Ungeachtet strittiger Einzelheiten werden die kombinierten prozessualen und rechtsgeschäftlichen Erklärungen des Antragsgegners in der Rechtspraxis als geeignetes Mittel der Bestandssichung angesehen. Zu beachten ist jedoch, daß rechtsgeschäftliche Erklärungen nur eine Imitation des prozessualen Instituts der Rechtskraft bedeuten, was zum

10

Problem werden kann, wenn die Erklärungen von Willensmängeln behaftet sind, oder wenn — prozessual gesehen — eine Situation zulässiger Rechtskraftdurchbrechung eintritt.

V. Ausbau des Eilverfahrens Hauptsacheverfahren

zu einem

summarischen

?

Von rechtspolitischem Interesse ist, ob die Erfahrungen mit Wettbewerbssachen dafür sprechen, die ZPO-Vorschriften der rechtlichen Praxis anzupassen und die Verdrängung des ordentlichen Verfahrens zu begünstigen.

1. Das Interesse am

Eilverfahren

Rechtspolitisches Bemühen hat zunächst zu erforschen, aus welchen Gründen das Eilverfahren bzw. bestimmte Regelungen daraus begehrt werden. Im Vordergrund steht das Angewiesensein auf den Unterlassungsanspruch als der häufig einzig effektiven Sanktion. In die Zukunft wirkender Abwehrrechtsschutz kann nur für die noch nicht verstrichene Zeit vorbeugen. Ist zu befürchten, daß der materiellrechtliche Anspruch nicht freiwillig beachtet wird, muß der Zeitfaktor auf das gerichtliche Verfahren durchschlagen; es muß ein Eilverfahren bereitgestellt werden. Unterlassungsansprüche sind in besonderem Maße auf schnell erlassene Entscheidungen angewiesen. Wird im ordentlichen Verfahren sehr zügig terminiert, kann das Interesse am Eilverfahren nachlassen. In WEG-Verfahren geht es nicht selten vorrangig um eine rechtliche Konkretisierung der offenen materiellrechtlichen Tatbestände. Die Parteien erstreben die Herstellung von Rechtsgewißheit durch gerichtlich formulierte Verhaltensnormen an. Der erste Spruch im Eilverfahren erscheint ihnen dafür ausreichend. Für die zahlreichen gemäß § 13 Abs. 2 UWG klagebefugten Verbände mit knappem Prozeßkostenfonds hat das Eilverfahren den Vorteil, daß ein Gerichtskostenvorschuß, der eigene Mittel zunächst einmal bindet, nicht bezahlt werden muß. Unterschiedliche Kostenbelastungen werden von den Gläubigern auch kalkuliert, wenn die festzusetzenden Streitwerte für Eilverfahren und Hauptsacheverfahren voneinander abweichen. Allerdings laufen die

Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht

11

Eigeninteressen der Gläubiger und ihrer Anwälte insoweit auseinander; ein niedrigerer Streitwert bedeutet zwar für die Partei im Falle des Unterliegens geringere Kosten, für den Anwalt hingegen hat ein niedrigerer Streitwert in jedem Falle geringere Gebühreneinnahmen zur Folge. Gerichte werden zu der Wahl zwischen den Verfahrensarten eher indifferent stehen. Ist das Eilverfahren aber einmal eingeleitet worden, übt die Möglichkeit zum Erlaß einer Beschlußverfügung auf den Richter den Reiz aus, von einer Entscheidungsbegründung Abstand nehmen zu können. 2. Tauglichkeit

des Eilverfahrens

zur endgültgen

Streitentscheidung

Ob und inwieweit sich ein summarisches Verfahren für eine endgültige Streiterledigung eignet, hängt davon ab, inwieweit die Merkmale der Summarietät die Entscheidungsqualität negativ beeinflussen. Dafür sind verschiedene Faktoren bestimmend. Bei Wettbewerbssachen handelt es sich nicht selten um wenig aufklärungsbedürftigenStreitstoff.IstetwaeineZeitungswerbungaufihrelrreführungseignung zu überprüfen, wird es oft nur darauf ankommen, die Zeitungsanzeige vorzutragen, ohne daß weitere Tatsachenaufklärung notwendig ist. Abschleifungen machen materiellrechtliche Tatbestände wie z.B. den § 3 UWG für ein summarisches Verfahren feststellungsgeeignet, sind also anwendungsfreundlich. Allerdings beschränkt sich der einstweilige Rechtsschutz nicht auf solche Fälle. Es gibt auch Eilverfahren mit hohem tatsächlichen Feststellungsbedarf und kontroversen eidesstattlichen Versicherungen. Als Beispiel dafür nenne ich die Anwendung des § 1 UWG wegen Erlangung eines Wettbewerbsvorsprungs durch Verstoß gegen die Handwerksordnung, weil ein Augenoptiker ein Filialgeschäft ohne ständig anwesenden zweiten Optikermeister betreibt. Die Glaubhaftmachung eines derartigen Sachverhalts setzt umfangreiche Beobachtungen des Geschehens und dementsprechenden Tatsachenvortrag mit Beleg durch eidesstattliche Versicherungen voraus. Eine generalisierende Vorsortierung der Sachverhalte im Hinblik auf den tatsächlichen Aufklärungsbedarf halte ich nicht für möglich. Die Entscheidungsqualität hängt nicht nur von der Fallbeschaffenheit ab, sondern auch von der Richterqualifikation. In Gerichtsbzirken mit sehr hohem Fallaufkommen werden spezialisierte Zivilkammern ein-

12

gesetzt, die den vom Gesetz (§ 95 Abs. 1 Nr. 5 GVG und § 27 Abs. 1 UWG) eigentlich vorgesehenen Kammern für Handelssachen den Rang ablaufen. Es gibt aber keine Vergleichswerte über die Hauptsacheverdrängung in Abhängigikeit von der Richterspezialisierung. Nur nebenbei sei bemerkt, daß der Einrichtung wettbewerblicher Spezialkammern wegen entsprechenden Fallaufkommens ein gesteigertes Spezialisierungsinteresse innerhalb der Anwaltschaft entspricht. Einfluß auf die Entscheidungsakzeptanz hat ferner die Überzeugungskraft der schriftlichen Urteilsbegründungen. Wettbewerbliche Eilentscheidungen, die aufgrund mündlicher Verhandlung ergehen, werden in der Regel im gleichen Umfang wie Hauptsacheentscheidungen begründet. Je stärker eine Unterlassungsverfügung die Handlungsmöglichkeiten des Antragsgegners insgesamt beschneidet und damit von ihm als belastend empfunden wird, desto nachhaltiger wird seine Gegenwehr sein. Es erscheint ihm dann geboten, alle Register zu ziehen und den Erfolg des eigenen Standpunkts im Hauptsacheverfahren zu suchen. Geht es nur um eine belanglose Werbeaussage oder sonstige Marketingmöglichkeit, nach deren Untersagung sich ohne Schwierigkeiten eine wettbewebliche Alternative bietet, und drohen keine beträchtlichen Investitionsverluste, wird selbst eine als zweifelhaft empfundene Eilentscheidung hingenommen ; Kosten des weiteren Prozeßbetriebes und Prestige des Prozeßsieges werden durchaus kühl in die Gesamtabwägung eingestellt. Verfahren mit einschneidenden Folgen wie die Untersagung der Verwendung eines Unternehmenskennzeichens gem. § 5 MarkenG(bis zum 31.12. 1994 : § 16 UWG) werden demgegenüber kaum auf der Grundlage einer summarischen Entscheidung zu erledigen sein. Sie sind m. E. sogar regelmäßig von vornherein für ein Eilverfahren ungeeignet. Generalisierende Abgrenzungen tauglicher und untauglicher Verfahrensgegenstände sind nicht möglich. 2.

Dringlichkeitssperre

a. Bedeutung des § 25

UWG

Der Zugang zum Eilverfahren wird nur eröffnet, wenn die Dringlichkeit zu bejahen ist. Für Wettbewerbssachen besteht eine Besonderheit in Form des § 25 UWG, wonach das Eilverfahren auch erreichbar sein soll, wenn die Voraussetzungen der §§ 935, 940 ZPO nicht gegeben sind, Daran

Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht

13

ist freilich nur das Ergebnis interssant. Ob § 25 UWG einen Regelungscharakter hat und wenn ja welchen, kann man bezweifeln. Jedenfalls ist die Norm entbehrlich, weil Unterlassungsansprüche bei sachgerechter Handhabung der §§ 935, 940 ZPO auch ohne § 25 UWG im gegenwärtigen Umfang ins Eilverfahren gelangen müßten. Im Hinblick auf die Hauptsacheverdrängung ist die Norm irrelevant. Wichtig ist für den Unterlassungsgläubiger nur die Vorhersehbarkeit der Verfahrenspraxis. Die dem § 25 UWG entnommene Vermutung zugunsten der Dringlichkeit schafft für den Gläubiger die notwendige Sicherheit, keine rein prozessual begründete Niederlage zu erleiden. Unsicherheit in diesem Punkt würde wegen des hohen Kostenrisikos insgesamt vom Eilverfahren abschrecken. b. Beibehaltung

der Sperre ?

Verzichtbar ist das Dringlichkeitserfordernis trotz der für die Dringlichkeit streitenden Vermutung nicht. Das Eilverfahren darf wegen seiner Summarietät und wegen der Gefahr der Verfahrensverdopplung nicht beliebig zugänglich sein. Nicht einmal in Wettbewerbssachen sind alle Verfahren gleich dringlich. Dringlichkeitsbeurteilungen sind Prognoseurteile. Der normale Jurist wird hellseherische Fähigkeiten nicht entwickeln können. Daher sollte man sich von dem Bemühen um eine verfeinerte tatbestandliche Formulierung des Zugangs zum Eilverfahren nichts erhoffen. 4. Eilverfahren

als alternative

summarische

Verfahren ?

Würde man ein summarisches Verfahren als alternatives Hauptsacheverfahren anbieten, müßte man generalisierend das Zugangsproblem lösen, was ich für nicht machbar halte, da eine Vorsortierung mißlingen wird. Im übrigen wäre eine Vermehrung der summarischen Verfahrensarten unvermeidlich, zwischen denen der Antragsteller/Kläger dann auswählen könnte. Bei Konzipierung eines eigenständigen summarischen Hauptsacheverfahrens mit spezifiziert beschränktem Zugang müßte ergänzend — in freier Anlehnung an schweizerische Terminologie — „superprovisorischer" Rechtsschutz bereitgehalten werden, um den auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gerichteten Justizgewährungsanspruch zu erfüllen.

14

5. Übergang ins Hauptsacheverfahren

?

Wenig empfehlenswert scheint mir der von Blankenburg/Leipold erwogene Vorschlag 5 , die Fortführung des summarischen Verfahrens als Hauptsacheprozeß zu ermöglichen. Jedefalls dürfte der Rechtsschutz nicht verkürzt werden, was eine volle erstinstanzliche Überprüfung der summarischen Entscheidung bedeuten würde. Allenfalls könnte man nach Erlaß einer Beschlußverfügung und nach Beginn eines durch Widerspruch des Antragsgegners ausgelösten Rechtfertigungsverfahrens an eine Abstandnahme vom summarischen Prozeß denken, sofern sich Prozeß nunmehr als in tatsächlicher Hinsicht zu kompliziert erweist. Damit würde man aber den Versuch provozieren, Wettbewerbsverfahren regelmäßig mit einer Beschlußverfügung beginnen zu lassen. Unverzichtbar wäre es, daneben im summarischen Verfahren eine Berufungsentscheidung auf summarischer Grundlage zu ermöglichen. 6. Zuständigkeitsänderungen

?

Die Schaffung besonderer Zuständigkeiten für den einstweiligen Rechtsschutz 6 empfiehlt sich nicht. Sie würden zu einer Verfahrensverdopplung beitragen, weil die Parteien sich dann größere Chancen ausrechnen würden, vor einem anderen Gericht im ordentlichen Verfahren einen anderen Verfahrensausgang zu erzielen. Die Wiedereinführung 7 der 1910 abgeschafften Revision würde zwar zu einer erwünschten Vereinheitlichung der Verfahrensrechtspraxis beitragen, doch sind Sachaussagen des BGH zu Rechtsfragen auf summarischer Tatsachengrundlage nicht zu begrüßen. 7. Zurückdrängung

von Beschlußverfügungen

?

Wünschenswert wäre ein Zurückdrängen solcher Beschlußverfügungen gegenüber Urteilsverfügungen, die von irregulären richterlichen Sekundärvorteilen motiviert werden. Es sollte eine Begründungspflicht auch für Beschlußverfügungen angeordent werden, notfalls — bei anfänglich 5 Neue Methoden im Zivilerfahren, S. 121. 6 Vgl. dazu Blankenburg/Leipold, Neue Methoden im Ziviverfahren, S. 121. 7 Vgl. dazu Blankenburg/Leipold a. a. O. S. 121

Einstweiliger Rechtsschutz als Hauptsacheverfahren im Wettbewerbsrecht

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hohem Zeitdruck — in Form einer nachgeholten Begründung. 8. Sonstige

Änderungen

Empfehlenswert wäre es, die rechtsgeschäftliche Bestandssicherung der Eilentscheidung durch eine rein prozessual wirkende Abschlußerklärung zu ersetzen, insoweit also eine indirekte Rechtskraftvereinbarung zuzulassen. Die Gemengelage prozessual wirkender Verzichtserklärungen und rechtsgeschäftlicher Anerkenntniserklärungen wäre beseitigt und der prozessuale Bestand (mit den ausnahmsweise gegebenen nachträglichen Angriffsmöglichkeiten) geklärt. Neu geordnet werden müßte überdies das Verhältnis der Aufhebungsverfahren zueinander einschließlich der Reichweite ihrer Aufhebungswirkungen auf das Verfahren zur Anordnung der einstweiligen Verfügung (ex tunc -Wirkung ? ). Insoweit bestehen in der Praxis erhebliche Unsicherheiten, die selbst dann nicht erträglich sind, wenn die hauptsacheersetzenden Verdrängungswirkung des Eilverfahrens nicht unterstützt wird.

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union von

Prof. Dr. Christian v. Bar

Osnabrück

Professor an der Universität Osnabrück, Direktor des Instituts für Internatinales Privatrecht und Rechtsvergleichung Bencher (Hons.) of Gray's Inn, London.

18

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung II. Nebentäter 1. Grundlagen 2. Gesamtschuld versus Teilschuld in den romanischen Rechten 3 . Beispiele aus der europäischen Rechtsprechung III. Überwindung von Kausalitätszweifeln bei Teilnehmern und Beteiligten 1. Mittäter, Anstifter und Gehilfen a. Überblick b. Spanien c. Kausalitätsfragen 2. Beteiligte a. Überblick über das Recht der älteren Kodifikationen b. Die Modernisierung der Teilnehmerhaftung unter dem ndl. BW c. Insbesondere: Das DES-Urteil des Höge Raad v. 9. 10. 1992 IV. Schluß

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

I.

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Einleitung

Mit Hideo Nakamura ehren wir in dieser Festschrift einen der bedeutendsten Rechtsvergleicher Asiens.Sein Anliegen war es stets, Brücken zwischen Japan und Europa zu schlagen. In der Europäischen Union wiederum denkt man derzeit intensiv über Wege der Rechtsvereinheitlichung und der Rechtsangleichung nach. Voraussetzung für sie ist überall eine möglichst detailgenaue Bestandsaufnahme der Regeln, die schon heute —noch oder wieder—iure communi europaeo sind. Die Rechtsvergleichung hat innerhalb Europas auf diese Weise eine ganz neue Dimension hinzugewonnen ; sie steht hier heute im Dienste des europäischen Einigungswerkes. Lehrbücher, die sich bemühen, größere Teile des Privatrechts von vornherein in einer gemeineuropäischen Perspektive darzustellen, sind in der Entstehung begriffen. Auch in Osnabrück, das Hideo Nakamura mehrfach besucht hat, wird an einem solchen Lehrbuch gearbeitet. Sein Gegenstand ist das Deliktsrecht Wir hoffen, daß es den Geehrten interessieren möge, wenn wir uns in seiner Festschrift mit einer Vorstudie hierzu zu Wort melden, die sich noch auf das Recht der Kodifikationen beschränkt. Es geht um die Vorschriften und Rechtssätze, die das Recht der Haftung mehrerer Deliktstäter in den Blick nehmen. Diese Regelungen betreffen Nebentäter, Teilnehmer und Beteiligte und fassen sie (wenngleich unter verschiedenen Voraussetzungen und mit im Detail gelegentlich auch unterschiedlichen Rechtsfolgen) zu Gesamtschuldnern zusammen. Dabei versteht man unter Nebentätern Personen, die durch selbständige Einzelhandlungen und ohne bewußtes Zusammenwirken einem Dritten dieselbe Verletzung zufügen bzw. denselben Schaden beibringen. 1 Teilnehmer sind Mittäter, Anstifter und Gehilfen. Die Beteiligten wiederum stehen „an sich" den Nebentätern näher als den Teilnehmern, weil auch jene unabhängig voneinander handeln. Im Unterschied zu der Nebentäterschaft geht es bei der Beteiligtenhaftung aber stets um die Überwindung gewisser Kausalitätszweifel: Die Frage nach der Haftung * Ich danke den Mitgliedern meines Ständigen Seminars zum Gemeineuropäischen Deliktsrecht für vielfältige Hinweise und Informationen. 1 Vgl. ζ. B. Cass. 13. 5. 1989, n. 2204, Rep. gen. 1989 Nr. 171, Sp. 3381 (·•· la risultante di una cooperazione di attivitä nella produzione di un medesimo evento lesivo).

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eines Beteiligten ist dadurch gekennzeichnet, daß sich für ihn nicht feststellen läßt, ob er es war, der den Erfolg herbeigeführt hat (ζ. B. als Kombattant in einer Rauferei), oder ob dieser Verletzungserfolg in Wahrheit die Tat eines anderen „Gruppenmitgliedes" (Art. 6: 166 ndl. BW) gewesen ist. Dieser Aspekt — die Behebung von Kausalitätszweifeln — ist aber der haftungsrechtlich entscheidende und führt dazu, Teilnehmer und Beteiligte in einer gemeinsamen Fallgruppe zusammenzuführen. Denn auch bei der Teilnehmerhaftung (und hier wiederum insbesondere bei der Beihilfe) handelt es sich meistens darum, eine Haftung trotz unsicherer Kausalverläufe zu begründen. 2

II.

1.

Nebentäter

Grundlagen

Daß Nebentäter jeder für sich auf den ganzen Schaden haften, ist heute europäisches Gemeingut. Dem Opfer wird nicht aufgebürdet, „portionsweise" alle Personen zu verklagen, die seinen Schaden verursacht haben. Der Verletzte braucht nur gegen einen von ihnen vorzugehen und darf Ohne sachliche Bedeutung, aber doch dogmatisch bemerkenswert ist es, daß man in Griechenland mindestens einen Teil der Nebentäterhaftung schon unter den Begriff der „gemeinsam vorgenommenon Handlung" in Art. 926 S. 1, 1. Alt. ZGB subsumiert. Für die Haftung mehrerer Personen „unabhängig voneinander" (Art. 926 S. 1, 2. Alt. ZGB) und damit für den Bereich, den man bei unbefangener Betrachtung als das Kerngebiet der Nebentäterhaftung deuten würde, verweist man dagegen ganz überwiegend auf das Zusammentreffen von Haftungen aus eigenem und aus fremdem Fehlverhalten (ζ. B. die Haftung des Verrichtungsgehilfen neben dem Geschäftsherrn [Art. 922 ZGB] oder die Haftung des Aufsichtsbedürftigen neben dem Aufsichtspflichtigen [Art. 923 ZGB] , vgl. ζ. B. Georgiades/Stathopoulos(-Geor^acfes), Astikos Kodikas (ZGB) (Athen 1982), Art. 926 Rdnr. 8 1 0 ; Deliyannis / Kornilakis, Eidiko Enochiko Dikaio III (Thessaloniki 1992) S. 190 und Balis, Enochikon Dikaion, Genikon Meros 3 (Athen 1969), § 28, S. 109 ff. Der Hehler wird demgegenüber wieder nach Art. 926 S. 1 ZGB („gemeinsam vorgenommene Handlung") verantwortlich gemacht: LG Athen 1413/1976, NoB 24 (1976) S. 1119. Das österreichische ABGB hat sich in § 1301 sogar nur zur Beteiligtenhaftung geäußert; für die Nebentäterschaft muß man deshalb § 1302 ABGB entsprechend anwenden: OGH 26. 3. 1987, SZ 60/55 S. 282, 284 und Koziol, Österr. Haftpflichtrecht I2 (Wien 1980) S. 296. 2 Vgl. Deutsch, Haftungsrecht I (Köln u. a. 976) S. 347.

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

21

ihm das Problem überlassen, wie er die anderen Nebentäter ausfindig macht und mit deren evtl. Zahlungsschwierigkeiten (im Hinblick auf ihre anteilige Regreßhaftung) fertig wird3. Jede andere Lösung, insbesondere eine quotenmäßige Aufteilung des Schadens schon im Außenverhältnis, verbietet sich in einem Rechtsgebiet, in dem jede Ursache der anderen äquivalent ist und in dem jedenfalls dem Grundsatz nach zwischen den verschiedenen Schuldformen (Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit, mittlere und leichte Fahrlässigkeit) nicht unterschieden zu werden braucht, im Grunde von selbst; außerdem wäre es ein merkwürdiges Ergebnis, wollte man jemanden nur deshalb geringer haften lassen, weil auch noch jemand anders Unrechtes getan hat. Selbstverständlich ist andererseits, daß das Deliktsrecht dem Opfer nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung verhelfen, ihm also nicht denselben Schaden mehrfach ersetzen darf. Alles läuft deshalb auf das schon erwähnte Haftungsmodell der Gesamtschuld hinaus. In Deutschland (§ 840 Abs. 1 B G B ) , Griechenland (Art. 926 S. 1, 1. Alt. i. V. m. Art. 927 ZGB), Italien (Art. 2055 Cc), den Niederlanden (Art. 6:99 BW 4 ) und Portugal (Artt. 490 i. V. m. 497 Cc) steht es unmittelbar im Gesetz ; in Belgien, Frankreich, Luxemburg, Spanien und Österreich 5 hat es sich im dortigen Richterrecht durchgesetzt. 2. Gesamtschuld

versus

Teilschuld

in den

romanischen

Rechten

Die juristische Ausgangslage in den vier zuletzt genannten Ländern des romanischen Rechtsraumes war allerdings schon deshalb um einiges komplizierter, weil man hier noch mit der Regel des Code Napoleon zu kämpfen hatte, wonach „la solidarite ne se presume point; il faut qu'elle soit expressement stipulee" (Art. 1202 Abs. 1 belg., frz. und luxemb. Cc; ebenso der Sache nach die Artt. 1137 und 1138 span. Cc), und weil es für die Nebentäterschaft 6 (die faute concurrente) sowohl im französischen 3 Vgl. nur Cass. 30. 4. 1984, Rep. gen. 1985 Nr. 167 Sp. 3468; T. S. 26.12.1988, RAJ 1989 Nr. 9817, S. 9618; OGH 15. 7.1953, JBI 1954 S. 44 und Cass. civ. 15. 2. 1974, Pas. beige 1974,1, 632. Zu einer sogen. pro-rata-Haftung kommt es aber natürlich dann, wenn gleichzeitig handelnde Nebentäter verschiedene, je für sich selbständig feststellbare Schäden verursachen, vgl. (in umwelthaftungsrechtlichem Zusammenhang) ζ. B. Rb. Alkemaar 25. 2. 1993, A&V 1993 S. 19. 4 Hierzu noch unten zu IIIlc und III2b S. im übrigen Boonekamp, Onrechtmatige daad in groepsverband volgens NBW (Deventer 1990), S. 28. 5 Vorher Fn. 1 a. E. und OGH 15. 7. 1953 aaO (Fn. 3). 6 Genaugenommen fehlt in den Zivilgesetzbüchern dieser Länder zwar auch eine die Gesamtschuld von Teilnehmern anordnende Vorschrift, doch ließ sich diese Lücke

22

wie im spanischen Cc an einer die Gesamtschuld anordnenden Vorschrift fehlt7. In Spanien kam noch hinzu, daß sich auch in Art. 106 CP („Im Fall von zwei oder mehr zivilrechtlichen Verantwortlichen für ein Delikt oder Vergehen legen die Gerichte die Quote der Haftung eines jeden fest") als Ausgangspunkt die Teil (responsabilidad mancomunada), nicht die Gesamtschuld (responsabilidad solidaria) findet: „El principio general (art. 106) es un principio de fragmentation." 8 In beiden Systemen hat man sich dann aber doch des vertragsrechtlichen Kontextes des Art. 1202 frz. Cc (bzw. der Artt. 1137, 1138 span. Cc9) besonnen10 und gesagt, bei mit einem Hinweis auf die Artt. 50 belg. CP, 55 frz. CP und 107 span. CP (dazu sogleich noch im Text) leicht schließen. Man begriff, wie es ein belgischer Autor formuliert hat, die darin jeweils angeordnete solidarische Haftung als „['application d'un principe de droit commun, de droit civil" und dieses wiederum als ein Gesetz i. S. v. Art. 1202 Cc: de Page, Traite elementaire de droit civil beige 3 (Bruxelles 1967) Nr. 1032 (S. 1079) unter Hinweis auf die beiden Leitentscheidungen des belgischen Rechts: Cass. 14. 3. 1907, Pas. beige 1907, I, 160 und.Cass. 24. 1. 1924, Pas. beige 1924, I, 159. Für Frankreich s. den schönen Überblick bei Capitant (-Terre/Lequette), Les grands arrets de la jurisprudence civile9 (Paris 1991) nr. 161 (S. 679 ff). 7 Ausdrucklich angeordnet ist im französischen (Art. 1384 Abs. 4) und im luxemburgischen (Art. 1384 Abs. 2), nicht jedoch im belgischen Cc (Art. 1384 Abs. 2) eine solidarische Haftung nur auf dem Gebiet der Elternhaftung. Der Sinn dieser Klarstellung besteht freilich vornehmlich darin zu sagen, daß es sich nicht um eine in solidumHaftung handelt. 8 Diez-Picazo/Gullön, Sistema de derecho civil II6 (Madrid 1989), S. 615. 9 Ein beachtlicher Teil des spanischen Schrifttums spricht sich freilich auch heute noch gegen den vertraglichen Charakter der Artt. 1137 und 1138 Cc aus. Die schon auf T. S. 23. 12. 1903, Col. Leg. Esp. 16 (1903-11) Nr. 160, S. 941 (in einer bereicherungsrechtlichen Angelegenheit) zurückgehende vertragsrechtliche Qualifikation dieser Vorschriften entspreche weder ihrem Wortlaut noch ihrem Standort im Gesetz; folglich müsse es auch für die außervertragliche Haftung bei dem Prinzip der mancomunidad verbleiben: Cristobal Montes, Mancomunidad ο solidaridad en la responsabilidad plural por acto ilicit civil (Barcelona 1985), S. 105-116; Albalade· jo, Derecho civil II (2)8 (Barcelona 1989) S. 555-557 sowie ders., Sobre la solidaridad ο mancomunidad de los obligados a responder por acto ilicito comun, An. Der. Civ. 16 (1963) S. 345-376. Dem ist freilich entgegenzuhalten, daß der Tribunal Supremo längst auch schon im Vertragsrecht im Zweifel eine gesamtschuldnerische Haftung annimmt (vgl. bereits T. S. 22. 3. 1950, RAJ 1950 Nr. 710 S. 420; spätestens seither st. Rspr. ), so daß es aus der Sicht dieses Richterrechtes auf die Qualifikation der Artt. 1137 und 1138 Cc im Grunde gar nicht mehr ankommt. In der Rechtsprechung besteht jedenfalls spätestens seit T. S. 20. 2. 1970, RAJ 1970 Nr. 938 S. 662, 663 kein Zweifel mehr an der Anwendung des Prinzips der Gesamtschuld auf das auBervertragliche Haftungsrecht. Vgl. neben den Nachweisen in Fn. 13 ζ. B. auch noch T. S. 4. 11. 1991, RAJ 1991 Nr. 8141 S. 11160 (Gebäudehaftung und Elternhaftung; Gesamtschuld). 10 De Angel Yägüez, Tratado de Responsabilidad civil3 (Madrid 1993), S. 846-847;v.

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

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der Haftung von „coauteurs" handele es sich nicht um „un cas de solidarity parfaite au sens des articles 1200 et suivants du Code civil", so daß, „lorsqu'un fait dommageable resulte des fautes commises par plusieurs personnes et que chaque faute a ete directement causale de tout le dommage subi par la victime, sans qu'il soit possible de determiner la part respective des auteurs du fait dommageable dans la realisation du dommage, la victime peut demander ä chacun des agents en faute la totalite de la reparation"? 1 Spanischen Juristen kam zudem der Art. 107 CP zu Hilfe, der für die zivilrechtliche Haftung aus Straftaten „los autores, los cömplices y los encubridores" zu Gruppen zusammenfaßt, unter denen zwar das Prinzip der Subsidiarität gilt, für die Mitglieder einer jeden Gruppe aber ausdrücklich anordnet, sie seien „responsables solidariamente". Auf der Basis einer Gesamtanalogie, in die auch noch die Artt. 827 Ccom (Solidarhaftung beim Zusammenstoß zweier Schiffe) und 123 Ley de Navegaciön aerea (Zusammenstoß von Flugzeugen) einflossen12, und „aus Gründen der Sicherheit und des gesellschaftlichen Interesses" hat deshalb der Tribunal Supremo das Prinzip der Solidarhaftung jedenfalls für die Masse der Fälle akzeptiert, in denen es nicht möglich ist, mit mathematischer Genauigkeit die „influencia personal, por accion ou omisiön, en la producciön del evento danoso" zu ermitteln. 13 Die französische Leitentscheidung, Cass. civ. v. 11. 7. 189214, hatte sich für das dortige Recht schon 90 Jahre früher fast derselben Worte bedient. Zwei Bar(-Santdiumenge), Deliktsrecht in Europa, Spanien, (Köln u. a. 1993)S. 34; de Page aaO (Fn. 6) ; Starck {-Roland/Boyer), Obligations 1 4 (Paris 1993), Rdnr. 1267 ff. 11 So für Luxemburg Cour 25. 10. 1961, pas. luxemb. 18 (1960-62) S. 386, 387. 12 De Angel Yägüez, Responsabilidad civil 3 (Fn. 19), S. 862. Α. A. aber Cnstöbal Montes, Mancomunidad ο solidaridad (Fn. 9), S. 116-126 und Albaladejo, Derecho civil II (2)8 (Fn. 9) S. 555-557: Es handele sich um nicht analogiefähige gesetzliche Aunsnahmen von der Grundregel der mancomunidad. 13 T. S. 26. 12. 1988, RAJ 1989 Nr. 9817, S. 9618; ähnlich T. S. 25. 3- 1991, RAJ 1991 Nr. 2443, S. 3221; T. S. 31. 10. 1991, RAJ 1991 Nr. 7248, S. 9804 sowie T. S. 7.1.1992, RAJ 1992 Nr. 149 S. 174 (Leitsatz auch in VersRAI 1993 S. 31). Für einen Fall, in dem ausnahmsweise einmal eine Teilschuld mit der Begründung angenommen worden ist, die Schadensverursachungsanteile der Nebentäter ließen sich bestimmen, siehe T. S. 21. 2. 1994, RAJ 1994 Nr. 1108 S. 1460 (Beim AbriB eines Gebäudes kommt das Nachbarhaus zu Schaden. Der Abriß erfolgte zwar fahrlässig, doch haftet die Eigentümerin nur zu 25%, weil das Verschulden der Verwaltung überwogen habe: Sie habe in dem abgerissenen Haus die Wasserrohre nicht ordentlich unterhalten, und nur deshalb sei der Abriß überhaupt nötig geworden). 14 Cass. civ. 11. 7. 1892, D. P. 1894. 1. 513 (note Levillain ) = S. 1892. 1. 508. ZwischenzeitlicheSchwankungen der Rechtsprechung sind nachgewiesen bei Starck

24

Schiffe waren aus dem Verschulden beider Kapitäne kollidiert. Der Eigentümer der auf diese Weise beschädigten Ladung nahm die Kapitäne mit Erfolg als Gesamtschuldner in Anspruch: „D'apres les principes du droit commun, quand il y a participation de plusieurs ä un fait dommageable, la reparation doit Stre ordonnee pour le tout contre chacun, s'il est impossible de determiner la proportion dans laquelle chaque faute a concouru ä produire le dommage subi par la partie lesee." Und als die belgische Cour de Cassation fast ein halbes Jahrhundert später — und erneut aus Anlaß eines Schiffszusammenstoßes — vor dasselbe Rechtsproblem gestellt wurde, entschied man ebenso: „Lorsque le dommage a ete occasionne par le concours de deux fautes isolees et distinctes et qu' il a fallu ce concours pour causer le dommage, les auteurs des deux fautes sont obligfes tous deux ä la reparation integrale du dommage envers la victime, sauf ä regier entre eux la question de la contribution ä la dette"15. Die so hergeleitete Gesamtschuld begründet, soweit es um die Nebentäterhaftung geht, freilich in beiden Ländern nur ein Haftung in solidum. Es entsteht also eine Verantwortlichkeit von der Art, die nach der Auslegungsregel des § 425 Abs. 2 BGB in Deutschland grundsätzlich alle Gesamtschuldverhältnisse erfaBt: Anders als bei der für die Teilnehmerhaftung (faute commune)16 und (ζ. B.) auch für die Elternhaftung 17 vorgesehenen echten responsabilite en solidaritS wirken Mahnung, Verjährungsunterbrechung, Abtretungsanzeigen und andere Tatsachen nur für und gegen den einzelnen Gesamtschuldner. 18 (-Roland/Boyer), Obligations I 4 (Fn. 10), Rdnr. 1272 ff. Inzwischen ist die Rechtsprechung aber wieder eindeutig und verzichtet auch auf die oben im Text noch zitierte Einschränkung, vgl. ζ. B. Cass. civ. 12. 2. 1969, Bull. civ. 1969 II Nr. 46 (S. 35): „··· le coauteur d'un dommage, ayant concouru ä le causer en entier, doit §tre condamne envers la victime ä en assurer rentiere reparation" und Cass. civ. 29. 4. 1970, J. C. P. 1971. II. 16586. 15 Cass. 2. 4. 1936, pas. beige 1936, I, S. 209. 16 Was die solidarische Teilnehmerhaftung anlangt, besteht zwischen dem französischen und dem belgischen Recht insofern ein kleiner Unterschied, als man für jene in Frankreich eine Straftat verlangt (ist das Verhalten nicht strafbar, entsteht stets nur eine Haftung in solidum), während man in Belgien in dem dortigen Art. 50 CP den Ausdruck eines allgemeinen Prinzips sieht und deshalb Anstifter, Gehilfen und Mittäter auch bei reinen zivilrechtlichen Delikten solidarisch verurteilt, vgl. Mazeaud/Chabas, Lecons de droit civil, Obligations 8 (Paris 1991) Rdnr. 1070-1071; Starck (-Roland/Boyer), Obligations I 4 (Fn. 10) Rdnr. 1268 und de Page, Droit Civil Beige II3 (Fn. 6) Rdnr. 1032 (S. 1081-1084). 17 Daß „le pSre et la mere •·· sont solidairement responsables", sagt allerdings nur Art. 1384 Abs. 4 des französischen, nicht Art. 1384 Abs. 2 des belgischen Cc. 18 Knapper, schöner Überblick ζ. B. bei Capitant (-Terre/Lequette) aaO (Fn. 6 a. E.).

Die H a f t u n g von N e b e n t ä t e r n , Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

3. Beispiele

aus der europäischen

25

Rechtsprechung

Viel praktisches Anschauungsmaterial für die gesamtschuldnerische Haftung von Nebentätern liefert das Recht des Straßenverkehrsunfalls. In H. R. 20- 2. 198119 handelte es sich zum Beispiel darum, daß ein Autofahrer (K) auf einer Landstraße leichtsinning drei PKW's und einen Autobus überholen wollte. Als Κ auf der Höhe des Busses war, zog dessen Fahrer (L) den Bus nach links; L hatte zu spät einen unbeleuchtet vor ihm fahrenden Radfahrer entdeckt. So mußte Κ noch weiter nach links ausweichen und erfaßte dabei einen Fußgänger. Mit der Begründung, daß auch L wenigstens leicht fahrlässig gehandelt habe, verurteilte der H. R. den Busunternehmer als Gesamtschuldner zu vollem Ersatz. Nicht unähnlich lag BGH v. 16. 6. 195920: Einer der beiden späteren Beklagten war unter Verletzung der Vorfahrt des Klägers aus einer Tankstellenausfahrt kommend plötzlich auf die Straße gefahren und hatte den Kläger dazu genötigt, nach links auszuweichen. In diesem Moment kam dem Kläger aber der gleichfalls unvorsichtig überholende Zweitbeklagte entgegen, mit welchem der Kläger auf seinem Motorrad zusammenstieß und sich dabei so schwer verletzte, daB ihm ein Bein amputiert werden mußte. Der BGH nahm eine gesamtschuldnerische (Teil-) Haftung (den Kläger traf ein Mitverschulden) beider Beklagten an. Beide Beklagte hafteten zudem auch aus Gefährdung (§ 7 StVG), und so zeigt sowohl dieser Fall als auch H. R. 20- 2. 1981 (hier ging es schließlich um die schuldunabhängige Arbeitgeberhaftung für das Versagen von Arbeitnehmern), daß die Nebentäterhaftung durchaus ganz unterschiedliche Haftungsgründe zusammenführen kann. Auch Trib. Milano 13. 7.198921 liefert dafür ein schönes Beispiel: Durch das Verschul-

Die Rechtslage in Belgien ist dieselbe: Cass. 15. 2. 1974, Pas. beige 1974,1, 632. Auch im Rahmen von § 425 BGB ließen sich übrigens ähnliche Ergebnisse f ü r die T e i l n e h m e r h a f t u n g mit dem Argument erzielen, d a B sich hier aus der N a t u r des Schuldverhältnisses „etwas anderes ergibt". 19 H. R. 20. 2. 1981, N e d j u r 1981 Nr. 418, S. 1385- Vgl. auch H. R. 25. 6. 1993, RvdW 1993 Nr. 147. 20 BGH 16. 6. 1959, BGHZ 30 S. 20321 Trib. Milano 13. 7. 1989, Giur. it. 1991, I, 2, 54 (Anm. Rubini Tarizzo). Vgl. auch Trib. Roma 21. 10. 1992, NGCC 1993, I, 637 (gesamtschuldnerische H a f t u n g von Redakteur und Verleger); App. Napoli 12. 6. 1992, Foro it. 1993, I, 2347 (gesamtschuldnerische H a f t u n g von Journalist und Verleger) sowie Cass. sez. lav. 4. 3.1993, η. 2605, Giust. civ. Mass. 1993, Nr. 2605 S. 424, wo klargestellt wird, d a ß Art. 2055

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den des Erstbeklagten hatte der Kläger, ein Mopedfahrer, einen schweren Verkehrsunfall erlitten; ein Beinbruch und ein schwerer psychischer Schock waren die Folge. Unter dem Einfluß dieses Schocks unternahm der Kläger im Krankenhaus einen Fluchtversuch und sprang, verwirrt wie er war, aus dem Fenster. Für diesen neuen Schaden hafteten der Autofahrer und die Pfleger solidarisch; diese hätten es an der nötigen Aufsicht fehlen lassen. Oft sind es schließlich auch zwei pflichtwidrige Unterlassungen, die denselben Schaden auslösen und die handlungspflichtigen Personen in einer Gesamtschuldnerschaft zusammenführen. Das Produkthaftungsrecht kennt solche Fälle in großer Zahl22, besonders anschaulich ist aber auch BGH v. 13- 5- 195523: Zuckerrüben waren in einem ungereinigten Eisenbahnwaggon transportiert worden, mit dem zuvor Altblei befördert worden war. Die Rüben wurden später an Kühe verfüttert, die an Bleivergiftung eingingen. Dem Eigentümer hafteten Bahn und Spediteur als Gesamtschuldner. Beide hatten es pflichtwidrig unterlassen, den Waggon zu untersuchen und zu reinigen.

Cc auch im Falle des Zusammentreffens von Vertrags- und Deliktshaftung anwendbar ist. 22 Vgl. ζ. B. für Italien Trib. Massa 1. 7. 1989, Arch. Giur. Circolaz 1990 S. 600 (Platten eines Autoreifens; anschließender Unfall; Solidarhaftung des „contruttore, rigeneratore" und des „rivehditore professionale di pneumatici") und Trib. Roma 27. 4. 1988, Resp. Civ. e Prev. 1989 S. 334; für Spanien T. S. 26. 1.1990, RAJ 1990 Nr. 69.115 (tödlicher Unfall verursacht durch falsch verlegtes Kabel in einem Badezimmerschrank; Hersteller- und Verkäuferhaftung) sowie T. S. 26. 12. 1988, RAJ 1988 Nr. 9817 S. 9618 (Brand durch fehlerhafte Gasflaschen; Solidarhaftung von Hersteller und Lieferant) und für die Niederlande Hof 's-Gravenhage 7. 12. 1979, Nedjur 1981 Nr. 670, S. 2254 (falsch verklebtes Dachisolationsmaterial; Haftung des Herstellers und der Wohnungsbaugesellschaft wegen Beifügung eines fehlerhaften Merkblattes) . 23 BGH 13. 5. 1955, BGHZ 17 S. 240. — Für ein Beispiel aus dem belgischen Recht s. schon Cass. 26. 1. 1922, Pas. beige 1922, I, 143.

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

III. Überwindung mern und

von Kausalitätszweifeln

bei

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Teilneh-

Beteiligten

1. Mittäter, Anstifter und Gehilfen a.

Überblick

Wenn man schon Nebentäter gesamtschuldnerisch auf das Ganze haften läßt, dann muß man das sozusagen „erst recht" auch für Mitttäer, also für Personen anordnen, die sich zur Begehung eines gemeinschaftlich gewollten Deliktes verabredet haben, und es liegt nahe, darüber hinaus gleich noch klarzustellen, daß Anstifter und Gehilfen im Außenverhältnis ebenfalls auf den vollen Schadensbetrag in Anspruch genommen werden können. Beides ist in den §§ 830 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Abs. 2 des deutschen BGB (dessen Verfasser sich wiederum insbesondere auf die §§ 1301, 1302 ABGB bzw. Art. 60 schweizer. OR a. F. [ = Art. 50 OR η. F. ] bezogen haben24), in Art. 926 gr. ZGB25, in Art. 2055 ital. Cc26 24 Mot. II S. 738 (zu § 714 des 1. Entwurfes) bzw. (zur Gleichstellung von Anstiftung und Beihilfe mit der M i t t ä t e r s c h a f t nach österreichischem Recht) Schwimann {-Harrer), ABGB V (Wien 1987), §§ 1301 f ABGB Rdnr. 10 bzw. OG Η 4. 12. 1957, SZ 30/80 S. 264, 267. 25 Der erkennbar an § 830 BGB angelehnte Art. 926 S. 1 gr. ZGB spricht zwar im Hinblick auf die Teilnehmer (Art. 926 S. 1 ZGB äußert sich auch zu den vom deutschen Recht erst in§ 840 BGB gesondert e r f a ß t e n Nebentätern) nur von den „gemeinsam vorgenommenen Handlungen" und scheint deshalb f ü r die erste Betrachtung nur die Mittäter in den Blick zu nehmen (vgl. § 830 Abs. 1 S. 1 BGB: „Haben mehrere durch eine gemeinschaftlich begangene unerlaubte Handlung einen Schaden verursacht ···") doch ist es im Ergebnis unbestritten, d a ß Art. 926 S. 1 ZGB (neben den Nebentätern) auch Anstifter und Gehilfen gesamtschuldnerisch h a f t b a r machen will. Z w a r meint Filios, Enochiko Dikaio II (2) 3 (Athen 1992) S. 90 ff, die erste Alternative von Art. 926 S. 1 ZGB erfasse nur Mittater, doch zieht er dann Anstifter, Gehilfen und N e b e n t ä t e r in der 2. Alternative zusammen. Sonst spricht m a n sich durchweg d a f ü r aus, den Begriff der „gemeinsam vorgenommenen Handlung" weit auszulegen und alle Teilnahmeformen darunter zu subsumieren, vgl. nur Georgiades/Stathopoulos (-Georgiades) ZGB (Fn. 1), Art. 926 S. 770; Balis, Enochikon Dikaion Genikon Meros (Fn 1), § 28 (S. 109 ff); Deliyannis/Kornilakis, Eidiko Enochiko Dikaio III (Fn 1) S. 218; Kavkas/Kavkas, Enochikon Dikaion II6 (Athen 1982), S. 876 ff und Zepos, Enochikon Dikaion II (2) 2 (Athen 1965) S. 751-752. 26 Der Art. 2055 Abs. 1 Cc spricht selber zwar nur davon, d a B die schädigende

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und Art. 187 Abs. 2 ital CP27, in Art. 490 port. Cczs und in Art. 6:166 BW29 geschehen; in Frankreich und Belgien gehören die entsprechenden Regeln mit Blick auf die jeweiligen Normen des Strafrechts zum droit commun30. b.

Spanien

Ein wenig komplizierter ist die Rechtslage allerdings in Spanien31, mögen Handlung mehreren Personen zugerechnet werden kann (e imputabile α piü persone), doch bedeutet das nicht, daß Art. 2055 Cc nur die Nebentäter (dazu Cass. sez. lav. 4. 3. 1993, η. 2605 aaO [Fn. 21]) erfassen würde. Auf die Unterscheidung zwischen Nebentätern, Mittätern, Anstiftern und Gehilfen kommt es aus italienischer Sicht nämlich im Grunde gar nicht an; entscheidend ist vielmehr, daß sich ihre Tatbeiträge in einem fatto dannoso niedergeschlagen haben: Cendon (-Devescovi/Gambi) Commentario al Codice Civile (Torino 1992) S. 2160 Rdnr. 3\Cian/ Trabucchi, Commentario breve al Codice Civile1 (Padua 1992), Art. 2055 Cc Rdnr. 1; Alpa/Bessone, Tratta di Diritto privato Vol. XIV2 (Torino 1990, S. 441-442 und Cass. 15. 1. 1969, n. 70, Giust. civ. Mass. 1969 Nr. 70. 27 „I condannati per uno stesso reato sono obligati in solido al risarcimento del danno patrimoniale ο non patrimoniale." Damit in Zusammenhang steht der nicht weiter zwischen den verschiedenen Beteiligungsformen unterscheidende (vgl. nur Art. 114 CP) Art. 110 CP, der die Strafbarkeit regelt, „quando piü persone concorrono nel medesimo reato". 28 Erfaßt werden ohne Unterschied „os autores, instigadores ou auxiliares". wobei unter die „autores" nicht nur die Mit, sondern auch die Nebentäter fallen:Pires de Lima/Antunes Varela, Cödigo civil anotado I 4 (Coimbra 1987), Art. 490 Rdnr. 3 sowie Almeida Costa, Direito das Obrigacoes 5 (Coimbra 1991), S. 388. 29 Art. 6:166 BW begründet eine gesamtschuldnerische Haftung derjenigen Personen, die zu einem „Gruppenverband" (groepsverband) gehören und läBt im Hinblick auf jedes Gruppenmitglied eine Art „psychisch causaal-verband" genügen (Parlementaire Geschiedenis VI S. 663; Asser [-Hartkamp], Verbintenissenrecht III9 (Zwolle 1994), Nr. 93). Wenn schon bloße Gruppenmitglieder (Teilnehmer einer Demonstration ζ. B. ; vgl. Rb. Breda 26. 7. 1993, KG 1993 Nr. 302)) in dieser Weise haften, dann muB das erst recht fur Mittäter und Gehilfen gelten, vgl. Boonekamp, Onrechtmatige daad in groepsverband Fn. 4), S. 94. Man kann nur fragen, ob sie schon zu Art. 6:166 oder noch zu Art. 6:162 zu nehmen sind. 30 Vgl. für Belgien nur Dalcq, Examen de jurisprudence (1980 ä 1986), Rev. crit. jur. beige 1981 S. 87 Rdnr. 109\de Page, Droit Civil Beige II3 (Fn. 6), Rdnr. 1032 ff sowie aus der Rechtsprechung etwa Cass. 15. 2.1974, Pas. beige 1974,1, 632;Cass. 2. 4. 1951, Pas. beige 1951, I, 506 und Cass. 26. 1. 1922, Pas. beige 1922, I, 143, Für Frankreich s. etwa Flour/Aubert, Droit Civil. Les Obligations II5 (Paris 1991), Rdnr. 675 ff sowie Mazeaud/Chabas, Obligations 8 (Fn. 16) Rdnr. 1058, 1070 ff und Starck (-Roland/Boyer), Obligations I4 (Fn. 10) Rdnr. 1268. In beiden Systemen gilt im übrigen, daß es im Zivilrecht der vom Strafrecht her bekannten (vgl. Artt. 50 belg. bzw. 55 frz. CP) Unterscheidung zwischen Mittätern, Anstiftern und Gehilfen nicht bedarf; sie sind alle coauteurs. 31 Sehr schöne Zusammenfassung in T. S. 17. 2. 1972, RAJ 1972 Nr. 657 S. 493.

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

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die Ergebnisse auch weitgehend ahnlich sein. Ausgangspunkt ist hier — mindestens soweit es um die zivilrechtliche Verantwortung aus einer Straftat geht —, die schon erwähnte 32 Regelung der Artt. 106 und 107 CP. Nach Art. 106 CP gilt grundsätzlich das „principio de fragmentaciön". Der Art. 107 CP hält es insoweit aufrecht, als zwischen den Tatbeiträgen der dort genannten drei Gruppen — los autores, los complices y los encubridores — quotenmäßig unterschieden werden kann (sonst gilt auch hier das Prinzip der Gesamtschuld 33 ). Los encubridores sind die Hehler und die Begünstiger, Art. 17 CP. Die autores werden in Art. 14 CP definiert; autores sind danach nicht nur die Mittäter, sondern auch die Anstifter und die „notwendigen Gehilfen" (los que cooperen a la ejecuion del hecho con un acto sin el cual no se kubiere efectuado) und damit diejenigen, ohne die der (Haupt-) Täter die Tat ex ante nicht durchgeführt hätte34. Praktisch wirksam wird das System der wechselseitigen Subsidiärhaftung nach gruppenbezogener Quotierung35 also letztlich nur im Hinblick auf die nicht notwendigen Komplizen (gewissermaßen die „freien", jederzeit innechalb des Tatplanes austauschbaren „Mitarbeiter"). Denn nach Art. 16 CP „son cömplices" nur, „los que, no halländose comprendidos en el articulo 14, cooperan a la ejecucion del hecho con actos anteriores ο simultäneos". c.

Kausalitätsfragen

Ein erster Grund dafür, daß die überwiegende Zahl der europäischen Kodifikationen das Thema der Teilnehmerhaftung überhaupt aufgegriffen hat, besteht bzw. bestand sicher in einem schlichten Klarstellungsbedürfnis. Schon das sogen. „Badische Landrecht" (das Landreccht für das Großherzogtum Baden v. 3- 2. 1809) hatte in seinen den ins Deutsche übersetzten Code Napoleon „ergänzenden und erläuternden Gesetzen" AnlaB gesehen, dem Art. 1382 Cc einen Art. 1382d Bad. Landrecht hinzuzufügen, in dem es hieß, daß „von mehreren Thätern, die zu einem Erfolg zusammenwirken, ··· alle jene, die vorsätzlich handelten, sammtverbindlich" sind.36 Außerdem waren namentlich was die Anstifterhaftung anlangt, im gemeinen Recht einige Unsicherheiten in der Inter32 Vorher zu II 2. 33 Vorher Fn. 13. 34 Ζ. Β. T. S. 1. 3. 1988, RAJ 1988 Nr. 1513, S. 1451, 1452 und T. S. 11. 3. 1988, RAJ 1988 Nr. 1627 S. 1641,^1642. 35 Monllas Cueva, Teoria de las consecuencias del delito (Madrid 1991), S. 149. 36 Landrecht für das Großherzogtum Baden. Amtliche Ausgabe Karlsruhe 1867.

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pretation der römischen Texte aufgetaucht, die zu beseitigen angezeigt schien.37 Für alle europäischen Deliktsrechte gilt deshalb seither, daB auch ein Verhalten, das für sich und isoliert betrachtet keinen Haftungstatbestand erfüllt38, jedenfalls dann im Außenverhältnis zum Ersatz des ganzen Schadens verpflichtet, wenn es einen anderen vorsätzlich darin bestärkt hat, deliktisches Unrecht zu begehen, und dabei spielt es durchweg auch keine Rolle, ob dieser andere die Tat selbst dann (allein oder mit Dritten) begangen hätte, wenn er sich der Unterstützung seines mithaftenden Komplizen nicht gewiß gewesen wäre. Man stellt auf dessen vorsätzliche Beteiligung an der Tat ab und läßt sie genügen, um Zweifel daran, ob und in welchem Umfang Mittäterschaft oder Beihilfe wirklich (psychisch) kausal wurden, hintanzustellen39. Das ist der zweite Grund dafür, die Teilnehmerhaftung im Rahmen des zivilen Deliktsrechts besonders herauszustellen. Es ist also, um es mit den Worten der belgischen Cour de Cassation zu sagen, nicht erforderlich, „de faire une distinction suivant que la participation a ete principale ou accessoire, ni suivant la mesure dans laquelle les participants ont contribue aux divers faits qui ont causä le dommage40." Dasselbe Ergebnis erreicht man, wenn man Gehilfen und Haupttäter als „Gruppenmitglieder" qualifiziert. Denn die Regelung (z. B.)des Art. 6:166 ndl. BW hat ja geradezu den Zweck, das Band der Kausalität vom Verletzungserfolg nur noch bis zu dem Verhalten der als Einheit gedachten Gruppe zu ziehen. Ein in Anspruch genommenes Gruppenmitglied wird folglich nicht nur mit der Behauptung nicht gehört, es sei nicht der Täter gewesen, sondern auch mit der Behauptung nicht, daß der Schaden auch ohne sein Verhalten entstanden wäre41. Das wiederum deckt sich mit den Grundlinien der beiden deutschen Leitentscheidungen auf diesem Gebiet. BGH v. 29. 10· 197442 betraf eine von Studenten organisierte Hausbesetzung. Als die Polizei das Haus räumte, flogen Steine. Zwei Polizisten wurden verletzt, auch entstanden Schäden 37 Mot. II S. 738. 38 Vgl. Antolisei, Manuale di Diritto Penale, P a r t e Generale 10 , S. 473. 39 Vgl. die immer noch grundlegende Analyse von Bydlinski, H a f t u n g bei alternativer Kausalität, JBI 1959 S. 1 13 sowie Koziol, Österr. Haftpflichtrecht I2 (Fn. 1)S. 65. 40 Cass. 2. 4. 1951, Pas. beige 1951, I, 506, 508. 41 Hijma/Olthof, Compendium van het Nederlands Vermögensrecht" (Deventer 1990), Nr. 419; Schut, Onrechtmatige daad 4 (Zwolle 1990), § 23; Boonekamp, Onrechtmatige daad in groepsverband (Fn. 4), S. 17;Parlementaire Geschiedenis VI S. 662. 42 BGH 29. 10. 1974, BGHZ 63 S. 124.

Die H a f t u n g von N e b e n t ä t e r n , Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

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an den eingesetzten Polizeifahrzeugen. Die Beklagten, die später auf dem Dach eines Nachbarhauses angetroffen wurden, hatten zwar selber keine Steine geworfen, jedoch lautstark an der Besetzung und der nachfolgenden „Schlacht" mitgewirkt. Der BGH sagt, „darauf, ob es zu den Ausschreitungen auch ohne die Beteiligung der Beklagten gekommen wäre, kommt es nicht an. Eine dem Haupttäter gewährte Unterstützung kann auch dann Beihilfe sein, wenn sie für den Erfolg nicht ursächlich ist."43 Nicht unähnlich lag BGH v. 31. 1. 1978 Es ging um einen Bummelstreik von Fluglotsen. Da sie als Beamte kein Streikrecht haben, beurteilte der BGH ihr Vorgehen als sittenwidrig i. S. v. § 826 BGB. Der beklagte Verein, der Verband der Fluglotsen, hatte die Aktionen seiner Mitglieder („go sick" und „go slow") durch seine Organe in Interviews und auf andere Weise unterstützt. Der BGH sagt, „ob es zu der .Aktion' und ihren Folgen auch ohne die Unterstützung des Beklagten [des Vereins der Fluglotsen] gekommen wäre, ist nicht entscheidend." Eine „psychische Unterstützung als Beihilfe zur Ausführung der Tat" genügt, um die Solidarhaftung auszulösen45. 2.

Beteiligte

Komplizierter werden die Dinge, wenn es einerseits an Mittäterschaft, Anstiftung oder Beihilfe fehlt, andererseits aber auch keine vollständige Nebentäterschaft vorliegt, weil gerade unklar ist, wer von mehreren Personen den deliktsrechtlich relevanten „Erfolg" verursacht und deshalb unerlaubt gehandelt hat. Das Problem, das diese Fallgruppe aufwirft, liegt auf der Hand: Sollen solche Beteiligten das Unaufklärbarkeitsrisiko tragen und also als Gesamtschuldner haften, obwohl sie (möglicherweise) gar nichts angerichtet haben, oder soll der Schadensersatz des Opfers an dem fehlenden Kausalitätsnachweis scheitern ? a. Überblick

über das Recht der älteren

Kodifikationen

Ein schönes (wenngleich im Ergebnis inzwischen überholtes46) Beispiel für das Dilemma, in das vor allem der Geschädigte in solchen Fällen zu 43 A a O S. 130. 44 BGH 31. 1. 1978, BGHZ 70 S. 277. 45 AaO S. 285. Ganz gleich in der Sache auch die österreichische Rechtsprechung, vgl. etwa OG Η 14. 4. 1954, SZ 27/103 S. 241, 244;OGH 2. 9- 1970, SZ 43/141 S. 507, 509 und OGH 15. 1. 1986, SZ 59/7 S. 31, 34. 46 Unten im T e x t zu Fn. 63-66

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geraten droht, ist Cass. civ. 4.1.1957-47 Die Herren Richard, Gauthier und Gaudray waren gemeinsam zur Jagd gegangen. Gauthier und Gaudray hatten gleichzeitig (aber unabhängig voneinander) in die Richtung geschossen, in der Richard stand. Schrotkörner trafen ihn an Gesicht und Händen. Seine Klage gegen Gauthier und Gaudray wurde abgewiesen. Es hatte sich nicht klären lassen, aus welcher Flinte die Schrotgarbe stammte. Richard sei es deshalb nicht gelungen, „de prouver, d'une part, Γ existence d'une relation de cause ä effet entre les coups de feu et le dommage dont il demande reparation et, d'autre part, que les projectiles qui l'ont atteint ont ete tires par l'arme placee sous la garde du chasseur auquel il impute la responsabilite dudit dommage."4® Hätte sich dieser Unfall zeitgleich in Portugal zugetragen, so hätte man nicht anders entshieden49, und bis heute hält man dort allem Anschein nach — neuere Rechtsprechung freilich fehlt — an diesem Ergebnis fest 50 : Der erkennbar in Kenntnis der abweichenden Lösung des BGB (§ 830 Abs. 1 S. 2 BGB) formulierte Art. 490 Cc äußert sich nur zu Nebentätern, Mittätern, Anstiftern und Gehilfen; das Schweigen zu dem Problemkomplex der Beteiligtenhaftung muß man deshalb als ein beredtes Schweigen interpretieren. 51 Mit dieser die Interessen der Handeln47 Cass. civ. 4. 1. 1957, D. 1957 Jur. 264. Ganz gleich auch Sachverhalt und Entscheidung Cass. civ. 9. 10. 1957, D. 1957 Jur. 708 („··· le gardien d'une chose dont il n'est pas demontrS qu'elle a occasionne le dommage, ne [peut] §tre condamne ä le reparer"). Vgl. andererseits aber auch Cass. civ. 18. 5. 1955, D. 1955 Jur. 520· 48 AaO S. 265. 49 Eingehend (und sowohl unter Hinweis auf § 830 Abs. 1 S. 2 BGB als auch auf jene Jagdfälle) Vaz Serra, Obrigacäo de Indemnizäcäo, BolMinJust 84 (1959) S. 5, 98-100. S. auch schon Pereira Coelho, Ο problema de causa virtual na responsabilidade civil (Coimbra 1955), IntroduSäo N. 5, der die deutsche Lösung kritisierte und die Abwesenheit einer entsprechenden Regelung im (alten) portugiesischen Recht begrüßte. Vaz Serra ist sich aber zu diesem Zeitpunkt (vgl. noch Fn. 51) offenbar de lege ferenda noch völlig unschlüssig gewesen, weil seine diesbezüglichen Formulierungsentwürfe in den entscheidenden Punkten noch offen blieben, aaO S. 125 und S. 286. 50 Antunes Varela, Das Obrigacoes em Geral I7 (Coimbra 1991) S. 615 (dort Fn. 2) unter Hinweis auf die vorgenannten Schriften von Vaz Vaz Serra und Pereira Coelho\ ebenso Martins de Almeida, Manual de Acidentes de Viacäo 3 Coimbra 1987), S. 232. Anders als das spanische (dazu sogleich im Text) kennt im übrigen auch das portugiesische Jagdgesetz keine wenigstens diesen „klassischen" Fall der Beteiligtenhaftung ausdrücklich regelnde Vorschrift. Der Art. 33 des port. Jagdgesetzes (Gesetz Nr. 30/86 v. 27. August 1986) beschränkt sich vielmehr darauf, die Führer von Jagdwaffen demselben Haftungsregime zu unterstellen, dem nach Art. 503 Cc auch Kfz-Eigentümer und -Fahrer unterliegen. Begründet wird so zwar eine objektive Haftung, aber keine Haftung ohne Kausalität. 51 Die weitere Gesetzgebungsgeschichte bestätigt das. In den Text seines Antepro-

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

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den über die Interessen der Opfer stellenden Haltung steht das portugiesische Recht heute in Europa freilich weitgehend allein da. Lediglich in Italien noch kommt die Rechtsprechung auf der Basis des nicht minder unbefriendigenden Art. 2055 ital. Cc zu vergleichbaren Ergebnissen52. Sonst aber ist die Entwicklung in allen anderen hier untersuchten Rechtsordnungen genau in die umgekehrte Richtung verlaufen. Selbst in Spanien, wo man zunächst wohl ebenfalls gegen das Opfer entschied53, dann aber im gemeinspanischen Jagdgesetz aus dem Jahre 197054 wenigstens für den engen Bereich der Jagdunfälle Abhilfe schuf55, hat der Tribunal Supremo mit einer Entscheidung vom 8. 2.198356 inzwischen das Ruder herumgeworfen. Es ging um den Wurf kleiner spitzer Metallgegenstände aus einer Gruppe von Kindern, die auf einer öffentlichen Straße spielten. Der Verletzte vermochte nicht anzugeben, wer die Gegenstände geworfen hatte. Der Tribunal Supremo hält die Eltern auf der Basis einer Gesamtanalogie zu den Artt. 1910,1564, 1683,1784 Cc und Art. 33 Abs. 5 des gemeinspanischen Jagdgesetzes für gesamtschuldnerisch haftbar. Jede andere Lösung verbiete sich, „por (ser) inequitativo exonerar de responsabilidad por esos danos, acudiendo a la fuerza jecto nimmt Vaz Serra dann nämlich einen Art. 741 Abs. 3 auf, der lautet: „Se ο dano foi causado no decurso de uma accäo conjunta perigosa, embor näo ilicita, näo podendo saber-se quem foi ο autor efectivo dele, presume-se a culpa no mesmo dano dos que t e n h a m culposamente participado nessa accäo" (BolMinJust 101 [1960] S. 15,122), doch wird dieser Abs. 3 (im Gegensatz zu den Absätzen 1 und 2) in Art. 490 Cc nicht reproduziert. Eine solidarische Gruppenhaftung aus vermuteter Kausalität blieb dem portugiesischen Recht deshalb fremd: Martins de Almeida aaO (vorige Fn. ). 52 Vgl. ζ. B. Cass. 14. 6. 1978, n. 2962, Giust. Civ. Mass. 1978 S. 1215 und Cass. 13. 5. 1989, n. 2204, Giust. Civ. Mass. 1989 S. 556, 557 = Rep. gen. 1989 Sp. 3381, Nr. 171 (bei N e b e n t ä t e r s c h a f t gingen Kausalitätszweifel zu Lasten des Opfers; Art. 2055 Cc b e t r e f f e solche Fälle nicht, „e se non si identifica la precisa imputabilitä dell'evento f r a due ο piti persone che, in ipotesi, possono avere prodotto il danno con azioni contestuali m a autonome, la pretesa risarcitoria deve essere respinta, non potendosi addossare una responsabilitä, per cosi dire, collettiva, sol perche non si e acquisita la prova deH'imputabilitä individuale"). Mit Recht kritisch (und sogar f ü r die Abschaffung von Art. 2055 Cc, den er als eine Folge des condicio sine qua non-Prinzips kritisierte) schon Forchielli, II rapporto di causalitä nell'illecito civile (Padova I960), S. 96, 150 und 153. 53 In diesem Sinn jedenfalls eine zwar unveröffentlichte (und mir nicht zugangliche), aber offenbar einflußreiche Studie von Pantaleon, über deren Inhalt de Angel Yaguez, Responsabilidad civil 3 (Fn. 10), S. 874-877 ausführlich berichtet. 54 Der — recht forsche — T e x t des Art. 33 Abs. 5 S. 2 lautet in deutscher Übersetzung: „Wenn bei der J a g d mit W a f f e n der Verursacher des Personenschadens nicht ermittelt werden kann, h a f t e n alle Mitglieder der Jagdgesellschaft gesamtschuldnerisch." 55 Ζ. Β. T. S. 8. 7. 1988, RAJ 1988 Nr. 5681 S. 5596, 5597. 56 T. S. 8. 2. 1983, RAJ 1983 Nr. 867, S. 602.

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mayor, que dejaria sin indemnizaciön a las victimas, con lo que, ademäs, se orillan las dificultades de prueba atribuyendo la responsabilidad del grupo a que pertenece el desconocido autor de la infraccion deflosa, y a su vez se fundamenta la solidaridad de los responsables personalizando la responsabilidad de todos y cado uno de los miembros del grupo •••"57 Die diese spanische Entscheidung tragende Überlegung, daB der die sogen. Alternativtäterschaft kennzeichnende Kausalitätszweifel letztlich nicht das Opfer, sondern die potentiellen Täter belasten muB, steht auch hinter den entsprechenden Vorschriften des deutschen, des griechischen und des niederländischen Gesetzbuches. Nach § 830 Abs. 1 S. 2 BGB, der ältesten unter diesen Regelungen, ist auch dann „jeder für den Schaden verantwortlich, ··· wenn sich nicht ermitteln läßt, wer von mehreren Beteiligten den Schaden durch seine Handlung verursacht hat", und ebenso deutlich sagt Art. 926 S. 2 ZGB, daB „wenn bei mehreren, die gleichzeitig oder nacheinander gehandelt haben, nicht ermittelt werden kann, wessen Handlung den Schaden verursacht hat", alle als Gesamtschuldner anzusehen sind. Schießen also mehrere Jäger gleichzeitig und wird ein Treiber getroffen 58 , versetzen zwei Personen unabhängig voneinander einem Dritten Schläge 59 oder werfen (ähnlich wie im Fall des Tribunal Supremo) mehrere aus einer Gruppe Steine oder andere Gegenstände60, so haftet im Zweifel jeder von ihnen im Außenverhältnis auf den ganzen Schaden61. In Belgien62 und in Frankreich (wo man, wie 57 Aao S. 603. Vgl. hierzu eingehend de Angel Yägüez, Responsabilidad civil 3 (Fn. 10), S. 879-882 sowie Diez-Picazo/Gullen, Sistema II6 (Fn. 8), S. 616. 58 RG 19. 1. 1920, RGZ 98 S. 58, 60;vgl. auch BGH 2. 2. 1962, VersR 1962 S. 430. Weitere „Jagdfälle" aus der deutschen Rechtsprechung u. a. bei BGB-RGRK (-Steffen)12 (Berlin und New York 1989), § 830 BGB Rdnr. 27. Für Griechenland s. Georgiades/Stathopoulos {-Georgiades), ZGB a (Fn. 1), Art. 926 Rdnr. 17 und f ü r die Niederlande Boonekamp, Onrechtmatige daad in groepsverband (Fn. 4), S. 13 sowie Spier, Besprechung des vorgenannten Buches von B o o n e k a m p . W P N R 1991 Nr. 6029 S. 857. 59 BGH 15. 6. 1982, N J W 1982 S. 1307; Georgiades aaO. 60 RG 11. 1. 1909, J W 1909 S. 136 Nr. 11; BGH 19. 2. 1960, LM BGB § 830 Nr. 8; Rb. Almelo 15. 12. 1943, N e d j u r 1944 Nr. 312 S. 463;Rb. A l k m a a r 22. 12. 1949 N e d j u r 1950 Nr. 447 S. 753; Rb. T u r n h o u t 11. 2. 1980, Pas. beige 1980, III, S. 40; Cass. civ. 6. 3. 1968, Bull. civ. 1968, II, Nr. 76. 61 Vgl. auch noch den anschaulichen Fall BGH 1. 10. 1957, BGHZ 25 S. 271 („Verläuft ein infolge schulhafter Vernachlässigung verkehrsunsicherer W e g über die unmittelbar benachbarten Grundstücke verschiedener Eigentümer, und k o m m t ein Wegebenutzer infolge dieser Vernachlässigung im Grenzbereich zu Fall, h a f t e r jeder der Eigentümer, wenn nicht ermittelt werden kann, ob sich der Unfall auf dem einen oder auf dem anderen Grundstück ereignet h a t " ) . 62 Rechtsprechungsübersicht bei Vandenberghe/ Van Quickenborne/Gelen/De Coster,

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

35

gesagt, ursprünglich eine andere Linie verfolgte) sieht man die Dinge heute genauso. Schon im Jahre 1968 hat die Cour de Cassation einem Mitglied „d'une bände de jeunes gens", die ein Pfadfinderlager angegriffen hatte, die Beweislast für seine Behauptung aufgebürdet, er habe den fraglichen Stein nicht geworfen63. Daraus hat sich dann alsbald eine feststehende Rechtsprechung entwickelt, „selon laquelle les participants ä une activite dangereuse peuvent etre tous condamnes ä reparer le dommage qui a pu en resulter" 64 , sofern eben nur unklar blieb, wer den Schaden tatsächlich verursacht hat.65 Abgerundet wurde diese Rechtsprechung dann schließlich noch dadurch, daB man die entsprechende Beweislastregel auch auf die allgemeine Gardien-Haftung nach Art. 1384 Abs. 1 Cc bzw. auf die spezielle Tierhalterhaftung nach Art. 1385 Cc erweiterte. 66 b. Die Modernisierung

der

Teilnehmerhaftung

unter

dem

ndl.

BW

Die jüngste Regelung auf diesem Gebiet, nämlich die des niederländischen BW vom 1. 1. 1992, knüpft erkennbar an diese Entwicklungen im französischen Recht an, geht aber in mancher Beziehung sogar noch weiter. In Art. 6:166 Abs. 1 findet sich zunächst die schon erwähnte Haftung der Mitglieder eines sogen. „Gruppenverbandes" (groepsverband): „Wenn ein Gruppenmitglied unerlaubt Schaden verursacht und das so geartete Schadensrisiko diese Personen von ihrem Auftreten im Gruppenverband hätte abschrecken sollen, dann haften sie gesamtschuldnerisch, wenn ihnen dies Verhalten zugerechnet werden kann." Ergänzt wird diese Vorschrift aber auch noch um den (seinerseits den Art. 6:162 BW erweiternden) Art. 6:99 BW, der lautet: „Kann der Schaden Folge von zwei oder mehr Ereignissen sein, für die jeweils eine andere Person TPR 1987 S. 1255, 1536-1537 (Nr. 175). 63 Cass. civ. 6. 3. 1968, Bull. civ. 1968 II Nr. 76; Bericht bei Durry, Rev. trim. civ. 66 (1968) S. 711, 718-719. Im Bereich der Jagdunfälle kündigte sich die Wende übrigens schon mit Cass. civ. 5. 2. 1960, D. I960 Jur. 365 an. 64 Durry, Rev. trim. civ. 71 (1973) S. 773, 779-780 m. w. N., vgl. insbesondere Cass. civ. 12. 7- 1971, Bull. civ. 1971, II Nr. 258 = D. 1972 Jur. 227 sowie — aus jüngerer Zeit — Cass. civ. 14. 12. 1983, Sem. Jur. 1984, a, 65 und Cass. civ. 15. 12. 1980, D. 1981 Jur. 455 (Salutschüsse bei einer dörflichen Hochzeit mit Schrotflinten [!]). 65 Vgl. Cass. civ. 10. 1. 1973, Bull. civ. 1973, II Nr. 15 (keine gesamtschuldnerische Elternhaftung, weil feststand, wessen Kinder in dem Hangar das Feuer entzündet hatten). 66 Wie vorige Fn.; weitere Nachweise u. a. bei Durry, Rev. trim. civ. 82 (1984) S. 315, 316-318.

36

verantwortlich ist, und steht fest, daß der Schaden mindestens durch eines dieser Ereignisse verursacht worden ist, dann trifft die Verpflichtung zum Schadensersatz jede dieser Personen, es sei denn, sie beweist, daB der Schaden nicht durch ein Ereignis verursacht wurde, für das sie verantwortlich ist." Beide Vorschriften nähern sich dem Thema der Beteiligtenhaftung also unter einem je verschiedenen Gesichtspunkt. Der Art. 6:166 BW setzt sozusagen bei dem Gedanken der actio libera in causa an: Gehaftet wird letztlich dafür, daß man sich einer Menschengruppe angeschlossen (ζ. B. an einer Demonstration teilgenommen67) hat, obwohl dieser Gruppenverband 68 erkennbar Gefährliches unternimmt (die Demonstranten sind auf Gewalt aus). Kommt es aus dieser Gruppe zur Verwirklichung des für sie typischen Schadensrisikos, so haftet jeder, und zwar unabhängig davon, ob der wahre Täter bekannt ist oder nicht. Erfaßt werden also gerade nicht nur die Sachverhalte, die sich unproblematisch auch unter § 830 Abs. 1 S. 2 BGB bzw. Art. 926 S. 2 gr. ZGB bringen lassen69, sondern auch solche, bei denen man mit dem Ansatz jener Vorschriften über die Beteiligtenhaftung gerade nicht weiterkommt: wenn also wenigstens ein Täter (der Steinewerfer z.B. ) bekannt ist70 oder wenn umgekehrt jedenfalls feststeht, daß das in Anspruch genommene Gruppenmitglied nicht der Tater ist.71 Es haftet nach den — sachlich m. E. überlegenen 72 — Vorstellungen des niederländischen Rechts aus Gründen der Solidarität gleichwohl selber mit: mitgefangen, 67 Vgl. Rb. Breda 26. 7. 1993, KG 1993 Nr. 302 sowie Asser (-Hartkamp), Verbintenissenrecht III8 (Fn. 29) Nr. 94 und Parlementaire Geschiedenis VI S. 664 (jeweils aber mit dem Zusatz, daß im Hinblick auf das Demonstrationsrecht eine besondere Einzelfallanalyse notwendig sei). 68 Zu diesem Begriff näher Boonekamp, Onrechtmatige daad in groepsverband (Fn. 4), S. 75-76 und S. 81-96 sowie Parlementaire Geschiedenis VI S. 662-663. 69 Ein schönes Beispiel findet sich in Rb. Amsterdam 16. 3. 1962, Nedjur 1962 Nr. 302 S. 983 (Vier Jungen spielen FuBball. Der Ball rollt auf die Straße. Ein Mofafahrer kommt zu Fall. Wer den Ball getreten hat, bleibt unaufklärbar). 70 Vgl. BGH 15. 12. 1970, BGHZ 55 S. 86, 94; Filios, EnochikoDikaio II2 3 (Fn. 25) S. 94 und auch Cass. civ. 10. 1. 1973, Bull. civ. 1973, II, Nr. 15 einerseits und Bloembergen, Onrechtmatigedaad I (Loseblatt, Deventer ab 1992), Artikel 166 Anm. 2. 1; Boonekamp, Onrechtmatige daad in groepsverband (Fn. 4), S. 5-7; Spier, WPNR 1991 Nr. 6029 S. 857, 858 sowie Hijma/Olthof, Compendium 4 (Fn. 41) Nr. 419 und Schut, Onrechtmatige daad 1 (Fn. 41), § 23 andererseits. 71 Auch in diesem Fall besteht nach griechischem und deutschem Recht keine Haftung, vgL Filios aaO sowie BGH 24. 1. 1984, BGHZ 89 S. 383, 399. 72 Ebenso de Angel Yägüez, Responsabilidad civil 3 (Fn. 10) S. 846 ff, der sich dafür ausspricht, das Konzept einer Haftung der Gruppe auch für das spanische Recht zu entwickeln.

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

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mitgehangen. Deutlich anders setzt dagegen Art. 6:99 BW an. Hier handelt es sich nicht um die Verwirklichung eines „Gruppenrisikos", sondern um eine Haftung aus bloß wahrscheinlicher Kausalität. Zwischen den von Art. 6: 166 und Art. 6:99 BW erfaßten Fällen mag es zwar eine gewisse Schnittmenge geben, doch steht die eigenständige — und erneut deutlich über § 830 Abs. 1 S. 2 BGB bzw. Art. 926 S. 2 gr. ZGB hinausweisende — Bedeutung von Art. 6:99 BW außer Frage. Man sieht das einmal in den besonders in Deutschland und Griechenland im Anschluß an BGH v. 7. 11.1978 73 recht intensiv diskutierten 74 Fällen, in denen die Kausalität nur eines Nebentäters zweifelhaft, die des anderen jedoch gewiß ist. In jener Entscheidung war der Elektriker D morgens mit seinem Pkw mit dem Mopedfahrer R kollidiert. R, der die Vorfahrt des D geschnitten hatte, blieb regungslos auf der Straße liegen. Kurz darauf näherte sich der Beklagte der Unfallstelle und überfuhr, weil er nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, den R. Dieser starb kurz darauf in der Unfallklinik. Es hat sich nicht feststellen lassen, wer den Tod des R verursacht hat, weil sowohl der erste als auch der zweite Unfall geeignet waren, die tödlichen Verletzungen herbeizuführen. Anders als früher in vergleichbaren Fallen75 lehnt der BGH eine gesamtschuldnerische Mithaftung des Beklagten neben dem D ab. Es sei sicher, daß D über § 7 StVG (Gefährdungshaftung des Kfz-Halters) für den ganzen Schaden aufkommen müsse, weil ihm auch der Folgeunfall zuzurechnen sei. Die Hinterbliebenen des R seien deshalb rechtlich76 nicht in der für § 830 Abs. 1 S. 2 BGB typischen Notlage, überhaupt keinen Haftenden ausmachen zu können. Der § 830 Abs. 1 S. 2 BGB habe nicht den Zweck, die bloße Unsicherheit zu überspielen, ob zusätzlich neben dem einen Täter noch ein anderer verantwortlich sei.77 Die Lösung dieses Falles, die auch in 73 BGH 7. 11. 1978, BGHZ 72 S. 355 ff. 74 Vgl. aus dem griechischen Schrifttum ζ. B. Filios, Enochiko Dikaio III (2)3 (Fn. 25) S. 94 (der Art. 926 S. 2 ZGB in einem solchen Fall f ü r unanwendbar hält) einerseits und Deliyannis/Kornilakis, Eidiko Enochiko Dikaio I (Fn. 1)S. 225-226 (die meinen, das Verhalten des zweiten A u t o f a h r e r s habe den Kausalzusammenhang zwischen dem Erstunfall und dem Gesamtschaden mit der f ü r Art. 926 S. 2 ZGB typischen Folge einer Beweisnot des Verletzten unterbrochen). Aus dem deutschen Schrifttum s. insbesondere Deutsch, H a f t u n g s r e c h t I (Fn. 2), S. 353. 75 BGH 15. 11. 1960, BGHZ 33 S. 286. 76 Wirtschaftlich bestand das Problem des Falles offenbar darin, d a B der Verursacher des Ernstunfalles keinen zureichenden Haftpflichtversicherungsschutz hatte, vgl. BGHZ 72 S. 355, 361. 77 BGH a a O (vorige Fn. ); vgl. auch schon BGh 15. 12. 1970, BGHZ 55 S. 86, 94.

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Griechenland erhebliche Schwierigkeiten bereitet78, wäre unter Art. 6:99 BW eindeutig: Der Beklagte würde, wie sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, gesamtschuldnerisch mithaften, ein Ergebnis, das durchaus mehr zu befriedigen vermag als das des BGH. c. Imbesondere:

Das DES-Urteil

des Höge Raad

v. 9. 10.

1992

Das enorme Haftungspotential, das der niederländische Gesetzgeber mit Art. 6:99 BW geschaffen hat, wird freilich nicht so sehr in dieser, sondern in der Fallgruppe deutlich, in der man nicht einmal weiß, ob von den im Zeitpunkt der Klage noch identifizierbaren möglichen Verursachern überhaupt auch nur ein einziger kausal geworden ist, und in der gleichzeitig feststeht, daß die Inanspruchgenommenen weder Teilnehmer noch Gruppenmitglieder i. S. des Art. 6:166 BW sind. In H. R. 9. 10- 199279 hat das zu einer produkthaftungsrechtlichen Sicht geführt, die genau genommen selbst noch über das hinausführt, was man in den USA unter dem Stichwort „market share liability" entwickelt hat.80 In der Zeit zwischen 1953 und 1967 hatten pharmazeutische Betriebe Diethylstiberiol-Tabletten (DES) in Verkehr gebracht, die vor Fehlund Frühgeburten schützen sollten. Gefährdungen der Frucht im Mutterleib waren allerdings schon nach dem damaligen Stand der Wissenschaft nicht ganz ausgeschlossen. Bei ihrer Geburt gesunde Mädchen erkrankten später an Urogenitalkrebs. Als die Erkrankungen und ihre Ursache bekannt wurden, vermochten die Töchter jedoch weder anzugeben, von welcher Firma die von ihren Müttern eingenommenen Tabletten in den Verkehr gebracht worden waren, noch, ob das in ihrem konkreten Fall schadensursächliche Präparat wenigstens von einem der nunmehr verklagten Unternehmen (manch andere waren inzwischen schon gar nicht mehr am Markt) stammte. Der Höge Raad gab der Klage statt. Art. 6:99 BW sei in zeitlicher Hinsicht anwendbar, weil sich in ihm lediglich eine schon damals herrschende Rechtsauffassung niedergeschlagen habe, und in sachlicher Hinsicht, weil die Vorschrift ihrem Text und ihrem Zweck nach gerade dafür da sei zu verhindern, daß seinen Schaden selbst tragen 78 Wie Fn. 74. 79 H. R. 9. 10. 1992, RvdW 1992 Nr. 219 = TMA 1993 S. 15 m. Anm. van Dunne. 80 Vgl. Spencer /Van Wassenaer, Causal links and congenital disabilities, [1993] CLJ 206-209; Klinge-van Rooij/Snijder, Auf dem Weg zu einem neuen Produkthaftungsrecht. Das DES Urteil des Hogen Raad, EuZW 1993 S. 569, 570 und (ewsiv) Het DES-arrest in het perspectief van verzekerbare slachtofferbescherming, A&V 1993 S. 6, 10-11.

Die Haftung von Nebentätern, Teilnehmern und Beteiligten in den kontinentalen Deliktsrechten der Europäischen Union

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müsse, wer nicht darlegen und beweisen könne, wessen Handlung für den Verletzungserfolg kausal geworden sei.81 Im übrigen könne im Außenverhältnis auch eine pro rata Haftung nach Art der Marktanteilshaftung nicht akzeptiert werden. Denn dieses System sei insoweit unbefriendigend, als es das Opfer sowohl mit dem Insolvenzrisiko des Produzenten als auch mit dem Risiko belaste, daß das Unternehmen nicht mehr bestehe bzw. nicht ausfindig gemacht werden könne.

IV.

Schluß

Das DES-Urteil wird die Gemüter noch eine Weile beschäftigen. Es ist eine die Neuregelungen des BW konsequent umsetzende Entscheidung, die auch andernorts in Europa Beachtung verdient. Man sollte sie nicht als eine Besonderheit des niederländischen Rechts isolieren, sondern in ihr einen Anzeiger für die in Europa einzuschlagende Richtung sehen. Es ist hier nicht anders als in vielen weiteren Materien des Haftungsrechts auch: Das niederländische BW hat in besonderem Maße juristische Gestaltungskräfte gebündelt und Europa ein Gesetzbuch geschenkt, an dem sich die anderen oft nur noch mit Mühe messen lassen können.

81 Vgl. in diesem Sinn — wenngleich ohne ausdrücklichen Bezug auf die Produzentenh a f t u n g — s c h o n Parlementaire Geschiedenis VI S. 346 (Toelichting Meijers).

Das Verhältnis von Beweislastumkehr und Umkehr der konkreten Beweisführungslast im deutschen Zivilprozeß von

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gottfried Baumgärtel

Köln

em. Professor an der Universität zu Köln

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Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV.

Die Problematik Die Bedeutung der Beweislastumkehr Die konkrete Beweisführungslast Problemfälle zur Abgrenzung von Beweislastumkehr und Umkehr der konkreten Beweisführungslast V. Folgerung für die Abgrenzung der beiden beweisrechtlichen Institute

Der Beitrag ist einem Wissenschaftler gewidmet, der durch seine Arbeiten und das von ihm geleitete Institut für Rechtsvergleichung der Waseda-Universität in Tokio die Kenntnis des japanischen Privat- und Prozeßechts in eindrucksvoller Weise ermöglicht hat. In Zusammenarbeit mit ihm wurde die Übersetzung und Veröffentlichung der japanischen ZPO in deutscher Sprache in der von mir mitgegründeten Reihe „Japanisches Recht" 1 ermöglicht.

1 Bd 4, Köln 1978 (Carl-Heymanns-Verlag)

Das Verhältnis von Beweislastumkehr und Umkehr der konkreten Beweisführungslast im deutschen Zivilprozeß

I. Die

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Problematik

Mit dem folgenden Beitrag will ich mich mit einem Rechtsproblem befassen, das auch in der japanischen Praxis von Bedeutung ist2, der Beweislastumkehr und besonders die Abgrenzung zur Umkehr der konkreten Berufsführungslast.

II. Die Bedeutung der

Beweislastumkehr

Die Umkehr der Beweislast wird sowohl in der Rechtsprechung 3 als auch in der Literatur 4 als ein Weg angesehen, der der beweisbelasteten Partei im Fall von Beweisschwierigkeiten die Beweisführung erleichtert. Beispiele hierfür sind bei der Arzthaftung die Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers 5 und bei der deliktischen Produzentenhaftung für die Fehlerhaftigkeit eines Produkts im Zeitpunkt des In-Verkehr-Bringens 6 wie im sog. Hühnerpesturteil 7 . Mit der Beweislastumkehr wird der an sich nicht beweisbelasteten Partei das Risiko der Unaufklärbarkeit einer entscheidungserheblichen Tatsache zugewiesen, um auf diese Weise „eine selbständige sekundäre materielle Risikozurechnung zu verwirklichen" 8 .

III. Die konkrete

Beweisführungslast

2 vgl Kurata, Beweislast im Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 1986, passim (vorgesehen in Übersetzung von Dr. Marutschke, Fernuniversität Hagen, für die Reihe „Japanisches Recht") 3 vgl BGHZ 99, 391, 396 f. 4 vgl ua Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl, § 117 a 5 Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, Bd 1, 2. Aufl, 1993, § 823 Anhang C II 6 Baumgärtel, aaO, Anh C III Rdn 21 7 BGHZ 51, 91 8 Gottwald, Karlsruher Forum 1986, S. 17

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ι. Um zu klären, ob die Beweisnot der beweisbelasteten Partei statt durch eine Beweislastumkehr durch eine Umkehr der konkreten Beweisführungslast behoben werden kann, ist kurz auf die Bedeutung dieses beweisrechtlichen Instituts einzugehen. Von der „abstrakten", dh der bei Beginn des Prozesses feststehenden subjektiven Beweislast wird schon in den Werken von Rosenberg'3 und Leonhard.1" und in zunehmendem Maße in der neueren Literatur 11 die „konkrete" Beweisführungslast unterschieden. Es ist das Verdienst von Prutting, die Bedeutung dieser Rechtsfigur für Theorie und Praxis herausgearbeitet zu haben12. Die konkrete Beweisführungslast betrifft die Frage, wer in einer bestimmten Prozeßsituation, in der das Gericht bereits eine vorläufige Überzeugung erlangt hat, einen Beweis antreten muß, um den Prozeß zu gewinnen13. Sie hängt also von der Prozeßsituation und nicht von der objektiven Beweislast, die für die Verteilung der abstrakten Beweisführungslast maßgebend ist, ab14. Sie kann im Laufe des Verfahrens bis zur Erschöpfung aller Beweismittel „hin und her pendeln"15. 2. Damit ist das Verhältnis von konkreter und abstrakter Beweisführungslast gekennzeichnet. Während beide zu Beginn des Prozesses übereinstimmen, entwickelt sich die konkrete Beweisführungslast im Laufe des Verfahrens unabhängig von der Beweislastverteilung und ist nur durch die. Beweiswürdigung des Gerichts in der jeweiligen Prozeßsituation bestimmt16. Für die Entscheidung hat die konkrete Beweisführungslast insofern Bedeutung, als durch ihre Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung die bereits für das Urteil vorhandene Tatsachengrundlage verändert wird17. Ob es sich um ein Problem der abstrakten oder der konkreten Beweisführungslast handelt wird deutlich, wenn man danach fragt, auf „wel9 Die Beweislast, 5. Aufl, 1965, S. 178, 180 ff. 10 Die Beweislast, 2. Aufl, 1926, S. 129, 130 f. 11 vgl ua Bruns, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl, 1979, Rdn 170 d und 171, der allerdings die subjektive Beweislast ausschließlich als k o n k r e t e Beweisführungslast ansieht ; Gottwald, J u r a 1980, 227 I Maassen, Beweismaßprobleme im Schadensersatzprozeß, 1975, S. 13 ff. 12 Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 7 ff., 29 f. 13 Prutting (FN 12), S. 7 f. 14 Gottwald (FN 11), S. 227 15 Bruns (FN 11) 16 Gottwald (FN 11), S. 227 ; Prutting (FN 12), S. 9 : im Ergebnis auch Habscheid, FS Baumgärtel, 1990, S. 110 17 vgl Prutting (FN 12), S. 11

Das Verhältnis von Beweislastumkehr und Umkehr der konkreten Beweisführungslast im deutschen Zivilprozeß

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eher Grundlage der Richter bei Scheitern des Beweises sein Urteil fällen wird. Ist die Urteilsgrundlage ein non liquet, dann ging es um eine abstrakte Beweislastfrage, liegt aber ein festgestellter Sachverhalt zugrunde, dann war „nur" die konkrete Beweisführungslast im Streit" 18 . 3. Bevor auf die Abgrenzung der Umkehr der objektiven Beweislast von der Umkehr der konkreten Beweisführungslast eingegangen wird, ist zunächst an einigen Beispielen die Bedeutung der konkreten Beweisführungslast im Gegensatz zu der — der objektiven Beweislast entsprechenden — abstrakten Beweisführungslast zu verdeutlichen. a. Im Streit darum, ob ein für den Abschluß eines Rechtsgeschäfts wichtiger Umstand arglistig verschwiegen worden ist, hat der Anspruchsteller zwar das Verschweigen zu beweisen, jedoch wird ihm die schwierige Beweisführung dadurch erleichtert, daß der Gegner die Behauptung des Verschweigens spezifiziert bestreiten muß. Er muß also substantiiert darlegen, zu welcher Zeit und mit welchen Erklärungen er die offenlegungspflichtigen Tatsachen mitgeteilt hat. Gelingt es dem Anspruchsteller, darzutun und zu beweisen, daß dieses Vorbringen unwahr ist19, so kann der Gegner die vom Gericht bereits gewonnene Überzeugung von dem arglistigen Verschweigen mit Hilfe des indirekten Gegenbeweises20 erschüttern 21 . Der indirekte Gegenbeweis zielt darauf ab, durch Indizien, dh durch tatbestandsfremde Tatsachen — wie ζ Β ein außergerichtliches Geständnis — einen Schluß auf das Nichtvorliegen eines Tatbestandsmerkmals, wie der Gegner es behauptet hat (Haupttatsachenbehauptung), zu ermöglichen22. b. Ergibt sich für den Anspruch aus § 812 BGB der Mangel des Rechtsgrundes bereits ohne weiteres aus dem unstreitigen Tatbestand, wie es bei der Eingriffskondiktion häufig der Fall sein dürfte, so ist es Sache des Gegners, zu beweisen, daß für den Eingriff doch ein Rechtsgrund vorhanden ist23. Es handelt sich auch hierbei um einen Fall des indirekten Gegenbeweises24. c. Praktische Bedeutung hat die konkrete Beweisführungslast vor allem für die Erschütterung eines Anscheinsbeweises. Ist das Gericht von der 18 19 20 21 22 23

Prutting (FN 17) Eingehend dazu Baumgärtel/Laumen (FN 5), Bd 1, 2. Aufl, § 123, Rdn 5 f. RGZ 125, 392 f. spricht von der Widerlegung einer tatsächlichen Vermutung Rosenberg (FN 9), S. 195 Thomas/Putzo, ZPO, 19. Aufl, vor § 284 Rdn 11 vgl dazu Baumgärtel / Strieder (FN 5), Bd 1, 2. Aufl, § 812 Rdn 11 m Beispielen und wN 24 Rosenberg (FN 9), S. 196

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von dem Anspruchsteller zu beweisenden Tatsache überzeugt, so kann der Gegner diese Überzeugung erschüttern, indem er konkrete Tatsachen behauptet und erforderlichenfalls beweist25, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines von der Lebenserfahrung abweichenden Verlaufs ergibt26. Die Erschütterung ist auch dann gelungen, wenn er beweist, daß ein Schaden auf zwei Ursachen zurückgeführt werden kann, die beide auf typischen Geschehensabläufen beruhen27. Die Berufung auf eine zweite denkgesetzlich zwar mögliche, aber äußerst unwahrscheinliche Ursache reicht hierfür freilich nicht aus28. Der Gegner hat die konkrete Beweisführungslast, ohne daß sich an der Beweislastverteilung etwas ändert. d. In den zahlreichen Fällen einer „tatsächlichen Vermutung" 29 , in denen die Rechtsprechung 30 eine Beweislastumkehr annimmt, hat die Literatur überwiegend zutreffend eine Umkehr der konkreten Beweisführungslast als ausreichend angenommen31.

IV. Problemfälle

zur Abgrenzung

und Umkehr der konkreten

von

Beweislastumkehr

Beweisführungslast

In vielen Fällen, in denen die Rechtsprechung zur Behebung der Beweisnot zugunsten der beweisbelasteten Partei eine Beweislastumkehr annimmt, entsteht die Frage, ob der Partei, um einen Eingriff in das materielle Recht zu vermeiden, auch durch eine Umkehr der konkreten Beweisführungslast geholfen werden kann. An zwei Beispielen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, soll dies erörtert werden, l. Zu den anspruchsbegründenden Merkmalen des Provisionsanspruchs 25 26 27 28 29 30

BGHZ 8, 239 BGH N J W 1969, 277 ; 1978, 2032 ; Thomas/Putzo (FN 22), § 286 Rdn 13 BGH N J W 1954, 349 BGH N J W 1978, 2032 Eingehend hierzu Baumgärtel, FS Schwab, 1990, S. 43 ff. vgl ua BGH MDR 1978, 567 (Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit von Privaturkunden) ; BGHZ 98, 174, 178 (RückZahlungsanspruch eines Kreditnehmers) ; BGH N J W 1980, 1793,1794 (Nachweis der fehlenden Wiederholungsgefahr bei Wettbewerbsstreitigkeiten) 31 vgl ua Rosenberg/Schwab/Gottwald (FN 4), § 114 I 4 m w N ; Rosenberg (FN 9), S. 51, 187 f. I I. Meier, zum Problem der Beweislastverteilung im Schweizerischen Recht, ZSR 4/ I /1987, S. 2 zu F N 8

Das Verhältnis von Beweislastumkehr und Umkehr der konkreten Beweisführungslast im deutschen Zivilprozeß

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des Maklers gehört gern § 65211 BGB die Kausalität zwischen der Tätigkeit des Maklers und dem Abschluß des Kaufvertrages. Diese hat der Makler zu beweisen32. Erforderlich ist der Beweis einer für den Erwerb wesentlichen Maklerleistung, durch die der Interessent den Anstoß bekommen hat, sich um das in Rede stehende Objekt zu bemühen33. Da sich die Kausalität weitgehend in der Sphäre des Auftraggebers entwickelt, so daß der Makler diesen Beweis oft nur schwer führen kann, erleichtern Rechtsprechung 34 und Literatur 35 ihm die Beweisführung durch eine widerlegbare Vermutung. Der Auftraggeber, der den Kausalzusammenhang in Abrede stellt, müsse darlegen und beweisen, daß ihm das Objekt bereits bekannt gewesen sei, als der Makler es ihm angeboten habe. Soweit der Auftraggeber diesen Beweis führe, treffe den Makler wieder die volle Darlegungs- und Beweislast für sein Vorbringen, seine Informationen seien gleichwohl mitursächlich für den Abschluß des Hauptvertrages gewesen36. Der Auffassung von einer „widerlegbaren Vermutung" und ihrer Begründung kann nicht zugestimmt werden. Es handelt sich vielmehr um eine Schlußfolgerung aus einem Erfahrungsatz. Wie Laumen37 zutreffend dargelegt hat, greifen vielmehr die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins ein, die nur eine Umkehr der konkreten Beweisführungslast, nicht aber eine Beweislastumkehr zur Folge haben. Der vom Makler zu führende Hauptbeweis für den Kausalzusammenhang zwischen seinem Tätigwerden und dem Zustandekommen des Haupt Vertrages kann als erbracht angesehen werden, wenn seine Tätigkeit bewiesen ist und der Hauptvertrag in einer angemessenen Zeitspanne danach abgeschlossen worden ist. Der Auftraggeber muß dann Tatsachen darlegen und beweisen, die die Berechtigung der Schlußfolgerung in Frage stellen. Dazu genügt es, wenn er Tatsachen beweist, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit seiner Vorkenntnis ergibt38. Gelingt ihm dieser Beweis, so trägt der Makler wiederum die volle Darlegungs- und Beweislast dafür, daß sein Tätigwerden gleichwohl für den Abschluß des Hauptver-

32 33 34 35 36

BGH NJW 1979, 869 ; WM 1984, 62, 63 ; Baumgärtel, FS Schwab, 1990, 43, 46 BGH NJW 1983, 1849, 1850 ua BGH WM 1984, 62, 63 ua Jauernig/ Vollkommer, BGB, 7. Aufl, 1994, § 652 Anm 6 ua BGH WM 1984, 62, 63, weitere Nachweise bei Baumgärtel/Laumen (FN 5), § 652 FN 6 und 7 37 in Handbuch der Beweislast, Bd 1, 2. Aufl, § 652 Rdn 8 m w N 38 KG NJW 1970, 901, 902 ; Baumgärtel, FS Schwab, S. 47.

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trags mitursächlich geworden ist39. 2. Zu einem entgegengesetzten Ergebnis — Beweislastumkehr statt einer Umkehr der konkreten Beweisführungslast— kann es im Falle der Verletzung einer Befundsicherungspflicht kommen. Der BGH hat im sog. „Mehrweg-Mineralwasser-Fall" 40 zugunsten des durch eine zerborstene Mineralwasserflasche verletzten Klägers eine Kausalitätsvermutung angenommen, nach der von einer „Vorschädigung" der Mineralwasserflasche vor der Inverkehrgabe auszugehen ist, so daß der Produzent den Beweis des Gegenteils erbringen muß. Hätte der BGH statt einer Umkehr der Beweislast die Abwälzung der konkreten Beweisführungslast auf den nicht beweisbelasteten Produzenten angenommen, so wäre es, wenn das Gericht hinsichtlich der für den Kausalzusammenhang maßgebenden Tatsache, dem Zerbersten der Mineralwasserflache, aufgrund der Beweiswürdigung zu einem non liquet gekommen wäre, trotz dieser Beweiserleichterung bei der objektiven Beweislast des Klägers geblieben. Die Klage hätte keinen Erfolg gehabt. Dadurch unterscheidet sich die Umkehr der konkreten Beweisführungslast von der Umkehr der objektiven Beweislast. Die Umkehr der konkreten Beweisführungslast kann die durch Verletzung der Befundsicherungspflicht verursachte Beweisschwierigkeit nicht voll ausgleichen. Eine Umkehr der Beweislast abweichend von der gesetzlichen Regelung ist freilich nur dann gerechtfertigt, wenn Sachgründe vorhanden sind, die das Gericht legitimieren, das Beweisrisiko contra legem zum Nachteil der nicht beweisbelasteten Partei zu verschieben. Die besonderen Sachgründe zu einer derartigen richterrechtlichen Rechtsfortbildung sind schon deshalb erforderlich, weil die Beweislastumkehr eine Haftungsverlagerung bedeutet41. Die Rechtsprechung hat daher zumeist unter Zustimmung eines Teils der Literatur nur vorsichtig eine Umkehr der objektiven Beweislast in denjenigen Fällen bejaht, in denen die Verschiebung des Beweisrisikos nach dem Zweck der anzuwendenden Norm geboten erscheint42. Das gilt ua für die Arzt- und Produzentenhaftung, für die Berufspflichtverletzung, für die Anwendung des § 618 BGB, die Beweisvereitelung 43 und die Verletzung der Befundsicherungs39 Laumen (FN 37) m w N 40 BGHZ 104, 323 = Ν J W 1988,2611 = JZ 1988, 966 ; N J W 1993, 528 ; vgl auch Arens, ZZP 104 (1991), 113, 131 f f . ; Baumgärtel, FS Walder, Zürich 1994, 143, 145 f. 41 dazu Stoll, A c P 176 (1976), S. 146 ff. 42 dazu Baumgärtel (FN 5), Anh § 282 Rdn 27 43 eingehend dazu Baumgärtel, F S Kralik, Wien 1986, S. 63 ff.

Das Verhältnis von Beweislastumkehr und Umkehr der konkreten Beweisführungslast im deutschen Zivilprozeß

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pflicht durch Geologen, die im Bergwesen zur Erweiterung des Tagebaus tätig sind44.

V. Folgerung für lichen

die Abgrenzung

der beiden

beweisrecht-

Institute

ι. Die Gegenüberstellung der beiden Problemfälle aus der Rechtsprechung macht deutlich, daß an die Umkehr der konkreten Beweisführungslast geringere Anforderungen zu stellen sind als an die Umkehr der objektiven Beweislast, daß aber andererseits die für die beweisbelastete Partei entstehenden Beweisschwierigkeiten nicht genauso ausgeglichen werden können wie bei einer Beweislastumkehr. Für die Behebung von Beweisschwierigkeiten im Falle der Beweisnot der beweisbelasteten Partei durch eine Abwälzung der konkreten Beweisführungslast auf die nicht beweisbelastete Partei statt einer Beweislastumkehr spricht vor allem, daß die Veränderung der objektiven Beweislast einen Eingriff in das materielle Recht bedeutet und daß daher eine solche richterrechtliche Rechtsfortbildung nur bei Vorliegen besonderer Sachgründe zugelassen werden kann. 2. Als Ergebnis kann zu dem Verhältnis der beiden beweisrechtlichen Institute — Beweislastumkehr und Abwälzung der konkreten Beweisführungslast auf den Prozeßgegner — festgestellt werden, daß grundsätzlich als Beweiserleichterung der Umkehr der konkreten Beweisführungslast der Vorzug zu geben ist. Dadurch wird ein Eingriff in das materielle Recht weitgehend vermieden.

44 vgl Baumgärtel, FS Walder, Zürich 1994, S. 143 ff.

Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht von

Prof. Dr. Kostas E. Beys

Athen

ord. Professor an der Universität Athen Direktor des Studienzentrums zur Justizgewährung

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Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV. V. VI.

Die Problematik im hellenischen Recht Die Privatrechtsstreitigkeiten Die Angelegenheiten der Freiwillingen Gerichtsbarkeit Die öffentlichrechtlichen Angelegenheiten Die Verwaltungsrechtsstreitigkeiten Das Problem der Konkurrenz von Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten in Hinsicht auf den Hauptstreitgegenstand und die Vorfrage VII. Die Verfassungsrechtsstreitigkeiten VIII. Ergebnis

Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht

I. Die Problematik

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im hellenischen Recht

l. Eine allgemein akzeptierte Klärung des Begriffs der Verwaltungsrechtsstreitigkeiten ist bis jetzt der hellenischen Rechtsprechung und Literatur nicht gelungen, insbesondere hinsichtlich der Abgrenzung der Verwaltungsrechtsstreitigkeiten von den privatrechtlichen Streitigkeiten. Die diesbezüglichen Auseinandersetzungen sind relativ jung,was seine Erklärung darin findet, daß sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit erst in den letzten zwölf Jahren rühmt, ihre Vervollständigung erreicht zu haben. Nach der Gründung des neuhellensichen Staates war die jeweilige Regierung nie willig, die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der öffentlichen Verwaltung zu akzeptieren 1 . So galt der Grundsatz, daß jede Einmischung der Gerichte in Administrativgegenstände verboten ist (Art. 3 des Civil Verfahrensgesetzbuchs von 18342), mit Ausnahme der privatrechtlichen Ansprüche gegen den königlichen Fiskus, die in der Regel der Zuständigkeit der Zivilgerichte angehörten (hlCVGB 1) unter der Voraussetzung, daß sich der Kläger zuvor an die vorgesetzte Behörde ergebnislos gewandt hatte (hlCVGB 2). Da die Zivilgerichte somit auch für diese sogenannten materielln 3 Verwaltungsrechtsstreitigkeiten zuständig waren, bestand kein Anlaß zur Erhellung der Gegensätzlichkeiten zwischen Privatrechts- und materiellen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten.

1 Nach dem Scheitern eines ersten Versuchs mit den Dekreten vom 3- und 26. April 1833 wurden 1838 Verwaltungsgerichte durch Gesetz errichtet, die sechs Jahre später jedoch abgeschafft wurden und zwar als vermeintlicher Überrest der inzwischen aufgehobenen absoluten Monarchie. 2 Des Weiteren = hlCVGB. 3 Seitdem wird in der hellenischen Rechtsprechung und Literatur unterschieden zwischen den kassatorischen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten, d. h. den Anfechtungsklagen zur Aufhebung von rechtswidrigen Verwaltungsakten, und den materiellrechtlichen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten, bei denen das zuständige Gericht in der Sache selbst entweder erkennt, ob der Kläger den geltendgemachten Entschädigungsanspruch gegen den Fiskus hat, oder rechtsgestaltend entscheidet, also darüber, was in der Beziehung der öffentlichen Verwaltung zu dem Kläger gelten wird, insbesondere bei Steuerrechtsstreitigkeiten.

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Erst 19284 wurde nach dem Vorbild des französischen Conseil d'fitat ein Oberster Verwaltungsgerichtshof zur kassatorischen Aufhebung von rechtswidrigen Verwaltungsakten errichtet. Dreißig Jahre später 5 wurden Finanzgerichte errichtet, die 19766 zu Verwaltungsgerichten umgestaltet wurden, die sowohl für die materiellen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten als auch für die Finazrechtsstreitigkeiten zuständig waren. Das war das Ergebnis der Verfassungsreform von 1975, welche die allmähliche Übertragung der materiellen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten von der Gerichtsbarkeit Zivilgerichte und der Zuständigkeit verschiedener Ausschüsse an die Gerichtsbarkeit der ordentlichen Verwaltungsgerichte ermöglichte. Mit Art. 1 des Gesetzes 1406/1983 Uber die Vervollständigung der Gerichtsbarkeit der ordentlichen Verwaltungsgerichte wurde bestimmit, daß sämtliche materiellen Verwaltungsrechtsstreitigkeitn der Gerichtsbarkeit der ordentlichen Verwaltungsgerichte zugeordnet werden, wodurch in der Praxis eine heftige Diskussion über das Unterscheidungskriterium zwischen Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten ausgelöst wurde. Die diesbezüglichen Auseinandersetzungen betrafen vor allem die Anfechtung der verwaltungsrechtlichen Zwangsvollstreckung zur Durchsetzung von privatrechtlichen Zahlungsansprüchen des Fiskus oder anderer öffentlichrechtlicher Einrichtungen und deren Haftung auf Schadensersatz wegen rechtswidrigen Verhaltens ihrer Organe bei oder anläßlich der Ausübung ihrer Diensttätigkeit, insbesondere bei Autounfällen, die durch Dienstwagen verursacht wurden. Im geltenden Recht ist der Zugang zu den ordentlichen Verwaltungsgerichten ausschließlich durch folgende Rechtsbehelfe möglich: a. Den kassatorischen Antrag auf Aufhebung von rechtswidrigen Verwaltungsakten, wodurch die sogenannte kassatorische Verwaltungsrechtsstreitigkeit anhängig wird; b. die Beschwerde zur Abänderung einer verwaltungsrechtlichen Regelungsmaßnahme, insbesondere über die Höhe von Steuern, Gebühren oder Sozialversicherungsbeiträgen, wobei das Tatsachen- und Beweismaterial zu berücksichtigen ist; c. die Schadensersatzklage gegen den Fiskus oder andere öffentlichrecht4 Durch das Gesetz 3713/1928. 5 Mit dem Gesetz 3845/1958 und nach dem Mißerfolg eines früheren Versuches mit dem Gesetz 2289/1952. 6 Mit dem Gesetz 505/1976.

Der Bereich der P r i v a t - und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht

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liehe Einrichtungen auf Zahlung von Schadensersatz wegen rechtswidriger Akte oder Unterlassungen ihrer Organe (Schadensersatzklage). Damit sind Feststellungsklagen zur Erkenntnis eines öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisses sowie Leistungsklagen zur Verurteilung der öffentlichen Verwaltung, einen bestimmten Verwaltungsakt zu erlassen, stillschweigend ausgeschlossen. 2. Vorliegende Arbeit versucht die Abgrenzung von Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten und eine Erweiterung der Verwaltungsrechtsstreitigkeiten aus der Sicht des öffentlichrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör und Justizgewährung gemäß Art. 20 § 1 der hellenischen Verfassung 7 und Art. 6 § 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention 8 . Im Gegensatz zum Bonner Grundgesetz sowie zu der EMRK garantiert Art. 20 § 1 hlVerf. nach dem Vorbild der italienischen Verfassung für jedermann einen öffentlichrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör und darüber hinaus auch auf Justizgewährung. Zunächst bestehen diese beiden Ansprüche gegen die Gerichte als Staatsorgane in Bezug auf das verletzte Recht des Rechtssuchenden. Darüber hinaus gewährt die hellenische Verfassung den Anspruch auf rechtliches Gehör und Justizgewährung auch in Bezug auf die bloßen Interessen des Betroffenen: Jeder hat das Recht auf Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte und kann vor ihnen seine Rechte oder Interessen 9 erörtern. Diese Formulierung hat keinesfalls den Sinn, daß die verletzten rechtlichen Interessen einer Person den eigentlichen Gegenstand des Anspruchs auf rechtliches Gehör und Justizgewährung bilden. Denn auch hier betrifft der Streitgegenstand die Beurteilung eines subjektiven Rechts, d. h.die negative Erkenntnis, daß der Beklagte das subjektive Recht nicht hat, auf das er sich beruft und mit dessen Ausübung er die rechtlichen Interessen des Klägers verletzt hat. 3. Die positive Regelung der hellenischen Verfassung, daß alle materiellrechtlichen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten der Gerichtsbarkeit der ordentlichen Verwaltungsgerichte und alle privatrechtlichen Rechtsstreitigkeiten der Gerichtsbarkeit der ordentlichen Zivilgerichte unterliegen, gibt den Anschein einer einfachen Regelung. Bei dem Versuch jedoch, einfache und leichte Richtlinien aufzustellen, konnte unsere Rechtsprechung nicht die erforderliche dogmatische Konsequenz, insbesondere in folgenden zwei Fällen bewahren: 7 Des Weiteren = hl Verf. 8 Des Weiteren = EMRK. 9 Gemeint sind natürlich die rechtlichen Interssen.

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a. Bei Erlaß eines Verwaltungsaktes btr. die Entfernung des Klägers von einem bewaldeten öffentlichen Grundstück, wurde entschieden, daß es sich lediglich um eine privatrechtliche Rechtsstreitigkeit handelt,wenn sich die diesbezügliche Anfechtungsklage auf das private Eigentum des Klägers stützt. b. Bei Beschlagnahme eines dem Schudner nicht gehörenden Grundstücks, welche durch den Fiskus zur Realisierung von öffentlichrechtlichen Einnahmen betrieben wird, wird von der Rechtsprechung die Drittwiderspruchsklage auf Aufhebung dieser verwaltungsrechtlichen Beschlagnahme wegen des geltend gemachten Eigentums des Klägers ebenfalls der Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte zugeordnet. In diesen beiden Fällen sieht unsere Rechtsprechung das Kriterium zur Abgrenzung der Verwaltungs- von der Privatrechtsstreitigkeit nicht im Klageantrag, also nicht im Hauptstreitgegenstand, sondern in der privatrechtlichen Vorfrage des geltend gemachten Eigentums des Klägers, was eigentlich bloß den Klagegrund bezeichnet. Zu dieser dogmatisch verfehlten Lösung gelangt unsere Rechtsprechung aus der praktischen Überlegung, daß die erwähnte Vorfrage dem Verwaltungsrichter mehr Schwierigkeiten als dem Zivilrichter macht, da jener mit Fragen des Privatrechts nicht vertraut ist, während es für den Zivilrichter nicht schwer ist, nach Feststellung des Eigentums des Klägers den Verwaltungsakt aufzuheben. Dogmatisch ist jedoch diese Betrachtungsweise verfehlt. Bei der Qualifizierung eines Rechtsstreits kommt es auf den Klageantrag und nicht auf den Klagegrund an,wie es bei der Abgrenzung des Umfanges der Rechtskraftwirkung auf den Urteilstenor und nicht auf die Urteilsgründe ankommt. 4. Zwar wird der Gegenstand der Rechtskraftwirkung im Bereich der herrschenden Dispositionsmaxime durch den Klageantrag bestimmt, aber es ist auch der Umkehrschluß nicht zu übersehen, daß nichts als Streitgegenstand und somit als einem Gerichtsbarkeitszweig zugehörig bezeichnet werden kann, dessen Beurteilung schließlich nicht in Rechtskraft erwachsen kann. Die Abgrenzung der Rechtskraftwirkung kann deshalb als Leitmotiv für die Qualifizierung des Streitgegenstandes als privat- oder verwaltungsrechtlich dienen. Dabei sind im hellenischen Recht manche Eigentümlichkeiten zu beachten wie etwa folgende: a. Die Rechtskraft tritt nur bezüglich des entschiedenen subjektiven

Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht

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Rechts ein (hlZPGB 324)10, soweit das Urteil formell rechtskräftig (hl ZPGB 321) über ein Rechtsverhältnis entschieden hat, welches durch Klage, Widerklage, Hauptintervention oder Aufrechnungseinrede geltend gemacht worden ist(hlZPGB 322 § 1 ) . b. Darüber hinaus umfaßt die Rechtskraftwirkung auch das Rechtsverhältnis, welches als zwischengeprüfte Vorfrage mitentschieden wurde, soweit von ihrer Entscheidung die Beurteilung des strittigen Hauptrechtsverhältnisses abhängt, unter der zusätzlichen Bedingung, daß das entscheidende Gericht auch zur selbständigen Beurteilung der Vorfrage sachlich zuständig wäre, falls sie durch einen selbständigen klageantrag als Hauptstreitgegentstand geltend gemacht würde (hlZPGB 331). c. Die Rechtskraft erstreckt sich auch auf die entschiedene prozessuale Rechtsfolge (hlZPGB 322 § 1 ) , wie z.B. auf das Fehlen einer Prozeßvoraussetzung und insbesondere auf das Bestehen der Rechtskraftbindung aus einer früheren rechtskräftigen Entscheidung zwischen denselben Parteien über denselben Streitgegenstand. 5. Schließlich ist es eine Besondeheit des hellenischen Rechts, daß die Verfassung selbst die Gerichtsbarkeit eines jeden Gerichtszweiges abgrenzt: Die Gerichte untetscheiden sich in Verwaltungs- Zivil- und Strafgerichte (hlVerf93 § 1). Den Verwaltungsgerichten unterliegen die Verwaltungsstreitigkeiten (hlVerf94 §1 und 95), den Zivilgerichten sämtliche Privatrechtsstreitigkeiten sowie die ihnen durch Gesetz zugewiesenen Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (hlVerf 94 § 3), und den ordentlichen Strafgerichten unterliegen die Züchtigung von Straftaten sowie die Entscheidung über alle sonstigen Maßnahmen nach den Strafgesetzen (hlVerf96 § 1) • Darüber hinaus kann durch Gesetz den Zivil- und Verwaltungsgerichten auch jede sonstige Zuständigkeit verwaltungsrechtlicher Natur zugewiesen werden (hlVerf 94 § 3). 6. Im Rahmen dieser rechtlichen Regelungen hat sich die hellenische Praxis mit folgenden Fragen befaßt: a. Ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör und Justizgewährung Rechnung getragen, wenn das Gesetz den Zugang zum Gericht nur über den Umweg der Zwischenprüfung der strittigen Rechtsfolge als Vorfrage zu einem anderen Streitgegenstand zuläßt ? b. Ist der verfassungsrechtlichen Aufteilung der Rechtsstreitigkeiten und der Zuweisung zu den verschiedenen Gerichtszweigen, und zwar in Verbindung mit der Garantie des Anspruchs auf rechtliches Gehör und 10 hlPGB = hellenisches Zivilprozeßgesetzbuch.

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Justizgewährung Rechnung getragen, wenn sich die Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte lediglich auf der zwischenzuprüfenden Vorfrage privatrechtlicher Natur stützt, während der Hauptstreitgegnstand eine Verwaltungsstreitigkeit betrifft ? 7. Die erste Frage tauchte auf, als der Generalstaatsanwalt durch ein (inzwischen abgeschafftes) Gesetz ermächtigt wurde, Anordnungen zu treffen, durch welche die Veröffentlichung von Deklarationen terroristischer Organisationen in der Presse verboten werden konnte. Da das Gesetz kein Organ und kein Verfahren zur gerichtlichen Nachprüfung der Rechtmäßigkeit solcher Anordnungen des Generalstaatsanwalts vorsah, stellte sich die Frage, ob es für die Wahrung des Prinzips des rechtlichen Gehörs genügt, wenn über die Rechtmäßigkeit der Anordnung als Vorfrage zum Strafantrag vom Strafgericht im Rahmen der Verhandlung gegen die Presseverantwortlichen wegen Übertretung der Anordnung entschieden wird. 8. Die zweite Frage betrifft die Fälle des Widerspruchs gegen Maßnahmen im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Zwangsvollstrekkung, z.B. gegen die Beschlagnahme eines Grundstücks, wenn der Vollstreckungsschuldner seine Schuld, und zwar aus einem Privatrechtsverhältnis mit dem Fiskus, bestreitet. Unterliegt dieser Widerspruch der Gerichtsbarkeit der Verwaltungsgerichte aufgrund des verwaltungsrechtlichen Hauptstreitgegenstandes, den der Antrag auf Aufhebung der verwaltungsrechtlichen Beschlagnahme darstellt, oder ist die Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte aufgrund der privatrechtlichen Natur der Vorfrage über das Bestehen der Schuld anzunehmen ? 9. Die Beantwortung dieser Fragen kann nur über den Weg näherer Untersuchung des Sinns und des Umfangs der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten auf gewissen Erfolg hoffen, und zwar für die letzteren insbesondere aus der Sicht des Anspruchs auf rechtliches Gehör und Justizgewährung.

II. Die

Privatrechtsstreitigkeiten

l. Für die Definition der Privatrechtsstreitigkeit besteht heutzutage im Schriftum trotz verschiedener Formulierungsvariationen Einigkeit darüber, daß sie in ihrem Kern auf die positive oder negative gerichtliche Feststellung eines privaten Rechtsverhältnisses gerichtet ist. Aus diesem

Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht

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Kern erwachsen dann die Vollstreckbarkeit des Leistungsurteils und die Gestaltungswirkung des Gestaltungsurteils. 2. Seit der Verfassungsreform von 1975 unterliegen sämtliche Privatrechtsstreitigkeiten den Zivilgerichten (hlVerf 94 §3). Älter ist die Regelung des Art. 63 hlStPGB, daß die Zivilklage auf Schadensersatz aus einer strafbaren Handlung sowie auf Wiedergutmachung des immateriellen Schadens oder der seelischen Beeinträchtigung vom Berechtigten aufgrund der Bestimmungen des Zivilgesetzbuches vor dem Strafgericht geltend gemacht werden kann. Somit entsteht die Frage nach dem Schicksal dieser Zivilklage vor den Strafgerichten. Die Zulässigkeit der Zivilklage vor dem Strafericht steht m.E. mit Art. 20 § 1 hlVerf [Anspruch auf rechtliches Gehör und Justizgewährung~\ insoweit in Einklang, als sie dem verletzten Zivilkläger die Mönglichkeit zum rechtlichen Gehör vor dem Strafgericht gibt. Sie steht auch mit Art 8 §1 hlVerf [Recht auf den gesetzlichen Richter] in Einklang, weil der verletzte Zivilkläger frei wählen kann, diesen seinen Anspruch vor dem Zivilgericht oder dem Strafgericht geltend zu machen. Jedoch verstößt die Institution der Zivilklage vor dem Strafgericht gegen Art. 94 § 3 hlVerf insoweit, als dadurch eine echte Privatrechtsstreitigkeit der verfassungsmäßig ausschließlichen Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte entzogen und der (bloß gesetzlich konkurrierenden) Gerichtsbarkeit der Strafgerichte unterstellt wird. Die Konformität dieser Zivilklage mit Art. 8 und 20 §1 hlVerf rechtfertigt zwar ihre Zulässigkeit vor dem Strafgericht, aber die erwähnte Disharmonie mit Art. 94 §3 hlVerf läßt es zweifelhaft erscheinen, ob die Entscheidung des Strafgerichts mit Rechtskraft ausgestattet ist, die das spätere Vorbringen der gleichen Privatrechtsstreitigkeit vor dem Zivilgericht hindert. 3. In einem übertragenen Sinn können als Privatrechtsstreitigkeiten auch die prozeßrechtlichen Anträge verstanden werden, deren Hauptstreitgegenstand die Feststellung eines selbständigen prozessualen Rechtsverhältnisses betrifft, wie z.B. das Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf Anfechtung der Zwangsvollstreckung oder auf Arrest des Schuldners. Diese Rechtsstreitigkeiten über Prozeßrechtsverhältinisse werden vom positiven Recht (hlVerf 94 § 3 und hlZPGB 1) bei der Abgrenzung der Zivilgerichtsbarkeit nicht erwähnt, vielleicht in der Vorstellung, daß sich die Gerichtsbarkeit eines jeden Gerichtszweiges selbstverständlich auch auf die Rechtsstreitigkeiten erstreckt, die aus der Anwendung des

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entsprechenden Prozeßrechtszweiges entstehen.

III. Die Angelegenheiten der Freiwilligen keit

Gerichtsbar-

Gemäß Art. 94 §3 hlVerf gehören zur Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte auch die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, welche an diese gesetzlich ausdrücklich verwiesen wurden. 1. Heutzutage sieht das hellenische Schriftum die alten Theorien über das Unterscheidungskriterium der Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit von den Rechtsstreitigkeiten der Streitigen Gerichtsbarkeit als überholt an. Trotz verschidener Ausdrucksweisen ist es zu der allgemein akzeptierten Grundlage gelangt, daß bei den echten Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit der Kern der Justizgewährung nicht in der positiven oder negativen Feststellung privater Rechtsverhältnisse, sonderm in der Vornahme von bloßen Regelungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Privatrechts besteht. 2. Bei dem Versuch der Begriffsbestimmung der echten Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit ist zu berücksichtigen,daß sie nicht alle den Zivilgerichten unterliegen, sondern nur diejenigen, die vom Gesetz ausdrücklich genannt werden (hlVerf 94 § 3 hlZPCB 1). Das bedeutet, daß der Gesetzgeber ermächtigt ist, Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit anderen Rechtspflegeorganen zuzuweisen, wie dem Notar, dem die Zwangsversteigerung zugewiesen wurde. Ferner zählen beispielsweise zu den Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, welche nicht den Gerichten, sondern anderen Rechtspflegeorganen zugewiesen wurden, die Registrierung von Ereignissen, die den Personenstand betreffen, die Grundbuchsachen, die Eintragung von privatrechtlichen Genossenschaften in ein Register des Amtsgerichts, die alle ohne Gerichtsverfahren vorgenommen werden, u.s.w. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen gerichtlichen und außergerichtlichen Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit besteht darin, daß die letzteren anfechtbar sind zum Zweck der gerichtlichen Kontrolle ihrer Rechtmäßigkeit, während bei den ersteren das Gericht unter Gewährung der Möglichkeit rechtlichen Gehörs (hlVerf 20 §1 und 6 § 1 EMRK) die Rechtmäßigkeit der getroffenen Regelungsmaßnahme schon bei ihrem Erlaß ausdrücklich oder stillschweigend rechtskräftig

Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht

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feststellt. Bei Abweisung des Antrags als unbegründet bewirkt das Abweisungsurteil Rechtskraft darüber, daß der Antragssteiler kein entsprechendes Recht auf Vornahme der begehrten Regelungsmaßnahme hatte. Wird wiederum die beantragte Regelungsmaßnahme getroffen, so bewirkt die bejahende gerichtliche Entscheidung Rechtskraft sowohl darüber, daß der Antragsteller das Recht auf Vornahme derselben hatte, als auch über die Rechtmäßigkeit und somit die Verbindlichkeit der entstandenen neuen Rechtslage. So bewirk das Adoptionsurteil Rechtskraft über die Rechtmäßigkeit der Adoption und die Verbindlichkeit der daraus entstandenen Rechte und Pflichten, die nach dem Zivilrecht das Rechtsverhältnis der Adoption ausmachen. Während der Gesetzgeber gemäß Art. 94 § 3 hlVerf nicht befugt ist, Privatrechtsstreitigkeiten der Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte zu entziehen, ist er dagegen berechtigt, bestimmte echte Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit entweder der Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte vollständig zu entziehen und anderen Rechtspflegeorganen zuzuweisen oder zu bestimmen, daß die beantragten Regelungsmaßnahmen vom Gericht ohne Rechtskraftwirkung ex nunc getroffen werden.

IV. Die öffentlichrechtlichen

Angelegenheiten

Den echten Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit stehen die Angelegenheiten des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 1 hlZPGB und Art. 94 §4 hlVerf nah. Es ist dem Ermessen des Gesetzgebers überlassen, diese öffentlichrechtlichen Angelegenheiten den Zivil- oder den Verwaltungsgerichten zu übertragen. Die Erledigung derselben durch das Gericht hat zunächst verwaltungsrechtlichen Charakter (so ausdrücklich hlVerf 94 § 4), so daß das Gericht dazu ermächtigt ist, entsprechende Verwaltungsakte zu erlassen, deren Rechtmäßigkeitskontrolle der Gerichtsbarkeit anderer Gerichte vorbehalten ist. So obliegt z.B. die öffentliche Bekanntmachung der Kandidaten zu den Parlamentswahlen dem Landgericht, und das Oberste Sondergericht des Art. 100 hlVerf entscheidet bei einer Wahlanfechtung endgültig über die Rechtsgültigkeit dieser öffentlichen Bekanntmachung als Vorfrage zur Wirksamkeit der Wahl eines bestimmten Kandidaten. Andererseits wird jedoch der Gesetzgeber nicht durch übergeordnete Rechtsnormen gehindert, die in diesen öffentlichrechtlichen Angele-

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genheiten gerichtlich getroffenen Maßnahmen mit Rechtskraftwirkung bezüglich ihrer Rechtmäßigkeit auszustatten, wodurch die entsprechende Regelungsmaßnahme unanfechtbar wird. Das ist z.B. der Fall bei der gerichtlichen Bestätigung, daß jemand einen Rechtfertigungsgrund hat für die Nichtausübung seines Wahlrechts bei den Parlamentswahlen, die für alle Wahlberechtigten oligatorisch sind. In diesem Fall bewirkt die Gerichtsentscheidung Rechtskraftbindung, so daß hier die öffentlichrechtliche Angelegenheit den echten privatrechtlichen Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit gleichgestellt ist.

V. Die

Verwaltungsrechtsstreitigkeiten

l. Da das positive Recht keine direkte Definition der Verwaltungsrechtsstreitigkeit gibt, wird allgemein akzeptiert, daß dies der Wissenschaft aufgegeben ist11. Ursprünglich wurde unter dem Einfluß der französischen Theorie als Verwaltungsrechtsstreitigkeit der gerichtliche Streit infolge einer Störung der Rechtsordnung durch die Tätigkeit einer Behörde des öffentlichen Dienstes bezeichnet12. Jedoch wurde diese Anknüpfung des Begriffs der Verwaltungsrechtsstreitigkeit an die Tätigkeit der öffentlichen Behörde mit der trefflichen Bemerkung abgelehnt13, daß sich die Tätigkeit der Behörde auch in Richtung von Rechtsverhältnissen des Privatrechts entfalten kann, sodaß sie auf Prozesse hinausläuft, die das Merkmal von Privatrechtsstreitigkeiten haben. Weiter wurde vertreten, daß Verwaltungsrechtsstreitigkeit jeder aus der Vornahme oder dem Unterlassen eines Aktes eines Verwaltungsorgans herrührende gerichtliche Streit zwischen dem Staat und dem seiner Macht Unterworfenen in Bezug auf die Ausübung einer öffentlichrechtli11 M. Stasinopoulos, Recht der Verwaltungsrechtssreitigkeiten(in hellenischer Sprache), 4. Aufl. 1964, § 7 S. 46. 12 Vgl. Spiliotopoulos, Handbuch des Verwaltungsrechts (in hellenischer Sprache), 2. Aufl. 1981 § 349 S. 314 Fßn. 3. 13 So Dagtoglou, Verwaltungsprozeßrecht(in hellenischer Sprache), I 1985 S. 103; Mitsopoulos, Zivilprozeßrecht(in hellenischer Sprache.), I 1972 § 14, 4 S. 110; Blatsios, Der Begriff der den Zivilgerichten unterworfenen Verwaltungsrechtssreitigkeiten(in hellenischer Sprache.); Festschrift für G. Rammos, II S. 721; Spiliotopoulos, Handbuch des Verwaltungsrechts (in hellenischer Sprache), 2. Aufl. 1981 § 349 S. 314 FßN. 3.

Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht

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chen Funktion ist14. In die gleiche Richtung geht auch die Rechtsprechung des hellenischen Verwaltungsgerichtshofs, der für die Qualifikation eines Rechtsstreits als verwaltungsrechtlich das Vorhandensein eines Verwaltungsaktes einer Verwaltungsbehörde zur Durchführung einer Tätigkeit des öffentlichen Dienstes voraussetzt 15 . Eine andere Definition ging m.E. trefflicher von der juristischen Natur des Rechtsverhältnisses aus, auf das sich der Streitgegenstand bezieht16. Aber auch diese Definition stand auf der Grundlage der Ausübung einer öffentlichrechtlichen Funktion welche durch den angefochtenen Verwaltungsakt erfolgt ist. So wurde vertreten, daß verwaltungsrechtlich diejenigen Streitigkeiten sind, die sich um die Ausübung der Staatsgewalt durch Verwaltungsbehörden und generell um die Tätigkeit der Behörden der öffentlichen Verwaltung drehen, mit anderen Worten, daß verwaltungsrechtlich alle die gerichtlich zu lösenden Streitigkeiten sind, die aus der Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung i.S. der Organtheorie in Bezung auf ein öffentlichrechtliches Rechtsverhältnis entstehen17. Im derzeitigen hellenischen Schrifttum wird überwiegend vertreten, daß Verwaltungsrechtsstreitigkeit die rechtlich bestrittene Verwaltungsrechtsangelenheit ist, die zur Verhandlung vor die Gerichte gebracht wird, wobei als Angelegenheit jede konkrete Frage bezeichnet wird, die durch Rechtsanwendung erledigt wird, und die Begriffe Angelegenheit und Streitigkeit als in der Regel synonym betrachtet werden, da sie in der Gesetzessprache unterschiedslos verwendet werden18. In der Zivilgerichtsbarkeit unterscheidet die hellenische Verfassung (Art. 94 §3) und das Zivilprozeßgesetzbuch (insbesondere Art. 1, 2, 11 ff. und 739) mit beachtenswerter Genauigkeit zwischen Rechtsstreitigkeiten (des Erkenntnisverfahrens der Streitigen Zivigerichtsbarkeit) und Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit. Auch im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterscheidet Art. 2 hlZPGB zwischen ver14 M. Stasinopoulos, a.a.O. § 12 S. 63; T. Marinos, Zum Begriff der Verwaltungsrechtsstreitigkeit (in hellenischer Sprache), Nomikon Bema 8, 1163; N. Michalopoulos, Helliniki Dikeosyne 20, 820; Plenum des Areopags 447/1959 Nomikon Bema 8, 86 15 Sarmas, Die Kriterien der Verwaltungsrechtsstreitigkeit nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (in hellenischer Sprache); Gedächtnisschrift für G. Papachatzis, 1989 S.412. 16 Papachatzis, Der Begriff und die Einteilung der Verwaltungsrechtsstreitigkeiten: Studien zum Recht der Verwaltungsrechtsstreitigkeiten (in hellenischer Sprache), 4. Aufl. 1961 S.150. 17 Papachatzis, a.a.O. 162. 18 Dagtoglou, a.a.O. S.102.

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waltungsrechtlichen Streitigkeiten und Angelegenheiten, ebenso wie es zwischen privatrechtlichen Streitigkeiten und Angelegenheiten unterscheidet. Dagegen spricht die Verfassung im selben Sinne einmal von verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten (hlVerf 94 § § 1 und 2, 95 §lc) und ein andermal von verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten (hlVerf 95 §3). Die Erklärung dieser lockeren Handhabung der Ausdrücke liegt vielleicht darin, daß die hellensiche Verwaltungsprozeßrechtswissenschaft relativ jung und sprachlich noch nicht ausgereift ist. 2. M.E. sollte der Begriff der Rechtsstreitigkeit auf dem Gebiet der Zivil- und der Verwaltungsgerichtsbarkeit einheitlich sein und sich von jenem der Angelegenheit ebenfalls einheitlich unterscheiden. Rechtsstreitigkeit ist das Begehren auf die bindende rechtskräftige Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des geltend gemachten Rechtsverhältnisses. Je nach dem, ob dieses Begehren ein privat- oder öffentlichrechtliches Rechtsverhältnis betrifft, unterscheiden sich dementsprechend auch die Rechtsstreitigkeiten in solche des Privat- oder des Verwaltungsrechts. Auch der Begriff der Angelegenheit sollte einheitlich für alle Zweige der Gerichtsbarkeit sein: Es handelt sich um ein Begehren auf die Vornahme einer Regelungsmaßnahme, die zumeist gestaltungsrechtlichen Charakter hat, wie z.B. die Bestellung eines vorläufigen Verwalters einer juristischen Person. Die Regelungsmaßnahme kann ausnahmsweise bloß feststellenden Charakter haben, aber nicht in Bezug auf ein Rechtsverhältnis, sondern nur auf eine Sachlage, wie z.B. die Korrektur der falschen amtlichen Ausweisung des Geburtsdatums des Antragstellers. 3. Die in Griechenland noch herrschende Auffassung, die den Begriff der Verwaltungsrechtsstreitigkeit an das Vorhandensein eines rechtswidrigen oder unrichtigen Verwaltungsaktes knüpft, überzeugt nur teilweise, nämlich wenn der Streitgegenstand ein öffentlichrechtliches Verhältnis betrifft, das durch den Erlaß eines Verwaltungsaktes erzeugt, verändert oder beendet wird. Hier stellt die Anfechtung des rechtswidrigen oder unrichtigen Verwaltungsaktes über den Weg des Antrags auf Aufhebung oder Beschwerde zur Abänderung desselben wirklich eine Verwaltungsrechtsstreitigkeit dar. Der schwache Punkt der Theorie vom Verwaltungsakt als Grundlage jeder Verwaltungsrechtsstreitigkeit liegt darin, daß sie auf den Klagegrund, oder sogar auf seine fernere Ursache und nicht auf den Klageantrag und die durch ihn geltend gemachte verwaltungsrechtiche

D e r B e r e i c h d e r P r i v a t - u n d V e r w a l t u n g s r e c h t s s t r e i t i g k e i t e n im hellenischen R e c h t

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Rechtsfolge abstellt, um den Rechtsstreit als zivil- oder verwaltungsrechtlich zu qualifizieren. Der Klagegrund entspricht dem Tatbestand der jeweils anzuwendenden Rechtsnorm. Der Klageantrag betrifft die durch Rechtskraft bindende Feststellung des Eintritts seiner Rechtsfolge im anhängigen Fall. Die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verwaltungsaktes oder seiner Unterlassung kann wohl der Grund einer privat- oder verwaltungsrechtlichen Klage sein. Wann das erstere und wann das letztere der Fall ist hängt von der privat- oder verwaltungsrechtlichen Qualifizierung des Klageantrags selbst ab. Aber es ist dogmatisch verfehlt, den Kern des Streitgegnstandes im Klagegrund und nicht im Klageantrag zu erblicken. Folglich ist es verfehlt, einen Rechtsstreit gemäß dem Klagegrund und nicht nach dem Klageantrag als verwaltungs- oder privatrechtlich zu qualifizieren. Die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verwaltungsaktes bzw. seiner Unterlassung durch die zuständige Behörde kann als Rechtsfolge das Gestaltungsklagerecht des Betroffenen auf Aufhebung des Aktes oder der Unterlassung hervorrufen. Parallel kann sie jedoch die fernere Ursache für andere (materiellrechtliche) Rechtsfolgen sein, wie z.B. für den Anspruch des Beamten gegen den Staat auf Zahlung einer Gehaltszulage, welche von der Staatskasse nicht bewilligt wurde. Die entsprechende Leistungsklage des Beamten gegen den Staat eröffnet ebenfalls eine Verwaltungsrechtsstreitigkeit, obwohl hier die Rechtswidrigkeit der Weigerung der Staatskasse, dem Kläger die beantragte Gehaltszulage auszuzahlen, weder Gegenstand des Klagebegehrens noch Teil des entsprecheden Klagegrundes ist. Es handelt sich lediglich um eine fernere Ursache des Rechsstreits, dessen Grund sich allein in dem bestehenden Dienstvertrag und der erforderlichen Qualifizierung des Klägers für die Gehaltszulage erschöpft. 4. Mit der hier vertretenen engen Verknüpfung des Begriffs der Verwaltungsrechtsstreitigkeit mit dem Klagebegehren auf rechtskräftige Erkenntnis des jeweils geltend gemachten Verwaltungsrechtsverhältnisses konzentriert sich das Problem nicht mehr darauf, wie die Verwaltungsrechtsstreitigkeit bestimmt werden soll, sondern wie sie von den Privatrechtsstreitigkeiten abgegrenzt werden soll19. Beide Arten von Rechtsstreitigkeiten, sowohl die Privat- als auch die Verwaltungsrechtsstreitigkeiten, unterscheiden sich von den bloßen Angelegenheiten und 19

Tschira-Schmitt/Gläser,

Verwaltungsprozeßrecht, 7. Ahfl. 1985, §2 II A 2, S. 27.

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haben miteinander gemeinsam, daß ihr Kern in dem Begehren der rechtskräftigen Erkenntnis von geltend gemachten Rechtsverhältnissen des Privatrechts oder des Verwaltungsrechts besteht. So verschiebt sich die Problematik auf das Unterscheidungskriterium von Verwaltungsrechtsnormen oder generell von öffentlichrechtlichen Normen einerseits und Privatrechtsnormen andererseits. Diese Frage ist Gegenstand heftiger Diskussionen gewesen20. Ein absolut befriedigendes und alle Fälle deckendes Kriterium ist noch nicht gefunden oder allgemein akzeptiert worden. Der allerneueste und relativ befriedigendere Versuch ist die Theorie der Staatsmacht, wonach eine Rechtsnorm dem öffentlichen Recht angehört, wenn sie ausschließlich die Ausübung öffentlicher Gewalt durch den Staat oder einen anderen Träger dieser Gewalt regelt. Mit anderen Worten regelt das öffentliche Recht ausschließlich die Ausübung der Staatsmacht 21 . So sind der hellenische Staat und andere öffentlichrechtliche Einrichtungen nur dann zum Schadensersatz verpflichtet, wenn der Schaden bei der Ausübung der Staatsmacht durch das zuständige Organ rechtswidrig hervorgerufen wurde (Art. 105 und 106 des Einführungsgestzes zum hlZGB). Dann eröffnet die Schadensersatzklage eine sogenannte materielle Verwaltungsrechtsstreitigkeit 22 . 5. In Anknüpfung an diese Begriffsbestimmung des Verwaltungsrechts und überhaupt des öffentlichen Rechts wird als Verwaltungsrechtssreitigkeit das Begehren der rechtskräfftigen Erkenntnis desjengen Rechtsverhältnisses definiert, das den Staat oder eine andere öffentlichrechtliche Einrichtung bei der Ausübung der Staatsmacht durch das zuständige Organ mit dem Kläger verbindet. Die so verstandenen Rechtsstreitigkeiten unterliegen der ausschließlichen Gerichtsbarkeit der ordentlichen Verwaltungsgerichte. Darüber hinaus sind die Verwaltungsgerichte auch zuständig, Uber diejenigen verwaltungsprozeßrechtlichen Streitigkeiten zu verhandeln und rechtskräftig zu entscheiden, die im Rahmen des verwaltungsprozeßrechtlichen Verfahrens, sei es des Erkenntinis- oder des Zwangsvollstreckungsverfahrens, entstehen. Auch hier handelt es sich um Verwaltungsrechtsstreitigkeiten in übertragenem Sinn. 20 Im hellenischen Schrifftum besonders Dagtoglou, Allgemeines Verwaltungsrecht (in hellenischer Sprache), 2. Aufl. 1984 §72 ff. S. 30 Ü.Tsoutsos, Unterscheidungskriterien des Verwaltungsrechts vom Privatrecht (in hellenischer Sprache), Festschrift für Maridakis, II 1963 S. 561 ff. 21 Dagtoglou, §85, S. 33. 22 Pavlopoulos, Die zivilrechtliche Haftung des Fiskus, II nach den Normen des öffentlichen Rechts (in hellenischer Sprache), A 1989, S 197.

Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht

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6. Die bisherige Untersuchung über den Begriff der Verwaltungsrechtsstreitigkeiten läßt die Frage aufkommen, ob der Zugang zu den Verwaltungsgerichten im Bereich des hellenischen Verwaltungsprozeßrechts ausschließlich Uber den Weg der drei Rechtsbehelfe, des Antragsaktes, der Beschwerde zur Abänderung eines unrichtigen Verwaltungsaktes und der Schadensersatzklage gegen den Fiskus oder andere öffentlichrechtliche Einrichtungen, das gesamte Spektrum der Justizgewährung in Bezung auf Rechtsverhältnisse des öffentlichen Rechts deckt. a. Zunächst wird nicht der Fall gedeckt, wo das zuständige Verwaltungsorgan den Erlaß eines begehrten Verwaltungsaktes unterläßt, soweit es dazu verpflichtet ist. Die h.M. betrachtet dieses Unterlassen als einen negativen Verwaltungsakt und die Anfechtungsklage zur Aufhebung des Unterlassens stellt zwar eine gewisse Substitution dar, die jedoch der nötigen Effektivität entbehrt. Es genügt nicht, daß das Verwaltungsgericht das Unterlassen der Behörde anulliert, sofern sich die Behörde weiter weigert, den beantragten Verwaltungsakt, etwa die Baugenehmigung, zu erlassen. Die in diesem Fall effektive Justizgewährung bestünde in der Verurteilung der zuständigen Vewaltungsbehörde zum Erlaß des unterlassenen Verwaltungsaktes und die Ersetzung desselben durch das rechtskräftige Leistungsurteil des Verwaltungsgerichts. Hier ist allerdings eine solche Verurteilung materiellrechtlich ausgeschlossen, wenn der Erlaß des begehrten Verwaltungsaktes dem freien Ermessen der zuständigen Behörde unterliegt. b. Entsprechende Überlegungen sind auch für die Zuerkennung vermögensrechtlicher Ansprüche öffentlichrechtlichen Charakters, z.B. auf Zahlung eines erhöhten Gehalts des Beamten, am Platze. Das hellenische Verwaltungsprozeßrecht regelt die rechtskräftige Erkenntnis von solchen Ansprüchen als Hauptgegenstand einer Verwaltungsrechtsstreitigkeit nicht. Der Gläubiger des Staates aus einem öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnis,wie z.B. ein Beamter in Bezug auf die Auszahlung seines gesamten Gehalts oder einer bestimmten Zulage, ist nicht berechtigt, den Staat mit einer Leistungsklage zu verklagen. Die Justizgewährung wird in einem solchen Fall über den Umweg der Schadensersatzklage gegen den Staat wegen rechtswidriger Unterlassung des Erlasses eines Verwaltungsaktes durch ein dazu zuständiges Staatsorgan erreicht. Diese Irregularität hat m.E. ihre Wurzeln in der schon erwähnten traditionellen Ansicht, welche die Verwaltungsrechtsstreitigkeiten unbedingt an einen rechtswidrigen oder unrichtigen Verwaltungsakt an-

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knüpft. Im Bereich dieser irrtümlichen Ansicht beschränkt sich die Justizgewährung auf dem Gebiet der Verwaltungsrechtsstreitigkeiten nach geltendem hellensichen Recht ausschließlich auf die Aufhebung des rechtswidrigen oder der Abänderung des unrichtigen Verwaltungsaktes, sowie auf die Verurteilung des Staates zum Schadensersatz wegen rechtswidriger Tätigkeit (des rechtswidrigen Unterlassens mitinbegriffen) seines zuständigen Organs. Aus den übergeordenten Rechtsnormen, die den Anspruch auf rechtliches Gehör und Justizgewährung garantieren (hlVerf 20 §1 und EMRK 6 §1) ergibt sich m.E., daß die Verwaltungsgerichte in den soeben erörtenten Fällen die Zulässigkeit der Leistungsklage gegen den Staat bejahen sollten, obwohl das Gesetz eine Leistungsklage nur als Schadensersatzklage vorsieht.

VI. Das Problem der Konkurrenz von Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten in Hinsicht auf den Hauptstreitgegnstand und die Vorfrage 1. Bekanntlich besteht der Tatbestand einer Rechtsnorm aus Tatsachen und Wertungen, sowie aus Vorfragen, d.h. weiteren Rechtsfolgen, die im Rahmen einer anderen Rechtsnorm bereits eingetreten sind. Letztere unterliegen als Vorfagen der Zwischenprüfung des Gerichts. Zu dieser Zwischenprüfung ist das Gericht ermächtigt, und zwar unabhängig von der Verfahrensart, nach der es verhandelt, sogar auch dann, wenn im Falle, daß der Hauptstreigegenstand die Vorfrage betreffen würde, es zur Entscheidung sachlich unzuständig w ä r e (hlZPGB 284) oder es die nötige Gerichtsbarkeit überhaupt nicht besäße (hlZPGB 2). Falls aber, wie schon einleitend erwähnt, die Vorfrage als Hauptstreigegenstand der Zivigerichtsbarkeit und der sachlichen Zuständigkeit des erkennenden Gerichts unterliegen würde, bewirkt ihre Zwischenprüfung Rechtskraftbindung (hlZPGB 331). 2. Auch die Verwaltungsgerichte sind im Rahmen der Beurteilung von anhängigen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten zur Zwischenprüfung der entstehenden Vorfragen privatrechtlicher Natur ermächtigt (hlZPGB 2). Diese Regelung bestätigt die Notwendigkeit, daß die Gerichtsbarkeit der Gerichte durch den jeweiligen materiellen Hauptstreitgegenstand bestimmt werden. Angesichts des Art. 94 hlVerf, der das Gebiet der Gerichts-

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barkeit eines jeden Gerichtszweiges abgrenzt, sodaß unter die Zivilgerichte alle Privatrechtsstreitigkeiten und unter die Verwaltungsgerichte alle Verwaltungsrechtsstreitigkeiten fallen, kann m.E. die Vorfrage wegen ihres nebensächlichen Charakters nichts als Abgrenzungsmaßstab dienen, sondern diesen stellt das Rechtsverhältnis dar, welches vom Streitgegenstand betroffen wird. Wenn z.B. gegen die Klage des Arbeitnehmers auf Zahlung einer bestimmten Zulage, wie wegen Beschäftigung unter gesundheitsschädlichen Umständen, der Beklagte einwendet, daß der ministerielle Erlaß zur Zahlung dieser Zulage rechtswidring und somit unverbindlich sei, kann diese privatrechtliche Leistungsklage unmöglich aufgrund der verwaltungsrechtlichen Vorfrage der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Verwaltungsgerichte unterliegen. Sie unterliegt vielmehr der Zivilgerichtsbarkeit der Ziviligerichte aufgrund des privatrechtlichen Hauptbegehrens. Diese Selbstverständlichkeit wurde in den umgekehrten Fällen verkannt, wo der Hauptstreitgegenstand die Anfechtung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes oder einer rechtswidrigen Prozeßhandlung der verwaltungsrechtlichen Zwangsvollsreckung betrifft, wenn der Anfechtungsgrund auf einem privatrechtlichen Rechtsverhältnis beruht. Die Rechtsprechung des hellenischen Obersten Sondergerichtshofs und später auch der Gesetzgeber sind in diesen Fällen zu der m.E. verfassungswidrigen Lösung gekommen, die Gerichtsbarkeit der Zivilgerichte aufgrund des privatrechtlichen Charakters der Vorfrage anzunehmen und nicht die Gerichtsbarkeit der Verwaltungsgerichte aufgrund des verwaltungsrechtlichen Hauptstreitgegenstandes.

VII. Die

Verfassungsrechtssrtreitigkeiten

Die hellenische Verfassung verteilt die Rechtsstreitigkeiten entsprechend der Anwendung des Privat- und Verwaltungsrechts zwischen den Zivil- und Verwaltungsgerichten (hlVerf 94 und 95), ohne an das Schicksal der Rechtsstreitigkeiten aus der Anwendung der Verfassung selbst gedacht zu haben. So ist die hellenische Regelung des Zugangs zu den Gerichten zur Verhandlung und Beurteilung der Rechtsstreitigkeiten lückenhaft, gemessen an dem verfassungsverankerten Anspruch auf rechtliches Gehör und Justizgewährung, dessen ganzes nicht Spektrum mit entsprechenden Rechtsbehelfen gedeckt wird.

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Außerhalb der Regelung durch das positive Recht stehen die Verfassungsrechtsstreitigkeitn, insbesondere die Anträge auf rechtskräftige Erkenntnis (a) des Bestehens und der Unantastbarkeit von Grundrechten des Betroffenen und (b) des Nichtbestehens von Befugnissen höchster Staatsorgane, die verfassungswidrig vorgehen. 1. Rechtliches Gehör und Justizgewährung in Bezug auf angegriffene Grundrechte werden lediglich über den Umweg der Zwischenprüfung des Bestehens dieser Rechte als Vorfrage im Rahmen eines anderen Prozesses, gewöhnlich eines Strafverfahrens gegen den Rechtssuchenden, gewährt. So ist jedes griechische Gericht ermächtigt, im Rahmen der Rechtshängigkeit irgendeiner Rechtsstreitigkeit die Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Rechtsnormen einer Zwischenprüfung zu unterziehen, die keine Rechtskraft- oder vielmehr keine Vernichtungswirkung hat. Art. 93 § 4 hlVerf lautet: Die Gerichte dürfen ein seinem Inhalt nach verfassungswidriges Gesetz nicht anwenden. Die Frage, ob diese Regelung durch die Errichtung eines zentralen Verfassungsgerichts ersetzt werden soll, ist oft Gegenstand heftiger Diskussionen im Schriftum gewesen. Die E r r i c h t u n g eines zentralen V e r f a s s u n g s g e r i c h t s zur ausschließlichen Erkenntnis der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen hätte den Vorteil der Rechtssicherheit aufgrund einer einheitlichen und beständigen Rechtsprechung. Damit wäre jedoch der unvermeidliche Nachteil verbunden, daß die Auseinandersetzungen innerhalb der Rechtsprechung und das dadurch veranlaßte dauernde Bemühen um Rechtsentwicklung aufhören würde, und es bestünde die Gefahr, daß politicshe Mächte das Kollegium eines einzigen höchsten Gerichtshofs leichter zu ihrem Vorteil beeinflussen als die jeweils befaßten Richter. 2. Wenn auch die Zweckmäßigkeit der Errichtung eines Verfassungsgerichts in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen fraglich erscheint, so ist sie doch in den folgenden zwei Richtungen zu bejahen: a. Wenn der Rechtssuchende die rechtskräftige Erkenntnis des Bestehens (bzw. der Vereitelung) eines seiner Grundrechte durch ein Staatsorgan und die vollstreckbare Verurteilung desselben zu entsprechender Handlung oder Unterlassung beantragt. Die Zwischenprüfung nach geltendem Recht durch ein Gericht, welches mit einem anderen Prozeß befaßt ist, etwa mit einem Strafverfahren, ist ineffizient, da ihr jegliche Rechtskräfte-, Vollstreckungs- oder Gestaltungswirkung fehlt.

Der Bereich der Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten im hellenischen Recht

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b. Wenn der legitimierte Antragssteller die rechtskräftige Erkenntnis der v e r f a s s u n g s w i d r i g e n T ä t i g k e i t eines h ö c h t s t e n S t a a t s o r g a n s beantragt, wie z.B. des Staatspräsidenten in Bezug auf die Ausübung seiner Ermächtigung, das Parlament aufzulösen, oder in bezug auf den vom ihm erteilten Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung. 1985 wurde die Frage heftig diskutiert, ob der als Staatspräsident amtierende Parlamentspräsident befugt ist, als Abgeordneter an der Sitzung und Abstimmung des Parlaments zur Wahl eines neuen Staatspräsidenten teilzunehmen. Da die hellenische Rechtsordnung kein Gericht und kein Verfahren für solche Verfassungsrechtsstreitigkeiten hat, löste die damalige Wahl des Staatspräsidenten mit der Majorität nur einer einzigen Stimme Streitigkeiten aus, die kein gerichtliches Ende finden konnten. Das Fehlen eines Verfassungsgerichts führt in den angeführten Fällen notwendigerweise zum Versagen des Rechtsstaatsprinzips, wie es in Art. 20 § 1 hlVerf ausgedrückt ist, daß also keine Befugnis ohne die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit ausgeübt werden darf.

VIII.

Ergebnisse

Aus obiger Auseinandersetzung ist auf folgende Ergebnisse zu schliessen: a. Der Kern und das Wesen einer Rechtsstreitigkeit besteht in der Aufgabe des erkennenden Gerichts, das jeweils anhängige Rechtsverhältnis, das vom Hauptstreitgegenstand betroffen wird, rechtskräftig positiv oder negativ festzustellen. b. Im Bereich der im Verfaren herrschenden Dispositionsmaxime gilt als Maßstab für die Abgrenzung zwischen Privat- und Verwaltungsrechtsstreitigkeiten bzw. öffentlichrechtlichen Streitigkeiten der Hauptantrag der Klage und nicht die Klagegründe. c. Die Qualifizierung eines Rechtsstreits als privat- oder verwaltungsrechtlich hängt von der Einordung des jeweils anhängigen Rechtsverhältnisses, das vom Hauptstreitgegenstand betroffen wird, in den Bereich des Privat- oder des Verwaltungsrechts ab. d. Soweit das materielle Verwaltungsrecht Rechtsfolgen regelt, ist jeder, der an der Feststellung dieser Rechtsfolgen ein rechtliches Interes-

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se hat, dazu berechtigt, sie durch Feststellungsklage oder durch Leistungsklage gegen den Staat, falls diese Rechtsfolge in der Entstehung eines verwaltungsrechtlichen Anspruchs besteht vor dem zuständigen Verwaltungsgericht geltend zu machen, auch wenn das Gesetz keinen entsprechenden Rechtsbehelf vorsieht. Andernfalls würde durch die Unzulässigkeit der zu erhebenden Klage der öffentlichrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör und Justizgewährung verfassungswidrig vereitelt werden. e. Der Anspruch auf rechtliches Gehör und Justizgewährung in Bezug auf verwaltungsrechtliche Rechtsverhältnisse ist für die Bejahung des verwaltungsrechtlichen Rechtswegs ausschlaggebend.

Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht von

Prof. Dr. Witold Broniewicz

Lodz

ord. Professor an der Universität -Lodz

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Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

Historische Einführung Der Begriff der Berufung Die Zulässigkeit der Berufung Die Berufungsgründe Der Berufungsantrag Die Grenzen der Berufung Die Einlegung der Berufung Die Verhandlung über die Berufung Die Entscheidung auf die Berufung

X. Die Abweichungen von dem normalen Verlauf und Abschluß des Berufungsverfahrens XI. Die Rechtsmittel gegen die im Berufungsverfahren erlassenen Entscheidungen

Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht

I. Historische

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Einführung

Die Berufung im polnischen Zivilprozeßrecht hat eine ziemlich komplizierte Geschichte. Bis 1950 war die damalige polnische ZPO aus dem Jahre 1930 auf das Dreiinstanzensystem gestützt, in dem die Berufung als Rechtsmittel gegen die Urteile der ersten Instanz und die Kassation als Rechtsmittel gegen die Entscheidungen der zweiten Instanz vorgesehen waren. Die im Jahre 1950 durchgeführte Reform des polnisohen Zivilprozessrechts hat das Zweiinstanzensystem eingeführt, wobei die Berufung und die Kassation durch ein neues, Revision genanntes, Rechtsmittel ersetz wurden. Überdies hat man neben der Wiederaufnahmeklage einen zweiten Rechtsbehelf gegen die rechtskräftigen Entscheidungen und zwar die zur Zuständigkeit des Obersten Gerichts gehörende ausserordentliche Revision eingeführt. Dieses System wurde in der neuen polnischen ZPO aus dem Jahre 1964 erhalten. In den letzten Jahren hat man aber in Polen Bemühungen für die Wiederherstellung der ehemals existierenden Rechtsmittel untergenommen. So wurden 1990 auf dem Wege der Novellierung des Gerichtsverfassungsgesetzes zehn Berufungsgerichte ins Leben gerufen. Gleichzeitig hat man den Entwurf einer Novelle der ZPO vorbereitet, die die Einführung der Berufung und der Kassation zum Ziel hatte. Diese Novelle wurde vom Sejm, d. h. von der ersten Kammer des polnischen Parlaments, am 21. Mai 1993 verabschiedet. Leider konnte infolge der Auflösung des Parlaments einige Tage später das diese Novelle betreffende gesetzgebende Verfahren nicht zu Ende geführt werden und musste nach den neu durchgeführten Wahlen wieder vom neuen aufgenommen werden. Die neue Regierung hat den Novellenentwurf in dem vom vorigen Sejm verabschiedeten Wortlaut dem neuen Sejm am 8. März 1994 vorgelegt. Etwas später wurde auch der Entwurf der neuen StPO, in dem die Berufung und die Kassation als Rechtsmittel vorgesehen sind, veröffentlicht. Man kann hoffen, dass die beiden Entwürfe in Kürze nicht nur verabschiedet, sondern auch in Kraft treten werden. Natürlich wird die Einführung der während mehr als vierzig Jahre unbekannten Rechtsmittel, und insbesondere der Berufung, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis manche Probleme und Zweifel aufkommen lassen. Es sei an dieser Stelle zu erwähnen, daß eine im grossen Teil auf dem Entwurf der künftigen Regelung begründete, der

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Berufung im Zivilprozess gewidmete Monographie bereits erschienen ist1. Auf diesem Entwurf stützt sich auch der vorliegende Beitrag. Die darin zitierten Vorschriften der ZPO, die die Berufung betreffen, sind Vorschläge, die im Entwurf enthalten sind (Art. 367-391).

II. Der Begriff

der

Berufung

Die Berufung ist ein Rechtsmittel gegen Urteile des Gerichts erster Instanz. Sein Zweck ist die erneute Entscheidung des Rechtsstreits vom Gericht zweiter Instanz und die Abänderung des angefochtenen Urteils, d. h. die Erlassung eines reformatorischen Urteils (judicium rescissorium) von diesem Gericht. Die Berufung im polnischen Zivilprozeßrecht hat jedoch keinen reinen Charakter, denn sie kann auch zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, d. h. zur Erlassung eines kassatorischen Urteils (judicium rescindens) durch das Gericht zweiter Instanz mit Verweisung des Rechtsstreits zur erneuten Entscheidung an das Gericht erster Instanz führen. Die Berufung im polnischen Zivilprozeßrecht ist eine volle Berufung, denn das Gericht zweiter Instanz entscheidet den Rechtsstreit auf der Grundlage des sowohl im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz als auch im Berufungsverfahren gesammelten Prozeßstoffes (Art. 382 ZPO). Das Gericht zweiter Instanz kann jedoch die neuen Tatsachen und Beweismittel, die die Parteien im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz beibringen konnten, ausser Acht lassen, es sei denn, daß sich die Notwendigkeit, sich auf diese Tatsachen und Beweismittel zu berufen, später ergeben hat (Art. 381 ZPO). Diese Regelung bildet keine Abweichung von der vollen Berufung sondern die Verwirklichung des Prinzips der Konzentration des Prozeßstoffes und hat zum Ziel, die Verzögerung des Verfahrens zu verhindern und die Verfahrensbeteiligte dazu zu veranlassen, dass sie alle ihnen bekannten Tatsachen und Beweismittel bereits im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz vorlegen und nicht das Berufungsverfahren zu diesem Zweck mißbrauchen.

1 A. Oklejak, Apelacja w procesie cywilnym (Die Berufung im Zivilprozess), Kraköw, 1994

Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht

III. Die Zulässigkeit

der

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Berufung

Die Zulässigkeit der Berufung hängt von fünf Bedingungen ab, die den allgemeinen Bedingungen der Zulässigkeit aller Rechtsbehelfe 2 entsprechen. Es sind folgende : a. statthafter Gegenstand der Berufung b. die Befugnis zur Einlegung der Berufung c. die Beschwer d. entsprechende Form der Einlegung e. Einhaltung der Frist der Einlegung. Ad. a) Die Berufung ist statthaft gegen jedes Urteil des Gerichts erster Instanz und insbesondere gegen Vollurteil, Teilurteil, Grundurteil, Ergänzungsurteil und, mit Vorbehalt (siehe ad. b), gegen Versäumnisurteil. Ad. b) Die Berufung kann von der Prozeßpartei sowie von dem Nebenintervenienten, dem Staatsanwalt, dem Beauftragten für Bürgerrechte und von bestimmten gesellschaftlichen Organisationen (Verbände) eingelegt werden. Die Befugnis zur Einlegung der Berufung gegen das Versäumnisurteil hat nur der Kläger, der Nebenintervenient, der ihm beigetreten ist, und die gesellschaftliche Organisation, weil sie die Klage nur zugunsten des Bürgers erheben und an einem anhängigen Verfahren nur mit Zustimmung des Klägers teilnehmen kann. Der Beklagte und der Nebenintervenient, der ihm beigetreten ist, können das Versäumnisurteil nur mit dem Einspruch anfechten. Der Staatsanwalt und der Beauftragte für Bürgerrechte können, den Umständen gemäß, gegen ein Versäumnisurteil sowohl die Berufung als auch den Einspruch einlegen. Ad. c) Die Berufung kann nur dann eingelegt werden, wenn die Prozeßpartei 3 durch das angefochtene Urteil beschwert ist. In der europäischen Fachliteratur wird angenommen, daß die Voraussetzung für die Anfechtbarkeit der Entscheidung das Rechtsschutzinteresse ist, das im Falle der Beschwer (des Gravamens) auftritt. Die Beschwer liegt dann vor, wenn die 2 Der Begriff „Rechtsbehelf" wird hier als Oberbegriff verwendet, unter dem die Rechtsmittel (Berufung, Kassation und Beschwerde), der Einspruch gegen Versäumnisurteil oder gegen Zahlungsbefehl im Mahnverfahren, die Einwendungen gegen Zahlungsbefehl im U r k u n d e n - und Wechselprozess sowie die Wiederaufnahmeklage subsumient werden. 3 Als Prozeßpartei soll hier die Partei im materiellen Sinne verstanden werden, d. h.

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Partei oder der Beteiligte, die (der) die Berufung einlegt, durch das angefochtene Urteil in ihren (seinen) rechtlich geschützten Interesse betroffen ist4. Eine ähnliche Ansicht wurde in der polnischen Fachliteratur in der Zeit der Geltung der ehemaligen ZPO vertreten. Später tauchte jedoch als Ausdruck bestimmter ideologischen Voraussetzungen die Ansicht auf, daß das Rechtsschutzinteresse weder die Voraussetzung für die Zulässigkeit noch für Begründetheit der Rechtsmittel bildet5. Die Richtigkeit dieser Ansicht scheint sehr problematisch zu sein, deshalb wurde an dieser Stelle angenommen, daß dieses Interesse doch die Voraussetzung der Zulässigkeit der Berufung bildet. Ad. d) Die Berufung muß schriftlich eingelegt werden. Nur in den Arbeits- und Sozialversicherungsstreitigkeiten kann der Arbeitnehmer oder der Versicherte, der ohne einen Rechtsanwalt handelt, die Berufung mündlich zu Protokoll bei dem zuständigen Gericht einlegen. Die Berufungsschrift muß den für einen Schriftsatz vorgeschriebenen Erfordernissen genügen sowie die Bezeichnung des angefochtenen Urteils, die Anführung der Einwände (der Berufungsgründe) und den Antrag auf Aufhebung oder Abänderung des Urteils in vollem Umfang oder hinsichtlich eines bestimmten Teils enthalten. In Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche ist auch der Wert des Anfechtungsgegenstandes anzugeben (Art. 368 ZPO). Ad. e) Die Berufung wird bei dem Gericht, das das angefochtene Urteil erlassen hat (dem Gericht a quo), innerhalb einer Frist von zwei Wochen seit der Zustellung des Urteils mit Begründung an die rechtsmittelführende Partei eingelegt. Hat die Partei die Begründung des Urteils nicht verlangt, so läuft die Frist zur Einlegung der Berufung von dem Tag an, an dem die Frist für das Verlangen der Begründung abläuft (Art. 369 ZPO). Dies betrifft auch andere Prozeßbeteiligte, die am erstinstanzlichen Verfahren teilgenommen haben. Der Nebenintervenient, der sich dem Verfahren erst mit der Einlegung der Berufung anschließt, muß es das Subjekt des streitigen Rechtsverhältnisses, auch wenn es nicht an dem Verfahren beteiligt ist. Das kann der Fall bei der Erhebung der Klage durch den Staatsanwalt, durch den Beauftragten für Bürgerrechte oder durch die gesellschaftliche Organisation zugunsten eines solchen Subjekts sein, wenn es als Kläger nicht in das Verfahren eintritt. 4 L. Rosenberg, Κ. H. Schwab, Zivilprozessrecht, 10. Auflage, München, 1969, S. 706; F. Ramos Mendes, Derecho procesal civil, 4. Auflage, Barcelona, 1990, S. 712; E. Fazzalari, Istituzioni di diritto processuale, 7. Auflage, Padova, 1994, S. 145. 5 T. Rowinski, Interes prawny w procesie cywilnym i w postepowaniu nieprocesowym (Rechtsinteresse im Zivilprozeß und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit), Warszawa, 1971, S. 160.

Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht

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in der Berufungsfrist tun, die für die Partei, der er beitritt, bestimmt wird. Gleichermaßen die gesellschaftliche Organisation, die sich dem Verfahren erst mit der Einlegung der Berufung anschließt, muß es in der Berufungsfrist tun, die für den Kläger bestimmt wird. Der Staatsanwalt sowie der Beauftragte für Bürgerrechte, der sich dem Verfahren erst mit der Einlegung der Berufung anschließt, muß es in der Berufungsfrist tun, die der beliebigen Partei zusteht.

IV. Die

Berufungsgründe

Die Berufungsgründe werden im Gesetz Einwände genannt. Da aber die Aufzählung dieser Einwände im Gesetz ausbleibt, muß angenommen werden, daß ihr Gegenstand alle Verstöße sein können, die nach der Meinung des Berufungsklägers dem Gericht erster Instanz widerfahren sind. Sie können auch jegliche Verletzungen des materiellen und des Prozeßrechts betreffen und insbesondere die Unzulässigkeit des Verfahrens, die ungenügende Aufklärung des Tatbestandes, fehlerhafte Würdigung der Beweise usw. Eine Unzulässigkeit des Verfahrens liegt vor: 1) wenn der Gerichtsweg unzulässig war; 2) wenn eine Partei der Partei- oder Prozeßfähigkeit oder eines zu ihrer Vertretung berufenen Organs oder des gesetzlichen Vertreters ermangelte oder wenn der Bevollmächtigte einer Partei nicht ordnungsgemäß bevollmächtigt war; 3) wenn über denselben Anspruch zwischen denselben Parteien ein früher anhängig gemachter Rechtsstreit schwebt oder wenn ein solcher Rechtsstreit bereits rechtskräftig entschieden worden ist; 4) wenn die Besetzung des erkennenden Gerichts im Widerspruch zu den gesetzlichen Vorschriften stand oder wenn an der Entscheidung des Rechtsstreits ein kraft Gesetzes ausgeschlossener Richter mitgewirkt hat; 5) wenn einer Partei die Möglichkeit zur Wahrnehmung ihrer Rechte genommen war; 6) wenn das Rayongericht in einem Rechtsstreit entschieden hat, für den das Woiwodschaftsgericht ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes zuständig ist (Art. 379 ZPO). Der Berufungskläger kann in der Berufung neue Tatsachen und

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Beweise vorbringen.

V. Der

Berufungsantrag

Der Berufungsantrag kann, auch alternativ, auf Abänderung oder Aufhebung des angefochtenen Urteils lauten und zwar abhängig vom Inhalt der Berufungseinwände. Wenn ζ. B. der Berufungseinwand nur die Verletzung des materiellen Rechts oder die fehlerhafte Würdigung der Beweise betrifft, ist der Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteils angemessen. Wenn dagegen der Berufungseinwand einen Verfahrensverstoß (ζ. B. Unzulässigkeit des Verfahrens) betrifft, ist der Antrag auf Aufhebung dieses Urteils angemessen. Der Antrag auf Abänderung des Urteils ist umfangreicher als der Antrag auf Aufhebung des Urteils, weil die Abänderung des Urteils gleichzeitig seine Aufhebung bedeutet. Es muß an dieser Stelle jedoch betont werden, daß die Formulierung bestimmter Einwände und des bestimmten Antrags in der Berufung, die der formalen Bedingung der Berufung genügen, doch irrelevant sind, wenn es sich um die Grenzen der Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz handelt, weil die Berufungseinwände lediglich die Meinung des Berufungsklägers bezüglich der Mängel, die im Gericht erster Instanz vorgekommen sind, zum Ausdruck bringen. Das Gericht zweiter Instanz kann hingegen erkennen, daß das Verfahren vor dem Gericht erster Instanz andere Mängel aufwies, oder aber fehlerlos war. Bei der Erlassung des Urteils durch das Gericht zweiter Instanz ist der Ausgang des Verfahrens vor diesem Gericht relevant und nicht die Ansichten der Verfahrensbeteiligten. Was den Berufungsantrag anbetrifft, so ist es gleichgültig, ob er auf Abänderung oder Aufhebung des angefochtenen Urteils lautet, weil das Gericht zweiter Instanz, wenn es der Berufung stattgibt, das angefochtene Urteil gemäß dem Ausgang des Berufungsverfahrens abändert oder aufhebt. Dieses Gericht kann jedoch, zuungunsten der die Berufung einlegenden Partei das Urteil weder aufheben noch abändern, es sei denn, auch die gegnerische Partei hat Berufung eingelegt (Art. 384 ZPO). Es geht hier um das sog. Verbot der reformatio in peius. Im Falle des Berufungsantrags ist es wichtig, ob es das Urteil in vollem Umfang oder nur einen bestimmten Teil des Urteils betrifft. Wird nämlich nur ein Teil des Urteils angefochten, so wird das Urteil, hinsichtlich des übrigen Teils mit Ablauf der Anfechtungs-

Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht

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frist rechtskräftig (Art. 363 §3 ZPO), was seine Abänderung oder Aufhebung infolge der Berufung ausschließt.

VI. Die Grenzen der

Berufung

Das Gericht zweiter Instanz entscheiedt den Rechtsstreit in den Grenzen der Berufung (Art. 378§ 1 ZPO). Diese Grenzen haben objektiven und subjektiven Charakter. Objektive Grenzen werden durch Berufungseinwände und Berufungsantrag auf oben beschriebene Art und Weise bestimmt (tantum appellatum quantum devolutum). Neben dem Antrag auf Abänderung oder Aufhebung des angefochtenen Urteils kann aber auch von dem Berufungskläger ein Antrag auf Entscheidung vom Gericht zweiter Instanz der vorangehenden Beschlüsse, die der selbstständigen Anfechtung nicht unterlagen und auf den Ausgang des Rechtsstreites Einfluß hatten, gestellt werden (Art. 380 ZPO). Im Berufungsverfahren kann man den Klageanspruch nicht erweitern, man kann aber infolge veränderter Umstände anstatt des ursprünglichen Streitgegenstandes dessen Wert oder einen anderen Gegenstand fordern und in den Rechtsstreitigkeiten über wiederkehrende Leistungen überdies den Klageanspruch auf Leistungen für weitere Zeiträume erweitern (Art. 383 ZPO). Das Problem der subjektiven Grenzen der Berufung wird aktuell im Falle der Streitgenossenschaft in einer oder der anderen Prozeßpartei, wenn nicht alle Streitgenossen von der Berufung erfaßt werden. Im Falle der Streitgenossenschaft in der gegnerischen Partei und der Einlegung der Berufung gegenüber nur einigen Streitgenossen wird das Urteil in Bezug auf die übrigen Streitgenossen nach dem Ablauf der Berufungsfrist rechtskräftig. Mit einer Ausnahme haben wir es im Falle der notwendigen Streitgenossenschaft zu tun, denn die Berufung gegenüber nur manchen Streitgenossen ist als Berufung gegenüber allen Streitgenossen zu betrachten. Im Falle der Streitgenossenschaft auf Seiten der die Berufung einlegenden Partei sind die Folgen der Erfassung mit der Berufung nur einiger Streitgenossen unterschiedlich in Abhängigkeit von der Art der Streitgenossenschaft. Bei der prozeßrechtlichen und materiellrechtlichen Streitgenossenschaft, die sich aus derselben Grundlage der Rechte und Pflichten ergibt, bewirkt die Einlegung der Berufung nur von einigen Streitgenossen den Eintritt der Rechtskraft des Urteils gegenüber den übrigen Streitgenossen. Im Falle der einheitlichen mate-

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riellrechtlichen Streitgenossenschaft ist die Einlegung der Berufung von einigen Streitgenossen wirksam auch gegenüber den übrigen Streitgenossen. Das Gericht zweiter Instanz muß in diesem Fall den Rechtsstreit gegenüber allen Streitgenossen entscheiden, weil nach Art. 73 § 2 ZPO im Falle der einheitlichen Streitgenossenschaft die Prozeßhandlungen der tätigen Streitgenossen gegenüber den untätigen wirksam sind. Im Falle der materiellrechtlichen Streigenossenschaft, die sich aus der Gemeinschaft der Rechte und Pflichten ergibt, ist Art. 378 § 2 ZPO zuständig, nach dem das Gericht zweiter Instanz von Amts wegen über den Rechtsstreit auch zugunsten von Streitgenossen entscheiden kann (aber nur kann), die das Urteil nicht angefochten haben, wenn die Rechte oder Pflichten, die der Gegenstand der Anfechtung sind, auch diesen Streitgenossen gemeinsam sind. Daraus resultiert, daß in diesem Falle die Einlegung der Berufung von einigen Streitgenossen den Eintritt der Rechtskraft gegenüber den übrigen Streitgenossen hemmt, obwohl sie nach Ablauf der Berufungsfrist das Urteil der ersten Instanz nicht anfechten können.

VII. Die Einlegung der

Berufung

Die Berufung wird eingelegt durch Einreichung der Berufungsschrift bei dem Gericht, das das angefochtene Urteil erlassen hat, d. h. beim Gericht erster Instanz (dem Gericht a quo), obwohl die Berufung an das Gericht zweiter Instanz (das Gericht ad quem) adressiert ist. Das Gericht erster Instanz ist gemäß der sachlichen Zuständigkeit das Rayongericht oder das Woiwodschaftsgericht, das Gericht zweiter Instanz hingegen entsprechend das Woiwodschaftsgericht oder das Berufungsgericht. Mit der Einreichung der Berufungsschrift beginnt das Berufungsverfahren. Seine erste, ständige und dabei einleitende Etappe findet im Gericht erster Instanz statt, die zweite, eventuelle aber grundsätzliche Etappe-im Gericht zweiter Instanz. Das Gericht erster Instanz prüft die Zulässigkeit der Berufung. Kann die Berufungsschrift nicht ordnungsgemäß in Lauf gesetzt werden infolge der Nichtbeachtung von Formerfordernissen oder der Nichtentrichtung der vorgeschriebenen Gebühr, so fordert der Vorsitzende den Berufungskläger bei Vermeidung der Verwerfung der Berufung zur Berichtigung oder Ergänzung der Berufungsschrift in der bestimmten

Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht

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Frist auf. Das Gericht erster Instanz verwirft in nichtöffentlicher Sitzung die Berufung, die nach Ablauf der vorgeschriebenen Frist eingelegt wurde oder aus anderen Gründen unzulässig ist, sowie auch die Berufung, deren Mängel der Berufungskläger innerhalb einer bestimmten Frist nicht behoben hat (Art. 370 ZPO 6 ). Ist die Berufung in vorgeschriebenen Frist eingelegt worden und sind die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt worden, so stellt das Gericht erster Instanz die Berufungsschrift anderen Verfahrensbeteiligten zu und legt die Akten des Rechtsstreites dem Gericht zweiter Instanz vor. Jeder der Verfahrensbeteiligten mit Ausnahme des Nebenintervenienten und der gesellschaftlichen Organisation, die dem Berufungskläger beigetreten sind, kann innerhalb zwei Wochen seit der Zustellung der Berufungsschrift eine Berufungserwiderung unmittelbar beim Gericht zweiter Instanz einreichen (Art. 372 ZPO). Das Gericht zweiter Instanz verwirft in nichtöffentlicher Sitzung die Berufung, wenn sie schon der Verwerfung durch das Gericht erster Instanz unterlag. Stößt es auf Mängel, zu deren Beseitigung der Berufungskläger nicht aufgefordert worden war, so verlangt es ihre Beseitigung. Werden die Mängel innerhalb einer bestimmten Frist nicht beseitigt, so unterliegt die Berufung der Verwerfung (Art. 373 ZPO).

VIII. Die Verhandlung

über die Berufung

Das Gericht zweiter Instanz, wenn es die Berufung nicht verwirft, entscheidet den Rechtsstreit. Diese Entscheidung erfolgt in mündlicher Verhandlung. Nur im Falle, wenn unabhängig von anderen eventuellen Mängeln des Verfahrens in erster Instanz die Unzulässigkeit des Verfahrens vorliegt, kann das Gericht zweiter Instanz Uber die Berufung in nichtöffentlicher Sitzung entscheiden (Art. 374 ZPO). Die mündliche Verhandlung vor dem Gericht zweiter Instanz findet ohne Rücksicht auf das Nichterscheinen einer oder beider Parteien statt. Das erlassene Urteil ist in keinem Fall Versäumnisurteil (Art. 376 ZPO). Nach Aufruf 6 Die Redaktion dieses Artikels ist nicht korrekt. Bei korrekter Redaktion sollte er folgendermassen lauten: Das Gericht erster Instanz verwirft die Berufung, deren Mängel die Partei nicht innerhalb einer bestimmten Frist behoben hat, die nach Ablauf de vorgeschriebenen Frist eingelegt wurde, sowie auch die Berufung die aus anderen Gründen unzulässig ist.

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der Sache beginnt die mündliche Verhandlung mit der Berichterstattung eines Richters, der den Stand des Rechtsstreits unter Berücksichtigung der Berufungsgründe und Berufungsanträge gedrängt darstellt (Art. 377 ZPO). Dann ergreifen die Parteien und andere Verfahrensbeteiligte das Wort, wobei als erster der Berufungskläger auftritt. Außerdem findet die mündliche Verhandlung vor dem Gericht zweiter Instanz in der Weise statt wie vor dem Gericht erster Instanz und umfaßt insbesondere, den Umständen gemäß, eine Beweisaufnahme und die Erörterung ihrer Ergebnisse (Art. 210 ZPO). Entsteht bei der Verhandlung über eine Berufung durch das Gericht zweiter Instanz in einem Rechtsstreit, in dem die Kassation nicht gegeben ist, eine ernsthafte Zweifel erweckende Rechtsfrage, so kann das Gericht unter Vertagung der Entscheidung des Rechtsstreits diese Frage dem Obersten Gericht zur Entscheidung vorlegen. Das Oberste Gericht braucht sich nicht auf die Entscheidung der ihm vorgelegten Rechtsfrage beschränken, sondern ist befugt, den ganzen Rechtsstreit zur Entscheidung zu übernehmen (Art. 390 ZPO). Es kann aber auch die Entscheidung der Rechtsfrage verweigern, wenn es erkennt, daß sie keine ernsthafte Zweifel erweckt.

IX. Die Entscheidung

auf die

Berufung

Nach der Verhandlung Uber die Berufung erläßt das Gericht zweiter Instanz ein Urteil, das abhängig von der Begründetheit (Unbegründetheit) der Berufung ein der Berufung stattgebendes oder die Berufung abweisendes Urteil sein kann. Das der Berufung stattgebende Urteil kann vor allem das angefochtene Urteil abänderndes oder aber auch aufhebendes Urteil sein. Das Gericht zweiter Instanz erläßt ein das angefochtene Urteil abänderndes Urteil dann, wenn dieses unter Verletzung des materiellen Rechts erlassen wurde, und der Prozeßstoff, über den das Gericht zweiter Instanz verfügt, es erlaubt, in der Sache anders zu entscheiden, als im angefochtenen Urteil entschieden worden ist (Art. 386 § 1) · Ein das angefochtene Urteil aufhebendes Urteil wird hingegen in drei Fällen erlassen. Mit dem ersten Fall haben wir es dann zu tun, wenn die Unzulässigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens aus Gründen, die weder die Verwerfung der Klage noch die Einstellung des Verfahrens erlauben, festgestellt

Die B e r u f u n g im polnischen Zivilprozessrecht

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wird. In dieser Situation hebt das Gericht zweiter Instanz das angefochtene Urteil und das Verfahren im Bereich der auftretenden Unzulässigkeit auf und verweist den Rechtsstreit an das Gericht erster Instanz zur erneuten Entscheidung zurück (Art. 386 § 2 ZPO). Der zweite Fall kommt dann vor, wenn die Klage der Verwerfung unterliegt oder wenn sich ein zwingender Grund zur Einstellung des Verfahrens ergibt, d. h. wenn das Gericht erster Instanz ein Urteil erlassen hat, obwohl es durch Beschluß die Klage verwerfen oder das Verfahren einstellen sollte. In dieser Situation hebt das Gericht zweiter Instanz das Urteil des Gerichts erster Instanz auf und verwirft die Klage oder stellt das Verfahren ein (Art. 386 § 3 ZPO). Der dritte und wichtigste Fall betrifft die Situation, in der die Erlassung eines anderen Urteils in der Sache als das angefochtene Urteil die Durchführung einer partiellen oder vollständigen Beweisaufnahme erfordert. In dieser Situation hebt das Gericht zweiter Instanz das angefochtene Urteil und verweist den Rechtsstreit an das Gericht erster Instanz zur erneuten Entscheidung zurück (Art. 386 § 4 ZPO). Aus dem obigen geht deutlich hervor, daß die Aufhebung des angefochtenen Utreils niemals als einzige Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz auftritt, weil damit immer eine bestimmte zusätzliche Entscheidung verbunden wird. Dies geschieht deshalb, weil die Aufhebung des angefochtenen Urteils das Verfahren nicht abschließt, sondern es ohne Abschluß lässt. Daher ist die gleichzeitige Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz bezüglich des Abschlusses des Verfahrens (so im Falle der Verwerfung der Klage oder der Einstellung des Verfahrens) bzw. seiner Fortsetzung (so im Falle der Verweisung des Rechtsstreites an das Gericht erster Instanz zur erneuten Entscheidung) notwendig, denn nach dem Zivilprozeßrecht kann das Verfahren ausschließlich aufgrund der Entscheidung des Prozeßorgans (Urteil oder Beschluß des Gerichts und ausnahmsweise Verfügung des Vorsitzenden) erfolgen. Das Gericht zweiter Instanz weist die Berufung ab, wenn sie unbegründet ist (Art. 385 ZPO). Die Abweisung der Berufung erfolgt mit dem Urteil.

X.

Die Abweichungen von dem normalen Abschluß des Berufungsverfahrens

Verlauf

und

Von dem oben dargestellten normalen Verlauf und Abschluß des

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Berufungsverfahrens kann es zwei Abweichungen geben. Die erste betrifft die Einstellung des Berufungsverfahrens, die zweite hingegen die Einstellung des Verfahrens im ganzen, d. h. in beiden Instanzen. Die Einstellung des Berufungsver fahr ens ist in zwei Fällen möglich, und zwar im Falle der Zurücknahme der Berufung und infolge der Aussetzung des Verfahrens in zweiter Instanz. Im Gesetz fehlt zwar die Vorschrift über die Zurücknahme der Berufung, doch muß angenommen werden, daß sie auf der allgemein geltenden Grundlagen der Widerruflichkeit der Prozeßhandlungen der Prozeßbeteiligten zulässig ist. Wenn also der Berufungskläger die Berufung sowohl in der ersten als auch nach deren Vorlegung dem Gericht zweiter Instanz zurücknimmt, so stellt das Gericht erster oder zweiter Instanz das Berufungsverfahren ein. Der letzte Moment, bis zu dem der Berufungskläger die Berufung zurücknehmen kann, ist die Beendigung des Berufungsverfahrens. Infolge der Zurücknahme der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig, es sei denn, ein anderer Verfahrensbeteiligter hat auch eine Berufung eingelegt. In gewissen Fällen der Aussetzung des Verfahrens (ζ. B. auf Ubereinstimmigen Antrag der Parteien) stellt das Gericht das Verfahren ein, wenn der Antrag auf Aufnahme des Verfahrens nicht innerhalb von drei Jahren seit dem Datum des Aussetzungsbeschlusses gestellt worden ist. Die Einstellung des ausgesetzten Verfahrens in der zweiten Instanz begründet den Eintritt der Rechtskraft des Urteils der ersten Instanz mit Ausnahme der Streitigkeiten über die Nichtigerklärung, die Scheidung oder die Feststellung des Nichtbestehens einer Ehe, in denen das Verfahren dann gänzlich eingestellt wird (Art. 182 § 3 ZPO). Die gänzliche Einstellung des Verfahrens kann in der zweiten Instanz auch aus anderen Gründen, wie ζ. B. die Zurücknahme der Klage oder Vergleich (Art. 355 ZPO), erst nach der Einlegung der Berufung erfolgen. In solchen Fällen stellt das Gericht erster bzw. zweiter Instanz das Verfahren gänzlich ein, was den Eintritt der Rechtskraft des angefochtenen Urteils verhindert. Zusammenfassend kann man annehmen, daß die Beendigung des Berufungsver fahr ens auf sechserlei Weise erfolgen kann und zwar: durch Verwerfung der Berufung, Abänderung des angefochtenen Urteils, Aufhebung des angefochtenen Urteils (mit entsprechender zusätzlicher Entscheidung), Abweisung der Berufung, Einstellung des Berufungsverfahrens und Einstellung des Verfahrens im ganzen. Die Verwerfung der Berufung, die Einstellung des Berufungsverfah-

Die Berufung im polnischen Zivilprozessrecht

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rens sowie die Einstellung des ganzen Verfahrens erfolgen in Form des Beschlusses, die Abänderung des angefochtenen Urteils, die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Abweisung der Berufung dagegen durch das Urteil.

XI.

Die Rechtsmittel gegen die im erlassenen Entscheidungen

Berufungsverjahren

Was die Rechtsmittel gegen die im Berufungsverfahren erlassenen Entscheidungen anbetrifft, so muß auf folgendes hingewiesen werden: a) gegen Beschlüsse des Gerichts erster Instanz über die Verwerfung der Berufung, die Einstellung des Berufungsverfahrens und die Einstellung des ganzen Verfahrens ist die Beschwerde an das Gericht zweiter Instanz gegeben, (Art. 394 § 1 ZPO), b) gegen Urteile und Beschlüsse des Gerichts zweiter Instanz die das Verfahren in dem Rechtsstreit beenden ist die Kassation gegeben (Art. 392 § 1 ZPO). Die Beschwerde an das Oberste Gericht ist nur gegen einen Beschluß des Gerichts zweiter Instanz gegeben und zwar gegen den Beschluß über die Verwerfung der Kassation (Art. 39317 ZPO). Soweit keine besonderen Vorschriften für das Verfahren vor dem Gericht zweiter Instanz bestehen, sind auf dieses Verfahren die Vorschriften über das Verfahren vor dem Gericht erster Instanz entsprechend anzuwenden (Art. 391 ZPO).

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Die Bedeutung des EuGVU und des Luganer Abkommens für Drittstaaten von

Prof. Dr. Dagmar Coester-Waltjen

München

Professorin an der Universität München

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Inhaltsverzeichnis

I. Entstehung und grundsätzlicher Anwendungsbereich der Abkommen II. Anerkennung und Vollstreckung 1. Behandlung eines Vertragsstaatenurteils 2 . Anerkennung von Drittstaatenentscheidungen III. Der Rechtshängigkeitseinwand IV. Die Zuständigkeitsregelungen 1. Die ausschließliche Zuständigkeit des Art. 16 EuGVÜ/LugAb 2 . Die allgemeine Zuständigkeit des Art. 2 EuGVÜ/LugAb 3 . Die besonderen und halb ausschließlichen Gerichtsstände 4 . Gerichtsstandsvereinbarung 5 . Die autonomen Zuständigkeitsregelungen V. Schlußbetrachtung

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer A b k o m m e n s für D r i t t s t a a t e n

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Japan und speziell die japanische Rechtswissenschaft zeigen seit langem reges Interesse für prozeßrechtliche Entwicklungen in Europa1. Es gehört zu den besonderen Verdiensten des Jubilars, als intimer Kenner auch der europäischen Prozeßrechte die Einflüsse derselben auf das japanische Prozeßrechtsdenken analysiert zu haben. Gleichzeitig hat er durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen in westlichen Sprachen dem des Japanischen unkundigen Europäer Einblick in die japanische Prozeßrechtsdogmatik vermittelt und damit zu einer lebendigen Prozeßrechtsvergleichung ganz wesentlich beigetragen. Die folgenden Bemerkungen zum EuGVÜ und zum Luganer Abkommen sollen allerdings nicht der Prozeßrechtsvergleichung gewidmet sein; sie beschäftigen sich ebenfalls nicht mit den Vorteilen (oder Nachteilen) eines Beitritts zum Luganer Abkommen, der auf Einladung auch anderen als EFTA- und EU-Staaten möglich ist2, vielmehr sollen sie die Auswirkungen der Übereinkommen auf Parteien, Verfahren und Entscheidungen aus Drittstaaten beleuchten.

I. Entstehung und grundsätzlicher der

Anwendungsbereich

Abkommen

Grundlage des EuGVÜ — des Übereinkommens über die gerichtliche Zutändigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilund Handelssachen vom 27-9.1968 — ist Art. 220 EGV, der die EUStaaten verpflichtet, die „Förmlichkeiten für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung richterlicher Entscheidungen" zu vereinfachen. Die Schöpfer des EuGVÜ sind über diesen Auftrag jedoch hinausgegangen und haben eine sog. „convention double" geschaffen, die in Zivil1 Vgl. Nakamura, Japan und das deutsche Zivilrozeßrecht, in: „Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen", Grundlagenberichte für die Tagung der Wissenschaftlichen Vereinigung für Internationales Verfahrensrecht, Verfahrensrechtsvergleichung und Schiedsgerichtswesen 1989, S. 126. 2 Art. 62 I b, Art. 60 Buch, c Luganer Abkommen.

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und Handelssachen neben den Regeln über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen vor allem auch Vorschriften über die direkte Zuständigkeit enthält. Gerade dieses weitgehend einheitliche, dezidiert geregelte Zuständigkeitssystem ermöglicht eine automatische Anerkennung und ein vereinfachtes und beschleunigtes Verfahren zur Vollstreckbarerklärung der Vertragsstaatenurteile. Dabei wird die Freizügigkeit gerichtlicher Entscheidungen dadurch vergrößert, daß nach Art. 28 III EuGVÜ auf die Prüfung der Anerkennungszuständigkeit grundsätzlich verzichtet und auch im übrigen die Kontrolle der nationalen Rechtsprechung auf ein Minimum reduziert wird. Diese Grundzüge waren bereits in der ursprünglichen Fassung des EuGVÜ verwirklicht. Anpassungen wurden jedoch durch den Beitritt weiterer europäischer Staaten zur EG notwendig oder erschienen anläßlich dieses Beitritts sinnvoll. Mit dem Beitrittsabkommen von San Sebastiän hat das EuGVÜ vorerst seine letzte Fassung erreicht. Das Luganer Abkommen geht ursprünglich auf eine Initiative der schwedischen Regierung aus dem Jahre 1973 zurück, mit der diese ihr Interesse an einer Ausweitung der durch das EuGVÜ innerhalb der EGStaaten erzielten Vereinfachung der Förmlichkeiten bei der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen bekundete. Nachdem der schwedische Vorschlag zunächst versickert war, griff 1981 die Schweizer Mission bei der EG das Vorhaben erneut auf, was zu Vorgesprächen und 1985 zur Bildung einer ad hoc-Gruppe führte, die sich mit der Erarbeitung eines sog. „Parallelübereinkommens" zum EuGVÜ für einen auch die E F T A - S t a a t e n umfassenden Vertragsstaatenkreis beschäftigte. Hintergrund für diese Zusammenar beit der EG-Staaten und der E F T A - S t a a t e n war die Überlegung, daß die Länder beider Organisationen umfangreichen Handel miteinander treiben. Angesichts der ähnlichen Struktur der Staaten lag es nahe, eine Übereinkunft über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen zu treffen und ein einheitliches Zuständigkeitssystem zu schaffen. Ein Beitritt zum EuGVÜ mußte ausscheiden, weil Art. 220 EGVertrag die Grundlage dieses Abkommens bildet und für die Auslegung desselben der EuGH als Institution der EG zuständig ist. Ein Beitritt von Nicht-EG-Staaten konnte also nicht in Betracht kommen. Nach einer zweijährigen Arbeit von Regierungssachverständigen der EG- und E F T A Staaten konnte das Luganer Abkommen am 16. 9.1988 auf einer auf Einladung des Schweizer Bundesrates stattfindenden diplomatischen Konferenz in Lugano unterzeichnet werden. Es ist — bis auf wenige Son-

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

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derregelungen — wortgleich mit der letzten Fassung des EuGVÜ3. Der Anwendungsbereich der beiden Abkommen zueinander wird nach der Zugehörigkeit der Vertragsstaaten zu einem oder beiden Abkommen abgegrenzt (Art. 54b III LugAb). Sind ausschließlich Vertragsstaaten des EuGVÜ berührt, so ist nur dieses anwendbar. Hat beispielsweise der Beklagte seinen Wohnsitz in Frankreich, so können deutsche Gerichte ihre internationale Zuständigkeit ausschließlich auf das EuGVÜ stützen; die gleichzeitige Rechtshängigkeit der Streitsache in einem anderen EuGVÜ-Staat ist nach den Regelungen des EuGVÜ zu behandeln, ebenso die Anerkennung und Vollstreckung eines beispielsweise französischen Urteils in Deutschland. Ist hingegen die Berührung zu einem Staat gegeben, der nur Vertragsstaat des Luganer Abkommens ist, so ist dieses anwendbar. Hat der Beklagte also beispielsweise seinen Wohnsitz in der Schweiz oder ist dort ein Rechtsstreit über die gleiche Sache wie in Deutschland anhängig, so müssen die deutschen Gerichte die internationalen Zuständigkeitsregelungen des Luganer Abkommens heranziehen; deutsche Urteile werden in der Schweiz, Schweizer Urteile in der Bundesrepublik Deutschland nach den Vorschriften des Luganer Abkommens anerkannt. Wegen einiger, wenngleich weniger Unterschiede in den Zuständigkeits 4 - und in den Anerkennungsregelungen 5 , ist diese Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Abkommen von mehr als bloß formaler Bedeutung. Trotz dieser Unterschiede in Einzelfragen kann man davon ausgehen, daß mit diesen Abkommen wichtige Teile des internationalen Zivilprozeßrechts im Bereich der Zivil- und Handelssachen in großen Teilen Westeuropas vereinheitlicht sind6. Damit erlangt die Frage, welche Auswirkungen diese Abkommen auf Parteien, Verfahren und Entscheidungen aus Drittstaaten haben, ein besonderes Gewicht. Zwar können die einheitlichen Regelungen nur die Vertragsstaaten der Abkommen untereinander binden; sie sind in erster Linie auf Parteien, Verfahren und Entscheidungen aus den Vertragsstaaten ausgerichtet, es gibt aber auch eine Reihe von Berührungspunkten zu Drittstaaten. Dies 3 Zu dem Konvergenzmechanismus für die Auslegung der beiden Konventionen vgl. Kohler, Festschrift Schwind, 1993, 303 ff und Tebbens, in Reichelt: Europäisches Konventionsrecht, 1993, 49 ff. 4 Art. 5 Nr. 1, Art. 16 Nr.l und Art. 17 V unterscheiden sich im Luganer Abkommen und in der neuesten Fassung des EuGVÜ. 5 Siehe unten Fußnoten 12, 13, 15. 6 Vertragsstaaten des LugAb sind Frankreich, die Niederlande, die Schweiz (alle seit

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gilt in erster Linie für die Frage der Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen aus Vertragsstaaten, die für oder gegen eine Person mit der Staatsangehörigkeit eines Drittstaates oder mit Wohnsitz oder Sitz in einem Nichtvertragsstaat in einer in den Anwendungsbereich des Abkommens fallenden Zivil- und Handelssache ergangen sind (sogleich II), sowie für den Einwand der anderweitigen Rechtshängigkeit in einer entsprechenden Sache (vgl. dazu III). Es gilt aber auch — wenngleich hier im einzelnen einiges sehr streitig ist — für den Anwendungsbereich der Vorschriften über die direkte (internationale) Zuständigkeit der Vertragsstaatengerichte gegenüber Parteien aus Drittstaaten für die in diesen Abkommen beschriebenen Zivil- und Handelssachen (dazu IV).

II. Anerkennung und

1. Behandlung

eines

Vollstreckung

Vertragsstaatenurteils

Der Anwendungsbereich der Anerkennungs- und Vollstreckungsregelungen beider Abkommen beschränkt sich nicht auf Entscheidungen, die zwischen Parteien mit Wohnsitz bzw. Sitz in den Vertragsstaaten ergangen sind, sondern stellt allein auf die Herkunft der Entscheidung aus einem Vertragsstaat ab, Art. 25 EuGVÜ/LugAb. Völlig unerheblich ist auch die Staatsangehörigkeit der Parteien. Nicht erforderlich ist des weiteren, daß sich die Zuständigkeit des Vertragsstaatengerichts aus dem Abkommen ergeben hat. Auch Entscheidungen aus den Vertragsstaaten, die für oder gegen eine beklagte Partei mit Wohnsitz/Sitz in einem Drittstaat ergehen und für die die Zuständigkeit der Gerichte nach Art. 4 EuGVÜ/LugAb im autonomen Recht geregelt ist, werden nach den Vorschriften der Abkommen in den anderen Vertragsstaaten anerkannt 1. 1. 1992), Luxemburg (seit 1. 2. 1992), Vereinigtes Königreich (seit 1. 5. 1992), Portugal (seit 1. 7. 1992), Italien (seit 1. 12. 1992), Schweden (seit 1. 1. 1993), Norwegen (seit 1.5.1993), Finnland (seit 1.7.1993), Irland (seit 1.12.1993), BRD (seit 1.3.1995); das EuGVU gilt in der Fassung von San Sebastian f ü r Frankreich, die Niederlande, Spanien (seit 1.2.1991), das Vereinigte Königreich (seit 1.12.1991), Luxemburg (seit 1. 2. 1992), Italien (seit 1. 5. 1992), Griechenland (seit 1. 7. 1992), Portugal (seit 1. 7. 1992), Irland (seit 1. 12.1993), BRD (seit 1. 12.1994). Gegenüber Belgien und Dänemark gilt es noch in der Fassung des zweiten Beitrittsübereinkommens, BGBL 1988 II S. 453.

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

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und vollstreckt. Es findet daher weder eine revision au fond (Art. 29 EuGVÜ/LugAb) noch — soweit nicht ein Ausnahmefall der Art. 28 I EuGVÜ/Art. 28 I , II LugAb vorliegt — eine Zuständigkeitsprüfung statt (Art. 28 III EuGVÜ/Art. 28 IV LugAb). Dies gilt grundsätzlich 7 selbst dann, wenn das Gericht seine Zuständigkeit auf eine der in Art. 3 der Abkommen als exorbitant mißbilligten Zuständigkeitsnormen gestützt hat. Auch eine Berufung auf den ordre public mit der Begründung, die Zuständigkeit sei ordre public-widrig, ist ausgeschlossen. Wurde beispielsweise ein Unternehmen mit Sitz in Japan vor französischen Gerichten verklagt und konnten die französischen Gerichte ihre Zuständigkeit nur auf Art. 14 CC (französische Staatsangehörigkeit des Klägers) stützen, so kann dieses Urteil in allen anderen Vertragsstaaten anerkannt und vollstreckt werden — soweit sich keine von der Zuständigkeit® unabhängigen Anerkennungshindernisse (Art.27 EuGVÜ/LugAb) ergeben. Nur ausnahmsweise ist die Zuständigkeitsregelung für die Anerkennung relevant: Wurde eine ausschließliche Zuständigkeit eines Vertragstaatengerichts nach Art. 16 EuGVÜ/LugAb mißachtet oder ist die Zuständigkeitsordnung in Versicherungs 9 - und Verbrauchersachen 10 verletzt, so stellt dies ein Anerkennungshindernis dar. Das gleiche gilt, wenn sich der Vertragsstaat, in dem die Anerkennung nachgesucht wird, gegenüber einem Drittstaat verpflichtet hat, Entscheidungen, die sich auf exorbitante Zuständigkeiten i.S. des Art. 3 EuGVÜ/LugAb stützen 11 und gegen Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in diesem Drittstaat ergangen sind, nicht anzuerkennen (Art.28 I i.V.m. Art. 59 I EuGVÜ/ LugAb)12. Die Vertragsstaaten des Luganer Übereinkommens haben sich darüber 7 Zur Ausnahme sogleich unten nächster Absatz. 8 Beachte aber Art. 28 I EuGVÜ/Art.28 I , II LugAb. 9 Art. 7 ff der Abkommen. 10 Art. 13 ff der Abkommen. 11 Eine solche Vereinbarung kann aber nicht die Anerkennung aufgrund einer Zuständigkeit des Vermögensgerichtsstandes für Verfahren ausschließen, in denen es um Inhaber- oder Eigentumsrechte an diesem Vermögen oder um einen besonderen Zusammenhang mit diesem Vermögen geht, Art. 59 II EuGVÜ/LugAb. 12 Mit dieser Formulierung sollte vor allem ein Konflikt mit Anerkennungsregelungen der Haager Abkommen vermieden werden (Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil-und Handelssachen, S. 131); soweit ersichtlich ist im derzeitigen Abkommensbestand der Vertragsstaaten eine derartige Verpflichtung zurNichtanerkennungimdeutsch-norwegischenAnerkennungs- undVollstreckungs-

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hinaus vorbehalten13, Entscheidungen aus EuGVÜ-Staaten die Anerkennung zu versagen, wenn sich die Zuständigkeit für die Entscheidung aus Regelungen ergibt, die sich von denen des Luganer Abkommens unterscheiden, und die Partei, gegen die die Entscheidung geltend gemacht wird, ihren Wohnsitz in einem nicht dem EuGVÜ angehörenden Vertragsstaat hat (Art. 28 II, Art. 54b III LugAb). Hiermit sind die wenigen Fälle, in denen die Zuständigkeitsnormen des EuGVÜ und des Luganer Abkommens auseinanderfallen, erfaßt. Denkbar ist beispielsweise, daß das Gericht eines EU-Staates bei einer Entscheidung über einen Arbeitsvertrag seine Zuständigkeit auf Art.5 Nr.l EuGVÜ stützt, die jedoch nach Art.5 Nr. 1 LugAb nicht gegeben wäre. Ein anderes Beispiel ergibt sich aus der unterschiedlichen Handhabung der Prorogationsvereinbarungen bei Arbeitsrechtsstreitigkeiten (Art. 17 V EuGVÜ/LugAb). Auch Parteien aus Drittstaaten haben diese Unterschiede also zu beachten, wenn sie ein möglichst in allen Vertragsstaaten anerkennungsfähiges Urteil erhalten möchten. Gerichtsentscheidungen, die auf der Grundlage exorbitanter Zuständigkeiten ergangen sind und ergehen konnten, weil der Beklagte seinen Wohnsitz zur Zeit der Entscheidung außerhalb der EG- und E F T A Staaten hatte, fallen nicht unter diese Ausnahme der Anerkennungsverpflichtung. Zwar ist die sich aus dem autonomen Recht des Urteilstaates ergebende Zuständigkeit „vertragsfremd", sie ist jedoch über Art. 4 I EuGVÜ/LugAb grundsätzlich akzeptiert. Eine Anerkennungspflicht besteht ferner nicht, wenn Vertragsstaaten in Spezialabkommen exorbitante Zuständigkeiten zugelassen haben14; die übereinkommen v. 17. 6. 1977, Art. 23 vorgesehen; das Zusatzprotokoll zum Haager Übereinkommenn über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile in Zivil- und Handelssachen v. 1. 2. 1971, das eine solche Verpflichtung enthält, ist ebenso wie das Abkommen selbst nur zwischen den Niederlanden, Portugal und Zypern in Kraft getreten, spielt also innerhalb des Anwendungsbereichs von EuGVÜ/LugAb nur gegenüber Zypern eine Rolle (vgl. dazu Coester- WaltjenRabeXsZ 57(1993)288. Eine ähnliche Regelung findet sich auch im Anerkennungsabkommen der fünf nordischen Staaten v. 11.10. 1977, das jedoch wegen der Mitgliedschaft im LugAb keine große Bedeutung mehr hat. 13 Während Art. 26 EuGVÜ/LugAb grundsätzlich eine AnerkennungsPflicht statuiert, wenn nicht ein Anerkennungshindernis nach Art. 27, 28 I EuGVÜ/LugAb vorliegt, ist bei diesen Anerkennungsversagungsgründen dem Gericht ein Ermessen eingeräumt. Der Grund ist wohl darin zu suchen, daß diese Regelungen als Ausnahmen von der grundsätzlichen Anerkennungspflicht und als Einschränkungen der Freizügigkeit der Urteile nicht automatisch angewandt werden sollen. 14 Grundsätzlich haben nach Art. 57 I EuGVÜ/LugAb derartige Spezialabkommen Vorrang, aufgrund solcher Abkommen ergangene Entscheidungen sind nach Art. 57

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

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Anerkennung der aufgrund dieser Regelungen ergangenen Entscheidungen kann nach Art. 57 IV LugAb versagt werden, wenn der ersuchte Staat nicht Vertragspartei des SpezialÜbereinkommens ist und die Person, gegen die die Anerkennung geltend gemacht wird, ihren Wohnsitz in dem ersuchten Staat hat15. Diese Anerkennungsversagungsgründe — wie auch die Möglichkeit der Vorbehalte nach dem Protokoll Nr. 1 zum Luganer Abkommen16 — bringen also für Parteien aus Drittstaaten keinerlei Sonderregelungen, wenn man von dem Anerkennungsversagungsgrund des Art. 59 EuGVÜ/ LugAb absieht. Damit unterliegt die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen, die in einem Vertragsstaat des EuGVÜ oder des Luganer Abkommens für oder gegen eine in einem Drittstaat ansässige oder beheimatete Partei ergangen ist, uneingeschränkt den Anerkennungsund Vollstreckungsvoraussetzungen dieser Abkommen. 2. Anerkennung

von

Drittstaatenentscheidungen

Die Anerkennungs- und Vollstreckungsvorschriften dieser Abkommen regeln nicht die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus Drittstaaten. Insbesondere hat man nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das Zuständigkeitssystem des EuGVÜ dadurch mit besonderer internationaler Wirkung auszustatten, daß die Vertragsstaaten die NichtanIII grundsätzlich anzuerkennen. 15 Wichtig ist, daß Art. 57 IV nicht nur für EFTA-Staaten gilt, sondern auch EUStaaten die Möglichkeit der Anerkennungsverweigerung gibt. Sie erstreckt sich auch auf EU-Normen, die für Spezialgebiete Zuständigkeits- und Anerkennungsregelungen enthalten und nach Ziff. 1 Protokoll Nr. 3 zum EuGVÜ den Sonderabkommen i.S. des Art. 57 I EuGVÜ gleichgestellt sind. 16 Nach Art. la des Protokolls Nr. 1 zum LugAb behält sich die Schweiz bis zum 31. 12. 1999 die Erklärung vor, daß die in einem anderen Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen in der Schweiz nicht anerkannt und vollstreckt werden, wenn sich die Zuständigkeit des Erstgerichts nur aus Art.5 Nr. 1 LugAb ergibt, der Beklagte zur Zeit der Einleitung des Verfahrens seinen Wohnsitz in der Schweiz hatte und gegen die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung in der Schweiz Einspruch erhebt. Die Schweiz war zu dieser Erklärung, die sie bei der Ratifikation hinterlegt hat, aufgrund verfassungsrechtlicher Bestimmungen gezwunger (Art. 59 Schweizer Bundesverfassung). Zum anderen sieht Art. lb des Protokolls Nr. 1 zum LugAb als Konzession an die Mittelmeerstaaten vor, daß Entscheidungen, bei denen das Gericht seine Zuständigkeit aus Art. 16 I Nr. lb LugAb hergeleitet hat, im Belegenheitsstaat nicht anerkannt und vollstreckt werden müssen. Frankreich hat bei der Ratifikation des Luganer Abkommens einen entsprechenden Vorbehalt erklärt.

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erkennung von Drittstaatenurteilen vereinbaren, wenn diese Entscheidungen in einem vom EuGVÜ/LugAB nicht akzeptierten Gerichtsstand ergangen sind17. Grundsätzlich ergibt sich die Anerkennung und Vollstreckung eines Drittstaatenurteils damit aus dem autonomen Recht, soweit nicht andere Abkommen eingreifen. Dabei ist zu beachten, daß die Anerkennung einer Drittstaatenentscheidung nach autonomem Recht die Anerkennung einer später ergangenen Entscheidung eines anderen Vertragsstaates nach Art. 27 Nr. 5 EuGVÜ/LugAb hindert. Für die Anerkennung von Drittstaatenentscheidungen (durch einen Vertragsstaat) geht man davon aus, daß die von den Vertragsstaaten getroffenen ausschließlichen Zuständigkeitsregelungen des Art. 16 EuGVÜ/LugAb ein solches Gewicht haben18, daß sich aus ihnen für die Vertragsstaaten ein umfassendes (gegenüber Drittstaaten allerdings ungeschriebenes) Anerkennungsverbot für Entscheidungen ergibt, die diese ausschließliche Zuständigkeit mißachten 19 . Dieses Anerkennungsverbot findet über den ordre public Eingang in das autonome Anerkennungsrecht. Für den Fall des Eingreifens von Anerkennungs- und Vollstreckungsverträgen mit Drittstaaten ist zu unterscheiden, ob dieser Vertrag einen ausdrücklichen Vorbehalt der Nichtanerkennung bei Verletzung der ausschließlichen Zuständigkeit anderer Staatenenthält 20 oder nicht 21 . Fehlt es an einem solchen Vorbehalt, so ist nach dem Vertragsabschlußdatum zu differenzieren. Ist der Vertrag vor Unterzeichnung des EuGVÜ (27. 9.1968) bzw. des Luganer Abkommens (16- 9.1988) geschlossen, so ist der Anerkennungsstaat an diesen Vertrag gebunden, darf also in der Nichtbeachtung der ausschließlichen Zuständigkeit nach Art. 16 EuGVÜ/LugAb kein Anerkennungshindernis sehen22; bei Anerkennungs17 Bedauernd dazu:Geimer, W M 1980, 1107. 18 Vgl. die Anerkennungsversagung bei Mißachtung des Art.16 (Art. 28 I E u G V Ü / LugAb dazu oben) und die Zuständigkeitsprüfung von A m t s wegen (Art. 19 EuGVÜ/LugAb, dazu unten). 19 Geimer, W M 1980 1108; Geimer/Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. 1, 1. Halbb., 1983, § 53; Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 4. Aufl.,1993, Art. 25 Rdnr. 20. 20 So z.B. der Deutsch-Österreichische V e r t r a g vom 6. 6. 1959 in Art. 2 Nr. 3 und Art. 8 III Deutsch-Norwegischer V e r t r a g vom 17. 6. 1977. 21 So z.B. der Deutsch-Schweizerische V e r t r a g vom 2.11.1929 und der DeutschGriechische V e r t r a g vom 4.11.1961. 22 Geimer/Schütze,§ 54; Kropholler, Art. 25 Rdnr.20; a.A. Matscher, J B L 1979, 247, der einen — allerdings eng g e f a ß t e n — Vorbehalt auch in diesen Fällen annehmen möchte.

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

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und Vollstreckungsverträgen hingegen, die ein Vertragsstaat nach dem 27. 9- 1968 bzw. 16. 9. 1988 geschlossen hat, vermutet man einen vertragsimmanenten Vorbehalt zugunsten der ausschließlichen internationalen Zuständigkeit der EU/EFTA-Vertragsstaaten nach Art. 16 EuGVÜ/LugAb, so daß eine Anerkennungsversagung ohne Verletzung des bilateralen Vertrages möglich ist und zu erfolgen hat23. Nicht in den Anwendungsbereich der Abkommen fallen Entscheidungen eines Vertragsstaates über die Anerkennung eines Drittstaatenurteilsu . Die Abkommen haben damit den in den meisten Vertragsstaaten (wie z. B. auch im deutschen Recht) geltenden Grundsatz eines Verbotes der Doppelexequierung übernommen. Der Grund für diese Beschränkung des Anwendungsbereichs ist darin zu finden, daß andernfalls die Anerkennungspflicht sich indirekt auf Drittstaatenurteile beziehen könnte und eine Prüfung der Erstentscheidung am ordre public des um die Anerkennung des Exequatur ersuchten Staates nicht möglich ist25. Dies hat der EuGH in einer neueren Entscheidung bestätigt. In dem Verfahren hatte sich die Beklagte auf den Rechtshängigkeitseinwand der Art. 21/22 EuGVÜ berufen, weil sowohl vor einem englischen als auch einem italienischen Gericht ein Verfahren wegen der Anerkennungsfähigkeit eines Drittstaatenurteils anhängig war und in beiden Verfahren darüber gestritten wurde, ob das Drittstaatenurteil in betrügerischer Weise erlangt war26. Das Vorbringen der Beklagten, daß die ergehende Entscheidung eine Sachentscheidung i.S. des Art. 25 EuGVÜ sei und daher nach Art. 26 EuGVÜ anerkannt werden müsse, so daß konsequenter weise zuvor auch der Rechtshängigkeitseinwand durchgreifen müsse, hielt der EuGH für unberechtigt, weil der Anwendungsbereich des Abkommens bei der Anerkennung einer Drittstaatenentscheidung nicht eröffnet sei — und zwar auch dann nicht, wenn die Anerkennungsfrage in einem streitigen Verfahren vor den Gerichten eines Vertragsstaates geklärt werde. Trotz des Vertrauens in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wird damit (zu 23 Geimer / Schütze, § 54 mit zu Recht kritischen Bemerkungen zur deutschen Vertragspraxis. 24 Kropholler, Art. 25 Rdnr. 16; Geimer/Schütze, § 107 VIII. 25 Aus letzterem Grunde scheidet auch die Anerkennung eines Urteils aus einem Vertragsstaat aus, mit dem (nach Art. 26 II EuGVÜ/LugAb) das Urteil eines anderen Vertragsstaates anerkannt wird; vielmehr muß auch hier die Erstentscheidung (eines Vertragsstaatengerichts) nach Art. 27, 28 EuGVÜ/LugAb auf ihre Anerkennungsfähigkeit hin geprüft werden. 26 Owens Bank/Bracco,EuGH vom 20. 1. 1994, Amt.Sgl. 1994, I 1117; kritisch: Peel, 110 L.Q.R. (1994) 389; Huet, Clunet 1994, 546, 548.

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Recht) die autonome Anerkennungspraxis der Vertragsstaaten nicht automatisch zu einer Anerkennung durch alle anderen Vertragsstaaten.

III. Der

Rechtshängigkeitseinwand

Sind zwei Vertragsstaatengerichte in derselben Sache originär tätig, so greift der Rechtshängigkeitseinwand des Art. 21 EuGVÜ/LugAb ein — und zwar unabhängig vom Wohnsitz/Sitz der Parteien 27 . Voraussetzung für die Anwendung dieser Vorschrift und der Parallelnorm des Art.22 EuGVÜ/LugAb (bei nicht identischen, aber im Zusammenhang stehenden Streitsachen) ist auch nicht, daß die Zuständigkeit des erst- und/oder zweitangerufenen Gerichts aus den Zuständigkeitsregelungen dieser Abkommen folgt28. Verklagt beispielsweise eine Gesellschaft mit Sitz in Japan ihren in Frankreich ansässigen Vertragspartner in der Bundesrepublik vor dem Gerichtsstand des Erfüllungsortes und verklagt umgekehrt der in Frankreich ansässige Vertragspartner die japanische Gesellschaft wegen desselben Anspruchs vor einem französischen Gericht, dessen Zuständigkeit sich aus der — nach Art. 3 EuGVÜ/LugAb exorbitanten, im Verhältnis zu Drittstaaten-Beklagten aber nach Art. 4 EuGVÜ/LugAb nicht vertragswidrigen — Regelung des Art. 14 CC (französische Nationalität des Klägers) ergibt, so kann vor dem später angerufenen Gericht der Rechtshängigkeitseinwand des Art. 21 EuGVÜ erhoben werden. Das gleiche gilt, wenn beide Parteien in Drittstaaten ihren Wohnsitz/Sitz haben und die Zuständigkeit ausschließlich auf Regelungen des nationalen Rechts (möglicherweise den in Art. 3 EuGVÜ mißbilligten) gestützt ist. Dieser weite Anwendungsbereich der Art. 21/22 EuGVÜ/LugAb ergibt sich aus dem Sinnzusammenhang mit den Anerkennungsregelungen: Entscheidungen eines Vertragsstaates werden — wie bereits oben ausgeführt — in anderen Staaten anerkannt, unabhängig davon, ob sich für den Rechtsstreit eine Zuständigkeit nach den Abkommen ergeben hat. Da der Rechtshängigkeitseinwand das Problem der widersprechenden Entschei-

27 Overseas Union Insurance Ltd./New 351/89, IPRax 1993, 34. 28 Kropholler, Art.21 Rdnr.12.

Hampshire Insurance, EuGH v. 27.6.1991, Rs C

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

101

düngen aus Vertragsstaaten verringern soll29, ist es konsequent, bereits den Rechtshängigkeitseinwand bei allen Verfahren mit potentiell anerkennungsrelevanten Entscheidungen einsetzen zu lassen30. Gestützt wird die Annahme eines so weiten Anwendungsbereichs auch dadurch, daß nach der jetzt eindeutigen Fassung des EuGVÜ durch das dritte Beitrittsübereinkommen (identisch mit der Fassung des Luganer Abkommens) die Prüfung der Zuständigkeit des erstbefaßten Gerichts diesem selbst und nicht dem zweitbefaßten Gericht obliegt31. Diese Kompetenzverteilung gibt vor allem Sinn, wenn es um autonome Zuständigkeitsregelungen gehen kann. Sind hingegen nur ein Vertragsstaatengericht und ein Gericht eines Drittstaates in derselben Rechtssache (oder entsprechend Art. 22 in konnexen Rechtssachen) angerufen, so kann die Regelung des Art. 21 EuGVÜ/LugAb schon nach ihrem Wortlaut nicht eingreifen. Die Konventionen lassen aber in diesem Fall Raum für das Eingreifen eines Rechtshängigkeitseinwandes nach autonomem Recht32.

29 Im Fall dennoch e r g e h e n d e r E n t s c h e i d u n g e n in gleicher S a c h e bestehen die A n e r k e n n u n g s h i n d e r n i s s e des A r t . 27 Nr. 3 und N r . 5, wobei d a s P r i o r i t ä t s p r i n z i p a u c h auf die Kollision zweier E n t s c h e i d u n g e n a u s V e r t r a g s s t a a t e n ( a u ß e r h a l b des A n e r k e n n u n g s s t a a t e s ) a u s g e d e h n t wird, Schlosser, Rev. de l ' A r b i t r a g e , 1981, 388; Geimer/Schütze, §118; Kropholler, A r t . 27 Rdnr. 46,56. 30 Eine A n e r k e n n u n g s p r o g n o s e ist n a c h h.M. nicht erforderlich, weil d a s Übereink o m m e n die ipso iure e i n t r e t e n d e A n e r k e n n u n g vorsieht und eine g r ö ß t m ö g l i c h e F r e i z ü g i g k e i t der Urteile z u m Ziele h a t (vgl. OLG K ö l n v. 13. 12. 1990, N J W 1991, 1427; a.A. Schütze, R I W 1975, 79; e i n g e s c h r ä n k t a u c h Trunk, Die E r w e i t e r u n g des E u G V Ü - S y s t e m s a m V o r a b e n d des e u r o p ä i s c h e n B i n n e n m a r k t e s , 1991, S.53); u m s t r i t t e n ist dies, w e n n d a s s p ä t e r a n g e r u f e n e Gericht von seiner ausschließlichen Z u s t ä n d i g k e i t n a c h A r t . 16 E u G V Ü / L u g A b a u s g e h t , vgl. Kropholler, A r t . 21 Rdnr. 12 (für A n e r k e n n u n g s p r o g n o s e und I r r e l e v a n z des R e c h t s h ä n g i g k e i t s e i n w a n d e s ) , d a g e g e n Geimer/Schütze, § 44 I l c ; Gothot/Holleaux,Nr.220; d u r c h die N e u f a s s u n g der R e c h t s h ä n g i g k e i t s r e g e l u n g im R a h m e n des d r i t t e n B e i t r i t t s ü b e r e i n k o m m e n s , die f ü r den Regelfall die A u s s e t z u n g des V e r f a h r e n s und nicht m e h r die A b w e i s u n g vorsieht, h a t diese P r o b l e m a t i k w e i t g e h e n d ihre S c h ä r f e verloren; zu den Prob l e m e n der A r t . 21/22 E u G V Ü / L u g A b generell: Tatty/Maciej Rataj, E u G H v.6.12. 1994, JZ 1995, 616 (Anm. H u b e r S. 603). 31 So b e r e i t s zur f r ü h e r e n F a s s u n g des EuGVÜ: Overseas Union/New Hampshire Insurance, E u G H v. 27.6.1991, I P R a x 1993, 34. 32 So Kropholler, V o r Art.21 Rdnr. 2; rfm.,Festschrift Ferid, 1988, 243; Geimer, F e s t s c h r i f t K r a l i k , 1986, 182; a.A. ( A n w e n d u n g d e r G e d a n k e n des A r t . 21 E u G V Ü ) Kohler, F e s t s c h r i f t M a t s c h e r , 251, 260. N ä h e r zur P r o b l e m a t i k u n t e n IV 1.

102

IV. Die

Zuständigkeitsregelungen

1. Die ausschließliche Lug Ab

Zuständigkeit

des Art. 16

EuGVÜ/

Die Regelungen der ausschließlichen Zuständigkeit des Art. 16 EuGVÜ/ LugAb33 beanspruchen auch Geltung, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz/Sitz in einem Drittstaat hat, Art.4 EuGVÜ/LugAb. Ist beispielsweise ein dingliches Recht an einem deutschen Grundstück 34 oder ein deutsches Patent 35 im Streit, so sind die deutschen Gerichte nach den Abkommen ausschließlich zuständig, und zwar unabhängig von dem Wohnsitz/Sitz des Klägers und des Beklagten. Beide können ihren Wohnsitz/Sitz in einem Drittstaat haben. Die Gerichte der Vertrags Staaten haben von Amts wegen die ausschließliche Zuständigkeit zu beachten (Art. 19 EuGVÜ/LugAb). Auch diese Regelung gilt unabhängig 33 Die Fassung des Art. 16 Nr. 1 ist in beiden Abkommen leicht unterschiedlich; die alternative ausschließliche Zuständigkeit am Beklagten-Wohnsitz ist im EuGVÜ nur gegeben, wenn Mieter und Eigentümer natürliche Personen sind und beide ihren Wohnsitz im gleichen Vertragsstaat haben, während das Luganer Abkommen nur den Mieter als natürliche Person voraussetzt und diese Zuständigkeit davon abhängig macht, daß keine der Parteien ihren Wohnsitz im Belegenheitsstaat hat. Die unterschiedliche Fassung wird vor allem in privaten Rechtsstreitigkeiten von Bedeutung sein, für den internationalen Handel, insbesondere mit Drittstaaten, hat sie wohl kaum Bedeutung. 34 Zur Frage, welche Rechte an einem Grundstück die Zuständigkeit des Art. 16 EuGVÜ/LugAb auslösen können, vgl .Reichert / Dresdner Bank AG, EuGH v. 10. 1. 1990, IPRax 1991, 45 (Gläubigeranfechtungsklage kein Streit über dingliches Recht);George Lawrence Webb/Lawrence Desmond Webb, EuGH ν. 17. 5. 1994, RIW 1994, 590 (Streit um die Stellung als Trustee und die Verpflichtung, die „Legal Ownership" herzustellen, keine dingliche Klage) ·,Lieber/ Göbel, EuGH v. 9. 6. 1994, NJW 1995, 37 (Klage auf Entschädigung für gezogene Nutzungen nach nichtiger Eigentumsübertragung kein dinglicher Anspruch). 35 Duijnstee/ Goderbauer, EuGH v. 15.11.1983, IPRax 1985, 92 (Streit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer um die arbeitsvertraglich abgegrenzten Rechte an einem Patent fällt nicht unter Art. 16. Nr. 4); vgl. auch Hogsta Domstolen v. 23. 2. 1994, [1994], Nytt Juridiskat Arkiv 81: Nach Auseinandersetzung mit der obigenEuGHEntscheidung sind schwedische Gerichte nach Art.2 und Art. 16 Nr. 4 LugAb zuständig für Klagen eines schwedischen Arbeitgebers gegen in Schweden wohnhaften Arbeitnehmer, der in einem anderen Land einen Antrag auf Zulassung eines Patents gestellt hat. Die Frage der Anerkennung und Vollstreckung eines (Dritt-

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer A b k o m m e n s für D r i t t s t a a t e n

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vom Wohnsitz/Sitz der Parteien 36 . Mißachtet ein Vertragsstaat diese ausschließliche Zuständigkeit, so stellt dies einen Anerkennungsversagungsgrund dar (Art.28 I EuGVÜ/ LugAb). Es ist sogar— wie oben bereits ausgeführt— aus Art. 16 EuGVÜ/ LugAb die Pflicht der Vertragsstaaten zu folgern, Entscheidungen aus Drittstaaten (obwohl auf diese die Abkommen nicht anwendbar sind) nicht anzuerkennen, wenn das Gericht des Drittstaates die ausschließliche internationale Zuständigkeit des Art. 16 EuGVÜ/LugAb nicht beachtet hat37. Umstritten ist, ob für die Anwendung des Art. 16 EuGVÜ/LugAb noch ein weiterer Berührungspunkt zu einem Vertragsstaat gegeben sein muß, ob also die ausschließliche Zuständigkeit eines Vertragsstaatengerichts nach Art. 16 EuGVÜ/LugAb davon abhängt, daß der Rechtsstreit auch zu anderen Vertragsstaaten Berührung hat. Klagt beispielsweise ein japanisches Unternehmen wegen eines dinglichen Rechtes an einem in Deutschland belegenen Grundstück gegen eine in Deutschland wohnhafte Person, so wäre die ausschließliche Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht nach Art. 16 EuGVÜ/LugAb gegeben, wenn weitere Anknüpfungspunkte zu anderen Vertragsstaaten erforderlich sein sollten; die Zuständigkeit der deutschen Gerichte würde sich dann nach § 24 ZPO richten38. Da die Anwendung des Art. 16 EuGVÜ/ LugAb aber gerade unabhängig vom Wohnsitz der Parteien sein soll, erscheint es fraglich, welcher Art diese weitere Verbindung zu einem Staaten-) Urteils stellt keinen Anwendungsfall des Art. 16 Nr. 5 EuGVÜ/LugAb dar (EuGH v. 20. 1. 1994, Rs C-129/92 Owens Bank/Bracco, Amt.Slg. 1994 I -146, vielmehr handelt es sich bei Art. 16 Nr. 5 EuGVÜ/LugAb um Verfahren, die einen unmittelbaren Bezug zur Zwangsvollstreckung aufweisen, wie beispielsweise die Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO (AS-Autoteile Service/ Malhe, EuGH v. 4. 7.1985, Rs C 220/84, Amt. Slg. 1985, 2267); vgl. zu Art. 16 Nr. 5 LugAb auch Stoffel, Festschrift Vogel, 1991, 357, insb. 367 ff. In einem obiter dictum (in Owens Bank/ Bracco) weist der EuGH darauf hin, daß selbst bei weiter Auslegung die Zwangsvollstreckungsverfahren bezüglich Drittstaatenurteile nicht erfaßt sein könnten, da Entscheidung i.S.d. Abkommens nach Art. 25 EuGVÜ nur die Entscheidung eines Vertragsstaates sein könne. 36 Kropholler, Art. 19 Rdnr.l. 37 Kropholler, Art. 16 Rdnr. 4; Art. 25 Rdnr. 20; Gelmer, WM 1980, 1108; Geimer/ Schütze, §53. 38 In diesem Sinne Bülow/Böckstiegel/Müller, Art. 16 Anm. II. Entscheidend wird die Frage vor allem dann, wenn der Beklagte sich auf eine Derogation der deutschen Gerichte und eine Prorogation der japanischen Gerichte berufen sollte, da der Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit in Art. 16 EuGVÜ/LugAb weiter gefaßt ist als in § 24 ZPO. Nach autonomem Recht könnte also die Gerichtsstandsvereinbarung zulässig sein, während im Konventionsbereich eine Gerichtsstandswahl ausscheidet.

104

anderen Vertragsstaat sein sollte. Da das Abkommen den Regelungen des Art. 16 ein besonderes Gewicht beigelegt hat39, erscheint es inkonsequent, den Anwendungsbereich dieser Vorschrift, deren umfassende Geltung in Art. 4 EuGVÜ/LugAb betont worden ist, durch ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu verkleinern. Insofern muß der nach Art. 16 EuGVÜ/LugAb maßgebende Anknüpfungspunkt für die Frage der Anwendbarkeit dieser Vorschrift ausreichen40. In dem obengenannten Beispiel wäre also die Zuständigkeit des deutschen Gerichts nach Art. 16 EuGVÜ, nicht nach § 24 ZPO gegeben. Dies entspricht dem bereits oben erörterten Prinzip, daß ein die deutsche ausschließliche Zuständigkeit (nach Art. 16 der Konventionen) nicht beachtendes Drittstaatenurteil wegen des aus dieser Regelung gefolgerten allgemeinen Anerkennungsverbotes in keinem Vertragsstaat anerkannt werden dürfte. Liegt der Anknüpfungspunkt des Art. 16 EuGVÜ/LugAb — z.B. der Lageort des Grundstücks — außerhalb der Vertragsstaaten, so können Drittstaaten ihre Zuständigkeit nicht auf Art. 16 EuGVÜ/LugAb stützen, denn diese Vorschrift regelt nur die Zuständigkeit von Vertragsstaatengerichten. Umstritten ist aber, ob die Vertragsstaatengerichte, wenn sie aus einem allgemeinen Zuständigkeitsgrund (z.B.Art.2 EuGVÜ/LugAb: Wohnsitz/Sitz des Beklagten) in Anspruch genommen werden, die Regelung des Art. 16 EuGVÜ/LugAb im Spiegelbildprinzip beachten, ihre Zuständigkeit also verneinen müssen. Im autonomen deutschen Recht, in dem sich diese Frage für die ausschließlichen Gerichtsstände (vor allem vor Inkrafttreten des EuGVÜ) ebenfalls stellte, ist man sich in diesem Punkt keineswegs einig: Der dingliche Gerichtsstand des § 24 ZPO, der von der h.M. als international ausschließlich eingeordnet wird41, hinderte nach weit verbreiteter Meinung — jedenfalls vor Inkrafttreten des EuGVÜ — nicht die Zuständigkeit eines deutschen Gerichts als Gerichtsstand am Wohnsitz des Beklagten, wenn es um dingliche Rechte an einem beispielsweise schwedischen Grundstück ging42. 39 Über dessen Sinnhaftigkeit man allerdings durchaus streiten könnte. 40 So auch Kropholler, Art. 16 Rdnr. 7; Piltz, N J W 1979, 1072; Gothot/Holleaux, Nr. 36, 142. 41 RGZ 102, 253; BT-Drucks. 10/504 S. 89; Riezler, Internationales Zivilprozeßrecht, 1949, S. 212; Schütze, Deutsches internationales Zivilprozeßrecht, 1985, S. 65; zu Recht kritisch: Geimer, Internationales Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., 1993, Rdnr. 875, 896, 1433; ebenso Schröder, Internationale Zuständigkeit, 1972, S.367. 42 RGZ 32, 414; a.A. Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht,

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

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Angesichts der (berechtigten) Skepsis gegenüber ausschließlichen internationalen Gerichtsständen im autonomen Recht43 mag es vom Ergebnis her vertretbar sein, den Zugang zum heimischen Forum in diesen Fällen nicht zu verschließen. Dogmatisch läßt sich diese Lösung aber nur in das geltende Recht einbetten, wenn der betroffene Drittstaat für sich eine ausschließliche internationale Zuständigkeit nicht in Anspruch nimmt; hält er sich hingegen für international ausschließlich zuständig, so gebietet es der Grundsatz der internationalen Fairneß und das Bedürfnis nach Vermeidung hinkender Rechtsverhältnisse, diese Ausschließlichkeit dann zu beachten, wenn man sie für die eigenen Gerichte ebenfalls in Anspruch nimmt44. Übertragen auf die ausschließliche internationale Zuständigkeit in den Fällen, die Art. 16 EuGVÜ/LugAb betrifft, bedeutet dies für das Verhältnis von Vertragsstaaten und Drittstaaten, daß die Vertragsstaaten — gerade angesichts der besonderen Bedeutung, die sie dem Art. 16 EuGVÜ/LugAb beilegen — zu prüfen haben, ob Anknüpfungspunkte des Art. 16 EuGVÜ/LugAb in einem Drittstaat liegen und dieser die ausschließliche internationale Zuständigkeit in Anspruch nimmt45. Da die Wirkung des Art. 16 EuGVÜ/LugAb nicht davon abhängig ist, daß der Beklagte seinen Wohnsitz/Sitz in einem Vertragsstaat hat, muß diese Prüfung konsequenterweise und in Übereinstimmung mit der Bedeutung des Art.16 EuGVÜ/LugAb im Rahmen der Anerkennungsproblematik (s. oben) auch gelten, wenn der Beklagte in einem Drittstaat seinen Wohnsitz/Sitz hat (der Vertragsstaat also eigentlich seine Zuständigkeit aus autonomem Recht herleiten könnte). Der Grundgedanke des Art. 16 EuGVÜ/LugAb verdrängt insoweit auch das autonome Recht46. Beansprucht der Drittstaat hingegen keine ausschließliche internationale Zuständigkeit, so bleibt es bei den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen der Abkommen: Die Zuständigkeit eines Vertragsstaatengerichts ist beispielsweise — trotz des Lageortes des umstrittenen Grundstücks in einem Drittstaat — gegeben, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz 1969, S.88; Kropholler, in: Handbuch für internationales Zivilverfahrensrecht, Bd. 1, Rdnr. 153, 156. 43 Vgl. Geimer, Rdnr. 875 ff. 44 Jayme, in: Schwind, Europarecht, IPR und Rechtsvergleichung, 1988, 108. 45 So bereits Jayme, in: Schwind, 108; mit Hinweis auf die sich damit ergebenden Qualifikationsschwierigkeiten. A.A. Geimer, IPRax 1991, 32, der von einer allgemeinen Wohnsitzzuständigkeit des Vertragsstaates ausgeht. 46 So Rb Rotterdam, N.J. 1978, Nr. 621; andeutend Rb Amsterdam v. 13. 5. 1975, N.J. 1976, Nr. 323 = Neth. Int. L. Rev. 1975, 206.

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in einem Vertragsstaat hat (Art. 2 EuGVÜ/LugAb). Hier dem Kläger (in strenger Anwendung des Spiegelbildprinzips) den Zugang zu den Gerichten zu versagen 47 , würde dem Grundanliegen eines möglichst freien Zugangs zu den Gerichten bei Vorhandensein gewisser Minimalbindungen widersprechen und kann sogar, wenn der Drittstaat für diesen Streit keine internationale Zuständigkeit vorsieht, zur Justizverweigerung führen. 2. Die allgemeine

Zuständigkeit

des Art.

2

EuGVÜ/LugAb

Nach den allgemeinen Regelungen der Art. 2 und 4 EuGVÜ/LugAb hängt die Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften der Abkommen davon ab, ob der Beklagte seinen Wohnsitz/Sitz in einem Vertragsstaat hat. Entscheidend ist also nicht die Staatsangehörigkeit des Beklagten. Ausländer (auch Drittstaatler) sind den Inländern gleichzustellen, Art. 2 II EuGVÜ/LugAb. Auch der Japaner mit Wohnsitz in Deutschland (oder einem anderen Vertragsstaat) unterliegt den gleichen Zuständigkeitsregelungen wie ein Deutscher (oder sonstiger Vertragsstaatenangehöriger) mit Wohnsitz in Deutschland. Nicht nur Art. 2, 5, 6 etc. EuGVÜ/ LugAb sind für Zuständigkeitsfragen in einem Prozeß gegen ihn anwendbar, sondern auch die deutschen autonomen Vorschriften über die sachliche und örtliche Zuständigkeit. Auf den Wohnsitz des Klägers kommt es nicht an. Verklagt beispielsweise eine Person mit Wohnsitz in Japan eine Gesellschaft mit Sitz in Frankreich (z.B. ein Presseunternehmen) vor einem deutschen Gericht wegen einer in Deutschland begangenen unerlaubten Handlung (z.B. einer Ehrverletzung), so sind die deutschen Gerichte nach Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ international zuständig 48 . Umstritten ist aber, ob als weitere ungeschriebene Voraussetzung eine Verbindung zu einem anderen Vertragsstaat bestehen muß45. Klagt z.B. die Person mit Wohnsitz in Japan vor deutschen Gerichten gegen eine 47 So wohl Kropholler, Art. 16 Rdnr. 8; Grundmann, IPRax 1985, 249; MünchKomm/ ZPOIGottwald, Art. 16 Rdnr. 5; Gothot/Holleaux, Nr. 37; Droz, Competence judiciaire et effets du jugements dans le Marchs Commun, 1972, Nr. 164 ff. 48 Vgl. zu einem entsprechenden Fall: Paris v. 27. 4. 1985, Rev.crit. 1983, 672. 49 Auf interlokale Zuständigkeitsfragen ist das EuGVÜ nach der Entscheidung des EuGH v. 28. 3. 1995 (Rs C-346/93) Kleinwort Benson Ltd./City of Glasgow District Council, nicht anwendbar; der EuGH verneinte daher seine Zuständigkeit zur Auslegung der entsprechenden Regelungen des Civil Jurisdiction and Judgements Act 1982.

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

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Gesellschaft mit deutschem Sitz, so hängt die Frage der Anwendbarkeit des EuGVÜ davon ab, ob bereits allein der deutsche Sitz der Beklagten dessen Anwendungsbereich eröffnet. Praktische Bedeutung hat diese Frage, wenn ein Vertragsstaat in seinem autonomen Recht den Beklagtenwohnsitz nicht als zuständigkeitsbegründend ansieht (was bei den derzeitigen Vertragsstaaten nicht der Fall ist)50 oder Einschränkungen der Zuständigkeit trotz des Beklagtenwohnsitzes vorsieht — wie z.B.das englische Recht mit der doctrine of forum non conveniens51. In englischen Prozessen stellt sich daher die Frage nach der Möglichkeit der Anwendung dieser Doktrin, wenn zwar der Beklagte seinen Wohnsitz in England hatte, das Verfahren aber keinen weiteren Vertragsstaat betraf; der Court of Appeal hat die Anwendung der Doktrin (und damit die Nicht anwendbarkeit des EuGVÜ) in einem solchen Fall bejaht52, das House of 50 Die Bestimmung des Wohnsitzes bei natürlichen Personen erfolgt nach dem Recht des Forum, Art. 52 EuGVÜ/LugAb, ist also identisch mit der Bestimmung nach autonomem Recht; bei Gesellschaften ist nach Art. 53 EuGVÜ/LugAb das internationale Privatrecht des Forums zu befragen; hier kann es theoretisch zu unterschiedlichen Ergebnissen für die Zuständigkeit kommen, wenn ein Vertragsstaat in seinem autonomen internationalen Zivilprozeßrecht für die Zuständigkeit von Klagen gegen eine Gesellschaft den Sitz der Gesellschaft anders bestimmt als in seinem internationalen Privatrecht. 51 Andere Beispiele sind die spiegelbildliche Beachtung einer ausschließlichen internationalen Zuständigkeit eines Drittstaates außerhalb der ausschließlichen Zuständigkeiten der Abkommen und die Bedeutung einer Gerichtsstandswahl, die nicht in den Anwendungsbereich des Abkommens fällt (z.B. ein Unternehmen mit Sitz in Japan und eines mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland vereinbaren die Zuständigkeit der japanischen Gerichte): Hier muß die Beachtung der Wirkung einer Gerichtsstandsvereinbarung nach autonomem Recht unter den nach autonomem Recht zu beurteilenden Voraussetzungen möglich sein, obwohl über Art. 2 der Abkommen die Gerichtspflichtigkeit der Wohnsitzgerichte begründet ist. 52 In re Harrods (Buenos Aires) [1991] 3 W.L. R. 397, Anm. North, IPRax 1992, 183; dazu auch Tebbens, Festschrift Voskuil, 1992, 47; ein Problem lag dabei vor allem darin, daß die Verbindung der Beklagten zu England allein aufgrund des Gründungssitzes — also eines rein formalen Bandes — bestand; die weite (zu weite ?) international-privatrechtliche Regelung sollte also durch die doctrine of forum non conveniens eingeschränkt werden; in einem weiteren Fall (The Nile Rhapsody [1994] 1 Lloyds Rep 382) legte der englische Court ol Appeal die Frage nach der Anwendbarkeit der forum non conveniens doctrine bei einer Klage gegen eine englische Gesellschaft mit Sitz in England nicht dem EuGH vor, weil er sein Ermessen dahin ausübte, daß die Vorlage zu einer weiteren Verzögerung führen und dem Kläger mit der Abweisung der Klage auch nichts Unzumutbares zugefügt würde. In der Sache hielt sich das Gericht an die Entscheidung des Court of Appeal in Harrods (s.o.) gebunden. Das Gericht ging von einer (mündlichen) Vereinbarung der ausschließlichen Zuständigkeit der ägyptischen Gerichte aus.

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Lords legte den Fall dem EuGH vor53, die Rechtssache wurde jedoch gestrichen, weil das Rechtsmittel zurückgenommen worden ist54. Für die meisteu Frageu bleibt es gleichgültig, ob das Vertragsstaatengericht seine Zuständigkeit aus Art. 2 EuGVÜ/LugAb oder aus seinem autonomen IZPR herleitet. Die anderen Regelungen des Abkommens sind nämlich entweder unabhängig davon, ob die Zuständigkeit des Vertragsstaatengerichts nach autonomem Recht oder nach den Abkommen begründet ist — wie bereits beim Rechtshängigkeitseinwand (Art. 21/22 EuGVÜ/LugAb), bei der Zuständigkeitsprüfung nach Art. 19 EuGVÜ/ LugAb und bei der Anerkennung und Vollstreckung (Art. 26 ff EGVÜ/ LugAb) gezeigt wurde — oder aber sie erfordern ausdrücklich die Berührung zu mindestens zwei Vertragsstaaten (z.B. Art. 20 für die Zuständigkeitsprüfung beim abwesenden Beklagten) 55 . Theoretisch ist die Frage aber von großem Interesse, da eine solche ungeschriebene Voraussetzung des Art. 2 EuGVÜ/LugAb sich auch auf die anderen Zuständigkeitsregelungen, insbesondere die für den internationalen Handel wichtigen Gerichtsstandsvereinbarungen, auswirken würde. Für eine Berührung mehrerer Vertragsstaaten als Anwendungsvoraussetzung des Art. 2 EuGVÜ/LugAb wird geltend gemacht, daß die Abkommen die Zuständigkeit unter den Vertragsstaaten regeln, nicht aber das autonome internationale Zivilprozeßrecht weitgehend ersetzen sollten56. Diese Schlußfolgerung läßt sich den Gesetzesmaterialien jedoch nicht entnehmen. Sicher ist zwar, daß die Drittstaatenproblematik bei der Verfassung der Abkommen nicht in vollem Umfang erfaßt worden ist, wie sich aber bereits aus den oben geschilderten Wirkungen des Abkommens gegenüber Drittstaatenurteilen und Parteien mit Wohnsitz/ 53 House of Lords, IPRax 1992, 357. 54 Vgl. Jayme/Kohler, IPRax 1994, 412 Fn. 71. 55 Die anderen Zuständigkeitsvorschriften werden hier, da die Anwendbarkeit der Abkommen bereits durch den Beklagtenwohnsitz begründet ist, nicht relevant; geht es um die Zuständigkeit eines anderen Vertragsstaatengerichts, z.B. am Ort der unerlaubten Handlung, so ist automatisch die Berührung mit zwei Vertragsstaaten gegeben (Vertragsstaat des Wohnsitzes und Vertragsstaat der unerlaubten Handlung), die Anwendbarkeit der Abkommen ist in diesen Fällen unstreitig und selbstverständlich (auch wenn der Kläger seinen Wohnsitz/Sitz in einem Drittstaat hat), vgl. unten IV 3; auch Art.6 EuGVÜ/LugAb setzt eine Person mit Wohnsitz in einem weiteren Vertragsstaat voraus. 56 So Piltz, NJW 1979, 1972; OLG München v. 28. 9 1989, IPRax 1991, 46 (zu Art.17 I); BGH v. 12. 10. 1989, IPRax 1990, 318; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rdnr. 241; zurückhaltend Heß, IPRax 1992, 395.

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Sitz in Drittstaaten ergibt 57 , umfassen die Abkommen nicht ausschließlich die Regelungen innergemeinschaftlicher Beziehungen. Dies zeigt sich für die Zuständigkeitsordnung auch darin, daß die Art und Intensität der Verbindung der Parteien oder des Rechtsstreits zu den Vertragsstaaten ausdrücklich und sehr dezidiert geregelt ist58. Insofern ist es mit dem Geist der Abkommen kaum zu vereinbaren, ihren Anwendungsbereich durch ein weiteres ungeschriebenes Kriterium einzuschränken. Ziel der Abkommen war es, ein möglichst vereinheitlichtes Zuständigkeitssystem innerhalb der Vertragsstaaten zu schaffen. Aus einigen Vorschriften ergibt sich sogar incidenter, daß die Verfasser der Abkommen von der Anwendbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften ausgingen, auch wenn nur ein Vertragsstaat berührt ist: Die (beschränkte) Zulässigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen in Versicherungssachen für den Fall, daß der Versicherer seinen Sitz außerhalb der Vertragsstaaten hat (Art. 12 Nr. 4 EuGVÜ/LugAb) läßt den Schluß zu, daß die besonderen Regelungen über den (halb ausschließlichen) Gerichtsstand in Versicherungssachen (Art. 7 ff EuGVÜ/LugAb) grundsätzlich jedenfalls eingreifen59, wenn nur der Versicherungsnehmer in einem Vertragsstaat seinen Wohnsitz hat?0. Bei den Regelungen über den Verbrauchergerichtsstand spricht Art. 15 Nr. 3 EuGVÜ/LugAb dafür, daß die Abkommen in Verbrauchersachen grundsätzlich auch dann eingreifen wollen, wenn der Verbraucher seinen Wohnsitz in einem Vertragsstaat hat, eine Verbindung zu einem anderen Vertragsstaat aber nicht besteht (denn gerade für diesen speziellen Fall läßt diese Regelung jedej falls prinzipiell eine Gerichtsstandsvereinbarung zu). Soweit die Abkommen Berührungen zu zwei Vertragsstaaten fordern, ist dies an verschiedenen Stellen der Konventionen ausdrücklich im Gesetzestext vorgesehen (z.B. Art. 5, 6 EuGVÜ/LugAb) 61 . Schließlich entspricht es grundsätzlich dem Geist und

57 Diese Wirkungen werden von den Vertretern der Reduktionstheorie durchaus akzeptiert. 58 So auch deutlich bereits Tebbens,Festschrift Voskuil, 47; ebenso Huet, Clunet 1994, 546 mit Hinweis auf den weiten Anwendungsbereich der Art. 25 ff EuGVÜ (vgl. oben II 2). 59 So schon Getmer, IPRax 1991, 34 (vgl. zur Gesetzesgeschichte: Schlosser, Bericht zum Übereinkommen, ABl 1979 Nr. C 59 Nr. 136 f ) . 60 Durch die Verweisung in Art. 7 auf Art. 4 wird deutlich, daß diese Zuständigkeitsregelungen andererseits nur gelten, wenn der Versicherungsnehmer seinen Wohnsitz in einem Vertragsstaat hat; das gleiche gilt für die Zuständigkeit in Verbrauchersachen. 61 So auch Jayme, in Schwind: Europarecht, IPR, Rechtsvergleichung, 1988, 101.

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der Intention der Abkommen, den Anwendungsbereich derselben nicht durch eine zu enge Sichtweise einzuengen62. Daß der EuGH im Zusammenhang mit den Verfahren zur Anerkennung einer Drittstaatenentscheidung63 die Präambel und die Intention der Vertragsstaaten zur Regelung von Konflikten untereinander 64 hervorgehoben hat, steht dem nicht entgegen; denn dort ging es allein um die Verhinderung einer Doppelexequatur-Situation. Folgt man dieser Meinung65, so bedeutet dies, daß auch die allgemeine Zuständigkeitsregelung des Art. 2 der Abkommen bereits dann eingreift, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz/Sitz in einem Vertragsstaat hat, einer weiteren Beziehung zu einem anderen Vertragsstaat bedarf es nicht. Für die innerhalb der Vertragsstaaten ansässigen Personen ist die internationale Zuständigkeit daher (im zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Abkommen) abschließend in diesen Konventionen geregelt66. Verbunden damit ist eine Verpflichtung zur Ausübung der Konventionszuständigkeit, die grundsätzlich keinerlei Einschränkung durch das autonome Recht verträgt 67 . Abgesehen von der noch zu behandelnden Problematik einer Gerichtsstandswahl bedeutet dies allerdings nicht, daß die Vertragsstaatengerichte am Wohnsitz des Beklagten den Litispendenzeinwand bei früherer Rechtshängigkeit in einem Drittstaat nicht beachten dürften. Über dieses Ergebnis besteht in der Literatur Einigkeit (die Gerichte haben sich mit dieser Frage soweit ersichtlich noch nicht auseinandergesetzt). Die Begründung und die Voraussetzungen für die Beachtung der Litispendenz werden aber unterschiedlich gesehen: Kohler 68 will Art. 21 EuGVÜ/LugAb entsprechend anwenden, 62 Vg\.Tebbens, Festschrift Voskuil, 47 (in dubio pro conventione); ähnlich Peel, 110 L.Q.R. (1994) 389; vgl. zur weiten Arslegung des sachlichen Anwendungsbereichs auch Hoffmann/Krieg, EuGH v. 4. 2. 1988, Amt.Slg. 1988, 64563 Owens Bank/Bracco aaO. 64 Kritisch zu einer solchen Einschränkung: Kohler, Festschrift Matscher 251, 257 (Re Harrods betreffend). 65 Als überzeugendes Argument weist Geimer auch auf das Eingreifen von Art. 18 hin, der zu einer Anwendbarkeit des Abkommens führt, wenn der Drittstaatler den Beklagten in einem anderen Vertragsstaat als dem Wohnsitzstaat verklagt; es wäre unsinnig, wenn die Abkommen demgegenüber bei einer Klage am Beklagtenwohnsitz nicht eingreifen sollten, Geimer, IPRax 1991, 32 Fn. 13. 66 So auch Kohler, Festschrift Matscher 251, 258. 67 Kohler, Festschrift Matscher 251, 258 (vor allem gegen Ermessensspielräume S. 260, 261); vgl. auch Matscher, Ree. des Cours 161 [1978- III] 127,170; zur besonderen Bedeutung der Gerichtsstandsvereinbarungen unten IV 4. 68 Kohler, Festschrift Matscher 251, 260.

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

III

während Kropholler69 und Geimer70 sich auf das autonome Recht stützen. Angesichts des klaren Wortlauts des Art. 21 EuGVÜ/LugAb erscheint eine analoge Anwendung nicht angebracht, vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß die Konventionen — wenngleich die Drittstaatenproblematik nicht hinreichend bedacht wurde — die autonomen (oder anderweitigen staatsvertraglichen) Regelungen über die Beachtung der Rechtshängigkeit nicht verdrängen sollten. Ansonsten behält das autonome internationale Zuständigkeitsrecht der Vertragsstaaten eine Bedeutung für die Fälle, in denen der Beklagte seinen Wohnsitz nicht in einem Vertragsstaat hat und auch keine ausschließliche oder halb ausschließliche Zuständigkeitsregelung des Abkommens eingreift, z.B. also wenn eine in Deutschland wohnhafte Person eine Gesellschaft mit Sitz in Japan wegen einer in Deutschland begangenen Ehrverletzung verklagen will. In diesen Fällen ergibt sich die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte aus § 32 ZPO. 3. Die besonderen und halb ausschließliche

Gerichtsstände

Die Art. 5 und 6 EuGVÜ/LugAb gehen ausdrücklich davon aus, daß der Beklagte seinen Wohnsitz/Sitz in einem Vertragsstaat hat und auf eine bestimmte andere Art und Weise eine weitere Beziehung zu einem anderen Vertragsstaat (z.B. Erfüllungsort, Art. 5 Nr. 1, Ort der unerlaubten Handlung, Art. 5 Nr. 3, Gewährleistungsklage, Art. 6 Nr. 2) besteht. Der Wohnsitz des Klägers in einem Nichtvertragsstaat hindert die Anwendung dieser Vorschriften nicht. Die halb ausschließlichen Gerichtsstände in Versicherungs- und Verbrauchersachen gehen ebenfalls von einem Wohnsitz des Beklagten in einem Vertragsstaat aus71. Der Kläger kann auch hier in einem Drittstaat seinen Wohnsitz/Sitz haben. 4.

Gerichtsstandsvereinbarung

Da Gerichtsstandsvereinbarungen i. d. R. vor der Entstehung eines Streites und damit zu einem Zeitpunkt geschlossen werden, in dem noch 69 Festschrift Ferid, 1988, 244. 70 Festschrift Kralik, 182. 71 Siehe die Verweisung durch Art. 7 und Art. 13 auf Art. 14 und zur Fiktion eines Sitzes bei Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Niederlassung oder Agentur Art. 8 II, Art. 13 II EuGVÜ/LugAb.

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nicht feststeht, wer die Kläger- und wer die Beklagtenrolle übernimmt, konnte das Eingreifen der Regelungen des Abkommens nicht von dem Beklagtenwohnsitz abhängig gemacht werden. Art. 17 I EuGVÜ/ LugAb stellt daher nur darauf ab, daß die Zuständigkeit eines Vertragsstaatengerichts vereinbart wurde und eine der Parteien ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat hat. Für den Fall, daß beide Parteien ihren Wohnsitz in einem Drittstaat haben und die Zuständigkeit eines Vertragsstaatengerichts vereinbart wurde, ist von den nicht prorogierten Vertragsstaatengerichten die derogierende Wirkung der Vereinbarungen zu beachten (Art.17 I 3 EuGVÜ/LugAb). Zulässigkeit und Wirksamkeit der Prorogation beurteilt das prorogierte Gericht nach seinem autonomen Recht. Auch hier stellt sich die Frage einer Einschränkung des Anwendungsbereichs, wenn lediglich Berührungspunkte zu Drittstaaten und zu einem Vertragsstaat bestehen. Denkbar ist beispielsweise, als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 17 I 1 EuGVÜ/LugAb zu fordern, daß ein anderes als das an sich zuständige Vertragsstaatengericht vereinbart wurde oder daß das prorogierte Vertragsstaatengericht bei Vereinbarung mit einer Person aus einem Drittstaat nicht im Wohnsitzstaat der anderen Partei liegt72. Auch hier beruft sich die sog. Reduktionstheorie auf die lediglich innerhalb der Vertragsstaaten gewollte Bindung. Diese Argumentation kann jedoch nach dem oben bereits Ausgeführten nicht überzeugen73. Die Beachtlichkeit einer Prorogation eines Vertragsstaatengerichts durch zwei Drittstaatler für die anderen Vertragsstaatengerichte spricht ebenfalls gegen eine solche Einengung. Dies bedeutet also, daß die Regelungen über die Gerichtsstandsvereinbarungen, die die Abkommen in Art. 17 treffen, auch dann anwendbar sind, wenn beispielsweise ein Unternehmen mit Sitz in Japan mit seinem in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Vertragspartner die Zuständigkeit der deutschen Gerichte vereinbart. In gleicher Weise umstritten ist die (analoge) Anwendung des Art. 17 EuGVÜ/LugAb, wenn ein Drittstaatengericht durch Parteien, von denen 72 So OLG München, 28. 9. 1989, IPRax 1991, 46; Piltz, NJW 1979, 1071; Schuck, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rdnr. 238; De Bra, Verbraucherschutz durch Gerichtsstandsregelungen im deutschen und europäischen Zivilprozeßrecht, 1992, 138; wohl auch BGH v. 12. 10. 1989, IPRax 1990, 318 (kritisch W. Lorenz, IPRax 1990, 295). 73 Jayme, in Schwind: 117,120; ders., in Reichelt: Europäisches Kollisionsrecht, 1993,38 f; Geirrter, IPRax 1991, 31 ff; OLG München ZZP 103 (1990)86.

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

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eine ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat hat, prorogiert wird74. Muß etwa ein Vertragsstaatengericht die Derogation seiner an sich nach dem EuGVÜ/LugAb gegebenen Zuständigkeit zugunsten des prorogierten Drittstaatengerichts an Art. 17 EuGVÜ messen75 oder hat es autonomes Recht heranzuziehen76. Theoretisch in Betracht käme sogar eine Justizpflicht des derogierten Gerichts nach Art. 2 EuGVÜ/LugAb (s.o. IV 1). Letztere Ansicht wird aber zu Recht nicht vertreten, da die Abkommen sicherlich nicht Gerichtsstandsvereinbarungen außerhalb des wörtlichen Anwendungsbereichs des Art. 17 wirkungslos machen wollten. Rechtspolitisch wäre es vernünftig, die Maßstäbe des Art. 17 I EuGVÜ/ LugAb auch für die Beachtung einer solchen Gerichtsstandsvereinbarung heranzuziehen, also beispielsweise das Wohnsitzgericht in einem Vertragsstaat nur dann zugunsten eines Drittstaatengerichts als derogiert anzusehen, wenn eine nach Art. 17 I EuGVÜ/LugAb wirksame Vereinbarung vorliegt. Aus dem Wortlaut des Art. 17 EuGVÜ/LugAb und aus der Gesetzesgeschichte — insbesondere der Einfügung des Art. 17 I 3 durch das erste Beitrittsübereinkommen— ergibt sich aber eindeutig, daß ein so weiter Anwendungsbereich der Konventionen nicht beabsichtigt war und daß man die Beurteilung der Gerichtsstandsvereinbarung bei Prorogation eines Drittstaatengerichts wie auch bei Prorogation eines Vertragsstaatengerichts durch „Drittstaatler" bezüglich seiner prorogierenden Wirkung offensichtlich dem autonomen Recht überlassen wollte. Es fehlt damit an einer analogiefähigen Lücke. Ist also beispielsweise zwischen einer in Japan ansässigen und einer in Deutschland ansässigen Person eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der japanischen Gerichte getroffen, so ist die Wirksamkeit derselben bei einer dennoch in Deutschland (oder in einem anderen Vertragsstaat) erhobenen Klage nach autonomem Recht zu beurteilen. 5. Die autonomen

Zuständigkeitsregelungen

Nach den vorangegangenen Überlegungen behalten die autonomen Zu74 Hat hingegen keine der Parteien ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat, so enthalten die Abkommen in Art. 17 I 3 eine ausdrückliche, aber nur beschränkte Regelung (s.o.), die im ungeregelten Bereich Raum für das autonome Recht läßt. 75 So Geimer/Schütze S. 203, 892 und auch Schack, IPRax 1990, 20 (der allerdings stets die Berührung zweier Vertragsstaaten fordert); ebenso Verschuur, Festschrift Sauverplanne 1984, 263, 269. 76 So Schlosser, Bericht ABL EG 1979, Nr. C 59 Nr. 176; Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, Art. 17 Rdnr. 13.

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ständigkeitsregelungen Bedeutung für die Fälle, in denen ein Vertragsstaatengericht angerufen wird, der Beklagte seinen Sitz/Wohnsitz nicht in einem Vertragsstaat hat und auch nicht eine ausschließliche Zuständigkeit eines Vertragsstaatengerichts begründet ist77. Auch in diesem Fall entfalten die Konventionen jedoch eine — wenn auch begrenzte — Wirkung: Über Art. 4 II EuGVÜ/LugAb kann sich jeder Vertragsstaatenbewohner gegenüber Drittstaatenbewohnern auf diese autonomen (möglicherweise exorbitanten) Zuständigkeitsregelungen berufen, selbst wenn das autonome Recht diese Regelung nur seinen eigenen Staatsangehörigen zugute kommen lassen will78. Auch der in Frankreich ansässige Deutsche kann also eine japanische Gesellschaft nach Art. 14 cc vor einem französischen Gericht verklagen. Außerdem wird der Initiativnorm des Art. 220 EG-Vertrag der Gedanke entnommen, daß Staatsangehörige der EG-Staaten, auch wenn sie ihren Wohnsitz in einem Drittstaat haben, nicht vor den exorbitanten Gerichtsständen verklagt werden können79. Ein Deutscher mit Wohnsitz in Japan kann danach in keinem Vertragsstaat des EuGVÜ vor einem der exorbitanten Gerichtsstände verklagt werden. Für das Luganer Abkommen kann entsprechendes nicht gelten, da die Konventionsstaaten zu keiner entsprechenden Rücksichtnahme verpflichtet sind.

V.

Scblußbetrachtung

Das EuGVÜ und das Luganer Abkommen bilden zwar in Europa keine vollständige loi uniforme, dennoch ist die Vereinheitlichung des internationalen Zivilverfahrensrechts mit diesen beiden Abkommen sehr weit fortgeschritten und entfaltet insbesondere auch für Personen mit Wohnsitz/Sitz in Drittstaaten weitreichende Bedeutung. 77 Die Aufzählung der exorbitanten Gerichtsstände in Art. 3 II EuGVÜ/LugAb, die zur Ausschließung dieser Zuständigkeiten im Anwendungsbereich der Konventionen nicht notwendig gewesen wäre, hält Jayme (in Reichelt: Europäisches Kollisionsrecht, 1993, 36) für eine „narrative Norm", die Ausdruck eines allgemeinen Werturteils sei. 78 Vgl.Kropholler, Festschrift Ferid, 1988,289, 240; zur Inkonsequenz der Konventionsregelungen in diesen Punkten: Basedow, Handbuch des internationalen Verfahrensrechts, Bd. I Rnr. 149. 79 Basedow, Handbuch des Internationalen Verfahrensrechts, Bd. I Rdnr. 11; ebenso Jayme, in Schwind, Europarecht, IPR, Rechtsvergleichung 1988, 115.

Die Bedeutung des EuGVÜ und des Luganer Abkommens für Drittstaaten

115

Hinzu kommt, daß die Regelungen des Abkommens — weil sie ausgewogen und akzeptabel erscheinen — als Vorbild für die Reform oder Auslegung80 des autonomen Zivilprozeßrechts 81 dienen und die Fassung neuer bi- oder multilateraler Abkommen beeinflussen.

80 Vgl. die E n t s c h e i d u n g des H ö g e R a a d in T r a n s o c e a n T o w a g e Co. Ltd. v. H y u n d a i Construction, N J 1985 no. 698; die E n t s c h e i d u n g des B G H zu § 23 Z P O (Vermögensg e r i c h t s s t a n d ) v. 2. 7. 1991, N J W 1991, 3092. 81 Vgl. Tebbens, F e s t s c h r i f t Voskuil, 47.

Rechtliches Gehör und Rationalisierung des zivilgerichtlichen Verfahrens •· in Osterreich von

Prof. DDr. Hans W . Fasching Wien

em. ord. Universitätsprofessor an der Universität Wien

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Inhaltsverzeichnis

I. Rechtliches Gehör im österreichischen Zivilrechtssachen 1. Verfassungsrechtliche Verankerung 2 . Inhalt des Gehöranspruches 3 . Gehörberechtigte II. Rationalisierung des Verfahrens durch Einsatz technischer Mittel? 1. Allgemeines 2 . Automationsgestütztes Mahnverfahren 3 . Elektronischer Rechtsverkehr 4 . Vereinfachte Exekutionsbewilligung durch Automationsunterstützung 5 . Weitere Rationalisierungsmaßnahmen III. Dogmatische Beurteilung 1. Spannungs Verhältnis zwischen Verfahrensökonomie und rechtlichem Gehör 2 . Automationsgestütztes Mahnverfahren 3 . Vereinfachte Exekutionsbewillgung durch Automationsunterstützung

Rechtliches Gehör und Rationalisierung des zivilgerichtlichen Verfahrens in Österreich

I.

Rechtliches Gehör im österreichischen

119

Zirilrechtssachen.

l. Verfassungsrechtliche Verankerung : Schon in der ersten Kodifikation des Zivilprozessrechts wurde der Grundsatz des beiderseitigen rechtlichen Gehörs im zivilgerichtlichen Verfahren in Österreich als tragender Prozeßgrundsatz verankert 1 . Seine besondere und diffizile Ausgestaltung fand er in der Zivilprozeßordnung des Jahres 1895. Daß er, seinem inneren Rang entsprechend, auch mittelbar in der Bundesverfassung seine Verankerung fand und zusätzlich noch durch Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auch formell in den Rang eines prozessualen Grundrechts erhoben worden ist 2 , hat der österreichischen Prozeßrechtswissenschaft in erster Linie den Anlaß geboten, sich weniger den Grundsatzproblemen des Gehörs zuzuwenden als vielmehr die bisherigen Positionen zu überdenken und allfällige Schwachstellen der gesetzlichen Regelungen zu untersuchen 3 ; auch für die Judikatur der Zivilgerichte bot sich nur wenig Anlass, die bisher vertretenen Auffassungen zu revidieren. Da in Osterreich, anders als in der Bundersrepublik Deutschland, der Verfassungsgerichtshof (VFGH) Entscheidungen und Akte der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht wegen Verletzung verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte überprüfen kann und diesbezüglich auch keine (Individual) Verfassungsbeschwerde zulässig ist4, kann die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VFGH) nur mittelbar von Bedeutung für den Gehörsbegriff im Bereich des zivilgerichtlichen Verfahrens werden. Die Erkenntnisse des VFGH können in der Frage des rechtlichen Gehörs nur dann auch für die ordentliche Gerichtsbarkeit richtungsweisend werden, wenn der VFGH bei der Prüfung von Beschwerden gegen Akte anderer staatlicher Vollzugsorgane oder bei der Prüfung der Verfassungs- bzw Gesetzmäßigkeit von Gesetzen oder Verordnungen die vom Staatsorgan angewandte Verfahrensweise bzw. die in den geprüften Rechtsvorschriften enthaltenen Verfahrensregeln allgemeine Aussagen über das verfassungsrechtlich geforderte Gehör 1 Art. 22 der Allgemeinen Gerichtsordnung aus dem J a h r e 1781. 2 BVG BGBl 1958 Nr. 210. 3 Dazu grundlegend Matscher, Die Verfahrensgarantien der EMRK in Zivilrechtssachen, ZÖR 1980,1. 4 Art 144 B-VG.

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macht5. Die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGM) in Straßburg geht von einer konventionskonformen Auslegung des Gehörsbegriffes aus, der notwendigerweise dem gemeinsamen Verständnis der Konventionsstaaten zu entsprechen hat. Da die innerstaatlichen Regelungen der Konventionsstaaten naturgemäß weit voneinander abweichen, muß der EGM sich bei seinen Entscheidungsbegründungen häufig sehr allgemeiner Formulierungen bedienen, die aus der Sicht des nationalen Rechtsverständnisses sehr oft blossen Leerformeln nahekommen. Dazu kommt, daß die Formulierungen des E G M nicht selten sehr vorsichtig sind, um den durch die Beschwerde betroffenen Mitgliedsstaat vor einem Gesichtsverlust zu bewahren. Aber immerhin lassen sich auch aus der Judikatur des EGM allgemeine Gesichtspunkte über das Wesen des rechtlichen Gehörs und den erforderlichen Grad seiner Wirkung gewinnen, die freilich wegen der sehr umfassenden und differenzierten Regelungen des Gehörs im österreichischen Zivilverfahrensrecht weniger für die Auslegung des geltenden Rechts als vielmehr für die Schaffung neuer Verfahrensvorschriften Bedeutung erlangen. 2. Inhalt des Gehöranspruches : Herrschende Auffassung 6 in Osterreich ist, daß durch das rechtliche Gehör sicherzustellen ist, daß — unabhängig davon, ob im Verfahren Untersuchungsgrundsatz oder Verhandlungsmaxime herrscht 7 — jeder durch eine gerichtliche Entscheidung in seinen Rechten Betroffene das Recht hat, in dem zu dieser Entscheidung führenden Verfahren gehört zu werden. Dieser Anspruch auf rechtliches Gehör wird aber durch den Verfahrenszweck und den Verfahrensaufbau begrenzt, sodaß er innerhalb des Verfahrens nur zu der gesetzlich hiefür vorgeschriebenen Zeit (Verhandlung, Äußerungsfrist), in der gesetzlich vorgeschriebenen Form (schriftliche Eingabe, mündlicher Vortrag, Rechtsmittel) und auch an dem für das Verfahren vorgeschriebenen Ort geltend gemacht werden muss8. Schon hier zeigt sich aber, daß die diesbezüglichen Regelungen nicht bloss Modellcharakter haben dürfen, sondern so gestaltet sein müssen, daß der Partei in ihren jeweiligen konkreten Lebens-, Wirtschafts- und Bildungsverhältnissen die Ausübung des Gehöranspruches tatsächlich möglich ist. Daher vermag ein sinnentleerter Uberkomplizierter Formalismus dem Gehörberechtigten das Gehör dann grundrechtswidrig zu beschneiden, wenn ihm die 5 6 7 8

Vgl. Verfassungsgerichtshof in V f S l g 13182/1992. Vgl. § 477 A b s 1 Z. 4 ZPO. Rosenberg-Schwab-Gottwald, Zivilprozeßrecht 1 5 , 455 f. Faseking, Zivilprozeßrecht 2 RZ 693 ua.

Rechtliches Gehör und Rationalisierung des zivilgerichtlichen V e r f a h r e n s in Österreich

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Wahrnehmung dieser Formalien selbst entweder rechtlich oder faktisch (wegen des „Empfängerhorizonts" 9 ) nicht möglich ist und er auch nicht in einer allgemein verständlichen (und nicht durch juristische Terminologie verfremdeten) Sprache darüber aufgeklärt und belehrt wurde, daß er sich eines Vertreters bedienen könne bzw müsse, der die erforderlichen Kenntnisse von Form, Zeit und Ort der Gehörsausübung hat. Da aber die Vertretung von Rechtskundigen regelmäßig eine finanzielle Belastung für den Gehörsberechtigten mit sich bringt,muß auch dafür Sorge getragen werden, daß die wirtschaftlich schlechte Lage eines Gehörsberechtigten diesen nicht ausserstande setzt, sich durch einen geeigneten Vertreter Gehör zu verschaffen. Daher gehören zur Garantie des rechtlichen Gehörs auch gesetzliche Einrichtungen wie etwa die Verfahrens- oder Prozeßkostenhilfe 10 (Beides wird allerdings nicht nur unter dem Blickpunkt des rechtlichen Gehörs bedeutsam, sondern ganz allgemein auch unter dem Aspekt des Zuganges zum Recht als solchem). Ebenso gehört es zur wirksamen Garantie des rechtlichen Gehörs, daß der Betroffene auch zeitlich die Möglichkeit besitzen muss, so rechtzeitig von einem ihn betreffenden Verfahrens bzw Verfahrensabschnitt Kenntnis zu erlangen, daß er knappe, aber ausreichende Zeit zur Vorbereitung und Erstattung eines sachbezogenen Vorbringens hat11. Bei den oben dargestellten Einschränkungen des rechtlichen Gehörs wird offenbar, daß eine enge und isolierte Regelung und Betrachtung des Gehörs notwendigerweise zu unbefriedigtenden Ergebnissen führen muss. Hier liegt das Verdienst der Judikatur des EGM auf der Hand, der engen Zusammenhang des rechtlichen Gehörs mit dem Begriff des „fairen Verfahrens" aufgezeigt und betont hat12. Unbestritten ist, daß das Gebot des rechtlichen Gehörs sich an das Gericht richtet, daß aber die hiedurch geschützte Partei nur ein Recht, nicht aber die Pflicht hat, sich zu jedem Streitpunkt äußern zu müssen. Damit wird es für den Gehörsberechtigten unmöglich, durch Nichtausübung des Gehörsanspruches den Rechtstreit zu Lasten des Gegners oder des Gerichtes zu blockieren. Versäumungsfolgen sind daher grundsätzlich zulässig und wirksam; sie können aber durch Rechtsbehelfe dann außer Kraft gesetzt werden, wenn der Gehörsberechtigte aus ihm nicht zurechenbaren Umständen verhindert war, vom Gehörsrecht Gebrauch 9 10 11 12

Fasching, ZPR2 RZ 701. §§63 ff ZPO; dazu OG Η in SZ 60/286 = JBl 1988, 257. OG Η in RZ 1976/58. EGMR Series A 253 Β (1993) u a.

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zu machen13. 3. Gehörberechtigte : Einer besonderen und eingehenden Erörterung bedürfte die Frage, wer nach positiver österreichischer Verfahrensregelung gehörberechtigt ist, und wer es nach der Meinung des EMG ist. Die allgemeine Formulierung des Grundsatzes sowohl in der Prozeßdogmatik als auch in der Formulierung des Art 6 EMRK scheint das Gehörrecht jedermann einzuräumen, der durch die Entscheidung in seinen Rechten betroffen wird, bzw, dessen „Sache" im Verfahren behandelt werden soll („seine Sache""). Die österreichische Zivilprozeßordnung dagegen räumt das rechtliche Gehör nur den Prozeßparteien selbst und den Nebenintervenienten (sowie in Zwischenverfahren den Personen, die dort parteigleiche Stellung besitzen) ein. Hier ist in den letzten Jahrzehnten — nicht zuletzt unter dem Einfluß des Art 6 EMRK — das Problem in den Vordergrund gerückt, daß sich der Kreis der Parteien und der Kreis der in ihrer Rechtsposition durch die Entscheidung unmittelbar betroffenen Personen keineswegs immer decken. Besonders rechtsgestaltende Entscheidungen, aber auch Entscheidungen mit personeller Rechtskrafterweiterung greifen potentiell auch in die Rechtssphäre von Personen ein, die am Verfahren nicht beteiligt sind15; in geringerem Maße ist dies auch bei Entscheidungen, die eine (erweiterte) Tatbestandswirkung auslösen16, der Fall. Die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zur Einbeziehung aller Betroffenen könnten nur dort befriedigend genützt werden, wo schon während des Verfahrens selbst der Kreis der Betroffenen individuell bekannt und erreichbar ist. Hier würde die Einführung einer amtswegigen Beiladung ( = Verständigung vom laufenden Verfahren mit gleichzeitiger Belehrung, dem Verfahren als Nebenintervenient beitreten zu können) das Gehör der namentlich bekannten Betroffenen gewähren können 17 . Anders ist es 13 Rosenberg-Schwab Gottwald ZPR 1 5 457'.Fasching ZPR 2 RZ 693; Rechberger -Simotta, Grundriß des österreichischen Zivitprozeßrechts' RZ 290. 14 Dazu bereits einschränkend Rosenberg-Schwab-Gottwald1* 456. 2 15 Dazu Fasching, ZPR Rz 694; derselbe, Urteiismäßige Rechtsgestaltung im Zivilprozeß, JB1 1975,505 = FG-Fasching 256; Oberhammer, Richterliche Rechtsgestaltung und rechtliches Gehör (1994). 16 Dazu eingehend Gaul, Die „Bindung" an die T a t b e s t a n d s w i r k u n g des Urteils, FS -Zeuner (1994) 317. 17 Eine entsprechende Vorschrift gibt es in Osterreich nur im arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren bei Streitigkeiten aus der Betriebsverfassung. Siehe im deutschen Verwaltunggerichtsverfahren § 65 VWGO. 17 Vgl dazu Ballon, Drittinteressen im Zivilprozeß nach österreichischem Recht. ZZP 101, 413. und in JB1. 1995, 623 [632].

Rechtliches Gehör und Rationalisierung des zivilgerichtlichen Verfahrens in Österreich

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aber dann, wenn bis zum Schluß des Verfahrens nicht bekannt ist, ob und welche Dritten durch die Entscheidung in ihrer Rechtsposition betroffen werden. Hier könnte höchstens eine Drittinterventionsklage (welche Elemente der Hauptinterventionsklage, der Wiederaufnahmsklage und der Nichtigkeitsklage in sich vereinen müßte) Abhilfe schaffen. Für eine solche fehlen aber im geltenden österreichischen Verfahrensrecht gesetzliche Grundlagen. Daher ist derzeit im österreichischen Zivilprozeß der Anspruch auf rechtliches Gehör auf die Parteien (bzw. Nebenintervenienten und die in einem Zwischenverfahren parteigleiche Stellung habenden Personen) beschränkt; man kann diesen Zivilprozeß insoweit also als Modell eines „Verfahrens mit geschlossenem Beteiligtenkreis" ansehen. Anders ist dies bei zivilgerichtlichen Verfahrenmit „offenem Beteiligtenkreis", wie dem Außerstreitverfahren 18 und den Insovenzverfahren, in denen alle Personen Parteistellung haben, die durch die Entscheidung in ihren Rechten betroffen werden. Bei beiden Modellen gleich schwierig ist allerdings die Frage zu lösen, wer — außer den Prozeßparteien — überhaupt in seinen Rechten so weit betroffen wird, daß die Sache zu „seiner Sache" wird. Im Außerstreitverfahren gibt es eine fast unabsehbare und durchaus nicht einheitliche Judikatur Uber die Betroffenheit und damit die Parteistellung. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zum "offenen" dh materiellen Parteibegriff brachten manche begrüßenswerte Darstellung, aber kaum eine praktikable Gesamtlösung19. Solange das Verfahren noch nicht durch eine Sachentscheidung abgeschlossen ist, bringt der Beitritt potentiell Betroffener und die Abgrenzung der Beitrittsvoraussetzungen keine unerträgliche Zusatzbelastung und auch kein unkalkulierbares Verfahrensrisiko. Soll aber den durch die Entscheidung Betroffenen, am Verfahren bisher nicht Beteiligten, ein eigener Rechtsbehelf zur Aufhebung der Entscheidung eingeräumt werden, dann darf die Tatsache der blossen „rechtlichen Betroffenheit" des Einschreiters für sich allein nicht genügen, sondern es muß eine Regelung gefunden werden, durch die die rechtlich geschützten Interessen (bzw die erlangten Rechtspositionen) der bisherigen Parteien und der bisherige Verfahrensaufwand berücksichtigt und dem Umfang und der Intensität des Eingriffs in die Rechte des Betroffenen gegenübergestellt werden. Nur bei einem deutlichen Über-

18 § 9 AußstrG; dazu Dolinar,Österreichisches Außerstreitverfahrensrecht (1982) 52 ff. 19 Dolinar (FN 18); Für den deutschen Rechtsbereich Baur, Freiwillige Gerichtsbarkeit (1995) 125 ff; Kohlhosser, ZZP 93,265.

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wiegen der Schwere des Eingriffs verbunden mit dessen sonstiger Irreversibilität dürfte eine solche Drittintervention in einem vorgeschalteten Zulässigkeitsprüfungsverfahren für zulässig erklärt und erst danach in ihre sachliche Erledigung eingetreten werden. Gerade bei der Frage, wie und in welchem Umfange in einem Verfahren „mit geschlossenem Beteiligtenkreis" nach dessen rechtskräftigem Abschluß einem Dritten ein Rechtsbehelf zur Aufhebung der Entscheidung gewährt werden soll, zeigt sich, daß das rechtliche Gehör keinen immer gleichbleibenden absoluten Eigenwert besitzt, sondern daß die Frage, ob und in welchem Umfange Gehör zu gewähren ist, nicht nur vom Verfahrensstadium, sondern auch von den Möglichkeiten abhängt, wie weit das Gehör noch sinnvollerweise zu einer Überprüfung und Änderung bereits getroffener Entscheidungen oder Zwischenentscheidungen und zur Neuaufrollung bereits abgeschlossener Verfahrensabschnitte führen darf. Das findet wohl auch eine Stütze im Fairnessbegriff des Art.6 EMRK, denn den Anspruch auf ein faires Verfahren hat nicht nur der Gehöransprecher selbst, sondern ebensosehr auch alle bisher schon am Verfahren als Partei Beteiligten. Diese Überlegungen führen dazu, daß zwar nicht die Einräumung des rechtlichen Gehörs, wohl aber dessen Gestaltung durch das Gebot der Prozeßökonomie mitbeeinflußt wird. Das hat weitere Überlegungen zur Folge. Die Gehörgestaltung muss sinnvollerweise auch darauf Bedacht nehmen, wie schnell das Verfahren als solches seiner Zweckbestimmung nach ablaufen soll; und wie häufig nach aller generellen Voraussicht von dem Gehörbehelf Gebrauch gemacht wird. Ist nur mit einem geringen Prozentsatz der Inanspruchnahme zu rechnen, und haben die Entscheidungen kraft ihres Gegenstandes und der dabei erforderlichen Gerichtstätigkeit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit für sich, dann kann es gerechtfertigt sein, die Entscheidung ohne vorherige Anhörung des Betroffenen zu treffen. Dann muss diesem aber ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung eingeräumt werden, der ihm uneingeschänktes Vorbringen zur Sache und deren neuerliche Entscheidung eröffnet. Dasselbe gilt dann, wenn das Verfahren besonders dringlich ist (Eilverfahren 20 ) und die Entscheidung ohne Anhörung des Betroffenen ergehen muß, wenn sie ihren Zweck nicht verfehlen soll. Letztlich wird 20 Konecny, Der Anwendungsbereich der einstweiligen Verfügung(1992); König, Einstweilige Verfügungen im Zivilverfahren (1994), RZ 285; Leipold, Die Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes im zivil-, verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren (1971).

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dieser Weg des „nachfolgenden Gehörs" dort ökonomisch sein, wo typisierte Verfahrensabläufe durch den Einsatz der Technik rationelle maschinelle Massenerledigungen zulassen. Dieser Einsatz technischer Mittel findet seine Grenzen dort, wo wertende richterliche Tätigkeit erforderlich ist. Daher müssen alle technischen Verfahrensabläufe so gestaltet sein, daß sie den rechtlich von der Entscheidung Betroffenen auf möglichst einfache und umfassende Weise das Gehör ermöglichen, damit nicht die richterliche Wertungstätigkeit im konkreten Einzelfall ausgeschlossen wird. Die hier ganz allgemein angestellten Überlegungen über das rechtliche Gehör gelten im besonderen auch für das Rechtsmittelverfahren 21 . Sie werden dort besonders für die Lösung der Frage von Bedeutung, ob jedes Rechtsmittel notwendigerweise zweiseitig sein soll oder nicht, das heißt also, ob dem Gegner auch im Rechtsmittelverfahren die Möglichkeit einer Rechtsmittelbeantwortung eingeräumt ist, oder wenigstens im Rahmen einer mündlichen Rechtsmittelverhandlung rechtliches Gehör eröffnet wird. Im Zivilprozeß hat der österreichische Gesetzgeber nach einigen Korrekturen im Novellenweg den Standpunkt eingenommen, daß alle Rechtsmittel gegen Sachentscheidungen 22 zweiseitig sein müssen, ebenso auch Rechtsmittel gegen Beschlüsse, mit denen die Einleitung des Verfahrens verweigert (bzw ein Antrag auf Zurückweisung des Rechtsschutzbegehrens abgelehnt) wird23 oder mit denen als anfechtbar zugelassene Beschlüsse bekämpft werden, durch die das Berufungsgericht Urteile der ersten Instanz aufhebt. Dagegen bleiben Rechtsmittel gegen alle anderen prozessualen Beschlüsse und Verfügungen einseitig; in diesen Fällen hat der Gegner kein rechtliches Gehör, da in der Rechtsmittelinstanz auch keine mündliche Verhandlung Uber das Rechtsmittel vorgesehen ist24. Nicht so konsequent ist die Lösung im Zwangsvollstreckungs-, Insolvenz- und Außerstreitverfahren. Dort sind alle Rechtsmittel- mit geringen Ausnahmen im Verfahren über einstweilige Verfügungen und in bestimmten wenigen Außerstreitsachen — grundsätzlich einseitig und ihre Erledigung erfolgt — mit ganz wenigen gesetzlichen Ausnahmen — ohne mündliche Verhandlung25. 21 Dazu Rechberger, Gehördefizite im österreichischen Rechtsmittelverfahren, FSMatscher (1993) 373. 22 §§ 468, 507 Abs 2, § 521 Abs 1 Z. ZPO. 23 § 521a Abs 1 Z. 2, 3 ZPO. 24 § 526a Abs 1 ZPO. 25 Ausnahmen bestehen besonders in außerstreitigen Eheangelegenheiten (§§ 220 ff AußStrG)und im Verfahren zur Bestellung von Sachwaltern für behinderte Personen nach 273 ABGB(§§ 249 ff AußStrG)

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II. Rationalisierung technischer

des Verfahrens durch

Einsatz

Mittel?

1. Allgemeines : Der Einsatz technischer Mittel zur Unterstützung der Arbeitsabläufe in der Zivilgerichtsbarkeit begann in Österreich — abgesehen von Rationalisierungsmaßnahmen bei der Protokollierung in der mündlichen Verhandlung, für die im Jahr 1973 die gesetzlichen Grundlagen geschaffen wurden26 — mit der Umstellung des Grundbuches auf automationsgestützte Datenverarbeitung 27 , durch die zugleich eine technische Infrastruktur, bestehend aus Datenfernübertragungseinrichtungen, Datensichtgeräten und Druckern geschaffen wurde, die für die weitere Automatisierung mitverwendet werden konnte. Diese Grundbuchumstellung wurde inzwischen im ganzen Bundesgebiet abgeschlossen und hat sich seither bewährt. Dementsprechend wurde nach weiterer Vorbereitungszeit das (frühere Handelsregister und nunmehrige) Firmenbuch nach Erlassung des Firmenbuchgesetzes 28 auf automationsunterstützte Datenverarbeitung umgestellt. Beide Umstellungen setzten auch Änderungen des zugrundeliegenden materiellen Rechts und besonders des Verfahrensrechts voraus, durch die gleichzeitig diese Rechtsgebiete aktualisiert wurden. 2. Automationsgestütztes Mahnverfahren : Inzwischen waren die schon längere Zeit laufenden Vorbereitungen zur Einführung der automationsgestützten Datenverarbeitung in den eigentlichen Zivilprozeß getroffen worden. Die hiefür erforderliche Änderung der Zivilprozeßordnung selbst erfolgte durch die Zivilverfahrens-Novelle 198329, die für Klagen zur Geltendmachung von Geldforderungen, die (nunmehr) insgesamt 100-000 S nicht übersteigen, zwingend die (Vor) Erledigung im Mahnverfahren anordnete. Bei diesem hat das Gericht sofort nach Einlangen der Klage — soferne es diese nicht wegen des Fehlens von Prozeßvoraussetzungen zurückzuweisen hatte — einen Zahlungsbefehl zu erlassen, der bei Unter26 BG. v. 14. 2. 1973, BGBl Nr. 121. über die Verwendung von Schallträgern im zivilgerichtlichen Verfahren. 27 BG. v. 27. 11. 1980, BGBl Nr. 550, über die Umstellung des Grundbuches auf automationsunterstützte Datenverarbeitung. 28 Firmenbuchgesetz BGBl 1990, Nr. 10. 29 Zivilverfahrens-Novelle 1983, BGBl. 1983 Nr. 135. Dazu die bei Fasching, ZPR 2 vor RZ 37 angegebene weitere Literatur.

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lassung eines rechtzeitigen Einspruchs des Beklagten rechtskräftig, vollstreckbar und prozeßbeendigend wird. Der Beklagte kann den Zahlungsbefehl durch den eben erwähnten Einspruch außer Kraft setzen, der innerhalb einer Frist von 14 Tagen zu erheben und an keine Inhaltsvoraussetzungen gebunden ist; daraufhin hat das Gericht dann eine mündliche Verhandlung über die Klage anzuordnen und durchzuführen. Durch mehrfache Anhebung der Wertgrenzen und durch deren Gleichlauf mit der Wertzuständigkeitsgrenze der Bezirksgerichte sowie durch die Ausdehnung des obligatorischen Mahnverfahrens auch auf das Verfahren vor den Arbeits- und Sozialgerichten 30 ist derzeit bereits der überwiegende Teil aller Zivilprozesse dem obligatorischen Mahnverfahren unterworfen. So sind im Jahre 1993 von 773.802 bei den Bezirksgerichten angefallenen Klagen schon 672. 954 Fälle im Mahnverfahren erledigt worden31. Die Einführung des obligatorischen Mahnverfahrens war die verfahrensrechtliche Voraussetzung für den zweiten wesentlichen Rationalisierungsschritt der Zivilverfahrens-Novelle 1983, denn diese brachte in engem Sachzusammenhang damit die Einführung des automationsunterstützten Mahnverfahrens. Mit diesem werden nunmehr die Erlassung der Zahlungsbefehle,deren Zustellung und die damit verbundene Rechtsbelehrung des Beklagten Uber seine Einspruchsmöglichkeit, die Fassung der mit dem eigentlichen Mahnverfahren zusammenhängenden weiteren Beschlüsse, die Evidenthaltung und Wahrnehmung der Fristen und die Führung der Geschäftsstellen — Register in Zivilsachen „computerisiert", also automationsunterstützt bearbeitet 32 . Ursprünglich hatte der Ministerialentwurf der Zivilverfahrens-Novelle 1981 (der der Zivilverfahrens-Novelle 1983 zugrundelag) im Hinblick auf die später geplante Erhöhung der Wertgrenzen für das obligatorische Mahnverfahren — dem Beklagten einen zusätzlichen Schutz dadurch gewähren wollen, daß ihm ein zusätzlicher weiterer Rechtsbehelf in Form eines Widerspruchs eingeräumt werden sollte, der binnen 14 Tagen nach Eintritt der Rechtskraft des Zahlungsbefehls zu erheben gewesen wäre. Dagegen wurde schon wegen der Verschleppungsmöglichkeit und auch deshalb, weil man den Einspruch als völlig ausreichend ansah, im 30 Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz (ASGG) BGBl 1985 Nr. 104. 31 zitiert nach ÄoMecwjy.Automationsunterstützte Datenverarbeitung im Exekutionsverfahren, in „ADV-Exekutionsverfahren (ADVE)" Schriftenreihe des BMfJustiz Nr 68, S 145 f. 32 Eingehend dazu Bosina-Schneider, Das neue Mahnverfahren und die ADV-Drittschuldneranfrage (1987)

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Begutachtensstadium massiv Stellung genommen, sodaß dieser Vorschlag fallen gelassen worden ist. Die Entwicklung des automationsunterstützten Μ ahn verfahr ens in der Praxis hat gezeigt, daß Mißbrauchsfälle selten sind und daß der Schutz des Beklagten durch den Einspruch völlig ausreicht. 3. Elektronischer Rechtsverkehr : Die dadurch bewirkte Rationalisierung und Mechanisierung des Verfahrensablaufes bei Gericht wäre nur unvollständig, wenn sie nicht durch die Möglichkeit ergänzt worden wäre, auch den Verkehr zwischen dem Gericht und den Parteien zu rationalisieren. Allerdings sollte eine solche Regelung von vornherein nur den schriftlichen Verkehr zwischen dem Gericht und den berufsmäßigen Parteienvertretern (Rechtsanwälte, Notare und Finanzprokuratur) erfassen, denn nur bei diesen sind sowohl die technischen Bedingungen als auch die berufliche Verantwortlichkeit als Missbrauchsschranke vorauszusetzen 33 . Durch die Erweiterte Wertgrenzen-Novelle 198934 wurden die Rechtsgrundlagen für elektronische Eingaben und Erledigungen geschaffen. Danach kann der Rechtsverkehr zwischen Rechtsanwälten, Notaren und der Finanzprokuratur (und rechtspolitisch bedenklich: auch Körperschaften öffentlichen Rechts und Rechtsträgern, die einer behördlichen Wirtschaftsaufsicht unterliegen) und dem Gericht auf elektronischen Weg erfolgen35. Die genannten Parteien bzw. Parteienvertreter können bestimmte Eingaben (insbesondere Klagen im Mahnverfahren und in der Folge auch Anträge auf Exekutionsbewilligung) elektronisch einbringen und das Gericht kann (durch Verordnung des Justizministers im einzelnen bestimmte) Erledigungen anstatt in Form schriftlicher Ausfertigungen elektronisch an diesen Personenkreis übermitteln. Damit wurden auch manche Vorschriften über den Zeitpunkt, wann eine solche Eingabe oder Erledigung als eingelangt oder zugestellt anzusehen ist, erforderlich. Darüber hinaus mußte auf die Bestimmungen des Datenschutzes Bedacht genommen und — wie schon im automationsunterstützten Mahnverfahren — eine erweiterte Haftung des Staates für Schäden aus Fehler bei der elektronischen Übermittlung von Eingaben und Erledigungen statuiert werden36. 33 Näheres bei Konecny (FN 31) 168 ff. 34 BG ν 29. 6. 1989, BGBl Nr. 343, mit dem Beiträge und Wertgrenzen sowie damit zusammenhängende Regelungen des Zivilrechts und des Verfahrensrechts geändert werden. 35 Näheres bei Bosina-Schneider, Die elektronische Klage (1990) 36 §§ 453, 453a ZPO.

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4. Vereinfachte Exekutionsbewilligung durch Automationsunterstützung: Die Einführung der automationsunterstützten Datenverarbeitung im erweiterten obligatorischen Mahnverfahren und die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs haben sich im wesentlichen bewährt, wenngleich die erhofften Personaleinsparungen und die angestrebte Entlastung der Richter (die immerhin durch die Zuweisung des so sehr erweiterten Mahnverfahrens in den Wirkungsbereich der Rechtspfleger erfolgen sollte) nicht in dem prognostizierten Ausmaß eingetreten sind. Trotzdem war auf diesem Weg weiterzuschreiten und nunmehr auch das Exekutionsverfahren (= Zwangsvollstreckungsverfahren) einzubeziehen, das ja auch durch Massenerledigungen und durch weitgehend gleichartige formelhafte Abläufe gekennzeichnet ist37. Die Exekutionsordnung bedurfte einer Reform; eine gewisse Schwerfälligkeit des Verfahrens und die geringe Effektivität einzelner Vollzugsarten (insbesondere der Zwangsvollstreckung in bewegliches Vermögen) boten Anlaß zu berechtigter Kritik. Als erster Schritt wurde die Zwangsvollstreckung in Geldforderungen (vor allem also in Form der Exekution auf Arbeitseinkommen und ähnliche laufende Bezüge des Schuldners) durch die Exekutionsordnungs-Novelle 1991, BGBl Nr. 628, neu geregelt. Danach erfolgte gemeinsam mit der Neuregelung des Rechts der Zwangsvollstrekkung in bewegliche körperliche Sachen (und mit anderen Neuerungen) auch die Einführung der automationsunterstützten Datenverarbeitung in das Zwangsvollstreckungsverfahren ; dies erfolgte durch die EO-Novelle 1995 BGBl 1995 Nr. 51938. Hier ist vorweg darauf hinzuweisen, daß das österreichische Exekutionsverfahren ausschließliche Angelegenheit des Gerichtes ist39. Der Richter (oder Rechtspfleger) bewilligt durch Beschluß die Zwangsvollstreckung und prüft dazu in einem schriftlichen Verfahren ohne Anhörung des Gegners, ob der vom Gläubiger vorgelegte Schuldtitel vollstreckbar ist (die Vollstreckbarkeitsbestätigung obliegt dem Gericht oder der Behörde, von der der Schuldtitel stammt), ob die vom Gläubiger in seinem Exekutionsantrag begehrte Leistung durch den Leistungsausspruch des Schuldtitels gedeckt ist, und ob die Parteien des

37 Allgemein zum Einsatz der Technik im Zivilprozeß und dessen gebotenen Grenzen Fasching, ZPR 2 RZ 709. 38 Die einschlägigen Bestimmungen samt den Erläuternden Bemerkungen sind auch wiedergegeben in „ADV-Exekutionsverfahren" (s. FN 31). Dazu auch. Albrecht, Die Exekutionsordnungs-Novelle 1995 (1995). 39 Dazu Holzhammer, Österreichisches Zwangsvollstreckungsrecht 4 (1994) ; Rechberger-Simotta, Exekutionsverfahren 2 (1994)

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Exekutionsverfahrens die im Schuldtitel genannten Berechtigten oder Verpflichteten sind. Ist die Exekutionsbewilligung rechtskräftig, dann erfolgt der Vollzug der Zwangsvollstreckung durch Vollstreckungsorgane des Gerichtes. Bei dieser Verfahrensgestaltung ist klar, daß die automationsunterstützte Datenverarbeitung nur bei der Exekutionsbewilligung, außer dieser nur bei der Berechnung der exekutionsunterworfenen Bezüge im Rahmen einer Gehaltsexekution, zur Evidenthaltung der Fristen und zur Führung der Register in Exekutionssachen und des Pfändungsregisters eingesetzt werden kann. (Bei der Exekution auf laufende Arbeitseinkommen des Verpflichteten ergibt sich noch eine zusätzliche Einsatzmöglichkeit, nämlich die durch die Zivilverfahrens-Novelle 198640 im 294 a EO geschaffene Anfrage des Exekutionsgerichts an den Hauptverband der Sozialversicherungsträger um Bekanntgabe der Daten des Verpflichteten, aus denen hervorgeht, ob und mit wem der Verpflichtete in einem „Arbeitsverhältnis" steht; dieses Ersuchen und seine Erledigung erfolgen durch automationsunterstützte Datenabfrage 41 ). Die vereinfachte, automationsunterstützte Exekutionsbewilligung und der elektronische Rechtsverkehr im Zwangsvollstreckungsverfahren sehen als Kernstück die Möglichkeit eines vereinfachten Bewilligungsverfahrens vor, wenn der Gläubiger wegen einer Geldforderung Exekution auf bewegliches Vermögen (insbesondere auf Geldforderungen des Schuldners gegen Dritte und auf bewegliche köroerliche Sachen) beantragt, die hereinzubringende Forderung 100-000 S nicht übersteigt, keine zusätzlichen Urkunden mitvorgelegt werden müssen und der Gläubiger sich auf einen inländischen (oder einen nach den 79 ff EO für vollstreckbar erklärten ausländischen42) Exekutionstitel stützt. In diesem vereinfachten Bewilligungsverfahren muß der Gläubiger nicht mehr mit dem Antrag zugleich auch den Exekutionstitel und die Vollstreckbarkeitsbestätigung mitvorlegen; es genügt,wenn er im Exekutionsantrag das Datum angibt, an welchem die Vollstreckbarkeitsbestätigung für den nur zu nennenden Exekutionstitel erteilt wurde. Das Gericht hat nur aufgrund der Angaben im Exekutionsantrag zu entscheiden (es kann aber, wenn es Bedenken hat, der Gläubiger auffordern, den Exekutionstitel und die Vollstreckbarkeitsbestätigung vorzulegen). 40 BG BGBl 1986 Nr 71. 41 Bosina-Schneider, Mahnverfahren (FN 32) 230 ff. 42 Auch die diesbezüglichen Vorschriften werden durch die ExekutionsordnungsNovelle 1995 geändert und den Erfordernissen der LGVÜ bzw EUGVÜ angepaßt.

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Um den Schuldner zu schützen, wird zur Bekämpfung der vereinfachten Exekutionsbewilligung ein neuer zusätzlicher, nicht aufsteigender und den Vollzug nicht hemmender Rechtsbehelf geschaffen, nämlich der Einspruch, der binnen 14 Tagen zu erheben ist. Mit diesem kann aber nur geltend gemacht werden, daß ein die Exekutionsbewilligung deckender Exekutionstitel oder die Bestätigung der Vollstreckbarkeit fehlt oder die bewilligte Exekution durch den Titel nicht gedeckt 1st. Bei rechtzeitig erfolgtem Einspruch hat das Gericht dem Gläubiger die Vorlage des Exekutionstitels und der Bestätigung der Vollstreckbarkeit binnen 3 Tagen aufzutragen. Das Exekutionsverfahren ist einzustellen, wenn der Gläubiger dem Vorlageauftrag nicht rechtzeitig nachkommt, wenn der Exekutionstitel die bewilligte Exekution nicht deckt, oder wenn die Bestätigung der Vollstreckbarkeit fehlt. Eine neugeschaffene strenge Schadenersatzpflicht soll den Schuldner schützen, wenn die Exekution bewilligt wird, ohne daß der Gläubiger über einen Exekutionstitel und eine Vollstreckbarkeitsbestätigung verfügt; ihm droht zusätzlich eine Mutwillensstrafe. Die Schadenersatzverpflichtung des Gläubigers wird vom Exekutionsgericht durch Beschluß auferlegt. 5. Weitere Rationalisierungsmaßnahmen : Mit dieser Neuregelung dürfte die Rationalisierung des zivilgerichtlichen Verfahrens durch den Einsatz automationsunterstützter Datenverarbeitung nicht abgeschlossen sein: a) Es wurden eigene Textprogramme und Druckvorlagen zur Vereinfachung des schriftlichen Verfahrensablaufes entwickelt und den Gerichten zur Verfügung gestellt (JUTEXT-Programme für Formulare für Eingaben, Protokolle und Erledigungen im Zivilprozeß, Exekutions-, Insolvenz- und Außerstreitverfahren und in Gebührensachen). Sie sind schon in Verwendung und werden zunehmend genutzt. b) Die im Insolvenzrecht neu geschaffenen Verfahrensformen für den Konkurs natürlicher Personen43, das Schuldenregulierungsrverfahren, der Zahlungsplan und das Abschöpfungsverfahren können sich in beschränktem Ausmaß teilweise für den Einsatz der Datenverarbeitung eignen. c) Falls ein vom Zivilprozeß losgelöstes und für alle Unterhaltsansprüche bestimmtes besonderes Verfahren zur Feststellung und Durchset43 Konkursordnungs- Ν ο velle 1993, BGBl 1993 N r 974. Dazu insb. Holzhammer, Österreichisches Insolvenzrecht 4 (1995), 187 ff; Konecny, Insolvenzverfahren bei natürlichen Personen, ZEuP 1995 ; derselbe, Restschuldbefreiung bei insolventen natürlichen Personen, Bankarchiv 1994, 911; Mohr, P r i v a t k o n k u r s (1994).

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zung von Unterhaltsansprüchen geschaffen werden sollte (das dann wohl starke Elemente des Außerstreitverfahrens aufweisen wird), dann werden sowohl die Lösungen für die automationsunterstützte Datenverarbeitung beim obligatorischen Mahnverfahren als auch für die vereinfachte Exekutionsbewilligung von vornherein berücksichtigt und eingebaut werden können.

III. Dogmatische

Beurteilung

l. Spannungs Verhältnis zwischen Verfahrensökonomie und rechtlichem Gehör: Schon ein flüchtiger Überblick zeigt, daß die automationsunterstützte Datenverarbeitung — soll sie rationell und wirksam werden— nur in solchen Verfahren angewendet werden kann,in denen typische Massenerledigungen erfolgen, bei denen das Rechtsprechungsorgan im Rahmen der Prüfung der Anträge nur festumschriebene formal festgelegte Voraussetzungen zu prüfen, aber keine eigenen Wertvorstellungen zu entwickeln und einzubringen hat; in denen die Gegner des Antragstellers nach den bisherigen langjährigen Erfahrungen nur selten sachlich begründetes Gehör beanspruchen; und in denen die Gegner durch nachfolgendes und durch keine formalistischen oder inhaltlichen Schranken begrenztes Gehör die ohne Gehör ergangene Entscheidung bekämpfen und ausser Kraft setzen (bzw. ihre umfassende Prüfung erlangen) können. Ein gerichtliches Verfahren mit automationsunterstützter Datenverarbeitung führt zu einer (vorerst vorläufigen) Entscheidung ohne Anhörung des Gegners und zu einer erst nachfolgenden Gewährung des rechtlichen Gehörs. Damit zeigt sich auch hier das Spannungsverhältnis zwischen rechtlichem Gehör und Verfahrensökonomie. Wo von vornherein zufolge der Besonderheit des Anspruches und der Lebensverhältnisse wahrscheinlich ist, daß die Entscheidung von streitigen Tatsachen abhängt, und es auch ebenso wahrscheinlich ist, daß diese Tatsachen bestritten werden, ist das Modell der automationsgestützten Entscheidung eher ungeeignet und nur dann vertretbar, wenn sein Einsatz nur vorgeschaltet ist , keinen ins Gewicht fallenden Verfahrens- und Kostenaufwand nach sich zieht und auch zu keiner Verzögerung des Verfahrens führt. Ebenso ist es dann ungeeignet, wenn die antezipierende Entscheidung des Gerichtes zu einem — trotz der nachher möglichen Beseitigung der Entscheidung —

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nicht oder nur sehr schwer wiederherstellbaren Eingriff in die Rechtssphäre des Gegners führt. Ob und inwieferne die Gehörbeeinträchtigung bei den in Österreich mit automationsunterstützter Datenverarbeitung geführten zivilgerichtlichen Verfahren vermieden oder in noch vertretbarem M a ß beschränkt worden ist, soll ein abschließender Blick auf zwei Neuregelungen zeigen. 2. Automationsgestütztes Mahnverfahren: Beim automationsgestützten obligatorischen Mahnverfahren konnte im wesentlichen auf das Modell des vorher in K r a f t gestandenen Mahnverfahrens aufgebaut werden, das schon aus dem Jahr 1873 stammt und nachher nur wenig verändert wurde. Es hatte sich in der Form der Mahnklage bewährt. Allerdings wurde durch die Neuregelung die Wertgrenze für seine Zulässigkeit unverhältnismäßig angehoben, sodaß nun wohl kaum mehr von einem an sich für geringfügige Streitigkeiten gedachten Verfahren die Rede sein kann. In der alten Form des Mahnverfahrens ließ die Beschränkung auf Geldforderungen geringen Werts und die Möglichkeit des f o r m - und inhaltsungebundenen Widerspruchs ( = Einspruchs) weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur besondere Bekenken gegen die Form des bloß nachträglichen Gehörs laut werden. Auch seit der verfassungsrechtlichen Verankerung des rechtlichen Gehörs wurde die Regelung des Mahnverfahrens als durchaus mit Art. 6 EMRK in Einklang stehend angesehen 44 . Ein einziger Punkt ist noch zu erörtern. Nach herrschender Auffassung hat das Gericht vor Erlassung des Zahlungsbefehls auch zu prüfen, ob die Klage schlüssig ist, ob sich also aus den vorgetragenen Tatsachen das geltend gemachte Zahlungsbegehren als Rechtsfolge ableiten läßt 45 . Diese Schlüssigkeitsprüfung wird aber in der Praxis nur in sehr beschränktem M a ß e stattfinden können, weil die für die automationsgestützte Beararbeitung der Klage vorgesehenen Formulare bzw Formatvorlagen nur ganz unzureichenden Raum für substantielles Tatsachenvorbringen ermöglichen. Dadurch wird —gegenüber dem früheren Mahnverfahren — das Schlüssigkeitsprüfungsrisiko stärker auf den Beklagten verschoben; dieser hat es überhaupt durch die Beschränkung und Typisierung des Klagevorbringens schwerer, sich auf eine materielle Verteidigung vorzubereiten. Trotzdem ist das aber in Kauf zu nehmen, denn er kann ja durch die Erhebung des Einspruchs, der keinerlei Sachvorbringen und auch keinen förmlichen Gegenantrag

44 Vgl dazu VerfassungsGH in V f S l g 11590/1987. 45 Bosina-Schneider, Mahnverfahren (FN 32) RZ 54, 108; Fasching

ZPR 2 RZ 1937.

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verlangt, die Ausserkraftsetzung des Zahlungsbefehls erwirken. Letztlich herrscht auch hier Waffengleichheit: Das Vorbringen des Klägers wird beim automationsgestützt erlassenen Zahlungsbefehl im weit überwiegenden Regelfall ohne nähere inhaltliche Prüfung zugrundegelegt;und ebenso bewirkt dann der Einspruch des Beklagten, ohne daß dieser inhaltlich geprüft werden könnte oder dürfte, die Außerkraftsetzung des Zahlungsbefehls und damit die Einleitung des regulären Verfahrens mit allen Gehörmöglichkeiten. 3. Vereinfachte Exekutionsbewilligung durch Automationsunterstützung: Andere Fragen stellen sich bei der vereinfachten Exekutionsbewilligung mit Automationsunterstützung. Hier konnte bisher davon ausgegangen werden, daß die Bewilligung der Zwangsvollstreckung jedenfalls schon deshalb ohne vorherige Anhörung des Schuldners erfolgen konnte, weil die vollstreckbare Forderung bereits im vollstreckbaren Schuldtitel verbrieft war, der in der weit überwiegenden Zahl der Fälle der Gegenstand eines behördlichen Prüfungs- und Entscheidungsverfahrens war, in welchem der Schuldner bereits beteiligt war und Gehör hatte46. Exekutionsbewilligungen ohne Prüfung, ob und welcher Schuldtitel vorliegt, sind grob fehlerhaft und bilden verschwindend geringe Ausnahmen. Dementsprechend waren auch die Verteidigungsmöglichkeiten des Schuldner beschränkt. Soweit sich die Unzulässigkeit der Exekutionsbewilligung bereits aus dem Akteninhalt selbst (zu dem zwingend auch der Exekutionstitel und die Vollstreckbarkeitsbestätigung gehören) ergibt, ist er auf die Geltendmachung durch ein Rechtsmittel beschränkt, mit dem er das Fehlen des Titels oder seiner Vollstreckbarkeitsbestätigung, oder die mangelnde Deckung der bewilligten Exekution durch den vorliegenden Exekutionstitel geltend machen kann. Soweit die Unzulässigkeit der Exekutionsbewilligung aber auf Tatsachen gestützt wird, die nur durch ein Beweisverfahren festgestellt werden können — mit denen aber nicht mehr die ursprüngliche Richtigkeit des Schuldtitels bekämpft werden kann — ist der Schuldner auf selbständige KlageführungdurchVollstreckungsgegenklage 47 oderVollstreckungsbekämpfungsklage 48 verwiesen. Bei der vorgesehenen vereinfachten Exekutionsbewilligung mit Automationsunterstützung entfällt die Vorlage des Exekutionstitels, es 46 Holzhammer, Zwangsvollstreckungsrecht 4 (FN 43); Exekutionsverfahren 2 (FN 39) RZ 136. 47 § 35 EO (Oppositionsklage). 48 § 36 EO. (Impugnationsklage)

Rechberger-Simotta,

Rechtliches Gehör und Rationalisierung des zivilgerichtlichen V e r f a h r e n s in Österreich

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wird aiso — so wie beim automationsunterstützten Mahnverfahren — lediglich auf Grund der Angaben des Gläubigers im Exekutionsantrag entschieden. Es lag daher nahe, dem Schuldner ebenso wie im Mahnverfahren einen einfachen, nicht aufsteigenden Rechtsbehelf zu geben, aufgrund dessen an die Stelle des „vereinfachten Bewilligungsverfahrens" eine Überprüfung der Bewilligung nach allen den Kriterien tritt, die im normalen Exekutionsbewilligungsverfahren geprüft werden müssen. Der vorgesehene Einspruch gegen die vereinfachte Exekutionsbewilligung49 entspricht denn auchin vielem dem Einspruch im Mahnverfahren. Aber anders als dort zwingt er den Einspruchswerber in die dem Schuldner im Bewilligungsverfahren gesteckten engen Grenzen des rechtlichen Gehörs. Denn es ist ihm nur gestattet, im Einspruch solche Fehler zu behaupten (er ist verpflichtet, sie in dieser Beschränkung auch zu substantiieren), die dann, wenn dem Gericht bei der Bewilligung der Titel vorgelegen wäre, vermieden worden wären. Insoferne unterscheidet sich das rechtliche Gehör im Einspruch von dem des Rekurses gegen die Exekutionsbewilligung, weil der Schuldner im Rekurs zufolge des Neuerungsverbotes auf Rechts- und Verfahrensfehler beschränkt ist, die sich aus dem Akteninhalt des Bewilligungsverfahrens selbst ergeben, während der Schuldner mit Einspruch diejenigen Verstösse rügen muss, die nicht erfolgt wären, wenn der Akteninhalt (durch die von vornherein vorausgesetzte Vorlage des Schuldtitels und der Bestätigung seiner Vollstreckbarkeit) im Sinne des regulären Bewilligungsverfahrens vollständig gewesen und richtig beurteilt worden wäre. Bejaht man zutreffenderweise die Beschränkung der Prüfung im Exekutionsverfahren auf die vollstreckungsrechtliche Zulässigkeit der Exekutionsbewilligung (und im weiteren Verfahren auf vollstreckungsrelevante Tatsachen), dann ist auch die Beschränkung des Einspruches auf die oben genannten Fragen sachlich gerechtfertigt 50 . Ganz allgemein ist aber zu sagen, daß die automationsgestützte Bewilligung der Zwangsvollstreckung ein gegenüber dem automationsgestützten Mahnverfahren stärker aktualisiertes und zu unmittelbareren 49 § 54c des Entwurfes zu einer Exekutionsordnungs-Novelle 1995 (s FN 38). 50 Allegemein zur Anwendbarkeit des Art 6 EMRK auch auf das Exekutionsverfahren; Matscher {FN 4)36; Laurer, Der Grundsatz des fair trial (Art 6 MRK) in den von der Zivilprozeßordnung beherrschten Verfahrenssystemen, FS-Adamovich(1992) 321; Oberhammer, ÖJZ 1994, 265; Strejcek, Verfassungsrechtliche Aspekte des ADV -unterstützten vereinfachten Bewilligungsverfahrens, in „ADV-Exekutionsverfahren" (FN 31) 301 ff.

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Folgen führendes Fehlerrisiko bringt. Dem will der Gesetzentwurf durch die schon für das Mahnverfahren und den elektronischen Rechtsverkehr verstärkte Haftung des Staates für Schäden begegnen, die aus Fehlern bei der automationsunterstützten vereinfachten Exekutionsbewilligung entstehen;darüber hinaus macht er den Gläubiger für die mißbräuchliche oder fehlerhafte Antragstellung (bei Fehlen eines Titels, mangelnder Deckung der beantragten Exekution durch den Schuldtitel und bei Fehlen der Vollstreckbarkeitsbestätigung) schadenersatzpflichtig 51 und trägt dem Exekutionsgericht selbst sofort die Entscheidung über ein disbezügliches Begehren des Schuldner auf. Andererseits scheint der Entwurf aber auch den Gläubiger vor mißbräuchlichen und verzögernden Einsprüchen schützen zu wollen, indem er diesem Rechtsbehelf die aufschiebende Wirkung versagt (was freilich nur ein scheinbarer Schutz ist, weil ja ohnedies in aller Regel die Erledigung des Einspruches wohl noch längst vor der ersten Vollzugshandlung erfolgen wird). Die neue Regelung der vereinfachten Exekutionsbewilligung durch automationsgestützte Datenverarbeitung hat den Anschein für sich, ein wohlabgewogenes Institut zu sein, das ohne besondere Schwachstellen den Geboten des rechtlichen Gehörs entspricht. Ob die Umsetzung in die Praxis diesen Eindruck bestätigen kann, bleibt abzuwarten, da ein Mißbrauch durch Exekutionsanträge ohne entsprechenden Exekutionstitel oder vor Eintritt der Vollstreckbarkeit nicht auszuschließen ist52.

51 Näheres bei Konecny, Automationsunterstützte Datenverarbeitung im Exekutionsverfahren (FN 31) 289 ff. 52 Konecny, e b d t ( F N 31)185 f., 230 ff.

Der Einfluß r ü c k w i r k e n d e r Gestaltungsurteile auf vorausgegangene Leistungsurteile von

Prof. Dr. Hans Friedhelm Gaul

Bonn

em. Professor an der Universität Bonn

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Inhaltsverzeichnis

I. Die typische Konfliktslage II. Zur Abgrenzung zwischen Rechtsfeststellung und Rechtsgestaltung III. Automatische Entkräftung des Leistungsurteils durch das rückwirkende Gestaltngsurteil? IV. Der Weg der Restitutionsklage V. Der Weg der Vollstreckungsgegenklage VI. Konsequenzen

Dieser Beitrag ist Hideo Nakamura in Hochachtung vor seinem großen grenzübergreifenden wissenschaftlichen Werk gewidmet. In seiner grundlegenden Studie „Die zwei Typen des Zivilprozesses" in der Festschrift zum dreißigjährigen Jubiläum des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda Universität (1988) hat der Jubilar aufgrund einer systematischen Gegenüberstellung des kontinentalen und anglo-amerikanischen Zivilprozesses die zwei unterschiedlichen Denkweisen dargestellt, die im Zivilprozeß zur Geltung kommen, je nachdem, ob man den Prozeß in erster Linie von der Rechtsnorm aus oder von den Tatsachen aus betrachtet. Als Ausschnitt zu diesem großen Thema läßt sich auch der vorliegende Beitrag verstehen, kommt doch das Spannungsverhältnis zwischen der Rechtslage und der Tatsachenlage dann in besonderer Weise zum Ausdruck, wenn die Rechtsordnung ein Urteil mit rückwirkenden Rechtsfolgen ausstattet, die das ursprüngliche Tatsachenbild im Vorprozeß nunmehr in einem anderen rechtlichen Licht erscheinen lassen.

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I. Die typische Konfliktslage Das deutsche Zivilprozeßrecht sieht keine ausdrückliche Regelung für den Fall vor, daß nach Rechtskraft eines Leistungsurteils ein Gestaltungsurteil rückwirkend ein Rechtsverhältnis vernichtet, aus dem sich der im Leistungsurteil zuerkannte Anspruch ergibt. Daher erscheint der daraus resultierende Konflikt bis heute noch nicht abschließend geklärt. Die Problematik läßt sich an einem frühen Urteil des Reichsgericht vom 4. 3.19011 verdeutlichen: Der Inhaber eines Patents über einen Flaschenverschluß hatte gegen den Hersteller eines gleichartigen Verschlusses erfolgreich mit der Behauptung geklagt, bei dessen Produkt handele es sich um eine unbefugte Nachbildung seines Patents. Der Beklagte wurde rechtskräftig zur Unterlassung der Herstellung und des Vertriebs der beanstandeten Flaschenverschlüsse verurteilt. Ein Jahr später wurde das Patent aufgrund der Klage eines Dritten für nichtig erklärt. Unter Berufung auf das Nichtigkeitsurteil verlangte der vormalige Beklagte restitutionsweise Aufhebung des rechtskräftigen Unterlassungsurteils und Kostenerstattung. Diese Rechtslage kann sich ebenso unter der heutigen Fassung des P a t G 2 ergeben, das in § 139 PatG den Unterlassungen und Schadensersatzanspruch vorsieht, den der Verletzte mit der Leistungsklage verfolgen kann, und in § 81 PatG die als sog. Popularklage ausgestaltete Nichtigkeitsklage, die zur Nichtigerklärung des Patents mit rückwirkender Kraft führt (§ 22 I PatG) 3 . Über das Verhältnis des Patentnichtigkeitsurteils zum früheren auf dem Patent beruhenden Verbotsurteil schweigt das PatG ebenso wie die gemäß § 99 I PatG ergänzend zur Anwendung kommende ZPO. Obwohl die Kategorie des Gestaltungsurteils in der damaligen Judikatur des Reichsgerichts noch nicht entwickelt war, erkannte es richtig, daß das Nichtigkeitsurteil den im Leistungsurteil zuerkannten Anspruch 1 RGZ 48, 384 ff. 2 Patentgesetz in der Fassung v. 16.12.1980 (BGBl. 1981 I S. 1). 3 Die rückwirkende Kraft der Nichtigerklärung ergibt sich jetzt ausdrücklich aus der Verweisung des § 22 II PatG auf § 21 III PatG, wonach „mit dem Widerruf die Wirkungen des Patents und der Anmeldung als nicht eingetreten gelten".

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„hinfällig macht" 4 , mag es auch erst viel später die klare Formulierung gefunden haben, daß das „rechtsgestaltende" Nichtigkeitsurteil „die Vernichtung des Patents mit rückwirkender Kraft" bewirkt 5 . Eine Beseitigung des Unterlassungsurteils im Wege der Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7 b ZPO hielt das Reichsgericht für unstatthaft, da das später ergangene Nichtigkeitsurteil keine „Urkunde" sei, deren Benutzung in dem früheren Verfahren möglich gewesen wäre, und überdies die Anwendung des Restitutionsgrundes der Aufhebung einer Vorentscheidung nach § 580 Nr. 6 ZPO von vornherein für ausgeschlossen. Jedoch wertete es die Vernichtung des Patents als „neue Tatsache, die sich nach Zuerkennung des Anspruchs ereignet und diesen hinfällig gemacht" habe und die im Wege der Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO geltend gemacht werden könne. Allerdings hat das Reichsgericht in einem nur fünf Jahre später ergangenen Urteil 6 — ohne Bezugnahme auf sein grundlegendes Urteil vom 4. 3.1901 — einen scheinbar anderen Standpunkt eingenommen. Doch ging es unmittelbar nur um die Berücksichtigung eines Patentnichtigkeitsurteils gegenüber einem in der Berufungsinstanz wegen Patentverletzung ergangenen Unterlassungsurteil noch in der Revisionsinstanz. Hier stellte das Reichsgericht den das Patent vernichtenden Richterspruch einem „mit rückwirkender Kraft ergangenen Gesetz" gleich und folgerte daraus, daß „der Rechtssatz des Nichtigkeitsurteils bei der Beurteilung des Rechtsverhältnisses (aus der Patentverletzung) auch noch in der Revisionsinstanz zugrunde zu legen" sei, indessen mit dem Zusatz, „soweit das Rechtsverhältnis nicht durch rechtskräftiges Urteil festgestellt und damit einer anderen rechtlichen Beurteilung entzogen ist"7. Mit diesem obiter dictum wollte das Reichsgericht jedoch offenbar nicht entgegen seiner 4 RGZ, a.a.O., S. 386. 5 RGZ 123, 113, 115 ; deutlich auch RGZ 170, 346, 354 : „Das der Klage entsprechende, rechtskräftige Urteil w i r k t rechtsgestaltend, indem es das angegriffene Patent mit rückwirkender K r a f t und mit W i r k u n g f ü r und gegen alle vernichtet" ; ebenso BGH. N J W 1965, 493 : Die „Bedeutung eines rechtsgestaltenden Urteils, welches der Nichtigkeitsklage stattgibt und das angegriffene Patent vernichtet", bewirkt das Erlöschen des Streitpatents mit Wirkung „für die Allgemeinheit". 6 RG, Urt. v. 4. 4. 1906, RGZ 63, 140, 142, wie RGZ 48, 384 ff. entschieden vom 1. Zivilsenat des RG ; bestätigend RGZ 148, 400, 402. — Allerdings ist die Begründung der Gleichstellung des Nichtigkeitsurteils mit einem „rückwirkenden Gesetz" bedenklich. Dennoch hält der BGH bis heute in „ständiger Praxis" d a r a n fest, es sei noch in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen, d a ß den zuerkannten Ansprüchen durch „die Nichtigerklärung des P a t e n t s der Boden entzogen" sei, BGH, N J W 1988, 210. 7 RGZ 63, 143 (Hervorhebung im Original!).

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früheren Entscheidung die unverrückbare Bestandskraft des Unterlassungsurteils behaupten, falls wirklich noch nach Rechtskrafteintritt das zugrunde liegende Patent durch Richterspruch für nichtig erklärt wird, da sich diese Frage im Grunde für das schwebende Revisionsverfahren noch nicht stellte. Bis heute ist jedenfalls das Urteil des Reichsgerichts vom 4.3-1901 in der Judikatur das maßgebliche für die Konfliktslage zwischen einem im Patentverletzungsprozeß erlassenen Leistungsurteil (auf Unterlassung oder Schadensersatz) und einem später ergangenen Gestaltungsurteil auf Nichtigerklärung des Patents geblieben. Es könnte überdies noch heute als Leitentscheidung für alle Fälle gelten, in denen ein rechtskräftiges Leistungsurteil später durch ein rückwirkendes Gestaltungsurteil in Frage gestellt wird, hätte nicht das Reichsgericht zuletzt den gleichen Konflikt bei rechtsgestaltenden Statusurteilen anders entschieden. Anlaß für den Rechtsprechungswandel bot die vom Reichsgericht 8 im Jahre 1939 zugelassene Klage auf Feststellung der blutsmäßigen Abstammung analog §§ 640 ff. ZPO a.F., die zu einem Statusurteil mit Rechtskraftwirkung inter omnes führte (§ 643 ZPO a.F.) und für die folgenden dreißig Jahre die Problematik des sog. Zwiespalts zwischen Unterhaltsund Abstammungsurteil auslöste, bis das am 1.7.1970 in Kraft getretene Nichtehelichengesetz 9 durch Neufassung der §§ 1600 a ff. BGB und §§ 640 II Nr. 1,641 ff. ZPO die Zweigleisigkeit des Unterhalts- und Abstammungsverfahrens beseitigte10. Der Große Zivilsenat des Reichsgerichts löste in seinem berühmt-berüchtigten Beschluß vom 7-5-194211 den „Widerstreit", indem er der „den Statusurteilen gesetzlich beigelegte Wirkung für und gegen alle" — ähnlich den gestaltenden Statusurteilen wie „Nichtigerklärung einer Ehe sowie Ehelichkeitsanfechtung" — eine „gewisse rechtsgestaltende Wirkung" zusprach, die vermöge dieser „stärkeren Wirkung" das rechtskräftige Unterhaltsurteil rückwirkend „außer Kraft setze". Mit Recht ist der BGH dieser auf freier Rechtsfindung beruhenden RGRechtsprechung 12 nicht gefolgt. Dezidiert hielt der BGH entgegen, es 8 RGZ 160, 293, 298 f . ; zur Entwicklung der J u d i k a t u r zur A b s t a m m u n g s k l a g e s. zuletzt Jauernig in Jauernig/Roxin, 40 J a h r e Bundesgerichtshof, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe H e f t 193 (1991), S.28, 31 ff. mit weiteren Nachweisen. 9 Nichtehelishengesetz v. 19.8.1969 (BGBl. I, S. 1243). 10 S. zu dieser Entwicklung Gaul, Zum Anwendungsbereich des § 641 i ZPO, Festschrift f ü r F. W. Bosch (1976), S.241, 246 mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien. 11 RGZ 169, 129, 131 f . ; bestätigend RGZ 170, 252, 254. 12 Zur Unhaltbarkeit der Entscheidung RGZ 169, 129 ff. mit eingehender Kritik Gaul,

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gehe „nicht an, das auf eine solche (Abstämmlings-) Klage hin ergehende Urteil ohne gesetzliche Unterlage und Begrenzung mit Rechtsfolgen auszustatten, die es seinem Wesen nach nicht mehr als Feststellungsurteil erscheinen lassen" und derart den „Unterschied zwischen Feststellungs- und Gestaltungsurteil zu verwischen"13. In einem weiteren Urteil betonte der BGH14, als reines Feststellungsurteil könne „das Abstammungsurteil (auch) nicht als neue Tatsache im Sinne des § 767 II ZPO angesehen werden", um „mit der Vollstreckungsgegenklage gegen das in dem Unterhaltsrechtsstreit ergangene Urteil vorzugehen". Allerdings hat der BGH — und das ist hier von besonderem Interesse — die Prämisse des Reichsgerichts nicht beanstandet, daß das auf Ehelichkeitsanfechtung hin ergehende echte Gestaltungsurteil in der Lage sei, „die Rechtskraft eines vorausgegangenen Urteils über die Unterhaltsfrage zu beseitigen"15. Von dieser Möglichkeit geht auch eine verbreitete Lehre aus16. Indessen ist eine Sonderbehandlung rechtsgestaltender Statusurteile wie das der Ehenichtigkeitsklage (§§ 23 f. EheG, § 636 a ZPO) oder das der Ehelichkeitsanfechtungsklage (§§ 1593 ff. BGB, § 640 h ZPO) stattgebende Urteil gegenüber anderen rückwirkenden Gestaltungsurteilen

Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung der Wiederaufnahmegründe (1956), S. 169 ff. 13 BGH, Urteil v. 18.5.1953, NJW 1953, 1545. 14 BGH, Urteil v. 22.10.1955, NJW 1956,668,669 gegen den von Rosenberg, Zivilprozeßrecht, 6.Aufl. (1953), § 162 I 1 d vertretenen Standpunkt. 15 Vgl. BGH, NJW 1953, 1545: „Diese Regelung (über die Ehelichkeitsanfechtungsklage nach §§ 1593 ff. BGB) kann nicht ohne gesetzliche Grundlage auf andere Klagen übertragen werden··-Dann (!) aber kann der im Statusverfahren ergangenen Entscheidung über die uneheliche Vaterschaft nicht die Wirkung beigemessen werden, die Rechtskraft eines vorausgegangenen Urteils über die Unterhaltsklage zu beseitigen". Fast wörtlich ebenso gegen eine „Beseitigung" des Unterhaltsurteils, weil das Vaterschaftsurteil „als Feststellungsurteil keine Rechtsgestaltungswirkung hat" BGH, NJW 1956, 669. 16 So Lent, SJZ 1948, 520, 525 für Gestaltungsurteile mit „rückwirkender Kraft" wie z.B. das über die „Erbunwürdigkeit" : „Dann allerdings kann die nach der Rechtskraft des ersten Urteils eingetretene Gestaltung die Feststellung beseitigen", während noch Lent in DR 1942, 868, 872 f. das Erbunwürdigkeitsurteil als neue Tatsache i.S. des § 767 II ZPO „zur Begründung der Vollstreckungsgegenklage" wertete. Ebenso insbesondere Schwab, JZ 1954, 273, 276 für den Fall, daß ein Ehelichkeitsanfechtungsurteil „kraft Gesetzes eine Rechtsänderung in dem Status des Kindes" bewirkt, so daß der zuvor zuerkannte Unterhaltsanspruch „erlischt" und zu Ersatzansprüchen wegen des geleisteten Unterhalts führt (mit Hinweis auf RG, DR 1944, 334, 335).

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wie das eingangs als Paradigma zugrunde gelegte Patentnichtigkeitsurteil nicht gerechtfertigt, zumal auch dieses unstreitig „Wirkung für und gegen alle" entfaltet 17 . Die Lage, daß ein rückwirkendes Gestaltungsurteil dem in einem vorausgegangenen Leistungsurteil zugesprochenen Anspruch nachträglich die Grundlage entzieht, kann bei allen derartigen Gestaltungsurteilen eintreten, und das dadurch aufgeworfene grundsätzliche Problem verlangt nach einer einheitlichen Beurteilung. Ob ein Ehelichkeitsanfechtungsurteil einem zuvor von dem Kind gegen den Scheinvater erstrittenen rechtskräftigen Unterhaltsurteil oder ein Patentnichtigkeitsurteil einem aufgrund der Patentverletzung ergangenen Unterlassungsurteil jeweils nachträglich den Boden entzieht, kann keinen grundsätzlichen Unterschied machen. Nichts anderes gilt, wenn etwa ein gemäß §§ 2342 II, 2344 BGB mit rückwirkender Gestaltungswirkung ausgestattetes Erbunwürdigkeitsurteil einem zuvor von dem nunmehr für erbunwürdig erklärten Erben erlangten Urteil auf Herausgabe eines Erbschaftsgegenstandes die Grundlage nimmt18.

II. Zur Abgrenzung zwischen Rechtsfeststellung

und

R echtsgestaltung Unerläßlich für die Klärung der hier typischen Konfliktslage ist jedoch, daß man stets die klare Grenzziehung zwischen Feststellungsund Gestaltungsurteilen beachtet. Das Gestaltungsurteil führt eine Rechtsänderung herbei. So ist das der Ehelichkeitsanfechtungsklage entsprechende Urteil ein Gestaltungsurteil ungeachtet der mehrdeutigen Formulierung in § 1593 BGB, es könne die Nichtehelichkeit des Kindes nur geltend gemacht werden, „wenn die Ehelichkeit angefochten und die Nichtehelichkeit rechtskräftig festgestellt ist". Denn das Urteil beseitigt den Status der Ehelichkeit des Kindes rückwirkend und setzt den der Nichtehelichkeit an seine Stelle mit der Folge, daß die Rechte und Pflichten aus dem Ehelichkeitsstatus wie namentlich die Unterhaltspflicht rückgreifend auf den Geburtszeitpunkt erlöschen 19. Man mag hier 17 Vgl. die Rechtsprechungsnachweise oben in Fn. 5. 18 So das von Lent, a.a.O. (Fn. 16) jeweils bevorzugte Musterbeispiel; zur möglichen Parallelproblematik bei rechtsgeschäftlicher Testamentsanfechtung nach §§ 2078 ff. BGB, s. BGH, NJW 1985, 3068 ff. 19 Zum Wesen der Ehelishkeitsanfechtung als Gestaltungsklage s. Gaul, FamRZ

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zwar von „Gestaltungsurteilen in der Form von Feststellungsurteilen" sprechen20, doch ändert dies nicht das geringste an der wahren Sachnatur des Ehelichkeitsanfechtungsurteils als echtes Gestaltungsurteil 21 . Umgekehrt ist das Urteil auf Feststellung der nichtehelichen Vaterschaft — entgegen der Floskel des Reichsgerichts von der „gewissen rechtsgestaltenden Wirkung"22— ein reines Feststellungsurteil. Die Ansicht des Reichsgerichts, auch das feststellende Statusurteil greife kraft der ihm gesetzlich beigelegten „Wirkung für und gegen alle" (vgl. heute §§ 640 h, 641 k ZPO) „unmittelbar in die sachliche Ordnung der Gemeinschaftsverhältnisse ein" und äußere „eine gewisse rechtsgestaltende Wirkung insofern, als durch sie ein Zustand der Ungewißheit ... durch eine von niemandem mehr angreifbare Gewißheit abgelöst" werde23, konnte nicht überzeugen. Sie charakterisierte im Grunde nur die Rechtskraftwirkung inter omnes, denn die so umschriebene reine Klarstellungsfunktion kommt jedem Urteil im Rahmen der subjektiven Grenzen seiner Rechtskraft zu, indem es grundsätzlich zwischen den Parteien (§ 325 I ZPO) und ausnahmsweise darüber hinaus für und gegen alle „Rechtsgewißheit schafft" 24 . Die für Statusurteile angeordnete Erweiterung der subjektiven Grenzen der Rechtskraft gestattet aber nicht den Schluß auf eine sachlich intensivere, auf eine „stärkere Wirkung der Entscheidung im Statusverfahren" 25 . Das Reichsgericht verfiel eigens auf

1963, 630 ff. ; ferner Soergel-Gaul, K o m m e n t a r zum BGB, 12. Aufl. (1987), § 1593 Rz. 4,33 f,; jetzt auch Münchener Kommentar-Mutschier,BGB 3. Aufl. (1992), § 1593 Rz. 3 in Klarstellung seines früher nicht eindeutigen S t a n d p u n k t s ; RosenbergSchwab-Gottwald, Ziviprozeßrecht, 15. Aufl. (1993), § 94 II 2 ; Stein-Jonas-Schlosser, K o m m e n t a r zur ZPO, 21. Aufl. (1993), § 640 Rz. 19 ; — ebenso BGHZ 61,186,189; BGHZ 83, 391, 394 („Gestaltungsurteil") ; zuletzt BGH, FamRZ 1994, 694, 695 = NJW 1994, 2697, 2698. 20 So Schlosser, Gestaltungsklagen und Gestaltungsurteile (1966), S.23. 21 Dies selbst im Sinne der Terminologie von Lüke JuS 1969, 301, 305 f., der darunter „Gestaltungsklagen über materielle Rechtsverhältnisse" versteht, Uber die die Parteien „nicht disponieren k ö n n e n " ; ähnliches meinte schon A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, 1. Aufl. (1963), §38 I 2 mit „Gestaltungsklagen, die der Privatautonomie verschlossen sind" ; s. dazu Gaul,a.a.O. (Fn. 19), S. 633 f - ; — gegen die Unterscheidung Lakes zwischen „echten" und „unechten" Gestaltungsklagen als „verwirrend" Schlosser, Zivilprozeßrecht I, 2. Aufl. (1991), Rz. 204, doch ist auch seine eigene Terminologie „Gestaltungsurteil in Form des Feststellungsurteils" nicht unbedenklich. 22 Vgl. oben zu Fn. 11 f. 23 RGZ 169, 129, 131. 24 So deutlich BGHZ 93, 287, 289 mit weiteren Nachweisen. 25 Vgl. Gaul, Grundlagen a.a.O. (Fn. 12), S.174 ff., 178 f f . ; ders., FamRZ 1959, 334, 335

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jene Konstruktion, um den Zwiespalt zwischen Unterhalts- und Abstammungsurteil aus der Welt zu schaffen. Spätestens seit dessen Beseitigung durch das Nichtehelichengesetz 1970 hat sie ihre Bedeutung verloren26. Seit dem Nichtehelichengesetz 1970 wird aber mit anderer Begründung das Vaterschaftsfeststellungsurteil als Gestaltungsurteil qualifiziert27, indessen zu Unrecht28. Daß nach § 1600 a S. 2 BGB die Rechtswirkungen der Vaterschaft erst vom Zeitpunkt ihrer Feststellung an geltend gemacht werden können, macht das Feststellungsurteil nicht zu einem Gestaltungsurteil. Denn das Rechtsverhältnis der nichtehelichen Vaterschaft wird nicht erst durch das Urteil „begründet", sondern besteht gemäß der das Verwandtschaftsverhältnis konstituierenden Grundnorm des § 1589 BGB bereits ab der Geburt29 und bedarf lediglich der gerichtlichen Klarstellung, falls die Vaterschaftsanerkennung unterbleibt (§ 1600 η I

ff. 26 Es kann auch nicht mehr auf die namentlich von Schwab, a.a.O. (Fn. 16), S.275 f. als Präjudiz ins Spiel gebrachte Entscheidung RGZ 122, 24, 26 f. zurückgegriffen werden, die bereits davon ausging, d a ß das „im Familienstandsprozeß ergangene Urteil" wegen seiner ihm g e m ä ß § 643 ZPO a.F. beigelegten „Wirkung f ü r und gegen alle" eine im „öffentlichen Interesse" begründete s t ä r k e r e Wirkung gegenüber einem Leistungsurteil äußere. Denn es handelte sich schon d a m a l s um eine Fehlentscheidung, weil sie in Verkennung der konstitutiven Bedeutung der Ehelicherklärung eine Klage der Mutter auf Kindesherausgabe zuließ, s. dagegen schon kritisch Gaul, F a m R Z 1959, 336 f. Heute verhindert § 1735 S. 2 BGB die Möglichkeit eines Kindesherausgabeverlangens der Mutter nach § 1632 III S. 2 BGB, § 33 FGG vor Beseitigung der Ehelichkeitserklärung, vgl. Soergel-Gaul, a.a. O. (Fn. 19), § 1593 Rz. 13 bis 15. 27 So schon vor der Neuregelung Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.56 (anders aber a.a.O., S.25 Anm. 25) ; ferner Brüggemann, FamRZ 1979, 381, 383 ; Münchener Kommentar /Coester- Waltjen, ZPO (1992), § 640 Rz 19 ; richtig aber Gemhuber/CoesterWaltjen, Lehrbuch des Familienrechts, 4. Aufl. (1994), § 52 I 2 : „Die Vaterschaftsfeststellug ist ein Akt, der den S t a t u s des Kindes präzisiert, weil er zuordnet. Dieser A k t verändert aber nicht den Status des nichtehelichen Kindes". — Stein-JonasSchlosser, a.a.O (Fn. 19),§ 640 Rz. 9 Anm. 19, wird der h.M. nicht gerecht, wenn er meint, sie gehe, „ohne es ausdrücklich zu sagen, wohl von einer Feststellungsklage aus" ; vgl. demgegenüber die Nachweise in Fn.28. 28 Eindeutig f ü r Feststellungsurteil: Soergel-Gaul,a.a.O.(Fn. 19),§1600 a Rz. 5 ; §1600 η Rz. 4; Münchener Kommentar-Mutschier, a.a.O. (Fn.19), § 1600 η Rz. 1; RosenbergSchwab-Gottwald, a.a.O. (Fn. 19), § 169 III 1 ; ebenso die h.M. 29 Vgl. Gaul, Die pater-est-Regel der §§ 1591, 1592 BGB in ihrer herkömmlichen Bedeutung und in der Reformdiskussion, Festschrift f ü r Gernhuber (1993), S.619 gegen Holzhauer, F a m R Z 1982, 109 f., der die Bedeutung des § 1589 BGB übersieht, der nach Streichung des § 1589 II BGB a.F. („Ein uneheliches Kind und dessen V a t e r gelten als nicht verwandt") das Vaterschaftsverhältnis jetzt auch f ü r das nichteheliche Kind begründet.

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BGB)30. Auch können gemäß dem ausdrücklichen Vorbehalt in § 1600 a S. 2 BGB („soweit sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt") eine Reihe von Rechtsfolgen der Vaterschaft schon vor der rechtskräftigen Feststellung geltend gemacht werden wie z.B. die Zahlung von Unterhalt aufgrund einer einstweiligen Verfügung (§ 1615 ο BGB) oder einstweiligen Anordnung im Feststellungsprozeß (§ 641 d ZPO). Allerdings kann der Unterhalt vor der Statusfeststellung nicht durch isolierte Klage geltend gemacht werden (§ 642 ZPO), weil der Gesetzgeber mit § 1600 a S. 2 BGB gerade den früheren Zwiespalt zwischen Unterhalts- und Abstammungsurteil im neuen Recht vermeiden wollte. Die Regel des § 1600 a S. 2 BGB hindert also nicht die Entstehung der schon durch Abstammung und Geburt begründeten Verwandtschaft zum Vater (§ 1589 BGB), sondern suspendiert nur die Ausübung der sich daraus ergebenden Rechte regelmäßig bis zur rechtskräftigen Feststellung der Vaterschaft 31 . Der Natur als Feststellungsurteil steht auch nicht entgegen, daß das Vaterschaftsfeststellungsurteil das Rechtsverhältnis zugleich rückwirkend ab Geburt feststellt, denn die rechtskräftige Feststellung i.S. des § 256 ZPO kann sich durchaus auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines (fortwirkenden) Rechtsverhältnisses zugleich „für die Vergangenheit" beziehen32, soweit dieses nämlich notwendigerweise auf einen früheren Entstehungszeitpunkt wie hier den der Geburt zurückweist. Das hängt mit der Natur des festzustellenden Rechtsverhältnisses zusammen. Bildet dieses nämlich wie das Rechtsverhältnis der nichtehelichen Vaterschaft eine Einheit, so muß dieser einheitliche Lebenssachverhalt auch unter Rechtskraftgesichtspunkten einheitlich beurteilt werden33. Die Reich30 Zum Verhältnis von Vaterschaftsfeststellung und Vaterschaftsanerkennung s. Soergel-Gaul, a.a.O. (Fn. 19), Rz. 4 und 5 vor § 1600 a. 31 Richtig insoweit auch Gernhuber / Coester-Waltjen, a.a.O. (Fn. 25), § 52 I 5: „Die Sperre des § 1600 a S. 2 BGB ist keine Rechtswirkungssperre, sondern allein Rechtsausübungssperre mit dem Ziel klarer Personenstandsverhältnisse". 32 Vgl .Gaul, FamRZ 1959, 334, 340 im Anschluß an Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts (noch 9. Aufl., 1961), § 150 II 1 und III 2 a.E.: Die Frage, inwieweit ein „Rechtsverhältnis auch für die Vergangenheit festgestellt sei", ist eine Auslegungsfrage und die Entscheidung über die „Entstehung einer Rechtsfolge, die keine tatsächliche ist, erwächst dann auch in Rechtskraft" (Hervorhebung im Original!). 33 So jetzt auch Hackspiel, NJW 1986, 1148, 1158: „Die Rechtskraft reicht so weit in die Vergangenheit, wie der Lebenssachverhalt, der zu beurteilen war, in seinen entscheidungserheblichen Punkten unverändert geblieben ist". S. ferner Münchener Kommentar-Gottwald, ZPO (1992), § 322 Rz. 127 m.w.Nachw. — Bei Feststel-

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weite der Rechtskraft in die Vergangenheit ist also keineswegs ungewöhnlich, sondern für das Statusfeststellungsurteil geradezu typisch. Da das Vaterschaftsfeststellungsurteil kein Gestaltungsurteil ist, kann es zu der eingangs geschilderten Konfliktslage hier nicht kommen. Der andersartige Konflikt zwischen Leistungsurteil und Feststellungsurteil ist nur wegen der insoweit bis zum Inkrafttreten des Nichtehelichengesetzes 1970 geführten lebhaften Diskussion als Parallele von Interesse. Da das nichteheliche Kind heute ein Unterhaltsurteil wegen der notwendigen Vorschaltung der Statusfeststellung oder des Entscheidungsverbunds (§§ 642, 643 ZPO) nur noch nach allgemeinverbindlicher Vaterschaftsfeststellung erhält (§ 1600 a S. 2 BGB), hat das Parallelproblem des Zwiespalts zwischen Unterhalts- und Abstammungsurteil an Aktualität verloren. Gleichwohl behält die dazu geführte wissenschaftliche Diskussion ihre Bedeutung, soweit sie grenzübergreifend den Konflikt zwischen Leistungs- und Gestaltungsurteil einbezog.

III. Automatische

Entkräftung

das rückwirkende

des Leistungsurteils

durch

Gestaltungsurteil?

Wie zuvor dargelegt, ging das Reichsgericht davon aus, daß selbst ein Statusurteil infolge seiner „Wirkung für und gegen alle" in der Lage sei, ein früheres Leistungsurteil „außer Kraft zu setzen". Die Gleichsetzung mit dem Gestaltungsurteil der Ehelichkeitsanfechtung hat sich zwar als verfehlt erwiesen. Zu selbstverständlich wurde aber bisher vom BGH34 und einem Teil der Lehre die Prämisse des Reichsgerichts hingenommen, daß ein echtes Gestaltungsurteil einem früheren Leistungsurteil ohne weiteres die Wirksamkeit nehmen könne. Auch ließe sich leicht umgekehrt aus der RG-Entscheidungf olgern, wennschon ein Statusfeststellungsurteil die Wirkungen eines früheren Unterhaltsurteils beseitigen könne, dann müsse ein echtes Gestaltungsurteil diese Rechtsfolge erst recht auslösen können35. lungsurteilen muß das noch eher einleuchten als bei Leistungsurteilen wegen des Bedenkens, daß die Entscheidungsgründe nicht in Rechtskraft erwachsen (vgl. § 322 I ZPO). 34 Vgl. BGH, jeweils a.a.O. (o. Fn.15). 35 So formuliert die Ausgangsfrage Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.256 unabhängig vom ausdrücklichen Analogieschluß des Reichsgerichts.

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Von Schlosser36 wurde aber überdies eine Analogie zu § 644 ZPO in der Fassung des Familienrechtsänderungsgesetzes von 1961 erwogen. Mit dieser Vorschrift sollte für die Zeit vom 1.1.1962 bis zum Inkrafttreten des Nichtehelichengesetzes am 30-7-1970 eine „Interimsregelung" für den Zwiespalt zwischen Unterhalts- und Abstammungsurteil bis zur endgültigen Beseitigung der Zweigleisigkeit im Kindschaftsverfahren getroffen werden37. Die Vorschrift des § 644 I ZPO ordnete für die Übergangszeit an, daß „ein Urteil, durch das der Mann zur Zahlung von Unterhalt an das Kind verurteilt ist, vom Zeitpunkt der Rechtskraft des (negativen) Feststellungsurteils an seine Wirkung verliert". Für den Fall des positiven Vaterschaftsfeststellungsurteils sah § 644 II ZPO vor, daß „das Kind Unterhaltsansprüche gegen den Mann für die Zeit von der Rechtshängigkeit dieser Streitsache an auch dann geltend machen (kann), wenn eine Unterhaltsklage des Kindes rechtskräftig abgewiesen ist". Mit § 644 ZPO folgte also das Gesetz übergangsweise der RG-Lösung insoweit, als das Unterhaltsurteil durch das spätere Statusurteil automatisch seine Wirksamkeit verlor, nur mit dem Unterschied, daß der Wirkungsverlust grundsätzlich erst für die Zukunft eintreten sollte. Begründet wurde das damit, daß die gegenteilige Abstammungsfeststellung nur die Weitervollstreckung aus dem alten Unterhaltsurteil bzw. im umgekehrten Falle die Versagung der Inanspruchnahme des jetzt als Vater Festgestellten für die Zukunft „grob unbillig" erscheinen lasse, nicht dagegen in gleichem Maße die Versagung der Rückabwicklung 38 . Damit näherte sich die Übergangsregel des § 644 ZPO der damals namentlich von Rosenberg favorisierten Lösung an, der allerdings in dem Statusurteil eine nach Verhandlungsschluß des Unterhaltsprozesses entstandene „neue Tatsache" erblickte und deshalb zur Beseitigung der Vollstreckungswirkung des Unterhaltsurteils eine Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO für erforderlich hielt39. 36 Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.256 ff. 37 Vgl. dazu Gaul, Festschrift Bosch, a.a.O. (Fn. 10), S.246 f. m. Nachw. 38 Vgl. dazu bereits kritisch zum Entwurf des § 644 ZPO Gaul, FamRZ 1959, 431, 439 f. sowie zum eingeführten § 644 ZPO in F a m R Z 1963, 208, 214 ff. 39 Rosenberg, a.a.O. (Fn. 14) und zuletzt noch in 9- Aufl. (1961), § 162 I 1 d ; ebenso insbesondere Jauernig, N J W 1957,1391 f . ; — dagegen ausdrücklich BGH, a.a.O. (Fn. 14) ; in der T a t kann ein reines Feststellungsurteil ohne gestaltende Einwirkung auf die materielle Rechtslage i.S. des § 767 I ZPO keine „Einwendung" begründen, „die den durch das Urteil festgestellten Anspruch selbst betrifft", s. Gaul, F a m R Z 1959, 334, 340 ; ebenso Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.257.

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In der Tat wich die Übergangsregel des § 644 ZPO mit der Anordnung der nachträglichen Wirkungslosigkeit des bisher rechtskräftigen Unterhaltsurteils ipsa lege von allen damals gemachten Reformvorschlägen ab, die vornehmlich auf die Schaffung eines neuen Wiederaufnahmegrundes zielten, den schließlich das Nichtehelichengesetz anstelle der Ubergangsregel des § 644 ZPO in Gestalt des Restitutionsgrundes der Vorlage eines neuen Vaterschaftsgutachtens in § 641 i ZPO einführte. Damit knüpft das geltende Recht also nicht mehr an das widersprechende Statusurteil, sondern an das widersprechende Abstammungsgutachten an40. Demgegenüber verzichtete die Kollisionsregel des § 644 ZPO systemwidrig auf jeden Rechtsbehelf zur Geltendmachung der Wirkungslosigkeit des Unterhaltsurteils und mutete den Vollstreckungsorganen ohne Vorschaltung einer Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO ohne weiteres die Beachtung des Erlöschens der Vollstreckbarkeit und die Einstellung der Zwangsvollstreckung nach §§ 775, 776 ZPO zu41. Auch stellte jene Regel Mann und Kind willkürlich ungleich, indem aus dem Unterhaltsurteil gegen den Mann gemäß § 644 I ZPO noch bis zur Rechtskraft des Statusurteils vollstreckt werden konnte, das zuvor mit der Unterhaltsklage abgewiesene Kind aber gemäß § 644 II ZPO bereits ab Rechtshängigkeit des Statusverfahrens seinen Unterhalt einfordern konnte. Um dem Kind aber dennoch eine rückwirkende Inanspruchnahme des wahren Vaters ab Geburt zu ermöglichen, umging der BGH im Urteil vom 30-9.196942 die Regel des § 644 ZPO und sprach dem Kind in Durchbrechung der Rechtskraft des Unterhaltsuteiis wegen des entgangenen Unterhalts eine Schadensersatzklage aus § 826 BGB zu. Die Regel wurde also bereits während der Zeit ihrer kurzfristigen Geltung als ungenügend empfunden. Aus der von vornherein nur als pragmatische „Notlösung"43 bis zur Beseitigung der Zweigleisigkeit des Nichtehelichenverfahrens gedachten Interimsregelung des § 644 ZPO lassen sich keine allgemeingültigen 40 Zur Entwicklung, die zur Einführung des § 641 i ZPO geführt hat, s. Gaul, Festschrift Bosch, a.a.O. (Fn. 10), S.245 ff. 41 Dazu schon kritisch zum Entwurf des § 644 ZPO Gaul, F a m R Z 1959, 334, 340 f. und F a m R Z 1959, 431, 440 ; ebenso Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.257 ; Dieckmann J u S 1969, 101,108.

42 BGH, FamRZ 1969, 644 ff. m. abl. Anm. Bosch; kritisch auch Gaul, Festschrift Bosch a.a.O.(Fn. 10), S.246 f . ; ferner Braun, R e c h t s k r a f t und Restitution, 1. Teil (1979), S.115 f. 43 Vgl. B T - D r u c k s . III 530, S. 26 ff. und dazu Schwarzhaupt, FamRZ 1962, 49, 51; weitere Nachweise in F a m R Z 1963, 215.

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Schlüsse für die Behandlung des Konflikts zwischen Leistungs- und Gestaltungsurteil im geltenden Recht gewinnen. Mit Recht sprach deshalb Schlosser der Vorschrift angesichts ihrer „einzigartigen Singularität in unserer Rechtsordnung" die Bedeutung einer Analogiebasis ab44. Aus heutiger Sicht kann sie nur als legislatorischer Fehlgriff, als einmalige Episode ohne erkennbare Leitlinie für eine systemgerechte Konfliktslösung bezeichnet werden. Die Auswirkung eines rückwirkenden Gestaltungsurteils auf ein vorausgegangenes Leistungsurteil ist also originär aus der geltenden Rechtsordnung und ohne Anlehnung an vermeintliche Vorbilder zu bestimmen. Die Behandlung des Zwiespalts zwischen Unterhalts- und Statusfeststellungsurteil kann dafür schon deshalb nicht vorbildlich sein, weil das Reichsgericht und seine Anhänger gerade umgekehrt sich auf eine Analogie zur Ehelichkeitsanfechtung berufen haben. Deshalb hat die Lösung exemplarisch bei der Ehelichkeitsanfechtung selbst anzusetzen. Auf das Ehelichkeitsanfechtungsurteil trifft die Aussage des Reichsgerichts zu, daß es als Gestaltungsurteil auf „bestehende sachlichrechtliche Verhältnisse unmittelbar rechtsgestaltend ändernd" einwirkt 45 . Damit ist das Gestaltungsurteil aber noch keineswegs in der Lage, ein früheres Leistungsurteil von selbst „außer Kraft zu setzen". Denn unser Prozeßrechtssystem kennt eine derartige Urteilswirkung, die geeignet wäre, ohne kassatorischen Aktbezug im Urteilstenor ein vorausgegangenes Urteil ungeachtet seines formell rechtskräftigen Bestandes automatisch in seinen Wirkungen zu entkräften, also aus einem anfänglich voll wirksamen ein nachträglich wirkungsloses Urteil zu machen, schlechterdings nicht46. Dazu bedarf es vielmehr, wie namentlich das Institut der Nichtigkeitsklage gemäß § 579 ZPO erkennen läßt, der Urteilsanfechtung und -aufhebung im Wege eines besonderen prozessualen Rechtsbehelfs, nämlich einer sog. prozessualen Gestaltungsklage. Das nur auf die materielle Rechtslage ändernd einwirkende materiellrechtliche Gestaltungsurteil kann eine derartige prozessuale Außerkraftsetzung des früheren Unterhaltsurteils nicht bewirken und schon gar nicht auf jenes Urteil ipso iure eine rescindierende oder derogierende Kraft äußern. Nur zwei Lösungsmöglichkeiten sind denkbar :

44 Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.256 ; ebenso Dieckmann, a.a.O. (Fn. 41), S.108. 45 RGZ 169, 131. 46 Vgl Gaul, Grundlagen, a.a.O. (Fn. 12), S.174.

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Folgt man der Vorstellung des Reichsgerichts, daß durch das Statusurteil „dem Urteil im Unterhaltsstreit mit rückwirkender Kraft die Grundlage entzogen" wird, so läßt sich das Verhältnis zwischen Unterhaltsund nachfolgendem Ehelichkeitsanfechtungsurteil folgendermaßen sehen: Durch die an das Ehelichkeitsanfechtungsurteil geknüpfte materielle Gestaltungswirkung wird das im Unterhaltsprozeß zugrunde liegende Statusverhältnis rückwirkend geändert; der daraus fließende Unterhaltsanspruch erlischt somit mit rückwirkender Kraft. Die Lage ist nun die gleiche, als hätte das Ehelichkeitsverhältnis bereits im Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung im Unterhaltsprozeß nicht bestanden. Das Urteil, das gleichwohl den Unterhaltsanspruch zuerkannt hat, ist damit ebenso unrichtig wie jedes Urteil, das einen nicht bestehenden Anspruch zuspricht. Das berührt aber weder die Rechtskraft noch die Vollstrekungswirkung des Urteils. Zur Beseitigung eines unrichtigen rechtskräftigen Urteils gibt es nur den Weg der Wiederaufnahmeklage. Nur durch das so erwirkte prozessuale Gestaltungsurteil läßt sich das Urteil mit allen seinen Wirkungen rückwirkend „außer Kraft setzen" ; ein bloß materiell rückwirkendes Gestaltungsurteil vermag dies niemals47. Das setzt allerdings voraus, daß das Ehelichkeitsanfechtungsurteil selbst oder die in seinem Verhältnis zum Unterhaltsurteil begründeten Umstände einen Restitutionsgrund i.S. des § 580 ZPO bilden. Die zweite Möglichkeit ist die, daß man nicht auf die Gestaltungslage abstellt, auf die die materielle Rechtsordnung die rechtsgestaltende Wirkung des Ehelichkeitsanfechtungsurteils zurückbezieht, d.h. auf den Zeitpunkt der nunmehr als nichtehelich zu beurteilenden Geburt des Kindes als rechtshindernde Einwendung im Unterhaltsprozeß, sondern auf den nach dem damaligen Verhandlungsschluß hinzugetretenen neuen Tatbestand des Ehelichkeitsanfechtungsurteils und damit auf den richterlichen Gestaltungsakt. Dann bildet das Ehelichkeitsanfechtungsurteil — so wie es das Reichsgericht für das Patentnichtigkeitsurteil im Verhältnis zum Patentverletzungsurteil entschieden haf8— eine den festgestellten Anspruch rechtsvernichtend betreffende „neue Tatsache", die „erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung" im Unterhaltsprozeß „entstanden" ist und mithin die Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO begründet49. Das läßt aber wiederum die Rechtskraft des Unterhalts47 Deshalb ist a.O. (Fn. 15) 48 S. RGZ 48, 49 Von dieser

der Ausgangspunkt des RG a.a.O. (Fn. 11) und selbst der des BGH a. nicht haltbar. 386 und dazu oben zu Fn. 4 f. Möglichkeit ausgehend auch BGH, NJW 1956, 669, wenn statt des

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urteils völlig unberührt, da sich die rechtskräftige Feststellung des Unterhaltsurteils nur auf die bis zum Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung vorliegende Sachlage bezog. Demgemäß beseitigt die Vollstreckungsgegenklage auch nur die Vollstreckbarkeit des Urteils50. Da weder die Rechtskraft der Geltendmachung einer nachträglichen Rechtsänderung — sei es durch Vollstreckungsgegenklage, sei es durch neue Klage — entgegensteht, noch letztere der rechtskräftigen Feststellung im Unterhaltsurteil widerspricht, wird dieses also auch unter diesem Blickwinkel nicht „außer Kraft gesetzt", seine „Rechtskraft" nicht „beseitigt". Ergibt sich also, daß das geltende Recht eine automatische „Außerkraftsetzung" des Leistungsurteils durch ein nachfolgendes rückwirkendes Gestaltungsurteil ausschließt, so bleiben nur die bezeichneten Möglichkeiten, entweder das rechtskräftige Leistungsurteil im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens zu beseitigen oder ihm wenigstens im Wege der Vollstreckungsgegenklage die Vollstreckbarkeit zu nehmen.

IV. Der Weg der

Restitutionsklage

Der Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens scheint zunächst deshalb näher zu liegen, weil er — entsprechend der materiellen Rückwirkung des Gestaltungsurteils — ebenso zu einer prozessual rückwirkenden Beseitigung des rechtskräftigen Leistungsurteils infolge der rückwirkenden Kraft des iudicium rescindens führt51. Dieser Weg ist jedoch nur mög-

Statusfeststellungsurteils ein Ehelichkeitsanfechtungsurteil ergangen wäre, vgl. oben zu Fn. 14. 50 Vgl Rosenberg-Gaul-Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, 10. Aufl. (1987), § 40 II 1. 51 So die bisher allgemeine Meinung ; s. insbes. BGHZ 1, 153, 156 ; BGHZ 18, 350, 357 ff.; Gaul,Grundlagen, a.a.O.(Fn. 12), S.108 f.; Gilles, ZZP 78 (1966), S. 466 f.; Rosenberg - Schwab - Gollwald, a.a.O. (Fn. 19), § 159 II 1; Stein-,Jonas-Grunsky, ZPO, 21. Aufl. Rz. 28 vor § 578 und § 590 Rz. 13 ; — a.A. nur Braun, Rechtskraft und Restitution, 2. Teil (1985), S. 325 ff. und 404 f.; ders. in Münchener Kommentar, ZPO (1992), § 580 Rz. 39 und Rz. 68 aufgrund „systematischer Korrektur" für die von ihm als „Ergebnisfehlerrestitution" bezeichneten Tatbestände der §§ 580 Nr. 7 b, 641 i ZPO sowie des § 580 Nr. 6 ZPO, während nur die „Verfahrensfehlerrestitution" zur Rückwirkung führen soll. — Gegen diese Konzeption Gaul, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtskraftdurchbrechung (1986), S. 32, 43 f.

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lieh, wenn durch das Hinzutreten des rückwirkenden Gestaltungsurteils ein Restitutionsgrund i.S. des § 580 ZPO eingreift. l. Der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 7 a ZPO paßt nicht, weil er die umgekehrte Lage eines Geltungskonflikts zweier Urteile regelt, nämlich den sog. Rechtskraftkonflikt. Danach kann die Partei aufgrund eines „in derselben Sache erlassenen, früher rechtskräftig gewordenen Urteils" die Beseitigung des späteren Urteils betreiben, das unter Verstoß gegen die Rechtskraft des früheren Urteils zustande gekommen ist. Die Restitutionsklage dient hier dazu, den unumstößlichen Vorrang des früheren Urteils durch aktmäßige Beseitigung des contra rem iudicatam ergangenen späteren Urteils klarstellend zur Geltung zu bringen52. Dagegen soll vorliegend dem rückwirkenden Gestaltungsurteil umgekehrt noch nachträglich Geltung gegenüber dem früher rechtskräftig gewordenen Leistungsurteil verschafft werden, weil es diesem die materiellrechtliche Grundlage entzogen hat, ohne zu ihm in einen unmittelbaren urteilsmäßigen Geltungskonflikt zu treten. Die jeweiligen Urteilswirkungen kollidieren nämlich deshalb nicht miteinander, weil sie verschiedene Streitgegenstände betreffen. Zwar weisen im Falle der nachträglichen Ehelichkeitsanfechtung beide Urteile eine inhaltliche Unvereinbarkeit insofern auf, als sich beide mit dem Rechtsverhältnis der ehelichen Abstammung befassen. Im Unterhaltsurteil geschieht dies jedoch nur als Vorfrage des allein in den Grenzen des § 322 I ZPO zuerkannten Unterhaltsanspruchs, während es nur im Ehelichkeitanfechtungsurteil den unmittelbaren Gegenstand der Entscheidung bildet. Da demnach weder das Unterhaltsuteil einen rechtskraftfähigen Ausspruch Uber das Statusverhältnis der ehelichen Kindschaft, noch das Ehelichkeitsanfechtungsurteil einen solchen Uber den bereits früher judizierten Unterhaltsanspruch enthält, steht ein echter sog. Rechtskraftkonflikt nicht in Frage53. Bei dieser zeitlichen Aufeinanderfolge muß auch der Gedanke der Präjudizialität notwendig versagen, weil eine Vorgreiflichkeit eines nachfolgenden Statusurteils für ein vorausgegangenes Leistungsurteil ein 52 Zur Bedeutung des § 580 Nr. 7 a ZPO s. näher Gaul, Festschrift f ü r F. Weber (1975), S.155, 158f., 166 ff. mit weit. N a c h w . ; ebenso die jetzt h.M.; s. auch BGH, N J W 1981, 1517, 1518; BAG, 1986, 1831, 1832. 53 Wenn RGZ 169, 131 in bezug auf den Zwiespalt zwischen Unterhalts- und Abstammungsurteil von einem „Widerstreit der beiden rechtskräftigen Urteile" sprach, der wegen seiner „stärkeren W i r k u n g nur zugunsten des Statusurteils gelöst werden" könne, so ging es unzutreffend von einer Art „ R e c h t s k r a f t k o n f l i k t " aus.

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Widersinn wäre. Nur wenn zunächst das Ehelichkeitsanfechtungsurteil und sodann unter Mißachtung seiner Vorgreiflichkeit ein widersprechendes Unterhaltsurteil ergangen wäre, läge ein Geltungskonflikt i.S. des § 580 Nr. 7 a ZPO vor54. Hier steht aber nicht Urteilsausspruch gegen Urteilsausspruch, sondern es stehen nur beide Urteile inhaltlich unvereinbar nebeneinander, weil das rückwirkende Gestaltungsurteil dem Leistungsurteil auf der materiellrechtlichen Ebene die Grundlage entzieht. Dieser Fall wird ersichtlich weder in den Voraussetzungen noch in der Rechtsfolge, die gerade umgekehrt auf die Beseitigung des späteren Urteils zielt, von § 580 Nr. 7 a ZPO erfaßt. 2. Als weiterer Restitutionsgrund ist § 580 Nr. 6 ZPO in Betracht zu ziehen. Danach findet die Restitutionsklage statt, wenn das Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines Verwaltungsgerichts oder eines anderen Gerichtsbarkeitszweigs 55 , auf welches das Endurteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben wird. Dabei ist es gleichgültig, ob das Endurteil infolge der Bindungswirkung oder — wie im ursprünglichen Hauptanwendungsfall der späteren Aufhebung eines zugrunde gelegten Strafurteils — der Beweiswirkung des früheren Urteils auf dieses „gegründet" ist. Hier ist die Restitution geboten, weil sich das rechtskräftige Endurteil infolge der nachträglichen Aufhebung der zugrunde gelegten Vorentscheidung im Lichte der rechtskräftigen Aufhebungsentscheidung als evident falsch erweist 56 . Die Besonderheit dieses Restitutionsgrundes besteht darin, daß hier nicht nur zwei, sondern sogar drei Urteile im Spiele sind, deren Kollision es aufzulösen gilt. Namentlich Schlosser57 sieht in der „analogen Anwendung von § 580 Nr. 6 ZPO" die allgemeingültige Lösung für den Konflikt zwischen rückwirkendem Gestaltungsurteil und vorausgegangenem Leistungsurteil. Er räumt zwar ein, daß das Leistungsurteil hier nicht — wie von § 580

54 Über seinen W o r t l a u t („in derselben Sache") hinaus gilt § 580 Nr. 7 a ZPO auch in Fällen der Präjudizialität, so jetzt allgemeine Meinung, s. nur Rosenberg-Schwab -Gottwald, a.a.O. (Fn. 19), § 160 II 3 c ; so jetzt auch Stein-,Jonas-Grunsky, a.a.O. (Fn. 51), § 580 Rz. 24 (anders Vorauflage Rz. 22, in der noch Anwendung des §580 Nr. 6 ZPO befürwortet wurde). 55 Über den W o r t l a u t des §580 Nr. 6 ZPO hinaus werden also auch Urteile der Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit sowie die Entscheidungen eines besonderen Gerichts innerhalb der ordentlichen streitigen wie der freiwilligen Gerichtsbarkeit erfaßt, jetzt ganz h.M.; vgl. Gaul, Grundlagen, a.a.O. (Fn. 12), S.197f.; ebenso BGH Ζ 89, 114, 116 ff. = N J W 1984, 438, 439. 56 Vgl .Gaul, Grundlagen, a.a.O. (Fn. 12), S.78 ff., 195ff. 57 Schlosser, a.a.O. (Fn. 20) ,S. 259f.; offenlassend Dieckmann, a.a.O. (Fn. 41), S.108.

Der Einfluß rückwirkender Gestaltungsurteile auf vorausgegangene Leistungsurteile

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Nr. 6 ZPO vorausgesetzt — seinerseits auf einem präjudiziellen, später aufgehobenen Urteil beruht, sondern nur auf einer „präjudiziellen Rechtsbeziehung", die durch das rückwirkende Gestaltungsurteil vernichtet worden ist. Er hält es aber für „unerheblich", ob die durch das hinzutretende Gestaltungsurteil „rückwirkend falsch gewordene Rechtsgrundlage auf einem Urteil oder sonst einem Staatsakt beruht", nämlich auf einem Akt der Judikative oder der Legislative. Auch „wenn die den ersten Richter bindende Rechtslage ex lege bestand und hinterher durch ein zweites Urteil kraft dessen Gestaltungswirkung beseitigt wurde", müsse § 580 Nr. 6 ZPO eingreifen, weil „die Interessenlage genau gleich" sei. Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden, weil sie den Bogen einer Analogie überspannt. Es ist etwas anderes, ob einem Urteil nachträglich schlicht der Rechtsboden durch ein auf die materielle Rechtslage einwirkendes Gestaltungsurteil entzogen wird oder ob ein dem Urteil bisher als Stütze dienendes vorgreifliches „Urteil durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist", wie es § 580 Nr. 6 ZPO verlangt. Durch die aktmäßige Aufhebung des Basisurteils wird das Endurteil auf der prozessualen Ebene in seiner Richtigkeit erschüttert, und zwar in gezielter Stoßrichtung auf das im Vorprozeß zur Rechtsfindung verwendete Basisurteil. Damit tritt zugleich das Aufhebungsurteil in einen offenbaren Widerspruch zum Endurteil und gebietet die Restitution. Demgegenüber tritt das rückwirkende Gestaltungsurteil beziehungslos zum Leistungsurteil hinzu und läßt dieses inhaltlich unrichtig erscheinen, indem es dem dort zuerkannten Leistungsanspruch durch Vernichtung des ihm zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses die materiellrechtliche Grundlage entzieht. Hier fehlt jede Bezugnahme auf eine im Vorprozeß benutzte Erkenntnisgrundlage. Ein echter aktmäßiger Urteilskonflikt, geschweige denn ein dreiaktiger Konflikt auf der prozessualen Entscheidungsebene, wie ihn § 580 Nr. 6 ZPO voraussetzt, liegt also nicht vor58. Kriterium für eine Analogie zu dieser Vorschrift muß aber bleiben, daß dem mit der Restitutionsklage angegriffenen Endurteil durch „rechtskräftige Aufhebung" eines zugrunde liegenden zumindest urteilsähnlichen Aktes in evidenter Weise die Stützte entzogen wird59. Daran fehlt 58 Neuerdings betont auch BGHZ 103, 121, 125 = N J W 1988, 1914, 1915, d a ß „die Restitutionsklage wegen Fortfalls der Urteilsgrundlage nach § 580 Nr.6 ZPO drei staatliche A k t e voraussetzt". 59 Gaul Grundlagen, a.a.O. (Fn. 12), S.199 ; ebenso BGHZ 89, 118: „Die Vorschrift kann allenfalls auf urteilsähnliche A k t e der Rechtsfindung ausgedehnt werden, zu-

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es, wenn ein Ehelichkeitsanfechtungsurteil das dem zuerkannten Unterhaltsanspruch zugrunde liegende materielle Rechtsverhältnis vernichtet. Anderes könnte indessen im besonderen Falle der rückwirkenden Patentvernichtung gelten, weil das Patent nicht ex lege entsteht, sondern auf einem behördlichen Erteilungsakt beruht60. Zwar hat das Reichsgericht in seinem grundlegenden Urteil vom 4.3.190161 die Anwendbarkeit des § 580 Nr. 6 ZPO mit dem beiläufigen Hinweis abgetan, die Vorschrift sei gar „nicht zu erörtern". Das beruhte aber auf der damaligen positivistischen Haltung, die die Analogiefähigkeit des § 580 ZPO als Ausnahmevorschrift gegenüber dem Rechtskraftprinzip von vornherein leugnete62. Nachdem inzwischen die analoge Anwendbarkeit des § 580 Nr. 6 ZPO auf die rechtskräftige Aufhebung urteilsähnlicher Akte fast allgemein anerkannt ist63, stellt sich das Problem der Einwirkung eines rückwirkenden Patentvernichtungsurteils auf das im Verletzungsprozeß ergangene Urteil neu. Zunächst ist § 580 Nr. 6 ZPO unbedenklich dann anzuwenden, wenn das später durch Nichtigkeitsurteil vernichtete Patent erst auf Beschwerde durch Beschluß des Bundespatentgerichts gemäß § 79 PatG erteilt worden ist64. Denn dann hat über die Patenterteilung ein besonderes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Gestalt des Bundespatentgerichts entschieden und daß die Entscheidung gemäß der Beschwerde in Beschlußform ergangen ist, ist unerheblich, da das Zivilgericht im Partial sie von einer späteren .rechtskräftigen' Aufhebung spricht" ; damit verneint der BGH zutreffend die Ausdehnung des § 580 Nr.6 ZPO auf den Widerruf einer behördlichen Auskunft über Rentenanwartschaften im Versorgungsausgleichsverfahren geschiedener Ehegatten; auch BAG, NJW 1981, 2023, 2024. 60 Auf diese Besonderheit geht Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.259f. nicht ein. 61 RGZ 48, 384, 386 ; s. schon oben zu Fn. 1 und 4. 62 Zur Analogiefähigkeit des § 580 ZPO s. Gaul Grundlagen, a.a.O. (Fn. 12), S.37 ff.; sie wird heute wohl nicht mehr ernsthaft bestritten. 63 Vgl. außer den Nachweisen in Fn. 58 f. statt aller insbes. Stein-Jonas-Grunsky, a. a.O. (Fn. 51), § 580 Rz. 18ff.; — umgekehrt für einschänkende Anwendung des § 580 Nr.6 ZPO allein Braun, a.a.O. (Fn. 51), S.404 ff. und ders. in Münchener Kommentar a.a.O. (Fn. 51), § 580 Rz. 38, der die Vorschrift in sein Konzept der Unterscheidung zwischen „Verfahrensfehler-" und „Ergebnisfehlerrestitution" nur schwer einzuordnen vermag und sie „auf Fälle beschränkt, in denen die aufgehobene Entscheidung formell bindend war", so daß nicht einmal mehr der ursprüngliche Hauptanwendungsfall der Aufhebung eines dem Zivilurteil zugrunde gelegten Strafurteils erfaßt wird. 64 Das BPatG entscheidet gemäß § 79 PatG in der Regel in der Sache selbst und erteilt dann das nachgesuchte Patent anstelle des Patentamts selbst, s. Benkard, PatG, Kommentar, 9. Aufl. (1993), §79 Rz. 21 m.Nachw.

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tentverletzungsprozeß jedenfalls an die Gestaltungswirkung des rechtskraftfähigen Beschlusses gebunden ist. Zweifellos hat hier die Entscheidung über die Patenterteilung die Qualität eines Rechtsprechungsakts, so daß das Kriterium der Urteilsähnlichkeit ohne weiteres erfüllt ist65. Nicht so eindeutig liegt der Normalfall, daß das Patent gemäß § 49 PatG vom Deutschen Patentamt erteilt worden ist. Denn das Patentamt wird als Verwaltungsbehörde tätig und erteilt das Patent durch rechtsgestaltenden Verwaltungsakt. Immerhin kann man aber von einer dem Gericht angenäherten Behörde sprechen, da seine Mitglieder partiell die Befähigung zum Richteramt haben müssen; auch ist sein Verfahren weitgehend justizförmig ausgestaltet66. Mit Recht wird deshalb heute im patentrechtlichen Schrifttum67 und neuerdings zunehmend auch in der Judikatur68 die analoge Anwendung des § 580 Nr. 6 ZPO auch für den Fall befürwortet, daß ein Nichtigkeitsurteil nachträglich ein vom Patentamt erteiltes Patent für nichtig erklärt. Denn im Verletzungsprozeß mußte das Zivilgericht den Erteilungsakt des Patentamts ebenso ohne die Möglichkeit einer Anzweiflung der Schutzfähigkeit des Patents respektieren wie ein entsprechendes gerichtliches Erkenntnis. Sein Urteil ist also auf den behördlichen Erteilungsakt in gleicher Weise „gegründet". Wird das Patent nachträglich vernichtet, so wird die Urteilsgrundlage des im Verletzungsprozeß ergangenen Urteils in ebenso evidenter Weise erschüttert wie durch die Aufhebung eines präjudiziellen Urteils. Die Vernichtung des zugrunde liegenden Patenterteilungsakts ist auch definitiv, weil sie von dem „rechtskräftigen Urteil" auf Patentnichtigkeitsklage ausgeht. Deshalb ist auch hier die analoge Anwendung des § 580 Nr. 6 ZPO gerechtfertigt 69 . 65 S. dazu insbes. schon Horn, GRUR 1969, 169, 174 f. m.Nachw.; für Anwendbarkeit des § 580 Nr. 6 ZPO auf diesen Fall wohl auch die ganz h.M., s. Benkard, a.a.O. (Fn. 64), § 139 Rz. 149 m.Nachw.; — a.A. Schwerdtner, GRUR 1968, 9, 15(weil er die Erteilung des Schutzrechts durch das Patentgericht für unzulässig und sogar für „verfassungswidrig" hält!). 66 Darauf weisen ausdrücklich die Entscheidungen des BGH, GRUR 1966, 583, 585, GRUR 1967, 586, 588 und GRUR 1971, 246, 248 hin ; s. auch Benkard, a.a.O. (Fn. 64), Rz. 9 vor §26 PatG. 67 So Horn, a.a.O. (Fn. 65), S.175 ; von Falck, GRUR 1977, 308, 310 ; Benkard, a.a.O. (Fn. 64),§139 Rz.149 ; — a.A. Schwerdtner, GRUR 1968, 9, 15: nur Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO; wohl auch Völp, GRUR 1984, 486, 489. 68 BPatG Beschluß v.1.2.1980, GRUR 1980, 852 f.; LG Düsseldorf, Urteil v. 24.6.1986, GRUR 1987, 628, 629. 69 Zum für die Analogie maßgeblichen Kriterium s. schon die Nachweise oben zu Fn. 56 und 59.

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Die singulare Lösung, die § 580 Nr. 6 ZPO für Fälle der Patentvernichtung nach dem Verletzungsprozeß bietet, ist indessen nicht verallgemeinerungsfähig. Sie beruht allein auf der Besonderheit, daß das dem Verletzungsurteil zugrunde liegende Schutzrecht auf einen behördlichen Erteilungsakt zurückzuführen ist. Normalerweise entstehen aber die im Leistungsurteil zuerkannten und später durch rückwirkendes Gestaltungsurteil vernichteten Rechte wie z.B. der Anspruch auf Kindesunterhalt ex lege, so daß im Regelfalle der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 6 ZPO versagt. 3. Schließlich ist auf den Restitutionsgrund der Urkundenauffindung gemäß § 580 Nr. 7 b ZPO einzugehen, mit dem sich bereits das Reichsgericht in seinem grundlegenden Urteil vom 4-3-190170 näher befaßt hat. Es hat die Anwendbarkeit der Vorschrift aus zwei Gründen verneint, einmal deshalb, weil das nachträglich ergangene Patentnichtigkeitsurteil keine „Urkunde" sei, „deren Benutzung (schon im früheren Verfahren) möglich gewesen wäre" und zum anderen deshalb, weil die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7 b ZPO nicht dazu benutzt werden dürfe, „um Tatsachen geltend zu machen, die sich erst nach Erlaß des anzufechtenden Urteils ereignet haben". Das fragliche Patent sei aber „erst jetzt vernichtet worden", so daß diese „neue Tatsache, die sich erst nach Zuerkennung des ίUnterlassung-) Anspruchs ereignet und diesen hinfällig gemacht" habe, nur zur Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO berechtige. Die Entscheidung trennt zwar bereits klar zwischen dem Zeitpunkt der Urkundenerrichtung und dem Zeitpunkt der Entstehung der Tatsachen, die durch die Urkunde bewiesen werden sollen. Denn für § 580 Nr. 7 b ZPO kommen nur Urkunden in Betracht, die Tatsachen beweisen, welche vor Schluß der letzten Tatsachenverhandlung entstanden sind, auf die das Urteil gegründet ist. Später entstandene Tatsachen werden durch die Rechtskraft nicht präkludiert und können der Vollstreckung des Urteils noch mit der Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 II ZPO entgegen gehalten werden. Das Reichsgericht konnte aber damals noch nicht berücksichtigen, daß erstmals seit seinem späteren Urteil vom 3-4-193371 auch nachträglich errichtete Urkunden i.S. des § 580 Nr. 7 b ZPO dann als geeignete Urkunden anzuerkennen sind, wenn sie „ihrer Natur nach ... Tatsachen beweisen, die einer zurückliegenden Zeit angehören". Es hat damit eine 70 RGZ 48, 384, 385 f. ; s. schon oben zu Fn. 1 und 4. 71 RG, Η RR 1933 Nr.1621.

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standesamtliche Geburtsurkunde, die liber die Geburt eines Kindes nach rechtskräftigem Abschluß des Scheidungsprozesses errichtet worden war, wegen ihrer rückbezüglichen Beweiskraft zum Nachweis des Ehebruchs des Mannes genügen lassen. Demgemäß sind heute namentlich nachträglich errichtete Personenstandsurkunden, die gemäß §§ 60, 66 PStG mit formeller Beweiskraft ausgestattet sind, in Analogie zu § 580 Nr. 7 b ZPO als geeignete Urkunden anerkannt, soweit sie die „gleiche Beweiskraft" aufweisen wie ursprünglich errichtete Urkunden72. Da auch die erfolgreiche Ehelichkeitsanfechtung gemäß § 30 I PStG zum Randvermerk im Geburtsregister führt und nunmehr die Nichtabstammung des Kindes vom Ehemann bezeugt, greift auch hier der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 7 b ZPO analog ein73. Wird das rechtliche Ergebnis des Gestaltungsprozesses anschließend derart in einer die maßgeblichen Tatsachen selbst bezeugenden Urkunde mit rückbezüglicher Beweiskraft dokumentiert wie im Falle der Ehelichkeitsanfechtung die Tatsache der wahren „Abstammung" durch die Personenstandsurkunde gemäß §§ 30 I, 66 PStG, so kann also mit der Restitutionsklage analog § 580 Nr. 7 b ZPO das frühere Unterhaltsurteil beseitigt werden. Auch kommt im Falle der Ehelichkeitsanfechtung zusätzlich der Restitutionsgrund des § 641 i ZPO analog in Betracht, falls im Ehelichkeitsanfechtungsprozeß ein „neues Gutachten über die Vaterschaft" verwendet worden ist, das die Nichtabstammung des Kindes von dem zuvor zur Unterhaltszahlung verurteilten Manne ergibt74. Gemäß dem „Ziel der Ehelichkeitsanfechtung, das biologische und das rechtliche Vater-Kind-Verhältnis in Einklang zu bringen"75, ermöglicht hier also sowohl das Abstammungsgutachten des Sachverständigen (§ 641 i ZPO) als auch die Eignung der Personenstandsurkunde für den Beweis der Tat72 BGHZ 2, 245 f.; BGHZ 5. 157 f . ; BGHZ 46, 300, 303 f. = ZZP 81(1968), 279 ff. m. Anm. Gaul; BGH, N J W 1980, 1000, 1001; BAG, N J W 1985, 1485 f. = A P Nr. 13 zu §12 SchwbG m. Anm. Gaul ; Stein-Jonas-Grunsky. a.a.O. (Fn. 51), §580 Rz. 27 m.w. Nachw. 73 BSozG, F a m R Z 1963, 236 ff. m.zust.Anm. Bosch; KG, F a m R Z 1975, 624 ff. = N J W 1976, 245 f.; Stein-Jonas-Grunsky. a.a.O. (Fn. 51), § 580 Rz. 27 m.w.Nachw.; - anders noch BGHZ 34, 77 ff. = F a m R Z 1961, 173 ff. m. abl. Anm. Gaul; offenlassend BGHZ 39, 179 (185) = F a m R Z 1963, 350 ff. m. Anm. d. Red. 74 Als Folgevorschrift des Verfahrens über die nichteheliche Kindschaft ist § 641 iZPO auf den Fall, d a ß ein ehelich geborenes Kind durch erfolgreiche Ehelichkeitsanfechtung den Status der Nichtehelichkeit erlangt hat, nur analog anwendbar, BGHZ 61, 186 f f ; näher Gaul, Festschrift f ü r Bosch, a.a.O. (Fn. 10), 241, 267 ff. 273 ff. (unter Einschluß des Unterhaltsurteils) m.w.Nachw. 75 BGHZ 61, 186, 190 mit Hinweis auf B T - D r u c k s . V 2370 S.24.

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sache der „Abstammung" selbst (§ 30 I PStG) die restitutionsweise Beseitigung des Unterhaltsurteils. So günstig, wie beim Ehelichkeitsanfechtungsurteil liegen aber die beweisrechtlichen Begleitumstände bei den anderen Gestaltungsurteilen nicht. Zwar wird auch die Patentnichtigerklärung in die Patentrolle eingetragen (§ 30 I PatG). Da das PatG der Eintragung in die Patentrolle jedoch keine besondere Beweiskraft beilegt, wird in der patentrechtlichen Judikatur und Literatur eine auf die Eintragung in die Patentrolle gestützte Restitutionsklage analog § 580 Nr. 7 b ZPO nicht ernsthaft diskutiert 76 . Für den Parallelfall, daß ein in die Gebrauchsmusterrolle eingetragenens Gebrauchsmuster nachträglich gelöscht wird, hat das Reichsgericht im Urteil vom 30.6.1937" — wie schon in seiner Ausgangsentscheidung zur Patentvernichtung 78 — nur eine neue Tatsache gesehen, die zur Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO gegen das Verletzungsurteil berechtigt. Bei Gestaltungsurteilen ohne anschließende Registrierung versagt aber von vornherein die Möglichkeit, einen darauf gestutzten nachträglichen Urkundenbeweis analog § 580 Nr. 7 b ZPO zu führen, wie etwa beim Erbunwürdigkeitsurteil im Verhältnis zum vorausgegangenen Urteil auf Herausgabe der Erbschaft. Es ist deshalb gemäß dem thematischen Zuschnitt dieses Beitrags zu fragen, ob nicht dem Gestaltungsurteil selbst unmittelbarer Einfluß auf das vorausgegangene Leistungsurteil im Wege der Restitutionsklage verschafft werden kann. Deshalb ist das Gestaltungsurteil selbst als möglicherweise geeignete Beweisurkunde i.S. des § 580 Nr. 7 b ZPO in Betracht zu ziehen. Indessen hat bisher allein das KG Berlin in einer Entscheidung aus dem Jahre 193779 ohne weiteres in dem Ehelichkeitsanfechtungsurteil unmittelbar eine nachträglich errichtete Urkunde i.S. des § 580 Nr. 7 b ZPO gesehen, die geeignet sei, die Tatsache der Nichtabstammung des Kindes vom Ehemann und damit entgegen dem vorausgegangenen Scheidungsurteil den Ehebruch der Frau zu beweisen. Dem ist jedoch der BGH schon im Urteil vom 18-5.195380 treffend mit dem Hinweis entgegengetreten, daß sich das Urteil, „was seine Geeignetheit als Restitutionsgrund an76 Befürwortend nur von Falck, a.a.O. (Fn. 67), S. 310, ohne die Bedeutung der Eintragung in die Patentrolle zu problematisieren. 77 RGZ 155, 321, 327. 78 RGZ 48, 384, 386 ; s. oben zu Fn. 4f. 79 KG, JW 1937, 2788. 80 BGH, NJW 1953, 1545, 1546.

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geht, nicht losgelöst von den prozeßrechtlichen Grundlagen, auf denen diese Tatsachenfeststellungen beruhen, betrachten" lasse. Noch deutlicher hat sodann das KG im Urteil vom 27-5.197581 betont, das Ehelichkeitsanfechtungsurteil könne schon „seinem Wesen nach nicht als Beweisurkunde für die Tatsache der Abstammung in Betracht kommen". In der Tat wäre es mit dem Wesen des Richterspruchs unvereinbar, wollte der Richter die Wahrheit der Tatsache der biologischen Abstammung verbindlich feststellen. Der Richter kann immer nur bindend feststellen, was rechtens ist. Er kann immer nur das Sollen, nicht aber das Sein rechtskräftig feststellen, nicht ob das Schwarz wirklich schwarz und das Weiß wirklich weiß ist82. Demgemäß geht es im Prozeß nicht um die historische oder naturwissenschaftliche „Wahrheit an sich", sondern nur um die Wahrheitsermittlung zum Zwecke der Rechtsfindung83. So kann gemäß § 256 ZPO immer nur auf „Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses" geklagt werden84 und der Richter gemäß § 322 ZPO mit Rechtskraftwirkung nur über die geltend gemachte Rechtsfolge entscheiden. Auch soweit dem Urteil durch die Rechtsordnung Gestaltungswirkung beigelegt ist, bezieht sich die durch das Gestaltungsurteil herbeigeführte Rechtsänderung nur auf das umgestaltete Rechtsverhältnis und nicht auf die tatsächlichen Grundlagen des Urteilsausspruchs. Sehr klar heißt es dazu jüngst im Urteil des BGH vom 2-3-199485 zum Ehelichkeitsanfechtungsurteil: „Das Urteil bewirkt rückwirkend den Wegfall der Rechte und Pflichten aus dem ehelichen Kindschaftsverhältnis und gibt dem Kind zugleich diejenigen eines nichtehelichen Kindes... Das Urteil enthält andererseits keinen rechtskräftigen Ausspruch darüber, daß das Kind nicht vom Ehemann der Mutter abstammt. Rechtlich festgestellt wird im Ehelichkeitsanfechtungsverfahren lediglich die rechtliche Zuordnung des Kindes zu dem Ehemann der Mutter, da Streitgegenstand der Ehelichkeitsanfechtungsklage nur der eheliche oder nichteheliche Status des Kindes, nicht aber sein wahres Abstammungsverhältnis ist." Da das Gestaltungsurteil keinen Ausspruch über die tatsächlichen Ver81 KG, FamRZ 1975, 624 f . = N J W 1976, 245 (insoweit dort nicht abgedruckt). 82 Vgl. Gaul, Ehelichkeitsstatus und Recht des volljährigen Kindes auf Klärung der eigenen Abstammung, i n : Familienrecht in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von. H. F. Gaul (1992), S.23, 37 m. w. Nachw. 83 Gaul, Zur Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses, A c P 168 (1968), S.27, 5084 Die in § 256 I ZPO e r w ä h n t e Feststellung der Urkundenechtheit ist nur eine scheinbare Ausnahme, s. dazu Gaul, a.a.O. (Fn. 82), S.36 m. w. Nachw. 85 BGH, F a m R Z 1994, 694, 695 = N J W 1994, 2697, 2698.

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hältnisse enthält, die ihm als bloße Urteilselemente zugrunde liegen, ist es keine geeignete Beweisurkunde i.S. des § 580 Nr. 7 b ZPO, um die Richtigkeit des vorausgegangenen Leistungsurteils in tatsächlicher Hinsicht zu erschüttern. Zwar kann jedes Urteil echte Beweisurkunde i. S. des § 417 ZPO sein. Der von der formellen Beweiskraft erfaßte Urkundenbeweis besteht dann aber nur darin, daß das Gericht eine Entscheidung dieses Inhalts erlassen hat, nicht aber darin, daß sie — gemäß dem Beweisthema — inhaltlich richtig ist. Vor allem bezieht sich die Beweiskraft des Urteils nur darauf, daß das Gericht diese Entscheidung gegenwärtig erlassen hat, es äußert aber keine rückbezügliche Beweiskraft auf zurückliegende Tatsachen. Die dem Gestaltungsurteil kraft gesetzlicher Anordnung beigelegte Rückwirkung bezieht sich nur auf die Rechtsfolge und bedeutet nur, daß das vernichtete Rechtsverhältnis rechtlich so zu behandeln ist, als habe es niemals bestanden. Auf die im Leistungsprozeß zugrunde gelegten Fakten hat es keinen Einfluß. Damit scheidet es als Beweisurkunde i.S. des § 580 Nr. 7 b ZPO aus.

V. Der Weg der

Vollstreckungsgegenklage

Nach allem bleibt der Weg, den schon das Reichsgericht im Urteil vom 4.3.190186 für den Fall der rückwirkenden Patentvernichtung gewiesen und später im Urteil vom 30-6-193787 für den Fall der nachträglichen Gebrauchsmusterlöschung bekräftigt h a t : Die Berücksichtigung der durch das Gestaltungsurteil herbeigeführten Rechtsänderung als „neue Tatsache, die sich nach Zuerkennung des Anspruchs ereignet und diesen hinfällig" gemacht hat, im Wege der Klage aus § 767 ZPO gegen die Vollstreckung aus dem Leistungsurteil. Dieser Weg zwingt allerdings dazu, von der rückwirkenden Kraft des Gestaltungsurteils ganz abzusehen und mithin nicht auf die Gestaltungslage abzustellen, auf welche das Urteil rechtlich zurückwirkt, sondern auf den gerichtlichen Gestaltungsakt als gegenwärtigem Ereignis. Denn die Vollstreckungsgegenklage läßt gemäß § 767 II ZPO Einwendungen nur insoweit zu, als die sie begründenden Tatsachen nach dem Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung im Vorprozeß entstanden 86 RGZ 48, 384, 386; s. oben zu Fn 1 und 4f. 87 RGZ 155, 321, 327 ; s. schon oben zu Fn. 77.

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sind. Auf früher entstandene Tatsachen gegründete Einwendungen verfallen nämlich der Präklusion. Insofern markiert § 767 II ZPO zugleich die zeitlichen Grenzen der Rechtskraft: Da für die richterliche Erkenntnisbildung allein der im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung vorliegende Prozeßstoff maßgebend ist, wird die gerichtliche Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht auf diesen historischen Querschnitt fixiert 88 . Diese auf Tatfragen zugeschnittene Zäsur muß notwendigerweise Rückwirkungen im rechtlichen Raum unberücksichtigt lassen. Hier zeigen sich aber auch die Grenzen der Rückwirkung, auf die schon früh Hellwigm aufmerksam gemacht h a t : „Zweifellos kann die Rechtsordnung durch ihre Gebote die Welt der Tatsachen nicht anders machen, als sie wirklich ist; noch weniger vermag sie zu bewirken, daß die tatsächlichen Verhältnisse sich durch ein später eintretendes Ereignis rückwärts umgestalten." Demgemäß enthüllt die Rückwirkung nicht, wie es in der Vergangenheit gewesen ist, sondern bedeutet nur, daß die Rechtslage nun so behandelt werden soll, als wäre die jetzt erst herbeigeführte Wirkung (Aufhebung des Rechts) schon damals eingetreten. Die rechtliche Fiktion der Rückwirkung bestätigt gerade, daß es anders war, als es die rechtliche Behandlung des Rechtsverhältnisses jetzt erfordert 90 . Für eine Begrenzung der Rückwirkung in den Rechtsfolgen hat sich der moderne Gesetzgeber auch in § 79 II BVerfGG entschieden, falls das Bundesverfassungsgericht eine Norm nachträglich als verfassungswidrig für nichtig erklärt. Während gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer später für nichtig erklärten Norm beruht, die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig ist (§ 79 I BVerfGG), läßt die Nichtigerklärung der Norm das auf ihr beruhende rechtskräftige Zivilurteil „unberührt" und macht lediglich „die Vollstreckung aus einer solchen Entscheidung unzulässig", was mit der Vollstreckungsgegenklage „entsprechend § 767 ZPO" geltend zu machen ist unter Ausschluß von Ansprüchen aus ungerechtfertigter Bereicherung (§ 79 II BVerfGG). Der dem § 79 II BVerfGG zugrunde liegende Rechtsgedanke legt hier eine gewisse Parallelwertung nahe91. Allerdings sind wesentliche Unter88 Vgl. Gaul, JuS 1962, 1 ff. und Rosenberg-Gaul-Schiken, a.a.O.(Fn. 50), § 40 II 1, V2 a. 89 K. Hellwig, Grenzen der Rückwirkung (1907), S.6. 90 K. Hellwig, System des Deutschen Zivilprozeßrechts, 1. Teil (1912), § 175 I. 91 Vgl. Gaul, Grundlagen a.a.O. (Fn. 12), S.211 ff., 214f.; die dortigen Darlegungen

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schiede zwischen der rückwirkenden Nichtigerklärung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht und der rückwirkenden Aufhebung eines Rechtsverhältnisses durch ein richterliches Gestaltungsurteil zu beachten. Die Nichtigerklärung einer Norm löst ein „Massenproblem" aus, indem sie in einen breiten Lebensbereich einbricht und einer Vielzahl inzwischen ergangener Gerichtsentscheidungen die Gesetzmäßigkeit entzieht. Dagegen stößt ein rückwirkendes Gestaltungsurteil nur ein konkretes Rechtsverhältnis um. In bezug auf das jeweils betroffene Leistungsurteil besteht der strukturelle Unterschied darin, daß der zuerkannte Leistungsanspruch einmal Uber die Vernichtung des abstrakten Rechtssatzes von „seiner rechtlichen Spitze her" zerstört wird, das andere Mal durch die Vernichtung des konkreten Rechtsverhältnisses. Trotz dieser Unterschiede bleibt zu fragen, ob ein rückwirkendes Gestaltungsurteil auf ein vorausgegangenes Leistungsurteil stärker einzuwirken vermag als ein Spruch des Verfassungsgerichts, der die anspruchsbegründende Gesetzesnorm als „verfassungswidrig" für nichtig erklärt. Einzuräumen ist, daß die Vertrauensbasis eine andere und auch breitere ist, wenn das Urteil auf einer bisher für gültig gehaltenen, später für nichtig erklärten Gesetzesnorm beruht, als wenn es auf einem dem zuerkannten Anspruch zugrunde liegenden Rechtsverhältnis beruht, das durch ein späteres Gestaltungsurteil vernichtet wird92. So kommt der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit in § 79 II BVerfGG gewiß stärker zur Geltung, soweit es nach Norm Vernichtung die Massenaufrollung von Prozessen zu verhindern gilt. Doch besteht die Gemeinsamkeit immerhin darin, daß das Urteil jeweils von der rechtlichen Seite her durch eine angeordnete Rückwirkung in Frage gestellt wird, ohne die Tatsachengrundlage des Urteils anzutasten. Und in beiden Fällen findet lediglich der die Rückwirkung auslösende gerichtliche Gestaltungsakt — dort der des höchsten Verfassungsgericht, hier des Fachgerichts — als gegenwärtiges Ereignis und damit als „neue Tatsache" i.S. des § 767 ZPO Berücksichtigung. Schließlich drängt sich aber auch ein Vergleich zu dem weitaus bekannteren Problem der nachträglichen Ausübung rückwirkender privater Gestaltungsrechte nach Verhandlungsschluß im Prozeß auf, das man geradezu als „klassische Streitfrage" zu § 767 II ZPO seit der Jahrhunzielen nicht auf eine „entsprechende Anwendung des § 79 BVerfGG", wie Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), 254 meint, sondern dienen nur der Eingrenzung des Restututionsgedankens des § 580 ZPO. 92 Vgl. Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.254.

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dertwende bis zur Gegenwart bezeichnen kann93. Während die ständige Rechtsprechung 94 auf den Zeitpunkt der objektiven Entstehung des Gestaltungsrechts abstellt und deshalb die aus der nachträglichen Anfechtung wegen Willensmängeln (§§ 119,123 BGB) oder aus der Aufrechnung (§ 387 BGB) hergeleitete Einwendungen durch § 767 II ZPO für präkludiert hält, sieht die nach von Tuhr,b näher von Lent% begründete herrschende Lehre in der Ausübung des Gestaltungsrechts durch den Erklärungsakt das maßgebende Ereignis für die Entstehung der Einwendung i.S. des § 767 II ZPO und läßt sie deshalb zur nachträglichen Geltendmachung mit der Vollstreckungsgegenklage zu97. Die Streitfrage bedarf hier nicht der Vertiefung. Entgegen einem in der Rechtsprechung 9 8 und unter ihren Anhängern 9 9 verbreiteten Mißverständnis ist jedoch darauf hinzuweisen, daß ein Problem der Aushöhlung der Rechtskraft nicht in Frage steht. Denn unter Rechtskraftgesichtspunkten ist die nachträgliche Ausübung rückwirkender privater Gestaltungsrechte keineswegs präkludiert. Denn die rechtskräftige Zuerkennung eines Anspruchs nach § 322 I ZPO impliziert nicht, daß der Anspruch nicht durch ein künftiges Ereignis (Anfechtungserklärung) rückwirkend beseitigt werden könnte. Das Gericht durfte ohne 93 Zu der auf eine Kontroverse zwischen Seckel, Festgabe für R. Koch (1903), Neudruck (1954), S. 40 f. und von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 1. Bd. (1910), S. 199 f. zurückgehenden Streitfrage s. näher Rosenberg -Gaul-Schilken, a.a.O.(Fn. 50),§40 V 2b; diesen Ursprung des Streits übersieht Ernst, NJW 1986, 401, 402, wenn er irrig meint, Seckel habe sich mit der Frage „nicht befaßt". 94 Für die Aufrechnung : RGZ 64, 228, 229 f.; RG Warn. 1913, 389 ; RG ZZP 59, 226 ; BGHZ 34, 274, 279 = ZZP 74, 298 ff. m. insoweit abl. Anm. Schwab ; BGHZ 38, 122, 123; BGHZ 100, 222, 225 ; BGHZ 103, 362, 366 ; BGHZ 125, 351, 352 f.; - für die Anfechtung: RG, Warn. 1913, 31; BGHZ 42, 37, 40 ff.; - anders — jedoch inkonsequent — für vertraglich eingeräumte Gestaltungsrechte BGHZ 94, 29, 32 ff. = JZ 1985, 750 ff. m. krit. Anm. Arens ; anders auch OLG Stuttgart, NJW 1994, 1225, 1226 für den Widerruf nach dem HaustürWG v. 16.1.1986. 95 Vgl. von Tuhr, a.a.O. (Fn. 93), S.199 f. 96 Lent, Ausübung von Gestaltungsrechten nach einem Prozeß, DR 1942, 868 ff. 97 Vgl. Rosenberg-Gaul-Schilken, a.a.O. (Fn. 50), § 40 V 2b mit eingehenden Nachweisen. 98 Vgl. BGHZ 34, 274, 280 („um den rechtskräftigen Titel ... zu schützen") ; BGHZ 103, 362, 366 („Die Präklusion ... ergibt sich aus dem Wesen und dem Umfang der Rechtskraft") ; — anders OLG Stuttgart, NJW 1994, 1225, 1226 („Die Rechtskraft hindert nicht"). 99 So insbes. Ernst, a.a.O. (Fn. 93), 402, 405, der die Frage als ein Problem der „Durchbrechung der Rechtskraft" behandelt; — dagegen auch Walter, ZZP 101 (1988), S. 133, 115, der die Ansicht von Ernst für „abwegig" hält.

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die Ausübung des Gestaltungsrechts durch den Beklagten die dem zugrunde liegenden Tatsachen gar nicht berücksichtigen. Das Wesen der Anfechtbarkeit eines Rechtsgeschäfts besteht gerade darin, daß nur der Anfechtungsberechtigte — nicht der Richter — die Entscheidung über die Geltung oder Nichtgeltung des Rechtsgeschäfts innerhalb der Fristen haben soll, die ihm das materielle Recht beläßt (vgl. § 124 BGB für die Täuschungs- oder Drohungsanfechtung). Daß die Rückwirkung der Anfechtung das Urteil nachträglich unrichtig erscheinen läßt, ändert daran nichts, weil dies die zwangsläufige Folge der vom materiellen Recht angeordneten Rückwirkungsfiktion ist. Das Tatsachenbild der Entscheidung wird davon nicht betroffen. Unterliegt aber der Richter hinsichtlich der in die autonome Willensentscheidung der Partei gestellten Gestaltungsrechte im Prozeß einer Kognitionsbeschränkung, so können die betreffenden Tatsachen nicht gemäß § 767 II ZPO infolge der Rechtskraft des Urteils präkludiert sein100. Selbst wenn man die Ausübung privater Gestaltungsrechte entgegen anerkannten Rechtskraftgrundsätzen für präkludiert halten wollte, könnte das niemals für die hier in Rede stehende nachträgliche Ausübung von „Gestaltungsklagrechten" gelten. Es ist denn auch bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit das Reichsgericht schon in seinem grundlegenden Urteil vom 4.3.1901101 davon ausgegangen ist, daß das Patentnichtigkeitsurteil im Verhältnis zum Urteil wegen Patentverletzung einen neuen Tatbestand setzt. Treffend heißt es schon dort: „Die Geltendmachung neuer Tatsachen, die sich nach Zuerkennung eines Anspruchs ereignen und diesen hinfällig machen, ist keineswegs verschränkt, sondern durch § 767 ZPO zugelassen, und der dort vorgeschriebene Weg steht dem (vormals) Beklagten offen." In der Tat kann die nachträgliche Ausübung von „Gestaltungsklagrechten" nicht durch § 767 II ZPO präkludiert sein102. Da das Gesetz die Ausübung jeweils nur durch Anfechtungsklage (§§ 1599, 2342 BGB) oder 100 Vgl. dazu eingehend Rosenberg-Gaul-Schilken, a.a.O. (Fn. 50), § 40 V 2b bb (S. 471 f.) ; dort auch zu aa (S. 470) mit dem Nachweis, daß auch die Aufrechnung im Hinblick auf § 322 II nach allgemeinen Rechtskraftgrundsätzen keineswegs präkludiert ist; ebenso jetzt insbes. Münchener-Kommentar-Gottwald, a.a.O. (Fn. 33), §322 Rz. 152. 101 RGZ 48, 384, 386; s. schon oben zu Fn. 1 und 4 f. 102 Ebenso schon Lent, a.a.O. (Fn. 96), S. 872; ferner Gaul, Grundlagen a.a.O. (Fn. 12), S.176 f., 205, 215; Schlosser, a.a.O. (Fn. 20), S.255 f.; Rosenberg-Gaul-Schilken, a.a.O.(Fn. 50), § 40 V 2 c ; Münchener-Kommentar-K. Schmidt, ZPO (1992), § 767 Rz. 83 a. E.; Stein-Jonas-Münzberg, ZPO, 21. Aufl. (1995), §767 Rz. 18, 34.

Der Einfluß r ü c k w i r k e n d e r Gestaltungsurteile auf vorausgegangene Leistungsurteile

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durch Nichtigkeitsklage (§ 81 PatG) zuläßt, schließt es zugleich die einredeweise Geltendmachung der Anfechtung aus. Damit kann es sich nicht um „Einwendungen" handeln, die bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen schon zur Zeit des Vorprozesses dort i.S. des § 767 II ZPO „spätestens hätten geltend gemacht werden müssen". Einen Zwang zur Widerklage erlegt das Gesetz dem Beklagten im Prozeß nicht auf und schließt ihn sogar häufig wegen eines anderweitig vorgeschriebenen ausschließlichen Gerichtsstands oder wegen eines Verbots der Klagenverbindung ausdrücklich aus. Ebensowenig besteht bei unzulässiger Widerklage ein Zwang zur gleichzeitigen Klageerhebung in einem zweiten Prozeß unter Aussetzung des Erstprozesses, weil die Klageerhebung der Dispositionsfreiheit der Partei untersteht und die Aussetzung des Prozesses der „Kann"-Bestimmung des § 148 ZPO unterliegt. Zudem sieht das Gesetz für die Anfechtungsklagen meist Klagefristen vor (§§ 1594 I, 2340 III BGB), und es geht nicht an, die dem Anfechtungsberechtigten eingeräumten Überlegungsfristen wegen einer Inanspruchnahme in einem anderen Prozeß zu verkürzen. Die Einwendung i.S. des § 767 II ZPO entsteht hier deshalb erst, wenn die Ausübung des „Gestaltungsklagrechts" zum rechtkräftigen Ausspruch im gerichtlichen Gestaltungsakt geführt hat. Daher kann die Vollstreckungsgegenklage auf das nachträgliche Gestaltungsurteil gestützt werden103. Der Konflikt zwischen dem rechtskräftigen Leistungsurteil und dem nachfolgenden, auf das zugrunde liegende Rechtsverhältnis rückwirkend einwirkende Gestaltungsurteil findet somit durch Gewährung der Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO seine angemessene Lösung.

VI.

Konsequenzen

Der Weg der Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO scheint gegenüber dem keine generelle Lösung bietenden Weg der Restitutionsklage gemäß § 580 ZPO104 den Nachteil zu haben, daß er nur eine Untersagung der Vollstreckung aus dem Leistungsurteil für die Zukunft gestattet, während die Restitutionsklage durch rückwirkende Beseiti103 Vgl. Rosenberg-Gaul-Schilken, a.a.O. (Fn. 50), §40 V 2 c. 104 Zur nur partiellen Lösung analog § 580 Nr. 6 ZPO im Falle der Patentnichtigkeitsklage s. oben IV 2 und analog § 580 Nr. 7 b ZPO aufgrund der Personenstandsurkunde gemäß § 30 I PStG nach Ehelichkeitsanfechtung s.oben IV 3.

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gung des Urteils ohne weiteres die Rückabwicklung eröffnet105. Es ist nicht zu verkennen, daß die bisher diskutierten Lösungsvorschläge zu den möglichen Rechtsbehelfen wesentlich auch durch die Konsequenzen für eine zivilrechtliche Rückabwicklung bestimmt waren106. Diesen Konsequenzen im einzelnen nachzugehen, bleibt hier nicht der Raum, zumal das materielle Recht selbst, wie z.B. bei der Nichtigerklärung der Ehe bezüglich der vermögensrechtlichen Folgen in § 26 EheG Einschränkungen der Rückwirkung kennt und insoweit differenziert reagiert107. Jedoch ist abschließend darauf hinzuweisen, daß der hier bevorzugte Weg der Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767 ZPO keineswegs zwangsläufig eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung ausschließt. Folgt man dem hier vertretenen Standpunkt, daß die Ausübung rückwirkender Gestaltungsrechte nicht und erst recht nicht diejenige rückwirkender Gestaltungsklagrechte durch die Rechtskraft des Leistungsurteils gemäß § 767 II ZPO präkludiert ist, dann können auch die folgeweise entstehenden bereicherungsrechtichen Rückgewähransprüche nicht nach Rechtskraftgrundsätzen präkludiert sein108. Insofern steht der Rechtsschutz durch die Vollstreckungsgegenklage in den Folgen dem Rechtsschutz durch die Restitution nicht nach109.

105 Vgl. oben zu Fn.51. 106 Vgl. zu der in RGZ 169, 129 ff. angestrebten Rückabwicklungslösung oben zu Fn. 11 ff. und ebenso BGH, FamRZ 1969, 644 ff. oben zu Fn. 42 ; — zur abweichenden Lösung der Interimsvorschrift des § 644 ZPO a.F. s. oben Fn. 37 ff. 107 Zu den Regreß- und Bereicherungsansprüchen nach erfolgreicher Ehelichkeitsanfechtung s. Soergel-Gaul, a.a.O. (Fn. 19), § 1593 Rz. 25 und 34 m. w. Nachw. 108 So mit Selbstverständlichkeit für Zulässugkeit der „späteren Klage auf Rückgewähr, gestützt auf die spätere Ausübung des Gestaltungsrechts" Lent, a.a.O. (Fn. 26), S. 873. 109 Der Ausschluß von Bereicherungsansprüchen im Falle der Normvernichtung gemäß § 79 II BVerfGG beruht auf besonderer gesetzlicher Anordnung zur Vermeidung der Rückabwicklung als „Massenproblem", s. o. zu Fn. 91.

,Internationalpädagogik" oder wirksamer Beklagtenschutz ? Einige Bemerkungen zur internationalen Anerkennungszuständigkeit

von

Prof. Dr. Reinhold G e i m e r

München

N o t a r in München Honorarprofessor an der Universität München

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Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.

Einleitung Kein Schutz der eigenen Jurisdiktionssphäre Beklagtenschutz Spiegelbildprinzip Folgerungen aus dem Gesetzeszweck Keine „internationale Einlassungslast" Unterwerfung unter die Jurisdiktion des Erststaates Keine Prüfung von Amts wegen oder auf Rüge des Klägers Prüfungsdichte Internationale Anerkennungszuständigkeit und Verfassung

„Internationalpädagogik" oder wirksamer Beklagtenschutz ?

I.

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Einleitung

Eine Parallelvorschrift zu § 200 Nr. 1 des japanischen ZPG1 findet sich in § 328 I Nr. 1 der deutschen ZPO.2 Es läge nahe, beide Vorschriften miteinander zu vergleichen und die unterschiedlichen Linien der Lehre und Rechtsprechung in beiden Ländern herauszuarbeiten. Aber leider bin ich der japanischen Sprache nicht mächtig; so ist mir der originale Zugriff auf die japanische Literatur und Rechtsprechung nicht möglich. Deshalb muß ich den verehrten Jubilar um Verständnis bitten, daß ich mich auf die Interpretation der deutschen Norm beschränke, über deren Sinn und Zweck ich schon lange nachdenke. 3 Vielleicht ist es auch aus der Sicht des japanischen Rechts von Interesse, wenn ich meine bereits bekannten Thesen noch einmal in komprimierter Form zusammenfasse. 4 Denn die Frage, weshalb im Anerkennungsstadium die internationale Zuständigkeit als Voraussetzung der Anerkennung geprüft wird, ist eine universelle in dem Sinne, daß sie vom Standpunkt eines jeden Anerkennungsregimes aus gestellt und beantwortet werden muß.

II. Kein Schutz der eigenen

Jurisdiktionssphäre

Zunächst liegt der Gedanke nahe, der Anerkennungsstaat wolle seine eigene Jurisdiktionssphäre verteidigen. Dieses Argument ist aber allenfalls dann tragfähig, wenn er für bestimmte Streitgegenstände eine ausschließliche internationale Zuständigkeit in unmittelbarem eigenen

1 Hierzu ζ. B. Takata, Urteilsanerkennung im japanischen Zivilprozeßrecht in Heldrich/Kono, Herausforderungen des internationalen Zivilverfahrensrechts, 1994, 57. Vgl. anch Trunk!Kono, Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile in Japan, ZZP 103 (1989), 319. 2 S. auch § 16a I Nr. 1 FGG und Art. 102 I Nr. 1 EGInsO. 3 Gelmer, Zur Prüfung der Gerichtsbarkeit und der internationalen Zuständigkeit bei der Anerkennung ausländischer Urteile, 1966, 118 ff. 4 Ausführlich ζ. B. jüngst Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 48 ff.

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s t a a t l i c h e n I n t e r e s s e 5 beansprucht. D i e s e F ä l l e sind sehr selten, 6 w e n n e s sie überhaupt g e b e n sollte. 7 In allen übrigen H y p o t h e s e n (der A n e r k e n n u n g s s t a a t hält sich für nur konkurrierend oder überhaupt nicht für international zuständig) k a n n die V e r t e i d i g u n g der e i g e n e n Jurisdiktionssphäre nicht die ratio legis sein, 8 auch nicht die V e r t e i d i g u n g der Jurisdiktionsinteressen f r e m d e r Staaten. 9 In B e t r a c h t k ä m e allenfalls der W u n s c h n a c h D u r c h s e t z u n g einer b e s t i m m t e n Zuständigkeitsordnung im Interesse einer universalistisch empfundenen Ordnungsidee. In d i e s e m Sinne m e i n t Schröder1", der A n e r k e n n u n g s s t a a t m ü s s e internationalpädagogisch t ä t i g werden. D a e s aber auf der E b e n e des V ö l k e r r e c h t s keine verbindliche internationale Z u s t ä n d i g k e i t s o r d n u n g gibt, s o m i t jeder S t a a t s e i n e e i g e n e n V o r s t e l l u n g e n v o n Z u s t ä n d i g k e i t s g e r e c h t i g k e i t zu v e r w i r k l i c h e n sucht, ist ein solcher A n s a t z zu idealistisch. 1 1 A u c h andere Autoren 1 2 meinen, über die F ä l l e ausschließlicher internationaler Z u s t ä n d i g k e i t e n hinaus w ü r d e n unmittelbare staatliche Interes5 Anders, wenn „nur" durch Prorogationsvertrag der Parteien die ausschließliche internationale Zuständigkeit des Inlands vereinbart wurde. 6 Die These, der Anerkennungsstaat habe ein unmittelbares eigenes staatliches Jurisdiktionsinteresse, wenn es um den Status seiner Staatsangehörigen geht, läßt sich im deutschen Recht nicht belegen. Spätestens seit der IPR-Reform 1986 ist klar, daß Deutschland seine Staatsangehörigkeitszuständigkeit als nicht international ausschließlich betrachtet, § 606a I 2, 640a II 2 ZPO, §§ 35b III, 43a I 2 FGG, § \ 1 III VerschollenheitsG. Vgl. unten Fußn. 54. 7 Das autonome deutsche Recht (anders Art. 16 GVÜ) begründet m. E. (Geimer IZPR, 2. Aufl., 1993, Rz. 878) keine ausschließlichen internationalen Zuständigkeiten, die auch gegen ausländische Gerichte „verteidigt" werden müßten, indem man in solchen Fällen den Entscheidungen aus dem Ausland die Anerkennung versagt. Anders ist jedoch der Standpunkt der h. M. Danach begründen ζ. B. § 24 und § 29a ZPO ausschließliche internationale Zuständigkeiten des Belegenheitsstaates, Fricke, Anerkennungszuständigkeit zwischen Spiegelbildgrundsatz und Generalklausel, 1990, 107. 8 Zum Fehlen unmittelbarer staatlicher Interessen s. auch Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 172 gegen Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, 1969, 110 ff9 Die Gegenmeinung muß — auch ohne Rüge des Beklagten (unten VIII) — von Amts wegen die Anerkennung eines ausländischen Urteils mit der Begründung verweigern, ein dritter Staat sei aus deutscher Sicht ausschließlich international zuständig, auch wenn dieser selbst überhaupt keine oder keine ausschließliche internationale Zuständigkeit in Anspruch nimmt. 10 Schröder, Internationale Zuständigkeit, 1971, 778. 11 Kritisch zum „überindividuellen" Schröderschen Ansatz auch Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 180. S. auch Geimer NJW 1974, 1028 und Basedow, Die Anerkennung von Auslandsscheidungen, 1980, 141. 12 Ζ. B. Calvo Caravaca, La sentencia extranjera en Espafia y la competencia del

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sen die positive Prüfung der internationalen Zuständigkeit des Erststaates notwendig machen. Sie können aber nicht erklären, weshalb aus unmittelbarem eigenen staatlichen Interesse die Anerkennung verweigert werden soll, nur weil aus der Sicht des Anerkennungsstaates nicht der Urteilsstaat, sondern ein dritter Staat international zuständig ist.

III.

Beklagtenschutz

Als plausible Erklärung für die Prüfung der internationalen Zuständigkeit als Voraussetzung der Anerkennung im Inland kommt m. E. nur der Beklagtenschutz in Betracht. 13 Nur solche Urteile werden gegen den Willen des Beklagten anerkannt und vollstreckt, die in Staaten ergangen sind, in denen es aus der Sicht des Zweitstaates für den Beklagten zumutbar war, sein Recht zu nehmen.14 Nur deshalb belassen wir es nicht bei der Prüfung, ob unsere eigene Jurisdiktionssphäre gewahrt ist. Über die positive Prüfung der internationalen Zuständigkeit des Erststaates setzen wir die zweitstaatlichen Vorstellungen über die internationale Gerichtspflichtigkeit des Beklagten durch. Der Zweitstaat bestimmt denjenigen Staat bzw. diejenigen Staaten, 15 vor deren Gerichten es dem Beklagten zugemutet werden kann, sich gegen die Klage zu verteidigen.16 Die Staatsangehörigkeit ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Der Schutz der deutschen und wohl auch der japanischen Normen über die internationale Zuständigkeit ausländischer Staaten kommt auch Ausländern und Staatenlosen sowie juristischen Personen und Personenjuez de origen, 1986, 26 ff.; Martiny, Anerkennung ausländischer Entscheidungen nach autonomem Recht in Handbuch des IZVR, Bd. III 1, 1984, Rz. 639; Karl, Die Anerkennung von Entscheidungen in Spanien, 1993, 71. 13 Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 48. 14 Ähnlich Takata in Heldrich/Kono, Herausforderungen des internationalen Zivilverfahrensrechts, 1994, 58: „Vor allem aber der Grundsatz des Verteidigungsrechts des Beklagten ist wichtig und daher stets zu berücksichtigen, damit dieser zu keiner Einlassung in einem F o r u m mit zu geringem Bezug gezwungen wird." 15 Dem Zweitrichter bleibt nach deutschem Anerkennungsrecht kein Beurteilungs oder Ermessensspielraum. Die Staaten, in denen der Beklagte sein Recht nehmen muß, bestimmen in Deutschland generell a b s t r a k t e Normen, Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 56, 117. Einen f o r u m non conveniens approach deutet aber f ü r das japanische Anerkennungsrecht Takata in Heldrich/Kono, Herausforderungen des internationalen Zivilverfahrensrechts, 1994, 59 an. 16 Geimer, Zur P r ü f u n g der Gerichtsbarkeit und der internationalen Zuständigkeit

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Vereinigungen ausländischen Rechts zugute. Auch für diese errichten wir ein Bollwerk sogar gegen Zuständigkeitsanmaßungen ihres eigenen Heimatstaates. 17

IV.

Spiegelbildprinzip

Der deutsche Gesetzgeber18 formuliert ebenso wie der japanische mit Ausnahme des § 606a II ZPO19 keine eigenen Normen über die internationale Zuständigkeit fremder Staaten als Voraussetzung der Anerkennung im Inland. Er verweist vielmehr auf die Zuständigkeitsanknüpfungen für die eigene internationale Entscheidungszuständigkeit. Man spricht von Spiegelbildprinzip ,20 weil die zweitstaatlichen Zuständigkeitsnormen aus der Anerkennungsperspektive spiegelbildlich für die Beurteilung der internationalen Anerkennungszuständigkeit des Urteilsstaates anzuwenden sind.21 Für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit des Erststaates (als Voraussetzung der Anerkennung) gelten also die gleichen Anknüpfungspunkte wie für die internationale Entscheidungszuständigkeit der eigenen Gerichte. bei der Anerkennung ausländischer Urteile, 1966, 123; Gelmer ZZP 87 (1974), 336; Gelmer/Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd I Halbbd. 2, 1984, 1549. Ähnlich nun BGH NJW 1993, 1073 = LM § 328 ZPO Nr. 43 (Pfeiffer) =ZZP 107 (1994), 75 (Schick) = I P R a x 1994, 204 (Gelmer 187): „Die mit § 328 I Nr. 1 ZPO bezweckte Durchsetzung der deutschen Vorstellungen (über die Gerichtspflichtigkeit entspricht wesentlich einem Schutzbedürfnis des Beklagten." Im gleichen Sinne jetzt auch Stein/Jonas/Schumann ZPO, 20. Aufl., § 328 Rz. 21, 165; Stein/ Jonas/Schlosser, ZPO, 21. Aufl., § 606a Rz. 22. Ähnlich auch Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO, 1992, § 328 Rz. 64. Anders die h. M., Nachweise bei Karl, Die Anerkennung von Entscheidungen in Spanien, 1993, 70; Martiny, Anerkennung ausländischer Entscheidungen nach autonomem Recht in Handbuch des IZVR, Bd. III 1, 1984, Rz. 640. 17 Gelmer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 49. 18 § 328 I Nr. 1 ZPO, § 16a I Nr. 1 FGG und Art. 102 I Nr. 1 EGInsO. 19 Zur Frage, ob über die lex scripta hinaus weitere Durchbrechungen des Spiegelbildprinzips in Betracht kommen, Gelmer IZPR Rz. 938. 20 Hierzu Fricke, Anerkennungszuständigkeit zwischen Spiegelbildgrundsatz und Generalklausel, 1990, 107; Gelmer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 114; Karl, Die Anerkennung von Entscheidungen in Spanien, 1993, 78; Schock IZVR Rz. 831; Zöller/Gelmer § 328 Rz. 96, 130a. 21 Zu den Tendenzen in Japan, das Spiegelbildprinzip aufzulockern, Takata in Heldnch/Kono, Herausforderungen des internationalen Zivilverfahrensrechts, 1994, 59.

„Internationalpädagogik" oder w i r k s a m e r Beklagtenschutz ?

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Ausländische Staaten werden mithin als international zuständig erachtet, wenn vice versa ein Zuständigkeitsanknüpfungspunkt des zweitstaatlichen Rechts gegeben wäre.22 Das deutsche Recht billigt also grundsätzlich fremden Staaten den gleichen Jurisdiktionsbereich zu, den es für die deutschen Gerichte in Anspruch nimmt, und zwar nicht aus Souveränitäts- 23 oder Gegenseitigkeitserwägungen 24 , sondern weil der deutsche Gesetzgeber die deutsche internationale Zuständigkeitsordnung für ausgewogen und deshalb für „internationalisierbar" hält: Dem Beklagten wird aus deutscher Sicht außer in den Fällen des § 606a II ZPO keine umfangreichere Gerichtspflichtigkeit vor ausländischen Gerichten zugemutet als sie die deutsche Zuständigkeitsordnung für Verfahren vor deutschen Gerichten stipuliert.25 Bei Fehlen der Voraussetzungen des § 328 Nr. 1 ZPO ist auf Rüge des Beklagten die Anerkennung auch dann zu versagen, wenn die Zuständigkeitsanknüpfung des Urteilsstaates keineswegs exorbitant, sondern durchaus sinnvoll ist.26 Es geht hier nicht um die Frage, ob Deutschland 22 Ist bei hypothetischer Anwendung des Zuständigkeitsrechts des Zweitstaates hinsichtlich des im Erststaat entschiedenen Rechtsstreits ein Zuständigkeitsanknüpfungspunkt vorhanden, so wird die internationale Zuständigkeit des Erststaates anerkannt. Dies f ü h r t im Hinblick auf § 23 ZPO zu einer sehr großzügigen Bejahung der internationalen Zuständigkeit fremder Staaten, Geimer IZPR Rz. 1390, 2896; Schock IZVR, 1991, Rz. 836. Dagegen Fricke, Anerkennungszuständigkeit zwischen Spiegelbildgrundsatz und Generalklausel, 1990, 104. Auf welche Zuständigkeitsanknüpfung des eigenen erststaatlichen Zuständigkeitsrechts das ausländische Gericht, zutreffend oder nicht, seine internationale Zuständigkeit gestützt hat, ist f ü r den deutschen Zweitrichter ohne Belang, sofern die Kompetenzüberschreitung nach dem Recht des Erststaates nicht zur Nichtigkeit i. S. von absoluter U n w i r k s a m k e i t führt, Geimer/Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. I Halbbd. 2, 1984, 1504; Gottwald in Münchener K o m m e n t a r zur ZPO, 1992, § 328 Rz. 54. 23 Nachweise bei Fricke, Anerkennungszuständigkeit zwischen Spiegelbildgrundsatz und Generalklausel, 1990, 90. 24 BGH I P R a x 1994, 204 (Geimer 187) will allerdings § 328 I Nr. 1 ZPO unter das Gegenseitigkeitserfordernis des § 328 I Nr. 5 ZPO stellen. Danach w ä r e eine an sich nach § 328 I Nr. 1 i. V. m. § 12 ff. ZPO e r ö f f n e t e internationale Zuständigkeit des Urteilsstaates nicht anzuerkennen, wenn aus der Sicht des Urteilsstaates in einem spiegelbildlichen Fall die internationale Zuständigkeit Deutschlands nicht gegeben wäre. Gegen diese Interpretation des Gegenseitigkeitserfordernisses Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 125. 25 Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 114. 26 Lowenfeld RdC 245 (1994- I ), 174 spricht von the g r a y a r e a s accepted in some but not all States, such as place of m a k i n g a contract, doing business in „the forum S t a t e when the claim did not arise out of t h a t business, or being a partner to a person over whom the court clearly has jurisdiction."

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fremden Staaten kein weitergehendes Vertrauen entgegenbringt, 27 sondern um den Beklagtenschutz. Eine Generalklausel 28 würde die Rechtssicherheit grundlos gefährden. 29

V. Folgerungen aus dem

Gesetzeszweck

Aus der ratio legis folgt weiter, daß Zuständigkeitsverweisungen eines aus zweitstaatlicher Sicht international zuständigen (dritten) Staates nicht anzunehmen sind.30 Denn das Recht des Anerkennungsstaates bestimmt abschließend darüber, in welchen Gerichtsständen es dem Beklagten zuzumuten ist, sich gegen die Klage zu verteidigen.31 Auch die Zuständigkeitsanknüpfungsbegriffe, wie ζ. B. Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt, Ort der unerlaubten Handlung, sind grundsätzlich nach deutschem Zuständigkeitsrecht zu definieren. Ob der Erststaat ζ. B. den Wohnsitz der Ehefrau aus dem Wohnsitz des Ehemannes ableitet oder ob er den gewöhnlichen Aufenthalt auch schon bei einem kurzen Hotelaufenthalt bejaht, ist aus deutscher Anerkennungsperspektive irrelevant.32 Hinsichtlich des Gerichtsstands des Erfüllungsortes33 sollte man aber — um unnötige Spannungen zu vermeiden — den Erfüllungsort nach der vom IPR des Erststaates zur Anwendung berufenen lex causae bestimmen,34 also nicht das eigene (zweitstaatliche) IPR hinsichtlich der lex causae heranziehen. Das gleiche gilt für die Frage, ob eine Vertragsverletzung oder ein Delikt vorliegt.35 Im übrigen sind die Tatbestandsmerkmale des § 32 ZPO 27 Christian von Bar IPR I, 1987, Rz. 394 Fußn. 382. 28 Eine solche hält Takata in Heldrich/Kono, Herausforderungen des internationalen Zivilverfahrensrechts, 1994, 59 für diskutabel. 29 Schuck IZVR Rz. 833. 30 Gelmer, Zur Prüfung der Gerichtsbarkeit und der internationalen Zuständigkeit bei der Anerkennung ausländischer Urteile, 1966, 125; Geimer IZPR Rz. 18; GelmerI Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. I Halbbd. 2, 1984, 1550. 31 Eine Abweichung von diesem Prinzip bringt § 606a II ZPO, der auf das Anerkennungsrecht der Heimatstaaten der Eheleute verweist. Damit wird der Beklagtenschutz über Bord geworfen, Zöller/Geimer, ZPO, 19. Aufl., 1995, § 606a Rz. 98. 32 Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 56. 33 Vgl. vice versa Takata in Heldrich/Kono, Herausforderungen des internationalen Zivilverfahrensrechts, 1994, 60· 34 Geimer NJW 1975, 1088; Geimer IZPR Rz. 1496 gegen h. Μ., ζ. B. Schuck IZVR Rz. 230. 35 Geimer IZPR Rz. 1531.

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auch aus der Anerkennungsperspektive nach deutschem Recht zu bestimmen.36

VI. Keine „internationale

Einlassungslast"

Im Interesse eines wirksamen Beklagtenschutzes hat der Beklagte aus zweitstaatlicher Sicht keine prozessuale Last, sich am ausländischen Prozeß in einem aus zweitstaatlicher Sicht international unzuständigen Staat zu beteiligen.37 Der Beklagte braucht sich — anders als im Anwendungsbereich der Brüsseler und der Luganer Konvention, wo grundsätzlich38 die internationale Zuständigkeit des Erststaates im Anerkennungsstadium nicht mehr geprüft wird und daher die internationale Unzuständigkeit nicht zur Versagung der Anerkennung führt — nicht am ausländischen Prozeß zu beteiligen.39 Läßt er ein Versäumnisurteil gegen sich ergehen, dann kann er gegen dessen Anerkennung im Inland einwenden, der Urteilsstaat sei nach zweitstaatlichen Normen international unzuständig. Dies gilt aber nicht uneingeschränkt für Zuständigkeits- und Schiedsvereinbarungen. Wenn die Gerichte des Erststaates die Derogation der nach dem Spiegelbildgrundsatz an sich gegebenen internationalen Zuständigkeit des Erststaates durch eine Zuständigkeitsvereinbarung mißachtet haben, dann ist dem ausländischen Urteil nur dann die Anerkennung zu verweigern, wenn der Beklagte bereits im Erstverfahren den auch nach dem Recht des Erststaates schlüssigen Einwand der Derogation40 vorgetragen hat. Andernfalls ist die Rüge der internationalen Unzuständigkeit präkludiert. 41 Wird ζ. B. ein in Tokio wohnhafter 36 BGH NJW 1994, 1413 = LM § 32 ZPO Nr. 15 (Geimer)= RIW 1994, 331 (Jakob). 37 Gelmer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 55. 38 Unten Fußn. 71. 39 Zur Hypothese, daß der Beklagte am erststaatlichen Verfahren teilnimmt, s. unten VII. Zur Abwägung, wie der Beklagte seine Taktik am besten gestaltet, Lowenfeld RdC 245 (1994-1), 174. 40 War nach dem Recht des Erststaates der Einwand der Derogation von vorneherein unbeachtlich, weil das erststaatliche Kompetenzrecht ein Derogationsverbot aufstellt, dann braucht sich der Beklagte allerdings am Erstverfahren nicht zu beteiligen, um sich den Einwand der Derogation zu erhalten, Gelmer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 124 Fußn. 84. 41 Gelmer ZZP 87 (1974), 344; ders. IZPR Rz. 1425, 1714, 1809, 1920, 2907; den.,

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Beklagter dort verklagt und läßt er dort gegen sich Versäumnisurteil ergehen, dann kann er gegen die Anerkennung dieses Urteils in Deutschland nicht geltend machen, Japan sei international unzuständig, weil die ausschließliche Zuständigkeit eines deutschen Gerichts prorogiert gewesen sei. Dem Beklagten wäre zuzumuten gewesen, vor dem japanischen Gericht den Derogationseinwand zu erheben, soweit dieser auch nach dem japanischen Recht relevant ist. Das gleiche gilt für den Einwand, die internationale Zuständigkeit des Erststaates sei durch die Vereinbarung eines Schiedsgerichts ausgeschlossen.42 Nur sofern der Beklagte sich ordnungsgemäß und rechtzeitig vor dem ausländischen staatlichen Gericht auf die Schiedsvereinbarung erfolglos berufen hat, scheitert die Anerkennung des vom staatlichen Gericht erlassenen Sachurteils.43

VII. Unterwerfung

unter die Jurisdiktion

des

Erststaates

Aus der vorstehend dargelegten Teleologie folgen auch immanente Grenzen der Prüfung der internationalen Zuständigkeit des Urteilsstaates. l. Wer sich ausdrücklich der fremden Jurisdiktion unterworfen hat, bedarf keines kompetenzrechtlichen Schutzes im Anerkennungsstadium. Wer im Erstprozeß ausdrücklich erklärt hat, daß er die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts akzeptiere, würde sich zu seinem eigenen Verhalten in Widerspruch setzen (venire contra factum proprium), wenn er Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 123. A. A. h. M., ζ. B. Martiny, Anerkennung ausländischer Entscheidungen nach autonomem Recht in Handbuch des IZVR, Bd. III 1, 1984, Rz. 714. 42 Gelmer ZZP 87 (1974), 336; Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995,125,210; Martiny, Anerkennung nach multilateralen Staatsverträgen in Handbuch des IZVR, Band III 2, 1984, Rz. 172. Α. A. Schlosser FS Kralik, 1986, 299; ders. Recht der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl., 1989, Rz. 400 g. E. 43 Anders ist es im Anwendungsbereich der Brüsseler und der Luganer Konvention. Hier kann die Anerkennung der Entscheidung eines staatlichen Gerichts nicht mit der Begründung verweigert werden, das staatliche Gericht habe eine Schiedsvereinbarung übergangen, Geimer/Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd 1 Halbbd. 1, 1983, 47, 181; Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO, 1992, IZPR Art. 1 EuGVÜ Rz. 42; Kropholler, EuZPR, 4. Aufl., 1993, Art. 1 Rz. 39; Zöllerl Geimer, ZPO, 19. Aufl., 1995, Art. 1 GVÜ Rz. 17. Α. A. Schlosser, Recht der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl., 1989, Rz. 116.

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im Zweitverfahren die Auffassung verträte, der Erststaat sei gar nicht zuständig gewesen.44 2. Die Unterwerfung des Beklagten unter die Jurisdiktion des Urteilsstaates kann auch konkludent erfolgen. Hat sich der Beklagte auf den ausländischen Rechtsstreit eingelassen, ohne die internationale Unzuständigkeit des Erststaates zu rügen, so wird nach § 328 I Nr. 1 i. V. m. § 39 ZPO unwiderleglich vermutet, der Beklagte habe sich der Jurisdiktion des Erststaates unterworfen, wenn der Beklagte nach der dortigen lex fori die Möglichkeit gehabt hätte, die internationale Unzuständigkeit geltend zu machen.45 Diese Einschränkung folgt aus dem Zweck der Prüfung der internationalen Anerkennungszuständigkeit, nämlich dem Schutz des Beklagten. Diesem ist es nicht zumutbar, im Erstprozeß in dem nach seinem Zuständigkeitsrecht ohnehin kraft Gesetzes international zuständigen Erststaat eine Zuständigkeitsrüge zu erheben, die nach erststaatlichem Recht von vorneherein unschlüssig ist, nur um ihm in Deutschland als Anerkennungsstaat die Rüge der internationalen Unzuständigkeit des Erststaates aus der Perspektive des deutschen Rechts zu erhalten. War der Erststaat nach seinem Recht kraft Gesetzes international zuständig, so bestand für den Beklagten keine Möglichkeit, die Abweisung der Klage wegen internationaler Unzuständigkeit zu erreichen. Der Beklagte muß aber — sofern er sich am erststaatlichen Verfahren beteiligt, wozu er aus zweitstaatlicher Sicht nicht verpflichtet ist46 — die nach dem Recht des Erststaates gegebene internationale Unzuständigkeit im Erstprozeß rügen.47 Er muß die ihm nach der lex fori im jewei44 Geimer RIW 1979, 641; ders., Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 119. 45 BGH IPRax 1994, 204 (Geimer 187). 46 Oben VI. 47 Erklärt sich das ausländische Gericht in Verkennung seines eigenen Zuständigkeitsrechts für international zuständig und erläßt es eine Entscheidung in der Sache, dann kann der Beklagte im deutschen Zweitverfahren die internationale Unzuständigkeit nach deutschem Recht rügen. Die res iudicata der ausländischen Entscheidung steht nicht entgegen, auch wenn nach dem Recht des Erststaates die Rechtskraft der Entscheidung auch die Feststellung der internationalen Zuständigkeit des Erststaates umfaßt. Denn die Bejahung der internationalen Zuständigkeit des Erststaates nach deutschem Recht ist — sofern diese der Beklagte bestreitet — Voraussetzung für die Anerkennung der Rechtskraft der ausländischen Entscheidung, vgl. Geimer, Zur Prüfung der Gerichtsbarkeit und der internationalen Zuständigkeit bei der Anerkennung ausländischer Urteile, 1966, 37. Vgl. Fußn. 56.

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ligen Verfahrensabschnitt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, damit die Klage bereits vom ausländischen Erstrichter nach dem erststaatlichen Recht wegen mangelnder internationaler Zuständigkeit abgewiesen wird.

VIII, Keine Prüfung von Amts wegen oder auf Rüge des Klägers Da die Normen über die internationale Zuständigkeit fremder Staaten (als Voraussetzung der Anerkennung bzw. Vollstreckbarerklärung) ausschließlich48 dem Schutz des Beklagten dienen, sind sie im Stadium der Anerkennung bzw. Vollstreckbarerklärung nur auf Rüge des {zu schützenden) Beklagten zu beachten. Der Beklagte darf nicht gegen seinen Willen geschützt werden. Eine Verweigerung der Anerkennung wegen internationaler Unzuständigkeit von Amts wegen oder auf Rüge des Klägers49 kommt nicht in Betracht.50 Der Beklagte hat ein Interesse an der Anerkennung der materiellen Rechtskraft (res iudicata), der Präklusionswirkung und der sonstigen Wirkungen des für ihn günstigen Urteils, vor allem des klageabweisenden. Es würde die Dinge auf den Kopf stellen, wollte man von Amts wegen oder auf Antrag des Klägers die Nichtanerkennung aussprechen, bloß weil für die internationale Zuständigkeit ein Anknüpfungspunkt fehlt, und so dem Kläger die Möglichkeit geben, den Prozeß — mit vielleicht größeren Chancen — im Zweitstaat zu wiederholen. Dies gilt ζ. B. auch für die Anerkennung von Entscheidungen in Ehesachen.51 Wenn nach den via § 328 I Nr. 1 ZPO spiegelbildlich angewandten deutschen Zuständigkeitsnormen nicht der Urteilsstaat, 48 Anders aus der Sicht der h. M., die ausschließliche internationale Zuständigkeiten bejaht, vgl. Fußn. 7. 49 Umgekehrt kann nur der Kläger ( = Widerbeklagter) rügen, der Erststaat sei f ü r die Widerklage international nicht zuständig gewesen, Geimer N J W 1972, 2180. 50 Zustimmend ζ. B. Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 468 Fußn. 130. 51 Geimer N J W 1974, 1029; Zöller/ Geimer, ZPO, 19. Aufl., 1995, § 606a Rz. 123. Α. A. die h.M., z.B. das BayObLG in ständiger Rechtsprechung, zuletzt BayObLG F a m R Z 1992, 586 = N J W - R R 1992, 514 = IPRspr. 1991 Nr. 217. Nachweise bei Fricke, Anerkennungszuständigkeit zwischen Spiegelbildgrundsatz und Generalklausel, 1990, 102, Martiny, Anerkennung ausländischer Entscheidungen nach a u t o n o m e m Recht in Handbuch des IZVR, Bd. III 1, 1984, Rz. 786 und StaudingerISpellenberg, 12. Aufl., 1992, § 328 ZPO Rz. 290.

„Internationalpädagogik" oder wirksamer Beklagtenschutz ?

181

sondern nur ein dritter S t a a t für die S c h e i d u n g international z u s t ä n d i g w ä r e , der B e k l a g t e dies aber nicht rügen will (weil er e s bei der S c h e i d u n g b e l a s s e n w i l l ) , dann h a b e n die d e u t s c h e n Gerichte und Behörden 52 k e i n e V e r a n l a s s u n g , e x o f f i c i o „internationalpädagogisch" auf d e m R ü c k e n der Parteien, die die F o l g e n der h i n k e n d e n S c h e i d u n g t r a g e n müssen, t ä t i g zu w e r d e n und durch die N i c h t a n e r k e n n u n g ein Zeichen für eine b e s s e r e K o m p e t e n z v e r t e i l u n g in dieser W e l t zu setzen. 5 3 Auf d e m S p i e l e steht auch in nicht v e r m ö g e n s r e c h t l i c h e n S t r e i t i g k e i t e n k e i n u n m i t t e l b a r e s s t a a t l i c h e s Zuständigkeitsinter esse}1

IX.

Prüfungsdichte

Im Interesse e i n e s w i r k s a m e n B e k l a g t e n s c h u t z e s k o m m t w e d e r eine selbständige Anerkennung der e r s t s t a a t l i c h e n Zuständigkeitsentscheidung 5 5 in F o r m eines Zwischenurteils 5 6 noch eine Bindung des Z w e i t r i c h t e r s an die rechtlichen und tatsächlichen Feststellungen des

52 Vgl. Art. 7 FamRÄndG. 53 Dabei spielt es keine Rolle, ob der Kläger im Ausland obsiegt hat oder unterlegen ist. Ζ. B. kann eine Ehefrau, die sich im Ausland scheiden ließ, aber nach dem Tode des Ehemannes gerne in den Genuß der Witwenrente der deutschen Sozialversicherung kommen möchte, die Nichtanerkennung des ausländischen Scheidungsurteils nicht mit der Begründung beantragen, nicht der Erststaat, sondern ein dritter Staat sei nach deutschem Recht international zuständig, Gelmer NJW 1968, 800, RIW 1980, 307; Schütze DIZPR 162; Stein,/Jonas/Schumann § 328 Rz. 165; Gottwald ZZP 103 (1990), 274. Α. A. Hausmann, Kollisionsrechtliche Schranken von Scheidungsurteilen, 1980, 259; Fricke, Anerkennungszuständigkeit zwischen Spiegelbildgrundsatz und Generalklausel, 1990, 102; Schock IZVR Rz. 882, der jedoch im Ergebnis mit der hier vertretenen Auffassung übereinstimmt, weil auch er dem Kläger, der die internationale Unzuständigkeit rügt, das Verbot des venire contra factum proprium entgegensetzt. 54 Sondern allenfalls ein Rechtsanwendungsinteresse. Dieses liegt aber auf einer anderen Ebene als auf der der Prüfung der internationalen Anerkennungszuständigkeit, Gelmer NJW 1975, 1079, Vgl. auch oben Fußn. 6. 55 Vgl. Lowenfeld RdC 245 (1994- I ), 174, der fragt: „Is a decision in exercise of compfetence de la competence, which in the first instance every court possesses, itself entitled to recognition ? 56 Die selbständige Anerkennung eines ausländischen (Zwischen-) Urteils, das die internationale Zuständigkeit nach erststaatlichem Recht feststellt, ist für den Zweitrichter irrelevant, Fußn, 47. Denn in der Regel ist das Zuständigkeitsrecht, nach dem der Erstrichter die Frage seiner internationalen Entscheidungszuständigkeit beantwortet, nicht identisch mit den Regeln des Zweitstaates über die inter-

182

ausländischen E r s t r i c h t e r s 5 7 in den Gründen der zur A n e r k e n n u n g anstehenden e r s t s t a a t l i c h e n S a c h e n t s c h e i d u n g in B e t r a c h t , 5 8 e s sei denn, ein S t a a t s v e r t r a g schreibt a u s d r ü c k l i c h eine Bindung v o r , so ζ. B. A r t . 28 II GVÜ. 5 9 D e r Z w e i t r i c h t e r d a r f neue B e w e i s e erheben. 6 0 A u c h die sog. doppelrelevanten

Tatsachen61

t e r im A n w e n d u n g s b e r e i c h der § 328

sind v o m deutschen Zweitrich-

I N r . 1 Z P O nachzuprüfen: Stim-

m e n die Z u s t ä n d i g k e i t s t a t s a c h e n mit den die K l a g e begründenden T a t s a c h e n überein, wie dies ζ. B. beim G e r i c h t s s t a n d des Erfüllungsortes 6 2 oder d e r unerlaubten Handlung 6 3 der F a l l sein kann, dann genügen die klägerischen Behauptungen

nicht, u m aus d e u t s c h e r Sicht die i n t e r n a t i o n a l e

Zuständigkeit zu bejahen. 64 E s m u ß v i e l m e h r — wie a u c h sonst — nachgeprüft werden, ob Tatsachen Zuständigkeitstatbestand v e r b o t e n e revision

au fond.

vorliegen, die unter den in F r a g e stehenden fallen. E s handelt

sich hier nicht u m

eine

W o l l t e m a n nur auf die schlüssigen T a t s a -

nationale Zuständigkeit fremder Staaten als Voraussetzung der Anerkennung (internationale Anerkennungszuständigkeit). Aber auch wenn die Prüfungsmaßstäbe in concreto übereinstimmen, kommt eine selbständige Anerkennung nicht in Betracht. Anerkennungsfähig sind nur ausländische Söcftentscheidungen („on the merits"), nicht aber ausländische Entscheidungen über prozessuale Punkte, Geimer IZPR Rz. 2788. 57 Erst recht nicht an Tatsachen fiktionen aufgrund Säumnis des Beklagten, so schon Carl Ludwig von Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, 2. Aufl., 1889 (Reprint 1966), Bd. 2 Rz. 427; Geimer, Zur Prüfung der Gerichtsbarkeit und der internationalen Zuständigkeit bei der Anerkennung ausländischer Urteile, 1966, sowie BGHZ 52, 30 = IPRspr. 1968-69 Nr. 225. 58 Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 121; GeimerISchütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd I Halbbd. 2, 1984, 1557; Martiny, Anerkennung ausländischer Entscheidungen nach autonomem Recht in Handbuch des IZVR, Bd. III 1, 1984, Rz. 788; Markus Meier, Grenzüberschreitende Drittbeteiligung, 1994, 219. 59 S. auch Art. 5 I deutsch - belgisches Abkommen (BGHZ 60, 344 = ZZP 87 [1974], 332 [Geimer] =IPRspr. 73/153), Art. 5 I deutsch-niederländischer Vertrag, Art. 8 II deutsch-israelischer Vertrag, Art. 8 III deutsch-norwegischer Vertrag, Art. 9 II deutsch-spanischer Vertrag, Art. 3 II deutsch-österreichischer Konkurs- und Vergleichsvertrag. 60 Dies gilt für anerkennungsfreundliche Tatsachen auch im Anwendungsbereich eines Anerkennungs- und Vollstreckungsvertrages, der verbis expressis das Gegenteil bestimmt, GeimerISchütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. I Halbbd. 2, 1984, 1572 Fußn. 228; Karl, Die Anerkennung von Entscheidungen in Spanien, 1993, 135. 61 Nachweise ζ. B. bei Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 603. 62 § 328 I Nr. 1 ZPO i. V. m. § 29 ZPO. 63 § 328 I Nr. 1 ZPO i. V. m. § 32 ZPO. 64 BGH LM § 32 ZPQ Nr. 15 (Geimer) ZZP 108 (1995), 359 {Koch).

„Internationalpädagogik" oder wirksamer Beklagtenschutz ?

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chenbehauptungen des Klägers im ausländischen Erstprozeß abstellen, dann könnte der Gesetzeszweck (Schutz des Beklagten vor unzumutbaren Foren) nicht verwirklicht werden. Denn der Beklagte wäre praktisch weltweit gerichtspflichtig, wenn der Kläger schlüssig Zuständigkeitstatsachen behauptet hätte. Dem Kläger wäre forum shopping in ausufernder Weise zu Lasten der legitimen Verteidigungsinteressen des Beklagten möglich.65 Eine Präklusion neuer, im Erstverfahren nicht vorgebrachter Tatsachenbehauptungen kommt nicht in Betracht, wenn der Beklagte im Erstverfahren nicht vertreten war und daher Versäumnisurteil ergangen ist.66 Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Beklagte am erststaatlichen Verfahren teilgenommen, es aber unterlassen hat, auch nach dem Recht des Erststaates relevante Tatsachen schon im ausländischen Erkenntnisverfahren geltend zu machen. Denn dann beruht die Bejahung der internationalen Entscheidungszuständigkeit durch das Erstgericht auf der nachlässigen Prozeßführung des Beklagten.67

X. Internationale Verfassung

Anerkennungszuständigkeit

und

Die internationale Gerichtspflichtigkeit des Beklagten steht im Verfassungsstaat nicht zur beliebigen Disposition des einfachen Gesetzgebers. Art. 6 I EMRK68 und das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete verfassungsmäßige Recht auf ein faires Verfahren gebieten, die Gerichtspflichtigkeit wirksam zu begrenzen. Verfassungswidrig wäre ein genereller Verzicht auf die Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit. Hier würde der Verzicht auf die Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit des Erststaates zur Anerkennung von ausländischen Ent65 Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 122. 66 Geimer, Zur Prüfung der Gerichtsbarkeit und der internationalen Zuständigkeit bei der Anerkennung ausländischer Urteile, 1966, 142; Geimer/Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. I Halbbd. 2, 1984, 1564; Martiny, Anerkennung ausländischer Entscheidungen nach autonomem Recht in Handbuch des IZVR, Bd. III 1, 1984, Rz. 791; Gottwald ZZP 103 (1990), 277 sowie in Münchener Kommentar zur ZPO, 1992, § 328 Rz. 63; BGHZ 52, 30 = MDR 1969, 660 = ΝJW 1969, 1536 = IPRspr. 1968-69/225. 67 Geimer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Deutschland, 1995, 123; Geimer/Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. I Halbbd. 2, 1984, 1571. 68 Geimer BerDGVR 33 (1994), 213, 220.

184

Scheidungen führen, die in absolut unzumutbaren und daher verfassungsrechtlich zu beanstandenden Foren ergangen sind.69 Im Anwendungsbereich der Brüsseler und der Luganer Konvention wird — ebenso wie nach den von Deutschland mit Griechenland und Österreich geschlossenen Anerkennungs und Vollstreckungsverträgen 70 — die internationale Zuständigkeit des Erststaates grundsätzlich 71 nicht geprüft, 72 und zwar auch dann nicht, wenn das Erstgericht seine internationale Zuständigkeit nicht auf die Zuständigkeitsregeln der Brüsseler bzw. Luganer Konvention gestützt hat,73 sondern auf sein nationales Kompetenzrecht 74 oder ein Spezialabkommen. 75 Die Folge ist eine enorme Ausweitung der Gerichtspflichtigkeit des Beklagten.16 Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da die geographische Zumutbarkeitsschwelle derzeit noch nicht überschritten ist. Anders wäre es aber bei einer globalen Vernetzung der Justizsysteme.11 Das „Aufsuchen" der Gerichte der Vertragspartner der Brüsseler und der Luganer Konvention in der derzeitigen Konfiguration ist noch geographisch zumutbar. 78 Anders wäre es, wenn ζ. B. Japan Vertragsstaat der Luganer Konvention 69 Geimer FS Schwind, 1993, 20, 28; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 288. 70 GeimerISchütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. I Halbbd. 2, 1984, 1508. 71 Die internationale Zuständigkeit des Erststaates darf im Anerkennungs- bzw. Vollstreckbarerklärungsstadium durch den Zweitrichter geprüft werden nur in den Fällen des Art. 28 I und des Art. 54 II EuGVÜ einschließlich der Parallelvorschriften in den Beitrittsübereinkommen, nämlich Art. 34 III des 1. Beitrittsübereinkommens vom 9. 10. 1978 betreffend Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich (BGBl. 1983 II 802), Art. 12 II des 2. Beitrittsübereinkommens vom 25. 10. 1982 betreffend Griechenland (BGBl.. 1988 II 453) und Art. 29 II des 3. Beitrittsübereinkommens vom 26. 5. 1989 betreffend Spanien und Portugal (BGBl.. 1994 II 549), Geimer/Schätze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. I Halbbd. 2, 1984, 1046; Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO, 1992, § 328 Rz. 57. Ein weitere Ausnahme stipuliert Art. 28 II des Luganer Übereinkommens. Nachweise bei Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 4. Aufl., 1993, Art. 28 Rz. 5 ff. 72 Geimer/Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, Bd. I Halbbd. 2, 1984, 1507; Geimer IPRax 1987, 144. 73 Zöller/Geimer, ZPO, 19. Aufl., 1995, Anh. I Art. 2 GVÜ Rz. 5. und Art. 25 GVÜ Rz. 1. 74 Art. 4 I GVÜ. 75 Art. 57 GVÜ. 76 Vgl. oben VI. Allgemein zur Last to be sued abroad Lowenfeld RdC 245 (1994), 176: „That of course would impose some burden....hiring a lawyer several thousand miles away, possibly litigating in an unfriendly forum." 77 Geimer FS Schwind, 1993, 28. 78 Trunk, Die Erweiterung des EuGVÜ-Systems am Vorabend des Europäischen Binnenmarktes, 1991, 29.

„Internationalpädagogik" oder wirksamer Beklagtenschutz ?

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würde. Denn einem in Japan Domizilierten ist die vorbeschriebene (aus dem Verbot der Nachprüfung der internationalen Anerkennungszuständigkeit im Zweitstaat folgende) erweiterte Prozeßführungslast nicht zumutbar. 79

79 Bei außereuropäischen Staaten verneint auch Trunk 140 generell die geographische Zumutbarkeit der internationalen Gerichtspflichtigkeit des Beklagten, hervorgerufen durch einen Verzicht auf die Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit des Urteilsstaates im Stadium der Anerkennung bzw. Vollstreckbarerklärung.

Deutsche Probleme Internationaler Familienverfahren von

Prof. Dr. Peter G o t t w a l d

Regensburg

Professor an der Universität Regensburg

188

Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV.

Einführung Scheidungsverfahren Scheidungsfolgen Ergebnisse

Deutsche Probleme Internationaler Familienverfahren

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I. Einführung Viele Staaten haben besondere Familiengerichte mit eigenem Verfahren eingerichtet. Die Grundidee war dabei, die Familie als Einheit zu sehen und daher bei ihrem Zerbrechen alle Streitigkeiten dem gleichen Richter zuzuweisen, gleichzeitig zu verhandeln und zu entscheiden, damit aufeinander abgestimmte Regelungen ergehen und vor allem der schwächere Ehegatte seine Interessen hinsichtlich der Scheidungsfolgen rechtzeitig wahrnehmen kann. Leitgedanken und Ergebnis dieser Reformbewegung hat Hideo Nakamura 1983 eindrucksvoll dargestellt. 1 Der an sich schwierige Entscheidungsverbund (§ 623 ZPO) ist inzwischen in der deutschen Praxis eingespielt. Strukturprobleme zeigen sich dagegen in jüngster Zeit in „internationalen" Familienverfahren, bei denen beide oder ein Ehegatte eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. In Deutschland ist die Zahl der Ausländer inzwischen auf nicht ganz 7 Millionen gestiegen,2 so daß solche Fälle immer häufiger werden. 3 Scheidungsverfahren werden unabhängig von ihrem Auslandsbezug grundsätzlich nach der lex fori durchgeführt. 4 Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist dabei weit gefaßt; für Ausländer genügt der „gewöhnliche Aufenthalt" wenigstens einer Partei im Inland (§ 606a ZPO ).5 Das Scheidungsstatut knüpft dagegen an das gemeinsame Heimatrecht der Parteien an; bei gemischt nationalen Ehen kann, muß es aber nicht zur Anwendung deutschen Rechts kommen (vgl. Art. 17 I mit Art. 14 I EGBGB). Dieses Auseinanderfallen von Schei dungs verfahren und Scheidungsstatut bereitet einige Schwierigkeiten, weil die Regeln des Familienver1 H. Nakamura, Familiengerichtsbarkeit, 1984; ders., Die Aufgabe des Gerichts, Festschrift für Habscheid, 1989, S. 205, 209 ff. 2 Zur Lage 1988 vgl. P. Scheibler, Bi-nationale Ehen in der Bundesrepublik Deutschland, FuR 1990, 91. 3 Vgl. T. Schnorr, Grenzüberschreitende Familienverfahren in der Praxis, IPRax 1994, 340. 4 RosenbergISchwabIGottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, §6 II 1; Ch. v. Bar, IPR, Bd.l, 1987, Rdn. 360 ff; Schwab/Maurer, Handbuch des Scheidungsrechts, 3. Aufl. 1995, Teil I Rdn. 1169; D. Henrich, Internationales Familienrecht, 1989, S. 106 ; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, 21. Aufl. 1993, Vor§ 606 Rdn. 17. 5 Sie fehlt aber, wenn das Heimatrecht die Zuständigkeit beim Auslandsaufenthalt nur eines Ehegatten nicht anerkennt, vgl. OLG Hamm FamRZ 1992, 822/23 (Iran).

190

fahrens eng gefaßt und völlig auf das deutsche materielle Scheidungsund Scheidungsfolgenrecht ausgerichtet sind. Stets stellt sich dann die Frage, ob die prozessuale lex fori strikt anzuwenden, die Parteien gegebenenfalls an die allgemeinen Zivilgerichte oder die Heimatgerichte zu verweisen sind, oder ob das deutsche Verfahrensrecht in funktionaler Weise6 analog anzuwenden bzw. an das ausländische Sachstatut anzupassen ist.7

II.

Scheidungsverfabren

ι Deutsche Gerichte sind für die Scheidung einer Ausländerehe international zuständig, wenn wenigstens einer der Ehegatten bei Klageerhebung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (§ 606a I Nr. 4 ZPO). a) Zweifelhaft ist danach, ob der Scheidungsantrag eines Asylbewerbers, über dessen Antrag noch nicht entscheiden oder der bereits abgelehnt wurde, sachlich zu prüfen ist. Hat eine Person, deren Aufenthalt nur geduldet ist und durch Abschiebung beendet werden kann, gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland ? 8 Da diese Personen die Bindung an ihre bisherige Heimat abgebrochen haben, muß man dies wohl nach einem etwa sechsmonatigen Aufenthalt bejahen, sofern eine Abschiebung nicht unmittelbar bevorsteht. 9 b) § 606a I Nr. 4 ZPO verlangt, daß die Anerkennung der deutschen Scheidung in wenigstens einem Heimatstaat nicht ausgeschlossen ist. Bedenken sind freilich zurückzustellen, wenn aus der Sicht des Heimatstaates gar keine Ehe vorliegt. Die nur nach Inlandsrecht gültig geschlossene, sog. hinkende Ehe muß sinngemäß ohne Rücksicht auf das Heimatrecht geschieden werden können.10 2 Unter den in § 606 I ZPO aufgeführten Ehesachen findet sich keine 6 Vgl. F. Schwind, Funktionalität im internationalen Eheverfahren, Festschrift für Matscher, 1993, S. 435. 7 Vgl. MünchKomm/ Winkler v. Mohrenfels, BGB, 2. Aufl. 1990, Art. 17 EG BGB Rdn. 103 ff. 8 Ablehnend OLG Bremen FamRZ 1992, 962. 9 Ähnlich für die USA: E. Scoles/P. Hay, Conflict of laws, 2d ed. 1992, S. 197 (personal jurisdiction independent of visa status or being illegal or deportable). 10 OLG Hamm FamRZ 1994, 1182; Johannsen/Henrich, Eherecht, 2. Aufl. 1992, Art. 17 EG BGB Rdn. 34; Ch. v. Bar, IPR, Bd. 1, 1991, Rdn. 259.

Deutsche Probleme Internationaler Familienverfahren

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förmliche Ehetrennung von Tisch und Bett. Dennoch ist allgemeine Meinung, daß ein deutsches Familiengericht sie in Anwendung ausländischen Rechts aussprechen kann.11 Als Vorstufe zur Scheidung wird das Verfahren als Ehesache behandelt.12 Ob dagegen mit Folgesachen ein Verbundverfahren analog § 623 ZPO stattfindet, ist streitig.13 Nach §§ 610 II, 623 ZPO findet ein Verbundverfahren nur bei einer Scheidung, nicht dagegen in anderen Ehesachen statt. 14 Manche verweisen daher darauf, daß das Trennungsverfahren weder Scheidung noch ein anderes Eheverfahren nach §606 ZPO sei und die Trennung das Eheband auch noch nicht zerschneide. Da es 1976 bei Einführung der Familiengerichte bereits Trennungsverfahren gegeben und der Gesetzgeber diese nicht einbezogen habe, liege auch keine Regelungslücke vor. Praktisch ist die Ehetrennung aber meist endgültige Vorstufe der Scheidung und entspricht ihr daher funktional. Einzelheiten internationaler Familienverfahren hat der Gesetzgeber offensichtlich nicht bedacht. Deshalb erscheint es überzeugender, das Verfahren mit Folgesachen im Verbund abzuwikeln,15 unabhängig davon ob das Heimatrecht selbst den Verbund im Trennungs verfahren vorsieht.16 Da das Eheband aber aufrecht erhalten bleibt, erscheint eine zwingende Sorgerechtsentscheidung (§ 623 III 1 ZPO) nicht als erforderlich. 17 3 Eine einverständliche Scheidung ist inzwischen in vielen Staaten vorgesehen. § 630 ZPO regelt ihre Voraussetzungen ausschließlich für das deutsche Sachrecht. Gilt ausländisches Scheidungsstatut, so sind dessen Voraussetzungen maßgebend, § 630 ZPO ist dagegen als sachrechtsbezogene Verfahrensnorm nicht anzuwenden.18 11 BGHZ 47, 324 = Ν J W 1967, 2109; BGH F a m R Z 1987,792; Ch. v. Bar, Internationales Privatrecht, Bd. 2, 1991, Rdn. 263; D. Henrich, Internationales Familienrecht, 1989, S. 108 ; Zöller/Philippi, ZPO, 19. Aufl. 1995, § 606 Rdn. 11. 12 M ü n c h K o m m / Walter, ZPO, 1992, § 606a Rdn. 7; M ü n c h K o m m / Winkler v. Mohrenfels, Art. 17 EGBGB Rdn. 238. 13 Ja: OLG F r a n k f u r t F a m R Z 1994, 715; nein: OLG F r a n k f u r t F a m R Z 1995, 375; OLG F r a n k f u r t F a m R Z 1985, 619; Piltz, Internationales Scheidungsrecht, 1988, S. 60. 14 Vgl. Göppinger/Linke, Unterhaltsrecht, 6. Aufl. 1994, Rdn. 325115 OLG F r a n k f u r t F a m R Z 1994, 715; D. Henrich, Internationales Familienrecht, S. 108; ders., in Johannsen/Henrich, Eherecht, 2. Aufl. 1992, Art. 17 EGBGB Rdn. 44; M ü n c h K o m m / Winkler v. Mohrenfels, Art. 17 EGBGB Rdn. 129 ; Rahm/Känkel/ Breuer, Handbuch des Familiengerichtsverfahrens, 3. Aufl. 1990, Kap. VIII Rdn. 167; Zöller/Philippi § 623 Rdn. 3. 16 Vgl. SchwabIMaurer, Handbuch des Scheidungsrechts, 3. Aufl. 1995, Rdn. 11554,117017 Rahm/Künkel/Breuer, Handbuch des Familiengerichtsverfahrens, 4. Aufl. 1994, VIII 156. 18 AmtsG H a m b u r g I P R a x 1983, 74; D. Henrich, Internationales Familienrecht, S.

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4 Ein flexibles Vorgehen ist schließlich geboten, wenn das Scheidungsstatut eine Privatscheidung vorsieht.19 Im Inland darf eine Ehe nach Art. 17 II EGBGB aber nur durch ein staatliches Gericht im Scheidungsverfahren der §§ 606 ff ZPO geschieden werden.20 Das deutsche Gericht hat danach grundsätzlich einen nach der lex causae möglichen privatautonomen Akt durch Scheidungsurteil zu ersetzen.21 Inwieweit das Privat- „verfahren" im Scheidungsprozeß zu beachten ist, sagt das Gesetz nicht.22 Sinnvoll ist dies, wenn andernfalls der Scheidungstatbestand der lex causae nicht verwirklicht ist und deshalb oder wegen Mißachtung einer Form die deutsche Scheidung im Heimatstaat nicht anerkannt wird. a) Eine gewisse Friktion tritt vor allem bei einer „talaq"-Scheidung gemäß islamischen Rechten auf.23 Teilweise wurde hier die Ehe aufgrund der vom Ehemann in der mündlichen Verhandlung vor Zeugen erklärten „Verstoßung" geschieden.24 Dagegen wurde eingewandt, daß eine solche „Inszenierung" im Gerichtssaal nicht angemessen sei und möglicherweise auch nicht formgerecht ausgeführt werde.25 Die einseitige Verstoßung widerspreche zudem den Wertungen der Art. 3 II, 6 I GG und damit dem deutschen ordre public. Sachgerechter sei daher, das religiöse „talaq"Verfahren außerhalb des Gerichtssaales zu betreiben, aber vor dem Ausspruch der Scheidung festzustellen, ob die Ehefrau mit der Scheidung letztlich einverstanden ist oder ein sonst anerkannter Scheidungsgrund besteht.26 Auch ist zu prüfen, ob die Frist für den Widerruf der „talaq"Erklärung abgelaufen ist. Will die Frau trotz Widerrufs geschieden werden, so ist ihr zudem nach Art. 6 EGBGB ein Scheidungsrecht nach 107; ders., in Johannsen/Henrich, Eherecht, Art. 17 EGBGB Rdn. 41; Baumbach/ Lauterbach/Albers, ZPO, 53, Aufl. 1995, § 630 Rdn. 1; Stein/Jonas/Schlosser, § 630 Rdn. 3; auch Johannsen/Henrich/Sedemund-Treiber, Eherecht, § 630 ZPO Rdn. 21 ; a. Α. B. Bergerfurth, Der Ehescheidungsprozeß, 9. Aufl. 1994, Rdn. 22519 Ζ. B. in J a p a n durch außergerichtliche Vereinbarung und Anmeldung bei der Registerbehörde (Art. 763 ff jap. BGB) ; vgl. LG H a m b u r g IPRspr. 1977 Nr. 66. 20 D. Henrich, Internationales Familinrecht, S. 106; Johannsen/Henrich, Art. 17 EGBGB Rdn. 37. 21 Stein,/Jonas/Schlosser, Vor § 606 Rdn. 17c. 22 Vgl. Ch. v. Bar, IPR, Rdn. 264 ff. 23 Vgl. D. Gordon, Foreign Divorces, English Law and Practice, 1988, S. 13 ff. 24 So OLG München I P R a x 1989, 238, 241(zustim. Jayme, S.223). 25 Krit. Ch. v. Bar, IPR, Bd. 2, 1991, Rdn. 265. 26 So AmtsG Esslingen I P R a x 1993, 250; G. Beitzke, Scheidung sunnitischer Libanesen, I P R a x 1993, 231, 234; A. Lüderitz, „Talaq" vor deutschen Gerichten, Festschrift f ü r Baumgärtel, 1990, S. 333, 336, 338 f; M. Bolz, Verstoßung der Ehefrau

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deutschem Recht (§§ 1565 I, 1566 II BGB) zuzubilligen.27 Mit diesen Einschränkungen verstößt eine Scheidung aufgrund des „talaq" und im Anschluß daran keineswegs gegen die „wesenseigene Zuständigkeit" deutscher Gerichte.28 Denn der Richter wird nicht innerhalb des fremden Verfahrens tätig, sondern stellt als dessen Folge einen dem Einverständnis oder der Zerrüttung der Ehe entsprechenden Scheidungsgrund fest. Kann die Ehe danach aufgelöst werden, so ist im Inland zu scheiden, ohne daß im einzelnen geprüft werden müßte, ob die religiösen Formen beachtet sind. Wollen die Eheleute sicherstellen, daß sie auch im Heimatstaat geschieden sind, so können und müssen sie das deutsche Scheidungsurteil im Heimatstaat anerkennen lassen oder das entsprechende Verfahren außerhalb und parallel zum inländischen Scheidungsverfahren betreiben.29 Die Parteien müssen selbst entscheiden, ob sie unter diesen Umständen eine Inlandsscheidung wollen oder nur die Auslandsscheidung betreiben und diese dann im Inland (soweit nötig bzw. möglich) durch die Landesjustizverwaltung anerkennen lassen.30 b) Von diesem pragmatischen Weg ist das Kammergericht jüngst für eine Rabbinats-Scheidung nach jüdischem Recht31 abgewichen. Das Gericht meinte, das jüdische Scheidungsstatut befinde auch über die Scheidungsform ; Sachrecht und Verfahren (Übergabe des Scheidebriefs unter Aufsicht des Rabbinatsgerichts) seien untrennbar. Dieses zeremonielle Verfahren als eigentlichen statusverändernden Akt könne ein deutsches Gericht nicht ausführen ; es sei ihm „völlig wesensfremd". 32 Die begehrte Scheidung sei abzulehnen und deshalb entfalle letztlich die an sich nach § 606a I Nr. 2 ZPO eröffnete internationale Zuständigkeit 33 . Mit dieser Argumentation stellt das KG freilich das durch Art. 17 II nach islamischem Recht, NJW 1990, 620 ; vgl. auch H. Kotzur, Kollisionsrechtliche Probleme christlich-islamischer Ehen, 1988, S. 210 f; für generellen ordre publicVerstoß AmtsG Frankfurt IPRax 1989, 237. 27 A. Lüderitz, Festschrift für Baumgärtel, S. 333, 339. 28 OLG München IPRax 1989, 238, 241 (dazu E. Jayme, S. 223) ; G. Beitzke IPRax 1993, 231, 234; vgl. allgemein A. Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, 1969, S. 255 ff. 29 MünchKomm/ Winkler v. Mohrenfels, Art. 17 EGBGB Rdn. 125. 30 Vgl. D. Henrich, Internationales Familienrecht, S. 112. 31 Vgl. dazu W. Pakter, Medieval canon law and the jews, 1988, S. 304 ff ; D. Gordon, Foreign Divorces, S. 36 ff. 32 Wesensfremde Tätigkeiten sind allgemein als Schranke inländischer Gerichtsbarkeit anerkannt ; / . Kropholler, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 1994, § 57 II 1 ; Ch. v. Bar, IPR, Bd. 1, 1987, Rdn. 371. 33 KG FamRZ 1994, 839.

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EGBGB und § 606a ZPO vorgegebene Rechtsschutzsystem in Frage und verweigert den Parteien ohne Not die Scheidung im Inland. Die Zulässigkeit des Verfahrens könnte nur verneint werden, wenn die deutsche Scheidung ohne Nutzen für die Parteien wäre. Inlandswirkung hat das Scheidungsurteil aber ohne jeden Zweifel und das Gericht legt auch nicht dar, daß die deutsche Scheidung in Israel nicht anerkannt würde.34 Hätte das Ehepaar zudem eine besondere Inlandsbeziehung, so könnte die Verweigerung der Scheidung Art. 6 EGBGB widersprechen und die Inlandsscheidung müßte doch ausgesprochen werden.35

III.

Scheidungsfolgen

ι Ist ein deutsches Gericht nach § 606a ZPO für eine Ehesache zuständig, so besteht bei deren Anhängigkeit nach § 621 II, III ZPO auch in Fällen mit Auslandsberührung eine internationale Verbundszuständigkeit für die Folgesachen.36 Für Unterhaltssachen kann sich freilich teilweise aus Art. 5 Nr. 2 EuGVÜ/LugÜ etwas anderes ergeben. Da diese Bestimmung Vorrang vor der ZPO hat,37 fehlt in den dort nicht erfaßten Fällen die internationale Zuständigkeit und ist der Verbund aufgehoben. 38 Umgekehrt tritt der Verbund nach § 623 ZPO ein, auch wenn ihn das ausländische Scheidungsstatut nicht kennt. Da sich die Scheidungsfolgen 34 Die Nichtanerkennung der staatlichen Scheidung durch das religiöse Heimatrecht (.Scheftelowitz, Das religiöse Eherecht im Staat, 1970, S. 99) ist im Fall des § 606a I Nr. 2 ZPO an sich irrelevant (OLG Stuttgart NJW-RR 1989, 261). In New York State wird nach Domestic Relations Law § 253 (von 1983) ein endgültiges Scheidungsurteil erst erlassen, wenn die Parteien auch die religiöse Scheidung betrieben haben und unter Eid versichern, daß nach Erlaß des staatlichen Scheidungsurteils kein Hindernis für eine Wiederverheiratung besteht. Der Beklagte kann auf diesen Schutz aber stets schriftlich verzichten ; vgl. A. Scheinkman, Practice Commentary, in McKinney's Consolidated Laws of New York, Vol. 14, 1986, C 253 ff. 35 Vgl. Schwab/Maurer, Handbuch des Scheidungsrechts, 3. Aufl. 1995, Rdn. I 1122 ; zum jüdischen Scheidungsrecht aus schweizer. Sicht: D. Levin, Konflikte zwischen einer weltlichen und einer religiösen Rechtsordnung, Zürich 1991. 36 OLG Frankfurt FamRZ 1983, 728; Jayme, Fragen der internationalen Verbundszuständigkeit, IPRax 1984, 121; M.Passauer, Rechtsprobleme in Familiensachen mit polnischen Parteien, FamRZ 1990, 14, 15 ; Palandt/Heldrich, BGB, 54. Aufl. 1995, Art. 17 EGBGB Rdn. 28 ; MünchKomm/ Winkler v. Mohrenfels, Art. 17 EGBGB Rdn. 262 ; SchwabIMaurer, Rdn. I 1128. 37 Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 166 II 3. 38 Vgl. MünchKomm/ Winkler v. Mohrenfels, Art. 17 EGBGB Rdn. 260.

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aber nach dem Scheidungsstatut richten, bestimmt dieses und nicht die lex fori über den Umfang des konkreten Verbundes.39 Soweit sachrechtsbezogene Zwecke verfolgt werden, sollen dazu sogar etwaige Verbundvorschriften des Scheidungsstatuts beachtet werden.40 Das dafür gegebene Beispiel des Kindesunterhalts ist freilich wenig beweiskräftig, da dieser bereits nach § 621 I Nr. 4 ZPO in den Verbund fällt. Außerdem ist der Verbund international nicht zwingend. Eine im Ausland bei Erhebung des Scheidungasantrags anhängige Folgesache bleibt dort weiter anhängig. Umgekehrt schließt die Anhängigkeit der Ehesache im Ausland die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für eine isolierte Folgesache nicht aus.41 Anders ist es, wenn im Ausland mit Rechtshängigkeit der Scheidung ein zwingender Verbund mit der Folgesache eintritt,42 da nach deutschem Recht die Rechtshängigkeit im Ausland ein inländisches Verfahren sperrt, wenn die ausländische Entscheidung voraussichtlich anzuerkennen ist.43 Zweifelhaft erscheint, ob bereits die abstrakte Verbundbefangenheit zu beachten ist, bevor die Parteien einen Antrag zur Verbundsache gestellt haben oder das ausländische Gericht von Amts wegen tätig geworden wäre.44 Erfaßt der ausländische Verbund freilich nur einen Teil des Anspruchs, etwa den Kindesunterhalt erst ab Scheidung, so ist er auch nur insoweit zu beachten.45 2 In diesem Rahmen verbleiben trotzdem zunehmend Zweifel, welche vermögensrechtlichen Folgeansprüche bei einer Scheidung nach ausländischem Scheidungsstatut im Verbund zu behandeln sind. Denn dem Verbundverfahren liegt zwar die Idee zugrunde, alle Streitigkeiten, die als Folge der Eheauflösung zu regeln sind, als Familiensachen im Verbund zu behandeln.46 Der Gesetzgeber hat dem Familiengericht aber nicht per Generalklausel die gesamte Vermögensauseinandersetzung der Eheleute zugewiesen, sondern nur die enumerativ in § 23b GVG (und § 621 ZPO) 39 MünchKomm/Klauser, ZPO, 1992, § 623 Rdn. 5 ; Schwab/Maurer, Rdn. I 1152 ; Grundmann, Qualifikation gegen die Sachnorm, 1985, S. 159 ; vgl. auch Stein/ Jonas/Schlosser, § 621 Rdn. 6 (a. Ε.), § 623 Rdn. 22. 40 So D. Henrich, Internationales Familienrecht, S. 108 (für Ehetrennungsverfahren). 41 OLG H a m m F a m R Z 1994, 774 ; Schwab/Maurer, Rdn. I 1129. 42 So f ü r Art. 443, 445 poln. ZVGB, OLG München I P R a x 1992, 174. 43 BGH FamRZ 1994, 434 ; F a m R Z 1992, 1058/59; D. Henrich, Internationales Scheidungsrecht, S. 8 ff. 44 Vgl. H. Linke, Verbundzuständigkeit — anderweitige Rechtshängigkeit — res iudicata, I P R a x 1992, 159, 160. 45 Vgl. M. Passauer F a m R Z 1990, 14, 16. 46 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 166 I 1.

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aufgeführten Angelegenheiten, so daß Abgrenzungsschwierigkeiten nicht einfach durch Analogie gelöst werden können und die Zuständigkeit für ehe- und familienbezogene Sachen eher aufgesplittert als konzentriert ist.47 Zugewiesen sind etwa Streitigkeiten über die gesetzliche Unterhaltspflicht der Ehegatten (§ 23b IS. 2Nr. 6 ZPO). Diese Pflicht können die Ehegatten vertraglich näher ausgestalten, ohne daß sie ihre gesetzliche Grundlage verliert. Da eine Morgengabe teils Unterhalts-, teils Zugewinnausgleichsfunktion besitzt,48 ist es berechtigt, den Leistungsanspruch als Familiensache zu behandeln.49 Gleiches gilt für einen Anspruch auf Ersatz des materiellen Schadens nach Scheidung.50 3 Die Grenzen solchen Ausgleichs zur Rückgabe in die Ehe eingebrachter persönlicher Gegenstände sind jedoch fließend. Der Zusammenhang mit der Scheidung der Eheleute ist evident. Auch kann das Familiengericht nach § 620 Nr. 8 ZPO die Herausgabe der zum persönlichen Gebrauch eines Ehegatten bestimmten Gegenstände (also immerhin eines Teils der persönlichen Habe) durch einstweilige Anordnung regeln. Dagegen fehlt eine endgültige Entscheidungskompetenz. Diese besteht nur für Ansprüche aus dem ehelichen Güterrecht und für die Zuweisung des Hausrats (§ 23b I S. 2 Nr. 8 und 9 GVG). Leben deutsche Ehegatten in Gütertrennung, so gibt es keinen güterrechtlichen Ausgleich, fallen Herausgabeansprüche mithin in die Zuständigkeit der allgemeinen Zivilgerichte.51 Gleiches gilt für Ansprüche aus dem Widerruf von Schenkungen unter Ehegatten (nach deutschem Recht gemäß §§ 812 ff i. V. m. §§ 530 ff BGB) ,52 Da die Qualifikation als Familiensache nach deutschem Recht erfolgt, 53 hat ein Teil der Gerichte daraus abgeleitet, daß der nach türkischem Recht trotz Gütertrennung bestehende Anspruch auf Herausgabe persönlichen Vermögens (Art. 146 türk. ZGB) ebenfalls keine Familiensache ist,54 wäh47 Vgl. Kissel, GVG, 2. Aufl. 1994, § 23b Rdn. 13. 48 Eingehend zur kollisionsrechtlichen Einordnung BGH NJW 1987, 2161 = IPRax 1988, 109 (dazu Heßler, S. 95). 49 MünchKomm/ Walter, ZPO, 1992, § 621 Rdn. 97. 50 Zu Art. 143 türk. ZGB vgl. Ch. Rumpf, Scheidungsfolgen im türkischen Recht, ZfRV 29 (1988), 272, 273 ff; zum tunesischen Recht OLG München IPRax 1981, 22 (dazu Jayme, S. 9). 51 OLG Frankfurt FamRZ 1989, 75; OLG Hamm FamRZ 1993, 211; Kissel, GVG, § 23 b Rdn. 45. 52 BGH NJW 1980, 193; OLG Köln FamRZ 1995, 236 (zu Art. 244 türk. OG). 53 OLG Hamm FamRZ 1993, 211; Kissel, GVG, § 23b Rdn. 38. 54 OLG Köln FamRZ 1994, 1476 (Aussteuer); OLG Hamm FamRZ 1993, 211 (Schmuck; Hälfte der Geldgeschenke bei Hochzeit; Hausratsgegenstände ( / ) ; OLG Frankfurt FamRZ 1989, 75/76 ; a. A. OLG Hamm FamRZ 1992, 963.

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rend für den Anspruch auf Herausgabe einer Mitgift nach griechischem Recht etwas anderes gelten soll.55 Besonders überzeugend ist diese Einordnung freilich nicht. Unstreitig wird das Bestehen dieser Ansprüche materiellrechtlich dem Scheidungsstatut (und nicht dem Vertragsstatut oder dem allgemeinen Sachenrecht) unterstellt. 56 Dann erscheint es aber inkonsequent, das deutsche Verständnis der Gütertrennung der prozessualen Qualifikation zugrundezulegen. Vielmehr ist zu fragen, ob der Herausgabeanspruch funktional als güterrechtlicher Ausgleich zu verstehen ist. Für Art. 146 I türk. ZGB läßt sich dies danach mit Recht bejahen.57 4 Selbst die Zuweisung von Ehewohnung und Hausrat an einen ausländischen Ehegatten macht Schwierigkeiten, obwohl das Familiengericht dafür eindeutig zuständig ist (§ 23b I S. 2 Nr. 8 GVG). Ob nämlich ein Anspruch auf Zuweisung der Ehewohnung nach Scheidung besteht, soll das (ausländische) Scheidungsstatut (Art. 17 I EGBGB) entscheiden58. Das Heimatrecht der Eheleute hat aber vielfach andere soziale Verhältnisse und Traditionen vor Augen, die nicht nahtlos zu den deutschen Lebensverhältnissen passen. Weder das türkische noch das iranische Recht sehen Hausratsteilung und Wohnungszuweisung nach der Scheidung vor. Dennoch erscheint es zu kurz gegriffen, Verfahren nach § 23b I 2 Nr. 8 GVG damit auszuschließen und den schwächeren Teil auf eine etwa mögliche Auseinandersetzung nach Sachen- oder Gemeinschaftsrecht vor den allgemeinen Zivilgerichten zu verweisen.59 Nichts anderes ergäbe sich, wenn man die Zuweisung als Teil des nachehelichen Unterhalts auffassen wollte. Denn nach Art. 18 IV EGBGB bzw. Art. 8 Haager Unterhalts-Übereinkommen 1973 richtet sich der nacheheliche Unterhalt nach dem Scheidungsstatut und nicht wie sonst der Unterhalt (Art. 18 I EGBGB bzw. Art. 4 I Haager Übereinkommen) nach dem Recht des Aufenthaltsstaates. Eine Hausratsteilung ist danach immerhin möglich, ein Anspruch auf Zuweisung der lebenswichtigen Wohnung aber regelmäßig nicht ersichtlich. Jedenfalls ist die Zuweisung der Wohnung im Inland eine Frage der „öffentlichen Ordnung" i. S. des ordre public (Art. 6 EGBGB). Deshalb 55 OLG Karlsruhe IPRax 1988, 294; vgl. OLG Hamm FamRZ 1993, 211, 212. 56 Palandt/Heldrich, Art. 17 EGBGB Rdn. 17. 57 OLG Hamm FamRZ 1992, 963, 964 ; OLG Hamm FamRZ 1993, 69, 70. 58 D. Hennch, Internationales Scheidungsrecht, 5. Aufl. 1990, S. 57 ff ; ders., Internationales Familienrecht, 1989, S. 116 ; Bergerfurth, Der Ehescheidungsprozeß, 9. Aufl. 1994, Rdn. 238; Piltz, Internationales Scheidungsrecht, 1988, S. 101 f. 59 So aber OLG Köln FamRZ 1994, 1476.

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sollte man insoweit das anwendbare ausländische Recht ergänzen. Da es deutschen Wertvorstellungen widerspricht, daß einfach der Stärkere die Wohnung behält, ist die durch Anwendung des deutschen ordre public entstehende Regelungslücke durch die lex fori als Ersatzrecht 60 zu schließen. Während des Getrenntlebens sind danach § 1361b BGB und § 18a HausratsVO, 61 nach der Scheidung § 1 HausratsVO ergänzend anzuwenden.62 5 Die Systemunterschiede im materiellen und im Prozeßrecht zeigen sich schließlich besonders deutlich bei Auskunft und Unterhalt. Das deutsche Recht kennt einenselbständigklagbaren (materiellen) Auskunftsanspruch (§§ 1353, 1580, 1605 BGB), der meist zusammen mit dem noch unbestimmten Unterhaltsanspruch mittels Stufenklage (§ 254 ZPO) eingeklagt wird. Über den Unterhalt für Ehegatte und Kinder hat das Familiengericht gegebenenfalls im Verbund zu entscheiden ( § 623 ZPO); über die Auskunftspflicht im Rahmen der Stufenklage darf aber vorab entschieden werden.63 Nach der deutschen lex fori ist die Stufenklage stets zulässig. Ob freilich ein Auskunftsanspruch besteht, richtet sich nach der lex causae,64 also dem Unterhaltsstatut. 65 Die meisten Rechtsordnungen kennen aber keinen Auskunftsanspruch im materiellen Recht, weil entweder im Unterhaltsprozeß der Untersuchungsgrundsatz gilt oder die Parteien verpflichtet sind, einander im prozessualen discovery-Verfahren alle relevanten Umstände mitzuteilen.66 a) Soweit in Ausland Amtsermittlung herrscht, haben die deutschen Gerichte einen klagbaren Auskunftsanspruch im Wege der Anpassung zuerkannt, 67 und zwar im Verhältnis zum griechischen,68 japanischen 69 60 Vgl. MünchKomm/ Sonnenberger, BGB, 2. Aufl. 1990, Art. 6 EG BGB Rdn. 84 ff. 61 Hierfür M. Coester, Sorgerecht und Ehewohnung bei getrennt lebender iranischer Familie, IPRax 1991, 236, 237. 62 AmtsG Recklinghausen, FamRZ 1995, 677 (zum türk. Recht). 63 Schwab/Maurer, Handbuch des Scheidungsrechts, Rdn. I 342 \ Johannsen/Henrich/ Sedemund-Treiber, Eherecht, § 621 ZPO Rdn. 59. 64 P. Böhm, Die Rechtsschutzformen im Spannungsfeld von lex fori und lex causae, Festschrift für Fasching, 1988, S. 107, 123. 65 BGH IPRax 1983, 184. 66 Ζ. B. in den USA vor den Bundesgerichten nach FRCP Rule 26 ff ; vor den State Courts in Kalifornien nach Cal. CCP §§ 2019 ff. 67 Vgl. Jayme, Auskunftsanspruch und Stufenklage bei ausländischem Güterrechtsstatut, IPRax 1982, 11 (Rumänien). 68 OLG Hamm IPRax 1988, 108 ; dazu Jayme/Bissias, Auskunftsanspruch und ausländisches Ehegüterrechtsstatut, IPRax 1988, 94, 95. 69 OLG Stuttgart IPRax 1990, 113, 114.

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und türkischen 70 Recht. Während bei der Anpassung eigene Normen nicht verändert, sondern nur für den konkreten Fall bzw. die Fallgruppe internationalrechtlich modifiziert angewendet werden, um den (ungewollten) Normenmangel zu beheben,71 wurde teilweise auch versucht, das ausländische Recht selbst fortzubilden und darin im Wege der Lückenfüllung einen Auskunftsanspruch zu entwickeln. Eine solche Fortbildung fremden Rechts ist, bei aller gebotenen Vorsicht, prinzipiell möglich.72 Die allein feststellbare Amtsermittlung rechtfertigt es aber nicht, dem ausländischen Recht für Fälle mit Auslandsberührung einen sonst nicht vorgesehenen Auskunftsanspruch zu unterstellen. Die Anpassung des deutschen Rechts könnte freilich auch innerhalb des Prozeßrechts erfolgen, indem soweit nötig die Verfahrensregeln des Sachstatuts mit angewendet werden. Im deutschen Unterhaltsprozeß wäre also dementsprechend der ausländische Untersuchungsgrundsatz anzuwenden, so daß als Folge davon die selbständige Auskunftsklage bzw. die erste Stufe der Stufenklage unzulässig wäre.73 Nun kennt der deutsche Familienprozeß in § 616 ZPO durchaus den Untersuchungsgrundsatz und die prozessualen Sanktionen für Beweisvereitelung74 bei verweigerter Aufklärung dürften im allgemeinen ausreichen, um über den Unterhaltsanspruch sachgerecht zu entscheiden. Bedenklich an dieser Lösung ist jedoch, daß die nach § 254 ZPO zulässige Stufenklage in der ersten Stufe zur Überraschung für den Kläger kostenpflichtig abgewiesen werden müßte,75 obwohl die Klage eigentlich begründet ist. Deshalb erscheint die materiellrechtliche Anpassung, die in der Praxis vorherrscht, insgesamt am systemgerechtesten. b) Offen ist damit noch die Lösung, wenn das Ausland eine dem Auskunftsanspruch funktional vergleichbare prozessuale discovery-Pflicht kennt. Die naheliegendste Lösung ist gewiß, die discovery-Pflicht für den 70 OLG Hamm FamRZ 1993, 69 ; Jayme IPRax 1989, 330. 71 Vgl. / . Kropholler, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 1994, § 34 I ; Ch. v. Bar, IPR, Bd. 1, Rdn. 630. 72 J. Kropholler, Internationales Privatrecht, §311 2 (S. 192) ; MünchKomm/ Sonnenberger, BGB, 2. Aufl. 1990, Einl. IPR Rdn. 456. 73 Hierfür G. Hohloch, Auskunftsansprüche im Spannungsfeld zwischen anwendbarem Recht und Verfahrensrecht, Essays in honour of D. Kokkini-Iatridou, 1994, S. 213, 228 ff. 74 Vgl. Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 53. Aufl. 1995, Anh. § 286 Rdn. 26 ff; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 117 II 6 a. 75 So S. Morweiser, Discovery und materiellrechtlicher Auskunftsanspruch im deutschen Unterhaltsprozeß, IPRax 1992, 65.

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deutschen Prozeß einfach materiellrechtlich zu qualifizieren.76 Art und Umfang der geschuldeten Auskunft würden sich dann nach der ausländischen discovery-Regel richten. Die in Produkthaftungsfällen geltend gemachten ordre public-Bedenken (Art. 6 EGBGB) gegen extremes discovery dürften in Unterhaltssachen kaum greifen, da sich die Beteiligten in Unterhaltssachen auch nach deutschem Recht umfassend Auskunft zu erteilen haben.77 Schwierigkeiten ergeben sich aber bei Nichterfüllung des Anspruchs. Hier ist schwer vorstellbar, daß ein deutscher Richter auf Antrag discovery anordnet (ζ. B. nach US FRCP Rule 37 (a) (2)) oder Sanktionen nach FRCP Rule 37 (b) verhängt. Anpassungen zur Verwirklichung eines ausländischen Rechts dürfen nicht weiter gehen, als es für einen geordneten Rechtsschutz erforderlich ist. Da der Unterhaltsgläubiger in Deutschland einen vollstreckbaren Titel benötigt, ist es wiederum praktikabler, im Wege der Anpassung aufgrund der ausländischen discovery-Pflichten einen Auskunftsanspruch analog zu den §§ 1580, 1605 BGB zu gewähren und auf Auskunftsklage hin zuzusprechen.78

IV.

Ergebnisse

ι Geht es nicht einfacher ? , wird sich der Leser fragen. Die common law-Staaten sagen ja. Die US-Staaten knüpfen jurisdiction in Familiensachen (weitgehend) an das Ehedomizil und wenden in der Sache ausschließlich das Recht des Forum an.79 England nimmt eine Zuständigkeit für die Scheidung nur in Anspruch, wenn beide Parteien entweder domicile oder gewöhnlichen Aufenthalt seit wenigstens einem Jahr in England haben (Domicile and Matrimonial Proceedings Act 1973, s. 5 76 S. Morweiser IPRax 1992, 65. 77 Vgl. Schwab/Borth, Handbuch des Scheidungsrechts, 3. Aufl. 1995, Rdn. IV 698-741, 744-748 ; Göppinger/ Vogel, Unterhaltsrecht, 6. Aufl. 1994, Rdn. 2537 ff. 78 So OLG Bamberg IPRspr. 1983 Nr. 59 (S. 145) ; H. Eidenmüller, Discovery und materiellrechtlicher Auskunftsanspruch im deutschen Unterhaltsprozeß: Anpassung durch Qualifikation ? , IPRax 1992, 356 ; ebenso G. Hohloch, Essays in honour of Kokkini-Iatridou, S. 213, 230. 79 Vgl. E. Scoles/P. Hay, Conflict of laws, 2d ed. 1992, § 15.4 (S. 497); Restatement of the law 2d, Conflict of laws 2d, 1971 (§§70 ff, 285) ; R• Weintraub, Commentary on the Conflict of Laws, 3rd ed. 1986, §5.2 A(S. 236f) ; R. Leflar/L.McDougal III/ R. Felix, American Conflicts Law, 4th ed. 1986, §222 (S. 614).

Deutsche Probleme Internationaler Familienverfahren

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(2)). In allen Fällen wenden die Gerichte in der Sache nur englisches Recht an (sec. 46(2) Matrimonial Causes Act 1973). Das Recht der Eheschließung, des (sonstigen) Wohnsitzstaates, der Staatsangehörigkeit der Parteien oder des Ortes, an dem der Scheidungsgrund verwirklicht wurde, wird nicht berücksichtigt. 80 In den civil law-Staaten will man den Beteiligten seit langem stärker individuell gerecht werden und ist deshalb vom Gleichlaufprinzip abgegangen.81 Allerdings erscheint es nicht sachgerecht, Scheidungsfolgen auch nach jahrelangem Inlandswohnsitz eines Ehepaares nach ausländischem Recht, meist dem Heimatrecht, zu beurteilen. Haben beide Ehegatten inländischen Wohnsitz, so unterstellen etwa Frankreich 82 und die Schweiz83 die Inlandsscheidung auch bei gemeinsamer ausländischer Staatsangehörigkeit stets dem Inlandsrecht. Diese Lösung reduziert nicht nur die Zahl problematischer Fälle; sie wird auch dem Inlandsbezug der Scheidungsfolgen besser als die deutsche Regelung gerecht. 2 Will man am Prinzip stärkerer Einzelfallgerechtigkeit festhalten und gleichzeitig aus politischen Gründen Ausländer trotz langjährigen Inlandswohnsitzes nicht dem inländischen Familienrecht unterstellen, so sollte man zumindest die Regeln über die Zuständigkeit der Familiengerichte besser entsprechend der Lebenswirklichkeit (auch für Inländer) abgrenzen oder doch mit Hilfe beschränkter Generalklauseln flexibler gestalten, damit die Idee des Familienverfahrensverbundes nicht durch allzu häufige Abweichungen vom normativen Standardfall ins Schleudern gerät.

80 Cheshire & North, Private international law, 12th ed. 1992, S. 630 ff, 639 ff ; Dicey & Morris, Conflict of laws, Vol. 2, 12th ed. 1993, Rule 77 (S. 712ff). 81 Zum Verhältnis von Sachrecht und internationaler Zuständigkeit eingehend : A. Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, 1969. 82 Art. 310 Code civil (Loi du 11 juillet 1975) ; vgl. Loussouarn/Bourel, Droit international prive, 4e ed. 1993, no. 321-326 ; Batiffol/Lagarde, Droit international privS, T . II, 7e ed. 1983, no. 443-1. 83 Art. 61 I, II IPRG 1987 ; vgl. Volken, in I P R G - K o m m e n t a r , 1993, Art. 61 Rdn. 5.

Zur materiellen Rechtskraft des Unzuständigkeitsentscheids Eine rechtsvergleichende Skizze

von

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. M.A.E. Walther J. Habscheid

Zürich/ Genf

em. ord. Professor an der Universität Zürich Professeur Honoraire de l'Universite de GenSve

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung I. Rechtsvergleichende Übersicht II. Rechtsvergleichende Analyse 1. Rechtsdogmatisches a. Materielle Rechtskraft als Frage des Zivil- oder des Prozessrechts b. Materielle Rechtskraft und Streitgegenstand c. Rechtskraft und Rechtsschutzinteresse 2 . Das Recht auf Rechtsschutz Schlussbemerkung

Zur materiellen R e c h t s k r a f t des Unzuständigkeitsentscheids

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Einleitung Dass ein Urteil, welches die Klage mit der Begründung abweist, das angerufene Gericht — mag es sich um ein staatliches oder ein Schiedsgericht handeln — sei unzuständig, in formelle Rechtskraft erwächst,wenn es mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angefochten werden kann, dürfte unbestritten sein. Die Frage jedoch, ob und inweit es auch materielle Rechtskraft entfaltet, ist nicht so einfach zu beantworten. Die Antwort hängt zunächst, rechtsdogmatisch betrachtet, davon ab, ob dieser Entscheid Uber den Streitgegenstand ergeht; denn— und das ist wohl eine allgemein anerkannte Regel — in Rechtskraft kann nur die Entscheidung über den Gegenstand des Rechtsstreits, soweit dieser zum Urteilsgegenstand wird, erwachsen. Entscheidet also, das ist die Frage, ein Prozessurteil, insbesondere ein solches, das die Klage als unzulässig abweist, weil das Gericht seine Zuständigkeit verneint, über den Streitgegenstand, den das deutsche Recht in § 322 I ZPO „Anspruch" nennt ? Aber noch ein zweites ist zu beachten, und dieser Gesichtspunkt dürfte „en bonne doctrine" der wichtigere sein: Jede Rechtsordnung, die rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen will, muss ihren Gerichtsunterworfenen eine sachlichrechtliche Entscheidung, ein Urteil über ihre materiellen Ansprüche, garantieren. Das ist letztenendes die Raison d' Stre des Zugangs zum Gericht. Eine Rechtsschutzverweigerung darf es nicht geben. Das Prozessrecht hat dies im Dienste am. materiellen Recht sicherzustellen. In diesem Sinne erkannte bereits Jean Beilot (1776-1836): „Le but de la procedure civile est l'accomplissement de la loi civile. Ainsi la loi qui en prescrira les regies, sera d'autant plus parfaite que ce but sera mieux atteint"... 1 . Was Bellot als Ziel des Zivilprozesses bezeichnet, muss im Rechtsstaat, der seinen Bürgern dienen will — das unterscheidet ihn vom Obrigkeitsstaat — erreicht, muss garantiert werden. In diesem Sinne sind die Justizgrundrechte der deutschen wie der schweizerischen Verfassung auszulegen, in diesem Sinne muss auch die Garantie eines fairen Gerichtsver1 Jean Francois Bellot, Loi sur la procedure civile, 2. Aufl. Paris 1837 S. 13. Bellot ist der Vater der ersten liberalen Prozessordnung nach dem Code de procedure civile, der Genfer Loi la la procedure civile.

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fahrens durch Art. 6 der Europäischen Menschenrechtekonvention interpretiert werden2. Mit meiner Habilitationsschrift über den Streitgegenstand im Zivilprozess und im Streitverfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit habe ich vor nun fast 40 Jahren die erstgenannte Problematik vom deutschen Recht her zu lösen versucht 3 . Ich habe diese Lösung dann auch für das schweizerische Recht vertreten 4 . Hideo Nakamura, dem ich diesen Beitrag in Verbundenheit zu seinem 70- Geburtstag widme, hat mich zu wiederholten Malen zu Vorträgen in seinem Lehrstuhl an der Tokioter Waseda-Universität eingeladen, die stets um das Thema „Materielle Rechtskraft und Streitgegenstand" kreisten 5 . Auch diese Studie betrifft diese Grundproblematik des Zivilverfahrensrechts. Die Streitgegenstandfrage ist, jedenfalls prima vista, ein rechtsdogmatisches Problem. Diese Sicht hat mich als jungen Juristen,der nach Rechtsklarheit Ausschau hält, in erster Linie beschäftigt. Weit wichtiger — aber hierfür bedarf es wohl einer längeren rechtswissenschaftlichen Erfahrung — scheint mir jedoch heute zu sein, dass jede prozessuale Theorie so beschaffen sein muss, dass sie eine Rechtsschutzverweigerung verhindert. Und diese Gefahr der Rechtsschutzverweigerung besteht, wenn ein Gericht eine Klage mit der Begründung als unzulässig abweist, es sei unzuständig, und es dann kein anderes Gericht gibt, das sachlichen Rechtsschutz gewähren kann. 2 Vgl. hierzu etwa Frowein/Peukert EMR Kommentar, Kehl 1985 zu Art. 6 Rdn. 5, 6 mit Nw. aus der Rechtsprechung der Kommission und des Gerichtshofes für Menschenrechte. Hinzuweisen ist insbes. auf das Urteil in Sachen Ashindane 825. 5. 1995, A/93 S. 24 ff, 55), wo es heisst, dass „le droit ä un tribunal consacre par l'art 6 § 1 CEDH" verletzt sei, wenn eine Partei „se plaint de η 'avoir pas eu l'occasion de soumettre pareille contestation ä un tribunal fondant aux exigences de l'art. 6 § 1." 3 Habscheid, Der Streitgegenstand im Zivilprozess und im Streitverfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, Bielefeld 1956. 4 Habscheid, Droit judiciaire privfi, suisse, 2. Aufl. Gengve 1983, insbes. 255 ff, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Aufl. Basel 1990, Nrn. 374 ff (Streitgegenstand), Nrn. 472 ff (Rechtskraft). 5 Vgl. die Veröffentlichungen: Zur Lehre vom Streitgegenstand im deutschen Zivilprozess, in: Comparative Law Review, Annals of Waseda University Institute of Comparative Law 1983 ff mit japanischer Uebersetzung 21 ff; Die neuere Entwicklung der Lehre vom Streitgegenstand, jap. Uebersetzung. Keizo Sakamoto, in Comparative Law Review 1990 Nr. 2; Die neuere Entwicklung der Lehre vom Streitgegenstand, zugleich zur deutsch-japanischen Rechtsvergleichung, FS für Karl-Heinz Schwab zum 70- Geburtstag, München 1990, 181 ff (Zweitveröffentlichung des letztgenannten japanisch erschienenen Aufsatzes).

Zur materiellen Rechtskraft des Unzuständigkeitsentscheids

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Ein Fall dieser Art könnte etwa bei einem oktroyierten Schiedsgericht gegeben sein6, wenn dieses die Klage wegen Unzuständigkeit abweist und dann, nimmt man an, diese Entscheidung schliesse auch die Anrufung eines zweiten Schiedsgerichts aus, kein staatliches Gericht mehr zur Verfügung steht. Denkbar sind aber auch Fälle eines negativen Kompetenzkonflikts, bei dem alle in Frage kommenden Gerichte sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Zwar suchen die meisten Prozessrechte, durch die Einrichtung einer Kompetenzkonfliktsgerichtsbarkeit und das Institut der Prozessverweisung an das zuständige Gericht Urteilskollisionen dieser Art zu vermeiden. Bei richterlichen Fehlern bleibn sie jedoch nach wie vor möglich.

I. Rechtsvergleichende

Uebersieht

Die materielle Rechtskraft ist ein universales Institut. Sie dient sowohl der Rechtssicherheit als auch dem Rechtsfrieden. Mit Recht hat daher der Supreme Court of Arkansas1 formuliert: „ The doctrine of res iudicata is a principle of universal jurisprudence forming part of the legal systems of all civilised nations." Nur: Die Reichweite dieser Urteilswirkung ist national unterschiedlich 8 . Unterschiedlich ist auch die Antwort auf die Frage, ob auch ein Prozessurteil materielle Rechtskraft entfaltet 9 . Dogmatisch betrachtet hängt die Lösung des Problems davon ab, ob man in dem Prozessentscheid eine Entscheidung Uber den Streitgegenstand erblickt, aber auch — für das angelsächsische Recht wohl in erster Linie — davon, ob man mit der Annahme einer Rechtskraft nicht den Weg zu einer Sachentscheidung und damit einem materiellen Rechtsschutz versperrt. Dies belegt der nachfolgende Ueberblick, der sich in dieser Skizze auf 6 Vgl. Habscheid, Immunität internationaler Organisationen, internationales Schiedsverfahren und anzuwendendes Verfahrensrecht, FS Heini Zürich 1995. 147ff. sowie Habscheid, Schiedsgerichtsbarkeit und europäische Menschenrechtskonvention, in FS Wolfram Henckel Berlin/New York 1995, 342 ff. Anlass zu diesen Studien war die Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichts vom 21. 2. 1992 - 4 Ρ 34/1992, ISre Cour Civile. 7 200 Ark. 276, SW 2 d 19 240. 8 Vgl. Habscheid, Introduzione al diritto processuale civile comparato, Rimini 1984, 161-196 m. Nw. 9 siehe Fn. 8

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eine Auswahl unter den nationalen Rechten beschränken muss, und der zwischen Prozessurteilen staatlicher Gerichte und die Schiedsklage aus prozessualen Gründen abweisenden Schiedssprüchen unterscheidet. l. Deutschland. Nach gefestigter Lehre und Rechtsprechung entfalten auch klageabweisende Prozessurteile materielle Rechtskraft.Dies gilt also auch für ein Urteil, das die Klage als unzulässig abweist. Begründet wird diese Auffassung damit, dass auch ein solches Urteil über den Streitgegenstand, den prozessualen Anspruch, entscheidet. Dieser prozessuale Anspruch ist nicht identisch mit dem Anspruch des materiellen Rechts. Er ist vielmehr eine prozessrechtliche Kategorie, die es ermöglicht, dass der Richter das Petitum der Klage unter allen Aspekten des materiellen Rechts zu prüfen und zu entscheiden hat. Ich habe diesen Streitgegenstand in zwei Rechtsbehauptungen gegliedert: Die Verfahrensbehauptung, über die zunächst entschieden werden muss, und über die das Gericht durch ein Prozessurteil befindet, wenn es seine Zuständigkeit verneint, und die das materielle Recht betreffende Rechtsfolgenbehauptung, die sich im Antrag niederschlägt, und die grundsätzlich global ist, also alle materiellrechtlichen Kategorien umfasst, die inhaltlich das Klagepetitum decken10. Eine andere Lehre definiert den Streitgegenstand als das Entscheidungsbegehren des Klägers11, über dessen Zulässigkeit und Begründetheit der Richter zu entscheiden habe. Beide Theorien sehen also in der Entscheidung Uber die Zulässigkeit der Klage eine Entscheidung über den Streitgegenstand, und zwar eine Zulässigkeitsentscheidung 12 . Die Rechtsprechung liegt auf derselben Linie13. Hieraus folgt : Wird eine Klage von einem Gericht wegen fehlender Zuständigkeit abgewiesen, so kann sie — wenn sich die Umstände nicht 10 Ich verweise hier auf meine Schrift über den Streitgegenstand (oben zu Fn.3) 11 Am präzisten formuliert durch Κ. Η .Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozess, München 1954 12 Die genannten Lehren finden viele Variationen, die jedoch alle unsere Frage gleich behandeln. Im wesentlichen geht es um die Frage, ob der Streittgegenstand zweigliedrig (Rechtsbehauptung und Lebenssachverhalt) oder eingliedrig (Rechtsbegehren) ist. Der BGH hat sich für den zweigliedrigen Streitgegenstand entschieden (BGH LM § 253 ZPO Nr. 56; BGH NJW 1983, 389 1. Sp.), wobei er aber vom „Begehren" und vom Lebenssachverhalt spricht. Ob Begehren oder Rechtsbehauptung, ist mehr oder weniger eine Sprachfrage. Sie spielt hier keine Rolle, ebensowenig die Frage Eingliedrigkeit oder Zweigliedrigkeit. Denn — wie gesagt — alle Theorien kommen hier zum selben Ergebnis. 13 Vgl. die Ausführungen und Nachweise bei Stein/Jonas / Leipold, ZPO 20. Aufl. Tübingen 1989, § 322 Rdnr. 27, 62 ff, 136.

Zur materiellen Rechtskraft des Unzuständigkeitsentscheids

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ändern — vor demselben Gericht grundsätzlich nicht wiederholt werden. Dies verbietet die materielle Rechtskraft des Urteils. Allerdings steht die Klageabweisung der Wiederholung der Klage vor einem anderen Gericht nicht entgegen. Der Weg zu einer sachlich-rechtlichen Entscheidung wird also nicht versperrt. Beim Prozess-Schiedsspruch ist jedoch die Rechtslage in Deutschland eine andere. Hier lautet die Rechtsprechung, nur ein sachlichrechtlicher Entscheid sei Schiedsspruch im Rechtssinne. Nur ein solcher könne in Rechtskraft erwachsen14. Sucht man nach einer dogmatischen Begründung dieser These, so ist sie darin zu sehen, dass § 1041 Nr. 1 ZPO die Aufhebungsklage nur gegen einen Schiedsspruch zulässt, dem ein gültiger Schiedsvertrag nicht zugrunde liegt, nicht aber gegen einen Schiedsentscheid, der zu Unrecht einen Schiedsvertrag verneint und daher die Klage abweist. Immerhin : Wenn die Prozessabweisung keine Rechtskraft entfaltet, kann vor einem anderen Schiedsgericht neu geklagt werden ; aber auch der Klage vor dem staatlichen Gericht steht, wenn der Beklagte zustimmt 15 kein Hindernis entgegen. Der sachliche Rechtsschutz bleibt also gewährleistet. 2. Oesterreich. In Oesterreich ist die Rechtslage identisch. Prozessurteile erwachsen in materielle Rechtskraft. Schiedssprüche im Rechtssinne aber sind nur meritorische Entscheide; Der Prozess-Schiedsspruch ist also der Rechtskraft nicht fähig16. 3. Italien. Obwohl die italienische Doktrin in aller Regel zu Grundfragen mit der deutschen und der österreichischen übereinstimmt, lehnen herrschende Meinung und Rechtsprechung die materielle Rechtskraft von Prozessentscheiden rundweg ab17. Das gilt sowohl für staatliche Urteile als auch für Schiedssprüche. 4. Spanien. Es gilt dies auch für das spanische Recht, das überhaupt vielfach mit der italienischen Doktrin und Jurisprudenz einig geht18. 14 BGHZ 10, 325 m. Nw. ebenso Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozessrecht, 15. Aufl. München 1993 § 175 I, Schlosser in S t e i n / J o n a s (wie Fn. 13) § 1039 Rdn. 3. 15 Stimmt er nicht zu, während er vor dem Schiedsgericht auf Unzuständigkeit plädiert hatte, so w ä r e freilich die Frage des Venire contra factum proprium zu stellen. 16 Vgl. (m. Nw.) Fasching, Zivilprozessrecht 2. Aufl. Wien 1989 Nrn. 2214, 2220. 17 Vgl. m. Nw. Cappelleti/Perillo, Civil Procedure in Italy 1965, 251 ff/Habscheid, Droit judiciaire privg suisse, 2. Aufl. GenSve 1981, 327 (auch zum französischen, englischen und deutschen Recht, 322 ff.) 18 Dazu Ramos-Mendez, Derecho Procesat, Barcelona 1980, 612 ff, 626 ff. Vgl. insbes.

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5. Frankreich. Die Rechtslage in Frankreich ist instruktiv. Die materielle Rechtskraft ist nach klassischer Auffassung ein Institut des materiellen Rechts. Sie findet ihre Definition in Art. 1351 CC. Hinter dieser Konzeption steht die aktionenrechtliche Sicht, dass der Richter über Rechte einer bestimmten materiellrechtlichen Qualifikation entscheidet. Dies würde, logisch fortgeführt, einen Ausschluss der Rechtskraft für Prozessentscheide bedeuten. Die Rechtsprechung hat dann aber diese autorite auch auf Prozessurteile erstreckt 19 . Aber das war Richterrecht.Eine Streitgegenstandslehre stand nicht dahinter. Dass es eine solche geben muss, wurde dann von den Vätern des Nouveau Code de procedure Civile entdeckt. Hier findet sich in Art. 4 die Formel — man meint, sie sei der deutschen Theorie entlehnt — -.„L'objet du litige est determine par les pretentions respectives des parties," und es heisst in Art. 6 : „A l'appui de leurs pretentions, les parties ont la charge d'alleguer les faits propres ä les fonder". Weder das Gesetz noch (bisher) die Lehre ziehen aber die Konsequenz zur Rechtskraft. Diese bleibt in Art. 1351 CC geregelt. Allerdings hat die Rechtsprechung — wie bereits gesagt — die autorite des Urteils auch auf die Entscheidung über Prozessvoraussetzungen und Prozesseinreden erstreckt, so dass man davon auszugehen hat, dass auf alle Fälle k r a f t Richterrechts auch Prozessurteile in materielle Rechtskraft erwachsen, Dasselbe muss dann auch für einen Schiedsspruch gelten, der die Klage wegen fehlender Zuständigkeit des Schiedsgerichts abweist. 6. England. Im englischen Recht wird eine materielle Rechtskraft von Prozessentscheiden strictissime abgelehnt 20 . Die Tatsache, dass es in England, jedenfalls von der Konzeption des Prozessrechts her, nur ein sachlich und örtlich allgemein zuständiges Gericht—den High Court—gibt, hat hier den Blick für die Gefahr der Verweigerung materiellen Rechtsschutzes geschärft. In der T a t : Würde man dem Unzuständigkeitsentscheid des High-Court materielle Rechtskraft zusprechen, gäbe es kein S. 626, wo der Autor ausführt: „Nuestro CC refleja le antiguo aforismo res iudicata pro ventate habetur". Damit ist der materiellrechtliche Bezug der Rechtskraft evident. 19 Was eigentlich nicht dem „Sitz" der Rechtskraft im CC entspricht. Vgl. aber ζ. B. Soc, 13. 11. 1985, Bull. Civ. V. Nr. 524. Aber möglicherweise „schlägt hier durch", dass nach französischer Auffassung die tragenden Urteilsgründe an der Rechtskraft teilhaben (vgl. Habscheid, Introduzione, wie Fn. 8 161 ff, 177 ff, 180, 181, m. Nw.) 20 Cohn, Die materielle Rechtskraft im englischen Recht, FS Nipperdey, München 1965, Bd. I, 875 ff m. Nw.

Zur materiellen Rechtskraft des Unzuständigkeitsentscheids

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Gericht, das sich der Sache annehmen könnte. Diese Konsequenz aber kann der auf ein fair trial eingeschworene englische Richter nicht akzeptieren 21 . Was für Urteile staatlicher Gerichte gilt, muss konsequenterweise auch für Schiedssprüche gelten, welche die Schiedsklage wegen Unzuständigkeit des Schiedsgerichts abweisen. 7. Schweiz. Die schweizerische Lösung unseres Problems ist besonders interessant. Denn sie zeigt deutlich den Zusammenhang unserer Frage mit der Streitgegenstandslehre, aber auch mit der Frage auf, ob die materielle Rechtskraft ein Institut des materiellen oder des Verfahrensrechts ist. Ist sie eine Einrichtung des materiellen Bundesrechts, so ist sie nach der Kompetenzverteilung der Bundesverfassung eidgenössischen Rechts ; ist sie eine prozessuale Institution, so ist sie grundsätzlich im kantonalen Recht zu regeln, es sei denn, man könnte in ihr ein bundesrechtlich-prozessuales Institut erblicken. Das aber lehnt die h. M. ab. Das Bundesgericht sieht in der materiellen Rechtskraft eine Norm des Bundesprivatrechs 22 . Es mag hierbei von Art. 1351 CC beeinflusst worden sein. Jedenfalls führt die Auffassung des Bundesgerichts dazu, dass die Regeln Uber die materielle Rechtskraft einheitlich als Regeln des Privatrechts für die ganze Eidgenossenschaft gelten. Allerdings : Wenn man die materielle Rechtskraft im Privatrecht ansiedelt, bleibt für eine bundesrechtliche Rechtskraft der Prozessurteile jedenfalls prima vista kein Raum. Dies ist wohl auch die h. M. in der Schweiz23. Dies gilt dann in gleicher Weise für prozessuale Schiedssprüche, die das schweizerische Recht allerdings — im Gegensatz zum deutschen und österreichischen Recht — als Schiedssprüche im Rechtssinne anerkennt; denn auch die Entscheidung Uber die Zuständigkeit und somit auch die Abweisung der Schiedsklage als unzulässig können mit dem Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden. Das gilt sowohl für interne (Art. 36 ff Schkonk) als auch für internationale Schiedssprüche (Art. 190, 191 (IPRG).Da die Nichtigkeitsbeschwerde einen formell rechtskräftigen Schiedsentscheid voraussetzt, sagt dies jedoch nichts darüber aus, ob ein solcher formell rechtskräftiger, in der 21 Dieser angelsächsische Gedanke des fair trial findet in Art. 6 EMRK seinen Niederschlag und muss daher in allen Staaten, die der Europäischen Menschenrechtekonvention beigetreten sind, beachtet werden. 22 Vgl. mit Nw. Habscheid, Zivilprozessrecht (wie Fn.4) N. 476 ff) und insbes. BGE 95 II 641 Erw. 3. 23 Vgl. BGE 104 I a 110:115 II, 187, 189 (wobei freilich letztere Entscheidung meint,

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Terminologie des Gesetzes „endgültiger" Schiedsspruch auch materielle Rechtskraft zeitigt. Nach alledem ist — ausgehend von der materiellrechtlichen Natur der Rechtskraft — in der Schweiz wohl h. M., dass Prozessentscheide der materiellen Rechtskraft nicht fähig sind. Allerdings: Von der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen in Art. 64 BV ausgehend, lässt sich die Meinung vertreten, dass die Kantone in ihrem Recht vorsehen können, dass Prozessentscheide in materielle Rechtskraft erwachsen. Einige von ihnen haben dies auch getan24. Die Frage, ob eine solche Rechtskraft von Bundesrechts wegen und damit auch für anders legiferierende Kantone anzuerkennen ist, ist zwar noch nicht bundesgerichtlich endgültig entschieden, doch scheint das Bundesgericht in diese Richtung zu tendieren25. Was meine persönliche Meinung betrifft, so bejahe ich im Gegensatz zur h. M. den bundesrechtlichen Charakter der materiellen Rechtskraft als einer Institution des prozessualen Bundesrechts26. Folgt man dem, so sind auch Prozessurteile der Rechtskraft fähig, zumal ich den Streitgegenstand — wie auch im deutschen Recht27 — nicht an ein bestimmtes materielles Recht knüpfe, sondern vom „prozessualen Anspruch" spreche, der auch die Zulässigkeit der Klage — Verfahrensbehauptung — einschliesst28. Diese Auffassung, die m. E. der bonne doctrine entspricht, hat sich jedoch noch nicht durchgesetzt, obwohl ich der Auffassung bin, dass die Rechtsprechung ihr mehr und mehr Konzessionen macht. Legt man diese Meinung zugrunde, so schafft auch ein Entscheid, der eine eventuelle Rechtskraft von Prozessurteilen könne sich höchstens auf die Zulässigkeitsfrage beziehen), Guldener, Zivilprozessrecht 3. Aufl. Zürich 1979, 381 Anm. 78; Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, 3. Aufl. Bern 1993, 192; Walder, Zivilprozessrecht, 3. Aufl. Zürich 1983,296; Sträuli/Messmer, ZPO ZH 2. Aufl. Zürich 1982 § 191 Rdn. 20 m. Nw. insbesondere zur Zürcher Rechtsprechung, die durchgängig die materielle Rechtskraft des Prozessentscheids ablehnt (vgl. etwa ZR 18 Nr. 143, 32 Nr. 58). Auch die Genfer Rechtsprechung spricht dem Prozessurteil die materielle Rechtskraft ab: Cour de Justice SJ 1980, 92: „Une döcision judiciaire n' aquiert la force de chose jugee que si eile tranche le fond et non pas seulement lorsque le juge n'est pas entre en matiere pour defaut d'une des conditions du proces". 24 Offenbar ist dies die Konsequenz, die man in Neuchätel aus Art. 211 CPC zieht, und wohl auch die Ansicht der waadtländischen Rechtsprechung, CJT 1989 III, 36. 25 Vgl. dazu BGE 117 II, 413 E. 3 u. 4. 26 Zivilprozessrecht N. 482, Droit judiciaire privö suisse 306 ff (beide wie Fn. 4); vgl. auch meinen Aufsatz zur Rechtskraft im schweizerischen Recht in SJZ 1974, 203 ff. 27 siehe oben Fn. 3). 28 Zivilprozessrecht (wie Fn. 4) N. 375 ff, 392; Droit judiciaire privg suisse (wie Fn.

Zur materiellen R e c h t s k r a f t des Unzuständigkeitsentscheids

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die Klage wegen fehlender Zuständigkeit des angerufenen Gerichts abweist, materielle Rechtskraft. Doch ist diese auf die Zuständigkeitsfrage beschränkt, steht also der Anrufung eines anderen Gerichts, das dann seine Zuständigkeit zu prüfen hat, nicht entgegen. Im Falle eines Schiedsspruchs kann dies auch ein neues Schiedsgericht sein. 8. Japan. Obwohl die japanische Zivilprozessordnung in ihrer Grundstruktur der deutschen ZPO verwandt ist 29 und § 199 jap. ZPO mit seiner Formulierung in Ziff. 1 „Das unanfechtbar gewordene Urteil besitzt Rechtskraft nur in dem Bereich, den der Urteilstenor umfasst" den Inhalt des § 322 I dZPO präziser ausdrückt (keine Rechtskraft der Urteilsgründe / ) , wobei die Ziff. 2 dann doch wieder von „Anspruch" spricht, über den entschieden wird, hat die japanische Rechtskraftlehre sich nicht so eindeutig wie die deutsche zu einer prozessualen Sicht des „Anspruchs", also des Streitgegenstands durchringen können. Grund hierfür ist gewiss auch die Weigerung des Obersten Gerichtshofes, den Schritt weg vom materiellen Recht als Streitgegenstand und hin zu einer prozessualen Konzeption zu tun. Für die Rechtsprechung ist daher Streitgegenstand noch immer das eingeklagte materielle Recht, mit der Folge, dass die etwa wegen NichtVorliegens eines Vertrags abgewiesene Zahlungsklage gestützt auf Bereicherung erneut erhoben werden kann, ohne an der Rechtskraft zu scheitern30. An und für sich wäre die logische Folge einer solchen Problemsicht, dass reine Prozessentscheide nicht der Rechtskraft fähig sind. Der Oberste Gerichtshof hat aber, soweit ersichtlich, zu dieser Frage 4) 255 ff, 263 ff. 29 Vgl. etwa Hideo Nakamura, Die japanische ZPO in deutscher Sprache, Köln 1978, vor allem aber Hideo Nakamura, Japan und das deutsche Zivilprozessrecht in: Habscheid (Hrsg), Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Bielefeld 1989, 415 ff. 30 Die Rechtsprechung vertritt in Japan also die materiellrechtliche Theorie zum Streitgegenstand. Danach ist das eingeklagte materielle Recht einer bestimmten (Qualität Gegenstand des Prozesses, vgl. m. Nw. Habscheid, Die neuere Entwicklung der Lehre vom Streitgegenstand im Zivilprozess, zugleich zur deutsch-japanischen Rechtsvergleichung, in FS. Schwab München 1990, 181 ff insbes. 185 (hier auch zu den neueren „materiellrechtlichen" Lehren, S. 193) und Sakamoto, Rechtskräftige Entscheidung und Nachforderung in Unterhalts- und Schadensersatzsachen in Japan, Köln 1990 S. 50 ff (mit. Literaturangaben); aus der Rechtsprechung: OG Η Minshu(OGHZ) Bd. 13, Heft 11, S\ 1451 ff, Bd. 14, Heft 14, S. 825 ff, Bd. 15, Heft 3, S. 542 ff, Bd. 15 Heft 14, S. 891 ff, zuletzt Urteil v. 23. 6- 1978 in Hanrei-Jiho 1978, Heft 897, S. 59. Zur Stellungnahme der Doktrin vgl. etwa noch Someno,

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noch nicht Stellung bezogen. Ein Urteil des Landgerichts Tokio 31 bejaht allerdings die materielle Rechtskraft eines Urteils, das eine Klage wegen NichtVorliegens der Prozessführungsbefugnis — also einer Prozessvoraussetzung — als unzulässig abgewiesen hat. Wie sich aus diesem Urteil ergibt, ist das auch die Meinung der Uberwiegenden Lehre. Allerdings: Das letzte Wort dürfte damit noch nicht gesprochen sein. Was das Schiedsverfahren angeht32, so dürfte die Rechtslage bezüglich der materiellen Rechtskraft von Prozessschiedssprüchen zumindest gleich einzuschätzen sein wie bei einem Prozessurteil. Denn § 800 jap. ZPO besagt, dass ein Schiedsspruch zwischen den Parteien die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils hat. Nur stellt sich hier mit Blick auf das deutsche und das österreichische Recht die Frage, ob ein Prozess-Schiedsspruch Schiedsspruch im Rechtssinne ist.

II. Rechtsvergleichende

Analyse

Ueberblickt man die skizzierten nationalen Lösungen, so zeigt sich, dass sie alles andere als einheitlich sind. Es gibt Rechtsordnungen, welche die materielle Rechtskraft von Prozess-, insbes. Unzuständigkeitsentscheiden, generell verneinen und andere, die sie bejahen, wobei bezüglich von Schiedssprüchen auch bei der zweiten Gruppe die Antwort verneinend ausfallen kann, die Gleichsetzung eines Prozessurteils mit einem Prozessschiedsspruch also nicht vollzogen wird. Der Grund für diese Diversität ist gewiss eine unterschiedliche Rechtstradition. Dennoch wiegt wohl die differierende dogmatische Sicht schwerer. Am bedeutendsten aber scheint mir hinter den Lösungen die Gewichtung zu stehen, die das in Rede stehende nationale Recht den widerstreitenden Interessen für Grundprinzipien der Lehre vom Streitgegenstand in Baumgärtel (Hrsg. ) Japanisches Recht Bd. 19, Grundprobleme des Zivilprozessrechts Köln 1985, 207 ff, und Muneo Nakamura, Der Prozessgegenstand — sein makroskopisches Studium, ebendort 107 ff. Die Doktrin vertritt zwar Uberwiegend prozessuale Konzeptionen, doch wird dieser Auffassung entgegengehalten, die materiellrechtliche Konzeption schütze die rechts-unerfahrene Partei besser (vgl. Sakamoto, a. a. Ο, S. 53, 54 unter Hinweis auf Kigawa, Soshöchien to sono taisaku (Prozessverzögerung und Gegenmassnahmen), in: Minjisoshöhö no söten (Ausgewählte Probleme des Zivilprozessrechts) T o k y o 1979, S. 202 ff (204). 31 LG Tokio v. 30.11.1956 in Kaminshü (Zivilentscheidungen der Zivil- und Oberlandesgerichte) Bd. 7, Heft 11, S. 3479. 32 geregelt im 8. Buch der ZPO §§ 764 ff

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die eine oder die andere Lösung gibt. Folgende rechtsvergleichenden Befunde ergeben sich: 1. R echtsdogmatisches Die Rechtsdogmatik ist nicht Selbstzweck. Sie stellt auch keine Glaubenssätze auf, die Anspruch auf rechtliche Wahrheit und damit auf unbedingte Gefolgschaft erheben. Vielmehr soll sie die Rechtsanwendung, indem sie rechtliche Lösungen in ein System einbaut, erleichtern, sowie verständlich und nachvollziehbar machen. Das setzt voraus, dass diese Lösungen im Gesamtsystem des Rechts der Logik entsprechen. Rechtsdogmen werden von der Wissenschaft nicht willkürlich geschaffen. Sie gründen auf der Interessen- und Konfliktsentscheidung, die der Gesetzgeber vorgenommen hat. Die Bindung an das Gesetz ist daher dem Rechtsdogmatiker selbstverständlich. Nur ist dieser Gehorsam nicht blind, er ist vielmehr dienend, behält also das Weshalb und Warum der Regelung im Auge. Dies kann zu Ausnahmen von der Regel führen. a. Materielle

Rechtskraft

als Frage des Zivil-

oder des

Prozessrechts.

Sieht man — wie das französische Recht in seinem Art. 1351 CC — die materielle Rechtskraft als eine zivilrechtliche Kategorie an — (Art. 1351 steht im Abschnitt über die „prSsomptions Stabiles par la loi ") dann ist logischerweise für eine materielle Rechtskraft von Prozessentscheiden kein Raum. Man wird diese, auf das römische Recht zurückgehende Ansicht — „res iudicato ius facit inter partes" 33 oder „res iudicato pro veritate accipitur"u — wohl als die klassische Auffassung bezeichnen können. Die genannte Konsequenz ziehen das italienische, spanische, und schweizerische Recht — wobei wir, auch im folgenden, stets auf die h. M., insbesondere in der Rechtsprechung, abstellen. Das französische Recht ist insoweit nicht mehr — die Erstreckung der Rechtskraft auf Prozessvoraussetzungen und exceptions de procedure ist eine Tat der Rechtsprechung — folgerichtig. Was das englische Recht betrifft, so mögen für die 33 vgl. dazu Giovanni Pugliese, L'hferitage romain dans les rögles et les notions modernes concernant la chose jugfee, in: Les Actes du colloque organist par la Facultfe de Droit et d'Administration de l'Universitfe de Varsovie en collaboration avec l'Accademia Nazionale dei Lincei du 8-10 octobre 1973, Varsowie 1978,161 ff, insbes. 170-180. 34 Dig. 1, 5, 25 a. Ε = 50, 17, 207 (Ulpian)

216

Verneinung der Rechtskraft pragmatische Gründe, aber auch die Sorge um ein faires Verfahren im Vordergrunde stehen, bei dem auf alle Fälle materieller Rechtsschutz gewährt werden muss. Einen Einfluss der römischrechtlichen Denkweise kann man jedoch nicht ausschliessen. Eine prozessuale Sicht der Probleme hingegen, wie sie in Deutschland und Oesterreich herrschend ist, eröffnet über die Zugehörigkeit der Rechtskraft zum Prozessrecht und die entsprechende Loslösung des Streitgegenstands vom materiellen Recht einer bestimmten Qualifikation den Weg zu einer Einbeziehung auch der Zulässigkeitsentscheidung in den Wirkungsbereich dieser Urteilswirkung. Hierauf wird zurückzukommen sein. Vertritt man die These, dass Prozessurteile nicht in Rechtskraft erwachsen, so muss dies auch für prozessabweisende Schiedssprüche gelten, und zwar unbeschadet der Frage, ob nun die Rechtskraft ein Institut des Prozessrechts oder des materiellen Rechts ist. Hier bietet allerdings die deutsche und österreichische Rechtsprechung und h. M. eine besondere Variante mit ihrer Feststellung, nur der meritorische Schiedsspruch sei Schiedsspruch im Rechtssinne. Hinter ihr steht—ungeschrieben—die Auffassung, Schiedsverfahren und insbesondere der Schiedsspruch seien materiellrechtlich zu qualifizieren, eben weil sie kein staatliches Verfahren und kein staatlicher Entscheid seien35. Das war auch die Auffassung zum compromissum des gemeinen Rechts. Vom Boden dieser Meinung aus ist natürlich für eine Rechtskraft des Prozess-Schiedsspruchs kein Raum. b. Materielle

Rechtskraft

und

Streitgegenstand

Urteil und Schiedsspruch entscheiden über den Streitgegenstand. Engt man den Streitgegenstand auf eines (oder mehrere) der materiellen Rechte ein — wie dies nach der Rechtsprechung in Japan der Fall ist — dann ergeht die Entscheidung über das einzelne materielle Recht. Die Konsequenz wäre dann die Verneinung einer materiellen Rechtskraft reiner Prozessentscheide. Denn die Entscheidung über die Zulässigkeit des Verfahrens betrifft nicht die materielle Rechtsfrage, sondern die Frage, ob das Gericht sachlichen Rechtsschutz, wie ihn der Kläger will, gewährt. Ob man hier allerdings die Rechtskraft von Prozessurteilen mit einer analogen Anwendung der Rechtskraftvorschriften bejahen kann — 35 Bezüglich der Schweiz sei bemerkt, dass diese materiellrechtliche Sicht bis 1915 die Rechtsprechung beherrschte, vgl. Dutoit/Knoepfler/Lalive/ Mercier, Repertoire de droit international suisse, I Bern 1982, 253 mit weiteren Hinweisen.

Zur materiellen Rechtskraft des Unzuständigkeitsentscheids

217

wie dies Hellwig und Nikisch für das deutsche Recht postulierten — sei hier dahingestellt36. Die prozessuale Konzeption des Streitgegenstandes, den wir als „Rechtsbehauptung und Lebenssachverhalt" definieren, eröffnet den Weg für eine materielle Rechtskraft auch der Prozessurteile. Diese entscheiden Uber die prozessrechtliche Verfahrensbehauptung als Teil der Rechtsbehauptung. Hier wird klar: Die Ver/iz/zrewsbehauptung wird dem Gericht gegenüber aufgestellt; der Kläger behauptet, dieses Gericht habe sachlichen Rechtsschutz zu gewähren. Die Rechtsfolgenbehauptung — zweiter Teil der Rechtsbehauptung — als Behauptung eines materiellen Rechts eines bestimmten Umfangs (nicht einer bestimmten Qualität /) aber erfolgt gegenüber der Gegenpartei. Das Gericht soll über sie entscheiden37. Bei der Verfahrensbehauptung geht es daher nicht um die Behauptung eines materiellen Rechts, sondern um die Geltendmachung des Anspruchs auf Rechtsschutz38. Das Prozessurteil entscheidet Uber dieses publizistische Recht. Wenn man mit Schwab39 den Streitgegenstand auf das Urteilsbegehren des Klägers verengt (also nicht auch noch den Lebenssachverhalt hinzunimmt), ist das Ergebnis gleich. Denn das Begehren schliesst beide Aspekte, den publizistischen (Zulässigkeit der Klage) wie den materiellrechtlichen (Begründetheit) ein. Entscheidet das Urteil nur über die publizistische Frage, also die Zulässigkeit, so erwächst es nur insoweit in materielle Rechtskraft. Das bedeutet, dass etwa bei einer Abweisung der Klage wegen fehlender Zuständigkeit diese bei dem zuständigen Gericht neu erhoben werden kann. Der Anspruch auf materiellen Rechtsschutz bleibt daher gewahrt; denn ein zuständiges Gericht gibt es in der Regel stets. Die Regelung der Rechtskraft für Prozessurteile gilt für Schiedssprüche dann, wenn man das Schiedsverfahren dem Prozessrecht zuweist. Das ist die heute (wenn auch offenbar nicht in Deutschland und Oesterreich) konsequent vollzogene Auffassung. Allerdings·. Der bereits zitierte

36 Nikisch, Der Streitgegenstand im Zivilprozess, Tübingen 1935, 54; Hellwig, spruch und Klagerecht Leipzig 1924, 157. 37 Dieser Anspruch richtet sich gegen das Gericht, oben zu Fn. 3. 38 vgl. hierzu Habscheid, Zivilprozessrecht (wie Fn. 4) N. 9 ff. 39 oben zu Fn. 11.

An-

218

Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts vom 21. 12. 199240 zur octroyierten Schiedsgerichtsbarkeit hat gezeigt, dass es Fälle gibt, in denen, Hesse man die Rechtskraft eines Unzuständigkeitsschiedsspruchs gelten, kein sachlicher Rechtsschutz mehr möglich wäre. Der Fall lag folgendermassen: Eine Schiedsklage gegen eine internationale Organisation war vom Schiedsgericht wegen Unzuständigkeit abgewiesen worden. Das Bundesgericht lehnte eine Nachprüfung ab, weil die Organisation absolute Immunität geniesse. Es ging in dem Verfahren um viele Millionen Schweizer Franken. Würde man die Rechtskraft dieses Entscheids so verstehen, dass auch kein neues Schiedsgericht — ein solches wurde angerufen — sachlichen Rechtsschutz gewähren dürfe, so ginge der Kläger leer aus. Das aber wäre Rechtsschutzverweigerung. Einen deni de justice aber darf es im Rechtsstaat nicht geben. Nun „löst" sich dieser Fall zwar nach Schweizer Recht, weil Prozessurteile nach h. M. keine Rechtskraft zeitigen. Aber wie, wenn dies doch der Fall wäre ? Wir kommen darauf zurück. Wie wir gesehen haben, identifiziert die japanische Rechtsprechung den Streitgegenstand mit dem materiellen Recht. Angesichts unserer vorstehenden Ueberlegungen ist es inkonsequent, dann dem Prozessentscheid doch materielle Rechtskraft zuzusprechen. c. Rechtskraft

und

Rechtsschutzinteresse

Als — geschriebene oder ungeschriebene — Prozessvoraussetzung ist das Rechtsschutzinteresse von besonderer Bedeutung. Es ist zwar dagegen immer wieder polemisiert worden. Rechtsprechung und Rechtslehre haben die Figur des „Interesses" jedoch nicht entbehren können. Das gilt international 41 . Man mag die materielle Rechtskraft als einen Fall des Rechtsschutzinteresses bezeichnen. Ist rechtskräftig entschieden, fehlt das schutzwürdige Interesse an einer Prozesswiederholung. Aber: Man ist sich einig,dass dort,wo dieses Interesse ausnahmsweise bejaht werden muss, auch eine neue Klage statthaft ist42. Einen solchen Ausnahmefall würden wir annehmen, wenn nur so sachlicher Rechts40 Ie Cour Civile 21. 12. 1992 - 4 Ρ 34/1992;siehe auch oben zu Fn. 6 41 zum Rechtsschutzinteresse: Habscheid (wie Fn. 4) N. 357j, f ü r das französische Recht: intirSt a agir vgl. Vincent/ Guinchard, Procedure Civile, 21. Aufl. Paris 1987, nos 21 ff. 42 vgl. Habscheid (wie Fn.4) N.486.

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219

schütz zu erreichen wäre. Andererseits: Lehnt man die Rechtskraft von Schiedssprüchen ab, so würde das nicht bedeuten, dass erneut — vor einem Schiedsgericht — geklagt werden könnte. Der Kläger hätte auf alle Fälle sein Rechtsschutzinteresse darzutun. Dies aber würde ihm leicht fallen, wenn nur so ein effektiver Rechtsschutz zur Sache möglich wäre43. In dem vom schweizerischen Bundesgericht entschiedenen Fall muss also ein zweites Schiedsverfahren zulässig sein, weil es — wegen der Immunität des Beklagten als einer internationalen Organisation — kein zuständiges staatliches Gericht gibt. 2. Das Recht auf

Rechtsschutz

Hinter all diesen nationalen Regelungen und unseren Lösungsvorschlägen steht die elementare rechtsstaatliche Forderung, dass es ein Recht auf Schutz der subjektiven Rechte gibt. Dieser Rechtsschutz muss effektiv und daher lückenlos sein44. Wo im Einzelfall die Rechtsdogmatik diesen Rechtsschutz nicht ermöglicht, muss selbst das Dogma der Rechtskraft zessieren. Das Recht auf den Schutz der materiellen Rechte seiner Bürger ist ein Essentiale des Rechtsstaates. Es folgt aus der Verfassung, aber auch aus Art. 6 EMRV. Die englische Lösung zeigt, dass dort, wo es grundsätzlich nur ein zuständiges Gericht gibt, selbst dieses Gericht nach einem ersten Unzusändigkeitsentscheid neu angegangen werden kann, damit dem Kläger ein fairer Prozess, a fair trial, zuteil wird, in dem zur Sache entschieden wird. Das Recht auf den Rechtsschutz als oberste Regel des Rechtsstaates wird jedoch als einzige Grundlage eines neuen Prozesses wohl nur in Ausnahmefällen in Frage kommen. Das Rechtsschutzinteresse, also eine Grundfigur unserer prozessrechtlichen Dogmatik, gibt in aller Regel die Begründung dafür ab, weshalb die zweite Klage zulässig sein muss. Der Kläger, der den Prozess durch einen Prozessentscheid (zunächst) verloren hat, wird ein subjektives Interesse an einem zweiten Verfahren haben. Aber dieses Interesse allein genügt nicht. Es muss auch ein objektives Rechtspflegeinteresse hinzutreten. Dieses ist das Interesse des Rechts 43 wobei die Frage einer Verwirkung hier einmal auszuklammern ist. 44 vgl. die Beiträge des Sammelbandes Habscheid (Hrsg.) Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmässige Ordnung, Bielefeld 1983.

220

staates, dass auf alle Fälle durch irgendein Gericht45 sachlicher Rechts schütz gewährt wird.

Schlussbemerkung Wir brechen die rechtsvergleichende Analyse ab. Vieles wäre noch zu sagen. W a s wir jedoch aufzeigen wollten, dürfte erreicht sein. Nämlich, dass die prozessrechtliche Rechtsvergleichung hier und generell nicht nur die Frage nach dem Sinn einer Regelung beantworten hilft, sondern, dass sie auch hilft — sei es de lege lata, sei es de lege ferenda — das eigene Recht verständlicher, „stimmiger" und damit akzeptabler zu machen.

45

Dieses Recht eines jeden Klägers im Rechtsstaat, das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, ist nicht identisch mit dem herkömmlichen Rechtsschutzanspruch und auch nicht mit dem Klagerecht und der Lehre vom Sachurteilsanspruch, wie sie in Japan durch Kaneko begründet wurde. Vgl. dazu Ito, Kritik an der Lehre vom Sachurteilsanspruch. Ein Beitrag zur Klagerechtstheorie, in Baumgärtel, Japanisches Recht Bd. 1 Grundprobleme des Zivilprozessrechts Köln 1976, 45 ff.

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich von

Prof. Dr. Hans Hanisch

Genf

em. ord. Professor der Rechte an der Universität Genf

222

Inhaltsverzeichnis

I. Konzepte und Modelle 1. Die sogenannten Prinzipien und ihre Rolle bei der Entwicklung von Konzepten 2 . Neuere Denkansätze II. Modellvergleich 1. Das Einheitsmodell a. Errungenschaften des Einheitsmodells b. Defizite des Einheitsmodells 2 . Das Modell unterstützender Sekundärverfahren a. Probleme, die durch ein unterstützendes Sekundärverfahren leichter lösbar sind b. Vor- und Nachteile der beiden Modelle c. Gesetzgeberische Beispiele 3 . Das dritte Modell a. Die Kombination des Einheitsmodells mit dem Modell des Sekundärverfahrens b. Antragsberechtigung zur Eröffnung eines Sekundärverfahrens c. Jurisdiktionsgrundlage für das Sekundärverfahren d. Kooperation zwischen Haupt- und Sekundärverfahren 4 . Ansätze und Ausblicke a. Bemerkungen zum Istanbul-Abkommen des Europa-Rates b. Bemerkungen zum Vorentwurf eines EU-Insolvenzabkommens

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

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Japans internationales Insolvenzrecht befindet sich im Umbruch. Aufgrund ausdrücklicher Bestimmungen in den japanischen Insolvenzgesetzen — insbesondere der Konkursordnung von 1922 und dem GesellschaftsReorganisationsgesetz von 1952 — ist dieses Rechtsgebiet in Japan bisher vom Prototyp einer rein territorialistischen Lösung beherrscht gewesen. Dies bedeutet, dass ein in Japan eröffnetes Insolvenzverfahren nur Wirkung für das in Japan befindliche Vermögen des Schuldners hat und dass umgekehrt ein im Ausland eröffnetes Insolvenzverfahren keine Wirkungen auf das in Japan befindliche Vermögen des Schuldners zeitigen kann1. Der japanische Rechtsstandpunkt war insofern im Vergleich zu anderen Rechten, die dem Territorialitätsstandpunkt anhingen oder noch anhängen und die nur Auslandsverfahren keine Inlandwirkungen beimessen, aber etwas schizophren durchaus Auslandswirkungen des im Inland eröffneten Insolvenzverfahren in Anspruch nehmen, sehr konsequent. Indes verstärkt sich auch in Japan die Tendenz, den traditionellen Territorialitätsstandpunkt aufzugeben. Abgesehen davon, dass die Gründe für diesen Standpunkt unter sich globalisierenden Wirtschaftsformen zunehmend als nicht mehr überzeugend angesehen werden2, erwies sich in der internationalen Insolvenzpraxis das Bedürfnis nach einer grenzüberschreitenden Öffnung und gegenseitiger Erstrekkung der Wirkungen nationaler Insolvenzverfahren auf das jeweilige Auslandsvermögen des Schuldners als dringend und zwar schon deswegen, weil sonst japanische Insolvenzverwaltungen auf im Ausland befindliches Vermögen des Schuldners verzichten mussten wie im bekannten Sanko-Fall. Die japanische Praxis 3 hat daher trotz der fortbestehenden eindeutigen Gesetzeslage nach Lücken und Auswegen gesucht, um zu etwas sachgerechteren und moderat(universalistisch)orientierten Lösungen zu gelangen. Entschieden hat allerdings die japanische Wissenschaft 1 Vgl. Art. 3 Abs. 1 und 2 der japanischen Konkursordnung stellvertretend für entsprechende Bestimmungen in den anderen vier Insolvenzgesetzen und dazu in englischer Sprache u.a. Makoto Ito, Report for Japan in: Fletcher (Hrsg.), CrossBorder Insolvency: National and Comparative Studies (Reports delivered at the XIII International Congress of Comparative Law, Montreal 1990), 178 ff:,Koji Takeuchi.Cross Border Bankruptcy, Japanese Report, in:International Symposium on Civil Justice in the Era of Gobalization, Collected Papers, Tokyo (1993) 347 ff. 2 Dazu Λο,vorige Ν., 180. 3 Nachw. bei Takeuchi, oben Ν. 1, 350-354; Ito,oben Ν. 1, 180 f-

224

sich dieser Fragen angenommen. Eine Arbeitsgruppe hat bereits einen Vorentwurf für neue autonome japanische Gesetzesbestimmungen sowie für ein Modell zwischenstaatlicher Verträge ausgearbeitet 4 . Diese Entwürfe entsprechen dem Standard der gegenwärtigen internationalen Diskussion. Bei dieser handelt es sich jedoch bislang nur um eine Diskussion, die zu einer international tragbaren und weithin akzeptablen Lösung erst führen soll. Rechtsvergleichende Erwägungen über Grundmodelle, die in Betracht zu ziehen sind, mögen sich dabei als nützlich erweisen, einen möglichst weitreichenden internationalen Konsens über ein Lösungsmodell zu erreichen. Eine Skizze dieser vergleichenden Erwägungen soll aus europäischer Sicht dem eminenten Rechtsvergleicher Hideo Nakamura zu seinem 70. Geburtstag gewidmet sein.

I. Konzepte und

Modelle

Eine neuere amerikanische Veröffentlichung stellte kürzlich vier Modelle für die Lösung des grenzüberschreitenden Insolvenzproblems vor5. Sie lehnte sich dabei an vier konkret vorgefundene Regelungswerke an: den ersten Entwurf eines EG-Konkursabkommens von 1980/846, an das zur Zeichnung aufliegende sog. Istanbul-Abkommen des Europarates 7 , an den neuen Entwurf eines EU-Insolvenzabkommens, der sich in Arbeit befindet 8 , sowie an das US-amerikanische Modell der ancillary proceedings gem. s. 304 des US-Bankruptcy Code von 1978. Hier sollen im folgenden indes nur drei Grundmodelle für eine Pro4 Texte bei Takeuchi, oben Ν. 1, Fn. 33 auf S. 366-370 (Vorentwurf für autonome japanische Bestimmungen) und Fn. 67 auf S. 373-377 (Modell-Abkommen). 5 Trautman/Westbrook/Gaillard, Four Models for International Bankruptcy, 41 Am. J. Comp. L. 573ff. (1993). 6 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Generaldirektion Binnenmarkt und gewerbliche Wirtschaft, Entwurf eines Übereinkommens über den Konkurs, Vergleich und ähnliche Verfahren, EG-Dok.- III/D/72/80-DE;deutscher Text in -.Kegel (Hrsg.) .Vorschläge und Gutachten zum Entwurf eines EG-Konkursabkommens, im Auftrag einer Sonderkommission des Deutschen Rates für IPR (1988) 419ff-| hierzu der sog. Lemontey-Bericht (EG-Dok.- III/D/222/80-DE), ebenda, 93 ff. sowie in Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ( = ZIP) 1981,673 ff., jeweils in deutscher Sprache. 7 European Treaty Series Nr. 136. 8 Eine vorläufige Fassung von Frühjahr 1992 ist auf deutsch abgedruckt in Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ( = ZIP) 1992, 1197 ff·; dazu ein Bericht von Philippe Woodland in: ISCJ (Hrsg.), International Symposium on Civil Justice in the Era of Globalization, oben Ν. 1, 443 ff.

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

225

blemlösung vergleichend erörtert werden und zwar eher abstrakt in ihren Grundstrukturen, obwohl dabei der Bezug zu konkreten Regelungswerken als Exempel aufrechterhalten bleibt. Die Erörterung wird insbesondere um die Frage kreisen, ob die Grundstruktur der (Einheit) oder die der (kooperativen Pluralität) der Insolvenzverfahren oder vielleicht eine elastische Kombination dieser beiden Strukturen vorzugsweise Modelle sind, an denen sich die japanische Reform orientiem könnte9. 1. Die sogenannten Prinzipien lung von Konzepten

und ihre Rolle bei der

Entwick-

Seit mehr als 100 Jahren entspricht es der Tradition, die Lösungen in einem Koordinatensystem von (Prinzipien) zu suchen, die sich widersprechen, namentlich dem Prinzip der (Territorialität) gegenüber dem Prinzip der (Einheit und Universalität) des Konkurses. Weitverbreitet ist hierbei auch noch die Attitüde, die Lösung durch eine Mehrheit von Verfahren über das Vermögen des Schuldners, das (grenzüberschreitend) in mehreren Staaten gelegen ist, mit dem Territorialitätsprinzip gleichzusetzen. Die Lösung durch ein einziges Verfahren im Land des Geschäftszentrums des Schuldners, das dann auch das ausserhalb dieses Landes befindliche Vermögen des Schuldners mitumfasst, wird danach mit dem Universalitätsprinzip schlechthin gleichgesetzt10. Wenig Klarheit vermittelt zudem die immer wiederkehrende Formel von (Unity and Universality) des grenzüberschreitenden Insolvenzverfahres11. Dabei verschafft auch die Erläuterung hierzu nicht mehr Klarheit, nämlich dass 9 Vgl. zu dieser T h e m a t i k bereits Hanisch, (Universality) versus Secondary Bankruptcy: Α European Debate, 2 International Insolvency Rev. 151 ff. (1993) sowie derselbe, Einheit oder Pluralität oder ein kombiniertes Modell beim grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren ? , ZIP 1994, 1 ff. 10 So beispielsweise im Lemontey-Bericht, oben N. 6, 97; prinzipiell auch Pastor RidruejoXz faillite en droit international privfe, Acadfemie de la H a y e de droit international, Recueil des Cours 133 II, 1971, 156-172; Velken, L'harmonisation du droit international privfe de la faillite, ebenda, Recueil des Cours 230V,1991, 373 386; diese Tendenz findet sich trotz Auflockerungen hintergründig gleichwohl noch in neueren französischen Veröffentlichungen wie bei Martin-Serf, La faillite internationale: Une r6alit6 feconomique pressante, un enchevfetrement juridique croissant, Journal du droit international(Clunet) 1995, 31 ff.(41 f.); Beguin, Un ilot de resistance ä Γ internationalisation: Le droit international des procedures collectives, Melanges Yvon Loussouarn, 31 ff. (52). 11 So selbst in der US-amerikanischen Literatur, vgl. Westbrook/ Trautman, Conflict of Law Issues in International Insolvencies, in: Ziegel (Hrsg.), Current Developments in International and Comparitive Corporate Insolvency Law, 1994, 655(656).

226

(Unity) die Einheit des Insolvenzverfahrens bedeute und (Universality) zweierlei und insoweit beides, d.h. 1) (that a single bankruptcy proceeding affects assets wherever located, and 2) that actions taken in the single proceedings are effective in all other proceedings) 12 (die es eigentlich gar nicht geben dürfte). Das eine schliesst nämlich das andere ein, so dass eigentlich nur ein Pleonasmus übrig bleibt. Eine Unterscheidung zwischen (Einheit) und (Universalität) ist in der Tat unter einem anderen Aspekt zu suchen. Einheit des Insolvenzverfahrens ist die am weitesten vorangetriebene Form (das (Ideal)) der Universalität nach der Devise: ein einziges Verfahren am Geschäftszentrum des Schuldners, ein einheitlich vom Verfahren erfasstes Vermögen, ein auf die insolvenzrechtlichen Rechtsverhältnisse anwendbares Recht. (Universalität) kann freilich auch in einer gemässigteren Form erreicht werden: nämlich durch besondere Konfliktregeln für die Anknüpfung einzelner Rechtsverhältnisse, z. B. sachenrechtlichen oder arbeitsrechtlichen Gehalts. Denn es sollte nicht übersehen werden, dass internationales Insolvenzrecht auch ein Teil des internationalen Privat- und Verfahrensrechts eines Landes ist13. Es ist aber auch möglich, gemässigte oder kontrollierte Universalität durch die Eröffnung partikularer Sekundär- oder Ergänzungsverfahren, ancillary proceedings oder dergleichen über das Vermögen des Schuldners, das sich in einem anderen Land als demjenigen des eröffneten Hauptverfahrens befindet, zu verwirklichen. Sofern ein derartiges Sekundärverfahren unter Anwendung des lokalen Insolvenzrechts den Zweck hat, das im anderen Land eröffnete Hauptverfahren in koordinierter und kooperativer Weise zu unterstützen, ist es unrichtig, dies als eine (territorialistische) Lösung zu bezeichnen14. Selbst wenn das Partikularverfahren, etwa als Konkurs über eine Zweigniederlassung, isoliert und nicht mit dem Hauptkonkurs koordiniert stattfindet, erscheint es zweifelhaft, von (Territorialismus) sprechen zu können. Die beteiligten Rechte müssen dann im Interesse der Gläubigergleichbehandlung nur für Anrechnungsregeln bezüglich der mehreren Dividenden, marchalling oder hotchpot rules Vorsorge treffen. Dass Sekundär- bzw. Partikularverfahren 12 Westbrook/Trautman, vorige N.,656. 13 Darüber Hanisch, Allgemeine kollisionsrechtliche Grundsätze im internationalen Insolvenrecht, Festschrift Günther Jahr (1993) 455ff. 14 Fletcher, The Istanbul Convention and the EEC Draft Convention, in: Ziegel, (Hrsg.), Current Developments, oben N. 11, 709(711) =in: Festschrift Hanisch (1994)89(91) spricht in diesem Fall von (de facto universality), vgl. ferner meine Abhandlungen, oben N. 9.

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

227

hinsichtlich des betroffenen Vermögens per se (territorial) beschränkt sind, bedeutet nicht, dass sie deswegen Ausdruck des Territorialitätsprinzips sind. Das Wort (territorial) dient in diesem Kontext nur der Abgrenzung der von dem jeweiligen Verfahren betroffenen Vermögensmassen, während die Anwendung des (Territorialitätsprinzips) die totale territoriale Abschottung gegenüber Auslandsinsolvenzverfahren bedeutet etwa nach Art des noch geltenden japanischen Insolvenzrechts. Mit einiger Gedankenschärfe sollte sich dieser verbreitete Begriffsnebel unschwer aufhellen lassen. Entscheidendes Kriterium ist, dass das gesamte Schuldnervermögen, wo immer es sich befindet, sofort nach Eröffnung des Haupt verfahr ens überall korrespondierenden Insolvenzverfahren unterworfen wird, um den Schuldner von seiner Verwaltungsund Verfügungsbefugnis auszuschliessen und die Einzelrechtsverfolgung durch die Gläubiger (die berüchtigte (race of diligence)) zu verhindern. Daher hatte Nadelmann15 bereits vor Jahrzehnten durchaus recht, als er die Einordnungen nach den sogenannten Prinzipien wegen ihrer unklaren Bedeutungsinhalte für nicht sehr sinnvoll und hilfreich ansah. Als Begriffspaare kommen — eher als Kurzbezeichnungen unter den Verständigungsmitteln — somit die (Einheit) des Verfahrens gegenüber der kooperativen und koordinierten Pluralität der Verfahren in Betracht. Beide Lösungen sind jedoch Modelle zur Verwirklichung der Universalität16. Sie stehen als universale Modelle freilich in scharfem Gegensatz zur strikten Territorialität. Diese schliesst mehr oder weniger kategorisch jede Berücksichtigung von Wirkungen ausländischer Insolvenzverfahren auf das Inlandsvermögen des Schuldners aus. Es nimmt ausländische Verfahren gleichsam grundsätzlich gar nicht zur Kenntnis. Dass dieser Standpunkt in der Epoche zunehmender Globalisierung der Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen nicht mehr haltbar und schädlich

15 Creditors' Equality, 98 U. Pa Law Rev. 41, 54(1949/50): Use of such terms as (unity), (universality) and (territoriality) of bankruptcy has not been found helpful in international discussions, because of different meanings given to such terms in different countries. 16 Bereits 1895 hatte Jitta, La codification du droit international de la faillite, 232 in diesem Sinne in einer weitsichtigen Analyse das berühmte Bild geprägt: il y a un moyen, non pas un moyen bien simple, qui conduit au but, c' est de faire de la faillite, qui est basfee sur un element subsidiaire de juridiction, une faillite secondaire, un satellite de la faillite gfengrale, qui gravite autour de cette derniere, en s' associant ä son but sans se confondre avec eile. Dieses Modell hielt er besonders für die Lösung durch internationale Konventionen als leichter realisierbar.

228

ist, hat nunmehr auch die japanische Rechtspraxis erfahren. Das Territorialitätsprinzip ist daher weltweit als zukünftiges Modell nicht mehr diskutabel, obwohl es in einer beträchtlichen Zahl von Staaten deren internationalen Insolvenzrechten immer noch zugrundeliegt. 2. Neuere

Denkansätze

Im übrigen empfiehlt sich bei der Suche nach zeitgemässen Lösungen das Aufgeben des Denkens in Prinzipien und in den diesen zugrundeliegenden begrifflichen Kategorien. Bis zur Gegenwart erweist sich, dass diese Kategorien als Axiome aufgefasst werden, aus denen sich angeblich zwingend prinzipien-puristische Lösungen ergeben müssen. Indessen geht es hier— wie auch sonst im IPR— um die Lösung konkreter rechtlicher Sachfragen entsprechend ihrem materiellen Gehalt — gleichsam (upon their merits). Diese widersetzen sich oft genug dem Prinzipienpurismus. Darauf hat schon 1963 namentlich Müller-Freienfels aufmerksam gemacht17. Gegenwärtig beginnt diese Erkenntnis auch anderswo unter der Überschrift (new approaches) etwas zaghaft Fuss zu fassen18. Deutliche Spuren davon finden sich aber auch schon im Vorentwurf einer Arbeitsgruppe der Europäischen Union von 199219. Sie fanden sich auch im Regierungsentwurf für eine neue deutsche Insolvenzordnung20. Dessen Vorschriften über die grenzüberschreitende Insolvenz sind allerdings letztlich nicht Gesetz geworden, so dass die Weiterentwicklung des deutschen internationalen Insolvenzrechts im Anschluss an Art. 102 EG

17 Auslandskonkurs und Inlandsfolgen, Festschrift Dölle 11(1963)359(367 f.): Bei der Ableitung praktischer Entscheidungen und Lösungen aus solchen Prinzipienlehren setze man sich der Gefahr aus, dem Nimbus von Zauberformeln zu erliegen, die als Grundsätze vor 100 Jahren und früher geprägt wurden. Sobald aber die Berufung auf solche Formeln ( d a s Erforschen und Bewerten der Wirklichkeit ersetzt, werden sie aus nützlichen Dienern zu gefährlichen H e r r e n ) . 18 So bei Westbrook/Trautman, oben N. 11, 657 ff. 19 Vgl. oben N. 8. 20 §§ 379-399 des Entwurfs einer Insolvenzordnung (ElnsO), Bundestag-Drucksache 12/2443 vom 15.4.1992 sowie T e x t e bei Balz/Land/ermann, Die neuen Insolvenzgesetze (1995) 664 ff. Vgl. ferner darüber Hanisch, Die Reform des deutschen internationalen Insolvenzrechts durch Rechtsprechung und Gesetzgebung in Deutschland, Ritsumeikan Law Rev. 1993, 43 ff. (44 ff.). Das P a r l a m e n t hat jedoch diese Vorschriften nicht in die InsO aufgenommen, um dem Abschluss eines EU-Insolvenza b k o m m e n s nicht vorzugreifen. Mit Beginn des J a h r e s 1999 wird vorerst nur die ziemlich rudimentäre Grundsatzregelung des Art. 102 des Einführungsgesetzes zur InsO in K r a f t treten, vgl. Balz/Landfermann, aaO,662 f.

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

229

InsO und an die Grundlagenentscheidung des BGH von 198521 vorerst der Rechtsprechung überlassen bleibt, wo sie bisher in guten Händen war.

II.

Modellvergleich

Ein Vergleich der Modelle, die für eine zeitgemässe Lösung in Betracht kommen, wird die vorausgegangenen methodischen und grundsätzlichen Erörterungen zum Ausgangspunkt nehmen. Infolgedessen wird die Frage im Mittelpunkt stehen, ob das Modell der Einheit oder das Modell einer Pluralität von zwei oder mehr miteinander koordinierten und kooperativen Verfahren über das in mehreren Ländern befindliche Vermögen des Schuldners vorzugswürdig ist oder ob ein stärker an den einzelnen lösungsbedürftigen Sachfragen orientiertes drittes Modell den künftigen Entwicklungen zugrundeliegen sollte. 1. Das

Einheitsmodell

Als (Gegenprinzip) zur mehr oder weniger kategorischen, territorialistischen Versagung von Inlandswirkungen ausländischer Insolvenzverfahren, die weltweit noch bis vor zwei Jahrzehnten den grösseren Teil der internationalen Insolvenzrechte beherrschte, fand auf dem Wege zu grösserer Kooperation das Universalitätsprinzip in seiner Idealform der Einheit des Insolvenzverfahrens zunächst breite Zustimmung22. Allerdings wurde auch die Frage nicht mehr gestellt, warum es zu der radikalen Hinwendung zum strikten Territorialitätsprinzip am Ende des vorigen Jahrhunderts gekommen war, denn dies hatte hinter begriffstheoretischen Fassaden ((hoheitliches Handeln}) durchaus auch substantiellsachliche Gründe. a. Errungenschaften

des

Einheitsmodells

In der T a t erscheint es ideal, zu einer Lösung zu gelangen, durch die auch im grenzüberschreitenden Fall die gesamte kollektive Schuldenbereinigung in einem einzigen, in sich kohärenten Verfahren stattfindet. 21 BGHZ 95,256. 22 Bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hatte die Befürwortung dieses Prinzips ja auch überwogen; Nachweise zu den Entwicklungen bei Hanisch,Bemerkungen zur Geschichte des internationalen Insolvenzrechts, Festschrift Merz (1992) 159 (169 ff.).

230

Denn nach dieser Lösung im Wege des Einheitsverfahrens beruhen die Eröffnung des Verfahrens einschliesslich der Eröffnungsgründe sowie die Jurisdiktionsgrundlage insgesamt auf einem einzigen Recht. Darüber hinaus kann es sich als grosser Vorteil erweisen, dass es nur eine Verwaltung, eine Liquidation der Aktiven, eine umfassende Schuldentilgung nach einem einzigen Verteilungsmodus sowie gegebenenfalls eine globale Reorganisation des Schuldnerunternehmens gibt, was besonders wünschenswert ist. Als grosse Vereinfachung erscheint auch, dass es dabei nur ein anwendbares Recht (lex fori concursus) gäbe, das namentlich auch über die insolvenzrechtliche Wirkung von Sicherheiten und die Rangordnung der Gläubigerbefriedigung bestimmt. Dies alles könnte auch die Gläubigergleichbehandlung fördern, soweit sie überhaupt noch angestrebt wird. Zu hoffen wäre auch, dass dieses einzige Verfahren sich als so effizient wie ein reines Inlandsverfahren erweist und zudem auch noch Kosten spart23. b. Defizite

des

Einheitsmodells

Jedoch besteht eine Diskrepanz zwischen dem Ideal des Einheitsverfahrens und der rechtlichen Realität. Die letztere ist zunächst durch die Tatsache geprägt, dass nicht nur die nationalen Insolvenzrechte und mitunter auch ihre Philosophien voneinander abweichen, sondern bei der grenzüberschreitenden Insolvenz vor allem auch die Rechtssysteme, nach denen sich die insolvenzrechtlich zu behandelnden materiellen Rechtslagen beurteilen, in ihrer Gesamtheit. Denn im Insolvenzverfahren findet kollektive Haftungsverwirklichung für vorgegebene materielle Rechtslagen statt. Zwar sind die insolvenzrechtlichen Grundkategorien allenthalben ähnlich. Auch ist die Akzeptanz des ausländischen Verfahrens grösser, wenn dieses am Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners (ζ. B. seinem Geschäftszentrum) stattfindet. Die Schwierigkeiten beginnen jedoch dort, wo in dem Einheitsverfahren wichtige Rechtsverhältnisse eine Rolle spielen, die ihren Schwerpunkt in einem anderen Land haben als in dem Land, in dem das (Haupt-) Insolvenzverfahren stattfindet, und die in der anderen Rechtsordnung eingebettet und 23 Derartige Gründe bewogen auch den ersten Entwurf eines EG-Konkursabkommens von 1980/84, der Einheitslösung den Vorzug zu geben, vgl. Lemontey-Bericht, oben N. 6,48 ff. Neuere Stellungnahmen bedauern in mancherlei Hinsichten die Durchbrechungen des Einheitsmodells in neueren europäischen Abkommensentwürfen, ζ,.Β. Westbrook/Trautman, oben N. 11, 656 f.; dieselben,oben N. 5,575 f.'.Martin -Serf, oben N. 10, 42.

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

231

verwurzelt sind. Dies gilt namentlich für Grundstücke, die in dem anderen Land belegen sind, aber auch für bewegliche Sachen, wenn daran Mobiliarsicherheiten, wie Eigentumsvorbehalte oder Sicherungsübereignungen in komplizierten Ausformungen nach dem Recht des Landes ihres situs bestehen und sich in dieser Weise auch in der Insolvenz durchsetzen wollen24. Ähnliches gilt für Beteiligungen an ausländischen Gesellschaften oder bei Bestehen einer (unselbständigen) Zweigniederlassung oder bei komplexen Vermögensgesamtheiten im Ausland, z.B. bei dort befindlichen Materialdepots oder bei Ausführung von grossen Bau-oder Konstruktionsleistungen im Ausland. Hier können z.B. Beschäftigungsverhältnisse mit Arbeitnehmern, deren Sozialversicherungsansprüche, Sozialpläne, Mietverhältnisse und Ansprüche des Fiskus eine Rolle spielen, die recht sensibel nach dem lokalen Recht bestimmt sind und dann nicht störungsfrei in das Einheitsverfahren hineinpassen25. Der am Einheitsmodell orientierte Entwurf eines EGKonkurabkommens von 1980/84 sah sich aus diesen Gründen gezwungen, für die allgemeinen Insolvenzprivilegien und die Ansprüche gegen die Masse26 sowie für die dinglichen Sicherungsrechte und die besonderen Vorrechte (privileges speciaux)27 sogenannte Untermassen für die Verwertung von Vermögen, das sich in einem oder mehreren anderen Vertragsstaaten befand, vorzusehen28. Dieses für die Rechtsanwendung höchst komplizierte Regelungsgefüge hat erheblich zum Scheitern dieses Versuchs beigetragen29. 2. Das Modell unterstützender

Sekundärverfahren

Erweist sich somit das Einheitsmodell in einer Epoche grenzüberschreitender wirtschaftlicher und rechtlicher Verflechtungen deswegen nicht als ideal, weil sich lokal einige sensible, in einem anderen Recht 24 Darin sehen allerdings Trautman/ Westbrook/Gaillard, oben N. 5, 603f. keine Schwierigkeiten. Sie gehen daher wohl von einem uniformen System der Mobiliarsicherheiten wie nach s. 9 des Uniform Commercial Code aus; eine solche Uniformität fehlt aber z.B. in der Europäischen Union. 25 Vgl. darüber bereits meine Ausführungen, oben N. 9,154 f. bzw. 3; ferner Beguin, oben N. 10, 52; Martin-Serf, oben N. 10, 32 f. 26 Art. 44 f. 27 Art. 46. 28 Art. 43-52. 29 Aufschlussreich hierzu die Stellungnahmen bei Kegel (Hrsg.), Vorschläge und Gutachten zum Entwurf eines E G - K o n k u r s a b k o m m e n s im A u f t r a g einer Sonderkommission des Deutschen Rates f ü r IPR (1988) 213-414 und 465-508.

232

verwurzelte und durch dieses bisher bestimmte Rechtsbeziehungen der plötzlichen Einheitsbehandlung durch eine fremde lex fori concursus nicht leicht unterwerfen lassen, so stellt sich die Frage nach praktikablen Alternativen. Eine solche könnte ein plurales System von Sekundärverfahren in allen denjenigen Ländern sein, in denen sich Vermögen des Schuldners befindet. Wenn diese mehreren Verfahren untereinander kooperativ sind, handelt es sich dabei—wie ausgeführt—durchaus um eine (universalistische) Lösung. Partikularkonkurse sind in manchen Ländern seit langem bereits vorgesehen, wenn sich eine unselbständige Zweigniederlassung des Schuldners in dem betreffenden Land befindet. Ausgedehnt werden könnte dies auch auf den Fall, dass einfach nennenswertes Vermögen des Schuldners sich in dem Land befindet, an dem die Rechtsverhältnissse lokal bestimmt und kompliziert sind. Nur sollte ein solches Partikularverfahren nicht isoliert durchgeführt werden, sondern als sekundäres Hilfsverfahren ((ancillary)) zum Hauptverfahren. Diese Ausrichtung auf das mit dem Hauptverfahren gemeinsame Ziel der globalen Insolvenzbereinigung verlangt Vorkehrungen für eine wirksame Kooperation insbesondere zwischen den Insolvenzverwaltungen des Hauptverfahrens und des Sekundärverfahrens. So sollte bereits die Antragsbefugnis für die Eröffnung des Sekundärverfahrens nicht nur den Gläubigern, sondern vor allem auch dem Verwalter des Hauptverfahrens nach dessen Zweckermessen zukommen. Das Schwergewicht liegt sodann auf der Zusammenarbeit zwischen den beiden oder mehreren Insolvenzverwaltungen. Inbesondere kommt es auf wechselseitige Information über das in Verwaltung genommene Vermögen sowie die daran bestehenden rechtliche Verhältnisse, die angemeldeten Forderungen und deren Rang an. Nicht weniger sollten sich die Verwaltungen gegenseitig konsultieren, namentlich über das global anzustrebende Verfahrensziel und die damit verbundenen Probleme. Wechselseitige Teilnahme an den jeweiligen Gläubigerversammlungen sollte für die Verwalter nicht ausgeschlossen sein. Da die Gläubiger grundsätzlich zur Anmeldung ihrer Forderungen in jedem der mehreren Verfahren nach ihrem Ermessen befugt sein sollten, bedarf es zur Wahrung der Gleichbehandlung aller Gläubiger der Schaffung von Regeln, die für eine Anrechnung einer bereits in einem Verfahren erhaltenen Dividende auf die in einem anderen Verfahren auszuschüttende Dividende Sorge tragen 30 . Schliesslich 30 Vgl. darüber Hanisch, oben N. 20, 47 f. sowie für das U.K. Banco de Portugal v.

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

233

muss auch noch vorgesehen werden, dass ein etwaiger Überschuss, der sich im Sekundärverfahren ergeben sollte, an die Masse des Hauptverfahrens auszufolgen ist. a. Probleme, die durch ein unterstützendes lösbar sind

Sekundärverjahren

leichter

Wie bereits erwähnt, hatte der auf dem Einheitssystem beruhende erste Entwurf eines EG-Konkursabkommens unter anderen besonders grosse Schwierigkeiten, im Konkursausland bestehende dingliche Rechte, insbesondere auch Mobiliarsicherungsrechte, sowie Insolvenzvorrechte in das nach einem einzigen Recht stattfindende Einheitsverfahren einzubinden. Kommt es dagegen zur Eröffnung eines unterstützenden Sekundärverfahrens, so ist für dieses dessen eigene lex fori concursus anzuwenden. Somit werden dingliche Rechte an unbeweglichen und beweglichen Sachen insolvenzrechtlich nach der lex fori concursus des Sekundärverfahrens behandelt, wenn diese Sachen gemäss ihrem situs zur Zeit der Eröffnung des Sekundärverfahrens der Masse des letzteren zugerechnet werden können. Damit ist gleichzeitig eine Synchronisation zwischen den Entstehungs- und Fortbestandsvoraussetzungen nach dem allgemeinen internationalen Sachenrecht und der insolvenzrechtlichen Behandlung dieser dinglichen Rechte hergestellt31. Dies dient insoweit auch dem Vertrauensinteresse dinglich gesicherter Gläubiger. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Insolvenzvorrechten 32 . Soweit diese Vorrechte Rechtsverhältnisse betreffen, die nicht im Land des Hauptverfahrens zu lokalisieren sind, kann durch ein Sekundärverfahren erreicht werden, dass sich Existenz und Rang des Vorrechts nach dem Insolvenzrecht desjenigen Landes richten, in dem das Rechtsverhältnis als lokalisiert anzusehen ist. So würde z.B. das Arbeitnehmervorrecht sich nach der Vorrechtsordnung des Sekundärverfahrens richten, wenn die Arbeit im Land des Sekundärverfahrens verrichtet worden ist. Das Waddell(1880)5 App.Cas. 161(175); s.508a US Bankruptcy Code; Art. 172 Abs. 3 schweizerisches IPRG. 31 Vgl. zur Problematik meine Ausführungen über die Wirkung besitzloser Mobiliarsicherheiten im grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren, Hogaku Kenkyu 66(1993)41 ff. (ins Japanische übersetzt von Professor Mikami); ähnlich Y. Taniguchi, in: Ziegel (Hrsg.) Current Developments···, oben N. 11, 671(672). 32 Auf die namentlich französische Unterscheidung zwischen privileges speciaux et ggneraux wird hier nicht besonders eingegangen. Spezialprivilegien an bestimmten Gegenstäden können als solche entsprechend den Regeln über dingliche Rechte behandelt werden.

234

Gleiche gilt für Forderungen der Sozialversicherung, des Fiskus oder andere Forderungen öffentlichen Rechts, wenn diese in dem Land des Sekundärverfahrens entstanden sind. Von den Vorrechtsproblemen abgesehen, erscheint eine ganze Anzahl von Fragen des anwendbaren Rechts durch die Anwendung der lex fori concursus des Sekundärverfahrens leichter lösbar, z.B. für Miete oder Pacht im Land dieses Verfahrens, für die Frage der insolvenzrechtlichen Behandlung von beiderseits noch nicht voll erfüllten Verträgen, wenn diese im Land des Sekundärverfahrens als lokalisiert anzusehen sind, für die Behandlung der Aufrechnung im Insolvenzverfahren oder für die Anfechtung von Rechtshandlungen, wenn diese Schuldnervermögen im Sekundärland betrifft und richtigerweise von der alleinigen Anfechtbarkeit nach den Regeln der lex fori concursus ausgegangen wird. Insbesondere aufgrund dieser hier skizzierten Vorteile entfallen auch die Gründe, die bei einem Einheitsmodell, wie dem ersten Entwurf eines EG-Konkursabkommens von 1980/84, zu der komplizierten Bildung von (Untermassen} geführt hatten. b. Vor- und Nachteile der beiden

Modelle

Gewiss besitzt das Einheitsmodell den ganz offensichtlichen Vorteil der Konzentration der Insolvenzbereinigung in einem einzigen Verfahren mit einer einzigen nationalen Insolvenzverwaltung am Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners, namentlich am Geschäftszentrum des Schuldnerunternehmens. Soweit es dabei um die Anwendung von Regeln geht, die für den Insolvenzfall spezifisch sind, treten keine erheblichen Störungen ein, denn diese Regeln sind in den allermeisten Rechten ähnlich. Dies ist jedoch anders, wenn es sich um die darunterliegends Schicht von Rechtsverhältnissen handelt, die nunmehr unter den besonderen Bedingungen eines Insolvenzverfahrens zu behandelen sind. Infolge der fortbestehenden Rechtsverschiedenheit sowohl zwischen den zuvor auf die Rechtsverhältnisse anwendbaren Rechten als auch zwischen den nach Eintritt des Insolvenzfalles anwendbaren Insolvenzrechten tritt in mancherlei Rechtsbereichen, wie ζ. B. den dinglichen Sicherheiten oder Privilegien, ein Schwund an Homogenität bei der Rechtsanwendung ein, der Störungen verursacht. Gerade insofern besitzt die Möglichkeit zur Eröffnung eines Sekundärverfahrens unbestreitbare Vorteile. c. Gesetzgeberische

Beispiele

Einige Kodifizierungen des Rechts grenzüberschreitender Insolvenz in

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

235

neuerer Zeit haben ersichtlich aus diesen Gründen33 der Lösung durch ein unterstützendes Sekundärverfahren den Vorzug gegeben. Es sind dies die (ancillary proceedings) gemäss s. 304 US-Bankruptcy Code, 1978 sowie das schweizerische Hilfsverfahren gemäss den Art. 166-175 schweizerisches IPRG. Aus Gründen des beschränkten Raumes muss hier selbst auf eine skizzenhafte Darstellung dieser beiden Lösungen verzichtet werden, ebensowie auf das Alternativmodell des Kapitels III der Konvention des Europarates über gewisse Aspekte des Konkurses (Instanbul-Abkommen) von 199034. Die US-amerikanische wie auch die schweizerische Lösung haben jedoch mindestens zwei gravierende Nachteile: l)Der Verwalter des ausländischen Hauptverfahrens muss die Eröffnung des Sekundärverfahrens in den U.S.A. bzw. der Schweiz grundsätzlich immer beantragen, wenn er auf das dort belegene Schuldnervermögen Zugriff nehmen will. Dies gilt auch dann, wenn es sich nicht um komplexe Verhältnisse handelt und die Verhältnisses an sich recht einfach liegen, z.B. wenn es um die Einbeziehung einer Forderung (z.B. ein Bankkonto), die in New York oder in Zürich als (belegen) anzusehen ist, in die Insolvenzmasse geht. Eine grössere Fähigkeit zur Anpassung des Verfahrensweges an die realen Bedürfnisse wäre demgegenüber wünschenswert. 2) Beiden Ergänzungsverfahren fehlt es an ausdrücklichen Vorkehrungen für die Gewährleistung einer Koordination mit dem Hauptverfahren und zur entsprechenden Kooperation der mehreren Verwaltungen untereinander, die im Interesse einer sinnvollen Globalbereinigung der Insolvenz unentbehrlich sind. 3. Das dritte

Modell

Nachdem weder das Einheitsmodell noch das Sekundärverfahrensmodell in ihrer puren und sich gegenseitig ausschliessenden Form eine hinreichend befriedigende Lösung anzubieten vermögen, stellt sich die Frage, 33 Daneben spielte offenbar auch der Interessenschutz für inländische Gläubiger eine Rolle. 34 European Treaty Series Nr. 136. Zum US-amerikanischen Verfahren gemäss s. 304 Bankruptcy Code ist die Literatur inzwischen kaum mehr übersehbar. Es wird daher hier nur auf einen kürzlich in Japan erschienenen Bericht verwiesen und zwar auf Westbrook,Cross Border Bankruptcy, United States Report, in:International Symposium on Civil Justice in the Era of Globalization, oben Ν. 1, 281 ff. (288 ff.). Zum schweizerischen Verfahren vgl. die Kurzdartellung von Hanisch, ebenda, 315 ff. (331 f)mit weiteren Literaturnachweisen.

236

ob sich nicht die Vorteile der beiden Modelle in einem dritten Modell kombinieren lassen. a. Die Kombination verfahrens

des Einheitsmodells

mit dem Modell des Sekundär-

Wenn die Verhältnisse bezüglich des in einem anderen Land als im Land des Haupt verfahr ens befindlichen Schuldnervermögens tatsächlich und rechtlich einfach liegen, bedarf es keines lokalen Sekundärverfahrens. Dieses zeitigt ja gerade umgekehrt seine Vorteile bei schwierigen und komplexen Verhältnissen bezüglich dieses Teils des Schuldnervermögens. Daher erscheint es sachgerecht, sich bei unkomplizierten Verhältnissen die konzentrierenden und jedenfalls insofern vereinfachenden Elemente des Einheitssystems zunutze zu machen. Die Anwendung des Einheitssystems bedeutet somit, dass der Verwalter des (Haupt-) Verfahrens als solcher im anderen Land nach informeller Anerkennung handeln darf, freilich unter Beachtung einschlägiger Regeln des lokalen Rechts einschliesslich der internationalprivatrechtlichen Bestimmungen für das Recht, das auf die vorausgesetzten Rechtsverhältnisse anwendbar ist. Informelle Anerkennung bedeutet den Ausschluss eines formellen Verfahrens (Exequatur); vielmehr erfolgt eine — je nach Fallsituation direkte oder inzidente— Überprüfung der Anerkennungsvoraussetzungen, insbesondere der internationalen Zuständigkeit, durch die hiermit befasste Stelle. Infolge der Anerkennung treten in dem Land, in dem kein Verfahren eröffnet wird, für das dort befindliche Schuldnervermögen unmittelbar jedenfalls diejenigen typischen Insolvenzwirkungen ein, die die Verfahrenseröffnung nach dem Recht des Eröffnungsstaates auf das gesamte Vermögen des Schuldners — und zwar auch das im Insolvenzausland befindliche Vermögen — hat. Dies betrifft in erster Linie den Eintritt der insolvenzrechtlichen Beschlagswirkung für das Vermögen. Der Schuldner verliert gemäss dem Recht des Eröffnungsstaates gegebenenfalls die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis für sein zur Insolvenzmase gehöriges Vermögen. Diese geht dann gewöhnlich auf den Verwalter über. Möglicherweise sind Anpassungen an das Recht des Belegenheitsstaates hierbei notwendig. Eine weitere unmittelbar eintretende Insolvenzwirkung ist das Verbot von Einzelrechtsverfolgungen, insbesondere von Einzelvollstreckungen, durch die Gläubiger nach Eröffnung des Kollektivverfahrens sowie die Unterbrechung etwaiger anhängiger Prozesse des Schuldners. Vorzugsweise sollten diese Wirkungen grundsätzlich ab

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

237

dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Eröffnung des Haupt verfahr ens im Eröffnungsstaat eintreten und nicht erst ab dem Zeitpunkt der Anerkennung35. Sofern keine Initiative zur Eröffnung eines Sekundärverfahrens ergriffen wird, bleibt es bei der Anwendung des Einheitsmodells. Die Erfassung des in einem anderen Staat befindlichen Vermögens für die Insolvenzmasse erfolgt nach dem Insolvenzrecht des Eröffnungsstaates unter Wahrung der lokalen Verfahrensregeln. Jedoch ist bei diesem dritten Modell keineswegs ausgeschlossen, dass trotz des eröffneten Hauptverfahrens alsbald oder auch später die Eröffnung eines Sekundärverfahrens im anderen Land beantragt werden kann. Ein derartiger Antrag wird dann opportun sein, wenn sich herausstellt, dass das im anderen Land befindliche Schuldnervermögen nur mit erheblichen Schwierigkeiten im Rahmen des Hauptverfahrens insolvenzrechtlich abgewickelt werden könnte. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn lokale Immobiliar- oder Mobiliarsicherheiten, unselbständige Zweigniederlassungen oder Sachgesamtheiten, Gesellschaftsanteile oder andere Vermögensbeteiligungen oder andere im lokalen Recht verwurzelte Verhältnissse eine Rolle spielen. Das Problem der Überleitung des zunächst nach dem Einheitsmodell begonnenen Verfahrens in das Modell der Sekundärverfahren bereitet relativ geringe Schwierigkeiten. Die sofort eingetretenen Wirkungen des Hauptverfahrens bleiben solange auch im anderen Staat bestehen, als dort nicht ein Sekundärverfahren eröffnet wird36. Damit ist bis zur etwaigen Eröffnung eines Sekundärverfahrens das im anderen Staat belegene Vermögen durch die Beschlagswirkung des Hauptverfahrens gesichert. Wird dann ein Sekundärverfahren eröffnet, so treten ex nunc zukünftig für das im Staat des Sekundärverfahrens befindliche Vermögen des Schuldners diejenigen Insolvenzwirkungen ein, die nach dem Recht eben dieses Staates vorgesehen sind. Auch richtet sich das nunmehr abgespaltene Sekundärverfahren ganz nach dem Recht des Staates, in dem es eröffnet worden ist. Dies gewährleistet, dass die in diesem Staat verwurzelten Rechtsverhältnisse auch insolvenzrechtlich nach dem 35 Vgl. die französiche Cour de Cassation, 25.2. 1986, SociStö Klfeber c. Socigtfe A n o n y m e de droit danois Friis Hansen, J.C.P. 1987 II no. 20776. Art. 8 des IstanbulA b k o m m e n s sieht dagegen zunächst für den Verwalter nur die Befugnis vor, sofort einstweilige Sicherungsmassnahmen zu verlangen. 36 Ein Beispiel für diese Lösung in einem dritten, kombinierten System sind die Art. 9a Abs. 1 und 10 Abs. 1 des Vorentwurfs für ein neues EU-Insolvenzabkommen (i. d.F. von 1992); vgl. hierüber auch Woodland, oben N. 8, 450 ff.

238

Recht dieses Staates behandelt werden. b. Antragsberechtigung

zur Eröffnung eines

Sekundärverfahrens

Ein anderes Problem ist, wer zur Stellung des Antrages auf Eröffnung eines Sekundärverfahrens berechtigt sein soll. Da bislang das Gesamtverfahren in der Hand des Verwalters des Hauptverfahrens liegt und es vor allem in seinem Ermessen steht, wie das Gesamtverfahren wirtschaftlich und rechtlich sinnvoll durchgeführt werden sollte, kommt ihm primär die Antragsberechtigung für die Eröffnung eines Sekundärverfahrens zu. Denn ihm kommt in erster Linie die Kompetenz zu, nachdem er eine Übersicht über das Schuldnervermögen erlangt hat, zu beurteilen, ob eine möglichst unkomplizierte, rasche und wirtschaftliche Insolvenzbereinigung am besten zu erreichen ist, wenn er bei rechtlich oder tatsächlich einfachen Verhältnisssen nach dem Einheitsmodell vorgeht, oder ob es dafür zweckmässig erscheint, für das im Ausland befindliche Schuldnervermögen bei rechtlich oder tatsächlich komplexen Verhältnissen die Abwicklung durch ein Sekundärverfahren in jenem Staat zu suchen. Dieses primäre Antragsrecht des Verwalters des Hauptverfahrens sollte nicht leicht dadurch unterlaufen werden können, dass auch den einzelnen Gläubigern ohne weiteres ein Antragsrecht zusteht. Vielmehr sollte ein solches Antragsrecht beschränkt sein auf den Fall, dass ein Gläubiger ein besonderes Interesse an der Einleitung eines Sekundärverfahrens hat, namentlich wenn er mit seiner Forderung im Hauptverfahren wesentlich schlechter behandelt werden würde37. c. Jurisdiktionsgrundlage

für das

Sekundärverfahren

Gegenständlich ist zu empfehlen, die Jurisdiktionsgrundlage für die Eröffnung eines Sekundärverfahrens weit zu konzipieren und diese über den klassischen Fall der Zweigniederlassung im anderen Staat auch auf sonstiges Vermögen des Schuldners zu erstrecken. Für die Wahrung der Kosten/Wert-Relation bei einem solchen Verfahren muss der Verwalter des Hauptverfahrens Sorge tragen38.

37 So ausdrücklich Art. 22 Abs. 2 des Vorentwurfs eines EU-Insolvenzabkommens von 1992. Zu übersehen ist freilich dabei nicht, dass vor allem der lokale Fiskus für seine im Staat des Sekundärverfahrens begründeten Forderungen davon profitieren wird, soweit dem Fiskus noch ein Insolvenzvorrecht eingeräumt wird. 38 Vgl. Art. 2 Abs. 2 des Vorentwurfs für ein EU-Insolvenzabkommen.

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

d. Kooperation

zwischen Haupt-und

239

Sekundärverfahren

Freilich wäre durch ein derartiges drittes Modell nichts gewonnen, wenn eine derartige Lösung nicht effektiv für eine gut fundierte Koordination und Kooperation zwischen den mehrfachen Insolvenzverwaltungen Vorsorge treffen würde. Dies ist im Interesse einer wirtschaftlichen Gesamtbereinigung der Insolvenz — sei es durch sinnvolle Liquidation, sei es durch Reorganisation des Schuldnervermögens — und auch zur Wahrung der Gleichbehandlung der Gläubiger unbedingt notwendig und geradezu das Essentiale dieses Modells. Denn durchaus im Sinne der idealen Zielsetzung des Einheitsmodells ist einem beziehungslosen Partikularismus der Verfahren entgegenzuwirken. Sekundärverfahren sind kein Selbstzweck, sondern lediglich ein Mittel zum Zweck der Reduzierung von Komplikationen. Die Koordination der mehreren Verfahren sollte insbesondere durch diePßicht der Verwaltungen gewährleistet werden, sich gegenseitig über alle Umstände zu informieren und zu beraten, die für das jeweilige Verfahren, aber auch für die zweckmässige Abwicklung der Gesamt Insolvenz — sei es durch Liquidation oder Reorganisation — erheblich und wichtig sind. Wechselseitige Konsultationen über die tatsächliche und rechtliche Situation der mehreren Insolvenzmassen und über eine Gesamtstrategie zur Bereinigung der Insolvenz sind unverzichtbar. Konkrete Beispiele für derartig Kooperationspflichten finden sich bereits im Vorentwurf eines EU-Insolvenzabkommens 39 . Da die Gläubiger jeweils an den mehreren Verfahren teilnehmen und somit mehrfach zu einer Dividende berechtigt sein können, bedarf es zur Wahrung der Gleichbehandlung aller Gläubiger auch der Schaffung eines Anrechnungsmodus, wofür es in den nationalen Rechten und in den Konventionsentwürfen bereits Beispiele gibt40. Schliesslich muss noch für den eher unwahrscheinlichen Fall Sorge getragen werden, dass sich im Sekundärverfahren ein Überschuss ergibt. Dieser ist an die Insolvenzmasse des Hauptverfahrens herauszugeben. Diese Skizze eines (kombinierten Systems) könnte durch eine Anzahl von Details ergänzt werden. Es kam jedoch hier nur darauf an, die Grundstruktur dieses Modells als Diskussionsgrundlage darzulegen. 39 Art. 24-28 des Vorentwurfs von 1992. 40 Vgl. oben N. 30 sowie Art. 12 Abs. 2 des Vorentwurfs eines EU-Insolvenzabkommens von 1992.

240

4· Ansätze und

Ausblicke

In jüngerer Zeit haben ein zur Zeichnung aufgelegtes Abkommen des Europa-Rates (Istanbul-Abkommen von 1990) sowie der Vorentwurf für ein neues Insolvenzabkommen der Europäischen Union von 1992 ein kombiniertes Modell, das Elemente des Einheits- und des Sekundärverfahrensmodells in sich vereinigt, zum Teil wenigstens ansatzweise zu verwirklichen gesucht41. Diese Versuche verdienen Aufmerksamkeit, wobei hier freilich nur einige Hinweise möglich sind. a. Bemerkungen zum Istanbul-Abkommen

des

Europa-Rates

Dieses Abkommen beruht in seinem Kapitel II auf dem eingeschränkten Einheitsmodell, in seinem Kapitel III auf dem Modell des Sekundärverfahrens. Kritisch ist allerdings in erster Linie dreierlei anzumerken: l)Die Bindeglieder zwischen den beiden Verfahrenswegen sind relativ locker und könnten stärker nach Art eines Systems aus einem Guss ausgeprägt sein42.2) Beim Modell des Kapitels II enthält Art. 11 Abs. 2 eine insolvenzrechtliche Perversion, indem gewissen Bevorrechtigten und dort sonst genannten Gläubigern für zwei Monate nach Eröffnung des Hauptverfahrens erlaubt wird, im anderen Land die Einzelrechtsverfolgung noch zu betreiben43. 3) Art. 40 des Abkommens lässt den Vertragsstaaten die Wahl, bei der Zeichnung oder bei der Ratifikation zu erklären, dass sie entweder das Modell des Kapitels II oder dasjenige des Kapitels III nicht anwenden werden. Dies ist ein Rückschritt gegenüber den bisher vorgeschlagenen, herkömmlichen Modellen, zu dem treffend bemerkt wurde: the result would be to undo almost all the good the Convention does44.

41 Freilich fanden sich zuvor bereits Spuren eines solchen Modells im englischen internationalen Insolvenzrecht, vgl. darüber Fletcher, Report for the United Kingdom, in: Fletcher, (Hrsg.), Cross-Border Insolvency, National and Comparative Studies, oben Ν. 1, 217 und 224-230; meine Nachweise in:ZIP 1994, 1 ff. (7). Auf derselben Linie lag der deutsche Regierungsentwurf f ü r eine Insolvenzordnung, oben N. 20, in seinen §§379-399. 42 Art. 25 und 26 begnügen sich z.B. nur mit Informationspflichten und einer Pflicht zur Konsultation des Verwalters des H a u p t v e r f a h r e n s vor Beendigung des Sekundärverfahrens. 43 Kritisch dagegen Trautman/Westbrook/Gaillard,oben N. 5, 593: the most serious defect in the Convention; Hanisch in: Festschrift f ü r Walder (1994) 483 (491): insolvenzrechtliche Perversion. 44 Trautman/ Westbrook/Gaillard,oben N. 5, 601- Vgl. ferner zu dem A b k o m m e n u.a.

Grenzüberschreitende Insolvenz Drei Lösungsmodelle im Vergleich

b. Bemerkungen zum Vorentwurf

eines EU

241

-Insolvenzabkommens

Die genannten schweren Defekte des Istanbul-Abkommens sind in dem Vorentwurf eines EU-Abkommens vermieden worden. Art. 3 räumt der Anwendung der lex fori concursus- des Hauptverfahrens bzw. eventuell des Sekundärverfahrens- einen breiten Raum ein. Jedoch sehen die darauffolgenden Vorschriften eine Anzahl von Vorbehalten für die Anwendung eines anderen Rechts vor. Problematisch sind die Art. 4 und 5 sowie 8. Nach Art. 4 werden dingliche Rechte eines Gläubigers oder eines Dritten an beweglichen oder unbeweglichen Sachen, an Forderungen oder anderen Rechten des Schuldners von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt, wenn sich diese Gegenstände im Zeitpunkt der Verfahrenseröffung in einem anderen Vertragsstaat als dem Staat der Verfahrenseröffnung befinden. Gemäss Art. 5 Abs.l gilt dasselbe für Eigentumsvorbehalte des Verkäufers. Dies zielt ersichtlich auf Sicherungsrechte an Vermögegenständen des Schuldners. Diese Herausnahme derartiger Rechte aus der insolvenzrechtlichen Behandlung mag als zu weitgehend erscheinen und ist daher heftig kritisiert worden45. Doch ist für diesen sensiblen Bereich zu berücksichtigen, dass es in Europa — anders als nach s. 9 des amerikanischen UCC — noch kein uniformes Recht für die Sicherungsrechte gibt, was ihre adäquate Erfassung in der Insolvenz sehr erschwert. Die Konvention bietet aber gleichwohl die Möglichkeit, diese Rechte insolvenzrechtlich zu erfassen, nämlich durch die Eröffnung eines Sekundärverfahrens in dem Land, in dem sich diese Rechte befinden. Dies wird ein wichtiger Anwendungsfall für Sekundärverfahren sein, was jedoch bislang häufig übersehen wird. Schwerer wiegt als beklagenswerte Regel Art. 8 des Vorentwurfs. Während Art. 3 Abs. 3m) richtigerweise vorsieht, dass die lex fori concursus des Staates, in dem das Verfahren eröffnet wurde, auch über die insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit einer Rechtshandlung bestimmt, sieht plötzlich Art. 8 zusätzlich vor, dass im Falle der Anfechtung in einem anderen als dem Eröffnungsstaat auch die Anfechtbarkeit nach

Velken, oben N. 10, 421 ff.; Fletcher, oben N. 14, 709 ff.; Martin-Serf, oben N. 10, 72 ff.; Beguin, oben N. 10, 36 ff. 45 Trautman/ Westbrook/Gaillard,oben N. 5, 602 ff; vgl. auch Hanisch, IPRax 1992, 187(190 f).

242

dem Recht des Staates gegeben sein muss, das für die Substanz der anfechtbaren Rechtshandlung massgeblich ist (z.B. das Geschäftsstatut). Derartige Kumulationen zweier Rechte ohne zwingenden Grund sind internationalprivatrechtlich per se eine Kalamität. Sie verdienen daher keine Nachahmung 46 . Diese kritischen Bemerkungen hindern jedoch nicht daran, diesen Konventionsentwurf wegen seiner Grundlage auf dem Boden eines dritten, realistischen und flexiblen Modells als erfolgversprechende Lösung anzusehen. Diese Grundstruktur eignet sich nicht nur für eine Konventionslösung, sondern auch für das autonome internationale Insolvenzrecht eines Staates im Verhältnis zu Nicht-Vertrags-Staaten 47 · 48 . Möge dieses Gespräch zwischen fernöstlichem und europäischem Rechtsdenken über den Vergleich von Lösungen für ein Rechtsproblem, das nicht nur in Japan zum (heissen Eisen ) geworden ist, aus Anlass des 70- Geburtstags von Hideo Nakamura, der so viel zum Rechtsgespräch zwischen Ost und West beigetragen hat, zum Gelingen der bevorstehenden japanischen Reformen beitragen.

46 Kritisch mit weiteren Nachweisen in neuerer Zeit Hanisch, IPRax 1993, 69 (72 ff.); Leipold, Miniatur oder Bagatelle: das internationale Insolvenzrecht im deutschen Reformwerk 1994, Festschrift Wolfram Henckel(1995)533(541 ff.). Art. 102 Abs. 2 EGInsO hat trotz der Reduzierung der internationalen Vorschriften des Regierungsentwurfs auf ein Rudiment ausgerechnet diese Kalamität beibehalten (aufgrund des Drucks welcher pressure-group auch immer). 47 Wegen der späteren Übernahme der Konventionslösung als autonomes deutsches Recht auch gegenüber Drittstaaten vgl. Balz/Landfermann, oben N. 20, Art 102 EGInsO (S.661 ff.). 48 Nach Drucklegung dieses Beitrags hat die Arbeitsgruppe der EU für die Ausarbeitung eines EU-Insolvenzabkommens am 12. September 1995 dem Ministerrat einen endgültigen Entwurf für ein Abkommen vorgelegt. Dieses soll im November 1995 gezeichnet werden. Neben formellen Änderungen wie einer neuen Numerierung enthält dieser Text auch sachliche Änderungen, von denen die Beschränkung der Jurisdiktion für ein Sekundärverfahren auf das Vorhandensein einer Niederlassung (establishment) im Sekundärstaat besonders bedauerlich ist. Das Einheitsmodell wurde demnach beträchtlich ausgeweitet, obwohl die Grundstruktur des hier erörterten Entwurfs von 1992 beibehalten wurde. Jedoch erscheint die nunmehr endgültige Lösung hinsichtlich der Konsequenzen erheblich starrer.

Probleme bei der Ermittlung ausländischen Rechts in der gerichtlichen Praxis von

Prof. Dr. Andreas Heldrich

München

Professor an der Universität München, Direktor des Instituts für Internationales Recht —Rechtsvergleichung—

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Fälle mit Auslandsberührung nehmen an Zahl und Komplexität weiterhin zu. Die Verflechtung der internationalen Wirtschaft, die juristischen Begleiterscheinungen eines globalen Tourismus, Immobilienerwerb und andere private Kapitalanlagen im Ausland sowie die völkerverbindenden Bande von Liebe und Ehe machen die Konfrontation mit fremdem Recht zu einer Alltagserscheinung in der gerichtlichen Praxis. Im Gegensatz zu inländischen Rechtsnormen, für die der Grundsatz iura novit cuvici gilt, braucht der deutsche Richter das in einem anderen Staat geltende Recht nicht zu kennen. Gemäß § 293 der Zivilprozeßordnung ist vielmehr über den Inhalt dieses Rechts Beweis zu erheben, wobei der Richter nicht auf die von den Parteien beigebrachten Nachweise beschränkt ist, sondern die für die Entscheidung maßgebenden ausländischen Rechtsvorschriften von Amts wegen festzustellen hat. 1 Auf welche Weise er sich die erforderlichen Kenntnisse verschafft, steht in seinem Ermessen. 2 Er hat nur die Pflicht, die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen über den Inhalt des ausländischen Rechts auszuschöpfen. 3 Eine subjektive Beweislast der Parteien besteht nicht.4 Diese müssen den Richter aber bei der Ermittlung ausländischen Rechts nach Kräften unterstützen. 5 Sofern sie Zugang zu den entsprechenden Rechtsquellen haben, müssen sie das maßgebende fremde Recht konkret darstellen. 6 Einen übereinstimmenden Parteivor1 Vgl. hierzu BGH NJW 1988, 647; NJW-RR 1990, 248 (249); ΝJW 1992, 2026 (2029); ΝJW 1992, 3106; FamRZ 1994, 434; NJW-RR 1995, 766 (767), BVerwG FamRZ 1994, 627 (628). 2 BGH IPRax 1995, 38 (39); NJW 1995, 1032. 3 Vgl. dazu die Entscheidung BGH NJW 1991, 1418 (1419). 4 BGH NJW 1961, 410; NJW 1982, 1215 (1216); IPRax 1983, 178 (180); OLG Koblenz RIW 1993, 934 (936). Dies gilt nicht für das Beweisangebot hinsichtlich eines ausländischen Handelsbrauches, da es sich dabei um eine Tatsachenbehauptung handelt, BGH JZ 1963, 167 (169). Das am 1.1.1989 in kraft getretene schweizerische IPR-Gesetz verfolgt demgegenüber einen pragmatischeren Ansatz. Nach Art. 16 Abs. 1 IPRG erfolgt die Ermittlung ausländischen Rechts von Amts wegen, wobei die Mitwirkung der Parteien angeordnet werden kann. In vermögensrechtlichen Streitigkeiten kann die Beweislast der sich auf ausländisches Recht berufenden Partei auferlegt werden. Wird dieser Beweis nicht geführt, kommt es zur Anwendung schweizerischen Rechts als Ersatzrecht (Art.16 Abs. 2 IPRG); zum Vergleich mit der schweizerischen sowie mit der österreichischen Lösung jetzt auch Otto, IPRax 1995, 299 (300f). 5 So BGH NJW 1976, 1581, vgl. hierzu auch Fastrich ZZP 1984, 423 (426). 6 BGH NJW 1992, 2026 (2029); NJW 1992, 3096 (3098); dies gilt jedoch nicht im FGVerfahren, OLG Köln WM 1988, 1749 (1750).

Probleme bei der Ermittlung ausländischen Rechts in der gerichtlichen P r a x i s

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trag über den Inhalt des ausländischen Rechts darf der Richter — nach einer allerdings nicht unproblematischen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 7 — sogar in der Regel als richtig zugrunde legen8. Bei kontroverser Darstellung besteht aber jedenfalls eine umfassende Ermittlungspflicht? Umfang und Intensität dieser Ermittlungspflicht hängen im übrigen von den Umständen des Einzelfalles ab10, ζ. B. von der Reputation und praktischen Erfahrung eines Autors, auf dessen Darstellung des fremden Rechts sich das Gericht stützen will. Grundsätzlich bieten sich dem erkennenden Gericht bei der Ermittlung des ausländischen Rechtszustandes drei verschiedene Möglichkeiten: 1) 2) 3)

Versuch der Feststellung der maßgebenden Rechtsquellen auf eigene Faust („mit Bordmitteln"); Einholung einer Auskunft nach dem Europäischen Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht vom 7.6.1968;" Beauftragung eines Sachverständigen mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens.

Die Ermittlung ausländischen Rechts durch den Richter selbst kommt in der Praxis vermutlich häufiger vor als man denkt. Jedenfalls auf dem Gebiet des Familien- und Erbrechts stehen mit den Sammelwerken von Bergmann-Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht und FeridFirsching, Internationales Erbrecht durchaus aufschlußreiche Quellen zur Verfügung 12 . Der Bundesgerichtshof hat es unlängst in einer deutschisraelischen Scheidungssache für unbedenklich erklärt, daß der Tatrichter bei der Ermittlung des israelischen Scheidungsrechts sich auf eine 7 Vgl. die vielbeachtete Entscheidung BAG N J W 1975, 2160; kritisch zur Rechtsprechung des BAG Birk SAE 1979, 122 (125). 8 So auch OLG Celle, RIW 1993, 587; Huzel I P R a x 1990, 77 (78) m.w.N.. 9 BGH N J W 1992, 2026 (2029). 10 Hierzu BGH F a m R Z 1994, 434. 11 BGBl 1974 II, 937 mit Zusatzprotokoll vom 15.03.1978, BGBl 1987 II 60, 593 sowie dem hierzu ergangenen Ausführungsgesetz vom 05-07.1974, BGBl I 1433, geändert durch Gesetz vom 21.01. 1987, BGBl 1987 II 58. V e r t r a g s s t a a t e n sind: Belgien, Bulgarien, Costa Rica, Dänemark, Finnland, Frankreich (einschließlich überseeischer Gebiete), Griechenland, Großbritannien (mit Jersey), Island, Italien, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Niederlande (einschließlich A r u b a ) , Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russische Föderation, Schweden, Schweiz, ehem. Sowjetunion, Spanien, Türkei, Ungarn, Ukraine und Zypern. 12 Ferner sind zu nennen Brandhuber/Zeyringer, S t a n d e s a m t und Ausländer; DNotl, Gutachten zum internationalen und ausländischen Privatrecht 1992 (1994); Ferid/ KegelIZweigert, Gutachten zum internationalen und ausländischen Privatrecht (1965 f f ) .

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dieser Quellen gestützt hat13. Allerdings sind die betreffenden Nachschlagewerke lückenhaft und zum Teil veraltet. Im Bereich des Schuldoder Sachenrechts haben sie noch kein Pendant14. In der Praxis wird sich der Richter deshalb häufig um Hilfe von außen bemühen. Eine Handhabe dafür bietet das schon erwähnte Europäische Ubereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht vom 7.6· 1968, das für die Bundesrepublik Deutschland am 19.03.1975 in Kraft getreten ist15. Zu den Vertragsstaaten gehören einige Länder, deren gegenwärtiger Rechtszustand aufgrund politischer Umwälzungen nicht ganz einfach festzustellen ist, insbesondere Bulgarien, Polen, Russische Föderation, Ungarn und Ukraine. Zu nennen sind ferner einige Staaten, deren Recht nicht im Vordergrund des Interesses der rechtsvergleichenden oder auslandsrechtskundlichen Literatur steht, z.B. Dänemark, Finnland, Griechenland, Island, Malta, Norwegen, Türkei und Zypern. Auf den ersten Blick scheint das Übereinkommen also durchaus ein erfolgversprechendes Instrument für die Ermittlung des Rechtszustandes in Ländern mit schwer zugänglicher oder unsicherer Quellenlage16. Dennoch hat sich das Abkommen in der Praxis — wenn ich recht sehe — nicht sonderlich bewährt 17 . Schon das Verfahren bei der Übermittlung und Bearbeitung von Auskunftsersuchen ist umständlich und zeitraubend. Die Notwendigkeit einer Übersetzung in die Amtssprache des ersuchten Staates führt zwangsläufig zu Formulierungsfehlern und Mißverständnissen. Hinzu kommt, daß das Auskunftsersuchen konkrete Rechtsfragen aufwerfen muß. Bei deren Formulierung wird das Vorverständnis des ersuchenden Richters eine wesentliche Rolle spielen, der in den Kategorien seines eigenen heimischen Rechts befangen ist. Diese brauchen aber keineswegs notwendig mit der Begriffswelt und Systematik der Rechtsordnung übereinzustimmen, auf welche sich das 13 BGH F a m R Z 1994, 434. 14 Vgl. aber jetzt beispielsweise zum ausländischen Deliktsrecht auch v. Bar, Deliktsrecht in Europa (1994); zum Sachenrecht Schönhofer-Böhner, H a u s - und Grundbesitz im Ausland, 1982 ff. Eine äußerst hilfreiche Bibliographie findet sich bei v. Bar,Ausländisches P r i v a t - und Privatverfahrensrecht in deutscher Sprache (1993, als CD-ROM Datenbank ständig aktualisiert). 15 B e k a n n t m a c h u n g vom 04.03.1975,BGBl 1975 II, 300. 16 Zur Verpflichtung der Gerichte, eine solche A u s k u n f t bei Zweifeln über den Inhalt ausländischen Rechts einzuholen, BGH RIW 1983, 615 (617); N J W - R R 1992, 642 (643). 17 Als „schnelles und praktisch brauchbares Mittel" wird das A b k o m m e n dagegen von Otto, I P R a x 1995, 299 (302) bezeichnet.

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Auskunftsersuchen bezieht. Die Gefahr, daß die Antwort an den Problemen des konkreten zur Entscheidung stehenden Falles vorbeigeht, ist deshalb nicht von der Hand zu weisen. Statistische Angaben über die Bewährung des Auskunftsübereinkommens in der Praxis lassen erkennen, daß die Gerichte von dieser Möglichkeit der Ermittlung ausländischen Rechts nur selten Gebrauch machen.18 Ihre Existenz hat jedenfalls nicht verhindern können, daß deutsche Richter in Fällen mit Auslandsberührung mit einer gewissen Vorliebe auf die dritte ihnen zu Gebote stehende Methode zurückgreifen: die Einholung eines Sachverständigengutachtens. In Deutschland teilen sich diesen „Markt" im wesentlichen vier rechtsvergleichende Institute: das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, das Institut für ausländisches und internationales Privatund Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, das Institut für internationales und ausländisches Privatrecht der Universität Köln und das Institut für internationales Recht - Rechtsvergleichung - der Universität München. Daneben spielen auch Universitätsinstitute in Berlin, Bonn, Freiburg, Göttingen, Münster und Osnabrück eine gewisse Rolle19.Das Münchener Institut erledigt im Jahr etwa 150 bis 180 derartige Gutachtenaufträge. Die Fallnähe unserer Rechtsauskünfte wird dadurch gewährleistet, daß die Gerichte in aller Regel die Akten mitübersenden. Trotzdem ist aber natürlich auch die Gutachtenpraxis der rechtsvergleichenden Institute nicht über jeden Zweifel erhaben. Ich selbst habe dieser Kritik Vorschub geleistet, indem ich in einem Festschriftbeitrag einmal leichtsinnigerweise bemerkt habe: „Mehr oder weniger gewagte Spekulationen über den ausländischen Rechtszustand gehören nun einmal zum täglichen Brot der Gutachtenpraxis rechtsvergleichender Institute".20 Kaum irgendeine meiner Veröffentlichungen wird so häufig und mit solchem sichtbaren Behagen im Wortlaut zitiert wie diese Stelle. Trotzdem scheint mir nicht zweifelhaft, daß unsere Gutachten noch immer das relativ beste Hilfsmittel bei der Entscheidung auslandsrechtlicher Fälle darstellen. Wie hoch die Anforderungen an ein Sachverständigengutachten zum ausländischen Recht sind, lehrt ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18 Vgl. hierzu die Aufstellung bei Otto, I P R a x 1995, 299 (302) 19 Aktuelle Listen mit den f ü r ausländisches Recht zur Verfügung stehenden Sachverständigen werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht, vgl. beispielsweise die Übersicht in DNotZ 1994, 88. 20 Heldnch, Festschrift f ü r Murad Ferid (1978) S. 213.

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21.01.199121. Zu entscheiden war die Frage, ob bei der Zwangsversteigerung eines venezolanischen Schiffes in Bremen Schiffsgläubigerrechte vorrangig zu befriedigen waren, die nach venezolanischem Recht bestellt worden waren. Das Oberlandesgericht hatte sich über die Bestellung und den Rang von Schiffspfandrechten nach venezolanischem Recht (sog. prendas navales) durch ein Rechtsgutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg Kenntnis verschafft. Der Gutachter hatte seine Ausführungen in der mündlichen Verhandlung persönlich erläutert. Dabei hatte er törichterweise angegeben, erstmals einen Fall aus dem venezolanischen Recht begutachtet zu haben und über keinerlei spezielle Kenntnisse dieses Rechts und vor allem der dort bestehenden Rechtspraxis zu verfügen. Letztlich habe er sich auf die Auswertung der ihm zugänglichen Literatur und die Auslegung der einschlägigen Gesetze beschränkt. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs reichte dies für die Ermittlung des ausländischen Rechts nicht aus. Der Gutachter dürfe sich nämlich nicht auf die Auslegung ausländischer Normen beschränken; er sei vielmehr gehalten, das Recht als Ganzes zu ermitteln, wie es sich in Rechtsprechung und Rechtslehre entwikelt hat und in der Praxis Anwendung findet. Nach dem von einer Partei vorgelegten Privatgutachten einer Professorin von der Zentraluniversität in Caracas bestand aber selbst in der Rechtslehre und Rechtspraxis in Venezuela große Unsicherheit darüber, ob diese prendas navales internationale Anerkennung fänden und wie sie zu handhaben seien. Bei sachgerechter Ausübung des dem Tatrichter eingeräumten Ermessens bei der Ermittlung ausländischen Rechts hätte das Oberlandesgericht daher nicht nur ein Obergutachten einholen müssen, sondern auch die im Termin erschienene venezolanische Professorin vernehmen müssen. Das Berufungsurteil wurde deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Die Entscheidung hat im Schrifttum ein gewisses Aufsehen erregt und in Kreisen der Sachverständigen auf dem Gebiet des ausländischen Rechts Unruhe hervorgerufen. 22 Ihre Begründung befremdet zunächst einmal deshalb, weil sie dem Gutachter vorhält, er habe sich letztlich auf die Auswertung der ihm zugänglichen Literatur und die Auslegung der einschlägigen Gesetze beschränkt. Gerade dies ist aber seine wichtigste Aufgabe. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 21 Veröffentlicht in NJW 1991, 1418 ff. 22 Zur Kritik vgl. Sommerlad RIW 1991, 856; Kronke IPRax 1992, 303; Samtleben NJW 1992, 3057.

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kommt es zwar bei der Ermittlung ausländischen Rechts auf den wirklichen Rechtszustand an, der unter Heranziehung von Rechtslehre und Rechtsprechung festzustellen ist.23 Was bedeutet dies aber anderes als die sorgfältige Auswertung aller publizierten Quellen der betreffenden Rechtsordnung? Ein Mangel des Gutachtens besteht auch nicht bereits darin, daß der Verfasser zum ersten Mal einen Fall aus diesem Recht bearbeitet hat. Gerade bei „exotischen Rechtsordnungen" wird dies häufiger vorkommen. Entscheidend für die Qualität eines Gutachtens ist neben den erforderlichen Sprachkenntnissen vor allem ein solides Schlüsselwissen über die Grundstrukturen und die Grundbegriffe des Rechtskreises, zu welchem das in der Sache maßgebende fremde Recht gehört. Zwar wird ein deutscher Gutachter das venezolanische Recht niemals mit der gleichen Perfektion darstellen und anwenden können wie ein guter Jurist, der seine Ausbildung an der Zentraluniversität in Caracas absolviert hat. Trotzdem scheint mir die in dem Urteil des Bundesgerichtshofs geäußerte Präferenz für einen Gutachter aus dem betreffenden Land selbst höchst problematisch. Sie erinnert fatal an die berühmtberüchtigte englische Entscheidung Bristow v. Sequeville aus dem Jahre 185024· Dort wurde dem Rechtsberater des preußischen Konsuls in London (einem Sachsen, der in Leipzig studiert hatte) die Kompetenz abgesprochen, die Geltung des Code Civil in Köln zu bestätigen: „If a man who has studied law in Saxony, and has never practised in Prussia, is a competent witness, why may not a Frenchman, who has studied the books relating to Chinese law, prove what the law of China is".25 In der Sache ging es vor dem BGH um die Frage, ob das venezolanische Recht bereits vor dem heute geltenden Schiffshypothekengesetz von 1983 die Existenz besitzloser Schiffspfandrechte mit dinglicher Wirkung anerkannte und insbesondere mehrere Pfandrechte an einem Schiff zuließ. Von den Prozeßparteien waren hierzu bereits in der ersten Instanz vor dem Landgericht Bremen vier umfangreiche Gutachten venezolanischer Seerechtsexperten vorgelegt worden. Dabei gelangten die für die Kläger und die für die Beklagten erstellten Gutachten — wie kaum anders zu erwarten — zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Erst 23 BGH IPRspr 1974 Nr. 4; N J W 1988, 648; RIW 1990, 581 f; N J W 1991, 1418 (1419); N J W 1992, 3106 (3107); I P R a x 1994, 40 (42); einschränkend Däubler I P R a x 1992, 82 (83); Samtleben N J W 1992, 3057 (3060). 24 5 Exch 275. 25 AaO S.276 f, zitiert nach Cheshire/North, Private International Law, 12. Aufl. 1992 S.110.

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in dieser verfahrenen Situation sah sich das Landgericht Bremen veranlaßt, ein Gutachten des Max-Planck Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg einzuholen.26 Der Vorgang zeigt, daß die in Deutschland geübte Beauftragung rechtsvergleichender Institute mit der Erstattung von Gerichtsgutachten wenigstens einen unschätzbaren Vorteil hat: die Unparteilichkeit. Aus meiner eigenen, nunmehr jahrzehntelangen Erfahrung kann ich sagen, daß Voreingenommenheiten zugunsten der einen oder der anderen Partei dabei so gut wie keine Rolle spielen. Allenfalls das Mitgefühl mit dem wirtschaftlich Schwächeren mag gelegentlich in die Begutachtung einfließen, wie es auch bei der richterlichen Urteilsfindung immer wieder geschieht. Dagegen besteht bei der Zuziehung von Sachverständigen aus dem betrefffenden fremden Land stets die Gefahr, daß der dort herrschende Rechtszustand in einer den Interessen einer Partei dienlichen Weise einseitig oder gar verzerrt dargestellt wird. Aus der Sicht eines deutschen Richters sind aber derartige Interessenverflechtungen zwischen Sachverständigen und Partei kaum zu erkennen. Auch aus diesem Grund fährt er vermutlich besser, wenn er sich an die bewährte Devise hält: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich". Allerdings lehrt das Beispiel des angloamerikanischen Rechts, daß eine Ermittlung des ausländischen Rechtszustandes durch Zuziehung von Experten aus dem betreffenden Staat selbst keineswegs unmöglich ist. Im Gegensatz zum deutschen Recht wird aber nach den dort geltenden Verfahrensregeln das ausländische Recht als Tatsache behandelt, die dem Zeugenbeweis zugänglich ist.27 Der sog. expert witness wird wie ein gewöhnlicher Zeuge behandelt, muß sich also den Fragen der Parteivertreter stellen und das beliebte Kreuzverhör über sich ergehen lassen.28 Gerade bei konträren Zeugenaussagen zum ausländischen Rechtszustand mag so im Laufe der mündlichen Verhandlung bei kritischer Abwägung die wahre Rechtslage zum Vorschein kommen. Das Vorbild des angloamerikanischen Rechts strahlt übrigens anscheinend mehr und mehr auch auf das deutsche Verfahren aus. Die

26 Vgl. dazu Samtleben Ν J W 1992, 3057 (3058). 27 Zum englischen Recht vgl. Cheshire/North aaO S. 107 f ; Dicey & Moms, T h e Conflict of Laws, Bd. I ,12. Aufl. 1993, S. 226 ff; zum amerikanischen Recht vgl. Scoles/Hay, Conflict of Laws (2. Aufl.1992) S.418 ff; Reese/Rosenberg, Conflict of Laws, 8. Aufl. 1984, S.399 ff. 28 Scoles/Hay aaO S. 419; Reese/Rosenberg aaO S. 418.

Probleme bei der Ermittlung ausländischen Rechts in der gerichtlichen Praxis

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Zivilprozeßordnung ermöglicht die Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung, um dort sein Rechtsgutachten zu erläutern und Fragen des Gerichts und der Parteien zu beantworten. Die Neigung der Parteien, auf der Ladung des Sachverständigen zu bestehen, ist offenbar in den letzten Jahren gewachsen?9 Auch diese Aussicht nötigt den Sachverständigen zu einer betont nüchternen und ausführlich dokumentierten Analyse. Die Gefahr, in forensischen Auseinandersetzungen eine schlechte Figur zu machen, mag sogar Rückwirkungen auf die Bereitschaft zur Erstattung von Gutachten in vermögensrechtlichen Streitigkeiten haben. Der finanzielle Anreiz, welchen der Tarif nach dem Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen 0 dem Gutachter bietet, ist jedenfalls nicht geeignet, dieses Unbehagen zu kompensieren?1 Vergegenwärtigt man sich noch einmal die strengen Anforderungen, die der BGH in der oben erwähnten Entscheidung vom 21.01.199f2 aufgestellt hat, dann verwundert es kaum, daß deutsche Gerichte immer öfter die ganze Bundesrepublik nach einem geeigneten Gutachter absuchen müssen und zu manchen Rechtsordnungen fast nur abschlägige Antworten erhalten?3 Hier sind die Sachverständigen aufgerufen, sich ihrer Verantwortung für eine funktionstüchtige Gerichtsbarkeit bewußt zu sein und verfügbare Kapazitäten an Zeit und Fachwissen auszuschöpfen. Dessen ungeachtet sollten aber die höchstrichterlich gesetzten Maßstäbe an die Qualifikation der Gutachter auf ein vernünftiges Maß

29 Vgl. auch BGH NJW 1975, 2142 f.; NJW 1991, 1418 (1419); NJW 1994, 2959 f. (Ladungspflicht bei entsprechendem Antrag einer Partei); kritisch zur Rechtsprechung des BGH jetzt Otto, IPRax 1995, 299 (304 f). 30 BGBl 1969 I 1756, zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. 06.1994, BGBl 1994 I 1325. 31 Zu den Entschädigungssätzen im einzelnen § 3 ZSEG. 32 NJW 1992, 1418 ff. 33 Läßt sich der Inhalt des anwendbaren Rechts trotz Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nicht feststellen, so ist in erster Linie eine größtmögliche Annäherung an den unbekannten tatsächlichen Rechtszustand zu suchen, Heldrich, Festschrift für Murad Ferid (1978) 216, insbesondere auf Regelungen verwandter Rechtsordnungen und zuletzt die des deutschen Rechts zurückzugreifen. Aus der Rechtsprechung, welche grundsätzlich deutsches Recht heranzieht, vgl. BGHZ 69, 387 (394) (jedenfalls bei starkem Inlandsbezug) sowie BGH NJW 1982, 1215 f. (Anwendung der nächstverwandten Rechtsordnung bzw. des wahrscheinlich geltenden Rechts, wenn die Anwendung deutschen Rechts „äußerst unbefriedigend" ist). Vgl. zum Streitstand die Nachweise bei Palandt-Heldrich" Einleitung vor Art. 3 EGBGB Rn. 36.

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zurückgeführt werden, um bei Sachverhalten mit Auslandsberührung nicht die Gefahr der Justizverweigerung 34 heraufzubeschwören.

34 Da der Richter nicht vorschnell von der Nichtermittelbarkeit des ausländischen Rechts ausgehen darf, kann die Korrespondenz mit den verschiedenen potentiellen Sachverständigen das Verfahren ganz erheblich verzögern, zumal in der Regel die Akten zunächst mitversandt werden.

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung Eine zusammenfassende Betrachtung von

Prof. Dr. Nikolaos K . Klamaris

Athen

ord. Professor für Zivilprozeßrecht an der Universität Athen, Stellv. Direktor des Instituts für Prozeßrechtliche Studien in Athen Rechtsanwalt beim Areopag.

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Inhaltsverzeichnis

I.

Die aktuelle Rolle und Bedeutung der prozessualen Grundrechte im vereinten Europa II. Die Grundzüge des griechischen (Einzel-) Zwangsvollstreckungsrechts 1. Die Rechtsquellen des Zwangsvollstreckungsrechts 2 . Die tragenden Richtlinien und die allgemeinen Grundsätze des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts 3 . Organe der Zwangsvollstreckung 4 . Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung 5 . Vollstreckungsklausel 6 . Zustellung und freiwillige Erfüllung seitens des Schuldners (bzw. freiwillige Beendigung der Zwangsvollstreckung durch den Schuldner) 7 . Gegenstand der Zwangsvollstreckung 8 . Arten der Zwangsvollstreckung 8.1 Zwangsvollstreckung wegen Geldforderung 8. 2 Die unmittelbaren Vollstreckungsarten 8.3 Zwangsvollstreckung auf Vornahme einer Handlung oder auf Unterlassung (bzw. Duldung) oder auf Abgabe einer Willenserklärung 9 . Rechtsbehelfe im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens 10. Vollstreckung ausländischer Titel

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

I. Die aktuelle Rolle und Bedeutung der Grundrechte im vereinten

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prozessualen

Europa

1. Der Untergang des kommunistischen politischen-gesellschaftlichen Systems wie es bis vor kurzem in dem Ost-Europäischen Ländern praktiziert wurde hat die Rolle der Europäischen Union als der einzigen übernationalen stabilen und zukunftssicheren politischen Macht in Europa noch mehr verstärkt und hervorgehoben. Den Alleinweg kann an sich kein europäischer Staat mehr ( ? ) leisten. Dies gilt natürlich nicht nur für die Staaten, welche noch keine Mitglieder der Europäischen Union sind, sondern auch für die Staaten, welche bereits Mitglieder der Europäischen Union sind. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellt aber keine inhaltsleere Teilnahme an einer Organisation dar; vielmehr geht es einerseits um ein institutionelles und andererseits um ein tägliches abgestimmtes und konzertiertes Tätigwerden und Verhalten der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Darüber hinaus ist * In Zusammenarbeit mit Herrn Assistent-Professor an der Universität Athen Dr. iur. Georg Orfanidis, der Mitverfasser des gemeinsamen Autsatzes „Die Zwangsvollstreckung der gerichtlichen Entscheidungen und die Vollstreckungsmittel der Gerichte nach dem griechischen Zivilprozessrecht" [Revue Hellenique de Droit international, 38/39 (1985-1986), S. 335-358] ist, auf dem der zweite Teil (unter II) dieses Beitrags zum Teil basiert und Herrn Dr. iur. Dimitrios Tsikrikas (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Prozessrechtliche Studien, Athen), der den Paragraph 10 des zweiten Teils (unter II) dieses Beitrags bearbeitet hat. Der erste Teil des vorliegenden Beitrags beruht im wesentlichen auf den Festvortrag des Verfassers im Rahmen des von der Alexander von Humboldt-Stiftung veranstaltenen Kolloquiums in Metsovo/Griechenland (19-21. Mai 1995). Der zweite Teil dieses Beitrags hat als Vorlage für die Formulierung des rechts vergleichenden Teils über Giechenland im Werk (Lehrbuch) «Baur - Stürner, Zwangsvollstrekkungs- Konkurs- und Vergleichsrecht.» (im Druck) gedient. * * Der Beitrag wird mit Ehre und Freude an Herrn Kollegen und Freund Professor Hideo Nakamura gewidmet. Professor Hideo Nakamura — fortsetzend seine glänzende wissenschaftliche familiäre Tradition — hat mit seinen wissenschaftlichen Beiträgen die Prozessrechtswissenschaft im internationalen Ebene fruchtbar befördert. Vor wenigen Tagen ist ihm die Ehrendoktor würde seitens der Juristischen Fakultät der Universität Athen verliehen worden. Ich hoffe, daß unsere fruchtbare Zusammenarbeit, welche im Würzburger Kongreß (1983) angefangen hat und in der Folgezeit mit seinem Vortrag im Institut für Prozeßrechtliche Studien fortgesetzt wurde, weiter entwickelt wird (zum Zwecke eines engeren Kontakts zwischen dem japanischen und dem griechischen Zivilprozeßrecht).

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dieses Postulat für ein abgestimmtes und konzertiertes Tätigwerden und Verhalten auch für die Staaten von Bedeutung, welche zwar noch nicht Mitglieder der Europäischen Union sind, aber doch Mitglieder werden wollen, weil es einen Teil der kritischen Kriterien und der Voraussetzungen durchleuchtet, welche einerseits vorhanden sein müssen, damit ein Staat Mitglied der Europäischen Union werden kann, und andererseits von den bereits Mitgliedern respektiert werden müssen. 2. In bezug auf die Rechtsdurchsetzung kommt das Postulat zu einem abgestimmten und konzertierten Tätigwerden und Verhalten dadurch zum Ausdruck, daß der Europäische Gerichtshof vorwiegend durch das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 177 des Vertrags Uber die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein sehr starkes und aktives Mittel in der Hand hat, um eine einheitliche Rechtsprechung unmittelbar oder auch mittelbar zu erzwingen und herbeizuführen. Die Möglichkeit und der Trend nach einer einheitlichen Rechtsprechung wurde weiter erweitert, als durch das Protokoll v. 3. 6· 71 betreffs die Auslegung des Übereinkommens der Europäischen Gemeinschaft über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vorgesehen wurde, daß der Gerichtshof der Europäischen Union durch die Vorlage seitens eines Nationalgerichts einer Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung über die Auslegung des obigen Ubereinkommens und Protokolls entscheidet. 3. Allerdings in bezug auf die Einführung des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung und auf die mittelbare oder auch unmittelbare Einführung von vereinzelten prozessualen Grundrechten hat in den verschiedenen Europäischen Staaten, welche auf eine freiheitliche Ordnung basierten, ein gemeinsamer Weg schon vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaft angefangen. Die bitteren Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, aus dem Nationalsozialismus, aus dem kommunistischen Unrechtsstaat, sowie aus den Diktaturen sozusagen «westlicher Prägung» haben die Notwendigkeit für die Untermauerung eines Rechtsstaats noch akuter und aktueller gemacht. Das Recht auf Justizgewährung gehört zu den Grundsteinen eines Rechtsstaats. Daher anerkennen die meisten neueren Verfassungen dieses Recht unmittelbar oder mittelbar. Als meist angewandtes Vorbild für die grundrechtliche Einführung kann das Bonner Grundgesetz betrachtet werden, obwohl viele noch jüngeren Verfassungen einen Eigenweg folgten und noch konkretere Vorschriften in bezug auf das Recht auf Justizgewährung beinhalten. Die aktuelle weltweite Bedeutung und Hervorhebung des Rechts auf Justiz-

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

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gewährung ist einerseits auf die Menschenrechtskonvention zurückzuführen, welche dieses Recht als ein Menschenrecht anerkannt hat, und andererseits auf die Kommission und den Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, welche mit ihrer Praxis und Rechtsprechung den Wesensinhalt dieses Rechts ausgearbeitet, durchleuchtet und teleologisch erweitert haben. In dieser Hinsicht beanspruchen eine besondere Beachtung die Hinweise von P. Häberle, die Grundrechte kulturwissenschaftlich zu verstehen. d. h. die Menschenwürde als kulturanthropologische Basis des Verfassungsstaates zu betrachten, aus der die Grundrechte als Menschen- bzw. Bürgerrechte folgen. Und Häberle führt wie folgt aus: «Das kulturwissenschaftliche Grundrechtsverständnis erlaubt auch die Verbindung des universalistischen Anspruchs mit den nationalen Besonderheiten: Der Mensch hat Würde von Natur aus Element heutiger Weltkultur, aber die nationalen Verfassungsstaaten können ihre Grundrechtsgemeinschaft partikular ausgestalten, national eingefärbte Grundrechtskataloge schaffen und vielleicht sogar die (rezipierten) »Menschenrechte« der internationalen und regionalen Erklärungen und Pakte auf ihre eigene Weise auslegen — im Sinne eines begrenzt variable »marge d' appreciation«. Umgekehrt kann der intermationale Menschenrechtsstandard von den nationalen Besonderheiten her Impulse erfahren». 1 4. Das Recht auf Justizgewährung (Justizgewährungsanspruch) wird in vielen europäischen Verfassungen direkt oder indirekt vorgesehen.2 Das Bonner Grundgesetz ist diejenige Verfassung, welche am meisten die Verfassungen vieler anderer Staaten beeinflußt hat, einen Justizgewährungsanspruch zu garantieren. Allerdings auf Grund der heutigen Betrachtung gibt es, wie gesagt, nachträgliche Verfassungen, welche diesen Justizgewährungsanspruch, wenigstens nach dem formellen Wortlaut der entsprechenden Verfassungsvorschrift, vollständiger und deutlicher garantieren (wenigstens in dem Sinne, daß viele Rechtsfragen in bezug auf Umfang und Tragweite des Justizgewährugsanspruchs erspart bleiben), im Vergleich zum Vorbild (d. h. dem Bonner Grundgesetz). Hiermit ist gemeint, daß, wie bekannt, das Bonner Grundgesetz mit Art. 19 § 4 wörtlich und ausdrüclich einen Justizgewährungsanspruch nur gegenüber Akten der öffentlichen Gewalt vorsieht. Nach der seit Jahrzehn1 P. Häberle, Europäische Rechtskultur, Baden Baden, s. 299 und 3012 Siehe vor allem: Κ. H. Schwab-P. Gottwald, Verfassung und Zivilprozeß, in W. Habscheid (Hrsg.) Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung, Bielefeld, 1983, s. 1 ff.

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ten herrschenden Meinung in Deutschland kann «auch eine extensive Auslegung nicht dazu führen. Abs. 4 als allgemeine Rechtsschutzgarantie auch für privatrechtliche Streitigkeiten anzusehen», da «einer solchen Ausdehnung die Entstehungsgeschichte wie der Wortlaut entgegen stehen : dieser faßt die Gewährleistung von Rechtsschutz und Rechtsweg gerade nicht allgemein, sondern garantiert die Anrufung der Gerichte ausdrücklich nur gegenüber Akten der öffentlichen Gewalt».3 Bettermann insbesondere hat in dieser Hinsicht verneint, daß durch Art. 19 Abs. 4 GG in jeder Rechtssache den Beteiligten der Weg zum Richter offenstehe und jeder Rechtssatz seinen Richter finden muß, der ihn pflegt. 4 Allerdings hat diese enge Formulierung der obigen Verfassungsvorschrift die deutsche Theorie und Rechtsprechung nicht verhindert, eine allgemeine Rechtsschutzgarantie und einen allgemeinen Justizgewährungsanspruch aus dem Rechtsstaatsprinzip alzuleiten und zugleich den engeren Justizgewährungsnaspruch des Art. 19 Abs. 4 GG als dessen spezielle Ausprägung zu betrachten. Einen besonderen Verdienst der deutschen Lehre und Rechtsprechung, insbesondere des BVerfG, bildet auch die in dieser Hinsicht dogmatische Fundierung und Ausarbeitung der sog. «verfahrensichernden Wirkung». Der Sinn der «verfahrensichernden Wirkung» ist, daß es sich aus den materiellen Grundrechten unmittelbare Ansprüche auf gerichtlichen Rechtsschutz ergeben: «Die Gewähr des Rechtsschutzes gehört deshalb zur Verbürgung der materiellen Grundrechte in der sozialen Wirklichkeit, weil Organisation und Verfahren sich unter den Bedingungen der Gegenwart oft als möglicherweise sogar einziges Mittel zur wirksamen Sicherung der Grundrechte erweisen. Die zunächst an der Eigentumsgarantie des Art. 14. Abs. 1 entwickelte Grundrechtsinterpretation läßt sich auf andere Grundrechte ausdehnen (vgl. BVerfGE 53, 30, 69 ff· Sondervotum Simon/Heußner), so daß von einer den materiellen Grundrechten immanenten Gewährleistung des Rechts auf gerichtlichen Privatrechtsschutz gesprochen werden kann. Soweit der Privatrechtsverkehr grundrechtlich fundiert ist, besteht damit ein Grundrecht auf Rechtsschutz oder Zugang zum Gericht»5. Viele neuere europäische Verfassungen beinhalten konkrete Vorschriften über das Recht auf Justizgewährung. So nach Art. 24 § 1 der spanischen Verfassung v. 1978 : «Jedermann hat bei der Ausübung seiner 3 R. Wassermann, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 2 (Reihe Alternativkommentare), 1989, Art. 4, Rn. 18 (4. 1.). 4 Zitiert bei R. Wassermann, a. a. ο. 5 R. Wassermann, a. a. o., R. n. 20.

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

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Rechte und berechtigten Interessen Anspruch auf den effektiven Schutz durch die Gerichte, und es darf in keinem Falle zu Verteidigungslosigkeit kommen» (deutsche Übersetzung nach F. Ramos Mendez, Nationalbericht Würzburg, 1983) • Ähnliche Vorschrift enthält auch die italienische Verfassung (Art. 24 § 1 und 2) : «Tutti possono agire in giudizio per la tutela bei propri diritti e interessi legitimi. La difesa e diritto inviolabile in ogni stato e grado del procedimento». Die Verfassung von Zypern sieht dasselbe vor ; und zwar zunächst im Sinne einer negativ formulierten Vorschrift nach der «Niemandem der Zugang zu dem von der Verfassung vorgesehen Gericht verboten werden kann» (Art. 30 § 1) • Darüber hinaus nach Art. 30 § 2 jedermann hat das Recht in Zivil- und Strafangelegenheiten des Zugangs zu einem gesetzlich vorgesehenen, unabhängigen und unbefangenen Gericht, das darüber nach einer öffentlichn mündlichen Verhandlung und innerhalb von angemessenen Zeit entscheiden wird. Schließlich auch nach Art. 20 der griechischen Verfassung {1975) hat jedermann das Recht auf Gewährung von Rechtsschutz durch die Gerichte sowie das Recht, vor Gericht seine Rechte und Interessen nach Maßgabe der Gesetze geltend zu machen. Aber auch in den meisten Staaten in denen eine solche ausdrückliche konkrete Verfassungsvorschrift nicht zu finden ist, wie ζ. B. in Belgien, oder in Frankreich, oder in England [wo eine Verfassung, wie sie in den kontinentaleuropäischen Staaten erfaßt wird, nicht gibt] trotzdem ein solches subjektives Recht auf Justizgewährung als etwas selbstverständliches im Rahmen eines Rechtsstaates betrachtet wird, das auf keinen Fall abgeschnitten werden darf. In dieser Hinsicht muß natürlich die hervorragende Rolle der Menschenrechtskonvention und anderen ännlichen internationalen Verträgen bzw. Abkommen hervorgehoben werden, welche die Rechtsgrundlage, und sogar auf Grund eines internationalen Vertrags, dem immer eine hierarchisch höhere Rolle zugesprochen wird, bilden. Vielfach wird allerdings die Meinung vertreten, daß sich der Anspruch auf Justizgewährung aus den allgemeinen Menschenrechten heute ergibt. 6 Art. 6 § 1 EMRK ( = Europäische Menschenrechtskonvention), Art. 14 § 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte der UN von 1966 und Art. 8 § 1 der amerikanischen Konvention von Menschenrechten gewährleisten nicht nur Rechte in einem anhängigen Verfahren, sondern vielmehr gewähren ein subjektives, prozessualer Natur, Menschenrecht auf 6 S . : P. Gottwald, D i e S t e l l u n g d e s A u s l ä n d e r s i m P r o z e s s , in G r u n d f r a g e n Z i v i l p r o z e s s r e c h t s , 1991, s. 3 f f . (9).

des

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Zugang zu den Gerichten. Ebenfalls Art. 10 der Allgemeinen UN-Erklärung der Menschenrechte von 1948 sieht einen Anspruch auf ein der Billigkeit entsprechendes Verfahren vor Gericht vor. 5. Die durch die verschiedenen Verfassungen Einführung des prozessualen Grundrechts auf Gerichtsschutz bedeutet zwar nicht, daß alle einzelnen prozessualen Rechte und Möglichkeiten den Charakter subjektiver Verfassungsrechte erhalten. Dennoch darf man m. E. nicht übersehen, daß das Recht auf Justizgewährung in einer Verfassung vorgesehen ist, um einen wirklichen, wirksamen und vollständigen materiellen Rechtsschutz und nicht nur eine lediglich formelle Justizgewährung und ein lediglich formelles gerichtliches Verfahren zu gewährleisten. Bei der Ermittlung des Inhalts der einen Justizgewährungsanspruch garantierenden Verfassungsvorschriften sind daher alle funktionellen und strukturellen Elemente einer vollständigen, wirklichen Justizgewährung mit zu berücksichtigen. Daher wäre es verkehrt, die entsprechenden Verfassungsvorschriften dahin auszulegen, daß sie nur ein «Minimum», nicht aber auch etwas «Mehr» oder ein «Maximum» an Justizgewährung garantieren. Eine ähnliche Überlegung gilt auch für die übliche in Verfassungsvorschriften Vorbehaltsklausel, nach der das Recht auf Justizgewährung nur nach Maßgabe der Gesetze besteht. Dieser Vorbehalt bedeutet zweierlei: Die Bestimmung der Einzelvoraussetzungen ( = Prozeßvoraussetzungen) für die Ausübung des Rechts auf Justizgewährung fällt in die Zuständigkeit des einfachen Gesetzgebers. Dieser kann und darf die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Gerichtsschutz bestimmen. Hervorzuheben ist jedoch, daß die Ausfüllung des verfassungsrechtlichen Vorbehalts «nach Maßgabe der Gesetze» die Ausübung des Rechts auf Justizgewährung nicht derart erschweren darf, daß dies praktisch einer Aufhebung des Rechts gleichkäme. Bei der Regelung der Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Rechtsschutz hat daher der einfache Gesetzgeber die Zielsetzung dieses Rechts sowie die Funktion der Justiz und der Gerichte zu beachten. Nur Voraussetzungen, die sich teleologisch in dem breiten Rahmen vom Prozeßzweck, Justizgewährung und Funktion der Rechtsprechung im Staate einordnen lassen, sind wirklich verfassungsmäßig. Im Gegenteil werden die aus dieser Hinsicht zweckfremde Prozeßvoraussetzungen als verfassungswidrig betrachtet. Eine solche Auslegung entspricht der ständigen Rechtsprechung vieler Gerichte. Im einzelnen hat ζ. B. die griechische Rechtsprechung folgende Regelungen als verfassungsmäßig angesehen: den Anwaltszwang, mit der Begründung, er diene dem Interesse der Parteien und garantiere

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deren erfolgreichen Zugang zum Gericht; die gesetzlich festgesetzten Notfristen; die Pflicht zur Vorauszahlung der Prozeßkosten; die Formanforderungen für die Einreichung einer Klageschrift als Anforderungen an die wirksame Vornahme einer Prozeßhandlung und die Möglichkeit der Prozeßtrennung nach Ermessen des Gerichts. Umgekehrt hat die Rechtsprechung diejenigen im einfachen Gesetzesrecht vorgesehene Rechtsschutzvoraussetzungen als verfassungswidrig angesehen, die nicht der Verwirklichung von Rechtsprechungszielen, der Funktion der Gerichte und der Justizgewährung dienen, sondern ζ. B. steuerrechtliche Wirkungen erzielen wollen. Eine solche Regelung widerspricht Sinn und Zweck der Justizgewährung. Demgemäß sollte es verfassungswidrig sein, daß die Zahlung eines Teils der in einem Steuerbescheid festgesetzten Summe als Prozeßvoraussetzung für den Einspruch gegen diesen Steuerbescheid geregelt wird. 6. Betreffs die Beziehung zwischen den einfachen Prozeßgesetzen und Verfassungsvorschriften sowie Vorschriften des Völkerrechts und des Europäisches Gemeinschaftsrechts hat E. Schumann7 folgende Thesen bzw. Auslegungsregel vorgeschlagen: Erstens, die Auslegung der zivilprozessrechtlichen Gesetze darf nicht höherrangige Normen verletzen, wie ζ. B. die Verfassungsnormen, völkerrechtliche Normen und, für Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Normen des Europäischen Gemeinschaftsrechts. Zweitens, die Auslegung von zivilprozessrechtlichen Gesetzen muß verfassungskonform sein. Der Richter hat zwischen mehreren möglichen Lösungen diejenige vorzuziehen, die der Verfassung näher steht und ihr am besten entspricht. Drittens, die zivilprozessrechtlichen Normen müssen völkerrechtsfreundlich ausgelegt werden, d. h. auf eine Weise, die den Normen des Völkerrechts entsprechen. Der Richter muß von verschiedenen möglichen Ergebnissen jenes auswählen, das mit dem Völkerrecht im Einklang steht. Viertens, die zivilprozessrechtlichen Normen im Rahmen der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft müssen gemeinschaftsfreundlich ausgelegt werden, also entsprechend den Normen des Gemeinschaftsrechts. Das bedeutet einerseits, daß eine Auslegung von zivilprozessrechtlichen Normen gegen das Gemeinschaftsrecht vermieden werden soll und andererseits, daß es zwischen einer gemeinschaftsfreundlichen 7 E. Schumann, in Stein-Jonas, ZPO20, Einl. I E. Rn. 64 ff, s. 57 ff.

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und einer gemeinschaftsfeindlichen Auslegung die gemeinschaftsfreundliche Auslegung vorzuziehen ist. Auf dem Gebiet der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft wird das Prinzip der völkerrechtsfreundlichen Auslegung von dem der gemeinschaftsfreundlichen Auslegung Uberlagert. Diese Thesen hat Ekkehard Schumann zwar im Hinblick auf das deutsche geltende positive Recht vertreten. Dennoch beanspruchen sie eine allgemeinere Geltung und können im Grunde genommen als Grundlage für die Auslegung der einschlägigen Normen jedes Staates (bzw. Mitglied-Staaten der Europäisclen Union) dienen. 7. Das prozessuale Grundrecht auf Rechtsschutz steht jeder natürlichen und juristischen Person des privaten wie des öffentlichen Rechts zu. Rechtsträger sind nicht nur Inländer, sondern auch ausländische natürliche oder juristische Personen. 8 Das Grundrecht auf Gerichtsschutz darf nicht anhand von quantitativen oder qualitativen Kriterien beschränkt oder aufgehoben werden. Daher hat ζ. B. der griechische Staatsrat (das Oberste Verwaltungsgericht) zutreffend entschieden, daß Art. 10 Abs. 4 des Gesetzes 1386/1983 verfassungswidrig ist; diese Vorschrift sieht vor, daß das Recht zur Anrufung der ordentlichen Verwaltungsgerichte nur den Aktionären einer Aktiengesellschaft zusteht, die Inhaber von wenigstens einem Drittel des Grundkapitals der Aktiengesellschaft sind, mit der Folge, daß Aktionäre, die einen geringeren Anteil des Grundkapitals vertreten, die Verwaltungsgerichte nicht anrufen könnten. 8. Zur weiteren Konkretisierung kann man das prozessuale Grundrecht auf Justizgewährung und auf Zugang zum Gericht vertikal (quantitativ) und horizontal (qualitativ) unterteilen. Diese Konkretisierung dient der teleologischen Erfassung von Inhalt, Umfang, Funktion und Wirkung des Grundrechts. Aus der vertikalen (quantitativen) Konkretisierung läßt sich ableiten, daß das allgemeine Grundrecht auf Gerichtsschutz folgende Teilgrundrechte beinhaltet: das Recht auf Erlaß eines Urteils in der Hauptsache, das Recht auf Anordnung von Sicherungsmaßnahmen und das Recht auf Zwangsvollstreckung. Dagegen bedeutet die horizontale (qualitative) Konkretisierung, daß der Gerichtsschutz vollständig, wirksam, kontrollierbar, überzeugend und schnell sein muß. Für die nähere Inhaltsbestimmung und den Umfang der Konkretisierung des Rechts auf Justizgewährung ist dabei auch folgendes zu berücksichtigen: Nach 8 N. Klamaris, Die Stellung des Ausländers im Prozess, in Grundfragen des Zivilprozessrechts, 1991, s. 101 ff (156).

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

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manchen Verfassungsvorschriften sind (bzw. scheinen zu sein) Gegenstand des subjektiven prozessualen und zugleich verfassungsrechtlichen Rechts auf Rechtsschutz nicht nur die verletzten subjektiven materiellen Rechte, sondern auch bloße rechtliche Interessen des jeweiligen Rechtsinhabers (so ζ. B. die griechische Verfassung). 9. Nach Art. 20 der griechischen Verfassung v. 1975 hat jeder das Recht auf Justizgewährung und Anrufung der Gerichte zum Ziele einer Rechtsschutzgewährung. 9 Es ist heute in Griechenland herrschend die Meinung, daß auf Grund der gleich oben genannten Verfassungsvorschrift jeder natürlichen oder juristischen Person (Inländer oder Ausländer) ein prozessuales Grundrecht auf Justizgewähung und Anrufung der Gerichte zum Ziele einer Rechtsschutzgewährung zusteht und anerkannt wird. Das oben so formulierte prozessuale Grundrecht faßt die folgenden subjektiven Prozeß- und Verfassungsrechtlichen Teilrechte um : Erstens das Recht auf Erlaß seitens der rechtssprechenden Organe (Gerichte) einer Entscheidung in der Hauptsache (beim Vorliegen der vorgesehenen Zulässigkeitsvoraussetzungen) ; zweitens das Recht auf Erlaß seitens der Gerichte einer einstweiligen Verfügung (dies zum Zwecke einer raschen bzw. rechtzeitigen Justizgewährung, wenn dies auf Grund der tatsächlichen Umstände und Verhältnisse erforderlich ist) ; drittens das Recht auf Zwangsvollstreckung (d. h. auf Mitwirkung der im Gesetz vorgesehenen Zwangsvollstreckungsorgane zur Durchführung/Verwirklichung der Zwangsvollstreckung, da eine durch Selbsthilfe des Siegers/ Rechtsinhabers durchgesetzte Zwangsvollstreckung sowieso unzulässig ist). Der in dem obigen Sinne verfassungsrechtliche Charakter des Rechts jeder Person auf Zwangsvollstreckung beruht genau auf die Grundfunktion und Grundzielsetzung der Rechtsordnung und der Justizgewährung, welche in der wirklichen Rechtsdurchsetzung zu sehen ist: 9 Die verfassungsrechtlichen Aspekte stehen im Vordergrund der griechischen Prozessrechtswissenschaft. Siehe vor allem: G. Mitsopoulos, Zum Einfluss der neuen griechischen Verfassung auf die griechische Zivilprozessordnung, in Festschrift für Friedrich Wilhelm Bosch, 1976, s. 699 ff.; G. Mitsopoulos - K. Polyzogopoulos, Der Einfluss der Verfassung auf das Zivilprozessrecht, Revue hellenique de droit international (1982-1983), s. 219 ff.; K. D. Kerameus, Judicial independence in modern legal developments, in Revue hellenique de droit international, 1982-1983, s. 335 ff.; P. Yessiou-Faltsi, Les bases constitutionnelles de 1' organisation judiciaire en GrSce, in Revue hellenique de droit international, B. 32 (1979), s. 72 ff.: Ν. K. Klamaris, Das prozessuale Grundrecht auf Justizgewährung, in Festschrift für Karl Heinz Schwab, München, 1990, s. 269 ff.; derselbe, Constitutional Guarantees of Due Process in Greece, in The Role of courts in Society (Ed. Shimon Shetreet), 1988, s. 180 ff.

264

Nämlich die wirkliche Wiederherstellung des Rechtsfriedens, die Ersetzung des Schadens, die unmittelbare/direkte Durchsetzung des verletzten subjektiven Rechts und zugleich die mittelbare/yindirekte Durchsetzng der verletzten objektiven Rechtsordnung bzw. des verletzten objektiven Rechts. Ohne die Garantie zur — durch staatliche Organe und Zusicherung-Zwangsvollstreckung wäre das prozessuale Grundrecht auf Justizgewährung inhaltsleer und zwecklos. Die teleologische und funktionelle Betrachtungsweise der Rechtsordnung und der rechtssprechenden Institutionen führt zum Schluß, daß das Recht auf Zwangsvollstrekkung genau so gut garantiert ist, wie das Recht auf Erlaß einer Entscheidung. Das Recht auf Zwangsvollstreckung stellt wie gesagt condicio sine qua non des Inhalts und des Funktionierens des Rechts auf Justizgewährung dar. Erst mit der Garantie der Zwangsvollstreckung wird der Gerichtsschutz und die Justizgewährung vollständig. Würde man das Recht auf Zwangsvollstreckung nicht als Teil des von der Verfassung garantierten Rechts auf Rechtsschutz qualifizieren, so wäre der Schutz der subjektiven Rechte faktisch dem freien Belieben der Parteien überlassen. Wie die Erfahrung lehrt, hätte dies zur Folge, daß niemand seine Pflichten freiwillig erfüllen würde. Aus der verfassungrechtlichen Garantie der Zwangsvollstreckung folgt selbstverständlich nicht, daß diese schrankenlos betrieben werden darf. Gerade weil die Zwangsvollstreckung «die harte Seite» der Justizgewährung bildet, muß sie in einer Art und Weise betrieben werden, die die verfassungsrechtliche Ordnung und die von der Verfassung geschützten subjektiven Rechte usw. respektiert. Dies bedeutet vor allem, daß die Zwangsvollstreckung nicht die verfassungsmäßig geschützte Menschenwürde des Vollstreckungsgegners verletzen darf. Eine solche Verletzung bildet aber ζ. B. das Vollstreckungsmittel des persönlichen Arrests, der in manchen Ländern noch für Geldschulden zulässig ist (wie ζ. B. dies beschränkt in Griechenland für Geldschulden aus einer unerlaubten Handlung oder für Geldschulden zwischen Kaufleuten gilt). Die Frage der Verfassungswidrigkeit des persönlichen Arrests stellt sich noch schärfer, wenn die Vollstreckung aufgrund eines Vollstreckungsbescheids des Staates, d. h. ohne gerichtliche Entscheidung, gegen einen Schuldner des Staates, betrieben wird (wie ζ. B. auch in Griechenland der Fall ist). In diesen Fällen haben zwar die jeweiligen griechischen Regierungen ihren politischen Willen immer wieder zum Ausdruck gebracht, nunmehr den persönlichen Arrest durch Gesetzesänderung als Vollstreckungsmittel abzuschaffen und damit die Verfassungswidrigkeit

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insoweit zu beseitigen ; diesen Schritt (und die entsprechende Initiative) haben sie jedoch bis jetzt nicht gewagt. Darüber hinaus darf die Zwangsvollstreckung nur im Rahmen der Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes betrieben werden. Die Zwangsvollstreckung dient weder den einseitigen Interessen des Vollstreckungsgläubigers noch denen des Vollstreckungsschuldners. Infolgedessen muß die Zwangsvollstreckung ohne Härte, ohne Rechtsmißbrauch und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Menschenwürde betrieben werden. Freilich muß die Zwangsvollstreckung auch zur effektiven Befriedigung des Gläubigers führen. Daher darf das z.B. in Griechenland gesetzlich garantierte Bankgeheimnis nicht eine Zwangsvollstreckung aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung verhindern; dies wäre verfassungwidrig. Auch das im einfachen Gesetzesrecht vorgesehene Verbot der Zwangsvollstreckung gegen den Staat wegen Staatsschulden und der entsprechenden Pfändung von Staatsvermögen ist verfassungswidrig, weil das prozessuale Recht auf Gerichtsschutz und somit auch auf Zwangsvollstreckung von Verfassungswegen auch gegenüber dem Staat garantiert ist. Schließlich wird das Recht auf Zwangsvollstreckung nicht nur aufgrund eines inländischen Vollstreckungstitels gewährt, sondern auch aufgrund einer ausländischen Entscheidung.

II. Die Grundzüge des griechischen

(Einzel-)

I0

Zwangsvollstreckungsrechts.

1. Die Rechtsquellen des

Zwangsvollstreckungsrecbts.

Die Rechtsquellen (d.h. Gesetzquellen) des Zwangsvollstreckungsrechts sind ζ. T. ganz dieselben Quellen wie diejenigen des das Erkenntnisverfahren regelnden Zivilprozeßrechts, ζ. T. aber auch nicht Dieselben. Gemeinsam sind die Quellen zwischen dem die Einzelzwangsvoll10 Ausgewählte Literatur über das griechische Zwangsvollstreckungsrecht: K. Beys, Mathimata politikis dikonomias anagastiki ektelesis (Vorlesungen für Zivilprozessrecht-Zwangsvollstreckung), Athen, 2 Auflage, 1984. J. Brinias, Anagastiki ektelesis (Zwangsvollsterckung), Bd 1-5, 2 Aufl., Athen 1979-1982. Ch. Fragistas/ P. Yessiou-Faltsi, Dikaion anagastikis ekteleseos (Zwangsvollstreckungsrecht) Bd 1-2, Thessaloniki, 1986./. Karakatsanis, Kataschesis chrimatikis kataschesseos

266

Streckung regelnden Zwangsvollstreckungsrecht und dem das prozessuale Erkenntnisverfahren regelnden Zivilprozeßrecht, nämlich die griechische ZPO. Im Gegenteil sind die Rechtsquellen des Zwangsvollstrekkungsrechts in denjenigen Fällen verschieden, in denen die Zwangsvollstreckung als Gesamtvollstreckung wegen eines Konkurs gegen das Konkursvermögen erfolgt, oder wenn der Staat als Gläubiger sie betreibt. Im Falle der Zwangsvollstreckung im Rahmen eines Konkursverfahrens sind die eigentlichen Rechtsquellen für die im Rahmen des Konkurs erfolgende Zwangsvollstreckung im Handelsgesetzbuch zu finden, da das Konkursverfahren sowieso im Handelsgesetzbuch geregelt wird (es sei allerdings hier zu erwähnen, daß nach dem griechischen Konkursrecht nur die Kaufleute bzw. die Handelsgesellschaften konkursfähig sind). Die Rechtsquellen des Einzelzwangsvollstreckungsrechts bei vom Staat (bzw. von manchen speziell vorgesehenen Juristischen Personen des öffentlichen Rechts) betriebener Zwangsvollstrekkung (wegen Schulden dem Staat gegenüber) sind wieder in einem Spezialgesetz zu finden. Spezielle Rechtsvorschriften-in einem Spezialgesetzbeinhaltet-für die Einzelzwangsvollstreckung existieren auch in is chiras ellinikis trapezis os tritis (Die Pfändung von Bankguthaben in den Händen einer griechischen Bank als Drittschuldner), in : Themen des Zivilrechts, Athen 1978, 183 ff. N. Katiphoris, Dikastiki anastoli tis ektelesis (Die Einstellung der Zwangsvollstreckung durch gerichtlichen Beschluss), Athen-Komotini, 1994, Dissertation. K. D. Kerameus, Dikaion ekteleseos (Zwangsvollstreckungsrecht), Athen-Konotini, 1995 (im Druck). N. Klamaris, Der Rechtsmissbrauch im griechischen Zivilprozessrecht, FS für Fritz Baur, Tübingen, 1981, 483 ff. N. Klamaris / G. Orfanidis, Die Zwangsvollstreckung der gerichtlichen Entscheidungen und die Vollstreckungsmittel der Gerichte nach dem griechischen Zivilprozessrecht, Revue Hellenique de droit international 1985-1986, 335 ff. S. Koussoulis, I paremwasis tou danisti stin ektelestiki diki (Die Intervention des Gläubigers in einen im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens laufenden Prozess), Athen-Komotini, 1988.G.Rammos, Echeiridion astikou dikonomikou dikaiou (Lehrbuch des Zivolpozessrechts) Bde 1-4 (4 Band, Zwangsvollstreckung) Athen 1980/1982. G. Triantafyllakis, I prostates exeliksis sti nomologia se schesi me to trapesiko aporrito (Die neuere Entwicklung in der Rechtssprechung bezüglich des Bankgeheimnisses) , Elliniki Dikaiossini 1993, 1445. D. Tsikrikas, Efarmogi tou autonomou imedapou dikaiou i tou diethnous symwatikou dikaiou gia tin kiriksi ektelestis stin Ellada diatagis pliromis germanikou dikastiriou (Die Anwendung des autonomen griechischen oder des Rechts von internationalen Übereinkommen für die Vollstreckbarerklärung in Griechenland eines deutschen Vollstreckungsbescheids), Diki 1991, 263. P. Yessiou-Faltsi, I archi tis analogikotitas stin anagastiki ektelessi (Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz in der Zwangsvollstreckung), Elliniki Dikaiossini 1991,280.-P. Yessiou-Faltsi, Die Anerkennung und Vollstreckung deutscher Urteile in Griechenland, ZZP 96 (1983), 67 ff.

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

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bezug auf die Zwangsvollstreckung im Bereich des Gesellschaftsrechts (gegen Gesellschaften). Aber auch für diese besonderen Gesetze bildet das die Einzelnzwangsvollstreckung regelnde Zwangsvollstreckungsrecht der ZPO das Muster oder das Muttergesetz. Darüber hinaus — und dies kommt sehr oft vor — gelten, laut ausdrüclicher gesetzlicher Anordnung oder auf Grund der von der Theorie und der Rechtsprechung praktizierten Auslegung, viele Rechtsregeln (bzw. Rechtsvorschriften) des ZPO Zwangsvollstreckungsrechts auch im Rahmen dieser Spezialgesetzen (bei Lücken der Letzteren). Die Gesetzesartikel der ZPO, welche sich auf die Zwangsvollstreckung beziehen, sind die Artikel 904-1054. Die deutsche Übersetzung der griechischen ZPO v. Baumgärtel-Rammos beruht auf die anfängliche Fassung der ZPO des Jahres 1967 (in dieser Fassung hat die ZPO v. 1968 bis 1971 gegolten). Auf Grund der Gesetzesänderung betreffs der ZPO durch das Dekret 958/1971 wurde auch die Nummerierung der ZPO-Vorschriften (da manche ohne Einführung von Ersatzvorschriften völlig abgeschafft wurden) abgeändert. Im Bereich des Zwangsvollstreckungsteils der ZPO ist die Nummernentsprechung der anfänglichen und der neuen Nummerierung der Vorschriften, welche auch inhaltlich abgeändert wurden, wie folgt (in Klammern wird die anfängliche = alte Nummerierung angegeben) : 904 (965), 905 (966), 912 (973), 913 (974), 917 (978), 918 (979), 919 (980), 920 (981), (982 = aufgehoben), 927 (989), 929 (991), 930 (992), 938 (1000), 939 (1001), 943 (1005), 947 (1009), 950 (1012), (1013 und 1014 aufgehoben), 951 (1015), 954 (1018), 955 (1019), 956 (1020), 957 (1021), 958 (1022), 959 (1023), 960 (1024), 961 (1025), 962 (1026), 965 (1029), 966 (1030), 968 (1032), 969 (1033), 970 (1034), 971 (1035), 972 (1036), 973 (1037), 974 (1038), 975 (1039), 976 (1040), 977 (1041), 978 (1042), 979 (1037), 974 (1038), 975 (1039), 976 (1040), 977 (1041), 978 (1042), 979 (1043), 983 (1047), 984 (1048), 986 (1050), 988 (1052), 989 (1053), 993 (1057), 994 (1052), 995 (1059), 996 (1060), 997 (1061), 998 (1062), 999 (1063), 1000 (1064), 1005 (1069), 1006 (1070), 1007 (1071), 1010 (1074), 1012 (1076), 1013 (1077), 1015 (1079), 1018 (1081 A'), 1019 (1082), 1021 (1084), 1034 (1097), 1039 (1102), 1040 (1103), 1041 (1104), 1047 (1110), 1048 (1111), 1049 (1112), 1050 (1113), 1051 (1114), 1052 (1115), 1063 (1116), 1054 (1117). Neu nummeriert ohne inhaltliche Änderung wurden auch folgende Vorschriften: «906 (967), 907 (968), 908 (969), 910 (971), 911 (972), 914 (975), 915 (976), 916 (977), 919 (980), 920 (981), 921 (983), 922 (984), 923 (985), 924 (986), 925 (987), 926 (988), 928 (990), 931 (993), 932 (994), 933

268

(995), 935 (997), 936 (998), 937 (999), 940 (1002), 941 (1003), 942 (1004), 944 (1006), 945 (1007), 946 (1008), 948 (1010), 949 (1011), 952 (1016), 953 (1017), 963 (1027), 964 (1028), 967 (1031), 980 (1044), 981 (1045), 982 (1046), 985 (1049), 987 (1051), 990 (1054), 991 (1055), 992 (1056), 1001 (1065), 1002( 1066), 1003 (1067), 1004 (1068), 1008 (1072), 1009 (1073), 1011 (1075), 1014 (1078), 1016 (1080), 1017 (1081), 1020 (1083), 1022 (CE085), 1023 (1086), 1024 (1087), 1025 (1088), 1026 (1089), 1027 (1090), 1028 (1091), 1029 (1092), 1036 (1089), 1037 (1100), 1038 (1101), 1042 (1105), 1043 (1106), 1049 (1107), 1045 (1108)». Unabhängig von den obigen Reformen wurde das Zwangsvollstreckungsrecht der ZPO im laufenden Jahre 1995 wieder abgeändert (eine neue Nummerierung wird auch jetzt geplant). Es ist klar, daß speziell die Regelung der Zwangsvollstreckung auf Grund von ausländischen Vollstreckungstiteln auch von bilateralen oder multilateralen internationalen Verträgen (vorwiegend von dem auch in GriechenlandgeltendenEuropäischenGerichtsstands-und Vollstreckungsabkommen) geregelt wird. Bilaterale Anerkennungs- bzw. Vollstrekkungsabkommen hat Griechenland mit folgenden Staaten abgeschlossen : Bulgarien, Deutschland, Yugoslawien, Zypern, Libanon, Ungarn, Polen, Rumänien, Rußland, Syrien, Tschechien, Slowakei, Tunesien. 2. Die tragenden des griechischen

Richtlinien

und die allgemeinen

Grundsätze

Zwangsvollstreckungsrechts.

Im Zwangsvollstreckungsteil der ZPO auch in dem, nach der üblichen juristischen Jargon, sog. «allgemeinen» Teil finden sich keine ad hoc derartigen allgemeine Vorschriften, die über allgemeine Richtlinien bzw. Grundsätze, oder Regeln, des Zwangsvollstreckungsrechts eine Regelung treffen. Daher wenn man im Rahmen des griechischen Zivilprozeß- und Zwangsvollstreckungsrechts von Richtlinien usw. des Zwangsvollstrekkungsrechts spricht, muß er im voraus klären lassen, daß es um Richtlinien/Grundsätze geht, welche sich entweder auf Grund der teleologischen und funktionellen Betrachtung der Institution der Zwangsvollstreckung insgesamt, oder der einzelnen Zwangsvollstreckungsinstituten, der Vorschriften der Verfassung und derjenigen der ZPO, welche allgemeine Regelungen für die gesamte Prozeßrechtsmaterie einführen, sowie der einzelnen Vorschriften des Zwangsvollstreckungsteils der ZPO ableiten lassen. Als solche allgemeinen Grundsätze können das Verhältnismäßigkeitsgebot, das Verbot des Rechtsmißbrauchs, das

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

269

Überpfändungsverbot und die stufenweise Anfechtung der Vollstreckungshandlungen betrachtet werden. 3. Organe der

Zwangsvollstreckung

Nach dem griechischen Zivilprozeßrecht ist das Gericht in der Regel kein eigentliches Organ der Zwangsvollstreckung. Sofern ein Vollstrekkungstitel nach dem Gesetz vorliegt, wird er nach der im Gesetz sehr dettailliert vorgesehenen Art und Weise—ohne eine Zwischeneinmischung des Gerichts — vollstreckt. Als hauptsächliche Organe der Zwangsvollstreckung gelten nach der gr. ZPO der Notar und der Gerichtsvollzieher ; beide sind weder Vertreter des die Zwangsvollstreckung betreibenden Gläubigers, weder Vertreter des Schuldners, gegen den die Zwangsvollstreckung durchgeführt wird. Im Gegenteil sowohl der Notar, als auch der Gerichtsvollzieher agieren und handeln Kraft ihres Staatsamtes. Aus dieser Hinsicht macht es keinen Unterschied ob der Vollstrekkungstitel eine gerichtliche Entscheidung bzw. Anordnung also ein sog. gerichtlicher Titel ist, oder ob er ein sog. außergerichtlicher Titel ist (z. B. eine notarielle Urkunde). Die Hauptaufgabe des Notars als ein Vollstreckungsorgan liegt in der Durchführung der Zwangsversteigerung. Umfangreicher ist der Aufgabenkreis des Gerichtsvollziehers als Vollstreckungsorgans: Er ist insbesondere zuständig für die Zustellung der Vollstreckungsanordnung an den Schuldner, für die Vornahme der eigentlichen Vollstreckungshandlungen bei der unmittelbaren Zwangsvollstreckung (ζ. B. Wegnahme der konkreten beweglichen Sache von dem Schuldner und Übergabe dieser Sache an den Gläubiger, oder ζ. B. hat der Gerichtsvollzieher den Schuldner aus dem Besitz des betreffenden Grundstücks zu setzen und den Gläubiger in den Besitz desselben Grundstücks einzuweisen), sowie für die Vornahme vieler Vollstreckungshandlungen bei der mittelbaren Zwangsvollstreckung (wegen Geldforderungen) , wie ζ. B. für die Pfändung des beweglichen oder unbeweglichen Vermögens des Schuldners. Nur ausnahmsweise kann, nach dem griechischen Zivilprozeßrecht, auch das Gericht als Vollstreckungsorgan charakterisiert werden. Dies ist der Fall (im Rahmen immer der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen) bei der Anordnung der Pfändung von immateriellen Gütern, oder bei der Anordnung der Zwangsverwaltung (eines Grundstücks, oder eines Unternehmens), oder bei der Anordnung des Vollstreckungsmittels der persönlicher Haft (bzw. persönlichen Arrests) ; diese Vollstreckungshandlungen können — trotz des

270

Vorliegens eines Vollstrekkungstitels, was eine notwendige Voraussetzung darstellt — nur nach einer zusätzlichen gerichtlichen Entscheidung, welche diese konkreten Vollstreckungsmaßnahmen speziell gutheißt, vorgenommen werden. Als Hilfsorgane der Zwangsvollstreckung gelten die Polizeibeamten usw. Sie sind verpflichtet dem Gerichtsvollzieher zu helfen, falls er nicht in der Lage ist, wegen Widerstands, die Vollstreckungshandlungen vorzunehmen. 4. Voraussetzungen

der

Zwangsvollstreckung

4.1 Grundsätzliche Voraussetzung für die Durchführung der Zwangsvollstreckung ist der Antrag der siegreichen Partei; d. h. auch im Ebene des Zwangsvollstreckungsrechts herrscht wenigstens in bezug auf das «ob», «wann», «wie», «gegen wen» und das «wo» grundsätzlich der Parteibetrieb (bzw. im allgemeinen «Verhandlungsmaxime»). Der siegreiche Gläubiger stellt, mittels eines Gerichtsvollziehers, dem Schuldner eine Anordnung zur freiwilligen Vollstreckung zu. Falls der Schuldner innerhalb von drei Tagen-die beginnen allerdings erst am nächsten Tag vom Zeitpunkt der Zustellung-nicht freiwillig vollstreckt, dann darf die Zwangsvollstrekkung erst durchgeführt werden. Aber auch hier wird ein besonderer Vollstreckungsbefehl benötigt, welcher vom Gläubiger d. h. auch hier gilt der Parteibetrieb an den Gerichtsvollzieher erteilt wird. 4.2

Vollstreckungstitel

4-2.1. Die gr. ZPO bestimmt sehr genau die gesetzlichen Vollstreckungstitel. Allerdings sind diese nicht von einheitlicher Art. Es gibt unter diesen Unterschiede, vorwiegend auf Grund ihrer Herkunft (bzw. ihres Austellers) und auf Grund der rechtlichen Bestandskraft ihres Inhalts. Im einzelnen werden folgende Vollstreckunsgtitel vorgesehen. 4.2.2. Die rechtskräftigen Entscheidungen (gemeint sind die Leistungsentscheidungen) : Rechtskräftige Entscheidungen sind diegenigen Entscheidungen, welche mit den ordentlichen Rechtsmitteln ( = Einspruch und Berufung) nicht (bzw. nicht mehr, ζ. B. wegen Fristablaufs) angefochten werden dürfen (Art. 321 gr. ZPO). Dies hat zugleich als Folge — auch auf Grund der speziellen Regelung der Vorschrift des Art. 521 gr. ZPO—, daß die mit den ordentlichen Rechtsmitteln ( = Einspruch und Berufung) anfechtbaren — also nach dem griechischen Zivilprozessrecht noch nicht rechtskräftigen — sowie die mit den obigen Rechtsmitteln

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

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angefochtenen Urteile nicht vollstreckt werden dürfen (der Einspruch und die Berufung wirken— so auch ihre Einlegungsfrist— nach dem griechischen Zivilprozeßrecht suspensiv), es sei denn, daß es um ein vorläufig vollstreckbares Urteil geht. Die mit den ausserordentlichen Rechtsmitteln ( = Wiederaufnahme des Verfahrens und Revision bzw. Kassation) anfechtbaren und angefochtenen Urteile — also nach dem griechischen Zivilprozeßrecht bereits rechtskräftige Urteile — können in der Regel vollstreckt werden (die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Revision/Kassation wirken— so auch ihre Einlegungsfrist— nach dem griechischen Zivilprozeßrecht in der Regel nicht suspensiv). 4.2.3· Die vorläufig vollstreckbaren Entscheidungen. Die Entscheidungen, welche als vorläufig vollstreckbar erlassen worden sind, dürfen zwar auch dann vollstreckt werden, wenn sie mit den oben erwähnten ordentlichen Rechtsmitteln angefochten wurden. In dieser Hinsicht gilt es also keinen (sog. automatischen) Suspensiveffekt. Hier zeigt sich aber besonders überzeugend die Interessenabwägung zwischen den gegenteiligen Interessen der Zwangsvollstreckungssubjekte, auf welche die entspechende gesetzliche Regelung basiert und untermauert wird. Damit wird speziell die Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen des Vollstreckungsschuldners einerseits und des Vollstreckungsgläubigers andererseits gemeint. In bezug auf diesen Punkt muß hervorgehoben werden, daß in der grZPO ein unermüdlicher Versuch unternommen wird, damit bei der entsprechenden Regelung der «goldene Schnitt» — was wieder eine Erscheinungsform des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes darstellt — zwischen den Interessen des Zwangsvollstreckungsgläubigers (der eine möglichst schnelle Befriedigung seines Anspruchs bezweckt) und den Interessen des Zwangsvollstreckungsschuldners (der eine möglichst verspätete Befriedigung des Anspruchs seines Gläubigers bezweckt) erreicht wird. Besonders bemerkbar wird dies bei der Regelung der Zwangsvollstreckung, wenn der Vollstreckungstitel eine vorläufig vollstreckbare Entscheidung ist (die Vollstreckbarkeit und die materielle Rechtskraft sind nach dem griechischen Zivilprozessrecht die zwei Hauptwirkungen der gerichtlichen Entscheidungen). So wenn ein vorläufig vollstreckbares Urteil mit Einspruch oder Berufung in der Tat angefochten wurde, dann kann der Rechtsmittelführer (der zugleich der Unterlegene der Instanz bzw. der Vorinstanz ist) einen besonderen Antrag stellen (je nach dem vor dem judex a quo oder vor dem judex ad quem), damit vom Gericht die Vollstreckung des obigen Urteils verboten bzw. verschoben (bis zum Erlass des Rechtsmittelurteils) wird. Eben-

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falls wenn ein rechtskräftiges (und zugleich endgültig vollstreckbares) Urteil mit Wiederaufnahme des Verfahrens oder mit Revision (Kassation) angefochten wurde, dann kann der Rechtsmittelführer (der auch hier der Unterlegene der Instanz bzw. der Vorinstanz ist) einen besonderen Antrag stellen (vor dem judex ad quem), damit vom Gericht die Vollstreckung des obigen Urteils verboten bzw. verschoben wird (bis zum Erlass des Rechtsmittelurteils). Unabhängig davon, wenn eine Vollstreckung auf Grund eines beliebigen zulässigen Vollstreckungstitels erfolgt, darf der Schuldner immer einen Widerspruch ( = Vollstreckungsgegenklage) gegen die Vollstreckung erheben. Dieser Widerspruch ( = Vollstreckungsgegenklage) hat zwar keinen direkten Suspensiveffekt. Der Schuldner aber, welcher den Widerspruch erhoben hat, darf weiter einen besonderen Antrag stellen, damit vom Gericht die Vollstreckung verschoben bzw. verboten wird (bis zum Erlaß des Urteils auf den Widerspruch). 4.2-4. Gerichtliche Sitzungsprotokolle in denen ein Prozeßvergleich aufgenommen worden ist. 4.2-5. Mahnbescheide 4-2.6. Gerichtliche Entscheidungen welche Sicherungsmaßnahmen anordnen (einstweilige Verfügungen). 4-2-7- Notarielle Urkunden 4-2-8- Schiedsrichterliche Entscheidungen 4-2-9- Entscheidungen welche von ausländischen staatlichen Gerichten erlassen worden sind. 4-2-10- Ausländische schiedsrichterliche Entscheidungen. 5.

Vollstreckungsklausel

Die Vollstreckungsklausel wird auf Antrag des siegreichen Gläubigers vom Gericht erteilt; nach der typischen Formulierung erfolgt sie im Namen des griechischen Volkes. 6. Zustellung

und freiwillige

{bzw. freiwillige

Erfüllung

seitens des Schuldners

Beendigung der Zwangsvollstreckung

durch den

Schuldner) Eine beglaubigte Kopie der vollstreckbaren Ausfertigung des Vollstreckungstitels muß der siegreiche Gläubiger durch den Gerichtsvollzieher an den Schuldner zustellen lassen. Dem Schuldner steht dann zu

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seiner Verfügung eine Frist von drei Tagen, damit er freiwillig die Leistung, auf die er gemäß dem Vollstreckungstitel verurteilt worden ist, erfüllt. Bei einer derartigen vollen freiwilligen Erfüllung wird das Zwangsvollstreckungsverfahren vorzeitig freiwillig beendet. 7. Gegenstand

der

Zwangsvollstreckung

Der Gegenstand der Zwangsvollstreckung variirt sich entsprechend der Zwangsvollstreckungart. Geht es um eine unmittelbare Zwangsvollstreckung, dann ist Gegenstand dieser Zwangsvollstreckung je nach dem die bewegliche Sache, welche durch den Gerichtsvollzieher vom Schuldner weggenommen und an den Gläubiger übergegeben werden soll, oder das Grundstück, aus dessen Besitz der Schuldner zu setzen und in dessen Besitz der Gläubiger einzuweisen ist. Geht es um Verurteilung von Geldforderungen, dann ist Gegenstand der Zwangsvollstreckung (hier gemeint ist an sich die Zwangspfändung) das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen des Schuldners. Speziell aber bei Zwangsverwaltung-welche eine besondere Vollstreckungsart bei Verurteilung in Geldschulden darstellt-ist Gegenstand dieser Vollstreckungsart das konkrete Grundstück oder Unternehmen, welche zwangsverwaltet werden sollen. Ebenfalls im Falle der Vollstreckungsart des persönlichen Arrestes (bzw. der persönlichen Haft) kann als Gegenstand der Zwangsvollstreckung der konkrete Schuldner betrachtet werden, gegen den diese Maßnahme angeordnet wird. 8. Arten der

Zwangsvollstreckung

8.1 Zwangsvollstreckung

wegen

Geldforderungen

8.1.1. Zwangspfändung. Das zuständige Vollstreckungsorgan für die Durchführung der Zwangspfändung ist der Gerichtsvollzieher. Nach Art. 951 § 2 (1015) gr. ZPO darf die Pfändung nicht weiter ausgedehnt werden, als dies für die Befriedigung des Anspruchs und die Vollstrekkungskosten erforderlich ist. Die Vorschrift gilt als die Grundlage eines gesetzlichen Überpfändungsverbots. Der Pfändung unterliegt das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen des Schuldners, sowie Forderungen und besondere Vermögensrechte. Als unpfändbar betrachtet das Gesetz diejenigen Vermögensgegenstände, welche dem personlichen Bedarf dienen oder für die grundsätzlichen Lebensbedürfnisse des

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Schuldners und seiner Familie erforderlich sind. Der Gerichtsvollzieher faßt ein Bericht in bezug auf die Pfändung und auf die gepfändeten Gegenstände ab. In diesem Bericht muß der Gerichtsvollzieher die Höhe des Erstgebots (Mindestpreises), der nicht unter der Hälfte des Wertes der gepfändeten Sache liegen darf. Die hauptsächliche Wirkung der Pfändung besteht darin, daß jede Verfügung seitens des Schuldners der gepfändeten Sache zu Gunsten des die Zwangspfändung betreibenden Gläubigers nichtig ist (d. h. es handelt sich nicht um eine objektive Nichtigkeit, sondern nur um eine zu Gunsten dieses Gläubigers «subjektive» Nichtigkeit). Das Eigentum wird durch die Pfändung nicht berührt; Eigentümer der gepfändeten Sache bleibt also weiter der Schuldner. Eine zweite Zwangspfändung, von einem anderen Gläubiger, der bereits gepfändeten Sache ist verboten. Die übrigen Gläubiger desselben Schuldners haben stattdessen die Möglichkeit, sich bei der öffentlichen Zwangsversteigerung derselben bereits von einem anderen Gläubiger gepfändeten Sache anzumelden, um dadurch die Befriedigung ihrer Ansprüche zu erreichen. Hier soll erwähnt werden, daß der Gläubiger, auf dessen Iniziative die (erste) Zwangspfändung erfolgte, keine aus diesem Grunde vorteilhafte Rechtsstellung (also kein Prioritätsprivilegium) bei der durch die Zwangsversteigerung der gepfändeten Sache Befriedigung seiner Ansprüche genießt (es sei denn, daß er aus einem anderen Grund ein allgemeines oder spezielles Privilegium hat). D. h. die (Priorität bei der) Zwangspfändung gewährt allein von sich selbst kein Befriedigungsprivilegium bei der Zwangsversteigerung; hier herrscht das Ausgleichsprinzip (anders gesagt stellt die Priorität bei der Zwangspfändung keinen Faktor für die vorgesehenen in der ZPO allgemeinen und speziellen Privilegien). Die Verwertung der gepfändeten Sache und die Befriedigung der Ansprüche erfolgt durch das Zwangsversteigerungsverfahren. In dem Pfändungsbericht setzt der Gerichtsvollzieher das Datum, das Ort sowie den Namen des Versteigerungsbeamten fest. Innerhalb von fünfzehn Tagen nach der Zwangspfändung faßt der Gerichtsvollzieher das Zwangsversteigerungsprogramm ab. Versteigerungsbeamte ist der Notar. Die Versteigerung beginnt auf der Basis des Erstgebots. Wenn keine Meistbietenden erscheinen, dann kann die gepfändete Sache auf Grund des Erstgebots dem Gläubiger zugesprochen werden, falls der Letztere es beantragt. Andernfalls kann das Gericht entweder weitere Versteigerungen mit demselben oder mit einem niedrigeren Erstgebot anordnen, oder den freien Verkauf der gepfändeten Sache an den Gläubiger oder an einen Dritten gestatten.

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

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8.1.2. Zwangsverwaltung. Als Vollstreckungsmittel bezieht sich die Zwangsverwaltung nur auf Grundstücke und Unternehmen des Schuldners. Die Zwangsverwaltung muß speziell vom Gericht angeordnet werden (hier ist das Gericht als Vollstreckungsorgen tätig). Die Verwaltung des Grundstücks und des Unternehmens übernimmt ein Zwangsverwalter, der vom Gericht bestellt wird. Die ZPO sieht konkrete Fälle vor, in denen keine Zwangsverwaltung angeordnet werden kann, sowie die Gründe, welche die Aufhebung einer angeordneten Zwangsverwaltung diktieren. 8.1.3. Persönliche Haft. Als Vollstreckungsmittel ist die persönliche Haft nur gegen Kaufleute für Handelsforderungen und für Forderungen aus unerlaubten Handlungen vorgesehen. Sie kann nur dann erfolgen, wenn das Gericht sie mit einer Entscheidung anordnet. 8.2.

Die

unmittelbaren

Vollstreckungsarten

Im Text der griechischen ZPO ist der Ausdruck «unmittelbare Vollstrekkungsarten» bzw. cunmittelbare Vollstreckung», oder «mittelbare Vollstreckungsarten» bzw. «mittelbare Vollstreckung» nicht zu finden. Diese termine technici sind ein Produkt der Theorie und ζ. T. auch der Rechtsprechung und der Praxis. Als «unmittelbare Vollstreckung» bzw. «unmittelbare Vollstreckungsarten» wird diejenige Vollstreckung bzw. Vollstreckungsart bezeichnet, welche die Verwirklichung des Inhalts des subjektiven Rechts des Gläubigers bzw. der Verpflichtung oder der Leistung des Schuldners in unmittelbarer und sozusagen in natürlicher Weise erzielt, bzw. anstrebt. Zu der unmittelbaren oder direkten Vollstreckung gehören im einzelnen folgende Vollstreckungsarten, in denen immer die Vollstrekkungsart in der Herausgabevollstreckung (Zwangsvollstreckung zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen) besteht: a) Herausgabe von einer bestimmten beweglichen Sache, oder von einer Summe von bestimmten beweglichen Sachen. Nach Art. 941 (1003) Abs. 1 ZPO Vollstreckungsorgan ist der Gerichtsvollzieher. Die Vollstreckungshandlungen, welche zur Durchführung der obigen Zwangsvollstreckung führen, sind nach der genannten Gesetzesvorschrift die von dem Gerichtsvollzieher Wegnahme der (bestimmten) Sache (bzw. der Summe der bestimmten Sachen) von dem Schuldner und dann die Übergabe dieser Sache usw. an den Gläubiger. Falls sich aber die Sache, zu deren Herausgabe der Schuldner verurteilt bzw. auf Grund des Vollstreckungstitels verpflichtet ist, nicht findet, dann ist der Schuldner verpflichtet, einen Offenbarungseid (eidesstattli-

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che Versicherung) dahin zu leisten, daß er die betreffende Sache nicht besitze und auch nicht wisse, wo sie sich befinde, b) Herausgabe von einer bestimmten Menge vertretbaren Sachen oder von Schuldverschreibungen auf den Inhaber. In einem solchen Fall erfolgt die Vollstreckung ebenfalls durch Wegnahme der geschuldeten Menge usw. und Übergabe an den Gläubiger [Art. 942 (1004)] . Falls der Gerichtsvollzieher die Sachen bei dem Schuldner nicht findet, dann (nach Verweisung auf Grund der obigen ZPO-Vorschrift) wird Art. 917 (978) angewandt, nach dem bei der Leistung und Zwangsvollstreckung von vertretbaren Sachen, wo deren Wert in Geldbetrag festgesetzt werden muß, die Wertfestsetzung des Leistungsgegenstandes durch Urteil des Einzelrichter-Landgerichts erfolgt wird, c) Herausgabe von Grundstücken. In diesem Fall erfolgt die Vollstreckung wie f o l g t : Der Gerichtsvollzieher hat—Art. 943 Abs. 1 (1005 Abs. 1) ZPO — den Schuldner aus dem Besitz des betreffenden Grundstücks zu setzen und den Gläubiger in den Besitz desselben Grundstücks einzuweisen. In dieser Weise ist besonders die Räumung von Wohnungen durchzuführen. Dieselbe Vollstreckungsart gilt — Art. 944 (1006) ZPO — auch bei Herausgabe von Schiffen und Flugzeugen, d) Besondere unmittelbare Vollstreckung bei familienrechtlichen Angelegenheiten wird wegen der N a t u r der Sache der betreffenden Angelegenheiten nur ausnahmsweise geregelt, wie ζ. B. bei Herausgabe eines Kindes oder bei Störung bzw. Verhinderung des persönlichen Kontakts eines Elternteils mit dem Kind. Nach Art. 950 (1012) ZPO wenn durch Urteil die Herausgabe eines Kindes (unabhängig davon ob es um ein Verfahren gegen einen der Eltern oder gegen einen Dritten geht) angeordnet wird, so nimmt der Gerichtsvollzieher das Kind weg und übergibt es der Person, welche im Urteil genannt wird. Die Vollstreckungsgewalt richtet sich nur gegen den Elternteil bzw. einen Dritten, welcher verpflichtet ist, das Kind herauszugeben, und nicht gegen das Kind selbst. Wird aber das Kind nicht gefunden (um weggenommen und weiter übergeben zu werden), dann finden Anwendung die Art. 861-866 (922-927) ZPO. Dies bedeutet, daß die Leistung eines Offenbarungseides angeordnet werden kann, den der herausgabepflichtige Elternteil bzw. Dritte abzugeben hat. Wenn der zu Leistung des Offenbarungseides Verpflichtete nicht erscheint, um den Offenbarungseid abzugeben, oder vielleicht verweigert er ihn abzugeben, so ordnet das Gericht gemäß Art. 864 (925) auf Antrag des anderen Elternteils den persönlichen Arrest des Verpflichteten an. Ebenfalls wenn die Ausübung des Rechts eines Elternteils zum persönlichen Kontakt des betreffenden Elternteils mit dem

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Kind verhindert wird, dann könneny, eine Geldstrafe und der persönliche Arrest gegen denjenigen angedroht, der den Kontakt hindert. In diesem Fall findet Anwendung Art. 947 (1009) ZPO, der die Zwangsvollstrekkung zur Erwirkung bzw. Erzwingung von Handlungen, Unterlassungen und Duldungen regelt. D. h. sowohl in diesem Fall als auch in anderen Fällen wird die, anfangs, als unmittelbare vorgesehene und begonnene Zwangsvollstreckung in eine nicht unmittelbare Zwangsvollstreckung umgewandelt. 8.3. Zwangsvollstreckung (bzw. Duldung)

auf Vornahme einer Handlung oder auf

oder auf Abgabe einer

Unterlassung

Willenserklärung

Die Zwangsvollstreckung bei vertretbaten Handlungen erfolgt dadurch, daß der Gläubiger berechtigt ist, die Handlung auf Kosten des Schuldners vorzunehmen (Art. 945 gr. ZPO). Die Zwagsvollstreckung bei unvertretbaren Handlungen, deren Vornahme sich ausschließlich von dem Willen des Schuldners abhängt, erfolgt dadurch, daß das Gericht den Schuldner verurteilt, die Handlung vorzunehmen, und für den Fall der Nicht-Vornahme ihn auf Zwangsgeld und auf Zwangshaft verurteilt (Art. 946 gr. ZPO). Die Zwangsvollstreckung auf Duldungen und Unterlassungen erfolgt dadurch, daß das Gericht gegen den Schuldner für jede Zuwiderhandlung seinerseits Zwangsgeld und Zwangshaft androht (Art. 947 gr. ZPO). Die Zwangsvollstreckung bei Abgabe einer Willenserklärung erfolgt dadurch, daß die Willenserklärung als abgegeben gilt, sobald die gerichtliche Entscheidung, welche auf die Abgabe der Willenserklärung den Schuldner verurteilt, die Rechtskraft erlangt h a t ; allerdings soll es hier wieder hervorgehoben werden, daß nach dem griechischen Zivilprozeßrecht die Entscheidungen schon dann rechtskräftig werden, wenn sie nicht mehr mit Einspruch und Berufung angefochten werden können. Die bestehende Möglichkeit der Anfechtung mittels einer Kassation hindert dagegen den Eintritt der Rechtskraft nicht. 9. Rechtsbehelfe im Rahmen des

Zwangsvollstreckungsverfahrens

Der allgemeine Rechtsbehelf gegen die Handlungen im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens ist die Widerspruchsklage (Vollstrekkungsgegenklage), welche nach dem griechischen Zivilprozessrecht sowohl die Funktion der Erinnerung (Beanstandung von Verfahrensmängeln bei Vollstreckungsmaßnahmen oder Ablehnung einer

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Zwangsvollstreckungsmaßnahme), als auch die Funktion der Vollstrekkungsgegenklage (Erhebung von Einwendungen gegen den titulierten Anspruch) gemäß dem deutschen Zivilprozeßrecht hat. Im Falle eines Zwangsvollstreckungseingriffs in das Vermögen eines Dritten steht diesem Dritten der Rechtsbehelf des Drittwiderspruchsklage. Sachlich zuständig für die obigen Rechtsbehelfe sind als Eingangsgerichte die Gerichte 1. Instanz (je nach dem die Friedensgerichte oder die Landgerichte). Die erlassene Entscheidung unterliegt der Berufung und der Kassation. 10. Vollstreckung

ausländischer

Titel

Die Zwangsvollstreckung kann nicht nur anhand von inländischen, sondern auch von ausländischen Vollstreckungstiteln betrieben werden, wenn die Letzteren vorher für vollstreckbar erklärt worden sind. Artikel 905 gr. ZPO, der die Vollstreckbarerklärung regelt, findet auf alle ausländischen Vollstreckungstitel, ausser der Schiedssprüche, derer Vollstreckbarerklärung durch Artikel 903 und 906 gr. ZPO geregelt wird, Anwendung. Gemäss dieser Regelung werden gerichtliche Entscheidungen, Prozessvergleiche und vollstreckbare Urkunden für vollstreckbar erklärt, vorausgesetzt, dass sie gemäss dem Recht des Staates, wo sie erlassen worden sind, vollstreckbar sind. Dazu gehören auch Urteile, die noch nicht rechtskräftig, aber für vorläufig vollstreckbar erklärt worden sind. Der Antrag auf Vollstreckbarerklärung des ausländischen Titels wird gemäss den Regeln des Verfahrens der Freiwilligen Gerichtsbarkeit verhandelt (d. h. Eine-Partei-System: Für die ordnungsmässige Einlegung des Antrags ist die Zustellung einer beglaubigten Abschrift des Antrags an die möglichen Interessenten nicht unbedingt erforderlich). Eine spätere Drittopposition bleibt daher offen. Im Rahmen des Vollstreckbarerklärungsverfahrens wird weder der Ausspruch der ausländischen Entscheidung (revision au fond), noch die Wahrung der Gegenseitigkeit vom Staat, an dem der Titel zustandegekommen ist, hinsichtlich der Vollstreckbarerklärung von Titeln des Vollstreckungstaates geprüft. Der ausländische Titel darf aber nicht gegen den griechischen ordre public Verstössen und weiterhin, wenn es sich um eine gerichtliche Entscheidung handelt, soll dann das (ausländische) Gericht, das sie erlassen hat, gemäss den Regeln des griechischen Rechts international zuständig sein und ausserdem darf sie nicht einer inländischen Entscheidung entgegenstehen, die dieselbe Rechtssache

Die Grundstruktur des griechischen Zwangsvollstreckungsrechts als des effektiven Teils des prozessualen Grundrechts auf Justizgewährung

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betrifft. Weiterhin darf dem unterlegenen Beklagten nicht das Recht auf rechtliches Gehör entzogen werden, es sei denn, dass dies die Folge einer allgemeinen, sowohl fur Inländer, als auch für Ausländer geltenden Regelung ist. Handelt es sich schliesslich um die Vollstreckbarerklärung eines ausländischen Schiedsspruchs, dann wird neben Vereinbarkeit seiner Vollstreckung mit dem inländischen Ordre Public und der Wahrung des Anspruchs der unterlegenen Partei auf rechtliches Gehör auch die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung, die Schiedsfähigkeit des Streitgegenstandes des Schiedsverfahrens gemäß dem griechischen Recht, sowie die Unanfechtbarkeit des Schiedspruchs geprüft. Die schon erwähnte Regelung des autonomen griechischen Rechts soll nach herrschender Meinung im Schrifttum den Vorrang gegenüber den Regeln von bilateralen Abkonnen haben, die ebenfalls die Vollstreckbarerklärung von Titeln im internationalen Rechtsverkehr zwischen Griechenland und anderen Staaten regeln, wenn im konkreten Fall das autonome Recht die Vollstreckbarerklärung des ausländischen Titels im Vergleich zu den Regeln des Abkommens erleichtert. Jetzt aber, wo das E u G V Ü auf der Ebene der Europäischen Union alle bilateralen, mit den anderen Mitgliedsstaaten abgeschlossenen Abkommen ersetzt, stellt sich die Frage nach dem eventuellen Vorrang der «in concreto» für den Antragssteiler günstigeren Regelung des autonomen Rechts, auch in diesem Zusammenhang. Wenn jemand berücksichtigt, dass das EuGVÜ die Vereinheitlichung der Anerkennungs und Vollstreckbarerklärungsvoraussetzungen als Zweck hat, damit die Freizügigkeit von gerichtlichen Entscheidungen, und allgemein von Vollstreckungstiteln erleichtert wird, ist dann den Vorrang der Regelung des autonomen Rechts eines Vertragsstaates anzunehmen, wenn sie die Vollstreckbarerklärung des konkreten Titels mehr als die entsprechende Regelung des Überreinkommens erleichtert, obwohl auf diese Weise die Gleichmässigkeit der Vollstreckbarerklärung für alle Vertragsstaaten gestört wird.

Rechtsvergleichende Fragen zum „Gesetzlichen Richter" von

Prof. Dr. Harald Koch

Rostock

Professor an der Universität Rostock Richter am Oberlandesgericht Rostock

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Inhaltsverzeichnis

I. Der gesetzliche Richter im deutschen Recht 1. Grundgesetz 2 . Verfassungsgeschichte 3 . Aktuelle Geschäftsverteilungsdiskussion 4 . Überblick II. Ausländische Rechte 1. Europäischer Kontinent und Japan 2 . England und USA III. Gründe für Divergenzen IV. „Entziehung des gesetzlichen Richters" als Ersatz für andere Rügen?

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„Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden", formulieren deutsche Verfassungen seit 1849 unisono, um meist hinzuzufügen oder gar voranzustellen: „Ausnahmegerichte sind abgeschafft". 1 Nicht nur der sprachliche Begriff des „gesetzlichen Richters" ist schwer in andere Sprachen zu Ubersetzen - bei wörtlicher Übertragung entsteht ein völlig anderer Sinn als der des Art. 101 Abs. 1 GG(etwa: „juge legale", „statutory judge"). Schon diese Übersetzungsschwierigkeit zeigt, daß der Bedeutungsinhalt des „gesetzlichen Richters" mit dem Wortlaut nicht ausreichend beschrieben wird, mit dem der staatliche Richter — im Gegensatz zum Schiedsrichter — oder der das Gesetzesrecht statt das Fallrecht beachtende Richter assoziiert werden könnte. Gerade die Diskussion der letzten Jahre in Deutschland über die Praxis der richterlichen Geschäftsverteilung (s. u. 1. 3.) zeigt aber, daß solche Vorstellungen nichts mit den Anforderungen zu tun haben, die das verfassungsrechtliche „Entziehungsverbot" stellt. Die Bedeutung des Grundsatzes hat sich also vom Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 GG weithin gelöst, und es ist daher nicht nur ein sprachlich vergebliches Unterfangen, den Begriff zu Ubersetzen, sondern zugleich ein Problem des Vergleichs des deutschen Entziehungsverbots mit anderen Rechtsordnungen: Selbst wenn es das Verbot im wörtlichen Sinne anderswo nicht gibt, so sollte man doch meinen, ein hierzulande so ernst genommenes verfassungsrechtliches Prinzip müsse sich auch in anderen, rechtsstaatlich geprägten Rechtsordnungen finden. Das ist indessen — wie sich zeigen wird — in dieser Form nicht der Fall. Dieser Beitrag soll versuchen, die Gründe dafür und letzlich die Berechtigung des Grundrechts zu erörtern.

I. Der gesetzliche Richter im deutschen Recht l. Der scheinbar erläuternde Zusatz in Art. 101 Abs. 1 GG: „Ausnahmegerichte sind unzulässig" legt eine Deutung des gesetzlichen Richters 1 § 175 Paulskirchenverfassung 1849; Art. 7 Preuß. Verfassung 1850; Art. 105 Weimarer Reichsverfassung 1919 ; Art. 101 Abs. 1 GG 1949; Art. 134 S. 1 DDR -Verfassung 1949 ; Art. 101 DDR-Verfassung 1974.

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nahe, wonach vor allem das ordentliche, für einen bestimmten Rechtsstreit vorgesehene Gericht, der reguläre Spruchkörper garantiert und die Einsetzung besonderer, für einen bestimmten Fall gebildeter Spruchkörper verhindert werden soll. In der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wird etwa der Ausschluß von Manipulierung der Justiz durch sachfremde Einflüsse auf das Ergebnis einer Entscheidung 2 , die Verhinderung unbefugter Eingriffe in die Rechtspflege und einer „Kabinettsjustiz" als Zweck des Entziehungsverbots hervorgehoben 3 . - Aus diesen allgemeinen Beschreibungen einer Schutzfunktion zugunsten der Rechtssuchenden hat allerdings die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung immer detailliertere Anforderungen an die Bildung von Spruchkörpern und die Geschäftsverteilung entwickelt, die sich aus Art. 101 ergeben sollen. Namentlich die weitverbreitete Praxis der Überbesetzung von Kammern und Senaten in Kollegialgerichten hat Bedenken hervorgerufen, weil damit die Möglichkeit der Gerichtsverwaltung einhergeht, die Zusammensetzung des für den Einzelfall zuständigen Spruchkörpers nach Rechtshängigkeit einer Sache zu beeinflussen. So heißt es etwa in einer Entscheidung des BVerfG v. 24. 3- 1964, gesetzlicher Richter sei nicht nur das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper („Landgericht Mosbach, Zivilkammer 2"), sondern auch der zur Entscheidung im Einzelfall berufene Richter; die Regelungen, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen, müssen von vornherein „so eindeutig wie möglich" bestimmen, welcher Spruchkörper und welche Richter zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind 4 . Solche Regelungen lassen sich angesichts der unterschiedlichen Größe der Gerichte und der Vielfalt der' Organisationsstrukturen kaum im Gesetz präzise genug festhalten. Das GVG sieht daher in § 21 e vor, daß das jeweilige Gerichtspräsidium vor Beginn des Geschäftsjahres die Besetzung der Spruchkörper bestimmt, die Vertretung regelt und die Geschäfte verteilt (Abs. 1). Ähnlich verteilt der Vorsitzende vor Beginn des Geschäftsjahres die Geschäfte innerhalb eines Spruchkörpers mit mehreren Mitgliedern(§ 21 g GVG). Die Rechtsnatur solcher „Anordnungen", „Pläne" ist unklar. Ihve Wirkung erschöpft sich nicht allein in der Organisationsfunktion, die sie intern mit der Besetzung der Spruchkörper wahrnehmen. Vielmehr re2 BVerfGE 17, 294, 299. 3 BVerfGE 4, 412, 416. 4 BVerfGE 17, 294, 299 f f . ; vgl. schon BVerfGE 9, 223, 226

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geln sie auch dem Rechtssuchenden gegenüber die Zuständigkeitsverteilung und entfalten damit normative Außenwirkungen. Daher läßt sich der Geschäftsverteilungsplan als Akt mit Doppelnatur, nämlich als Rechtsnorm mit gleichzeitiger interner Organisationsfunktion kennzeichnen5. Der einzelne Richter kann daraus allerdings keine Rechte herleiten: ihn schützen andere Grundrechte, wie ζ. B. Art. 97 GG6. 2. Obwohl auch die Weimarer Reichssverfassung von 1919 den Grundsatz des gesetzlichen Richters (in Art. 105, vgl. schon § 16 GVG 1877) kannte, gab es die gesetzliche Regelung des GVG zur Geschäftsverteilung damals noch nicht. So hatte das RG den Präsidenten und Vorsitzenden der Instanzgerichte freie Hand gelassen bei der Besetzung der Spruchkörper und der internen Verteilung der Geschäfte auf ihre Mitglieder ; es war auch selbst in gleicher Weise verfahren 7 . Das führte insbesondere dazu, daß die Kammern und Senate mit mehr als der gesetzlich vorgesehenen Richterzahl besetzt wurden. Auf diese Weise konnte die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung flexibler auf unvorhergesehene Geschäftslast und Verhinderungen reagieren. Nach Errichtung der oberen Bundesgerichte wurde diese Praxis der Uberbesetzung und freien Verteilung des Geschäftsanfalls zunächst fortgesetzt. Die Kriterien dafür waren indessen von unterschiedlicher Genauigkeit und Abstraktion 8 . Die erwähnten Regelungen des GVG (insbesondere § 21 g) stammen z. T. schon aus der VwGO (I960)9, wurden 1964 in das GVG (§ 69 a. F.) eingefügt und erhielten ihre heutigen Standort 197210. Obwohl schon 1959 und 1972 im Gesetzgebungsverfahren Bedenken gegen die offenbar seit längerem praktizierte Überbesetzung geltendgemacht wurden, blieb es mit § 21 e und g GVG bei der Ermächtigung der Gerichtspräsidenten und Vorsitzenden zur allgemeinen und internen Geschäftsverteilung. 3. Ende 1991 entzündete sich zunächst beim Bundesfinanzhof, kurz da5 So M. Wolf, G e r i c h t s v e r f a s s u n g s r e c h t aller V e r f a h r e n s z w e i g e (6. Aufl. 1987), 142 ff. ; MünchKomm-ZPO(Wolf) 1992, § 21 e GVG Rz. 6 ff. „Resigniert" a n d e r e r Ansicht Kissel, GVG (2. Aufl. 1994), § 21 e Rz. 93 ( „ m u l t i f u n k t i o n a l e r gerichtlicher S e l b s t v e r w a l t u n g s a k t sui g e n e r i s " ) . 6 Vgl. B V e r f G E 15, 298, 301; v. Münch/Kunig, GG (2. Aufl. 1983), A r t . 101 R N 118 (S. a u c h unten IV.) 7 Sangmeister, N J W 1995, 289, 291 m. z. N w . 8 Vgl. Sangmeister, a. a. 0., 292. 9 § 8 V w G O l a u t e t e bis 1964 ähnlich wie j e t z t § 21 g GVG. 10 Zur Geschichte vgl. B G H - ( V e r e i n i g t e G r o ß e S e n a t e ) - N J W 1994, 1735, 1737 ; vgl. a u c h Sangmeister, BB 1993, 761.

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rauf auch beim BGH eine durch kritische Veröffentlichungen von Richtern und Anwälten ausgelöste, heftige Kontroverse um die Praxis der Geschäftsverteilung bei diesen Gerichten11. Im Mittelpunkt der Kritik standen die schematische Übersetzung der Senate sowie die intransparente und weitgehend ins Ermessen der Vorsitzenden gestellten Mitwirkungsgrundsätze. Hier sollen nur beispielhaft zwei Vorwürfe wiedergegeben werden, mit denen ein Verstoß der Geschäftsverteilung gegen Art. 101 Abs. 1 GG geltend gemacht wurde: - Die Geschäftsverteilung beim BFH ist zwar in einem schriftlichen, im Bundessteuerblatt veröffentlichen Geschäftsverteilungsplan niedergelegt12. Durch die vom Gerichtspräsidium angeordnete Senatsbesetzung mit jeweils 6 statt 5 Richtern (wie in § 10 Abs. 3 FGO vorgeschrieben) kann der Senatsvorsitzende mit Hilfe freier Terminierung der einzelnen Fälle die Zusammensetzung des Senats im Einzelfall (die ihrerseits nach einem Wochenplan im voraus festliegt) beeinflussen-nach Ansicht von Kritikern der „klassische Fall des gewillkürten Richters" und ein „verheerender rechtsstaatswidriger Befund"13. - Auch die Zivilsenate des BGH sind überbesetzt, im untersuchten Zeitraum 1991/1992 waren es sogar in nahezu allen 12 Senaten 7 Richter, mithin 2 Richter mehr als die Spruchbesetzung des § 139 Abs. 1 GVG. Die senatsinterne (unveröffentlichte) Geschäftsverteilung bei einigen Senaten sah und sieht vor, daß der Vorsitzende den Berichterstatter für den jeweiligen Fall nach bestimmten fachlichen Schwerpunkten auswählt, sodann die Zusammensetzung der Richterbank für die Beratung über die Annahme der Revision nach § 554 b ZPO anordnet und im Falle der Annahme der Revision die Verhandlung terminiert 14 . Auf diese Weise kann der Vorsitzende durch entsprechende Terminierung auf die Zusammensetzung der Richterbank, vor die die einzelne Sache gelangt, Einfluß nehmen. Durch mehrere Nichtigkeitsklagen (§ 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) kamen die Besetzungsrügen aus dem I. BGH-Zivilsenat zum X. Senat (§ 584 Abs. 1 ZPO), der die geschilderte Praxis der senatsinternen Geschäftsverteilung 11 Vgl. insbes. die Ausätze von Felix, BB 1991,2193, 2413 ; ders., BB 1992, 253 und 1001 ; ders., N J W 1992,217 und 1607 ; ders., in : FS f ü r Gaul (1992), 97 ; Wiebel, BB 1992, 573 ; Katholnigg, N J W 1992,2256 ; Lamprecht, BB 1992, 2153 ; Sangmeister, BB 1993, 769 ; ders., JZ 1993, 737. 12 Vgl. ζ. B. BStBl. II 1991, 111. 13 Felix, N J W 1992, 217, 218/219. 14 Vgl. Einzelheiten bei Wiebel, BB 1992, 573 und jetzt ders., BB 1995, 1197.

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für unvereinbar mit § 21 g Abs. 2 GVG hielt, sich aber an einer entsprechenden Entscheidung durch ältere Judikate von BGH-Strafsenaten gehindert sah, die ähnlich großzügig vorgegangen waren wie der I. Zivilsenat. Eine Richtervorlage an das BVerfG gem. Art. 100 Abs. 1 GG, wie von manchen erhofft 15 , kam nicht in Betracht, weil der X. Senat die bisherige Auslegung des § 21 g Abs. 2 GVG unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel selbst hätte korrigieren können. Wegen der ersichtlichen Meinungsunterschiede zu anderen oberen Bundesgerichten (insbesondere zum BFH, aber auch zum BVerwG) wäre eine Anrufung des Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 2 RsprEinhG in Betracht gekommen16. Stattdessen ging der X. Senat jedoch einen anderen Weg und rief wegen der Divergenz zur Strafsenate-Rechtsprechung (nur) die Vereinigten Großen Senate des BGH an (§ 132 Abs. 2-4 GVG)17. Diese trafen am 5- 5. 1994 eine differenzierte Entscheidung insofern, als sie die bisherige Praxis der fehlenden normativen Fixierung der Richterbesetzung für künftig nicht mehr zulässig hielten, für die Vergangenheit aber nicht ohne weiteres als fehlerhaft beurteilt wissen wollten18. - Das ist die aus dem angelsächsischen Recht lange bekannte und hierzulande durch das BVerfG immer wieder pragmatisch eingesetzte Technik des „prospective overruling". Die Entscheidung der Vereinigten Großen Senate erwähnt die verfassungsrechtliche Gewähr des gesetzliche Richters als Maßstab der Beurteilung der angegriffenen Praxis nur am Rande, nämlich um darauf hinzuweisen, daß die Mitwirkungsgrundsätze des § 21 g Abs. 2 GVG keineswegs verfassungsrechtlich geboten seien, sondern über die Mindestanforderungen des Art. 101 Abs. 1 GG hinausgehen (sub III. 1. d. aa). Dies wird durch die Rechtsprechung des BVerfG bestätigt 19 und der Gerichtsverwaltung sogar ein gewisser Ermessensspielraum bei der sinnvollen Geschäftsverteilung eingeräumt: Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sei genügt, wenn die gesetzlichen und richterrechtlich entwickelten Tatbestandsmerkmale den willkürlichen Zugriff auf die Richterbank ausschlössen20. 15 Sangmeister, N J W 1994, 289, 298 ; vgl. auch Leisner, das. 285, 288. 16 Diese hält insbesondere Leisner f ü r verfassungsrechtlich geboten, da der Gemeins a m e Senat der „gesetzliche Richter" gewesen wäre, a. a. O., 288. 17 BGH N J W 1993, 1596. 18 BGH N J W 1994, 1735. 19 BVerfGE 18, 344, 352 ; Ε 69, 112, 120. 20 BVerfGE 82, 286, 301/2.

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So revidierte denn der X. Zivilsenat seine ursprüngliche Auffassung in der Folgeentscheidung vom 22. 11. 199421 aufgrund der Vorgaben der Vereinigten Großen Senate (an die er nach § 138 Abs. 1 S. 3 GVG gebunden ist) dahin, daß er die Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO abwies : Da an die in früheren Jahren aufgestellten Mitwirkungsgrundsätze weniger strenge Anforderungen zu stellen seien als künftig und die „freie" Zuordnung der einzelnen Sache zu einer Richterbank auch nicht willkürlich gewesen sei, müsse der Besetzungsmangel im Ausgangsverfahren hingenommen werden. 4. Anhand des aktuellen deutschen Streits um die Geschäftsverteilung sollte gezeigt werden, daß die verfassungsrechtliche Gewährleistung des gesetzlichen Richters die von verschiedener Seite geforderte normative Präzisierung und Einschränkung bisheriger Spielräume nicht ohne weiteres gebietet. Ob andere Grundrechtsgarantien, wie etwa der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG, dazu unten IV.) dadurch berührt sind, ist damit noch nicht gesagt. Der nun folgende rechtsvergleichende Blick in andere Rechtsordnungen soll sich zunächst auf den gesetzlichen Richter beschränken.

II. Ausländische

Rechte22

1. Europäischer Kontinent

und

Japan

In der französischen Verfassung von 1791 heißt es : „Le situ....". Von dort aus ist der gesetzliche Richter in unterschiedlicher Fomulierung in eine ganze Reihe anderer Verfassungen gelangt: In der schweizerischen Bundesverfassung von 1874 wird der „verfassungsmäßige Richter" (Art. 58 Abs. 1), im österreichischen Bundesverfassungsgesetz von 1929 der „gesetzliche Richter" (Art. 83 Abs. 21 NJW 1995, 332, ZIP 1995, 158. 22 Zu europäischen Verfassungen vgl. die Textausgabe „Die Verfassungen der EGMitgliedsstaaten", 3. Aufl. 1993 ; weitere Verfassungstexte in der Sammlung „Die Staatsverfassungen der Welt", hrsg. vom Inst. f. Int. Ang. der Universität Hamburg, 1960 ff.; Hinweise auch bei Schwab/Gottwald, Verfassung und Zivilprozeß in: Habscheid (Hrsg.), Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung —Generalberichte zum VII. Int. Kongreß für Prozeßrecht, 1983, 1 ff-, 27 ff.

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2)23 und in der italienischen Verfassung von 1947 der „natürliche Richter" (Art. 25 Abs. 1) garantiert. Auch die griechische Verfassung von 1975 entspricht in ihrem Art. 8 dem deutschen Art. 101 GG; gleiches gilt für Art. 17 der niederländischen Verfassung von 1983. In der belgischen (Art. 94. 1, 1831), luxemburgischen (Art. 86, 1868), spanischen (Art. 117 Abs. 3, 1978), dänischen (Art. 61, 1953) und italienischen Verfassung (Art. 102) heißt es zudem, Gerichte könnten nur aufgrund Gesetzes errichtet werden. Und die japanische Verfassung von 1946 (Art. 76 Abs. 2)24 fügt ebenso wie die dänische, italienische und spanische Verfassung ein Verbot von Sondergerichten bzw. Ausnahmegerichten hinzu. Soweit die Verfassungen auf dem europäischen Kontinent und in Japan also ausdrücklich etwas über den gesetzlichen Richter sagen, ist ihnen gemeinsam, daß dessen Gewährleistung zumindest in Form des Verbotes von Ausnahmegerichten existiert und in der überwiegenden Zahl der Verfassungen zudem eine Gesetzesgrundlage für die Errichtung von Gerichten gefordert wird. Danach sind auch in diesen Rechtsordnungen zwar die Justiz- und Verwaltungsorgane gehindert, das jeweils zuständige Gericht nach ihrem Ermessen zu bestimmen. Die Anforderungen an eine im voraus festzusetzende, gerichtsinterne Geschäftsverteilung sind jedoch in den meisten dieser Länder deutlich niedriger als in Deutschland. So wird etwa in Frankreich klar zwischen Zuständigkeit (competence) und gerichtsinterner Geschäftsverteilung (repartition des affaires entre les chambres ou les juges d'une mäme juridiction) unterschieden, die dem Gerichtspräsidenten obliegt. Insbesondere stellen Abweichungen von selbstgesetzten Geschäftsverteilungs-Regeln i. d. R. keinen Verfahrensverstoß mit Rechtsmittelfolgen dar25, geschweige denn einen Verfassungsverstoß mit Verfassungsbeschwerde-Sanktionen 26 . Auch Art. 5 der EMRK wird nicht als Hindernis für die Ausübung eines Geschäftsverteilungs-Ermessens durch die Justizverwaltung angesehen27. Danach hat das Gebot des „gesetzlichen Richters" in den bisher beschriebenen Rechten offenbar eine andere Funktion als die im I. Teil für Deutschland beschriebene. 23 Dazu Wipfelder, DRiZ 1981, 446 und Berchtold, EuGRZ 1982, 246. 24 Deutscher T e x t mit Erläuterungen bei Röhl, Japanische Verfassung (Die Staatsverfassungen der Welt, 1963). 25 Vgl. Cadiet, Droit judiciaire prive (1992), No.98 und 422. 26 Dazu Schwab/Gottwald (s. Fn 22), 27 ff. 27 Vgl. dazu Matscher, öZöffRVölkerR 31 (1980), 1, 18.

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2. England

und USA

In den angelsächsischen Rechtsordnungen28 fehlt die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters vollständig. a) In England lassen sich eine Reihe von Verfahrensgrundsätzen und -regeln ausmachen, die zeigen, daß die Vorstellung von staatlicher Gewährleistung (und Sanktionierung) eines im voraus für jeden Fall feststehenden Richters im Verfahrensrecht keinen Platz hat. Zwar gibt es auch verschiedene Regeln, die ζ. T. Funktionen unseres Entziehungsverbotes wahrnehmen, ohne daß sie jedoch einen höheren Rang hätten als andere Verfahrensnormen 29 . Die sachliche Zuständigkeit in Zivilsachen30 ist in England ζ. T. vom Streitwert, ζ. T. von anderen Zuweisungsregeln abhängig. Die Frage der Geschäftsverteilung innerhalb des High Court sieht auf den ersten Blick wie eine Rechtsweg-Zuständigkeitsfrage aus, da der High Court aus drei fachlich deutlich zu unterscheidenden „Divisions" besteht, die je ihre ganz eigene Geschichte haben und teilweise auch nach verschiedenen Prozeßregeln verfahren31. (Auf der County Court-Ebene handelt es sich wegen der Einzelrichter-Besetzung oft um eine örtliche Zuständigkeitsfrage). Gleichwohl wird der High Court als eineitliches Gericht mit umfassender Zuständigkeit angesehen („all jurisdiction vested in the High Court belongs to all the Divisions alike"32. Die „distribution of business among the Divisions" soll dem Kriterium der „promotion of the more convenient and speedy dispatch of business" sowie der größeren

28 Hier wegen des Negativbefunds zusammen genannt, obgleich gerade im Verfassungsrecht nicht einer Rechtsfamilie angehörend. 29 Ein Rangverhältnis zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht ist dem englischen Common Law mangels Verfassungsgerichtsbarkeit fremd. Zu dem besonderen Charakter gerichtlich erlassener Verfahrensnormen s. u. 30 Es geht dabei um die erstinstanzliche Zuständigkeit der County Courts oder des High Court of Justice, vgl. Jackson/Spencer, The Machinery of Justice in England (8th ed. 1989), 30, 36 ; Langan/Henderson, Civil Procedure (3rd ed. 1983), 3 ff. 31 Der High Court besteht aus der Chancery Division, die die alte equity-Gerichtsbarkeit ausübt, der Queen's Bench Division (einschl. Admiralty Court und Commercial Court) und der Family Division, s. Supreme Court Act 1981, s. 5(1). 32 Section 5(5) Supreme Court Act 1981 ; vgl. Halsbury's Laws of England (3rd ed.), vol. 37-Practice and Procedure, para. 56 ; Jacob, The Fabric of English Civil Justice (1987), 34f.

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Sach- und Fachkunde geeigneter Richter folgen (judges who are specialists in the particular field of law)33. Diese Geschäftsverteilung ist zunächst in einem Anhang zum Supreme Court Act 1981 festgehalten (Schedule 1, para. 1, 2 und 3)34. Allerdings handelt es sich bei solchen Regeln keineswegs um zwingende Vorschriften, deren Nichtbeachtung als rechtmittelfähiger Zuständigkeitsfehler angesehen wird. Vielmehr hat es zunächst der Kläger in der Hand, welche Division er anruft, und erst in der Folge kann das angerufene Gericht nach seinem Ermessen an eine andere Abteilung verweisen, sofern es diese als geeigneter für das Verfahren ansieht (sec. 65(1) und (2) sowie 61 Supreme Court Act 1981)35· Auch kann der Lord Chancellor36 bestimmte Fallgruppen einer anderen Division zuweisen, ζ. T. mit erforderlicher Zustimmung des „senior judge" der Division. Mit Einverständnis des „iudex ad quem" kann der Lord Chancellor auch einzelne Fälle dem Richter einer anderen Division zuweisen. Solche Detail-Regelungen finden sich nicht (nur) im Gesetz (Supreme Court Act 1981, sec. 61), sondern auch in „rules of court", einer auf dem europäischen Kontinent unbekannten Rechtsquelle, mit der englische Gerichte sich selbst Verfahrensregeln geben. Zwar mag dies dem Gewaltenteilungsgrundsatz widersprechen, der indessen dem englischen Recht ohnehin nicht vertraut ist, so daß aus dortiger Sicht gegen die „rulemaking power" der Gerichte keine Bedenken bestehen37. Zwar gelten die „Rules of the Supreme Court"38 als dem Gesetz gegenüber nachrangig. Aber die Einzelheiten von interner Geschäftsverteilung und Verfahrensgestaltung überläßt das Gesetz bewußt den „rules" und „orders", die der Lord Chancellor treffen kann39. Schließlich ist auf eine Besonderheit prozessualer Rollenverteilung in England hinzuweisen, die für die Geschäftsverteilung von zentraler Be33 Halsbury's Laws, para. 56, 63. 34 Abgedr. in Halsbury's Statutes (4th ed. 1991), vol. 11, 1075 ff. 35 Vgl. dazu auch Henkel, England-Rechtsstaat ohne „gesetzlichen Richter" (1971), 37. 36 Nur unzureichend mit „Gerichspräsident" beschrieben, da er gleichzeitig Regierungsmitglied ist, vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. 1 (2. Aufl. 1984), 244. 37 Jacob, The Machinery of the Rule Commitee, in: ders., The Reform of Civil Procedural Law (1982), 323 ; aus dt. Sicht vgl. Koch, Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozeß (1976), 26 ff. 38 Mit Supreme Court of Judicature wird zusammenfassend die aus High Court und Court of Appeal bestehende Gerichtsbarkeit über den County Courts bezeichnet. 39 Details in Halsbury's Laws vol. 37 — Practice and Procedure —, paras 56 ff.

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deutung ist: Eine Reihe wichtiger Funktionen im Verfahren gerade bei der Zuweisung von Rechtsstreiten an bestimmte Abteilungen nehmen nichtrichterliche Personen wahr, die Masters oder Registrars 40 . So wird etwa am High Court jedes Verfahren vom Central Office zunächst einem M a s t e r zugewiesen, der das weitere V o r v e r f a h r e n ( p r e t r i a l ) einschließlich vieler Entscheidungen vertreibt; bekanntlich wird die ganz überwiegende Zahl der Prozesse bereits im Pretrial erledigt 41 . Sofern man also auch den Master als Richter definiert — seine Funktionen und Qualifikationen sprechen dafür — , dann ist auch insoweit festzuhalten, daß ein „gesetzlicher Master/Richter" in England unbekannt ist. Allerdings soll nicht unerwähnt bleiben, daß sich jedenfalls im englischen Strafprozeß in den letzten Jahren mehrfach die Frage nach dem Einfluß der Gerichtsverwaltung auf die Geschäftsverteilung gestellt h a t : So wurde in einer Pilotstudie festgestellt, daß die Clerks -denen die Geschäftsverteilung in den Untergerichten obliegt-durchaus ihre persönlichen Auffassungen von Strafwürdigkeit und Schwere eine Delikts durch Übertragung auf einen besonders milden oder besonders strengen Richter Rechnung tragen können42. b) In der amerikanischen Verfassung findet sich keine Garantie des gesetzlichen Richters. Lediglich die richterliche Unabhängigkeit ist für Bundesrichter — wenn auch nur mittelbar durch Bestimmungen über Lebenszeitberufung und Gehalt — gewährleistet. Das föderative Justizsystem in den USA bringt es mit sich, daß für Bundes- und Staatengerichte unterschiedliche Rechtsquellen maßgeblich sind. Hier soll nur das Verfahren vor den Bundesgerichten zugrundegelegt werden. Für die Bundesgerichte ermächtigt § 137 des Judicial Code 194843 die Gerichte zum Erlaß von „rules and orders" über die Geschäftsverteilung und beauftragt den Chief Judge des District Court mit der Überwachung und Einzelzuweisung bei fehlenden Regeln. Da auch das amerikanische Prozeßrecht durch die Aufteilung des Verfahrens in „pretrial" und

40 Vgl. dazu Jacob, The Fabric of English Civil Justice (1987), 109 ; ders., The Reform of Civil Procedural Law (1982), 349 ff.; aus der dt. Literatur: Zweigert/Kötz, Einführung 1. 243; Henkel, England-Rechtsstaat ohne gesetzlichen Richter, 37 ff.; Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung in England (1995), 48 ff.; Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrages im Zivilprozeß (1988), 85 ff. 41 Statistische Angaben bei Hartwieg, a. a. O., 19. 42 Lovegrove, [1984] Criminal Law Review, 738; Zander, Cases and Materials on the English Legal System (5th ed. 1989), 18 m. w. N. 43 Abgedr. als Title 28 der Gesetzessammlung United States Code.

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„trial" gekennzeichnet ist44, werden zunächst die beim District Court eingehenden Klagen entweder nach jeweiliger Richterkapazität für jeden Verfahrensschritt vom Clerk terminiert und einem Richter zugewiesen (master calendar system) 45 . Moderneres und professioneller gewordenes Court Management in den USA46 hat dazu geführt, daß stattdessen die Fälle „individually assigned", d. h. einem bestimmten Richter für die gesamte pretrial-Phase übertragen werden47. Kommt es zum Trial, dann sieht Rule 40 der Fed. R. Civ. Proc. das Terminieren nach Ermessen der Gerichtsverwaltung vor, was regelmäßig von der Verfügbarkeit von Richterpersonal, von Räumen und in vielen Fällen von der Zusammenstellung einer Civil Jury48 abhängt. -Das Verfahren mit einer Civil Jury verdient deshalb besondere Erwähnung, weil es anders als die Geschäftsverteilung gewisse Elemente der Gewähr des gesetzlichen Richters erkennen läßt: Die aufwendige und meist zeitraubende Zusammenstellung der Jury verläuit nämlich ζ. T. nach ähnlichen Zufallskriterien wie sie für die Geschäftsverteilung in Deutschland maßgeblich sind. Freilich kommt entsprechend der Funktion der Laienbeteiligung hinzu, d a ß die J u r y aus einem möglichst repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft (fair cross section of the community, 28 U. S. C. § 1861) ausgewählt werden soll. Da aber jede Jury für den Einzelfall erst nach dessen Anhängigkeit zusammengestellt wird, gibt es eine Fülle von Regeln sowie Interventionsmöglichkeiten der Parteien, die die Repräsentativität, vor allem aber die Unvoreingenommenheit der Juroren gegenüber dem konkreten Fall gewährleisten soll49. Zwar haben die Juroren nicht die gleichen richterlichen Aufgaben wie 44 Vgl. Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozeßrecht (1988), 33 ff., 54 ff. 45 Note, The Assignment of Cases, 27 StanLRev (1975), 474 ; aus der dt. Literatur Braun, Die Rolle des Federal District Court Judge im Verhältnis zu den Parteien (1986), 27 ff.; Röhl, Gerichtsverwaltung und Court-Management in den USA (1983) 84 ff. 46 Dazu Resnik, Managerial Judges, 96 HarvLRev (1982), 376; Symposium on Litigation Management, 53 UChiLRev (1986), 305; dazu ausführlich auch Röhl, a. a. O., s. auch die Rezension von Koch, RabelsZ 59 (1995)... 47 Heute wird insoweit der Richter durch nichtrichterliches Personal (Masters, Magistrates) ergänzt, der das pretrial-Verfahren weitgehend selbständig betreibt, vgl. 28 U. S. C. §§ 631 ff.; Federal Rules of Civil Procedure 72-76 ; Braun, Die Rolle des Federal District Court Judge, 70 ff. 48 Für „suits at common law" garantiert im VII. Amendment US-Constitution. 49 Einzelheiten in 28 U. S. C. §§ 1861-1867 sowie in den Rules 47 und 48 Fed. R. Civ. Proc. Vgl. auch Schack, Einführung in den US-amerikanische Zivilprozeßrecht (1988), 56 ff.

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der Berufsrichter, der letztlich das Urteil fällt, sondern beschränken sich in ihrem „verdict" nach entsprechender ausführlicher Belehrung durch den Richter über die Rechtslage auf eine Entscheidung über Tatsachen einschließlich der Höhe eines eventuellen Schadensersatzes. Wenn es indessen um die Frage nach Funktionsäquivalenten für den deutschen „gesetzlichen Richter" geht, muß die richterliche Teilaufgabe der Jury mit einbezogen werden. Schließlich sei noch hingewiesen auf die besonderen Zuständigkeitsund Geschäftsverteilungs-Regeln für sog. „komplexe" Verfahren (complex cases)50. Sind mehrere Rechtsstreitigkeiten mit gemeinsamen Rechts- oder Tatsachenfragen in verschiedenen Gerichtsbezirken anhängig — in der amerikanischen Praxis vor allem bei Massendelikten, im Kartell-, Wertpapier-Anlagerecht und im gewerblichen Rechtsschutz verbreitet —, dann kann der Clerk eines District Court, ein beteiligter Richter oder Anwalt im Pretrial-Stadium die Zusammenfassung (consolidation), die Übertragung (transfer) oder Aufteilung (separation) des komplexen Verfahrens durch die Gerichtspräsidenten oder das „Judicial Panel on Multidistrict Litigation" beantragen 51 , um auf diese Weise die durch die Komplexität des Verfahrens ausgelösten prozessualen, oft auch kollisionsrechtlichen Probleme prozeßökonomisch und einheitlich lösen zu können. Auch hier sind die entsprechenden Befugnisse der Gerichtspräsidien und des Judicial Panel durch große Ermessensspielräume und besondere Flexibilität gekennzeichnet, die mit einem Konzept des „gesetzlichen Richters" kaum zu verwirklichen wären.

III. Gründe für

Divergenzen

Die eingangs bereits angekündigte Frage nach den Gründen dafür, daß der „gesetzliche Richter" in Deutschland so ernst genommen wird, wäh50 Complex cases sind solche, die entweder bei gleichen T a t f r a g e n in mehreren Gerichtsbezirken anhängig sind (multi district litigation) oder quantitativ oder qualitativ ungewöhnlich komplexe Probleme bieten (ζ. B. Massenverfahren). Vgl. dazu 28 U. S. C. 1407; Federal Judicial Center, Manual for Complex Litigation (2 nd ed. 1985) ; American Law Institute-Complex Litigation Project/Final D r a f t 1993 (Vorschlag eines Complex Litigation S t a t u t e ) . - A u s der Literatur vgl. die Nachweise bei Peterson/Zekoll, Mass Torts, Am. J. Comp. L. 1994-Supplement, 79 (note 120). 51 Das nach den Rules of Procedure of the Judicial Panel on Mulitdistrict Lititgation (1981) verfährt. Vgl. zum Ganzen auch Koch/Zekoll, M a m m u t v e r f a h r e n im amerikanischen und deutschen Zivilprozeß, RIW 1985,837.

Rechtsvergleichende F r a g e n zum „Gesetzlichen Richter"

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rend das Entziehungsverbot im Ausland entweder unbekannt ist oder aber allenfalls in evidenten Manipulationsfällen zur Abhilfe führt, kann zunächst historisch beantwortet werden. Die unter II. 1. nachgewiesenen Verfassungstexte deuten zunächst darauf hin, daß nicht erst die jüngeren deutschen Erfahrungen mit Sondergerichten und Richtermanipulation 52 für die ungewöhnliche Sensibilität mit dem „gesetzlichen Richter" hierzulande verantwortlich sind. Denn wir finden sie im wesentlichen gleichlautend in einer ganzen Reihe von Verfassungen verschiedener Rechtskreise. Allerdings vermögen die älteren geschichtlichen Erfahrungen aus der Epoche des Absolutismus allein noch keine befriedigende Erklärung für die deutsche Intensität der Diskussion zu liefern, teilen wir diese Erfahrungen doch mit einer Reihe von Nachbarn und erforderten sie doch andere Vorkehrungen als solche, die die Vereinigten Großen Senate des BGH im Falle überbesetzter Spruchkörper getroffen haben. Das Entziehungsverbot richtete sich ursprünglich gegen Eingriffe des absoluten Souveräns in die Neutralität und Unabhängigkeit des Richters: Kabinettsjustiz sollte verhindert werden53. Um solche Eingriffe von außen geht es in den meisten Fällen jedoch nicht, in denen hierzulandeheute der „gesetzliche Richter" berufen wird. Vielmehr hat sich in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland die Zielrichtung des Verfassungsgrundsatzes vor allem nach dem 2. Weltkrieg deutlich verschoben und soll nunmehr auch innerhalb der rechtsprechenden Gewalt verhindern, daß sachfremde Einflüsse das rechtsstaatliche Objektivitätsgebot und die Rechtssicherheit gefährden 54 . Die Eingriffe der NS-Justizverwaltung in die Zuständigkeit vor allem von Strafgerichten, aber auch von Zivilgerichten in bestimmten Gebieten (wie etwa im Familienrecht) 55 haben also maßgeblich dazu beigetragen, daß der „gesetzliche Richter" als grundrechtsartige Verfassungsbestimmung im GG verankert wurde und daß 52 Vgl. dazu die Nachweise in AK-GG/ Wassermann (2. Aufl. 1989), Art. 101 Rn. 2. 53 BVerfGE 4, 412, 416; Vgl. schon Kern, Der gesetzliche Richter (1927), 11 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG (8. Aufl. 1995), Art. 101 Rn. 4 ; von Münch/Kunig, GG (2. Aufl. 1983), Art. 101, Rn. 2 ; AK-GG/ Wassermann, Art. 101, Rn 8. 54 Vgl. BVerfGE 20, 336, 344 ; Ε 82, 159, 194 ; Jarass/Pieroth, GG (3.Aufl. 1995), Art. 101 Rn. 1. 55 Vgl. dazu etwa L. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933-1940 (2. Aufl. 1990), 944 ff., 973 ff., 1133 ; A. Wagner, Die Umgestaltung der Gerichtsverfassung und des Verfahrens- und Richterrechts im nationalsozialistischen Saat, in: Weinkauff (Hrsg.), Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, I (1968), 206.

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die Rechtsprechung ihm stets besondere Aufmerksamkeit widmete. Im auffälligsten Kontrast zum deutschen „gesetzlichen Richter" steht das Defizit in den angelsächsischen Rechtsordnungen, wo allenfalls bei den Kriterien der Jury-Auswahl gewisse Anklänge an die Gewährleistung des „gesetzlichen Richters" zu hören waren. Als Erklärung bietet sich zunächst die besondere Stellung der Richter im Common LawRechtskreis an, deren Zahl im Verhältnis zur Bevölkerung erheblich kleiner ist als in manch anderen Ländern. Ihre Rekrutierung aus dem Anwaltsstand, die damit verbundene langjährige Erfahrung, die deutlich passivere Rolle im Prozeß, die den Richter von vornherein weniger in die „Untiefen" der parteilichen Auseinandersetzungen hineinzieht56, und die einem Fallrechtssystem eigene, rechtsschöpferische Tätigkeit (und Verantwortung) sind nur einige der Faktoren, die das beträchtliche Ansehen und das Sozialprestige (nicht selten auch das elitäre Selbstverständnis) ausmachen, das Richtern dieses Rechtskreises gemeinhin zugeschrieben wird57. Zwar lassen sich an solchen pauschalen Kennzeichnungen mit guten Gründen jeweils auch Fragezeichen anbringen, und die Justizforschung hat in den letzen Jahrzehnten einiges zur Desillusionierung und Differenzierung beigetragen. Indessen dürfte das Vertrauen in die Justiz in England und in den USA auch heute immer noch größer sein als auf dem europäischen Kontinent. Zu solchen eher sozialpsychologischen Erklärungsversuchen für die geringere Furcht vor Manipulation und Mißbrauch des Richteramtes kommen weitere Faktoren hinzu, die erkennen lassen, daß entsprechende Befürchtungen im Common Law wenig Nahrung finden und die vor allem im andersartigen Verfahrensrecht ihre Wurzeln haben: So sind Kollegialgerichte, die in der deutschen Debatte um die Verteilung der Geschäfte auf den gesetzlichen Richter eine so große Rolle spielen, im Common Law jedenfalls in 1. Instanz die Ausnahme. Selbst bei Kollegialgerichten in höheren Instanzen taucht das Problem spruchkörperinterner Geschäftsverteilung kaum auf, da es einen „Berichterstatter", dem der Fall zur Vorbereitung zugeteilt wird, ohnehin nicht gibt: im „adversary system", das ganz auf die Beibringung von Tatsachen und Rechtsgrundlagen durch die Parteien angewiesen ist, ist 56 „The Judge must not descend into the arena, otherwise his vision will be clouded by the dust of the conflict", Lord Denning, M. R., i n : J a m e s v. Nat. Coal Board (1957) 2 AUER 159. 57 Vgl. nur Zweigert/Kotz, Einführung in die Rechtsvergleichung I, § 17 (238 ff·), § 19 II (§ 281), § 20 (296 ff.).

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für ihn kein Raum. Wohl wird abschließend das Abfassen bzw. die mündliche Begründung der Entscheidung von einem der Richter übernommen, was aber bekanntlich kein Mitglied des Spruchkörpers hindert, mit einer eigenen „konkurrierenden" oder abweichenden Meinung an die Öffentlichkeit zu treten. Ferner zeugt die traditionelle Kompetenz der Gerichte zum Erlaß von Verfahrensregeln (rulemaking power) von der Selbstverständlichkeit, mit der Richtern die Regelung ihrer eigenen Tätigkeit einschließlich der Geschäftsverteilung überlassen wird. Auch die Vorstellung von einer „inherent jurisdiction" der Gerichte, also von einer a-priori- oder Auffang-Zuständigkeit, die von den Gerichten selbst nach Art einer Kompetenz-Kompetenz in Anspruch genommen werden kann58, gehört zu solchen Bedingungen für Vertrauen in das in sich geschlossene System englischer Justiz. -Auf die Bedeutung, die die Civil Jury jedenfalls in den USA hat, wurde bereits hingewiesen. Die mit der Jury-Auswahl verbundenen Sicherungen der Unvoreingenommenheit der Laienrichter mindern das Bedürfnis nach besonderen Entziehungsregeln ebenfalls. Und schließlich sei auf eine weitere grundlegende Richterkompetenz im Common Law hingewiesen, die deutlicher Ausdruck der dort fehlenden Fessel des „gesetzlichen Richters" ist: die forum non conveniens-Lehre 59 . Ein Ermessen des Richters, sich in „ungeeigneten" Fällen für unzuständig zu erklären, wäre mit dem Entziehungsverbot kaum vereinbar, wenn die Anwendungsvoraussetzungen nicht näher präzisiert werden60. Die Lehre vom „forum non conveniens" stellt also ein weiteres Beispiel für das Fehlen des gesetzlichen Richters im Common Law dar und macht zugleich deutlich, wie sehr der verfassungsrechtliche Grundsatz im deutschen Recht auf konkretere Ausfüllung durch Prozeßregeln angewiesen ist.

58 Dazu Jacob, Fabric of Civil Justice, 60. 59 Dazu Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht (1990), Rn. 493 ff. 60 Schlosser, IPRax 1983, 285. Der Versuch des BGH, den exorbitanten Vermögensgerichtsstand unzugänglicher zu gestalten (BGH NJW 1991, 3092-Zypernfall), ist ebenfalls auf Kritik gestoßen, wenn auch nicht mit dem Entziehungsargument, vgl. Schack, JZ 1992, 54 ; W. Lake, ZZP 105, 314 ; Schütze, DWiR 1991, 239.

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IV. „Entziehung des gesetzlichen Richters" als Ersatz

für

andere Rügen? Die rechtsvergleichende Umschau hat immerhin einige historische, prozessuale und sozialpsychologische Gründe dafür zutage gefördert, daß das Bedürfnis nach ausdrücklicher Gewährleistung und Regelung des gesetzlichen Richters in verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist. Die besondere Intensität, mit der in Deutschland die damit zusammenhängenden Fragen der Geschäftsverteilung, der Spruchkörperbesetzung, der Berichterstatter-Bestimmung geführt wird, dürfte jedoch noch andere Gründe haben, die durch Berufung auf den gesetzlichen Richter verdeckt werden. Abschließend soll daher der These nachgegangen werden, mit Art. 101 Abs. 1 GG würden inzwischen Interessen verfolgt, die nur noch schwer mit dem Schutzzweck der Vorschrift begründbar sind. Mit Art. 101 Abs. 1 sollen, so heißt es durchgängig, „sachfremde Einflüsse" von der rechtsprechenden Gewalt ferngehalten werden61. Danach drängt sich sogleich die Anschlußfrage auf, was denn als „sachfremd" anzusehen ist, wer insbesondere definiert, wann etwas als noch sachgemäß gelten kann: Sind ζ. B. arbeitsteilige Erwägungen sachgerecht, wonach ein Verfahren demjenigen Richter zugewiesen wird, der in dem betreffenden Rechtsgebiet besondere Erfahrungen besitzt? Oder verhielte sich nur eine blinde Justiz sachgerecht, die die Verfahren lediglich nach dem Zufallsprinzip auf Berichterstatter im Kollegialgericht überträgt? Art. 101 Abs. 1 GG soll die Rechtsstaatlichkeit auch der rechtsprechenden Tätigkeit garantieren und mit dem „gesetzlichen Richter" das öffentliche Vertrauen in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit des Gerichts verstärken. Damit soll verhindert werden, daß durch eine gezielte Auswahl von Richtern das Ergebnis der Entscheidung beeinflußt wird62. Auch durch eine Zuteilung von Verfahren an einen Richter mit besonderer Expertise auf dem streitigen Rechtsgebiet wird naturgemäß 61 Vgl. Kissel, GVG (2. Aufl. 1994), § 16 Rn. 11; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht (6. Aufl. 1987), 58; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG (8. Aufl. 1995), Art. 101 Rn. 8 b. 62 BVerfGE 82, 286 = N J W 1991, 217.

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„das Ergebnis der Entscheidung beeinflußt". Man kann zwar darüber streiten, ob Expertise zu Betriebsblindheit führt und ob Unbefangenheit fehlende Sachkenntnis des Richters ausgleichen kann. Aber es kann jedenfalls nicht der Sinn des verfassungsrechtlichen Entziehungsverbots sein, Geschäftsverteilungs-Kriterien auszuschließen, die besonders sachnah zur „optimalen Erledigung der anfallenden Aufgaben des Gerichts"63 beitragen. Die Befürchtungen, die in der deutschen Diskussion über Geschäftsverteilungs -Manipulationen immer wieder zu hören sind, betreffen denn auch bei näherem Hinsehen nicht immer die drohende Entziehung des gesetzlichen Richters, sondern eher die Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit und des Demokratieprinzips. Wenn es etwa bei Wietel — Richter am BGH und einer der schärfsten Kritiker der Geschäftsverteilungspraxis bei diesem Gericht — heißt, beim BGH werde die Bestimmung des Berichterstatters in jedem Einzelfall durch den Senatsvorsitzenden nach dessen eigener Vorstellung ohne Bindung an einen Geschäftsverteilungsplan vorgenommen64, so wird damit dem Rechtssuchenden nicht der „gesetzliche Richter" entzogen, sondern möglicherweise die richterliche Unabhängigkeit des Berichterstatters (und der übergangenen Senatsmitglieder) berührt. Kissel — früherer BAG-Präsident — plädiert für erweiterte Mitwirkungsbefugnisse der Richter eines Spruchkörpers bei der internen Geschäftsverteilung und nimmt damit in differenzierter Form die Forderung nach mehr „gerichtsinterner Demokratie" 65 auf. Es geht also in dieser Debatte auch um die Verteilung von Einfluß und Macht, die jedenfalls vordergründig beim „gesetzlichen Richter" keine Rolle spielt. Und schließlich mag die vorschnelle Berufung auf den gesetzlichen Richter nicht selten durch die Exklusivität des Art. 93 Abs. 1 GG beeinflußt sein: Die Gefährdung richterlicher Unabhängigkeit oder Einschränkungen gerichtsinterner Teilhabe vermögen eine Verfassungsbeschwerde nicht zu begründen, wohl aber die Richterentziehung (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG), deren Verbot zumindest grundrechtsähnlichen Charakter hat66. So ist es zu erklären, daß die Verfassungsrechtsprechung den Anwendungsbereich des Entziehungsverbots dadurch erweitert hat, daß „gesetzlicher Richter" nur ein solcher ist, der „in jeder 63 64 65 66

Kissel, GVG § 21 e Rn. 74. BB 1995, 1197. So der Titel seines Vortrage, DRiZ 1995, 125. Jarass/Pieroth, GG (3. Aufl. 1995), Art. 101 Rn. 1.

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Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes genügt"67. Auch ein Richter, dessen Unabhängigkeit oder Neutralität nicht gewährleistet scheint, ist danach kein gesetzlicher Richter, so daß das Entziehungsverbot solche Verfassungsgarantien wie die des Art. 97 GG mit umfaßt 68 . Daher liegt zwar die Berufung auf den „gesetzlichen Richter" im Verfahren schon aus Gründen möglichst umfassenden Verfassungsrechtsschutzes nahe. Sofern wir aber nach der Bedeutung des gesetzlichen Richters unter rechtsvergleichendem Blickwinkel fragen, wird daran erneut deutlich, daß dieses Grundrecht in Deutschland nicht selten als Ersatz für andere Rügen dient, deren Begründung auch einen anderen Schutzanspruch geltend machen müßte.

67 Ζ. B. BVerfGE 10, 200, 213 ; Ε 21, 139, 146. 68 Methodische Bedenken dagegen bei Bettermann, AöR 92 (1967), 496, 507 ; AöR 94, (1969) 263, 271; vgl. auch v. Münch/Kunig, GG Art. 101 Rn. 18 f.; AK-GG/ Wassermann, Art. 101 Rn. 11.

Wahrheit und Beweis im Zivilprozeß von

Prof. Dr. Dieter Leipold

Freiburg i. Br.

Professor an der Univeresität Freiburg, Direktor des Instituts für Deutsches und Ausländisches Zivilprozeßrecht

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Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

Widmung Was ist Wahrheit ? Wahrheit im Zivilprozeß Wahrnehmung als Wahrheitserkenntnis Fremdwahrnehmung und Beweismaß Beweismaß und Wahrheit Das Regelbeweismaß Herabsetzung des Beweismaßes und Wahrheit Tatsachenfeststellung (Sachverhaltskonstituierung) ohne Anspruch auf Erkenntnis der Wahrheit X. Schlußbemerkung

Wahrheit und Beweis im Zivilprozeß

I.

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Widmung

Hideo Nakamura hat sich um die zivilprozessuale Rechtsvergleichung in hohem Maße verdient gemacht, ganz besonders im Japanischdeutschen Verhältnis. Wir verdanken ihm unentbehrliches Handwerkszeug wie grundlegende Denkanstöße. Zum ersten sei etwa auf seine Ubersetzung der japanischen ZPO ins Deutsche 1 verwiesen, zum zweiten — um nur einen einzigen Beitrag herauszugreifen — auf seine Betrachtungen zu den Zivilprozeßsystemen des kontinental-europäischen und des angloamerikanischen Rechts2. Dem bedeutenden Forscher, dessen Lebenswerk von der Suche nach der Wahrheit geprägt ist, seien die folgenden um die Wahrheit kreisenden Gedanken mit herzlichen Glückwünschen zum 70Geburtstag gewidmet.

II. Was ist Wahrheit ? Pilatus sagte zu ihm : Also bist du doch ein König ? Jesus antwortete : Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit ? (Evangelium nach Johannes 18, 37 - 38). Das ist die berühmte Pilatus-Frage, die man zu zitieren pflegt, wenn es um die schwierige Suche nach der Wahrheit geht. Eine Antwort erhält Pilatus nicht. Jesus hat alles Notwendige schon vorher gesagt. Die Wahrheit ist bei Gott, und Jesus legt von dieser Wahrheit Zeugnis für die Menschen ab. Die Menschen aber haben die Fähigkeit, diese göttliche Wahrheit zu hören und anzunehmen. Freilich gilt dies nicht für alle Menschen — sie müssen selbst aus der Wahrheit sein. Pilatus gelang im Prozeß Jesu der rechte Umgang mit der Wahrheit nicht. Zwar erkannte er die Wahrheit und sagte zu den Juden, er finde keinen Grund, Jesus zu 1 Hideo Nakamura - Barbara Huber, Die japanische ZPO in deutscher Sprache. Mit einer Einführung in das japanische Zivilprozeßrecht von Hideo Nakamura, 1978. 2 Hideo Nakamura, Die Institution und Dogmatik des Zivilprozesses — eine Betrachtung vom Standpunkt des Rechtskreises aus, ZZP Bd. 99 (1986), 1.

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verurteilen. Doch vermochte er nicht, nach dieser Wahrheit zu richten. Er beugte sich dem Geschrei der Menge und ließ Jesus geißeln und kreuzigen. Jesus selbst hatte vor dem Richten gewarnt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. (Evangelium nach Matthäus 7, 1 - 2)

III. Wahrheit im

Zivilprozeß

Das menschliche Recht kommt ohne Richter und Urteil nicht aus. Die Grenzen der Wahrheitsfindung aber werden gerade im Prozeß schmerzlich spürbar. Macht es überhaupt Sinn, vom Richter die Erkenntnis der Wahrheit zu verlangen ? Oder tut man gut daran, sich mit weniger und leichter Erreichbarem zu begnügen ? Fragt man nach der Bedeutung der Wahrheit und ihrer Erkenntnis für den Zivilprozeß, so wird man den Blick alsbald auf Tatsachenfeststellung und Beweis lenken. Anders als bei der Frage nach der Wahrheit in einem theologischen oder philosophischen Sinn scheint man hier einigermaßen festen Boden unter den Füßen zu haben. Nach § 286 Abs. 1 Satz 1 der deutschen Zivilprozeßordnung (dZPO) hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. § 185 der japanischen Zivilprozeßordnung (jZPO) stimmt damit nahezu wörtlich überein3. Erkenntnisziel des Richters ist also nichts anderes als die Wahrheit. Allerdings geht es dabei um Wahrheitsfeststellung in einem sehr punktuellen Sinn. Der Richter hat die tatsächlichen Behauptungen der Parteien einer Wahrheitsüberprüfung zu unterziehen, nicht aber von sich aus die wahre Tatsachenlage in einem umfassenden Sinne festzustellen. § 286 Abs. 1 Saze 1 dZPO geht davon aus, die tatsächliche Behauptung könne ebenso gut für wahr oder für nicht wahr zu erachten sein. Nach § 3 Degegen hat § 286 Abs. 1 Satz 2 dZPO, wonach im Urteil die Gründe anzugeben sind, die für die richterliche Uberzeugung leitend gewesen sind, im japanischen Gesetz keine unmittelbare Parallele. Ich beziehe mich jeweils auf die Übersetzung der jZPO durch Nakamura / Huber (s. Fn. 1).

Wahrheit und Beweis im Zivilprozeß

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138 Abs. 1 dZPO, einer weiteren zentralen Bestimmung über die Wahrheit im Zivilprozeß, sind die Parteien allerdings verpflichtet, ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben. Die Verpflichtung aus § 138 Abs. 1 dZPO kann sich jedoch nur auf die subjektive Wahrheit, die Wahrhaftigkeit der Behauptung, beziehen, während es in § 286 Abs. 1 S. 1 dZPO um die Wahrheit als solche geht. Ob die tatsächliche Behauptung der Partei wahr ist, hängt jedenfalls vom Erkenntnisvermögen der Partei, darüber hinaus freilich auch von ihrer Wahrheitsliebe ab. In der japanischen ZPO gibt es keine dem § 138 dZPO entsprechende Bestimmung; möglicherweise liegt dem eine realitätsnähere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Wahrheit und Parteibehauptungen zugrunde. Den Erkenntnisvorgang, mit dem der Richter die Wahrheit oder Unwahrheit einer tatsächlichen Behauptung feststellen soll, pflegt man als freie Beweiswürdigung zu bezeichnen. Man wird damit vom Begriff der Wahrheit auf den des Beweises und des Beweismittels verwiesen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß nach § 286 Abs. 1 Satz 1 dZPO die Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen gleichberechtigt neben der Berücksichtigung des Ergebnisses einer Beweisaufnahme steht. Damit wird dem Richter gestattet, aus den im Laufe der Verhandlung abgegebenen Erklärungen Schlußfolgerungen auf die Wahrheit oder Unwahrheit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu ziehen. Es gibt also auch eine Wahrheitsfeststellung ohne Beweismittel, oder, anders ausgedrückt, in einem weiteren Sinne ist Beweismittel eben auch das gesamte Prozeßgeschehen. Damit stellt sich die richterliche Wahrheitsfindung als eine Schlußfolgerung aus Beweisaufnahme und Verhandlungsinhalt dar. Die Reichweite der Aussage, die der Richter schließlich über die Wahrheit oder Unwahrheit einer Behauptung trifft, erfährt auf diese Weise eine erhebliche Relativierung. Es geht nicht um die Wahrheit in einem absoluten Sinn, sondern um eine Aussage über die Wahrheit auf der Grundlage des vorhandenen Prozeßstoffs, also um eine relative Wahrheit.

IV. Wahrnehmung als

Wahrheitserkenntnis

Eine tatsächliche Behauptung ist eine Aussage, ein Urteil im Sinne der Logik, über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Tatsache. Die

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Aussage ist wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die Wahrheit oder Unwahrheit kommt also der Aussage (dem Urteil im Sinne der Logik) zu, nicht der Tatsache selbst. Die Tatsache ist vielmehr in der Wirklichkeit vorhanden oder nicht vorhanden; sie existiert oder existiert nicht. Während § 286 Abs. 1 Satz 1 dZPO völlig zutreffend von der Wahrheit oder Unwahrheit tatsächlicher Behauptungen spricht, ist an anderer Stelle (§§ 448, 452 Abs. 1 dZPO) ungenau von der Wahrheit oder Unwahrheit einer zu erweisenden Tatsache die Rede. Will der Richter zu einer Erkenntnis über die Wahrheit oder Unwahrheit einer tatsächlichen Behauptung gelangen, so muß er die Existenz oder Nichtexistenz der behaupteten Tatsache feststellen. Die Feststellung der Wirklichkeit ist dem Menschen durch seine Sinnesorgane möglich; mit diesen nimmt er die Wirklichkeit wahr. Das Wort „wahrnehmen" ist sehr aussagekräftig. Der Erkennende „nimmt" etwas, d. h. er erhält einen sinnlichen Eindruck, indem er etwas sieht, hört usw. Er nimmt es aber damit auch „wahr", d. h. aufgrund des sinnlichen Eindrucks vermag er eine Aussage über die Existenz des Gesehenen, Gehörten usw. als zutreffendes und damit wahres Urteil über die Tatsache zu formulieren. Will der Richter eine tatsächliche Behauptung als wahr erkennen, so muß die behauptete Tatsache also wahrgenommen werden. Dabei ist es denkbar, wenn auch selten, daß der Richter die behauptete Tatsache selbst wahrnimmt 4 . Dies ist möglich, wenn eine Beweisaufnahme durch Augenschein erfolgt, wobei der Ausdruck Augenschein nach allgemeiner Auffassung nicht wörtlich zu verstehen ist, sondern auch einen Beweis durch Wahrnehmung mittels der anderen Sinne umfaßt. Wenn also behauptet wurde, ein Gebäude sei eingestürzt, und der Richter nimmt das Gebäude in Augenschein und sieht, daß es eingestürzt ist, so vermag er damit die Übereinstimmung der tatsächlichen Behauptung mit der Wirklichkeit, also die Wahrheit der Behauptung, festzustellen. Bei einer solchen Wahrheitsfeststellung durch eigene Wahrnehmung des Richters ist eine Beweiswürdigung im Sinne einer Überzeugungsbildung nicht oder nur in einem sehr eingeschränkten Sinne nötig. Der Richter muß im Grunde nur von seiner eigenen Fähigkeit zur Wahrnehmung (also etwa seinem Seh- oder Hörvermögen) überzeugt sein. Im übrigen aber stellt sich in diesen Fällen die Frage eines Beweismaßstabes nicht.

4 Zur Unterscheidung von eigener Wahrnehmung des Richters und Fremdbeobachtung bereits Rüssmann in Habscheid / Beys (unten Fn. 5), S. 698 f.

Wahrheit und Beweis im Zivilprozeß

V. Fremdwahrnehmung

und

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Beweismaß

Nur selten wird aber dem Richter eine eigene Wahrnehmung der behaupteten Tatsachen möglich sein. In den anderen Fällen muß die Wahrnehmung durch andere Personen dazu dienen, dem Richter eine Feststellung über die Existenz der Tatsache zu ermöglichen. Am Beispiel eines Zeugenbeweises läßt sich dies verdeutlichen. Der Zeuge hat die von der Partei behauptete Tatsache wahrgenommen. Er sagt darüber vor Gericht aus. Der Richter vermag nur die Aussage des Zeugen zu hören, also wahrzunehmen. Er kann nur mittels der Aussage des Zeugen zu einer Feststellung der Existenz der Tatsache gelangen. Dazu muß er bewerten, ob die Aussage des Zeugen auf einer zutreffenden Wahrnehmung beruht, ob sich der Zeuge richtig an die Wahrnehmung erinnert und ob er das, woran er sich erinnert, zutreffend vor Gericht ausgesagt hat. Eine Würdigung des Beweises im Sinne einer Beurteilung des Beweiswertes der Aussage ist also unumgänglich. Wenn das Gesetz den Richter insoweit auf die freie Überzeugung verweist, so ist damit gesagt, daß es im allgemeinen keine gesetzlichen Beweisregeln gibt, die dem Richter die Aufgabe der Bewertung abnehmen. Dies wird in § 286 Abs. 2 dZPO noch verdeutlicht, wonach der Richter nur in den durch das Gesetz bezeichneten Fällen an gesetzliche Beweisregeln gebunden ist. Die Freistellung von gesetzlichen Beweisregeln beantwortet aber nicht die Frage, worin der Maßstab für die Gewinnung der richterlichen Wahrheitsfeststellung liegt, wie (mit anderen Worten) das erforderliche Beweismaß zu bestimmen ist.

VI. Beweismaß

und

Wahrheit

Das Gesetz verwendet den Begriff des Beweismaßes nicht. In die deutsche Rechtsprechung fand er, wenn ich recht sehe, erst in jüngerer Zeit ausdrücklich Eingang. Die intensive wissenschaftliche Diskussion5, 5 Aus der sehr umfangreichen Literatur seien nur erwähnt Maassen, Beweismaßproblem eim Schadensersatzprozeß (1975) ; Musielak, Die Grundlagen der Beweis-

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die es in Deutschland seit längerer Zeit über Problem des Beweismaßes gibt, scheint die Rechtsprechung wenig zu interessieren. Möglicherweise sieht man darin in erster Linie theoretische Bemühungen, die der Praxis nicht mehr bieten, als die herkömmlich verwendeten Formeln. Freilich nimmt sich die Rechtsprechung ihrerseits beträchtliche Freiheit, von den grundsätzlich geltenden Beweisanforderungen abzuweichen. So sind Entwicklungstendenzen der Rechtsprechung erkennbar, auch wenn die Grundfragen als solche von den Gerichten nicht oder selten thematisiert werden. Bei der erwähnten rechtswissenschaftlichen Diskussion geht es zum einen um die Beteiligung subjektiver oder objektiver Faktoren bei der richterlichen Beweiswürdigung, zum andern um die Frage, welche Beweisstärke erreicht werden muß, um dem Richter die Feststellung der Wahrheit oder Unwahrheit einer Behauptung zu erlauben. Ob es Uberhaupt möglich ist, die vom Gesetz verwendete Formulierung der freien richterlichen Überzeugung durch einzelne Kriterien zu konkretisieren, ist nicht ganz sicher. Faßt man die Uberzeugung als individuelles psychologisches Phänomen auf, so kommt man kaum über die Feststellung hinaus, die Beweiswürdigung liege allein in der persönlichen Verantwortung des Richters. Die vom BGH zur Umschreibung der Überzeugung verwendeten Formeln scheinen zunächst in der Tat auf ein solches rein subjektives Verständnis des Beweismaßstabs hinauszulaufen. Im berühmt gewordenen Fall Anastasia 6 , auf den hier regelmäßig Bezug genommen wird, formulierte der BGH, der Richter dürfe sich nicht mit last im Zivilprozeß (1975) ; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978) ; Walter, Freie Beweiswürdigung (1979) ; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung (1979) ; Mötsch, Vom rechtsgenügenden Beweis (1983) ; M. Huber, Das Beweismaß im Zivilprozeß (1983) ; Prutting, Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983) ; Referate von Baumgärtel und Kargados sowie Diskussionsbeiträge in Habscheid / Beys, Grundfragen des Zivilprozeßrechts — die internationale Dimension (1991), 541 ff. — Hinsichtlich meiner eigenen Auffassung darf ich verweisen auf Stein-Jonas-Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 286 Rdnr. 1 ff., sowie auf Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß (1985), auch abgedruckt in HanreiTimes Nr. 562 vom 15. 10. 1985, S. 39 in japanischer Übersetzung durch Prof. Ichiro Kasuga. 6 BGHZ 53, 245. Die Klägerin begründete erbrechtliche Ansprüche damit, sie sei die Großfürstin Anastasia Nikolajewna Romanow, die jüngste Tochter des letzten russischen Zaren Nikolaus II. aus dem Hause Romanow; sie habe bei der Ermordung der Zarenfamilie im Jahre 1918 entkommen können. Es ging also um den Beweis der Identität der Person, den die Gerichte übrigens im Ergebnis nicht als geführt betrachteten. Die im folgenden zitierten Passagen finden sich auf S. 255 f. des Urteils.

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einer bloßen Wahrscheinlichkeit beruhigen ; im übrigen stelle aber § 286 dZPO nur darauf ab, ob der Richter selbst die Überzeugung von der Wahrheit einer Behauptung gewonnen habe. Diese persönliche Gewißheit sei für die Entscheidung notwendig, und allein der Tatrichter habe ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen, die Entscheidung zu treffen, ob er die an sich möglichen Zweifel Uberwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann. Die Betonung des subjektiven Elements, die schon in den Worten „persönliche Gewißheit" hervortritt, wird durch den Hinweis auf das Gewissen des Richters noch unterstrichen. Etwas Persönlicheres und Subjektiveres als das Gewissen kann man sich kaum vorstellen. Doch scheint es, als ob der Bogen gerade damit überspannt wird und als ob dies dem BGH durchaus bewußt geworden sei. Denn im selben Atemzug, in dem von persönlicher Gewißheit und vom Gewissen die Rede ist, fügt der BGH hinzu, eine von allen Zweifeln freie Uberzeugung setze das Gesetz nicht voraus. Der Richter dürfe und müsse sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Daran ist weniger bemerkenswert, daß der Richter so vorgehen darf, daß es ihm also gestattet ist, sich trotz gewissen Anlasses zu Zweifeln (und, wie man hinzufügen muß, ohne diese Zweifel verschweigen zu müssen) schließlich doch zu einer persönlichen Gewißheit durchzuringen. Die objektivierende Tendenz steckt vielmehr in der Vorstellung, der Richter müsse sich auch mit einem entsprechenden Grad von Gewißheit begnügen. Er ist also nicht völlig frei, sondern wenn ein bestimmtes Quantum an Beweisstärke erreicht ist, so wird im Sinne einer normativen Anforderung vom Richter auch verlangt, sich eine entsprechende richterliche Überzeugung zu bilden. Dagegen kann man nicht einwenden, die Formulierung, der Richter müsse zu einer Überzeugung gelangen, sei nicht als normative Vorgabe, sondern sprachlich in dem Sinne zu verstehen, es bleibe dem Richter nichts anderes übrig, er könne eben in vielen Fällen nicht anders vorgehen. Der BGH ist nämlich durchaus gewillt, im Rahmen der revisionsgerichtlichen Kontrolle den Beweismaßstab auch gegen die Entscheidung des Richters der Vorinstanz durchzusetzen. Dies wird in einer neueren Entscheidung des BGH 7 besonders deutlich, die 7 BGH N J W 1993, 935, 937 f.

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zugleich ein gutes Beispiel für die Tendenz zu einer intensiveren Überprüfung der Beweiswürdigung durch das Revisionsgericht darstellt. In diesem Rechtsstreit beanspruchte eine Ehefrau Goldmünzen, die ein Gläubiger ihres Ehemannes hatte pfänden lassen, mit der Begründung für sich, es handle sich um ihr Eigentum. Die Einzelheiten des komplizierten Sachverhalts tun nichts zur Sache. Das Berufungsgericht war bei seiner Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gekommen, die Ehefrau habe den Beweis ihres Eigentums 8 nicht geführt. Der BGH als Revisionsgericht darf nun nicht einfach die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts durch seine eigene Würdigung ersetzen. Er ist vielmehr gemäß § 561 Abs. 2 dZPO an die Feststellung der Vorinstanz, eine tatsächliche Behauptung sei wahr oder nicht wahr, gebunden, sofern nicht im Hinblick auf diese Feststellung eine Rechtsverletzung vorliegt. Ganz ähnlich formuliert § 403 jZPO, das Revisionsgericht sei an die im angefochtenen Urteil rechtmäßig festgestellen Tatsachen gebunden. Freilich werden die Uberprüfungsmöglichkeiten dadurch erweitert, daß nach ständiger Rechtsprechung auch die Verletzung von Erfahrungsund Denkgesetzen als revisibel betrachtet wird. Klammert man diese Erweiterung einmal aus, so müssen die vom Revisionsgericht gestellten Anforderungen an die Beweiswürdigung von vornherein normativen Charakter haben, da es andernfalls an der Befugnis fehlt, die Feststellungen des Berufungsgerichts zu korrigieren. Der BGH erklärt hierzu, auch das Beweismaß unterliege der revisionsgerichtlichen Überprüfung. Er übernimmt im wesentlichen die Formulierungen aus dem AnastasiaUrteil. Dabei bleibt aber die Aussage, der Tatrichter sei nur an sein Gewissen gebunden, folgenlos. Es geht nicht um die individuelle Überzeugung im Sinne eines psychologischen Tatbestands. Der BGH stellt nicht etwa fest, der Tatrichter sei überzeugt gewesen und habe gleichwohl die Wahrheit nicht festgestellt. Als entscheidender Inhalt des Beweismaßes erweist sich vielmehr, daß der Tatrichter keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern sich mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen müsse. Weil der Tatrichter, als er den Beweis der Wahrheit nicht für geführt erachtete, die an das Beweismaß zu stellenden Anforderungen nicht beachtet habe, wird seine Beweiswürdigung als Verletzung des § 286 Abs. 1 dZPO betrachtet. Trotz subjektiv getönter Ausgangsformulierung wird somit über den 8 Genau genommen sind Gegenstand des Beweises die Tatsachen, von denen das Eigentum abhängt.

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Begriff des Beweismaßes eine normative Bindung des Tatrichters bejaht. Der BGH läßt es auch nicht dabei bewenden, zu überprüfen, ob der Tatrichter einen falschen abstrakten Maßstab gewählt hat, also etwa von der Auffassung ausging, es bedürfe einer mathematischen Sicherheit (oder umgekehrt, es genüge bereits eine bloße Wahrscheinlichkeit), um den Beweis als geführt ansehen zu können. Vielmehr macht sich der BGH daran, die tatsächlichen Umstände, die Beweisergebnisse und die vom Berufungsgericht daraus gezogenen Schlüsse im einzelnen zu betrachten. Nicht nur das abstrakte Beweismaß, sondern auch dessen Anwendung im konkreten Fall werden überprüft. Im Ergebnis wird auf diese Weise die Beweiswürdigung als ein objektivierbarer und nachprüfbarer Vorgang aufgefaßt. Ob bei solchem Vorgehen von der Bindung des Revisionsrichters an tatsächliche Feststellungen noch etwas übrig bleibt, ist zu bezweifeln. Doch mag diese Frage hier offen bleiben; ihre Beantwortung würde eine umfassende Analyse der revisionsrechtlichen Rechtsprechung erfordern. Hier ging es allein darum, die Tendenz zur Objektivierung des Beweismaßes und der Beweiswürdigung zu veranschaulichen. In dem Maße, in dem diese Objektivierung und Normativierung voranschreitet, erhält aber auch der Anspruch, mittels der Beweiswürdigung die Wahrheit zu erkennen, einen anderen Inhalt. Natürlich kann eine allein dem Gewissen des Richters unterworfene Entscheidung im Ergebnis ebensogut richtig wie falsch sein, sie beläßt aber dem Richter als Ziel wie als Rechtfertigung seiner Entscheidung das Ringen um die Wahrheit als solcher. Wenn aber der Richter verpflichtet wird, aufgrund der objektiven Gegebenheiten und des normativen Beweismaßes eine Tatsache als bewiesen anzusehen, also die Zweifel zu überwinden, obwohl er selbst eine Erkenntnis der Wahrheit nicht für möglich hält, so muß das Ergebnis als Aussage über die Wahrheit unter Berücksichtigung des normativen Bezugsrahmens verstanden werden. Die oben bereits getroffene Feststellung, die Beschränkung des Richters auf den verfügbaren Prozeßstoff relativiere die Erkenntnis der Wahrheit, wird durch die normativ vorgeschriebene Art und Weise des Umgangs mit diesem Prozeßstoff noch verstärkt. Für die Zwecke des Zivilprozesses liegt darin kein Nachteil: der Verzicht auf einen absoluten Wahrheitsanspruch wird durch die jedenfalls teilweise Objektivierung mehr als aufgewogen.

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VII. Das

Regelbeweismaß

Die oben erwähnte rechtswissenschaftliche Diskussion über das Beweismaß im Zivilprozeß betrifft neben der Frage nach objektiven oder subjektiven Kriterien vor allem das Maß der Beweisstärke. Es geht darum, ob der Richter den Beweis schon dann als geführt zu betrachten hat, wenn die eine der sich gegenüberstehenden Behauptungen wahrscheinlicher ist als die andere. Die Frage liegt umso näher, als im angloamerikanischen Recht ein Überwiegen der Wahrscheinlichkeit (preponderance of probabilities) im Zivilprozeß weithin als ausreichend betrachtet wird und auch die skandinavischen Rechtsordnungen vom Überwiegensprinzip (Overviktsprincip) 9 ausgehen. Vorschläge, auch im deutschen Zivilprozeß mehr oder weniger allgemein die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreichen zu lassen, werden aber in der Literatur überwiegend abgelehnt. Erst recht haben sie die Rechtsprechung bislang nicht erreicht. § 286 Abs. 1 dZPO scheint einer Übernahme des Überwiegensprinzips in der Tat sehr klar entgegenzustehen, gerade weil sich der Richter eine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit zu bilden hat. Wie bereits oben ausgeführt, betont die Rechtsprechung, eine bloße Wahrscheinlichkeit genüge nicht, vielmehr müsse die zu beweisende Tatsache zur Überzeugung des Richters feststehen — freilich, ohne daß dabei übertriebene Beweisanforderungen gestellt werden dürften. Ob es wirklich ausgeschlossen ist, aufgrund einer lediglich überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu einer Feststellung der Wahrheit oder Unwahrheit einer Behauptung zu kommen, erscheint aber weniger sicher, wenn man sich die oben herausgearbeitete Relativität der Wahrheit vor Augen führt. Man wird daher weniger mit dem Wortlaut des § 286 Abs. 1 dZPO als mit teleologischen Argumenten begründen müssen, warum es im Regelfall richtig ist, auf dem vollen Beweismaß zu bestehen. Der Einwand, auf diese Weise werde die Durchsetzung des Rechts bzw. der Rechtsverteidigung zu sehr erschwert, ist ebensowenig leicht zu nehmen, wie die Erwägung, das Erfordernis eines vollen Beweises verstoße gegen die Gleichheit der Parteien, da der Beweispflichtige die richterliche Überzeugung herbeizuführen habe, während für den Gegner nur eine 9 Dazu Musielak, Festschrift für Kegel (1977), 451.

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relativ geringe Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit seiner Behauptungen ausreiche, um zum Erfolg zu kommen. Mir scheint aber (ohne die Diskussion hier in voller Breite aufnehmen zu können), daß die Gleichheit der Parteien (und zwar im Sinne einer wertenden, nicht lediglich formalen Gleichheit) durch die Aufteilung der Beweislast bewerkstelligt wird, also dadurch, daß der Kläger nicht alle nach materiellem Recht entscheidungeserheblichen Tatsachen zu beweisen hat, sondern ein guter Teil davon zur Beweislast des Beklagten gestellt ist. Was aber die Schwierigkeit der Rechtsdurchsetzung angeht, so erscheint es jedenfalls für die Situation in Deutschland nicht erforderlich, den Anreiz zur Klageerhebung dadurch zu verstärken, daß die Anforderungen an den Nachweis der anspruchsbegründenden Tatsachen generell auf eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit reduziert werden. Gegen eine vorschnelle Übernahme von Grundsätzen aus anderen Rechtsordnungen spricht auch, daß die Beweisanforderungen in engem Zusammenhang mit dem Zuschnitt des materiellen Rechts stehen. In einer Rechtsordnung, in der der Vollbeweis erforderlich ist, wird der Gesetzgeber gründlicher überlegen müssen, ob er bestimmte schwer zu beweisende Tatsachen zu anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmalen macht, während in einem anderen Rechtssystem, in dem die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreicht, solche Bedenken weniger Gewicht haben,

VIII. Herabsetzung des Beweismaßes

und

Wahrheit

Die gundsätzliche Aufrechterhaltung des vollen Beweismaßes ist aber nur ein Teil der Antwort, die das deutsche Recht in diesem ebenso schwierigen wie wichtigen Problembereich gibt. Man darf nicht übersehen, daß neben dem Regelbeweismaß in einer Vielzahl von Fällen und mit einer im einzelnen durchaus unterschiedlichen Begründung eine Herabsetzung des Beweismaßes und damit eine Annäherung an das Überwiegensprinzip vorgenommen wird, sei es ausdrücklich oder der Sache nach. Die Tendenz geht eindeutig dahin, das volle Beweismaß mehr und mehr zu reduzieren. Ob sich eines Tages Regel und Ausnahme ins Gegenteil verkehren werden, steht dahin. Die hier aufzuwerfende Frage zielt in eine andere Richtung: Kann man in diesen Fällen eines geringeren Beweismaßes noch von einer Feststellung der Wahrheit oder Unwahrheit einer Behauptung sprechen, oder ist eine dogmatische Er-

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klärung vorzuziehen, die diesen hohen Anspruch vermeidet ? Zunächst sei aber zur Veranschaulichung auf wichtige Beispiele einer Herabsetzung des Beweismaßes hingewiesen. Ein erstes Beispiel enthält die dZPO selbst: es geht um den Bereich der richterlichen Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 dZPO. Diese Vorschrift, die in der japanischen ZPO keine Entsprechung hat, ist in Schadensersatzprozessen vor deutschen Gerichten von großer Bedeutung. Obgleich sich im Wortlaut des Gesetzes auch hier der Begriff der freien Überzeugung des Richters findet, enthält § 287 dZPO doch nach h. M. und ständiger Praxis wesentliche Abweichungen von § 286 Abs. 1. Schon an die Substantiierung der Behauptung werden geringere Anforderungen gestellt; der Kläger braucht nicht Tatsachen anzugeben, die einen zwingenden Schluß auf die Entstehung und die Höhe des behaupteten Schadens zulassen, sondern nur Tatsachenbehauptungen aufzustellen, die sich als Grundlage einer richterlichen Schätzung eignen. Der Richter hat eine freiere Stellung als sonst, was den Umfang der Beweisaufnahme angeht. Er kann etwa die Einholung eines aufwendigen Sachverständigengutachtens Uber die Einzelheiten der Schadensbemessung ablehnen, wenn er sich zu einer Schätzung in der Lage sieht. Die größere Freiheit des Richters enthält auch eine Herabsetzung der Anforderungen an das Beweismaß - Schätzung ist eben von vornherein eine nur ungefähre Annäherung an die wirkliche Sachlage. Nachdem in der Literatur 10 schon früher auf diese Konsequenz des § 287 aufmerksam gemacht wurde, findet sich nun auch in der neueren Rechtsprechung des BGH die ausdrückliche Feststellung, daß es bei § 287 um eine Verringerung des Beweismaßes geht. Dabei reicht, wie der BGH11 formuliert, jedenfalls eine deutlich überwiegende, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung aus. Ein zweites Beispiel für eine Herabsetzung des Beweismaßes findet sich bei der Kraftfahrzeug-Diebstahlsversicherung. Hätte der versicherte Kraftfahrzeugeigentümer nach dem hohen Regelbeweismaß, also zur vollen Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit, den Diebstahl zu beweisen, so käme er oft in Beweisnot. Auf der anderen Seite kann die bloße Behauptung, das Fahrzeug sei gestohlen worden, nicht genügen, um die Versicherung zur Zahlung zu verpflichten ; denn in nicht wenigen 10 So ζ. B. Klauser JZ 1968, 167, 170; Stein-Jonas-Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 287 Rdnr. 30 ; Münchener Kommentar zur ZPO-Prutting (1992), § 287 Rdnr. 17. 11 BGH NJW 1993, 934 ; NJW 1992, 2694, 2695-

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315

Fällen werden Kraftfahrzeugdiebstähle nur vorgetäuscht, während in Wirklichkeit das Fahrzeug etwa mit Willen des Eigentümers in ein anderes Land gebracht und dort veräußert wurde. Der BGH entnimmt die nötige Beweiserleichterung, die in neueren Entscheidungen auch ausdrücklich als Herabsetzung des Beweismaßes gekennzeichnet wird, einer Auslegung der Allgemeinen Kraftfahrzeugversicherungsbedingungen (AKB). Der Zweck der Diebstahlsversicherung liegt nach Ansicht des BGH12 auch darin, den Versicherungsnehmer für Fälle zu schützen, in denen die Umstände der Entwendung nicht umfassend aufgeklärt werden können. Um den mit der Versicherung verfolgten Zweck zu erreichen, entnimmt der BGH13 aus § 12 AKB eine stillschweigende Einigung über die Herabsetzung des Beweismaßes. Danach bedarf es nicht des vollen Nachweises des Diebstahls, vielmehr muß der Versicherungsnehmer nur das äußere Bild einer Entwendung beweisen, also „ein Mindestmaß von Tatsachen, die nach der Lebenserfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Schluß auf die Entwendung zulassen". Wenn allerdings diesen herabgesetzten Beweisanforderungen genügt ist, dann steht nach Meinung des BGH fest, daß der Versicherungsfall eingetreten ist; dies wird nicht etwa nur fingiert. Das Ergebnis soll also dasselbe sein, wie bei einem Beweis, für den das volle Beweismaß gilt. Da die Herabsetzung des Beweismaßes allein dem Schutz des Versicherungsnehmers vor Beweisnot gilt (der BGH14 spricht auch von einer „materiell-rechtlichen Risikozuweisung"), wird der Versicherung keine ähnliche Vergünstigung gewährt. Wenn daher die Versicherung später die bezahlte Versicherungssumme zurückfordert mit der Behauptung, in Wirklichkeit habe es sich doch nicht um eine Entwendung gehandelt, so muß sie nach Ansicht des BGH15 den Vollbeweis für den Nichtdiebstahl führen. Größte praktische Bedeutung haben die Fallgestaltungen, in denen Uber die Figur des Anscheinsbeweises (prima-facie-Beweises) eine Beweiserleichterung gewährt wird. Ich erwähne den Anscheinsbeweis erst an dieser Stelle, weil die Einordnung dieses Rechtsinstituts nach wie vor zweifelhaft ist und der BHG, wenn ich recht sehe, die Rechtsfolgen 12 13 14 15

BGHZ 79, 54, 59 = NJW 1981, 684, 685. BGHZ 123, 217, 220 = NJW 1993, 2678, 2679. BGHZ 123, 217, 220 = NJW 1993, 2678, 2679. BGHZ 123, 217, 221 f = NJW 1993, 2678, 2679 f. Das Echo auf diese Entscheidung ist unterschiedlich. Zustimmend Glauber VersR 1993, 1263 ; ablehnend Voit, Anmerkung zu LM § 812 BGB Nr. 235 ; van Bühren EWiR § 812 BGB 5/93, 1073.

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nicht ausdrücklich als Herabsetzung des Beweismaßes kennzeichnet. Daß es der Sache nach um nichts anderes geht, wird aber deutlich, wenn auch der BGH den Beweis durch ersten Anschein einem „vollen Beweis" gegenüberstellt 16 oder erklärt, für die Annahme eines Anscheinsbeweises (bei typischem Geschehensablauf) reiche eine „erhebliche Wahrscheinlichkeit" grundsätzlich aus17. Im Fall des Kraftfahrzeugdiebstahls wäre übrigens auch an einen Anscheinsbeweis zu denken, doch lehnte der BGH18 dies mit der Begründung ab, es könne hier nicht von einem typischen Geschehensablauf gesprochen werden. Allgemein anerkannt ist die Anwendung des Anscheinsbeweises beim Nachweis der Kausalität und des Verschuldens. Die Erleichterung für die beweisbelastete Partei liegt dabei zum einen darin, daß hinsichtlich der tatsächlichen Einzelheiten des Kausalverlaufs oder des Verschuldens keine substantiierten Behauptungen aufgestellt werden müssen, zum anderen aber darin, daß aufgrund des Gesamtbildes der feststehenden Tatsachen von der Kausalität oder dem Verschulden ausgegangen wird, solange nicht der Gegner den Anscheinsbeweis dadurch erschüttert, daß er Tatsachen nachweist, die auf die Möglichkeit eines anderen Verlaufs hinweisen. Dadurch, daß eine solche Erschütterung des Anscheinsbeweises genügt und der Gegner nicht den Beweis des Genenteils erbringen muß, unterscheidet sich nach h. M. der Anscheinsbeweis von einer Beweislastumkehr. Mit der Formel vom typischen Geschehensablauf versucht die Rechtsprechung, den Anwendungsbereich des Anscheinsbeweises in Grenzen zu halten. Gerade weil eine normative Rechtfertigung für die Beweiserleichterung nur schwer erkennbar ist, kann durch eine zu weite Erstreckung des Anscheinsbeweises das Regelmaß des Vollbeweises mehr und mehr ausgehöhlt werden. Dem könnte man dadurch entgehen, daß man den Anscheinsbeweis auf den Nachweis von Kausalität und Verschulden begrenzt, wofür sich anführen läßt, daß hier schon die materiellen Begriffe eine eigentümliche Verzahnung von Tatsachen und Bewertung zeigen, so daß die Rechtfertigung anderer Beweisanforderungen auf das materielle Recht gestützt werden könnte. Die Rechtsprechung wendet aber den Anscheinsbeweis mehr und mehr auch auf anderen Gebieten an19, so daß gerade hier die Tendenz zu einer Abkehr vom vollen Beweis 16 17 18 19

BGH LM § 286 (C) Nr. 72 = MDR 1981, 738. BGHZ 100, 31, 34 = NJW 1987, 2876, 2877. BGHZ 79, 54, 59 = NJW 1981, 684, 685. Nur ein Beispiel: Nach BGHZ 100, 31 = NJW 1987, 2876 begründet die ohne

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maß sehr deutlich zu erkennen ist. Besonders erwähnenswert ist schließlich die Antwort der Praxis auf die häufig auftretenden Beweisprobleme im Arzhaftungsprozeß. Schon der Nachweis eines Kunstfehlers des behandelnden Arztes kann sich für den Patienten als äußerst schwierig gestalten, da es ihm an genauem Einblick in die Vorgänge nicht selten fehlt. Aber selbst wenn ein Behandlungsfehler feststeht, ist es oft keineswegs eindeutig, daß die Gesundheitsverschlechterung oder gar der Tod des Patienten durch den ärztlichen Fehler verursacht wurden — möglicherweise wäre es auch sonst zu diesem traurigen Resultat gekommen. Am weistesten kann die beweisrechtliche Hilfestellung gehen, wenn ein grober Behandlungsfehler des Arztes vorliegt. Hier hält die Rechtsprechung 20 seit langem sogar eine Beweislastumkehr für möglich, so daß es Sache des Arztes ist, in vollem Umfang nachzuweisen, daß der Fehler nicht für die später aufgetretenen Schäden ursächlich war. Der BGH21 verwendet dabei zumeist die Formel, es seien Beweiserleichterungen zu gewähren, die bis zur Umkehr der Beweislast gehen könnten. Ebenso umschreibt der BGH22 die beweisrechtlichen Folgen, wenn der Arzt Aufklärungshindernisse verschuldet hat und deshalb dem Patienten die volle Beweislast nicht mehr zugemutet werden kann, insbesondere, wenn die gebotenen ärztlichen Aufzeichnungen über Behandlung und Krankheitsverlauf (ärztliche Dokumentation) sich als unzulänglich erweisen. Die Gefahr, auf diese Weise zu einer reinen Billigkeitsrechtsprechung abzugleiten und die normativen Bindungen des Beweises wie der Beweislast außer Acht zu lassen, habe ich an anderer Stelle kritisiert 23 . Ob man aber die Entwicklung begrüßt oder nicht, es werden auch auf diesem Gebiet unter dem Stichwort der „Beweiserleichterungen" an den Beweis nicht dieselben strengen Anforderungen gestellt, wie sie für den Regelfall aus § 286 dZPO entnommen werden. Es geht mit andern Worten jedenfalls auch A u f t r a g des Nutzungsberechtigten erfolgte Herstellung und Veräußerung von Schallplattenhüllen grundsätzlich den Beweis des ersten Anscheins dafür, d a ß Schallplatten („Raubpressungen") in einem der Anzahl der Plattenhüllen entsprechenden U m f a n g hergestellt und vertrieben worden sind. — Zu den wichtigsten Fallgruppen des Anscheinsbeweises s. Stein-Jonas-Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 286 Rdnr. 100 ff. 20 Vgl. etwa RGZ 171, 168, 171; BGHZ 72, 132, 136 ; BGH N J W 1983, 333 ; N J W 1983, 2080. Zusammenfassend zur Beweislastumkehr im Arzthaftungsprozeß SteinJonas-Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 286 Rdnr. 126 ff. 21 So ζ. B. BGH N J W 1981, 2513; N J W 1989, 2332 ; LM § 286 (B) ZPO Nr. 99. 22 Ζ. B. BGHZ 72, 132, 139; BGHZ 99, 391. 23 Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß (oben Fn. 5), 22 ff.

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um eine Absenkung des Beweismaßes. Diese Hinweise auf einige wichtige Bereiche, in denen ein niedrigeres Beweismaß Anwendung findet, mögen genügen. Gewiß liegt die praktisch wichtigste Frage darin, ob sich diese und andere Abweichungen vom Vollbeweis hinreichend als Ausnahmen von der Regel rechtfertigen lassen, oder ob sich hier allmählich ein grundlegender Wandel abzeichnet. Interessant, und allein dieser Aspekt soll hier erörtert werden, ist aber auch, wie sich das aufgrund eines abgesenkten Beweismaßes gewonnene Resultat zum Ergebnis eines Vollbeweises verhält. Die Rechtsprechung, insbesondere der BGH, geht in allen diesen Fällen davon aus, es werde der Beweis erbracht. Gerade deshalb ist in der Tat der Begriff eines geringeren Beweismaßes durchaus adäquat. Die Frage ist aber, ob das Beweisergebnis noch als richterliche Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit der tatsächlichen Behauptungen begriffen werden kann. Verdeutlicht man sich, daß den Ausgangspunkt für die Absenkung des Beweismaßes gerade die Beweisschwierigkeiten bilden, also die häufige Unmöglichkeit den sonst verlangten Vollbeweis zu erbringen, so erscheint es geradezu widersprüchlich, wenn der Richter am Ende doch festzustellen hätte, er sei von der Wahrheit oder Unwahrheit überzeugt. Auch auf die Parteien dürfte es wenig überzeugend wirken, wenn im Urteil auf der einen Seite von der Gewährung der Beweiserleichterung und der dadurch bewirkten Risikoverteilung gesprochen, auf der anderen Seite aber gleichwohl der Anspruch einer Wahrheitserkenntnis erhoben würde. Vielmehr ist der Effekt der Beweismaßsenkung schlicht, daß der Beweis im Rechtssinne als erbracht angesehen wird, auch wenn der Richter nicht in dem sonst erfoderlichen Maß von der Wahrheit überzeugt ist.

IX. Tatsachenfeststellung

(Sachverhaltskonstituierung)

ohne Anspruch auf Erkenntnis der

Wahrheit

Die Schlußfolgerung kann daher nur lauten, in diesen Fällen eines geringeren Beweismaßes auf die verbale Feststellung der Wahrheit oder Unwahrheit überhaupt zu verzichten, und es dabei bewenden zu lassen, daß die Tatsache als feststehend zu betrachten ist. Der Beweis hat die Funktion, aus den widersprüuchlichen tatsächlichen Behauptungen diejenigen auszuwählen, die als Grundlage für das richterliche Urteil dienen

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sollen. Diese Selektionsfunktion kann erreicht werden, ohne daß es dazu einer richterlichen Überzeugung von der Wahrheit bedarf. Der Beweis aufgrund eines niedrigeren Beweismaßes erweist sich somit neben der Bildung der Wahrheitsüberzeugung als zweiter Weg, um zu tatsächlichen Feststellungen zu gelangen. Der Richter muß den Sachverhalt konstituieren, von dem er bei der rechtlichen Würdigung auszugehen hat. Dieser Vorgang kann aber im Zivilprozeß auf verschiedenen Wegen erfolgen, die keineswegs notwendig auf eine Erkenntnis der Wahrheit hinauslaufen. In einem weiten Umfang wird der Sachverhalt unmittelbar durch das Parteiverhalten konstituiert. Wird eine tatsächliche Behauptung von der Gegenseite zugestanden, so bedarf sie keines Beweises, § 288 Abs. 1 dZPO. Dasselbe gilt bereits dann, wenn und solange der Gegner die tatsächliche Behauptung nicht bestreitet, § 138 Abs. 3 dZPO. Dies bedeutet aber keineswegs nur, daß der Richter in einem solchen Fall die Tatsache auch ohne Beweis zugrundelegen darf. Der Richter ist vielmehr an die Wirkung des Geständnisses oder des Nichtbestreitens gebunden; er ist verpflichtet, von der behaupteten und zugestandenen oder nichtbestrittenen Tatsache auszugehen, und darf nicht etwa gleichwohl mit der Begründung einen Beweis verlangen, das Vorliegen der Tatsache erscheine ihm unwahrscheinlich. Das Nichtbestreiten oder Zugestehen hat nicht die Funktion, eine konkrete Wahrscheinlichkeit zu begründen; es handelt sich nach heutigem Verständnis auch weder um eine gesetzliche Vermutung noch um eine gesetzliche Beweisregel. Vielmehr geht es um einen anderen Weg zur Sachverhaltskonstituierung, der gleichberechtigt neben dem des Beweises steht. Der Sachverhalt, den der Richter schließlich zugrundezulegen hat, wird sich in aller Regel als Gemenge aus Tatsachenurteilen darstellen, die auf unterschiedlichem Wege selektiert wurden. Ein Teil des Sachverhalts bleibt regelmäßig unbestritten (oder wird sogar zugestanden), ein anderer wird auf dem Wege des Vollbeweises, also durch Bildung einer richterlichen Uberzeugung von der (wenn auch relativen) Wahrheit, nachgewiesen, und ein weiterer schließlich wird zwar durch Beweis, aber unter Anwendung eines abgesenkten Beweismaßes festgestellt.

320

X.

Schlußbemerkung

Versucht man, der Bedeutung von Wahrheit und Beweis im Zivilprozeß auf die Spur zu kommen, so zeigt sich rasch, daß von einer Erkenntnis der Wahrheit grundsätzlich nur in einem sehr eingeschränkten, relativen Sinn gesprochen werden kann. In den zahlreichen und offenbar immer zahlreicher werdenden Fällen, in denen sich der Richter mit einem abgesenkten Beweismaß zu begnügen hat, erscheint es aber nicht einmal sinnvoll, eine Erkenntnis der relativen Wahrheit zu postulieren. Vielmehr erweist sich als das eigentliche Ziel des richterlichen Bemühens die Konstituierung des Sachverhalts als Grundlage der rechtlichen Würdigung. Diese Sachverhaltskonstituierung durch Selektion der tatsächlichen Behauptungen erfolgt in weitem Umfang ohne den Anspruch auf Erkenntnis der Wahrheit. Die Wahrheitserkenntnis ist kein Selbstzweck des Zivilprozesses?4 — das irdische Streben nach Gerechtigkeit kann und muß sich in vieler Hinsicht mit bescheideneren Mitteln und Wegen begnügen.

24 Dazu näher Stein-Jonas-Schumann, ZPO, 20. Aufl., Einl. Rdnr. 21 f. Auf die umfangreiche Diskussion über die Bedeutung der Wahrheitsfindung im Rahmen der Prozeßzwecklehre kann hier nur hingewiesen werden.

Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen Der Gerichtsstand der Wettbewerbshandlung nach autonomem deutschem IZPR

von

Prof. Dr. Walter F. Lindacher

Trier

Professor an der Universität Trier

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Inhaltsverzeichnis

I. Der Ausgangspunkt: Lauterkeitsrecht als materielles Sonderdeliktsrecht II. Kompetenzrecht und Kollisionsrecht: eigenständige Bestimmung der internationalen Zuständigkeit III. Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen: Interessenlage IV. Gerichtsstand der Wettbewerbshandlung V. Resume

Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen

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Wachsender internationaler Wirtschaftsverflechtung entspricht eine Mehrung von Wettbewerbsstreitigkeiten mit Auslandsbezug. Internationalverfahrensrechtliche Fragestellungen drängen sich, auch und nicht zuletzt ob gestiegener quantitativer Relevanz, mehr und mehr ins Blickfeld. Der Beitrag thematisiert die internationale Zuständigkeit, soweit sie sog. Begehungsortzuständigkeit, nach autonomem deutschem Recht. Im Grundsätzlichen geht es um den konzeptionellen Ansatz: Läßt sich das wettbewerbliche Lauterkeitsrecht unbeschadet eines gewandelten Funktionsverständnisses nach wie vor als Deliktsrecht begreifen, internationale Zuständigkeit in der Form der Begehungsortzuständigkeit sich mithin schlicht und einfach in Orientierung an den Regeln zum Gerichtsstand der unerlaubten Handlung bestimmen, oder erheischt das geläuterte Funktionsverständnis den Abschied von deliktsrechtlicher Qualifikation des Lauterkeitsrechts und damit von deliktsrechtlicher Deutung des Gerichtsstands der Wettbewerbshandlung? Gilt es, wenn man an der deliktsrechtlichen Qualifikation im Grundsatz festhält, nicht zumindest, den Sowrferdeliktsrechtscharakter des Lauterkeitsrechts anerkennend, die Tatortregel des forum delicti commissi den Eigenheiten des Wettbewerbsrechts anzupassen? Im Detail geht es: um die Frage, ob der Gerichtsstand der Wettbewerbshandlung auch bei sog. Distanzdelikten nur die Zuständigkeit der Gerichte eines Staates oder aber nach der Ubiquitätsregel die Zuständigkeit der Gerichte mehrerer Staaten zu eröffnen vermag; soweit man den reinen „Handlungsort" als gerichtsstandsbegründend erachtet, um die Abgrenzung der Tathandlung von der bloßen Vorbereitungshandlung; soweit man an der Wirkung der Wettbewerbshandlung anknüpft, bei einem Auseinanderfallen von Markt- und Klägersitzland um die Frage, ob auch vermögensrechtliche Fernwirkungen im Klägersitzland noch als zuständigkeitsrelevant einzustufen sind. Sonderprobleme werfen die sog. Multistate- Wettbewerbshandlungen, dh. solche Wettbewerbshandlungen auf, die ihre Wirkungen auf zwei oder mehrere Länder streuen.

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I. Der Ausgangspunkt: Lauterkeitsrecht

als

materielles

So nderdeliktsrecht Ob der historische Gesetzgeber das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) als reines Mitbewerberschutzrecht konzipiert hatte, 1 ist streitig: Die einschlägigen Materialien werden unterschiedlich gedeutet. Fakt ist jedenfalls, daß Rspr. und Lehre es zunächst so gut wie einhellig dahin verstanden haben:2 Zeitgeist und das Bestreben der Wissenschaft, die Schutzgutfrage unter Rekurs auf herkömmliche Figuren wie Persönlichkeitsrechts- 3 oder Unternehmensschutz 4 zu beantworten, führten gleichermaßen dazu, ausschließlich auf den Schutz des einzelnen Konkurrenten abzustellen; alle anderen, konvergenten Interessen galten als reflexmäßig begünstigt. Bei solchem Grundverständnis stand außer Frage: Wettbewerbsrecht wurde deliktsrechtlich qualifiziert. 5 Heute herrscht weithin Einigkeit, daß Konkurrentenschutz (verstanden als Schutz des einzelnen Mitbewerbers) nur ein Zweck des Lauterkeitsrechts: Lauterkeitsrecht dient nach gewandeltem Verständnis — gleichrangig 6 — dem Schutz des Konkurrenten, der Marktgegenseite (insbesondere der Verbraucher) sowie der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs als Institution. 7 Und, einschlägige Funktionsanreicherung

1 Bejahend z.B. Emmerich, Das Recht des unlauteren Wettbewerbs, 4. Aufl. (1995), § 3/2 pr. sowie Schricker GRUR Int. 1970, 32 f., verneinend z.B. Pastor GRUR 1969, 571/574. 2 Repräsentativ zuletzt Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 2. Aufl. (1932), S. 43 m.N. 3 So z.B. Lobe, Die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, Bd. I, 1907, S. 145 ff. sowie Kohler, Der unlautere Wettbewerb, 1914, S. 17 ff. 4 So z.B. Baumbach, Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. (1931), S. 84 ff., 91 ff. 5 Lapidar in diesem Sinn denn auch RGZ 60, 418: Deliktsklage. 6 A.A. — nämlich für Vorrang des Konkurrenten- und Abnehmerschutzes gegenüber dem „mittelbaren Zweck der Wettbewerbsordnung, im Allgemeininteresse ungehörigem Wettbewerb entgegenzutreten" — noch Deutsch, Wettbewerbstatbestände mit Auslandsbeziehung, 1962, S. 46. 7 Statt vieler: Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 17. Aufl. (1993), Einl. UWG Rdnrn. 42 ff.; Koppensteiner, Wettbewerbsrecht Bd. 2: Unlauterer Wettbewerb, 2. Aufl. (1987), §5 1/3; Rinck/Schwark, Wirtschaftsrecht, 6. Aufl. (1986), Rdnrn. 655 f.; Kropholler, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. (1994), § 53 VII/1; Schricker GRUR Int. 1982, 720/723; Lindacher BB 1975, 1311 f./1314.

Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen

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zwingt zwar nicht zum Totalabschied von der deliktsrechtlichen Verortung,8 wohl aber zu einem Ernstnehmen der funktionsbedingten Eigenheiten des Wettbewerbsrechts: Lauterkeitsrecht ist Sonderdeliktsrecht — nicht nur im Sinne eines Anwendungsvorrangs der UWG-Bestimmungen gegenüber Bürgerlichem Recht, sondern auch und vor allem in materieller Hinsicht.

II. Kompetenzrecht

und Kollisionsrecht:

Bestimmung der internationalen

eigenständige

Zuständigkeit

Deliktsrechtliche Qualifikation des Lauterkeitsrechts unter gleichzeitiger Betonung funktioneller Eigenheit bedeutet entgegen verbreiteter Meinung9 nicht zwangsläufig Gleichklang in der kompetenz- und kollisionsrechtlichen Anknüpfung: 10 Ob und inwieweit Modifikationen der allgemeinen Tatortregel geboten, beurteilt sich für jeden Bereich gesondert. Daß das Internationale Lauterkeitsrecht in Ablehnung der Ubiquitätsregel — durchgängig — nur einen Tatort kennt, genauer: nur einem Tatort kollisionsrechtliche Relevanz beimißt, 11 rechtfertigt sich vor allem aus dem Bestreben, kollisionsrechtlich bedingte Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden: 12 Es gilt zu verhindern, daß ein inländisches

8 So wohl freilich Schünemann in: Großkomm. z. UWG, 1994, Einl. Rdnrn. Ε 64 f. 9 Kropholler in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts Bd. 1,1982, Kap. III Rdnr. 382; Schock, Internationales Zivilverfahrensrecht, 1991, Rdnr. 300; Nagel, Internationales Zivilprozeßrecht, 3. Aufl. (1991), Rdnrn. 117 f.; Staudinger/ v. Hoffmann, BGB, 12. Aufl. (1992), Art. 38 EGBGB Rdnrn. 258, 259 c. 10 Richtig: Gelmer, Internationales Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. (1993), Rdnr. 1517 a; Sack GRUR Int. 1988, 320/330. 11 Tatortregel als Ort der wettbewerblichen Interessenüberschneidung (Marktortregel): BGHZ 35, 329/336 f. =GRUR 1962, 242/245 - Kindersaugflaschen; v. Bar, Internationales Privatrecht Bd. II: Besonderer Teil, 1991, Rdnr. 695; Schricker in: Großkomm. z. UWG, 1994, Einl. Rdnrn. F 194 ff.; Staudinger/ v. Hoffmann (o. Fußn. 9) Art. 38 EGBGB Rdnrn. 516 ff.; Erman/Hohtoch, BGB, 9. Aufl. (1993), Art. 38 EGBGB Rdnr. 43; Palandt/Heldrich, BGB, 54. Aufl. (1995), Art. 38 EGBGB Rdnr. 16; Piper GRUR 1992, 803/804. 12 Betonung eben dieses Gesichtspunkts: Mook, Internationale Rechtsunterschiede und nationaler Wettbewerb, 1986, S. 42, 44, 54 f.; Wilde in: Handbuch des Wettbewerbsrechts, 1986, § 6 Rdnr. 20; Sack GRUR Int. 1988, 320/325.

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Unternehmen im Wettbewerb mit ausländischen Konkurrenten auf dem Auslandsmarkt nur deshalb strengeren Verhaltensanforderungen unterliegt, weil Steuerungs- oder sonstige Initiativakte im Inland gesetzt wurden. Für die sachgerechte Bestimmung der internationalen Zuständigkeit spielt dieser Gesichtspunkt ersichtlich keine Rolle.

III. Internationale

Zuständigkeit

in

Wettbewerbssachen:

Interessenlage l. Duales Klagesystem im Wettbewerbsprozeß: Verletzten- und Interessentenklage. Die Interessenanalyse knüpft sinnvollerweise an dem Befund an, daß das Lauterkeitsrecht neben der Verletzten- auch die Interessentenklage in der Gestalt der Verbands- und Branchengenossenklage kennt:13 Die Verletztenklage dient der Durchsetzung eines allfälligen Schadensersatz- und/oder Abwehranspruchs des von der Konkurrentenhandlung selbst und unmittelbar Betroffenen. Mit der Einräumung der Klagebefugnis an Wirtschaftsverbände (§ 13 II Nr. 2 UWG), Verbraucherverbände (§ 13 II Nr. 3 UWG) und Kammern (§ 13 II Nr. 4 UWG) sowie an Branchengenossen (§ 13 II Nr. 1 UWG) macht sich der Staat zum Schutz der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs und aus Gründen kollektiven Marktgegenseite-, insbesondere Verbraucherschutzes, Verbands- und Privatinteressen zur Unterbindung ungehöriger Wettbewerbspraktiken zunutze. 2. Zuständigkeit und Allgemeininteresse an Institutionen- und kollektivem Marktgegenseiteschutz. In dem Umfang, in dem ein Staat (auch) aus Institutionenschutz- und/oder Marktgegenseiteschutzgründen bestimmte Verhaltensweisen verbietet, muß er gewährleisten, daß klagewilligen Klagebefugten bei Fällen mit Auslandsbezug der Weg zu seinen Gerichten offensteht (Zuständigkeitsrelevanz des einschlägigen Staatsinteresses) . Schutzobjekt kann, was das Schutzgut „funktionsfähiger Wettbewerb" anbelangt, schon aus völkerrechtlichen Gründen, nur der Wettbewerb auf dem Inlandsmarkt sein, wobei der Marktsitus im (Regel-) Fall des Anbieterwettbewerbs durch den Situs der Kunden bestimmt wird: Internationale Zuständigkeit der eigenen Gerichte ist indiziert, wenn es um 13 Allgemein: Lindacher

ZZP 103 (1990), 397 ff.

Internationale Zuständigkeit in W e t t b e w e r b s s a c h e n

327

die Hintanhaltung bzw. schadensersatzrechtliche Sanktionierung von Praktiken geht, die den Wettbewerb um die Inlandskunden und deren Kaufkraft verfälschen. Und: Auch soweit der Marktgegenseiteschutz thematisiert ist, gilt die entsprechende territoriale Begrenzung; geschützt sind die Abnehmer in ihrer Rolle als Teilnehmer des vom inländischen Wettbewerbsrecht erfaßten Markts, eben des Inlandsmarkts. Internationale Zuständigkeit der eigenen Gerichte ist angesagt, wenn und weil die Wettbewerbshandlung (auch) ob der Art ihrer Einwirkung auf Inlandskunden zu beanstanden ist. 3. Zuständigkeitsinteresse des verletzten Konkurrenten. Klagt der Konkurrent als selbst und unmittelbar Betroffener auf Schadensersatz oder Unterlassung, besteht kein Anlaß, die internationale Zuständigkeit abweichend von den Grundsätzen allgemeiner Deliktszuständigkeit zu bestimmen: Er ist nicht minder schutzwürdig als der Schadensersatzbzw. Unterlassungskläger nach allgemeinem Deliktsrecht. Interpretiert man die Tatortregel dort als Ubiquitätsregel, ist wertungsstimmigerweise auch im Wettbewerbsrecht von einer Handlungs- und Erfolgsortzuständigkeit zugunsten des Verletzten auszugehen — unabhängig davon, ob der Wettbewerbsverstoß unmittelbar betriebsbezogen oder aber „über den Markt" wirkt. Die Spezifik des Wettbewerbsrechts kommt nur im Rahmen der Abgrenzung des Tatorts zum bloßen Schadensort zum Tragen: Wettbewerbsrecht als Marktrecht schützt den einzelnen nicht in seinem Vermögen, sondern in seiner Marktposition. Das in seiner Stellung auf dem Auslandsmarkt beeinträchtigte inländische Unternehmen kann nicht schon deshalb vor den heimischen Gerichten klagen, weil sich die Wettbewerbsverfälschung auf dem Auslandsmarkt letztlich auf das Gesamtgeschäftsergebnis desselben auswirkt. Der Unternehmenssitz mag Schadens- aber nicht Tatort sein. 4. Zuständigkeit und Rechtsnähe. Daß die Praktizierung der Tatortregel als Ubiquitätsregel bei Klage des selbst und unmittelbar Betroffenen dazu führen kann, daß das Gericht fremdes Sachrecht anzuwenden hat, bleibt hinzunehmen. Partei- und Sachverhaltsnähe werden bei der Abwägung widerstreitender Zuständigkeitsinteressen auch sonst14 in aller Regel höher eingestuft als die Nähe zum anwendbaren Recht. 14 Statt mancher: Kropholler Rdnr. 1527.

(o. Fußn. 9) Kap. III Rdnr. 22; Gelmer

(o. Fußn. 10)

328

IV. Gerichtsstand

der

Wettbewerbshandlung

1. Gesetzeslage. Das autonome deutsche Recht kennt den — in einem örtliche und internationale Zuständigkeit begründenden 15 — Gerichtsstand der Wettbewerbshandlung·, als zweiten— ausschließlichen— Gerichtsstand neben dem Gerichtsstand der gewerblichen Niederlassung für die Verletztenklage (§ 24 II S. 1 UWG), als subsidiären — ausschließlichen — Gerichtsstand für die Interessentenklage, wenn der Beklagte im Inland keinen Sitz hat (§ 24 II S. 2 UWG). 2. Anwendungsbereich. Der Gerichtsstand der Wettbewerbshandlung (§ 24 II UWG) gilt für Schadensersatz- und Abwehrklagen, was Unterlassungsklagen anbelangt, richtigerweise nicht nur bei Begehren aus dem Gesichtspunkt der Wiederholungs-, sondern auch dem der Erstbegehungsgefahr: 16 Entscheidend ist letzternfalls der Ort, wo die Begehung erstmals ernsthaft droht. Ob eine auf dem Auslandsmarkt begangene Wettbewerbshandlung Erstbegehungsgefahr für den inländischen M a r k t begründet, 17 ist Tatfrage. 3· Tatortregel und ratio legis von § 24 II UWG. Bei der Verletztenklage deckt sich die ratio des § 24 II UWG richtigerweise mit der der Muttervorschrift, des § 32 ZPO: Die Gerichtsstände als solche wie die Geltung der Ubiquitätsregel bei der näheren Bestimmung des Begehungsortsgründen im Gedanken der S a c h - und Beweisnähe kombiniert mit dem Gesichtspunkt der „Sympathie mit dem Verletzten". 18 Der Wahlgerichtsstand der unerlaubten Handlung soll es dem Kläger ermöglichen, 15 Zur einschlägigen Doppelfunktionalität von § 24 II UWG, statt aller: Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche, 6. Aufl. (1992), Kap. 45 Rdnr. 18; Schütze in: Handbuch des Wettbewerbsrechts, 1986, § 99 Rdnr. 12. 16 BGH WRP 1994, 543/546 - Beta; Schricker, Recht der Werbung in Europa Bd. I, 1990, Rdnr. 70; Baumbach/Hefermehl (o. Fußn. 7) § 24 UWG Rdnr. 6; Geimer (o. Fußn. 10) Rdnr. 1522; Teplitzky (o. Fußn. 15) Kap. 45 Rdnr. 13; Behr GRUR Int. 1992, 604/605. 17 Die einschlägige Möglichkeit zu Recht bejahend OLG Hamburg GRUR 1987, 403; Melullis, Handbuch des Wettbewerbsprozesses, 2. Aufl. (1995), Rdnr. 134. 18 Für § 32 ZPO: Heß, Staatenimmunität bei Distanzdelikten, 1992, S. 11; Geimer (o. Fußn. 10) Rdnr. 1497; Zöller/ Vollkommer, ZPO, 19. Aufl. (1995), § 32 Rdnr. 1; Wieczorek/Schütze/Hausmann, ZPO, 3. Aufl. (1994), § 32 Rdnr. 1; Kiethe NJW 1994, 222/224; für § 24 II UWG: Behr GRUR Int. 1992, 604/607.

Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen

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flexibel auf die geschehene/drohende Interessenverletzung zu reagieren und eine allfällige Sach- und Beweisnähe zu nutzen. Der Gedanke der Klägerprivilegierung und der Umstand, daß der Gesichtspunkt der Sachund Beweisnähe bei Distanzdelikten sowohl am Handlungs- als auch am Ort der Interessenverletzung virulent zu werden vermag, sprechen ergänzend für ein Wahlrecht des Klägers zwischen diesen Orten. Die (Streit-) Frage, ob internationalkompetenzrechtlich an einem Nebeneinander von Handlungs- und Erfolgsortzuständigkeit festzuhalten ist (und nur bei der Bestimmung des Erfolgsorts der marktrechtliche Bezug des Lauterkeitsrechts zu beachten bleibt),19 oder aber der Begehungsort — wie bei der Frage nach dem anwendbaren Sachrecht — ausschließlich als Ort der wettbewerblichen Interessenüberschneidung zu verstehen ist,20 ist bei Klagen des selbst und unmittelbar betroffenen Konkurrenten mit Nachdruck im ersten, der deliktsrechtlichen Tradition verpflichteten Sinn zu beantworten. Für die Interessentenklage dürfte die ratio des § 24 II UWG hingegen gänzlich genuin wettbewerbsrechtlich zu bestimmen sein: Das Interesse des Staates an unverfälschtem Wettbewerb auf seinen Märkten und am Kollektivschutz der Abnehmer (insbesondere der Verbraucher) auf denselben, just Grund der Indienstnahme privater Interessen durch Einräumung einer Klagebefugnis an Verbände und Branchengenossen, rechtfertigt und gebietet die Klagemöglichkeit der Verbände und Branchengenossen vor den deutschen Gerichten, wenn und soweit die streitgegenständliche Wettbewerbshandlung den inländischen Wettbewerb verfälscht und in nicht tolerabler Weise auf die Abnehmer als Teil des inländischen Marktgeschehens einwirkt. Relevanter Tatort ist der Marktort. Für die Ubiquitätsregel, Ausdruck der „Sympathie mit dem Verletzten", ist jenseits der Klage desselben kein Raum. 4. Distanzdelikt und Interessentenklage, a) Tatortzuständigkeit als Marktortzuständigkeit für Interessentenklagen heißt (unter Berücksichtigung des Umstands, daß der örtlich relevante Markt bei Anbieterwettbewerb durch den Situs der Nachfrager lokalisiert wird): Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach § 24 II UWG ist im Institutionen- und Kundenschutzinteresse gegeben bei allen Unterlassungsklagen von Bran19 So insbes. Gelmer (o. Fußn. 10) Rdnr. 1517 a, ferner z.B. Melullis (o. Fußn. 17) Rdnr. 131; Schricker (o. Fußn. 16) Rdnr. 70; Behr GRUR Int. 1992, 604/608. 20 So z.B. Kropholler (ο. Fußn. 9) Kap. III Rdnr. 382; Schack (o. Fußn. 9) Rdnr. 300; Nagel (o. Fußn. 9) Rdnr. 117 f.; Staudinger/v. Hoffmann (o. Fußn. 9) Art. 38 Rdnrn. 258, 259 c; Erdmann in: G r o ß k o m m . z. UWG, 1991, § 24 Rdnr. 32.

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chengenossen und Verbänden gerichtet auf Unterbindung von Praktiken ausländischer Unternehmen, die den Inlandskunden (einschließlich ausländischer Besucher inländischer Messen und ausländischer Touristen) in der Freiheit rationaler Marktentscheidung beeinträchtigen. All dies gilt auch und gerade dann, wenn die Wettbewerbs Handlung im Ausland gesetzt wird (Fall des Distanzdelikts): Tatort ist der Ort der Einwirkung auf den Kunden. Ob die Leistung bei Geschäftsabschluß im In- oder Ausland erbracht wird, bleibt irrelevant. Unter dem Sammelbegriff Kundenfang sind insoweit thematisiert: 21 Praktiken irreführender Werbung, belästigender Werbung, aleatorisches Marketing, das die Werbeadressaten unter Druck setzt oder es ihnen gar unmöglich macht, ohne Bestellung an Preisausschreiben oder Gewinnspielen teilzunehmen, bestimmte Formen der gefühlsbetonten Werbung sowie einen psychologischen Kaufzwang schaffende Wertreklamepraktiken. Deutsche internationale Zuständigkeit gem. § 24 II UWG deshalb beispielsweise: bei Klage gegen einen ungarischen Weinabfüller auf Unterlassung des Inlandsvertriebs ungarischer Weine in — für Frankenwein gebietstypischen — Bocksbeutelflaschen, obschon solche Flaschenform für das Anbaugebiet ohne Tradition;22 bei Klage gegen ein tschechisches Unternehmen auf Unterlassung grenzüberschreitender Telefonwerbung gegenüber Privaten,23 gleichgültig, ob die Lieferung der beworbenen Produkte im Inland erfolgen soll oder die angesprochenen Anrainer zum Einkauf jenseits der Grenze animiert werden sollen; bei Klage gegen einen österreichischen Filialisten, der in der grenznahen deutschen Regionalzeitung wirbt, auf Unterlassung der Ankündigung, man gewähre an den — vor den Warenhäusern gelegenen — Tankstellen des Unternehmens gegen Einlösung des aus der Annonce auszuschneidenden Gutscheins eine bestimmte Gratismenge an Benzin.24

21 Instruktiver einschlägiger Überblick nach deutschem Sachrecht: Emmerich, Das Recht des unlauteren Wettbewerbs, 4. Aufl. (1995), §§ 10-12 sowie Schünemann, Wettbewerbsrecht, 1989, S. 52 ff. 22 Zum einschlägigen Irreführungstatbestand nach deutschem Sachrecht: Lindacher in: Großkomm. z. UWG, 1992, § 3 Rdnr. 589 m.w.N. 23 Zur Unlauterkeit derartiger Praktiken nach deutschem Sachrecht: Emmerich (o. Fußn. 21) § 10/4 d m.w.N. 24 Zur Problematik des „übertriebenen Anlockens" nach deutschem Sachrecht: Baumbach/Hefermehl (o. Fußn. 7) § 1 UWG Rdnrn. 164 ff. m.w.N.

Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen

331

b) Tatortzuständigkeit als Marktortzuständigkeit für Interessentenklagen heißt weiter: Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach § 24 II UWG ist im Institutionenschutzinteresse gegeben für alle Abwehrklagen von Branchengenossen und Verbänden gegen ausländische Unternehmen, gerichtet auf Unterbindung von BehinderungsK- und Ausbeutungspraktiken26 zulasten in- und ausländischer Konkurrenten auf dem Inlandsmarkt, wiederum auch und gerade dann, wenn vom Ausland her auf den inländischen Markt eingewirkt wird. Deutsche internationale Zuständigkeit gem. § 24 II UWG deshalb etwa: bei K l a g e gegen ein U S - a m e r i k a n i s c h e s Unternehmen, das die (Inlands-) Liefer a n t e n eines M i t b e w e r b e r s auf dem deutschen M a r k t zu einer Liefersperre aufruft; 2 7 bei Klage gegen einen polnischen Modehersteller, der einen Teil der Kollektion eines inländischen Designermode-Herstellers kopiert h a t und seine S t ü c k e nunmehr im W e g e des V e r s a n d h a n d e l s im Inland anbietet. 2 8

Probleme wirft die Konstellation auf, daß die zu beurteilende Wettbewerbshandlung Bezug zu zwei Märkten aufweist, wie etwa beim Aufruf zum Boykott in der Form der Liefersperre, wenn die Auslandstochter eines inländischen Unternehmens ausländische Lieferanten zur Sperre des Inlandsmarktkonkurrenten der „Mutter" auffordert: Der Verrufene steht, was die Beschaffungsseite anbelangt, in Nachfragewettbewerb; der Boykottaufruf trifft ihn in Hinblick auf die einschlägige Maßgeblichkeit des Lieferantensitus zunächst als Teilnehmer eines ausländischen Markts. Letztlich zielt der Boykottaufruf aber unverkennbar auf die Förderung der Wettbewerbsstellung der Muttergesellschaft im Anbieterwettbewerb auf dem Inlandsmarkt. Richtigerweise wird man deshalb ob der Wirkung auf dem Sekundärmarkt (= Inlandsmarkt) — jedenfalls: auch — die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte anzunehmen haben. c) Tatortzuständigkeit als Marktortzuständigkeit für Interessentenklagen heißt endlich: Möglichkeit, ausländische Unternehmen nach § 24 II 25 Instruktiver einschlägiger Überblick (auf der Basis deutschen Sachrechts): Emmerich (o. Fußn. 21) § 6 sowie Schünemann (o. Fußn. 21) S. 80 ff. 26 Bündiger einschlägiger Überblick (auf der Basis deutschen Sachrechts): Schünemann (o. Fußn. 21) S. 103 ff. 27 Zur Unlauterkeit von Boykottaufrufen nach deutschem Sachrecht: Baumbach/ Hefermehl (o. Fußn. 7) § 1 UWG Rdnrn. 276 ff. m.w.N. 28 Zum Modeneuheitenschutz nach deutschem Sachrecht: Emmerich (o. Fußn. 21) § 9/4 b m.w.N.

332

UWG vor deutschen Gerichten zu verklagen, wenn und weil sich dieselben unter planmäßiger Verletzung des nach IPR-Regeln berufenen deutschen Sachrechts einen Wettbewerbsvorsprung gegenüber den gesetzestreuen Mitbewerbern auf dem Inlandsmarkt verschaffen. 29 Wirbt ein polnischer Flughafenbetreiber in deutschen Zeitschriften systematisch mit Preisen, die sich zuzüglich Flughafengebühr verstehen, muß er vor den deutschen Gerichten wegen Verstoßes gegen die PreisangabenVO auf Unterlassung in Anspruch genommen werden können. 5. Distanzdelikt und Verletztenklage. Geltung der Tatortregel als Ubiquitätsregel für Verletztenklagen heißt: a) Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach § 24 II S. 1 UWG ist zunächst gegeben: für alle Schadensersatz- und Abwehrklagen in- und ausländischer Unternehmen, gestützt auf eine unzulässige geschehene bzw. drohende Beeinträchtigung der eigenen Inlandsmarktposition, auch wenn die T a t - oder Teilnehmerhandlung im Ausland gesetzt wurde bzw. das Handlungszentrum des Störers im Ausland liegt (Tatortzuständigkeit i.S. von Verletzungsort- gleich Marktortzuständigkeit). Deutsche internationale Zuständigkeit deshalb etwa: bei Antrag eines inländischen Unternehmens auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung gegen ein kanadisches Unternehmen, das im Rahmen der Verwarnung inländischer Abnehmer unzutreffenderweise den Eindruck erweckte, es habe gegen den Antragsteller ein rechtskräftiges Patentverletzungsurteil erstritten, 30 gerichtet auf Unterrichtung der Adressaten der Verwarnung, daß die mitgeteilte Entscheidung noch Gegenstand obergerichtlicher Überprüfung; bei Schadensersatzklage eines japanischen Herstellers gegen ein US-amerikanisches Unternehmen, beide Konkurrenten (auch) auf dem Inlandsmarkt, gestützt auf den Umstand, daß dieses von den bisherigen (Auslands-) Lieferanten des Klägers systematisch und über den Eigenbedarf hinaus die erforderlichen Rohstoffe aufgekauft hat.31

29 Allgemein zur wettbewerbsrechtlichen Relevanz der Vorsprungserlangung durch Rechtsbruch (auf der Basis deutschen Sachrechts) : Baumbach/Hefermehl (o. Fußn. 7) § 1 UWG Rdnrn. 609 ff. m.w.N. 30 Zur Wettbewerbswidrigkeit derartiger Abnehmerverwarnungen (nach deutschem Sachrecht): BGH WRP 1995, 489 - Abnehmerverwarnung. 31 Zum Schutz gegen Rohstoffaufkauf nach deutschem Sachrecht: Baumbach/Hefermehl (o. Fußn. 7) § 1 UWG Rdnr. 233.

Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen

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b) Tatortzuständigkeit nach § 24 II S. 1 UWG, nunmehr als Handlungsortzuständigkeit, ist darüber hinaus aber auch gegeben: für Klagen inund ausländischer Unternehmen gegen ausländische Unternehmen wegen geschehener bzw. drohender Verfälschung des Wettbewerbs auf einem Auslandsmarkt, wenn und weil vom Inland aus in tatbestandsmäßiger Weise auf das ausländische Marktgeschehen eingewirkt wurde/eingewirkt zu werden droht. Bestreicht ein österreichisches Unternehmen aus Gebührenersparnisgründen den österreichischen Markt von Deutschland aus mit mailshots kundenirreführenden Inhalts, kann ein deutscher Konkurrent (auch) vor deutschen Gerichten klagen.

Bei Klagen gegen inländische Unternehmen stellt sich die Zuständigkeitsfrage nach autonomem deutschem IZPR, dh. nach § 24 UWG, nur dann, wenn man für die Anwendung des — gegenüber autonomem Recht vorrangigen — EG-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) einen Sachverhaltsbezug zu mehr als einem Vertragsstaat verlangt. 32 Bejaht man dies, kann die Klage eines Drittstaat-Unternehmens gegen ein inländisches Unternehmen wegen geschehener bzw. drohender Verfälschung des Wettbewerbs auf Auslandsmärkten durch Inlandshandeln sowohl gem. § 24 I UWG (Gerichtsstand des Beklagtensitzes) als auch gem. § 24 II S. 1 UWG (Gerichtsstand der Wettbewerbshandlung) in Deutschland anhängig gemacht werden. Die deutsche internationale Zuständigkeit nach § 24 II S. 1 UWG begründet deshalb etwa (sofern man nicht das autonome deutsche IZPR durch das Europäische Zivilprozeßrecht in der Gestalt des EuGVÜ als verdrängt ansieht): das Versenden einer Werbebroschüre mit unsachlich kritisierender vergleichender Werbung zulasten eines österreichischen Unternehmens durch ein inländisches Unternehmen von Deutschland nach Österreich.

32 Zur einschlägigen (Streit-) Frage einerseits — Bejahung des Gemeinschaftsbezugserfordernisses — beispielsweise Schack (o. Fußn. 9) Rdnrn. 240 f.; Kohler IPRax 1983,266, andererseits — Verneinung eines solchen Erfordernisses — z.B. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 4. Aufl. (1993), Rdnr. 8 vor Art. 2 EuGVÜ; Fisching/v. Hoffmann, Internationales Privatrecht, 4. Aufl. (1995), § 3 Rdnrn. 211 ff.

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Wann eine kompetenzbegründende tatbestandsmäßige Einwirkung, wann eine kompetenzrechtlich irrelevante bloße Vorbereitungshandlung vorliegt, beurteilt sich nach dem gemäß IPR-Regeln berufenen Sachrecht, nach der im Internationalen Lauterkeitsrecht maßgeblichen Marktortregel 33 mithinnach ausländischem Recht. Vor diesem Hintergrund verbieten sich vorschnelle Aussagen. Akte ohne Außenwirkung (wie die Beauftragung eines ausländischen Anwalts zur Schutzrechtsverwarnung eines Mitbewerbers auf dortigen Markt) dürften freilich, nach welchem Sachrecht auch immer, kaum je über bloße Vorbereitungshandlungen hinausgehen.34 c) Geltung der Ubiquitätsregel bedeutet freilich nicht Tatortzuständigkeit am Sitz des Klägers als Ort der Schadenslokalisierung: Ein inländisches Unternehmen findet kein Inlandsforum für eine Abwehr- bzw. Schadensersatzklage, die Wettbewerbswidrigkeit des Verhaltens eines ausländischen Konkurrenten mit Auslandsmarktbezug geltend macht, wenn und weil die Beeinträchtigung der Auslandsmarktposition mittelbar zu einer Schmälerung des — am Geschäftssitz zu lokalisierenden — Gesamtgeschäftsergebnisses führt. Spricht ein österreichisches Unternehmen gegenüber US-amerikanischen Kunden eines deutschen Unternehmens unbegründeterweise eine Schutzrechtsverwarnung aus, besteht für eine Unterlassungs- und/oder Schadensersatzklage des inländischen Unternehmens keine internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach § 24 II S. 1 UWG. 6. Streudelikte. Einer gesonderten Betrachtung bedürfen schließlich die sog. Multistate-Wettbewerbshandlungen, d. h. Wettbewerbshandlungen, denen eine Streuwirkung auf mehrere nationale Märkte eignet, wie dies insbesondere bei der Anzeigenwerbung in Zeitungen mit übernationaler Verbreitung oder einer mehrere Staaten bestreichenden Funk- oder Fernsehwerbung der Fall ist. Auch hier bleibt es im Grundsatz dabei: Die deutsche internationale Zuständigkeit für Interessenten- und Verletztenklagen ist — neben der Zuständigkeit der Gerichte anderer, gleichfalls bestreuter Staaten — gegeben, wenn die Wettbewerbshandlung (auch) den Wettbewerb auf 33 Nachw. Fußn. 11. 34 A.A. — Beauftragung des ausländischen Anwalts „Initiativhandlung, durch die ein Tatbestandsmerkmal der unerlaubten Handlung im Inland verwirklicht wird" — noch BGH NJW 1954, 1931.

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dem Inlandsmarkt verfälscht (Tatortzuständigkeit als Erfolgsortgleich Marktortzuständigkeit).35 Bei Verletztenklagen ist der Weg zu den deutschen Gerichten darüber hinaus nach der insoweit anwendbaren Ubiquitätsregel auch dann eröffnet, wenn in tatbestandsmäßiger Weise vom Inland aus verfälschend auf das Auslandsmarktgeschehen eingewirkt wird (Tatortzuständigkeit als Handlungsortzuständigkeit). Behält man im Auge, daß die Konkretisierung der Tatortregel richtigerweise immer unter dem Gebot des Austarierens widerstreitender Zuständigkeitsinteressen steht, gilt es freilich von der Bejahung der Tatortzuständigkeit als Erfolgsort- gleich Marktortzuständigkeit billigerweise abzusehen, wenn die Einwirkung auf den Inlandsmarkt weder intendiert noch von hinreichender Spürbarkeit: ein mehr oder weniger zufälliger „over spill", der die Schutzinteressen nicht nennenswert tangiert, sollte keine Erfolgsortzuständigkeit inländischer Gerichte zulasten ausländischer Beklagter begründen.36 Bewirbt ein österreichischer Markenartikelhersteller sein Produkt im österreichischen Fernsehen in konfundierender Weise, kann ein sowohl auf dem österreichischen als auch auf dem deutschen Markt in Wettbewerb stehendes inländisches Unternehmen auch vor den deutschen Gerichten auf Unterlassung klagen. Anders, wenn sich die streitgegenständliche Werbung im Anzeigenteil einer österreichischen Lokalzeitung befindet, von der Stücke nur sporadisch und vereinzelt ins Inland gelangen. 7. Inlandsdeliktszuständigkeit bei Inländerwettbewerb auf Auslandsmärkten? Nach Meinung des OLG Hamm (NJW-RR 1986, 1047/1048) ist trotz Auslandshandeln und Auslandsmarktbezugs desselben Deliktszuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben, wenn sich der Wettbewerb auf dem Auslandsmarkt ausschließlich zwischen inländischen Unternehmen abspielt oder die beanstandete Wettbewerbshandlung sich jedenfalls speziell und gezielt gegen den inländischen Mitbewerber richtet. Der Senat überträgt damit explizit die zum Kollisionsrecht entwickelten Grundsätze der „Stahlexport"-Entscheidung (BGHZ 40, 391/397 f. = GRUR 1964, 316/318) auf das Recht der internationalen Zuständigkeit. Der einschlägigen These ist mit Nachdruck zu widersprechen.37 Die 35 BGH GRUR 1971, 153 f. - T a m p a x ; OLG Frankfurt AfP 1991, 629/630; (o. Fußn. 16) Rdnr. 71. 36 Übereinstimmend: Schricker aaO. 37 Vgl. auch Schock (o. Fußn. 9) Rdnr. 300.

Schricker

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„Stahlexport"-Doktrin überzeugt schon kollisionsrechtlich nicht, weil sie den Charakter von Lauterkeitsrecht als Marktrecht negiert.38 Für die Kompetenzfrage kommt dazu, daß für eine Inlandsi/e/zÄfezuständigkeit bei Wettbewerbsstreitigkeiten zwischen Inländern auch keinerlei Bedarf besteht: Zuständigkeit deutscher Gerichte ist hier allemal bereits nach § 24 I UWG (Inlandssitz des Beklagten) gegeben.39

V.

Resume

Entgegen gängiger Meinung ist die (Streit-) Frage, ob nach autonomem deutschem Internationalem Wettbewerbsverfahrensrecht die Tatortregel bei Distanzdelikten als Ubiquitätsregel zu begreifen, oder der Begehungsort ausschließlich am „Ort der wettbewerblichen Interessenüberschneidung" festzumachen ist, nicht im Sinne eines Entweder-Oder zu entscheiden. Da die Funktionsanreicherung des Lauterkeitsrechts den „klassischen" deliktsrechtlichen Kern desselben, den Schutz des einzelnen Wettbewerbers, unberührt läßt, bleibt es hinsichtlich der Verletztenklage bei der Ubiquitätsregel: Die Klage kann am Handlungs- oder Erfolgsort erhoben werden, wobei letzterer freilich wettbewerbsrechtlich zu konkretisieren ist; Erfolgsortzuständigkeit heißt Marktortzuständigkeit. Bei der ausschließlich marktrechtlich legitimierten Interessentenklage ist für die Tatortzuständigkeit als Handlungsortzuständigkeit hingegen in der Tat kein Raum: Tatortzuständigkeit bedeutet von vornherein Marktortzuständigkeit und nur Marktortzuständigkeit. Streudelikte führen via Mehrung der Marktortzuständigkeit zur konkurrierenden Zuständigkeit der Gerichte mehrerer Staaten: Tatortzuständigkeit als Marktortzuständigkeit ist überall gegeben, wo die zu beurteilende Handlung hinreichende (= spürbare) Marktwirkung entfaltet. Kompetenz- und kollisionsrechtliche Anknüpfung sind teilidentisch: Anders als das autonome deutsche Internationale Wettbewerbsverfahrensrecht versteht das deutsche Wettbewerbskollisionsrecht bei Distanzdelikten, auch bei Klagen des Verletzten, die Tatortregel nicht (mehr) 38 Kritisch denn auch z.B. v. Bar (o. Fußn. 11) Rdnr. 700; Kropholler (o. Fußn. 7) § 53 VII/1; Wilde (o. Fußn. 12) § 6 Rdnr. 21; Staudinger/v. Hoffmann (o. Fußn. 9) Rdnr. 523. 39 Zutreffend bereits Schack aaO.

Internationale Zuständigkeit in Wettbewerbssachen

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als Ubiquitätsregel. Kollisionsrechtlich zählt allein der Erfolgsort verstanden als Ort, auf dem sich Wettbewerb als Parallel- und Austauschprozeß vollzieht. Der Erfolgsort als Marktort ist freilich hier wie dort gleichsinnig (eben genuin wettbewerbsrechtlich) zu konkretisieren. Bei Streudelikten resultiert aus der Marktortmehrheit Zuständigkeits- und Rechtsordnungskonkurrenz. Für eine „Auflockerung der Tatortregel" bei Wettbewerb zwischen Inländern auf Auslandsmärkten besteht weder kollisions- noch kompetenzrechtlich Anlaß.

Rechtsprobleme der Vertretung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Zivilprozeß bei Unwirksamkeit von Anteilsübertragungen von

Prof. Dr. Karl-Georg Loritz

Mainz

Professor an der Universität Mainz

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Inhaltsverzeichnis

I. Problemstellung II. Die prozeßrechtliche Regelung der Vertretungsbefugnis III. Die Vorschriften des HGB und des GmbH-Gesetzes zur Vertretungsmacht des Geschäftsführers 1. Die Eintragung des Geschäftsführers im Handelsregister 2. Die fehlende Regelung des GmbH-Rechts und des Prozeßrechts für Mängel der Vertretung der juristischen Person IV. Die Wirkungen der Geschäftsführerbestellung im Außenverhältnis und insbesondere im Prozeß 1. Die Wirkungen fehlerhafter Gesellschafterbeschlüsse 2. Rechtliche Möglichkeiten zur Kompensation unwirksamer Anteilsübertragungen V. Lösungen 1. Materielles Recht und Prozeßrecht 2 . Rechtsmißbräuchliches Verhalten im Prozeß 3 . Konsequenzen für die Gerichte

Rechtsprobleme der Vertretung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Zivilprozeß bei Unwirksamkeit von Anteilsübertragungen

I.

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Problemstellung

Seit sich die GmbH in Deutschland ab dem Jahre 19771 großer Beliebtheit erfreut 2 , haben sich auch die bei Rechtsstreitigkeiten auftretenden Probleme erheblich vermehrt. Dabei zeigt sich immer wieder, daß viele davon bisher noch ungelöst sind. Dies gilt auch für Fragen im Zusammenhang mit der Vertretungsmacht des Geschäftsführers im Falle unwirksamer Anteilsübertragungen, wenn also der Geschäftsführer von (vermeintlichen) Gesellschaftern bestellt wurde, die in Wahrheit nicht Anteilsinhaber sind. Folgendes Beispiel mag das Problem verdeutlichen : Die G-AG ist (vermeintliche) Alleingesellschafterin der X-GmbH. Diese hat die Y-AG vor dem Landgericht auf Erfüllung der Ansprüche aus einem Werkvertrag verklagt. Der Rechtsanwalt der Y-AG wendet ein, die Klage sei nicht wirksam erhoben, weil der vom Geschäftsführer GF der X-GmbH bevollmächtigte Rechtsanwalt keine wirksame Prozeßvollmacht habe. Der amtierende Geschäftsführer GF der X -GmbH sei nämlich in Wahrheit nicht Geschäftsführer, weil die G-AG nicht Gesellschafterin sei. Sie habe die Geschäftsanteile nicht wirksam erwerben können. Im Jahre 1985 habe nämlich die D-AG, die dann später die Anteile an die G-AG veräußert habe, seinerseits die Anteile fehlerhaft und damit nicht wirksam vom Gründer der X-GmbH erworben. Da es einen gutgläubigen Erwerb bei der Anteilsübertragung nicht gebe, sei immer noch der Gründer der X-GmbH Anteilsinhaber. Der derzeitige Geschäftsführer GF habe demgemäß von der G-AG nicht wirksam bestellt werden können, der entsprechende Beschluß sei in Wahrheit ein Nichtbeschluß. Also könne GF auch keine Vertretungsmacht haben und die Klage sei nicht wirksam erhoben und deshalb als unzulässig abzuweisen. Der bevollmächtigte Rechtsanwalt der GmbH habe nach § 89 1 Mit Wirkung vom 1.1.1977 wurde die Körperschaftsteuer reformiert, so daß für inländische GmbHs die steuerliche Doppelbelastung — Körperschaftsteuerbelastung auf die Gewinne der GmbH und Einkommensteuerbelastung auf die ausgeschütteten Gewinne des Anteilseigners ohne Möglichkeit der Anrechnung — entfallen ist. 2 Die Zahl der GmbHs dürfte in Deutschland im Jahre 1995 auf etwa 650.000 ansteigen, vgl. dazu Hansen, GmbHRdSch 1995, 507. Ende 1992 gab es laut Statistischem Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1994, S. 138, 549.659 GmbHs.

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Abs. 1 Satz 3 ZPO die der Y-AG entstandenen Kosten zu tragen und sei zum Tragen der entsprechenden Schäden zu verurteilen. Die Y-AG kenne die Internas deswegen so genau, weil ihre Muttergesellschaft vor kurzem die Aktien der G GmbH übernommen habe3. Für das Gericht stellt sich hier zunächst die Frage, ob es einer solchen Rüge Uberhaupt nachgehen muß oder ob es sich darauf beschränken kann, festzustellen, GF sei als Geschäftsführer der X-GmbH im Handelsregister eingetragen und habe deshalb wirksam Prozeßvollmacht erteilen können. Oder muß es, jedenfalls dann, wenn der Gegner Urkunden vorlegt oder sonstige Beweismittel anbietet, aus denen sich ergibt, daß G-AG in Wahrheit nicht Gesellschafter sein könnte, diesem Vortrag nachgehen? Hier sind verschiedene Konstellationen zu unterscheiden: Die Beklagte, hier Y-AG, kann Dritter sein. Möglich ist aber auch, daß die Beklagte jetzige oder frühere Gesellschaftein ist, wobei es sich hier um eine Streitigkeit aus dem Gesellschaftsverhältnis oder aus einer Drittbeziehung, wie etwa einem zwischen Gesellschaft und Gesellschafter abgeschlossenen Kaufvertrag, der mit dem Gesellschaftsverhältnis nichts zu tun hat, handeln kann. Die Problematik betrifft die Vertretungsbefugnis im Prozeß, wobei man dabei im weiteren auf die Frage stößt, ob und in welcher Form die Vorschriften des materiellen Rechts, betreffend die Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers einer GmbH, hier weiterführen.

II. Die prozeßrechtliche

Regelung der

Vertretungsbefugnis

Es geht darum, ob die GmbH als Prozeßpartei wirksam durch den Geschäftsführer als natürliche Person vertreten werden kann (vgl. § 51 ZPO). Diese Vertretung nicht prozeßfähiger Parteien durch die gesetzlichen Vertreter bestimmt sich gemäß § 51 ZPO nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts, soweit die ZPO nicht ihrerseits besondere Regelungen enthält. Die Formulierung ist ungenau; gemeint ist, daß sich dies nach den Vorschriften des materiellen Rechts und damit auch des Gesellschaftsrechts bestimmt. Bei der GmbH ist § 35 Abs. 1 GmbHG ein3 Derartige Fälle kommen in der Praxis vor allem vor, wenn ein ehemaliger Gesellschafter verklagt ist, der interne Informationen hat.

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schlägig, wonach die Gesellschaft durch den Geschäftsführer gerichtlich und außergerichtlich vertreten wird. Die Vertretungsmacht des gesetzlichen Vertreters muß als Prozeßvoraussetzung mindestens zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung, als Prozeßhandlungsvoraussetzung zur Zeit der Prozeßhandlung vorliegen4. Nach § 56 Abs. 1 ZPO hat das Gericht u.a. den Mangel der Prozeßfähigkeit und der Legitimation eines gesetzlichen Vertreters von Amts wegen zu berücksichtigen. Bekanntlich ist der Streit, ob ein solcher Mangel vorliegt, durch Zwischenurteil nach § 280 ZPO, wenn er verneint wird und durch klageabweisendes Endurteil, wenn er bejaht wird und nicht geheilt werden kann, zu entscheiden. Fehlt demjenigen, der dem Rechtsanwalt Vollmacht zur Prozeßführung erteilt, was nach h.M. eine Prozeßhandlung darstellt 5 , die Vertretungsmacht, so ist die Erteilung der Prozeßvollmacht unwirksam mit der Folge, daß der Rechtsanwalt ohne Vertretungsmacht handelt. Eine von ihm dann erhobene Klage ist nicht wirksam erhoben. Für das Gericht stellt sich in Fällen wie dem eingangs erläuterten die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit es die Rüge der fehlenden Vertretungsmacht des Geschäftsführers der GmbH überhaupt prüfen muß. Kann es sich vielleicht darauf beschränken, durch Einsicht in das Handelsregister die Prüfung mit der Feststellung abzuschließen, der dort eingetragene Geschäftsführer der GmbH könne diese im Prozeß stets vertreten? Literatur und Rechtsprechung haben sich, soweit ersichtlich, mit dieser Problematik bisher nicht im Zusammenhang beschäftigt. Die Rechtsprechung hat nur generell mehrfach entschieden und kann insoweit als gefestigt bezeichnet werden, daß das Gericht bei der Prüfung der Parteifähigkeit, der Prozeßfähigkeit, der Legitimation eines gesetzlichen Vertreters und der erforderlichen Ermächtigung zur Prozeßführung nicht an die allgemeinen Beweisvorschriften gebunden ist, sondern ihm der Freibeweis offensteht 6 . In der Literatur ist die Frage 4 Unstr., s t a t t a l l e r : Zöller/ Vollkommer, ZPO, 19. Aufl. 1995, § 51 Rn. 8 ; Stein/ Jonas/Bork, ZPO, 21. Aufl. 1993, § 51 Rn. 6, 8. 5 Baumgärtel, Wesen und Begriff der Prozeßhandlung einer Partei im Zivilprozeß, 2. Aufl. 1972, S. 173; MünchKommZPO/ζλ Mettenheim, Bd. 1, 1992, § 80 Rn. 2 ; Stein/ Jonas/Bork (FN 4), § 80 Rn. 4 ; Zöller/Vollkommer (FN 4), § 80 Rn. 5 ; BGH, MDR 1964, 410. 6 BGH, ZZP 101, 295 ; BGH, N J W 1990, 1734, 1735 f . ; N J W 1992, 627, 628.

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streitig 7 , hier wird z.T. auch die Ansicht vertreten, es sei der Strengbeweis zu erheben8. Der Ansicht der Rechtsprechung ist zu folgen, vor allem auch aus Praktikabilitätserwägungen. Eine beklagte Partei könnte den Rechtsstreit in vielen Fällen sehr lange verzögern, wenn sie durch Behauptungen und Beweisantritte das Gericht zwingen könnte, umfänglichen Strengbeweis über die Parteifähigkeit, Prozeßfähigkeit und Legitimation eines gesetzlichen Vertreters und die erforderliche Ermächtigung zur Prozeßführung — für all das kann ja wohl nur einheitlich Freibeweis oder Strengbeweis als erforderlich erkannt werden — zu erheben. Gerade der vorliegende Beispielsfall zeigt, daß bei der GmbH die Feststellung des „wahren" Gesellschafters erhebliche Probleme aufwerfen kann, wenn bei mehrfachen Anteilsabtretungen eine lückenlose Abtretungskette nach Jahrzehnten nicht mehr nachweisbar ist. Der Streit über die Vertretungsmacht muß aber möglichst schnell entschieden werden, damit das Gericht in die Sachprüfung eintreten kann. Allein mit einer Beweislastverteilung 9 ist das Problem der mutwilligen Verzögerung des Prozesses durch die Berufung der Beklagtenseite auf die mangelnde Vertretungsmacht des gesetzlichen Vertreters der Klägerin nicht zu lösen. Berücksichtigt man, daß gerade bei juristischen Personen, die ihren Sitz im Ausland haben, ja generell in den Fällen, in denen im Ausland Beweiserhebungen durchzuführen sind, ein Strengbeweisverfahren oftmals Jahre dauern kann, so könnte sich insbesondere in Fällen mit internationalem Bezug ein Beklagter auf relativ einfache Weise über viele Jahre dem Eintritt des Gerichts in die Sachprüfung entziehen. Ergeht dann ein Zwischenurteil über die wirksame Vertretung und wartet das Erstgericht hier die Beendigung des Instanzenzuges ab, so wird der Rechtsschutz schlichtweg uneffektiv. Sicher muß aber ein Gericht, wenn die fehlende Vertretungsmacht substantiiert gerügt wird, dem nachgehen. Hier stellt sich dann die Frage, welche Vorschriften des materiellen Rechts heranzuziehen sind und weiterführen. 7 Der Rspr. folgend z.B. Zöller/ Vollkommer (FN 4), § 56 Rn. 8. 8 Bork, ZZP 103, 468 ; MünctiKommZPO / Lindacher (FN 5), §§ 51, 52 Rn. 42. 9 Nach h.M. muß, wer aus behaupteten Prozeßvoraussetzungen Rechte für sich herleitet, ihr Vorliegen beweisen, es muß also der Kläger beweisen, daß er und der Beklagte partei- und prozeßfähig und gegebenenfalls ordnungsgemäß gesetzlich vertreten sind ; s. BAG, DB 1974, 1244 ; BGHZ 5, 240, 242 ; aus der Lit. s. Bork, ZZP 103, 468 f.; MünchKommZPO/Lindacher (FN 5), §§ 51, 52 Rn. 42; Stein/Jonas,/ Bork (FN 4), § 56 Rn. 8 ; AlternativkommZPO/Koch, 1987, § 56 Rn. 3.

Rechtsprobleme der V e r t r e t u n g von Gesellschaften mit b e s c h r ä n k t e r H a f t u n g im Zivilprozeß bei U n w i r k s a m k e i t von Anteilstibertragungen

III. Die Vorschriften

des HGB und des

zur Vertretungsmacht

des

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GmbH-Gesetzes

Geschäftsführers

Das GmbHG enthält in § 35 Abs. 1 zwar die klare Aussage, daß die Geschäftsführer die Gesellschaft gerichtlich und außergerichtlich vertreten und in § 37 Abs. 2 Satz 1 die weitere Aussage, daß eine Beschränkung der Befugnis der Geschäftsführer, die Gesellschaft zu vertreten, gegen dritte Personen keine rechtliche Wirkung hat, so daß der Grundsatz der Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht im Außenverhältnis statuiert wird10. Aber diese Normen besagen nicht, wer Geschäftsführer ist und nach welchen Kriterien ein Gericht die Geschäftsfuhrerstellung prüfen bzw. im Falle der Handelsregistereintragung darauf vertrauen darf. Hier könnten drei verschiedene Regelungsbereiche einschlägig sein: Einmal § 15 Abs. 2 HGB, wonach ein Dritter eine im Handelsregister eingetragene Tatsache gegen sich gelten lassen muß, zum anderen § 16 GmbHG, wonach der Gesellschaft gegenüber im Fall der Veräußerung des Geschäftsanteils nur derjenige als Erwerber gilt, dessen Erwerb unter Nachweis des Übergangs bei der Gesellschaft angemeldet ist und schließlich besteht die Möglichkeit, daß das Gericht tatsächlich prüft, ob die Bestellung des Geschäftsführers durch den wahren Gesellschafer in ordnungsgemäßer Weise erfolgt ist. 1. Die Eintragung

des Geschäftsführers im

Handelsregister

Das Gericht ist sicher in der Lage, sich einen Handelsregisterauszug zu beschaffen oder vorlegen zu lassen. Bestreitet der Beklagte die Richtigkeit der Eintragung des Geschäftsführers, so ist zu überlegen, ob § 15 Abs. 2 Satz 1 dem Kläger hier nützt. Diese Vorschrift umfaßt zwei Konstellationen11. In der ersten von beiden hat die Vorschrift kaum Bedeutung, weil sie diejenigen Fälle erfaßt, in denen das eingetragen ist, was der wahren Rechtslage entspricht, wie etwa der Ausschluß eines 10 S. s t a t t a l l e r : Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, 15. Aufl. 1988, § 37 Rn. 20 ; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 14. Aufl. 1995, § 37 Rn. 2. 11 Baumbach,/Hopt, HGB, 29. Aufl. 1995, § 15 Rn. 13; Capelle/ Canaris, Handelsrecht, 21. Aufl. 1989, § 5 II 2, S. 59.

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OHG-Gesellschafters von der Vertretungsmacht. In der zweiten soll der einmal geschaffene, durchwegs nicht im Handelsregister eingetragene Vertrauenstatbestand, wie z.B. eine nicht registerliche Rechtsscheinvollmacht, zerstört werden. Dem Wortlaut nach paßt diese Vorschrift auch auf die Fälle, die vorliegend interessieren und in denen der Geschäftsführer im Handelsregister eingetragen ist. Behauptet der Dritte, er berufe sich auf die wahre Rechtslage und nach dieser sei der Eingetragene nicht Geschäftsführer, weil er von einem Nichtgesellschafter bestellt worden sei, so ist allerdings fraglich, ob § 15 Abs. 2 Satz 1 HGB weiterhilft. Denn nach h.M. genießen die Eintragungen im Handelsregister nicht die Vermutung der Richtigkeit12. Ob diese Aussage in dieser Allgemeinheit zutreffend ist, mag dahinstehen, weil es vorliegend um ein anderes Problem geht. Es handelt sich darum, ob dann, wenn zwischen Gesellschaftern und Geschäftsführer Einigkeit besteht, daß letzterer wirksam bestellt wurde, sich ein Dritter in einem Rechtsstreit in die innergesellschaftlichen Angelegenheiten einmischen und die Gesellschaft zwingen kann, diese offenzulegen. Wäre dies wirklich in unbegrenztem Umfang zulässig, dann könnten groteske Situationen entstehen. Angenommen, in der Gesellschaft herrscht zwischen verschiedenen Gesellschaftern Streit und die Wirksamkeit einer Geschäftsführerwahl, eventuell auch eine Anteilsübertragung und damit das Bestehen einer Gesellschafterstellung würde vergleichsweise dahingehend erledigt, daß sich die Parteien auf die Gesellschafterstellung und die Wirksamkeit der Geschäftsführerbestellung einigen, so könnte nunmehr, wenn diese Gesellschaft einen Rechtsstreit gegen einen Dritten führt, das Gericht gezwungen werden, über diesen Vergleich hinwegzugehen und die wahre Rechtslage zu erforschen. Denn der Vergleich bindet den Dritten nicht und selbst ein Gerichtsurteil entfaltete ihm gegenüber keine Rechtskraftwirkung. Stellt man sich dann auf den Standpunkt, die Vertretung im Prozeß richte sich nach der wahren Rechtslage, dann würde auf diese Weise der Vergleich bzw. das Urteil vom Gericht ignoriert. Mit § 15 Abs. 2 Satz 1 HGB ist in seinem bisherigen Verständnis dieses Problem nicht zu lösen. Es fragt sich aber, ob man diese Vorschrift überhaupt benötigt oder ob nicht das Problem schon anderweitig gelöst werden kann.

12 Baumback/Hopt

(FN 11), §§ 15 Rn. 1; 9 Rn. 4.

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2. Die jehlende Regelung des GmbH-Rechts für Mängel der Vertretung

und des

der juristischen

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Prozeßrechts

Person

Sowohl bezüglich der materiellen Rechtsbeziehungen als auch im Prozeß muß man fragen, ob es denn nicht treuwidrig ist, wenn sich der Dritte darauf beruft, der im Handelsregister eingetragene Geschäftsführer sei in Wahrheit kein solcher und könne die GmbH nicht vertreten. Bei Abschluß eines Vertrages mit der GmbH, also beim rechtsgeschäftlichen Handeln außerhalb des Rechtsstreits, ist die Situation nur ausnahmsweise problematisch, wenn der Dritte die wahre Rechtslage, also etwa die Nichtigkeit der Geschäftsführerbestellung kennt und weiß, daß ihm deswegen die Berufung auf § 15 Abs. 3 HGB und auf allgemeine Rechtsscheingrundsätze 13 verwehrt ist. Dann muß er eben den Vertragsabschluß unterlassen. Hat er aber einen Vertrag geschlossen und behauptet er jetzt im Prozeß oder außerhalb desselben, dem Geschäftsführer habe die Vertretungsmacht gefehlt, dann stellt sich die Situation in diesen beiden Konstellationen unterschiedlich dar. Entweder die GmbH ist der Ansicht, die Vertretungsmacht bestehe, dann wird sie hierdurch zumindest konkludent das Rechtsgeschäft genehmigen, was wiederum aber nur wirksam möglich ist, wenn das zuständige Organ dies genehmigt. Dies ist der Geschäftsführer und wenn es derselbe ist oder ein von denselben Gesellschaftern bestellter Geschäftsführer, dann stellt sich das Problem von neuem. Im Prozeß können die Prozeßführung des Geschäftsführers und die Vollmachtserteilung an den Rechtsanwalt genehmigt werden, was aber auch hier nur wirksam ist, wenn es sich nicht um denselben Geschäftsführer handelt, dessen Stellung in Streit steht. Hier zeigt sich das Dilemma des GmbH-Rechts, das für solche Situationen keine Regelung enthält. Ehe die Frage des Rechtsmißbrauchs und der treuwidrigen Berufung auf die fehlende Vertretungsmacht im Prozeß einer Lösung zugeführt werden, ist es zweckmäßig, zunächst nach Lösungen im materiellen Recht zu suchen, die dann die Berufung auf den Rechtsmißbrauch entbehrlich machen. Denn gelingt es, schon nach materiellem Recht in solchen Fällen Regelungen zu finden, wonach die Vertretungsmacht tatsächlich besteht, dann erübrigt sich die Berufung auf den Rechtsmißbrauch. 13 Zur Reichweite dieser Regelung und zu ihrer nach wie vor erforderlichen Ergänzung durch allgem. Rechtsscheingrundsätze statt aller: Baumbach/Hopt (FN 11), § 15 Rn. 18 f.; K. Schmidt, Handelsrecht, 3. Aufl. 1987, S. 364 ff.

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IV. Die Wirkungen der Geschäftsführerbestellung Außenverhältnis

und insbesondere im

1. Die Wirkungen fehlerhafter

im

Prozeß

Gesellschafterbeschlüsse

Beruht die Geschäftsführerbestellung auf einem fehlerhaften Gesellschaf terbeschluß, so kann dieser schwebend unwirksam, anfechtbar oder nichtig sein14. Ist der Beschluß anfechtbar, so ist er vorläufig wirksam und der Geschäftsführer kann die Gesellschaft solange — auch im Rechtsstreit — wirksam vertreten, bis der Beschluß mit der Gestaltungsklage tatsächlich angefochten und von einem Gericht für nichtig erklärt wird15. Der Beschluß wird erst mit Rechtskraft des Gestaltungsurteils nichtig16. Ohne Anfechtung kann also die Fehlerhaftigkeit des Beschlusses auf die Vertretungsmacht des Geschäftsführers ohnehin keinen Einfluß haben. Ein unwirksamer Beschluß liegt vor, wenn eine Wirksamkeitsvoraussetzung fehlt, also z.B. wenn der Geschäftsführer wirksam von der Gesellschafterversammlung bestellt ist, seine Ernennung aber kraft Satzung der Zustimmung eines Gesellschafters bedarf17. Im Unterschied zur Nichtigkeit kann er noch wirksam werden. Tritt dieses Ereignis nicht ein, wird also im genannten Beispiel die Zustimmung nicht erteilt, dann wird der Beschluß endgültig unwirksam und damit nichtig. Der Geschäftsführer war zur Vertretung der Gesellschaft nicht befugt. Nichtig ist ein Beschluß, wenn er an bestimmten Mängeln leidet, die in Anlehnung an § 241 AktG für die GmbH übernommen wurden18. Leidet der Beschluß der

14 Scholz/K. Schmidt, GmbHG, Bd. 2, 8. Aufl. 1995, § 45 Rn. 37. 15 Allgem. Ansicht, z.B. RGZ 166, 129, 131; BGHZ 11, 231, 235 ; 14, 264, 268 ; Baumbach/ Hueck/Zöllner (FN 10), Anh. § 47 Rn. 442 f f . ; Hachenburg/Raiser, GmbHG, 8. Aufl. 1990 ff., Anh. § 47 Rn. 172 f f . ; Lutter/Hommelhoff (FN 10), Anh. § 47 Rn. 60 ; Rowedder / Koppensteiner, GmbHG, 2. Aufl. 1990, § 47 Rn. 96 ; K. Schmidt, AG 1977, 205, 243, 247 f . ; Scholz/K. Schmidt (FN 14), § 45 Rn. 123; s. aber auch Zöllner/Noack, ZGR 1989, 525, 534. 16 Rowedder/Koppensteiner (FN 15), § 47 Rn. 96, 124 ; Roth, GmbHG, 2. Aufl. 1987, § 47 Anm. 6.5 ; Scholz/K. Schmidt (FN 14), § 45 Rn. 124 ; abw. mit Einschränkungen f ü r eine personalistische Gesellschaft Timm, i n : FS Fleck, 1988, 365, 368. 17 Zu Einzelheiten Scholz/K. Schmidt (FN 14), § 45 Rn. 53. 18 Scholz/K. Schmidt (FN 14), § 45 Rn. 62 ff.

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Bestellung des Geschäftsführers an einem solchen Mangel, so wurde der Geschäftsführer nicht wirksam zum Organ bestellt und hat deshalb keine Vertretungsmacht. Haben Gesellschafter, die in Wahrheit keine Gesellschafterstellung innehaben, den Geschäftsführer bestellt, so liegt ein Nichtbeschluß vor, der grundsätzlich keine Wirkungen entfalten kann19. Dennoch kann die Konsequenz nicht sein, daß das Gericht bei jeder Klage, wenn die Vertretungsmacht des Geschäftsführers vom Beklagten bestritten wird, prüfen muß, ob der Bestellungsakt nichtig ist oder ob ein Nichtbeschluß vorliegt, denn im letzteren Fall müßte es dann bis zur Gründung der Gesellschaft zurückverfolgen, ob diejenigen Gesellschafter, die den Geschäftsführer bestellt haben, tatsächlich Anteilsinhaber sind. Es ist auch wenig überzeugend, wenn sich hier das Prozeßrecht auf irgendwelche Vermutungen oder auf die Möglichkeit der schnellen Feststellung im Freibeweisverfahren 20 zurückzöge. Vielmehr muß gerade wegen dieser speziell im Prozeß für die GmbH lebenswichtigen Problematik das materielle Recht praktikable Lösungen bereithalten, schon um die oben dargestellte Möglichkeit der Beklagten, sich mutwillig über lange Zeit der Verurteilung, ja sogar des Eintritts des Gerichts in die Sachprüfung zu entziehen, zu begegnen. Die Problematik ist unter zwei Aspekten zu behandeln: Es geht einmal um die Frage, ob ein Gesellschafterbeschluß tatsächlich nichtig ist, der von vermeintlichen Gesellschaftern gefaßt wurde, nur weil irgendwann in der Vergangenheit eine unbemerkte Lücke bei einer Anteilsübertragung vorgelegen hat. Zum anderen ist zu fragen, ob das Handeln eines Geschäftsführers, der trotz des unbemerkt nichtigen Bestellungsaktes oder des Nichtbeschlusses gehandelt hat, tatsächlich keinerlei Rechtswirkungen soll entfalten können. 2. Rechtliche Möglichkeiten Α

zur Kompensation

unwirksamer

nteilsübertragungen

Im Personengesellschaftsrecht stellen sich die hier erörterten Probleme in dieser Form nicht. Der Grund liegt darin, daß dort die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft gilt, die Mängel der Gesellschaftsgründung oder 19 Kritisch zu dieser Kategorie Baumbach/Hueck/Zöllner 20 Oben II.

(FN 10), Anh. § 47 Rn. 13.

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des Gesellschafterbeitritts nur für die Zukunft Wirkungen entfalten läßt21. Im Anwendungsbereich dieser Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft kann die Situation nicht eintreten, daß eine Personengesellschaft keinen Vertreter hat, weil angesichts des Grundsatzes der Selbstorganschaft 22 stets ein Gesellschafter zur Vertretung befugt ist. Es ist deshalb zwar möglich, daß nicht der wahre (organschaftliche) Gesellschafter als Geschäftsführer im Rechtsstreit die OHG vertritt bzw. dem Rechtsanwalt Prozeßvollmacht erteilt hat, nicht aber ist es möglich, daß kein solcher existiert, der die Prozeßfürung sogleich genehmigen könnte, wenn Zweifel aufkommen. Die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft gibt es auch bei Kapitalgesellschaften 23 . Doch haben Literatur und Rechtsprechung deren Anwendungsbereich bei der GmbH für die Fälle der fehlerhaften Anteilsübertragung eingeschränkt und dies offenbar ohne zu bemerken, daß damit im materiellen Recht und vor allem im Prozeß erhebliche Probleme aufgeworfen werden. Noch im Jahre 1975 hatte der BGH die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft bei einer wegen arglistiger Täuschung angefochtenen GmbH-Anteilsübertragung zur Anwendung gebracht 24 . Im Jahre 1982 wurde dann diese Ansicht zwar nicht ausdrücklich aufgegeben, aber auch nicht bestätigt, sondern relativiert 25 . Sehr vorsichtig zur Geltung der Grundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft auf die fehlerhafte Anteilsübertragung äußerte sich der BGH auch in einem Urteil aus dem Jahre 198826. In seinem Urteil vom 22. Ol. 1990 gab der BGH diese Ansicht auf und entschied nunmehr, daß die bürgerlichrechtlichen Anfechtungs- und Nichtigkeitsvorschriften bei einer Anfechtung der GmbH-Anteilsabtretung wegen arglistiger Täuschung oder Irrtums eingreifen und nicht die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft anwendbar seien. Der BGH verwies hier darauf, daß § 16 Abs. 1 GmbHG ebenso wie § 67 Abs. 2 AktG regele, was im Verhältnis der 21 Umfassend zu dieser Lehre statt a l l e r : Kiibler, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 1994, § 25, S. 315 ff. m.w.Nachw. der Lit. in F N 1; Κ. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 1994, S. 120 f f . ; Paschke, ZHR 155 (1991), S. 1 ff. 22 Hierzu s t a t t a l l e r : Baumbach/Hopf (FN 11), § 125 Rn. 5 ; BGHZ 26, 330, 333 ; 33, 105, 108 ; 41, 367, 369 ; N J W 1982, 1817. 23 Hierzu s t a t t a l l e r : Kubier (FN 21), § 25, S. 315 f f . ; Hachenburg/Ulmer (FN 15), § 2 Rn. 78 ff. 24 BGH, W M 1975, 512. 25 BGHZ 84, 47 = N J W 1982, 2822 ; ähnl. auch OLG H a m m , G m b H R d S c h 1985, 22, 23, wo aber deutlich auf die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft Bezug genommen wurde. Aus der damaligen Lit. s. z.B. Wiesner, N J W 1984, 95, 98 f. 26 BGH, W M 1989, 256.

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Gesellschaft zu ihren Gesellschaftern in den Fällen gelte, in denen die Gesellschaftsanteile fehlerhaft übertragen worden seien. Die bürgerlichrechtlichen Nichtigkeits- und Anfechtungsvorschriften führten gerade nicht dazu, daß die Gesellschafter im Verhältnis zur Gesellschaft rückwirkend in ihre alten Rechtspositionen eingesetzt würden. Die Fehlerhaftigkeit der Anteilsübertragung und die daran anknüpfende Rechtsrückwirkungsfolge der Anfechtung sei auf die Rechtsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter ohne Einfluß27. Damit stellt sich die Situation nach dieser Rechtsprechung so dar, daß bei fehlerhafter Anteilsübertragung die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft insoweit nicht gelten, als für die GmbH § 16 GmbHG eingreift. Der BGH glaubte offenbar, durch § 16 GmbHG die Probleme lösen zu können. Das Bayerische Oberste Landesgericht führt aus, daß, solange bei der GmbH die rechtsgeschäftliche Übertragung eines Geschäftsanteils nicht ordnungsgemäß angemeldet worden sei, allein der Veräußerer befugt sei, die Mitgliedschaftsrechte weiterhin auszuüben. Die Anteilserwerber hätten vor dieser Anmeldung keine Teilnahme- und Stimmrechte in der Gesellschafterversammlung, ein von ihnen gefaßter Beschluß sei ein Nichtbeschluß, auch wenn sie die Geschäftsanteile erworben hätten28. Das mag den Eindruck erzeugen, eine Gesellschaft könne nie ohne eine handlungsfähige Gesellschafterversammlung sein, weil entweder nach der Anmeldung die Erwerber im Verhältnis zur Gesellschaft nach § 16 GmbHG die Gesellschafterrechte hätten oder diese bei den alten Gesellschaftern (Veräußerern) blieben. Doch sind damit, was auch die Literatur bisher offenbar weithin nicht gesehen hat, die Probleme längst nicht gelöst, sondern erst geschaffen. Zunächst erst einmal herrschen, was hier nicht vertieft werden kann, schon Unsicherheiten, welche Voraussetzungen an eine ordnungsgemäße Anmeldung zu stellen sind29. Was ist, wenn sich im Rechtsstreit herausstellt, daß die (neuen) Gesellschafter, die den Geschäftsführer bestellt haben, nicht ordnungsgemäß angemeldet waren? Und vor allem ist die grundlegende Frage aufzuwerfen, ob denn § 16 GmbHG überhaupt im Verhältnis zu Dritten Wirkungen dahingehend entfaltet, daß auch die Dritten verpflichtet sind, einen angemeldeten Gesellschafter als solchen 27 BGH, N J W 1990, 1915, 1916 = W M 1990, 505 = ZIP 1990, 371. 28 BayObLG, GmbHRdSch 1990, 216. 29 Hierzu s t a t t a l l e r : Baumbach,/Hueck (FN 10), § 16 Rn. 3 f f . ; Scholz/Winter, GmbHG, Bd. 1, 8. Aufl. 1993, § 16 Rn. 14 ff., jeweils m.umf.w.Nachw. aus der Rspr. und Lit.

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anzuerkennen. Es ist bei § 16 GmbHG bekanntlich manche Frage ungeklärt, wie z.B., ob er Uberhaupt zwischen den Gesellschaftern untereinander Wirkungen entfaltet, ob also z.B. der angemeldete Gesellschafter, der in Wahrheit den Anteil nicht wirksam erworben hat, eine gesellschafterliche Treuepflicht hat30. Im Prozeßrecht ist die Frage, ob § 16 Abs. 1 GmbHG dazu führt, daß ein angemeldeter Gesellschafter trotz Unwirksamkeit der Anteilsübertragung dennoch wirksam einen Geschäftsführer bestellen kann, der dann die Gesellschaft vertritt, auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil im Fall der Unwirksamkeit der Vertretung das Urteil nach § 579 Abs. 1 Ziff. 4 ZPO nichtig wäre. Träfe dies zu, so könnte ein Beklagter durchaus ein berechtigtes Interesse haben, sich nicht auf einen Prozeß einzulassen, der mit einem nichtigen Urteil enden könnte. Die Lösung all dieser Probleme kann nur aufgrund einer umfassenden Beschäftigung vor allem mit den gesellschaftsrechtlichen Aspekten erfolgen. Deren Einzelheiten können hier aus Raumgründen nicht dargestellt werden; vielmehr muß eine Beschränkung auf wesentliche Ergebnisse im Hinblick auf die für den Prozeß relevanten Aspekte vorgenommen werden. Denn eine Lösung, die sich auf das (auch) für den Prozeß maßgebliche Verhältnis der Gesellschaft zu Dritten beschränken würde, liefe Gefahr, die Systematik des Gesellschaftsrechts zu durchkreuzen und für das Verhältnis zwischen Geschäftsführer und Gesellschafter und zwischen den Gesellschaftern untereinander keine konsequenten Lösungen aufzuzeigen. Das Gesetz löst die Problematik ausdrücklich jedenfalls nicht. § 16 Abs. 1 GmbHG behandelt seinem Wortlaut nach nur das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschafter. Hier trifft das Gesetz auch, jedenfalls bei richtiger Interpretation, eine Regelung, die den Belangen der Praxis in vielen, wenngleich nicht in allen Fällen, gerecht wird. Bei einer, aus welchen Gründen auch immer nichtigen Anmeldung31, nach der aber dennoch Veräußerer, Erwerber und Gesellschaft den Erwerber als Gesellschafter behandeln, hilft diese Vorschrift nämlich nach h.M. nicht weiter. Es bleibt die Frage, ob in den von § 16 Abs. 1 GmbHG nicht abgedeckten Bereichen32 die Lücke durch die Anwendung der Grundsätze 30 Dafür z.B. Grunewald, ZGR 1991, 452, 463 f. 31 Zu Mängeln der Anmeldung s t a t t a l l e r : Scholz/ Winter (FN 29), § 16 Rn. 24 ff. 32 In diesem Zusammenhang ist zu überlegen, ob nicht in den Fällen, in denen die Anmeldung nichtig und nicht nur anfechtbar ist, die Gesellschaft (und eventuell auch die Mitgesellschafter) den Erwerber aber von diesem Zeitpunkt an als

Rechtsprobleme der Vertretung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Zivilprozeß bei Unwirksamkeit von Anteilsübertragungen

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der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft zu schließen ist. Jedenfalls aus der Existenz des § 16 Abs. 1 GmbHG können Bedenken hiergegen nicht hergeleitet werden. Denn diese Vorschrift regelt die Gesamtproblematik unwirksamer Anteilsübertragungen nicht systematisch und schon gar nicht abschließend. Zu fragen ist, ob die Bedenken, die gegen die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft vorgebracht werden, dagegen sprechen, die besagten Lücken durch sie zu schließen. Das ist, um das Ergebnis vorwegzunehmen, nicht der Fall. Dieser Lehre wird von neueren Ansichten entgegengehalten, man brauche sie nicht, weil die Probleme im Außenverhältnis über die Vertrauenshaftung und im Innenverhaltnis nach Bereichungsrecht abgewickelt werden könnten33. Jedenfalls für das Außenverhältnis trifft dies, wie die vorliegend untersuchten und bisher offenbar nicht beachteten Konstellationen zeigen, nicht zu. Denn dann müßte ein Vertrauensschutz zugunsten der fehlerhaften Gesellschaft entwickelt werden, was wenig Sinn ergäbe. Dem Dritten, der mit einer Kapitalgesellschaft kontrahiert hat, kann es grundsätzlich — eine Ausnahme besteht etwa dann, wenn ein Gesellschafter seine Einlage nicht oder nicht vollständig erbracht hat und die Gesellschaft dann die Möglichkeit des Rückgriffs hat34 — gleichgültig sein, wer Gesellschafter ist, wenn er, der Dritte, auch und gerade im Fall des Rechtsstreits sicher sein kann, daß das Urteil für und gegen die Gesellschaft wirkt und er mit befreiender Wirkung an sie leisten kann. Den Dritten gehen deshalb die innergesellschaftlichen Verhältnisse nichts an. Er kann schließlich, was ganz selbstverständlich ist, z.B. auch Gesellschafterbeschlüsse nicht anfechten. Die Gesellschafter, gleichgültig, ob sie tatsächlich die Gesellschafterstellung innehaben oder (wegen Nichtigkeit der Anteilsübertragung) nicht, sind daran interessiert, daß die Gesellschaft handlungsfähig bleibt, jedenfalls solange bis entweder die innergesellschaftliche Lage geklärt

Gesellschafter behandeln, ein Grundsatz der „faktischen Anmeldung" gelten muß mit der Folge, daß diese Fälle bereits von § 16 Abs. 1 GmbHG abgedeckt werden. Ein solcher faktisch angemeldeter Gesellschafter könnte dann alle Gesellschafterrechte einschließlich der Bestellung eines Geschäftsführers wahrnehmen. 33 Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 172 ff.; Möschel, i n : FS Hefermehl, 1976, S. 171 ff.; Rödig, Bereicherung ohne Rechtfertigung durch Gesellschaftsvertrag, 1972, S. 25 ff.; Weber, Zur Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft, 1978, S. 182 f. 34 Das braucht nicht näher behandelt zu werden, weil § 16 Abs. 3 GmbHG hier eine Lösung bietet.

354

ist oder bis ein Notgeschäftsführer analog § 29 BGB bestellt ist35. Anders als bei Passivprozessen, wo das Gericht nach § 57 ZPO einen Prozeßpfleger bestellen kann, ist bei Aktivprozessen von der ZPO diese Möglichkeit nicht vorgesehen. Das Gericht müßte hier auch solange aussetzen, bis das Registergericht einen Notgeschäftsführer bestellt. Es ist deshalb geboten, daß im materiellen Recht die bestehende Lücke gerade auch im Interesse der ansonsten unbrauchbaren prozessualen Konsequenzen geschlossen und so vermieden wird, daß die Gesellschaft ohne Vertreter ist und dies, obwohl dies ihr und ihren Gesellschaftern durchwegs nur schadet und daran niemand ernstliches Interesse haben kann. Diese Interessenlage stimmt mit derjenigen Dritter überein. Denn auch, wenn man zu deren Gunsten das Instrumentarium des Vertrauensschutzes einsetzen kann, so hat das für sie den Nachteil, daß in jedem Einzelfall das Vorliegen der Voraussetzungen des einschlägigen Vertrauensschutztatbestandes festgestellt und gegebenenfalls bewiesen werden muß. Vorzugswürdig ist daher eine Lösung, die die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft zur Schließung des von § 16 Abs. 1 GmbHG nicht erfaßten Bereiches immer dann heranzieht, wo berechtigte Interessen der Gesellschafter, der Gesellschaft oder Dritter nicht entgegenstehen. Auf diese Weise vermeidet bereits das materielle Recht einen Zustand, bei dem derjenige, der von der Gesellschaft als Gesellschafter anerkannt wird und wegen der ihm im Gesellschaftsvertrag oder aufgrund einer, wenn auch unwirksamen Anteilsübertragung, erfolgten Anerkennung als Gesellschafter handelt, nicht in der Lage sein sollte, einen Geschäftsführer wirksam zu bestellen. Stellen sich Mängel heraus, so wirken diese dann ebenso wie bei richtig verstandenen Auffassungen im Falle des Widerrufs der Anmeldung i.S. des § 16 Abs. 1 GmbHG auch dort, wo die Grundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft eingreifen nur ex nunc, also für die Zukunft. Zweifellos könnte ein Teil der Probleme auch durch Heranziehung bzw. Fortentwicklung einer Lehre vom fehlerhaften Organ36 gelöst werden. Doch erscheint es auch dogmatisch konsequenter, mit der Problemlösung auf der Stufe anzusetzen, wo die Probleme auftreten, nämlich bei der unwirksamen Anteilsübertragung. Dies schließt ja 35 Hierzu statt aller: Baumbach,/Hueck/Zöllner (FN 10), § 6 Rn. 19, § 35 Rn. 6 ; Hachenburg/Mertens (FN 15), § 36 Rn. 63; Hohlfeld, GmbHRdSch 1986, 181 ff.; Scholz/Schneider (FN 29), § 35 Rn. 39; RGZ 138, 99, 101; BGHZ 6, 232 ; BayObLG, DB 1978, 2165 ; NJW 1981, 995 ; OLG Frankfurt am Main, BB 1986, 1601. 36 Hierzu umfassend U. Stein, Das faktische Organ, 1984.

Rechtsprobleme der Vertretung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Zivilprozeß bei Unwirksamkeit von Anteilsübertragungen

355

keinesfalls aus, andere Lücken durch die besagte Lehre vom fehlerhaften Organ zu schließen.

V. Lösungen

1. Materielles

Recht und

Prozeßrecht

Damit lösen sich die hier angesprochenen Probleme : Führt die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft dazu, daß dort, wo § 16 Abs. 1 GmbHG nicht eingreift, die Gesellschafter materiellrechtlich so behandelt werden, als würden sie die Gesellschafterstellung im Verhältnis zueinander und im Verhältnis zur Gesellschaft wirksam innehaben, so können sie auch wirksam einen Geschäftsführer bestellen. Selbst wenn sich danach herausstellt, sie seien in Wahrheit nicht Gesellschafter, bleibt dieser Bestellungsakt wirksam, bis die wahren Gesellschafter den Geschäftsführer abbestellen bzw. seine Bestellung bestätigen. Diese Geschäftsführer haben Vertretungsmacht auch im Prozeß. Ein Urteil, das für und gegen die von ihnen vertretene Gesellschaft ergeht, kann nicht nach § 579 Abs. 1 Ziff. 4 ZPO nichtig sein. Der von der Gesellschaft bevollmächtigte Rechtsanwalt hat daher Prozeßvollmacht. Diese kann nicht rückwirkend unwirksam sein, sondern allenfalls von einem neuen Geschäftsführer für die Zukunft entzogen werden. Der Beklagte im Rechtsstreit kann sich wegen dieser Rechtslage im materiellen Recht von vornherein nicht auf die Unwirksamkeit der Geschäftsführerbestellung berufen, weil ihm dies nichts nützen würde: Haben angemeldete Gesellschafter den Geschäftsführer bestellt, so greift § 16 Abs. 1 GmbHG ein ; haben Gesellschafter ihn bestellt, die nicht oder nicht wirksam angemeldet waren, aber sich faktisch mit Zustimmung der Gesellschaft und Billigung der Gesellschafter als solche geriert haben, dann greifen die Grundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft ein und die Bestellung ist ebenfalls wirksam. Ausnahmen mag man dann zulassen, wenn Gesellschaft und/oder Gesellschafter im Bewußtsein der fehlenden Gesellschafterstellung kollusiv zusammenwirken.

356

2. Rechtsmißbräuchliches

Verhalten

im

Prozeß

Nicht zuletzt wäre in den meisten Fällen die Berufung der Beklagtenseite auf die Unwirksamkeit der Geschäftsführerbestellung angesichts dieser materiellrechtlichen Situation rechtsmißbräuchlich. Es ist allgemein anerkannt und auch von der Rechtsprechung entschieden, daß im Prozeß, ebenso wie im materiellen Recht, ein Rechtsmißbrauchsverbot gilt. Prozessuale Möglichkeiten und Befugnisse dürfen nicht für verfahrensfremde Zwecke mißbraucht werden37. Rügt die beklagte Partei die Wirksamkeit der Geschäftsführerbestellung der klagenden GmbH ohne daß dies, wie vorliegend dargestellt, auf den Rechtsstreit und auf ihre materiellrechtliche Rechtsposition, um die im Rechtsstreit gestritten wird, irgendeinen Einfluß haben kann und die Wirksamkeit des Urteils davon nicht berührt wird, so handelt sie grundsätzlich rechtsmißbräuchlich. Denn sie mischt sich nur zum Zwecke, den Rechtsstreit zu verzögern und damit einen ihr nicht zustehenden Vorteil zu erzielen, in die inneren Angelegenheiten der klagenden GmbH ein, um die eigene Verurteilung hinauszuschieben. 3. Konsequenzen für die

Gerichte

Wird eine Rüge der nicht wirksamen Geschäftsführerbestellung bei der Klägerin von der beklagten Partei vorgebracht, so hat das Gericht nach zutreffender h. Μ. im Freibeweisverf ahren38 zu prüfen, ob Vertretungsmacht vorliegt und ob gegebenenfalls Rechtsmißbrauch der Beklagtenseite gegeben ist. Nach hier vertretener Ansicht kann ein Geschäftsführer, der von den (auch nur vermeintlichen) Gesellschaftern bestellt ist, die Gesellschaft wirksam vertreten. Entweder die bestellenden Gesellschafter sind angemeldet i.S. des § 16 Abs. 1 GmbHG, dann sind sie von der Gesellschaft, von den Mitgesellschaftern und wie dargelegt auch von Dritten ohnehin als solche anzuerkennen und die Bestellung des Geschäftsführers ist wirksam. Im übrigen verdrängt bzw. ersetzt § 16 Abs. 37 S t a t t a l l e r : OLG F r a n k f u r t am Main, N J W 1974, 1613; DB 1992, 1081; OLG H a m m , OLGZ 1987,336, 338 ; GRUR 1987, 569 ; BGHZ 101, 380, 388; 107, 296, 309 ; N J W 1987, 1946, 1947; N J W 1992, 569, 570, 2280; ausf. Stein / Jonas / Schumann, ZPO, 20. Aufl. 1984, Einl. Rn. 254 f f . ; Zeiss, Die arglistige Prozeßpartei, 1967. 38 Nachweise in F N 6 und 7.

Rechtsprobleme der Vertretung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Zivilprozeß bei Unwirksamkeit von Anteilsübertragungen

357

1 GmbHG die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft nur in dem von dieser Vorschrift erfaßten Anwendungsbereich und nicht generell. In den vorliegend interessierenden Fällen kann es deshalb einem Beklagten nicht zum Nachteil gereichen, wenn ein Geschäftsführer, der von Nichtgesellschaftern bestellt wird, die Gesellschaft im Rechtsstreit vertritt. Das Urteil ist nämlich dennoch wirksam. Kann also die Berufung des Beklagten auf die unwirksame Geschäftsführerbestellung nur den Zweck haben, den Prozeß zu verzögern, so muß das Gericht dieses Vorbringen deshalb schnellstmöglich zurückweisen. Dieses ist nämlich nicht nur in der Sache verfehlt, sondern zugleich rechtsmißbräuchlich. Es spielt bei der hier entwickelten Lösung keine Rolle, ob der Rechtsstreit zwischen der Gesellschaft und einem fremden Dritten geführt wird, oder zwischen der Gesellschaft und einem jetzigen oder früheren Gesellschafter, ungeachtet, ob ein Drittgeschäft oder eine aus dem Gesellschaftsverhältnis resultierende Rechtsbeziehung in Streit steht.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit von

Prof. Dr. Kazimierz Lubinski

To run

Professor an der Universität Toruft

360

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitende Bemerkungen II. Der Ursprung und die Entwicklungstendenzen der freiwilligen Gerichtsbarkeit III. Die Art und Weise der rechtlichen Regelung der freiwilligen Gerichtsbarkeit IV. Eine Übersicht über die theoretischen Auffassungen vom Wesen und juristischer Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichts-barkeit V. Der Begriff und der Umfang der Rechtsprechung VI. Die Entscheidungsorgane in der freiwilligen Gerichtsbarkeit VII. Der imperative Charakter der gerichtlichen Entscheidungen in der freiwilligen Gerichtsbarkeit VIII. Die Funktionen des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit 1. Der Begriff der Funktionen des Gerichts 2 . Die Funktionen, die auf der Ausübung der Rechtsprechung durch die Gerichte beruhen 3 . Die Funktion des Gerichts, die auf Ausübung einer anderen Art von Jurisdiktionstätigkeit beruht 4 . Die Funktion des Gerichts, die auf Hilfshandlungen für die Rechtsprechung beruht 5 . Schlußfolgerungen IX. Die Konsequenzen des Prinzips der gerichtlichen Rechtsprechung im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit

Das Wesen und die juristische N a t u r der T ä t i g k e i t des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

I. Einleidende

361

Bemerkungen

l. Die Fragen der freiwilligen Gerichtsbarkeit waren die lange Zeit über kein Gegenstand der tiefgreifenden Studien in der Weltwissenschaft. Im Unterschied zur Lehre des Zivilprozesses, die relativ früh einen gewissen Grad von Geschlossenheit und Vollständigkeit gewann1, war der Gegenstand der freiwilligen Gerichtsbarkeit wissenschaftlich viele Jahre hindurch nicht erforscht 2 . Das war das Resultat einer ganzen Reihe von Gründen, darunter u.a. einer lang dauernden Vorherrschaft in der Doktrin der im wesentlichen falschen Ansicht, daß die traditionsgemäß für „groß" gehaltenen Probleme des Zivilprozesses gerade keine freiwillige Gerichtsbarkeit betreffen sowie auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitverbreitete Ansicht über die Notwendigkeit der Behandlung der freiwilligen Gerichtsbarkeit in der Kategorie eines Reliktes des alten Rechts, das keine breitere Regelung verdient 3 . Im Grunde genommen lebt die freiwillige Gerichtsbarkeit sowohl im Kreise von eigenen, als auch gewissen allgemeineren Ideen und Voraussetzungen, die nicht nur für das Zivilprozeßrecht, sondern auch für das Rechtssystem im allgemeinen eigentümlich sind. Viele wesentliche Probleme der freiwilligen Gerichtsbarkeit können somit richtig nur auf dem Boden von gewissen allgemeineren theoretischen und normativen Auffassungen entschieden werden. Zudem eine schnelle Entwicklung der freiwilligen Gerichtsbarkeit in der Gesetzgebung mancher europäischen Länder im 20. Jahrhundert und besonders nach dem zweiten Weltkrieg wies völlig die Nützlichkeit und die ernsten juristischen Werte dieser Gerichtsbarkeit als eines wichtigen prozeßrechtlichen Instruments in der wirksamen Verwirklichung der immer breiteren und mehr komplizierten Funktionen des modernen Staates auf4. 1 Vgl. G. Dahlmanns, Der Strukturwandel des deutschen Zivilprozesses im 19 Jahrhundert, Sälen 1971, S. 16. 2 B. König, Die Grundlagen des österreichischen Ausserstreitverfahrens, ZZP Nr. 3/ 1979, S. 312. 3 Näheres über die Gründe dieser Erscheinung K. Lubinski, Istota i Charakter prawny dziaJ'alnosci s^du w postepowaniu nieprocesowym, Torun 1985, S. 42 ff. Dieses Buch enthält auch eine Zusammenfassung in der deutschen Sprache, Ibidem, S. 288 ff. 4 Ibidem, S. 53 ff.

362

Die freiwillige Gerichtsbarkeit ist also immer häufiger in der Welt der Gegenstand eines ernsten Forschungsinteresses. Als Beispiel dafür dient hier die Wiederaufnahme in großem Umfang der Probleme dieser Gerichtsbarkeit auf den internationalen Kongressen und zwar I960 in Mailand5, 1962 in Venedig6, 1966 in Uppsala7, 1983 in Würzburg 8 . Eine wesentliche Erschwerung in der wissenschaftlichen Bearbeitung der freiwilligen Gerichtsbarkeit und in der Erreichung einer voll und ganz zufriedenstellenden theoretischen Synthese dieser Gerichtsbarkeit ist eine viel größere— als im Zivilprozeß— Differenzierung in der Gesetzgebung der einzelen Länder von dem gesetzgeberischen Gegenstand und der Form der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Diese Eigenschaft geben gut solche anschaulichen Bezeichnungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit wie ζ. B. „complexe et multiple", „d'une nature hibride", „confuse et complexe" u. desgl. wider9. Die Schwierigkeiten in der Herausarbeitung einer allgemeinen Synthese eines so sehr differenzierten komplexen Systems wie es eben die freiwillige Gerichtsbarkeit ist, traten noch stärker in den vergleichsrechtlichen Forschungen hervor. Man muß daher eine in diesem Bereich in der Literatur formulierte Meinung teilen, daß es bestimmt wenig solche Gebiete gibt, auf denen die Herausarbeitung von gewissen allgemeinen Regelmäßigkeiten so erschwert wäre wie in der freiwilligen Gerichtsbarkeit 10 . Die sich auftürmenden Schwierigkeiten in der wissenschaftlichen Betrachtung der Probleme freiwilliger Gerichtsbarkeit befreien jedoch keineswegs die Theorie von den Versuchen einer solchen Betrachtung. Ganz im Gegenteil, um so mehr begründen sie solche Bedürfnisse, denn die Mängel an Herausbildung einer allgemeinen Theorie der freiwilligen Gerichtsbarkeit können auf dem Gebiet der Rechtsgestaltung dieses Verfahrens zu einem Subjektivismus und Voluntarismus führen. Die Auf5 Siehe Tagungsmaterialien (in :) Convegno di Studio sui procedimenti in c a m e r a di consiglio Milano 1960, S. 1 ff. 6 Siehe Tagungsmaterialien (in:) Atti del 3" Congresso del 3' Congresso Internationale di diritto processude civile, Milano 1969. 7 Siehe Generalbericht von J. Jodiowski (La procedure civile non contentieuse (in :) Acta Instituti Upsaliensis Jurisprudentiae Comparative, Stockholm 1968, S. 189 ff. 8 Siehe Generalbericht von Ζ. Stalev Non-contentious proceedings and their development (in :) Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmässige Ordnung. Die Generalberichte zum VII Internationalen Kongress f ü r Prozessrecht, Würzburg 1983, Bielefeld 1983, S. 253 ff. 9 D. Martiny, Nichtstreitige Verfahren in Frankreich, München 1976, S. 5010 / . Jod-lowski, op.cit., s. 194.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

363

g ä b e der T h e o r i e ist es, die g r u n d l e g e n d e n Ideen und V o r a u s s e t z u n g e n h e r a u s z u a r b e i t e n , die d e m G e s e t z g e b e r zur V e r l e i h u n g der f r e i w i l l i g e n G e r i c h t s b a r k e i t einer o p t i m a l e n l e g i s l a t i v e n F o r m dienen sollen, w a s a u c h deshalb u n e r l ä ß l i c h scheint, w e i l es im V e r f a h r e n dieser Gerichtsb a r k e i t h ä u f i g zu e i n e m s t a r k e n E i n g r e i f e n in den B e r e i c h der Persönlichk e i t s r e c h t e der E i n z e l p e r s o n k o m m t . 2. M e i n e n A u f s a t z m ö c h t e ich mithin der A n a l y s e eines, w i e es scheint, der w i c h t i g e n P r o b l e m e und z w a r der B e s t i m m u n g des W e s e n s und der juristichen N a t u r der T ä t i g k e i t des G e r i c h t s in der f r e i w i l l i g e n Gerichtsb a r k e i t v o m G e s i c h t s p u n k t der F u n k t i o n e n des S t a a t e s a u s w i d m e n . M i t a n d e r e n W o r t e n g e h t es hier u m den V e r s u c h , d a s P r o b l e m zu k l ä r e n , ob die T ä t i g k e i t des G e r i c h t s im V e r l a u f dieses V e r f a h r e n s g r u n d s ä t z l i c h f ü r die A u s ü b u n g der Rechtsprechung g e h a l t e n w e r d e n könnte, oder zur Kategorie

der Staatsverwaltung

gezählt

werden

sollte,

oder

auch

teilweise im Bereich der Rechtsprechung und teilweise im Bereich der Staatsverwaltung b z w . im G r e n z b e r e i c h z w i s c h e n den g e n a n n t e n Bereic h e n der S t a a t s t ä t i g k e i t

anzubringen

wäre. Es muß

auch

erwogen

w e r d e n , ob m a n in dieser Hinsicht nicht eine v ö l l i g a n d e r e F e s t s t e l l u n g t r e f f e n kann. D i e s e F r a g e g e h ö r t seit l a n g e m , n a c h der M e i n u n g v o n K . A . Bettermann, zu den s c h w i e r i g s t e n und umstrittensten P r o b l e m e n der L e h r e über die f r e i w i l l i g e G e r i c h t s b a r k e i t 1 1 . Ohne den S c h w i e r i g k e i t s g r a d in der

Entscheidung

des

gestellten

Forschungsproblems

voreilig

zu

urteilen, ist es j e d o c h die T a t s a c h e h e r v o r z u h e b e n , d a ß die r i c h t i g e n F e s t s t e l l u n g e n in dieser F r a g e k e i n e rein theorethische B e d e u t u n g haben. S i e k ö n n e n a b e r ernste p r a k t i s c h e F o l g e n v o m S t a n d p u n k t a u s der D u r c h f ü h r u n g in der f r e i w i l l i g e n G e r i c h t s b a r k e i t v o n H a u p t g r u n d s ä t z e n der R e c h t s p r e c h u n g und b e s o n d e r s des Rechtsprechung

nach sich

Grundsatzes

der

gerichtlichen

ziehen.

Die e v e n t u e l l e Feststellung, d a ß die T ä t i g k e i t des G e r i c h t s in der f r e i w i l l i g e n G e r i c h t s b a r k e i t g r u n d s ä t z l i c h die A u s ü b u n g der S t a a t s v e r w a l t u n g ist, k ö n n t e also d e m G e s e t z g e b e r z u g l e i c h als G r u n d l a g e f ü r die A u s s c h l i e ß u n g der A n w e n d u n g in d i e s e m V e r f a h r e n des G r u n d s a t z e s der R e c h t s p r e c h u n g und in der F o l g e f ü r die U b e r w e i s u n g einer g a n z e n Reihe v o n S a c h e n , die mit dem B e r e i c h der f r e i w i l l i g e n G e r i c h t s b a r k e i t u m f a s sen sind, an die Z u s t ä n d i g k e i t v o n O r g a n e n der S t a a t s v e r w a l t u n g d.h. a n die D u r c h f ü h r u n g der sog. Administrativisation

der freiwilligen

Gerichts-

11 Κ. A. Bettermann, Die freiwillige Gerichtsbarkeit im Spannungsfeld zwischen Verwaltung und Rechtsprechung, Festschrift für F. Lent, München-Berlin 1957, S. 17.

364

barkeit dienen. Das lehrreichste Beispiel für die Veranschaulichung dieser These gibt die Geschichte der Bildung der freiwilligen Gerichtsbarkeit in der ehemaligen DDR, wo in den 50 er Jahren im Rahmen eines allgemeineren Prozesses der Beseitigung von wirksamen Prozeßgarantien auf den Schutz der Bürgerrechte zur Abschaffung der gerichtlichen freiwilligen Gerichtsbarkeit und zur Überweisung einer ganzen Reihe der mit dem Bereich dieser Gerichtsbarkeit umfaßten Sachen an die Zuständigkeit von Organen der Staatsverwaltung gekommen ist12. 3. Im Rahmen meines Aufsatzes geht es um die Feststellung des Wesens und des rechtlichen Charakters der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Grund des polnischen Rechts. Die Erreichung in diesem Bereich der richtigen Ergebnisse erfordet jedoch die Einführung einer kurzen und synthetischen Darstellung des Ursprungs und der allgemeineren Entwicklungstendenzen der europäischen freiwilligen Gerichtsbarkeit, um die Würzein dieser Gerichtsbarkeit zu zeigen. Auf dieser Grundlage kann man die Schlüsse ziehen, die das bessere Begreifen des Wesens und der juristischen Natur der modernen Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit ermöglichen. Außerdem soll man im notwendigen Bereich die rechtsvergleichenden Schlüsse aus den in der Wissenschaft schon durchgeführten Analysen der im geltenden Recht einzelner Staaten angenommenen Regelungsmethoden dieses Verfahrens berücksichtigen. Notwendig ist auch eine kurze Darstellung bestehender Unterschiede der Doktrin in der Auffassung des Wesens und der juristischen Natur der Tätigkeit des Gerichts im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Auf Grund der Forschungsergebnisse in den drei letztgenannten Bereichen werde versuchen, den Nachweis zu liefern, daß wenigstens auf dem Boden des polnischen Rechts die Tätigkeit des Gerichts im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Grunde genommen die Ausübung der Rechtsprechung ist. Dazu ist offensichtlich die vorherige Bestimmung meines Gesichtspunkts hinsichtlich des in der Theorie sehr umstrittenen Begriffs und Umfangs der Rechtsprechung notwendig. Erst nachher werde ich festellen können, ob und in welchem Maße die Tätigkeit des Gerichts im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit den konstitutiven Merkmalen der angenommenen Definition der Rechtsprechung entspricht. Letzten Endes bestimmen die Anforderungen dieser Definition das 12 Näheres K. Lubinski, Entwicklungstendenzen im Verfahrensrecht der freiwilligen Gerichtsbarkeit in den europäischen sozialistischen Staaten, ZZP Nr. 2/1988, S. 184 ff. und dort zit. Literatur.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

365

Bedürfnis der Entscheidung für meine Betrachtungen weiterer Fragen, die mit der Feststellung verbunden sind, ob und in welchem Maße die Gerichte auf Grund des polnischen Rechts die einzigen entscheidenden Organe in der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind und in welchem Maße die Tätigkeit des Gerichts die Entscheidung der Rechtskonflikte oder der konfliktlosen Sachen im Bereich der fundamentalen Bürgerrechte und -Freiheiten ist und in welchem Maße sie die Entfaltung einer anderen Art der gerichtlichen Jurisdiktionstätigkeit ist oder die gewissen Hilfshandlungen der Rechtsprechung bedeutet.

II. Der Ursprung und die Entwicklungstendenzen freiwilligen

der

Gerichtsbarkeit

l. Die im römischen Recht bekannte Einteilung der Gerichtsbarkeit in streitiger (iurisdictio contentiosa) und freiwilliger Gerichtsbarkeit (iurisdictio voluntaria) diente zwar nicht der Systematisierung und Einteilung in Zivilverfahren und freiwillige Gerichtsbarkeit 13 . Aber vom Gesichtspunkt des Themas meines Aufsatzes aus muß die These vermerkt werden, daß die Ausübung der freiwilligen Gerichtsbarkeit grundsätzlich in den Kompetenzen der gerichtlichen Gewalt blieb, was dem modernen Terminus „die Rechtsprechung" entspricht14. Die Sachen, die zum Gegenstand der freiwilligen Gerichtsbarkeit gehörten, waren in der Regel durch das Fehlen des Rechtsstreites, wenigstens in der Zeit ihrer Erledigung durch die Magistratur, gekennzeichnet. Diese Eigenschaft lag im römischen Recht der Herausbildung besonderer spezifischer Prozeßformen zugrunde. Am Anfang nutzte man für diese Sachen eine der Institutionen des Zivilprozesses, nämlich „in iure cessio" aus15. Auf diesem Wege wurden damals Handlungen vorge13 So auch M. Käser, Das römische Zivilpropzessrecht, München 1976, S. 134. 14 „Jurisdictio" war ein Bestandteil der höchsten Staatlichen Gewalt, die „imperium" genannt wurde. In dieser Bedeutung wird in der Lehre des römischen Rechts angenommen, daß Jurisdictio" die gerichtliche Gewalt bedeutet, indem man die zeitgenössische Terminologie „Rechtsprechung" benutzt. Vgl. F. Oesterley, Versuche aus dem Gebiet der s.g. freiwilligen Gerichtsbarkeit, Hannover 1830, S. 7; L. Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozessrecht, München 1925, S. 28 und M. Käser, op.cit., S. 132 ff. 15 Vgl. F. Oesterley, op.cit., S. 7 ; L. Wenger op.cit., S. 28 und M. Käser, op.cit., S. 132 ff.

366

nommen, die zur Übertragung und Tilgung der Rechte vom nichtstreitigen Charakter führen sollten. Zu diesem Zweck bediente man sich also anfangs der Form des Zivilprozesses, und erst in der weiteren Entwicklung des römischen Rechts kam es zum Verzicht auf die Prozeßform und zur Herausbildung eigener, für die freiwillige Gerichtsbarkeit charakteristischer Verfahrensformen 16 . 2. Infolge der weiteren geschichtsjuristischen Entwicklung der freiwilligen Gerichtsbarkeit kam es zur Herausbildung in den Gesetzgebungen einzelner Länder verschiedener Auffassungen von dieser Gerichtsbarkeit, und obwohl viele Kompetenzrechte aus diesem Bereich auf die Notare und die Organe der Staatsverwaltung übertragen wurden, blieben in den Gesetzgebungen vieler europäischer Länder die Gerichte weiterhin als diejenigen Hauptorgane, die die Angelegenheiten aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit entscheiden17. 3. Schließlich darf man — wie es scheint — vom historisch-rechtlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, ein bestimmtes Subjektelement nicht unberücksichtigt lassen, d.i. dasjenige, das die Rechtsprechung mit der Tätigkeit der Gerichte verbindet, weil sie in der jahrhundertlangen Zivilisationsentwicklung der Menschheit den Rechtssubjekten im höchsten Maße unabhängige und objektive rechtliche Entscheidungen sicherten, sowie ein derartiges Objektkriterium, welches grundsätzlich die Einbeziehung in die Rechtsprechungsfunktionen der Gerichte in diejenigen Angelegenheiten ermöglicht, für die zwar das Fehlen des Rechtsstreites typisch ist, die aber gesellschaftlich besonders wichtige subjektive Rechte einzelner Bürger betreffen 18 .

III. Die Art und Weise der rechtlichen Regelung der freiwilligen

Gerichtsbarkeit

l. Wenn es um die Art und Weise der rechtlichen Regelung der freiwilligen Gerichtsbarkeit geht, so kann man drei wichtigste Systeme in 16 Näheres K. Lubinski, Istota (...), op.cit., S. 22 ff. und zit. dort umfangreiche Literatur. Siehe auch E. Döhnng (in:) Handwörterbuch für deutschen Rechtsgeschichte herausg. von A. Erler, E. Kaufmann Berlin 1971, Bd. I, S. 1252 ff. und E. Döhnng, Geschichte der deutschen Rechtspflege, Berlin 1953, S. 173 ff. 17 K. Lubinski, Istota (...), op.cit. S. 28 ff. 18 Vgl. W. J. Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, München 1983, S. 29.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

367

diesem Bereich unterscheiden19. Das erste System vertreten diejenigen Länder, in denen die freiwillige Gerichtsbarkeit größtenteils durch Rahmengesetze geregelt wurden (Deutschland, Österreich). Die zweite Gruppe bilden Länder, in denen die wichtigsten Rechtsvorschriften liber die freiwillige Gerichtsbarkeit hauptsächlich in Zivilprozeßgesetzbüchern enthalten sind (Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland) und von den Gesetzgebungen osteuropäischer Länder u.a. Rußland, Bulgarien, Rumänien, Polen. In der dritten Gruppe von Ländern sind diese Probleme zwar vom Gesetzgeber geregelt, doch befinden sich die entsprechenden Vorschriften nicht in den Zivilprozeßgesetzbüchern, sondern sie sind unter vielen normativen Akten zerstreut (Türkei, Ungarn). Polen gehört zur zweiten genannten Gruppe von Ländern. Nach den Vorschriften der polnischen ZPO wurden zum Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit folgende Arten von Sachen gerechnet: a) Sachen aus dem Bereich des Personenrechts (Todeserklärung, Feststellung des Todes, Entmündigung), b) Sachen aus dem Bereich des Familien- und Vormundschaftsrechts sowie der Pflegschaft (Genehmigung der Eheschließung für eine Person, die das gesetzlich vorgesehene Alter noch nicht erreicht hat, Aufteilung des Gemeinschaftsgutes nach Auflösung der Gütergemeinschaft zwischen den Ehepartnern, Entzug und Wiederherstellung der elterlichen Gewalt, Anerkennung des Kindes, Adoption, Einführung der Vormundschaft oder Pflegeschaft u. ä.) ; c) Angelegenheiten aus dem Bereich des Sachenrechts (Feststellung der Ersitzung, Sachen betreffs der Verwaltung im Zusammenhang mit Gütergemeinschaft und der Nutzung, Aufhebung der Gütergemeinschaft, Bestimmung des nötigen Weges) ; d) Sachen aus dem Bereich des Erbrechts (Sicherstellung des Nachlasses und Aufzeichnung des Inventars, Annahme oder Ablehnung des Erbgutes, Verkündigung des Testaments, Offenbarung der Nachlaßgegenstände, Feststellung des Erbschaftserwerbs u. ä.)20; e) Sachen betreffs der gerichtlichen Hinterlegung des Leistungsgegenstandes. 19 Vgl. b e s o n d e r s / . Jodiowski. op. cit., S. 196 f f . ; Z. Stalev, op.cit., S. 263 ff. und K. Lubinski, Istota (...), op.cit., S. 104 ff. Vgl auch J. L. Berget, La juridiction gracieuse en droit francais, Chronique 1983, XXVIII, S. 153 f f , ; Chronique 1983, XXX, S. 165 ff. und H. Nakamura, Zivilprozess in J a p a n — Seine gegenwärtige Lage und Probleme, W a s e d a Bulletin of Comparative Law 1991, Vol. 10, S. 4 ff. 20 Näheres siehe besonders, / . Jodiowski, La procedure non contentieuse dans lex Systgme du droit judiciaire de la Republique Populaire de Pologne. Rapports Polonais presentes au septieme Congres International de droit compare, Varsovie

368

Viele Sachen aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit wurden auch in besonderen Rechtsakten geregelt, welche in die ZPO nicht aufgenommen wurden.

IV. Eine Übersicht über die theoretischen Auffassungen vom Wesen und juristischer Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit l. Mit Rücksichtnahme auf die in diesem Bereich in der Wissenschaft durchgeführten Forschungen kann festgestellt werden, daß die Vielfalt der in dieser Hinsicht in der Fachliteratur einzelner europäischer Länder ausgearbeiteten Konstruktionen und Theorien im allgemeinen auf zwei Grundrichtungen zurückzuführen ist und zwar : a) auf die Tätigkeit der Staatsverwaltng bzw. einer Art von administrativer Aktivität 21 , b) auf die Tätigkeit der Rechtsprechung oder einer Art von gerichtlicher 1966, S. 126 ff. W. Broniewicz, Lo sviluppo e lo stato attuale del procedimento non contenzioso in Polonia, Riv, trim, di dir. e proc. civ. 1985, S. 1038 ff. und K. Korzan Postepowanie nieprocesowe, Warszawa 1987, S. 38 ff. und W. Siedlecki, Postepowanie nieprocesowe, Warszawa 1988, S. 23 ff. 21 Vgl. vor allem W. Kisch, Deutsches Zivilprozessrecht, Leipzig 1991, S. 36 ff.; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1929, S. 613 ; R• Stachelin, Die systematische Darstellung der Behandlung der nichtsstreitigen Gerichtsbarkeit in schweizerischen Recht, Zürich 1941, Diss, S. 30; R. Morel, Traitlementaire de procedure civile, Paris 1949, S. 86; H. Peters, Die Gewaltenteilung in moderner Sicht, Köln -Opladen 1954, S. 18 ; M. Guldener, Grundzüge der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Schweiz, Zürich 1954, S. 2 ; M. Gerwig, Über Wesen und Begriff der freiwilligen Gerichtsbarkeit, „Basler Juristische Mitteilungen", Nr. 4/1956, S. 199 ; K. Munzel, Die freiwillige Gerichtsbarkeit und Zivilprozess, ZZP Nr. 5-6/1956, S. 340 ff. und 367 ff.; H. Vizioz, Etudes de procedure, Bordeaux 1956, S. 244 ff.; H. R. Wettstein, Die Aufgabe der freiwilligen Gerichtsbarkeit als Teil des Zivilverfahrens, Affolter a. A. 1958, Diss, S. 23 ; G. Cornu, J. Foyer, Procedure civile, Paris 1958, S. 93 ff.; P. Cuche, J. Vincent, Procedure civile et commerciale, Paris 1960, S. 73 ; E. Melichar, Von der Gewaltentrennung im formellen und materiellen Sinn unter Berücksichtung der Abgrenzung von Gerichtsbarkeit und Verwaltung, insbesondere auf dem Gebiete des Strafrechtes, Wien 1970, S. 14 u. S. 34 ; / . / . Hagen, Elemente einer allgemeinen Prozesslehre, Freiburg 1972, S. 103 ff.; H. J. Wolf, O. Bachof, Verwaltungsrecht, München 1974, Bd 1, S. 83 ; B. König, Grundlagen des österreichischen Ausserstreitverfahrens, ZZP Nr. 3/1979, S. 319 ff.; K. Winkler, Der Entwurf einer Verfahrensordnung für die freiwillige Gerichtsbarkeit, D. Notz Nr. 8/1979, S. 453 ; H. Dolinar, Österreichisches Außerstreitverfahrensrecht, Allgemeiner Teil, Wien-New York 1982, S. 13 ff. und W. Brehm, Freiwillige Gerichtsbarkeit, Stuttgart München-Hannover 1988, S. 34 ff.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

369

Jurisdiktionsaktivität 22 . Außerdem kann man in der westeuropäischen Fachliteratur auch solche Auffassungen finden, die die Tätigkeit des Gerichts im Rahmen der freiwilligen Grichtsbarkeit teilweise ausdrücklich in den Kategorien der Rechtsprechung und teilweise in Kategorien der Staatsverwaltung lokaliesieren23, bzw. auf diesem Gebiet eine völlig andere Lösung zu fin22 Vgl. E. Ott, Geschichte und Grundlehren des österreichischen Rechtsfürsorgeverfahrens, Wien 1906, S. XI, S. 109 ff.; K. Hellwig, System des deutschen Zivilprozessrechtes, Leipzig 1912, S.75 u. 76, Anm. 1 u. S. 233 ; F. Stein, Grenzen und Beziehungen zwischen Justitz und Verwaltung, Tübingen 1912, S. 36 ; E. Ott, Rechtspflege und Verwaltung (in:) Festschrift für Franz Klein, Wien 1914, S. 64 ff.; R. A. Wrede, Das Zivilprozessrecht Schwedens und Finnlands, Mannheim-Berlin-Leipzig 1924, S. 24 ff.; F. Stein, N. Jonas, Die Zivilprozessordnung für das deutsche Reich, Tübingen 1928, Β. 1, S. 13 ; R. Graßhoff, Betrachtungen über das Wessen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Festschrift für Oberneck, Halle 1929, S. 20 ; H. Munch -Petersen, Der Zivilprozess Dänemarks, Mannheim-Berlin-Leipzig 1932, S. 5 ff.; P. Hebraud, Commentaire de la loi du 15 juillet 1944, Paris 1946, S. 333 ff.; A. Micheli, Per una revisione della nozione di giurisdizione volontaria, Riv. dir. proc. Nr. 2/ 1947, S.27 ; R. Merle, Essei de contribution ä le theorie generale de l'acte declaratif, Paris 1949, S. 101 ff.; H. Motulsky, Les actes de juridiction gracieuse en droit international prive, „Travaux du Comitö Francais de Droit International Prive" 1948-1952, Paris 1953, S. 17; C. M. de Marini, Considerazioni sulla natura della giurisdizione volontaria, Riv. dir. proc. Nr. 4/1954, S. 270 ff.; F. Baur, Begriff der Rechtsprechung und die freiwillige Gerichtsbarkeit, DNotZ 1955, S. 507 ff.; ]• Bärmann, „Echtes Streitverfahren" in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, AcP Nr. 5/1955, S. 378 ff-, S. 412 ff. ; A. Schänke, H. Schröder, W. Niese, Lehrbuch des Zivilprozessrecht, Karlsruhe 1956, S. 73 ff. u. S. 77 ; W. J. Habscheid, Grunfragen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Rpfleger Nr. 5-6/1957, S. 166 ff.; F. Carnelutti, Diritto e processo, Napoli 1958, S. 65; A. Visco, I procedimenti di giurisdizione volintaria, Milano 1958, S. 16 ff.; S. 21 ff.; M. Ancel, II problema della giurisdizione volontaria, ο graziosa, nello sviluppo del diritto moderno, „Monitore dei Tribunali" 1961, S. 989 ff.; F. Baur, Stand der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Juristen-Jahrbuch 1962/63, S. 65 ff.; H. Pikart, Κ. E. Henn, Lehrbuch der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Köln-Berlin -München 1963, S. 2 ; / . Normand, Le juge et le litige, Paris 1965, S. 3 ff.; J. Bärmann, Freiwillige Gerichtsbarkeit und Notarrecht, Berlin-Heidelberg-New York 1968, S. 33 ff.; Giannozzi, II reclamo nel processo civile, Milano 1968, S. 194 ff.; G. Moro, Contributo alla nozione di giurisdizione volontaria, „Rivista del Notariato" 1968, S. 53 ff.; H. Schima, Gedanken zur Ausgestellung des Verfahrens außer Streitsachen, Festschrift Heinrich Demelius, Wien 1970, S. 461 ff. ; / · Wiefels, Freiwillige Gerichtsbarkeit, Stuttgart 1970, S. 7 ff.; F. Baur, Grundbegriffe der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Stuttgart 1973, S. 19 ; D. Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürges und die Rechtsweggvarantie, München 1973, S. 198; K. F. Schmidt, Privatrechtsgestaltung im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Münster 1974, Diss S. 36 ; D. Martiny, Nichtstreitige Verfahren in Frankreich, München 1976, S. 67; W. J. Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, München 1983, S. 27 ff. 23 Vgl. E. Fazzalari, La giurisdizione volontaria, Padova 1953, S. 36 ff.; Κ. A. Bettermann, Die freiwillige Gerichtsbarkeit in Spannungsfeld zwischen Verwaltung

370

den streben24. 2. Bei der Begründung einzelner Auffassungen bedient man sich verschiedenster Argumentation, wobei ein jedes Argument einen gewissen relativen Wert hat, weil es entsprechender Bezugnahme auf konkretes System und konkrete freiwillige Gerichtsbarkeit bedarf. Zum Beispiel die Anhänger der Anerkennung der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit als der Ausübung der Staatsverwaltung oder einer gewissen administrativen Aktivität, begründen ihren Gesichtspunkt durch 25 : a) den Schutz des öffentlichen Interesses in der freiwilligen Gerichtsbarkeit; b) kein Entscheiden der Streite über das Recht durch die Gerichte in der freiwilligen Gerichtsbarkeit; c) die Gestaltung durch das Gericht des Rechts oder des Rechtsverhältnisses in der freiwilligen Gerichtsbarkeit; d) das Fehlen der Rechtskraftwirkung in den Entscheidungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit; e) die Zulässigkeit der Aufhebung oder Änderung von Amts wegen der rechtskräftigen Entscheidungen in der freiwilligen Gerichtsbarkeit; f) die Ähnlichkeit der Prinzipien der freiwilligen Gerichtsbarkeit mit den Prinzipien der verwaltungsrechtlichen Tätigkeit oder sogar der verwaltungsrechtliche Charakter der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die Vertreter der Ansicht, daß das Gericht in der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Rechtsprechung ausübt, erheben dagegen insbesondere 26 : a) den Schutz in der freiwilligen Gerichtsbarkeit hauptsächlich des privaten Interesses und keine Erteilung in diesem Verfahren eines direkten Schutzes für das Interesse des Staates; b) das Handeln des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit als eines unabhängigen und unparteiischen Organs; c) das Entscheiden durch das Gericht in der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Streite Uber das Recht, wenigstens im weitem Sinne und Rechtsprechung, Festschrift f ü r F. Lent, München-Berlin 1957, S. 24 f f . ; F. Lent, Freiwillige Gerichtsbarkeit, München-Berlin 1958, S. 10 ; H. Roland, Chose JugSe et tierce opposition, Paris 1958, S. 327 ff.; U. Bumiller, Zur Reform freiwilliger Gerichtsbarkeit, Rpfleger Nr. 1/1972, S. 3 ; E. Fazzalari, Istituzioni di diritto processuale, Podova 1983, S. 356 f f . ; L. Rosenberg, K. Schwab, P. Gottwald, Zivilprozessrecht, München 1993 S. 53 ff. und H. Kollhosser, R. Bork, Freiwillige Gerichtsbarkeit, München 1992, S. 19. 24 Vgl. P. Catala, F. Terrg, Procedure civile et voies d'execution, Paris 1976, s. 57; Z- Stalev, op.cit., s. 275 und M. Wolf, Gerichtsverfassungsrecht aller Vefahrenszweige München 1987, s. 16 ff. Vgl. auch V. Denti, La giurisdizione volontaria rivisitata, Riv. trim, di dir. e proc. civ. 1987, S. 325 ff. und E. Fazzalari, Procedimento camerale e tutela dei diritti, Riv. dir. proc. 1988, S. 909 ff. 25 Literatur zit. in Anm. 21. 26 Literatur zit. in Anm. 22.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

371

des Wortes, durch die Vorbeugung der Gefahr der Rechtsverletzung ; d) die Verwirklichung durch das Gericht der Rechtsnormen ; e) das Erkennen und Entscheiden durch das Gericht der Zivilsachen; f) die Geltung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Prinzipien des Zivilverfahrens; g) die Konvergenz der Struktur des Zivilprozesses und des nichtstreitigen Verfahrens. 3. Den genannten Doktrinunterschieden liegt eine Reihe von Ursachen zugrunde, darunter die deutlichen Unterschiede in der Auffassung auf Grund der Gesetzgebungen und Doktrinen einzelner Länder solcher für die Analyse dieses Problems wichtigen Begriffe wie freiwillige Gerichtsbarkeit, Rechtsprechung und Staatsverwaltung. Unterschiede in dieser Hinsicht treten nicht nur zwischen Vertretern der Doktrinen verschiedener Rechtssysteme auf, sondern auch zwischen Vertretern von Doktrinen, die auf einem Rechtssystem aufbauen. Die Verschiedenheit der im Recht einzelner Länder verwirklichten Konzeptionen der freiwilligen Gerichtsbarkeit findet auch in der deutlichen Mannigfaltigkeit des Bereiches und der juristischen Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit für alle Rechtssysteme, in denen diese Gerichtstätigkeit bekannt ist, ihren Ausdruck. Es soll jedoch vermerkt werden, daß in der heutigen europäischen Fachliteratur diese Tätigkeit immer öfter in den Kategorien gerade der Rechtsprechung klassifiziert wird. Diese neue Sicht auf die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit kommt mit voller Deutlichkeit in der Literatur auch derjenigen Länder zum Vorschein, in welchen die Mehrheit der Doktrinvertreter die freiwillige Gerichtsbarkeit weiterhin traditionell für Verwaltungsakten hält (Frankreich, Italien)27. Dagegen überwiegt die Überzeugung von der Ausübung der Rechtsprechung durch Gerichte in der westdeutschen, russischen und polnischen Rechtswissenschaft 28 . 4. Von der methodologischen Seite hat sich die Möglichkeit ergeben, deutlich und unmittelbar zu zeigen, was die Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf der Grundlage des polnischen Rechts ist bzw. nicht ist. Es wurde die erste Verfahrensweise als für die Erkenntnis wertvollere gewählt, weil das Aufzeigen dessen, was diese Tätigkeit nicht ist, keine Möglichkeit bietet, automatisch darüber zu entscheiden, 27 Vgl. vor allem / . Jodlowski, La procSdure civile (...), op. cit., S. 198 f f . ; D. Martiny, op.cz'/., S. 61 f f ; Ζ• Stalev, op.cit., S. 271 ff. und K. LubiAski, Istota (...), op.cit., S. 126 ff. 28 Ibidem.

372

was sie ist, desto mehr, als in der modernen Rechtswissenschaft bei der Bestimmung der Rechtsprechung und der Staatsverwaltung in der Regel auf derselben Ebene der Auffassung von Staatstätigkeit verschiedene Klassifizierungskriterien anwendet. Die bisherigen Forschungsergebnisse berücksichtigt, wurde im Aufsatz der Versuch unternommen zu zeigen, daß auf der Grundlage des polnischen Rechts die Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit grundsätzlich die Aslibung der Rechtsprechung darstellt. So erwies es sich, daß für die Entscheidung des im Aufsatz gestellten Forschungsproblems vor allem die frühere Bestimmung der Rechtserscheinung selbst in Form der Rechtsprechung grundlegend ist.

V. Der Begriff

und der Umfang der

Rechtsprechung

l. Der Begriff der Rechtsprechung (juridiction, giurisdizione, jurisdiction) gestaltete sich in dem gesellschaftlichen Bewußt im Laufe der langen Zivilsationsentwicklung der Menschheit. In der Umgangssprache bildet der grundsätzliche Wortstamm im allgemeinen keinen Zweifel. Ernste Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten treten aber bei dem Versuch einer präzisen Bestimmung dieses Begriffs für den Zweck juristischer Erwägungen auf. Der polnische Gesetzgeber hat die sog. gesetzliche Begriffsbestimmung für die Rechtsprechung (wymiar sprawiedliwosci) nicht formuliert, obwohl die Vorschriften des polnischen, Rechts diesen Termin oft benutzen. Auf diese Weise wurde die Aufgabe der Begriffsbestimmung der Rechtsprechung der Theorie auferlegt. Für sie kann das geltende Recht, insbesondere die Vorschriften der Staatsverfassung, nur einige konstitutiven Elemente für den Bau der Definition dieses Begriffs liefern. In der Theorie dagegen, trotz mehrerer Versuche einer präzisen Definierung der Rechtsprechung, gehört dieser Begriff leider zu den ungewöhnlich umstrittenen und kontroversen Begriffen29. Es ist das Erge29 Siehe vor allem Κ. M. PoSpieszalski, Ο znaczeniu terminu „wymiar sprawiedliwosci" (in:) Ksiega pamiatkowa ku czci Konstantego Grzybowskiego, Kraköw 1971, S / 157 f f . ; / . Skupinski, Gwarancje prawidlOwosci orzekania na tie sporu ο pojecie wymiaru sprawiedliwosci, p. i p. nr. 8-9/1972, S. 82 ff.; S. Wlodyka, Ustroj organow ochrony prawnej, Warszawa 1975, S. 46 f.; T. Erecinski, Aktualne problemy ustroju sadownictwa, P.i P. Nr. 5/1981, S. 18 ff. und K. Lubiriski, Pojecie i zakres wymiaru sprawiedliwosci, St. Prawn. Nr. 4/1987, S. 3 ff.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

373

bnis einer Reihe von Ursachen, u.a. der bedeutenden V e r w i c k l u n g in der polnischen Sprache dieses B e g r i f f s in gleichfalls relativen und unscharfen, hinsichtlich seines Umfangs, Begriff („sprawiedliwosc", Gerechtigkeit) , der durch einen stark emotionalen Einschlag gekennzeichnet ist30. In einigen Fragen hat man aber in der Wissenschaft eine gewisse Übereinstimmung der Meinungen erreicht. Das betrifft insbesondere die These von der Anerkennung der Rechtsprechung als einer bestimmten, durch die besonderen Eigenschaften gekennzeichneten Richtung der Staatstätigkeit. Die so gemeinte Rechtsprechung muß man aber von dem noch mehr allgemeinen Begriff „wymierzanie sprawiedliwisci" (der Ausübung der Gerechtigkeit) unterscheiden, weil dieser Begriff bedeutet, daß einem jeden das zuerkannt werden soll, w a s ihm nach dem geltenden Recht zusteht 31 . T i e f e Meinungsverschiedenheiten treten dagegen auf bei der näheren Konkretisierung des Charakters und des Inhalts der angenommen en Unterscheidungsmerkmale der Rechtsprechung und ihrer Abgrenzung von den anderen Arten der Staatstätigkeit 3 2 . 2. Es ist auch selbstverständlich, daß die richtige Bestimmung des B e g r i f f s und des Umfangs der Rechtsprechung eine F r a g e von großer gesellschaftlich-politischer Bedeutung ist. Besonders scharf tritt diese Frage in denjenigen modernen europäischen Staaten auf, in denen das System der Staatsorgane unter dem starken Einfluß der Montesquienschen Theorie der Einteilung der Behörden ausgestaltet wurde und in welchen weiterhin die Tendenz zur Verwirklichung der Ausschließbarkeit der Kompetenzen der Gesetzgebung, der Staatsverwaltung und der Rechtsprechung hervortritt. Es besteht also die Notwendigkeit einer e x a k t e n Bestimmung der Zuständigkeit der einzelnen Staatsorgane im W e g e der ausdrücklichen Uberweisung an sie der Verwirklichung vor allem dieses Teils der inneren Staatsfunktion, für den ihre Organisationsformen und ihre Handlungsweise am meisten geeignet sind. Es handelt sich darum, daß die Arbeitseinteilung zwischen die verschiedenen Staatsorgane mit Rücksicht auf ihre Organisationsstruktur und Arbeitsmethoden erfolgen soll, weil es für die Sicherung der korrekten Funktionierung des Staatsmechanismus objektiv notwendig ist. Gerade in Hinsicht taucht die Frage auf, ob die Bestimmung des Begriffs der Rechtsprechung nur in 30 Vgl. Ch. Perelman, Ο sprawiedliwosci, Warszawa 1959, S. 13 ff. und J. Wröblewski,

Wartosc a decyzja sädowa, Wroclaw 1973, S. 183 ff. 31 S. K. Lubiitski, Pojecie (...), op.cit., S. 5 und zit. dort umfangreiche Literatur. 32 Ibidem.

374

der objektiven Ebene oder ausschließlich in der subjektiven Ebene der Staatsorgane oder auch in den beiden Ebenen zusammen erfolgen soll. In der polnischen juristischen Literatur sind alle von den drei möglichen Gesichtspunkten vertreten. Diese Tatsache findet schließlich seinen Ausdruck in der von den Anhängern gegebener Richtung angenommenen Definition der Rechtsprechung33. An dieser Stelle wäre es aber schwer, die eingehende Analyse der Argumentation der Vertreter einzelner Richtungen durchzuführen, um so mehr als diese Frage schon in der Wissenschaft der Gegenstand einer unter verschiedenen Gesichtspunkten vorgenommenen sehr eindringlichen und kritischen Einschätzung einer jeden von diesen Definitionen war34. Bei der Beantwortung der am Anfang gestellten Frage schien es, vom methodologischen Standpunkt aus gesehen, daß man die richtige Bestimmung der Rechtsprechung mit der Berücksichtigung sowohl der objektiv-subjektiven wie auch der funktionalen Seite der untersuchten Erscheinung suchen soll. Anders gesagt, muß man den Begriff der Rechtsprechung im Rahmen des integralen Zusammenhangs der aus diesen Ebenen entsprungenden Merkmale bauen. Die Berücksichtigung einer größeren Zahl von Merkmalen der Rechtsprechung spiegelt besser ihre komplexe Natur wieder als die weniger oder mehr monistische Bezeichnung. Eine mehr ausführliche Begründung der Notwendigkeit der Behandlung der Rechtsprechung in der Kategorie einer bestimmten Einheit wurde schon in der Wissenschaft im Rahmen einer gründlichen Analyse eines jeden Bereichs der untersuchten Erscheinung geliefert35. 3. Tn Berücksichtigung dieser Forschungsergebnisse kann ich die Rechtsprechung als die imperative Tätigkeit des Gerichts bezeichnen, die auf Bestrafung oder Entscheidung der Rechtsstreite bzw. nichtstreitiger Angelegenheiten im Bereiche der Grundrechte und -freiheiten der Bürger zwecks Sicherung der Einhaltung und Realisierung der geltenden Rechtsnormen beruht36. An dieser Stelle soll besonders hervorgehoben werden, daß von der Erfassung durch den Begriff „Rechtsprechung" auch der imperativen Entscheidungstätigkeit der Gerichte in nichtstreitigen Angelegenheiten, die aber die Grundrechte und -freiheiten der Bürger betreffen, vor allem rechtshistorische Gründe entscheiden, aber auch die Tatsache, daß die 33 34 35 36

Vgl. Literatur zit. in Anm. 29. Siehe näheres darüber K. Lubinski, Pojecie (...), op.cit., S. 8 ff. Ibidem. Ibidem, S. 27.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

375

Gerichte in diesen Sachen über gesellschaftlich besonders wichtige Subjekt-Rechte der einzelnen Bürger entscheiden, welche sich hauptsächlich auf die Staatsorganisation beziehen. Wenn es also infolge entsprechender historischer Entwicklung dazu gekommen ist, daß die Gesetzgeber die Entscheidungstätigkeit in solchen Angelegenheiten, wegen ihrer Bedeutung für den einzelnen Bürger und die Gesellschaft, zwecks Schaffung besserer Möglichkeiten des erfolgreichen Schutzes der Grundrechte und -freiheiten der Bürger, den Gerichten anvertraut hatte, so scheint es, daß die Entscheidungstätigkeit in diesen Angelegenheiten aus dem Bereich des Begriffs Rechtsprechung nicht eliminiert werden kann, ohne weitgehende Nachteile für die geschützten Werte37. Die Anforderungen der angenommenen Definition der Rechtsprechung bestimmen schließlich das Bedürfnis der Schilderung weiterer Probleme im Rahmen meines Aufsatzes, nämlich ob und in welchem Maße die Gerichte auf dem Boden des polnischen Rechts die einzelnen Entscheidungsorgane in der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind und in welchem Maße ihre Tätigkeit in diesem Verfahren darin besteht, daß sie imperativ Uber die Rechtsstreite oder nichtstreitige Angelegenheiten entscheiden oder nur gewisse Hilfsleistungen der Rechtsprechung unternehmen.

VI. Die Entscheidungsorgane

in der

freiwilligen

Gerichtsbarkeit x. Unter Berücksichtigung in der Wissenschaft der durchgeführten breit angelegten und repräsentativen rechtsvergleichenden Forschungen kann man feststellen, daß in allen Staaten die Hauptorgane für die Entscheidungen in der freiwilligen Gerichtsbarkeit weiterhin die Gerichte sind. In der Regel sind es die allgemeinen Gerichte, am meisten die des niedrigeren Grades38. Zum Beispiel entscheidet im Rahmen der freiwilli37 Vgl. vor allem F. Baur, Rechtsprechung (...), op.cit., S. 512 ; J. Bärmann, Freiwillige Gerichtsbarkeit, op.cit., S.35 und W. J. Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, op.cit., S. 29 ff. 38 Vgl. insbes. J. JoMowski, Le procedure civile (...), op.cit., S. 203 ff. und Z. Stalev, op.cit., S. 272 ff. Siehe auch H. Nakamura, Die Familiengerichtsbarkeit — Die Aufgabe des Gerichts in familienrechtlichen Konflikten (in:) Familiengerichtsbarkeit. Die Nationalberichte und Generalbericht zum VII Internationalen Kongreß für Prozeßrecht, Würzburg 1983, Tokio 1984, S. 12 ff. und Bemerkungen der Nationalberichterstatter über die Zuständigkeit dieser Organe in diesen Sachen in

376

gen Gerichtsbarkeit in der ersten Instanz in BRD das Amtsgericht39, in Frankreich „tribunal d'instance"m und „rajonnyj (gorodskij) sud" in Rußland41. Eine Ausnahme von dieser Regel ist in diesem Bereich im Recht einiger Staaten vorgesehene Zuständigkeit der Sondergerichte (z. B. in Frankreich 42 , Österreich und Holland 43 ). In der Gesetzgebung mehrerer Staaten sind gewisse Funktionen, insbesondere im Bereich der klassischen freiwilligen Gerichtsbarkeit, den Notaren, besonderen Justizbeamten sowie den Staatsverwaltungsorganen und gesellschaftlichen Organisationen 44 Uberreicht. Auch auf der Grundlage des polnischen Rechts zu den Entscheidungsorganen in der freiwilligen Gerichtsbarkeit gehören im Prinzip die Rayonund Wojewodschaftsgerichte, Appellationsgerichte sowie das Oberste Gericht, d.h. diejenigen Organe, welche in den behandelten Angelegenheiten in der freiwilligen Gerichtsbarkeit den Status des dritten, unparteiischen und unabhängigen Subjekts haben, was den materiellen Erfordernissen des subjektiven Kriteriums nach der Definition der Rechtsprechung völlig entspricht. Eine gewisse Ausnahme in dieser Hinsicht, welche aus der Eingenart der Angelegenheiten entspricht, billdet in der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Entscheidungstätigkeit der Seekammern als Quasi-Gerichtsorgane, nämlich im Fall der Entscheidung darüber, ob ein in das Schiffsregister eingetragenes Schiff sich zur Reparatur nicht mehr eignet oder den einzelnen Ländern. Ibidem, S. 52 ff., Überblick über die japanischen Organe der Zivilrechtspflege gibt H. Nakamura, Einführung in das japanische Zivilprozeßrecht (in:) Die japanische ZPO in deutscher Sprache, übersetzt von H. N a k a m u r a , B. Huber, Köln-Berlin-Bonn-München 1978, S. 25 ff. 39 W. J. Habsekeid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, op.cit., 50 ff. und H. Kollhosser, R, Bork, op.cit., S. 28 ff. 40 Vgl. D. Martiny, op.cit., S. 109 ff. und R. Perrot, Institutions Judiciaires, Paris 1992, S. 102 ff. 41 Vgl. P. F. Jelisejkin, Sudebnoe ustanovlenie f a k t o w i m e j u s c i c h juridiceskoje znaezenie, M o s k w a 1973, S. 9 ff. und D. M. Czeczot, Neiskovyje proizwodstwa, Moskwa 1973, S. 68 ff. 42 Es geht hier um die Handelsgerichte. Siehe D. Martiny, op.cit., S. 109 ff. 43 Z. Stalev, op.cit. S. 273. 44 Vgl. J. Jodiowski, La procedure civile (...), S. 203 ; Ζ· Stalev. op.cit., S. 272 ; D. Martiny, op.cit., S. 110 f f . ; W. J. Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, S. 52 f f . ; W. Brehm, op.cit., S. 92 ; H. Dotinar, op.cit., S.27 f f . ; und W. Rechberger, D. A. Simotta, Grundriß des österreichischen Zivilprozeßrechts, Wien 1994, S. 19 ff. Vgl. auch S. Zilberstein, La juridiction volontaire dans le droit processual civil de la Republique Socialiste de Roumanie, „Analele Universitätii Bucuresti" 1982, Anul XXXI, S. 55, 68.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

377

deren nicht mehr wert ist. Keine Ausnahme bildet dagegen in dieser Hinsicht die Tätigkeit von Hilfsorganen der Gerichte, (Familienkuratoren und der Diagnosezentren für Familie), denn diese Organe wirken in der freiwilligen Gerichtsbarkeit entweder kraft der allgemeinen gesetzlichen Kompetenzübertragung oder im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften, kraft der Delegierung vom Gericht zwecks Aufnahme einer entsprechenden Prozeßtätigkeit, was sie statt des Gerichts und unter strenger Prozeßkontrolle des Gerichts tun.

VII. Der imperative

Charakter der

gerichtlichen

Entscheidungen in der freiwilligen

Gerichtsbarkeit

l. Unter den konstitutiven Merkmalen des Begriffs (und des Umfangs) der Rechtsprechung wurde u.a. die Anforderung des imperativen Charakters der gerichtlichen Entscheidungen angenommen. Im Rahmen der Forschungen des Wesens und des rechtlichen Charakters der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit muß jetzt festgestellt werden, ob und inwieweit die Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Anforderung des imperativen Charakters der gerichtlichen Entscheidungen, d.h. der Feststellung auf Grund der geltenden Rechtsnormen der rechtlichen Folgen der Tatsachen in eine für die bestimmten Subjekte bindende und entschiedene Weise, entspricht. Auf Grund der Ausnutzung der Ergebnisse meiner früheren Forschungen in diesem Bereich kann festgestellt werden, daß nach dem polnischen Recht die Entscheidungstätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Prinzip den Anforderungen entspricht, welche dem imperativen Charakter der Entscheidung gestellt werden, denn die rechtlichen Konsequenzen der für begründet anerkannten Fakten werden durch das Gericht für bestimmte Rechts-Subjekte grundsätzlich auf verbindliche und entscheidende Weise festgelegt 45 . Diese Eigenschaft der gerichtlichen Entscheidung findet besonders Ausdruck im Prinzip des Erlangens auf der Grundlage des polnischen Rechts durch meritorische und formal 45 K. Lubinski, Istota (...), S. 209 ff. und dort enthaltene rechtsvergleichende Bemerkungen. Vgl. auch I. Iikura, Zur materiellen Rechtskraft im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (in:) Grundprobleme des Zivilprozeßrechts herausg. von G. Baumgärtel, Köln-Berlin-Bonn-München 1976, S. 1 ff.

378

rechtsgültige freiwillige Entscheidungen der materiellen Rechtskraft in solchem Maße, in dem diese Rechtskraft die formal rechtsgültigen Urteile im Zivilprozeß hervorrufen (Art. 523 ZPO). Mit größerer als im Zivilprozeß Einschränkung der positiven und negativen Folgen der materiellen Rechtskraft haben wir in der freiwilligen Gerichtsbarkeit nur in allen denjenigen Fällen zu tun, in denen das Gericht (außer dem System der Anfechtung einer Entscheidung) zur Abänderung bzw. Aufhebung seiner meritorischen und rechtskräftigen Entscheidungen infolge der Änderung der Erkenntnis des faktischen und rechtlichen Standes eines Falles sowie der Änderung der Entscheidung des Gerichts auf Grund der Disposition vom Art. 577 des Zivilprozeßgesetzbuches berechtigt ist46. Wir haben hier aber nur mit Einschränkung und nicht mit völliger Aufhebung der Folgen der materiellen Rechtskraft dieser Entscheidungen zu tun. Deswegen kann auch bei diesen Entscheidungen im Prinzip die materielle Rechtskraft als unentbährliche Eigenschaft des imperativen Charakters der gerichtlichen Entscheidung nicht angezweifelt werden. Darüber hinaus sind für die gerichtlichen Entscheidungen in der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Vollstreckbarkeit, d.h. die Möglichkeit, die Entscheidung auf dem Wege der gerichtlichen Zwangsvollstreckung zu realisieren, oder die Wirksamkeit, d.i. die Möglichkeit der Realisierung auf andere Weise als auf dem Wege der gerichtlichen Zwangsvollstrekung, charakteristisch 47 .

46 Näheres M. Sawczuk, Ponowne orzekanie w sprawie cywilnej prawomocnie osadzonej, Warszawa 1975, S. 188 ff.; W. Siedlecki. op.cit., S. 80 ff.; K. Korzan, op. cit., S. 152 ff. und A. Miqczynski, Specyfika postepowania nieprocesowego (in:) Proces et droit. Etudes juridiques. Melanges offerts a l'honneur du professeur Jerzego Jod,towskiego, Ossolineum 1989, S. 418 ff. Vgl auch J. Jodlovoski, L' efficate des decision dans la procSdure gracieusse (in:) Atti del 3" Congresso Internationale di Diritto Processuale Civile (Venezia 12-13 aprile 1962) Milano 1963, S. 330 ff. und Ζ. Stalev, op.cit., S. 280 ff. 47 Näheres über den Begriff der Wirksamkeit der Entscheidungen beim Zivilverfahren A. Miaczynski, Skuteczno§£ orzeczen w postepowaniu cywilnym, Krakow 1974, s. 11 ff. Diese Arbeit enthält auch kurze Zusammenfassung in der deutschen Sprache, Ibidem, S. 185 ff.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

VIII. Die Funktionen des Gerichts in der

379

freiwilligen

Gerichtsbarkeit

1. Der Begriff der Funktionen des Gerichts Der Begriff der Funktionen des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit kann — je nach der Bezugsbasis und den Forschungsbedürfnissen — im verschiedenen Grad verallgemeinert oder konkretisiert werden. Im Rahmen dieses Aufsatzes handelt es sich um Feststellung, ob und inwieweit die Tätigkeit des Gerichts an der freiwilligen Gerichtsbarkeit den konstitutiven Merkmalen des Begriffs (und des Umfangs) der Rechtsprechung und inwieweit den Anforderungen einer anderen Art der Jurisdiktionstätigkeit oder der Hilfstätigkeit der Rechtsprechung entspricht. Dabei werden unter der Funktion des Gerichts die wichtigsten Richtungen der Prozeßtätigkeit des Gerichts verstanden, d.i. alles, was man im Rahmen der großen Menge und der Vielfalt von Aufgaben in der freiwilligen Gerichtsbarkeit als eine gewisse Richtung von grundsätzlicher Bedeutung betrachten kann. Bei der Entschlußfassung Uber Qualifizierung der einzelnen Angelegenheiten in dem Bereich einer jeden von den dargestellten Funktionen soll man auch in diesem Fall das berücksichtigen, was in jeder von diesen Angelegenheiten einen typischen und nicht außergewöhnlichen Charakter hat. An dieser Stelle wäre es aber schwer, eine ausführliche Aufzählung im Rahmen einer jeden Funktion aller Angelegenheiten darzustellen, die zum Bereich der polnischen freiwilligen Gerichtsbarkeit gehören. Deshalb werde ich mich nur auf beispielweise Erläuterung einer jeden Funktion durch einige Kategorien von Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit beschränken. Die Grundlage für eine gewisse Verallgemeinerung der vom Gericht in der freiwilligen Gerichtsbarkeit erfüllten Funktionen werden für mich nicht nur die während des Aufsatzes gemachten Bemerkungen sein, sondern vor allem meine früher gewonnenen Forschungsergebnisse in diesem Bereich48. 48

K. Lubinski,

Istota (...), S. 227 ff.

380

2. Die Funktionen, die auf der Ausübung der durch die Gerichte beruhen A. Die Erkennungstätigkeit des Gerichts, die auf Entscheidung der Rechtskonflikte beruht.

Rechtsprechung

imperativer

l. Unter derartigen Rechtskonflikten kann man die Konflikte unterscheiden, die durch Gerichte der ersten und zweiten Instanz und das Oberste Gericht im Rahmen der Kontrolle außerhalb der Instanzen in Form der außerordentlichen Revision entschieden werden. Ich werde aber meine Aufmerksamkeit der näheren Aussonderung der Konfliktangelegenheiten der ersten Instanz schenken, weil ich von dem Standpunkt ausgehe, daß allein die Einlegung der Berufung oder Anwendung eines anderen Rechtsbehelfs das Bestehen eines Rechtskonflikts zwischen den Teilnehmern der freiwilligen Gerichtsbarkeit voraussetzt 49 . Die Tätigkeit des Gerichts der zweiten Instanz und des Obersten Gerichts in diesen Fällen beruht gerade auf Entscheidung der Rechtskonflikte. Im Rahmen der Rechtskonflikte, die durch das Gericht der ersten Instanz entschieden werden, muß man diejenigen Konflikte unterscheiden, die sich auf den Gegenstand der Sache, die durch das Gericht in der freiwilligen Gerichtsbarkeit entschieden werden soll, beziehen und die Konflikte, welche die für das Ergebnis des Verfahrens präjudizielle Fragen betreffen. In der ersten Gruppe von Rechtskonflikten kann man als ihr Unterscheidungsmerkmal grundsätzlich die Art der Rechtsverhältnisse annehmen, aus denen sie entspringen50. Mit Anwendung dieses Merkmals kann man folgende Kategorien von Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit unterscheiden, in welchen das Gericht hauptsächlich über die Rechtskonflikte entscheidet: a) die Angelegenheiten aus dem Bereich des Familien- und Vormundschaftsrechts und der Pflegschaft, z.B. das Entscheiden über die wichtige Angelegenheiten der Familie, in denen die Eheleute zu keiner Einigung kommen, über die Teilung des Gesamtguts nach Aufklärung der eheli49 Vgl. M. Guldener (op.cit., S. 4) und J. Jodtowski (La procedure civile (...), S. 217), die mit Nachdruck sagen, daß das Verfahren vor dem Berufungsgericht in diesen Fällen die Eigenschaften des Verfahrens hat, das fürs Bestehen des Rechtsstreits gekennzeichnet ist. 50 W. Siedlecki, op.cit., S. 51 ff.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

381

chen Gütergemeinschaft, wenn der einmütige Antrag der Miteigentümer fehlt über Entziehung oder Beschränkung der elterlichen Gewalt sowie über die wesentlichen Angelegenheiten der Kinder, wenn die Einigung darüber zwischen den Eltern fehlt; b) die Angelegenheiten aus dem Bereich des Sachenrechts, z.B. über die Festsetzung des Notwegs, über die Aufhebung des Miteigentums, wenn der einmütige Antrag der Miteigentümer fehlt, entscheiden über die gegenseitigen Ansprüche der Miteigentümer im Falle des Verkaufs der Sachen, die ihnen gehören; c) die Angelegenheiten aus dem Bereich des Erbrechts, z.B. die Offenbarung der Nachlaßgegenstände oder Erbteilung, wenn der einmütige Antrag der Erben fehlt; d) die Angelegenheiten aus dem Bereich des Genossenschaftsrechts, z. B. das Entscheiden über die Ansprüche mehrerer Berechtigten auf Annahme als Mitglied in die Genossenschaft und Einweisung in Räumlichkeiten in der Reihenfolge, die dem ehemaligen Mitglied zustand; e) die Angelegenheiten aus dem Bereich des Seerechts, z.B. über die Änderung oder Aufhebung der Dispache ; f) die Angelegenheiten aus dem Bereich des Wahlrechts, z.B. das Erkennen durch das Rayongericht der Klagen wegen der Unrechtigkeiten in den Wählerlisten; g) die Angelegenheiten aus dem Bereich anderer Rechtsnormen, z.B. Löschung am Gewerkschaftsregister einer Gewerkschaft oder einer Organisation der Landwirte im Register der gesellschaftlich-beruflichen Organisationen der Landwirte, wenn die Tätigkeit dieser Subjekte gegen die Verfassung der Republik Polen und andere Gesetze verstößt. In der Gruppe der Rechtskonflikte, die die präjudiziale Bedeutung für das Ergebnis der freiwilligen Gerichtsbarkeit haben, handelt es sich um solche Rechtsstreite, die zuerst durch das Gericht in der freiwilligen Gerichtsbarkeit entschieden werden sollen, bevor die meritorische Entscheidung der Sache, überhaupt möglich wird. Bei der Annahme des oben bezeichneten Merkmals können wir folgende Rechtskonflikte unterscheiden, die durch das Gericht der ersten Instanz entschieden werden: a) die Konflikte über die Feststellung ungleicher Anteile an dem gemeinsamen Vermögen, über das Bestehen des Anspruchs auf das Verlangen der Teilung des gemeinsamen Vermögens oder Uber die Feststellung, ob ein gewisser Gegenstand zum gemeinsamen Vermögen, in dem Verfahren wegen der Verteilung des gemeinsamen Vermögens

382

nach Auflösung der ehelichen Gütergemeinschaft, gehört; b) die Konflikte über das Recht zum Verlangen der Aufhebung des Miteigentums und über das Eigentumsrecht im Verfahren wegen der Aufhebung des Miteigantums; c) die Konflikte über das Bestehen der Berechtigung zum Verlangen der Erbteilung und über die Feststellung im Verfahren wegen Erbteilung, ob ein gewisser Gegenstand zum Nachlaß gehört; d) die Konflikte darüber, wer und in welchem Umfang im Rahmen des Verfahrens wegen der Feststellung des Erbschaftserwerbs bzw. wegen der Aufhebung oder Änderung der Feststellung des Erbschaftserwerbs beerbt ist. B. Die erkennende Tätigkeit des Gerichts, die auf der imperativen Entscheidung der nichtstreitigen Angelegenheiten im Bereich der bürgerlichen Grundrechte und-freiheiten beruht.

l. In diesem Teil meiner Betrachtungen habe ich als Grundlage für die Systematisierung vor allem diejenigen bürgerlichen Grundrechte und -freiheiten angenommen, die meistens und unmittelbar die erkennende Tätigkeit des Gericht in gegebener Sache betreffen. Es handelt sich hier insbesondere um Angelegenheiten, in denen die bürgerlichen Grundrechte mit der Freiheit des Menschen eng verbunden sind. In Anbetracht dessen kann man folgende Bereiche der nichtstreitigen Angelegenheiten unterscheiden, die durch das Gericht entschieden werden : a) Recht auf Gesundheitsschutz, z.B. sie Sachen wegen der Entmündigung und wegen Aufhebung oder Änderung des Umfangs der Entmündigung, Anordnung der Vormundschaft Uber den vollentmündigten oder Pflegschaft für den teilweise Entmündigten sowie wegen der Verpflichtung einer Alkoholsüchtigen Person zur Behandlung in der Trinkerheilanstalt ; b) Recht auf Ehe- Familien- und Jugendschutz, z.B. Sachen wegen Erteilung der Genehmigung zur Eheschließung, für eine Person, die das Ehefähigkeitsalter noch nicht erreicht hat, Adoption, Anordnung der Vormundschaft oder Pflegschaft für den Minderjährigen; c) Recht auf den Schutz des persönlichen Eigentums, z.B. Sachen wegen Aufhebung des Miteigentums auf einmütigen Antrag der Miteigentümer, oder Bestellung eines Vertreters für die Ausübung von Rechtshandlungen, die mit dem Recht der Miterben auf das Einfamilien-

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

383

haus verbunden sind; d) Recht auf den Schutz und das Erben des persönlichen Eigentums, z.B. Sachen wegen Todeserklärung, Feststellung des Erbschaftserwerbs oder Nachlaßteilung auf einmütigen Antrag der Miterben ; e) Recht auf Unterricht, z.B. Sachen wegen Wiederherstellung von Absolvierungsdiplomen — und Zeugnissen. 3. Die Funktion des Gerichts, die auf Ausübung einer Art von Jurisdiktionstätigkeit beruht

anderen

l. Dieser Typ der gerichtlichen Aktivität umfaßt alle Beschlüsse, in deren Rahmen das Gericht gewissermaßen über die subjektiven Rechte entscheidet, wenn es imperativ die Rechtsfolgen das als bewiesen anerkannten Tatbestandes bestimmt. Der auf diese Weise gewährte Rechtsschutz kann aber nicht als Ausübung der Rechtsprechung angesehen werden. Da ich diesen Standpunkt schon früher im Rahmen meines Aufsatzes begründet habe, werde ich mich hier nur auf die Feststellung beschränken, daß diesen rechtlichen Charakter folgende Entscheidungen des Gerichts haben: in Sachen wegen der Grundbücher, Registrierung von Gewerkschaften, gesellschaftlich-beruflichen Organisationen der Landwirte, Genossenschaften, Staatsbetrieben, ausländischen Unternehmen, Stiftungen sowie offenen Handelsgesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Aktiengesellschaften. 4· Die Funktion des Gerichts, die auf Hilfshandlungen die Rechtsprechung beruht

für

l. Zu den Hilfshandlungen der Rechtsprechung gehören alle diejenigen Gerichtstätigkeiten, welche die Begriffsforderungen der Rechtsprechung oder anderer Art gerichtlicher Jurisdiktionstätigkeit nicht erfüllen. Diese Tätigkeiten hängen jedoch mit der Rechtsprechung zusammen und sie beruhen auf der Übernahme durch das Gericht solcher Handlungen, deren Ziel ausschließlich der Schutz der Subjektrechte bzw. Sicherung des Hauptverfahrens, d.i. des Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens, ist. Manche dieser Tätigkeiten enden überhaupt nicht mit Verkündung einer Entscheidung, wie beispielsweise in den Verfahren über die Annahme bzw. Ablehnung der Erbschaft, der Eröffnung des Testaments, der Vernehmung von Zeugen des mündlichen Testaments oder solcher,

384

welche den Vollstrecker des Testaments betreffen. Den Hilfscharakter haben auch Handlungen des Gerichts in allen denjenigen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, welche zwar mit Verkündung einer Entscheidung enden, bei denen aber das Gericht die Wahrhaftigkeit der Behauptungen, welche im Antrag auf die Einleitung des Verfahrens in freiwilliger Gerichtsbarkeit enthalten sind, nicht untersucht, beispielsweise im Verfahren über die gerichtliche Hinterlegung des Leistungsgegenstandes. Obige Hilfshandlungen für die Rechtsprechung im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit haben überwiegend keinen selbständigen Charakter in diesem Sinne, daß sie keinen selbständigen Zweck verfolgen, weil sie vor allem der Erreichung des Zwecks der eigentlichen freiwilligen Gerichtsbarkeit als des Kognitionsverfahrens dienen. Hier gehören z.B. die Sicherung des Nachlasses, Inventarerrichtung, das Verhör der Zeugen des Testaments oder die Sicherung der Vollstreckbarkeit bzw. Wirksamkeit der Entscheidungen der freiwilligen Gerichtsberkeit wie z. B. die mit der Aufsicht über die Ausübung der Vormundschaft oder Pflegschaft verbundenen Handlungen. 5.

Schlußfolgerungen

Zusammenfassend darf man feststellen, daß nach dem polnischen Recht die wichtigste und überwiegende Funktion des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit gerade auf der Ausübung der Rechtsprechung auf dem Wege der imperativen Entscheidung von Rechtsstreitfällen bzw. der nichtstreitigen Angelegenheiten im Bereich der Grundrechte und -freiheiten der Bürger zwecks Sicherung der Einhaltung und Realisierung der geltenden Rechtsnormen beruht. Diese Entscheidungstätigkeit des Gerichts hat die Natur der Rechtsprechung, denn sie beruht auf der Festlegung auf der Grundlage der geltenden Rechtsnormen der rechtlichen Folgen, welche für bewiesen gelten, d.h. sie hängt mit der normativen Einschätzung von Fakten zusammen. Die übrigen von den im Aufsatz unterschiedenen Funktionen des Gerichts beruhen auf Ausübung durch dieses Organ anderer Art gerichtlicher Jurisdiktionstätigkeiten oder auf Übernahme der Hilfshandlungen der Rechtsprechung. Zur anderen als Rechtsprechung Jurisdiktion-Gerichtstätigkeit gehören alle diejenigen Entscheidungstätigkeiten, durch welche das Gericht

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

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gewissermaßen über Zivilrechte und -pflichten auf dem Wege der imperativen Entscheidung von den Rechtsfolgen des faktischen Standes entscheidet, welcher für bewiesen erklärt wird. Der dadurch geschaffene rechtliche Schutz erfüllt aber nicht die grundsätzliche Anforderung der entsprechenden Subjekt-Richtung, weil er gewissermaßen in abstracto erteilt wird und nicht gegenüber konkreten Personen, wie z.B. in den Grundbuchangelegenheiten, bei der Registrierung von Gewerkschaften, von gesellschaftlichberuflichen Organisationen der Bauer u. ä. Zu den Hilfshandlungen der Rechtsprechung gehören alle diejenigen Arten der Gerichtstätigkeit, welche den Anforderungen des Begriffs der Rechtsprechung oder anderer Art gerichtlicher Jurisdiktionstätigkeit nicht entsprechen. Es fehlen nicht insgesamt an den anderen als Rechtsprechung der Jurisdiktionsgerichtstätigkeit und den Hilfshandlungen der Rechtsprechung einerseits Elementen, welche der typischen Verwaltungstätigkeit eigen sind, und andererseits solche, welche für die Staatstätigkeit charakteristisch sind, die als Rechtsperechung benannt wird. Daraus folgt, daß die durch beide Funktionen umfaßten Gerichtstätigkeiten gerade im Spannungsfeld zwischen der Staatsverwaltung und der Rechtsprechung liegen. Wenn es um meine Auffassung geht, so bin ich der Meinung, daß wegen des engen Zusammenhangs zwischen den genannten Gerichtstätigkeiten und der grundsätzlichen und in der freiwilligen Gerichtsbarkeit vorherrschenden Richtung der Prozeßtätigkeit des Gerichts in Form der Rechtsprechung, und wegen der historischen Tradition in dieser Hinsicht diese Tätigkeiten mehr im Vorfeld der Rechtsprechung als der Staatsverwaltung liegen. Aus diesem Grunde schlage ich vor, einen Teil dieser Tätigkeiten als Hilfshandlungen der Rechtsprechung zu bezeichnen. Andererseits ist es verständlich, daß die Organisation und Verwaltung der Personen- und Materialmittel, welche Einheiten bilden, die förmlich als Gerichte bezeichnet werden, einer wirksam arbeitenden Gerichtsverwaltung bedürfen, derer Wirkungsbereich u.a. das Disponieren über das Geld, die Gebäude und Einrichtungen, die Bestimmung der inneren Organisation der Gerichte u. ä. umfaßt. Die Schaffung durch die Gerichtsverwaltung entsprechender Verhältnisse zur Ausübung durch das Gericht als unabhängiges Organ der Prozeßfunktionen betrifft die Tätigkeit das Gerichts nicht nur in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, sondern in jeden anderen Gerichtsverfahren. Deswegen erwies sich die Aufnahme von Überlegungen über den Begriff „Gerichtsverwaltung" als

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spezialisierter Zweig der Staatsverwaltung als nicht nötig für das Thema des Beitrags. Dies um so mehr, als die Tätigkeit der Gerichtsverwaltung in das in der Arbeit analysierte Problem der freiwilligen Gerichtsbarkeit, in dem die Richter kraft des Grundgesetzes unabhängig sind, bekanntlich nicht einbezogen werden kann. Die bisherigen Überlegungen zusammenfassend, muß man aber feststellen, daß die wichtigste und überwiegende Funktion des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Ausübung der Rechtsprechung ist und nur bestimmte Art der Prozeßtätigkeit des Gerichts in diesem Verfahren zu anderer Art gerichtlicher Jurisdiktionstätigkeit bzw. zu den Hilfshandlungen der Rechtsprechung gerechnet werden kann. Auf die grundlegende und dominierende Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die in der Ausübung der Rechtsprechung besteht, bezieht sich auch aus diesem Grund das Prinzip der gerichtlichen Rechtsprechung, aber kurz über die Rechtsfolgen der Geltung dieses Prinzips in der freiwilligen Gerichtsbarkeit im letzten Punkt dieses Aufsatzes, wird gesprochen.

IX. Die Konsequenzen des Prinzips Rechtsprechung im Bereich der

der

gerichtlichen

freiwilligen

Gerichtsbarkeit Der in der polnischen Gerichtsbarkeit geltende Grundsatz der gerichtlichen Rechtsprechung, d.i. in der Kategorie der allgemeinen Konzeptionsnorm der Gerichtsbarkeit verstanden 51 bedeutet die Unzulässigkeit, wie es scheint, vom verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der Übertragung durch den gewöhnlichen Gesetzgeber aller bzw. der meisten der bisher in diesem Verfahren entscheidenden Rechtsstreite oder nichtstreitigen Angelegenheiten im Bereich der Grundrechts und - freiheiten der Bürger auf die Kompetenzen der Organe der Staatsverwaltung oder der gesellschaftlichen Organe, d.i. die Durchführung u.a. der sog. Administrativie51 Vgl. insbes. S. Wlodyka, Granice konstytucyjnej zasady sadowego wymiaru sprawiedliwosci, Ksiega Pamiatkowa ku czci Kamila Stefki, Warszawa-WrocJ'aw 1967, S. 426 ff.; M. Pomorski, Konstytucyjna zasada sadowego wymiaru sprawiedliwosci w PRL, Annales UMCS, Sec. G., Vol. 17, S. 14 ff.; L. Kanski, Konstytucyjne podstawy wymiaru sprawiedliwosci w europejskich paristwach socjalistycznych, Poznan 1973, S. 25 ff.; / Skupinski, Model polskiego prawa ο wykroczeniach, Ossolineum 1974, S. 30 ff. und K. Lubinski, Istota (...), S. 248 ff.

Das Wesen und die juristische Natur der Tätigkeit des Gerichts in der freiwilligen Gerichtsbarkeit

387

rung der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die eventuelle Einschränkung des Geltungsbrriches dieser Gerichtsbarkeit kann ausschließlich Ausnahmecharakter haben. Es müssen dabei gewisse Kriterien dieser Zweckmäßigkeit beibehalten werden. Diese Einschränkung: a) betrifft manche Typen von Angelegenheiten; b) erfolgt in Form eines Gesetzes; c) es besteht die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle der Entcheidung eines außergerichtlichen Organs ; d) Entscheidung der Konflikte Uber die Zuständigkeit gehört zu Gerichten52. Darüber hinaus folgt aus dem Grundsatz der gerichtlichen Rechtsprechung die Pflicht des gewöhnlichen Gesetzgebers zu solcher Gestaltung des Kompetenzbereiches der Gerichtsbarkeit, daß gerade die Gerichte wenigstens die entscheidende Stimme bei der Erteilung von Strafen oder bei der Entscheidung der Rechtsstreite bzw. der nichtstreitiger Angelegenheiten im Bereich der Grundrechte und -freiheiten der Bürger haben sollten. Wenn man den Versuch unternimmt, diese Verpflichtung auf Grund der freiwilligen Gerichtsbarkeit näher zu bestimmen, muß man zwei grundlegende Faktoren berücksichtigen: den zivilrechtlichen Charakter dieser Gerichtsbarkeit und die Notwendigkeit der optimalen Anpassung der legislativen Gestalt dieser Gerichtsbarkeit an die Spezifik und den materialrechtlichen Charakter der einzelnen Kategorien von Zivilangelegenheiten. Erst in Berücksichtigung beider Faktoren besteht die völlige Begründung für die Formulierung des Postulats de lege ferenda über die Notwendigkeit der Übertragung vom Gesetzgeber in die freiwillige Gerichtsbarkeit derjenigen Fälle, welche aus dem Bereich des Zivil-, Familien- und Vormundschaftsrechts und des Arbeitsrechts erfolgen, in denen es um die Entscheidung des Gerichts geht: a) von Rechtsstreiten aus den beiderseits unidentifizierten Rechtsverhältnissen; b) nichtstreitiger Angelegenheiten im Bereich der Grundrechte und -freiheiten der Bürger. Im Endergebnis entschied sich der polnische Gesetzgeber, aus den vielen möglichen Konzeptionen der freiwilligen Gerichtsbarkeit ihr gerichtliches Modell zu realisieren. Diese Lösung verdient völlige Anerkennung, weil auf diese Weise die Entscheidungstätigkeit in der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf dasjenige Organ übertragen wurde, das im Rahmen seiner historisch ausgebildeten Stellung die besten instrumentalen Garantien unparteiischer und unabhängiger, objektiver und 52 Vgl. S. Wlodyka, Granice (...), S. 428.

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sicherer sowie gesellschaftlich akzeptierter Entscheidungen sichert. Dies ergibt sich aus solchen bekannten Vorteilen der gerichtlichen freiwilligen Gerichtsbarkeit wie etwa den folgenden : dem Verfügen der Gerichtsbarkeit Uber qualifizierte und spezialisierte Kader, dem Grundsatz der Richterunabhängigkeit, dem reichen System der Anfechtung von Entscheidungen, der mittelbaren Kontrolle, welche aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens folgt, der hier eine Regel darstellt und im dem Verwaltungsverfahren eine seltene Ausnahme ist, oder auch aus der völligen Rechtsanwalthilfe, welche den Parteien garantiert ist. Dem gerichtlichen Modell der freiwilligen Gerichtsbarkeit widerspricht jedoch auf dem Grundsatz der geltenden polnischen Rechts nicht die Übertragung mancher Prozeßhandlungen auf die gerichtlichen Hilfsorgane. Es ist eher gerade umgekehrt, die sichtbare Tendenz zur weiteren wesentlichen Entwicklung der Gegenstandsrahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit wird, wie es scheint, auch den polnischen Gesetzgeber zu noch größerer Nutzung auf der Grundlage dieser Gerichtsbarkeit der gerichtlichen Hilfsorgane zwingen zwecks Beschleunigung und Vervollkommnung des gerichtlichen Zivilverfahrens, um so mehr, als die Praxis die Wirksamkeit der Tätigkeit solcher Organe auf diesem Gebiet bestätigt hat. So könnten im größeren als bisher Maße auf der Grundlage des polnischen Rechts auf diese Organe die Hilfshandlungen der Rechtsprechung übertragen werden, welche besonders bei der freiwilligen Gerichtsbarkeit aufgenommen wurden.

Die Entwicklung der öffentlichrechtlichen Theorie der Zwangsvollstreckung in Deutschland von

Prof. Dr. Dr. h.c. Gerhard Lüke

Saarbrücken

em. Professor an der Universität des Saarlandes

390

Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV.

Einführung Grundsätzliches und Einzelfragen zum Verwertungsvorgang Der Streit um die Rechtsnatur des Pfändungspfandrechts Fazit

Die Entwicklung der öffentlichrechtlichen Theorie der Zwangsvollstreckung in Deutschland

391

I. Einführung Nach einer bekannten Formulierung von Josef Esser „ist das geltende deutsche Zwangsvollstreckungsrecht nicht das aus dem Jahre 1877, sondern stammt von Friedrich Stein"1. Damit wird darauf hingewiesen, daß dessen wissenschaftlicher Einfluß, insbesondere seine berühmte Schrift „Grundfragen der Zwangsvollstreckung" aus dem Jahre 1913, das Zwangsvollstreckungsrecht der ZPO grundlegend umgestaltet hat. Die zahlreichen Gesetzesänderungen, die das 8. Buch im Laufe seiner fast 120-jährigen Geschichte erfahren hat, haben nicht annähernd die gleiche grundsätzliche Bedeutung gehabt. Stein stellte in den Mittelpunkt seiner Lehre den Satz: Alle der Pfändung nachfolgenden Akte beruhen nicht auf dem Pfändungspfandrecht (§ 804 ZPO), sondern auf der Pfändung 2 . Damit war für ihn der Weg frei für ein hoheitliches Verständnis der Verwertung der gepfändeten Sache in bewußtem Gegensatz zur Konzeption des Gesetzgebers 3 . Die Verwertung ist nicht mehr ein Pfandverkauf im Sinne des BGB, sondern eine hoheitliche Maßnahme des Staates, die im Regelfall der Gerichtsvollzieher im Wege der Zwangsversteigerung durchführt (§§ 814, 817 ZPO)4. Dieser gemischten privat- und öffentlichrechtlichen Theorie — so wird sie seit den 50er Jahren mit Rücksicht auf das Nebeneinander von privatem Pfändungspfandrecht und öffentlichrechtlicher Verwertung genannt 5 — verhalf das RG in seiner grundlegenden Entscheidung RGZ 156, 395 aus dem Jahre 1938 zum Durchbruch in der Rechtspraxis. Damals hat es die mit der Konzeption des Gesetzgebers übereinstimmende privatrechtliche Theorie der Zwangsvollstreckung, wonach das Pfändungspfandrecht wie ein vertragliches Pfandrecht die Grundlage der bür1 2 3 4

Esser, Grundsatz und Norm, 2. Aufl. 1964, S. 312. Stein, Grundfragen, S. 56. Stein, Grundfragen, S. 70 f. Daß die Zahl der Versteigerungen nur wenige Prozent der Vollstreckungsaufträge ausmacht (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 21. Aufl. 1995, § 817 Rdnr. 2), ist für die grundsätzliche dogmatische Frage unerheblich. 5 Lüke, NJW 1954, 254 Fußn. 1. Für die Terminologie ist nicht das Nebeneinander von privatem Pfändungspfandrecht und öffentlichrechtlicher Verstrickung entscheidend, wie Schuschke, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, Bd. I, 1992, vor §§ 803, 804 ZPO Rdnr. 13, meint.

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gerlichrechtlichen Pfandverwertung ist, aufgegeben und ausgeführt, daß die Verwertung nicht in Ausnutzung des privatrechtlichen Pfandrechts geschehe, „sondern im Verlaufe der Zwangsvollstreckung auf Grund des Rechts und der Pflicht der Rechtsordnung, dem Gläubiger nicht nur ein Pfandrecht, sondern das Geld, das er von dem Schuldner verlangen kann, durch Verwertung der durch Pfändung und Verstrickung der Vollstrekung zugeführten Sache zu verschaffen" 6 . Das Fundament hierfür hatte es bereits 1913 in seiner Plenarentscheidung RGZ 82, 85 zur Stellung des Gerichtsvollziehers als Rechtspflegeorgan gelegt und die seitdem h.M. begründet, daß der „Auftrag", von dem das Gesetz spricht (z.B. in §§ 753, 766 II ZPO), ein Antrag auf Vornahme der Amtshandlung ist7. Die privatrechtliche Theorie der Zwangsvollstreckung wird in der zivilprozessualen Literatur schon seit langem nicht mehr vertreten. Jedoch hat sie sich in der bürgerlichrechtlichen Kommentarliteratur noch viele Jahre gehalten, und zwar bei der Begründung eines Bereicherungsanspruchs des Dritteigentümers gegen den Vollstreckungsgläubiger im Falle der Zwangsvollstreckung in eine dem Schuldner nicht gehörige bewegliche Sache. Heute ist der öffentlichrechtliche Charakter der Zwangsverwertung der gepfändeten Sache durch den Gerichtsvollzieher allgemein anerkannt 8 . Zweifelhaft sind lediglich Einzelheiten in der Konstruktion der rechtlichen Vorgänge sowie anderer Verwertungsarten und der Verwertung durch andere Personen als den Gerichtsvollzieher ( § 825 ZPO). Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten beziehen sich auf die Rechtsnatur des Pfändungspfandrechts. Hier steht der gemischten privat- und öffentlichrechtlichen Theorie die rein öffentlichrechtliche Theorie gegenüber, die vereinzelt schon um die Jahrhundertwende vertreten wurde. Diese sieht wie die privatrechtliche das Pfändungspfandrecht als 6 RGZ 156, 395, 398; s. auch RGZ 153, 257 (261). 7 Streitig geblieben ist bis heute die Stellung des Gerichtsvollziehers bei der Entgegennahme freiwilliger Leistungen des Schuldners. Seit Mitte der 80er Jahre kann die Amtsheorie (im Gegensatz zur Vertretertheorie) unter dem Eindruck der Arbeiten von Messer, Die freiwillige Leistung des Schuldners in der Zwangsvollstreckung, 1966, und Fahland, ZZP 92 (1979), 432 ff., als herrschend angesehen werden. Nach ihr wirkt der Gerichtsvollzieher bei der aktiven Leistung des Schuldners in der Zwangsvollstreckung nicht als privatrechtlicher Vertreter, sondern hoheitlich in Ausübung seines Amtes als Vollstreckungsbeamter mit; so z.B. wenn er den Schuldner zur Leistung auffordert, diese in Empfang nimmt und sie an den Gläubiger weitergibt oder wenn er den Empfang quittiert und den Titel herausgibt. 8 Weiterhin für eine privatrechtliche Konzeption Marotzke, NJW 1978, 133 ff.: s. dazu u. bei Fußn. 21.

Die Entwicklung der öffentlichrechtlichen Theorie der Zwangsvollstreckung in Deutschland

393

für die Verwertung wesentlich an. Nach ihr ist es aber öffentlichrechtlicher (oder prozessualer) Natur, so daß die Pfandrechtsvorschriften des BGB grundsätzlich keine Anwendung finden. Mit jeder wirksamen Pfändung entsteht auch ein Pfändungspfandrecht; weitere Voraussetzungen materiellrechtlicher Art brauchen nicht erfüllt zu sein, wie z.B. die Existenz einer Forderung des Gläubigers und die Zugehörigkeit des gepfändeten Gegenstandes zum Schuldnervermögen. Diese Meinung stimmt also bezüglich der Verwertungsgrundlage formell mit der privatrechtlichen Auffassung überein. Für deren Voraussetzungen — und das ist der entscheidende Punkt — kommt sie dagegen zu denselben Ergebnissen wie die gemischte privat- und öffentlichrechtliche Theorie.

II. Grundsätzliches

und Einzelfragen

zum

Verwertungsvo rgang l. Da die öffentlichrechtliche Theorie der Zwangsvollstreckung, auch in der gemischten Form, die Verwertung durch den Gerichtsvollzieher insgesamt als öffentlichrechtlichen Vorgang qualifiziert, und zwar sowohl die Versteigerung als auch den freihändigen Verkauf, fragt es sich, ob dieses grundsätzliche Abgehen von der Konzeption des historischen Gesetzgebers anerkannten Auslegungsregeln entspricht und mit dem Grundgesetz im Einklang steht. Beide Fragen sind zu bejahen. Die in Art. 20 III GG vorgeschriebene Bindung der Rechtsanwendung an das Gesetz wird nicht verletzt. Die systematische Einordnung eines Rechtsinstituts durch den Gesetzgeber als solche ist für die Systembildung durch Wissenschaft und Rechtsprechung nicht zwingend9. Nach der heutigen Wertungsjurisprudenz hat sie jedoch zur Folge, daß die vom Gesetzgeber erkennbar getroffenen Interessenbewertungen verbindlich bleiben10. Bindung an das Gesetz bedeutet mithin Bindung an die Zwecke und Zielvorstellungen des Gesetzgebers11. Nach modernem Staatsverständ9 S. insbesondere Heck, AcP 112 (1914), 1 ff. 10 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 115, 577; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6- Aufl. 1991, S. 328 ; Säcker, JZ 1971, 156 (161). — Regelungsabsichten des Gesetzgebers, die in einem eindeutigen Normtext nicht zum Ausdruck gekommen sind, bleiben bei der Auslegung unberücksichtigt ; vgl. z.B. BVerfGE 11,126 (129 f.) ; 13, 261 (268) ; F. Müller, Juristische Methodik, 5. Aufl. 1993, S. 33 f. 11 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 168.

394

nis ist der zwangsweise Eingriff in das Vermögen des Schuldners zur Durchsetzung eines titulierten Anspruchs nur hoheitlich denkbar. Die Zwangsgewalt liegt allein beim Staat, nicht beim Gläubiger, kann folglich auch nicht von diesem abgeleitet werden. Dem entspricht die Rechtsstellung des Gerichtsvollziehers als Rechtspflegeorgan. Damit scheidet eine privatrechtliche Konstruktion der Zwangsverwertung durch den Gerichtsvollzieher aus. 2. Auch auf dieser Grundlage ist nicht zweifelhaft, daß obligatorische und dingliche Seite der Versteigerung zu unterscheiden sind und daß mit dem Zuschlag des Gerichtsvollziehers — im Gegensatz zum Zuschlag des Vollstreckungsgerichts nach § 90 ZVG — das Eigentum an der versteigerten Sache nicht auf den Ersteher übergeht, sondern der obligatorische Teil vollendet wird. Die Schwierigkeiten bestehen im Detail, nämlich bei der Beantwortung der Frage, welche Regeln an die Stelle der unanwendbaren bürgerlichrechtlichen Vorschriften, insbesondere der §§ 1228 ff., 929 ff- BGB, treten sollen. Darauf beziehen sich die Meinungsverschiedenheiten in der Literatur. a) Nach h.M. kommt durch den Zuschlag an den Meistbietenden (§ 817 I ZPO) ein „kaufähnlicher öffentlichrechtlicher Vertrag" zwischen dem Ersteher und dem Staat zustande, der den Rechtsgrund für den mit Ablieferung der zugeschlagenen Sache durch den Gerichtsvollzieher (§ 817 II ZPO) bewirkten Eigentumserwerb bildet 12 . Dagegen spricht, daß trotz der Verweisung auf § 156 BGB keine Übernahme bürgerlichrechtlicher Vertragsgrundsätze gemeint sein kann, wie § 817 III ZPO zeigt: Der Meistbietende kann sich der „Pflicht zur Zahlung" durch bloßes Nichtstun entziehen; er haftet dann nur für einen eventuellen Ausfall in der weiteren Versteigerung 13 . Vielmehr ist die Versteigerung ein prozessualer Vorgang. Die Gebote sind verfahrensrechtliche Anträge auf Erteilung des Zuschlags, also Prozeßhandlungen der Bieter, und der Zuschlag des Gerichtsvollziehers die zivilprozessuale Entscheidung eines nichtrichterlichen Rechtspflegeorgans zugunsten des Meistbietenden mit der Folge, daß der Versteigerungsvorgang nach Voraussetzungen und

12 Aus der neueren Literatur: Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungen Konkurs- und Vergleichsrecht, 11. Aufl. 1983, Rdnr. 472 ; Jauernig, Zwangsvollstreckungen und Konkursrecht, 19. Aufl. 1990, § 18 IV A ; MünchkommZPO-ScfeV/fe», 1992, § 814 Rdnr. 8 und § 817 Rdnr. 3 ; Schuschke (o. Fußn. 5), § 817 Rdnr. 5 ; Thomas/Putzo, ZPO, 19. Aufl. 1995, § 817 Anm. 1. 13 Stein/Jonas/Münzberg, § 817 Rdnr. 4, 20 ; Gaul, in: Gedächtnisschrift für Peter Arens, 1993, S. 89 (111).

Die Entwicklung der öffentlichrechtlichen Theorie der Zwangsvollstreckung in Deutschland

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Wirkungen den Regeln des Prozeßrechts unterliegt14. Der Zuschlag begründet für den Gerichtsvollzieher die Amtspflicht, dem Ersteher das Eigentum an der zugeschlagenen Sache zu übertragen. Jedoch hat der Ersteher keinen entsprechenden klagbaren Anspruch; er kann die Erfüllung der Übereignungspflicht durch den Gerichtsvollzieher nur mit der Erinnerung (§ 766 ZPO) erzwingen15. Ansprüche des Erstehers aus Rechts- oder Sachmängelhaftung sind, auch unabhängig von § 806 ZPO, ausgeschlossen. b) Die Eigentumsübertragung auf den Ersteher vollzieht sich nicht nach zivilrechtlichen Normen; sie ist ein privatrechtsgestaltender Hoheitsakt, den der Gerichtsvollzieher kraft seiner Verwertungsbefugnis vornimmt 16 . Das Wesentliche dieser öffentlichrechtlichen Übereignung ist die Äußerung hoheitlichen Willens dem Ersteher gegenüber. Deshalb kann in dem Hoheitsakt des Gerichtsvollziehers nicht ein Ersatz für die Einigung i.S. des § 929 BGB gesehen werden. Der Hoheitsakt ist nicht ein Tatbestandselement eines zweiteiligen Übereignungsaktes, sondern die Übereignung selbst. Damit fragt es sich, ob er einer Form bedarf, insbesondere nach außen in Erscheinung treten muß. Das in §§ 929 ff. BGB zum Ausdruck kommende Erfordernis der Publizität des Eigentumswechsels gilt auch im öffentlichen Recht. Nach dem BGB ist die Übergabe das zweite Element des Übereignungsvorgangs. Für die Übereignung in der Zwangsvollstreckung ist die Verschaffung des unmittelbaren Besitzes kein selbständiges Erfordernis, sondern nur die Form, in der sich der Hoheitsakt vollzieht. Unerläßlich ist nur, daß die Übereignung dem Publizitätserfordernis genügt. Deshalb ist die öffentliche Einweisung des Erstehers in den mittelbaren Besitz der Sache ausreichend17. Der Ersteher erwirbt das Eigentum, und zwar lastenfrei, ohne Rücksicht darauf, ob die versteigerte Sache dem Schuldner, dem Gläubiger oder einem Dritten gehört. Auf seinen guten Glauben kommt es nicht an ; §§ 932, 1244 BGB sind unanwendbar 18 . Die Ansicht, die Übereignung einer dem Schuldner nicht gehörigen Sache könne bei Kenntnis des Erstehers 14 Luke, ZZP 68 (1955), 341, 351 f . ; Stein/Jonas/Münzberg, § 817 Rdnr. 4, 8, 20 ; Gaul (o. Fußn. 13) ,S. 111 f. 15 Dies ist ganz h.M.; vgl. nur Lütke, ZZP 68 (1955), 341(354) ; Gaul (o. Fußn. 13) ,S. 114. 16 BGHZ 55, 20 (25) ; 100, 95 (98) ; 119, 75 (76) ; zu Einzelheiten s. Lüke, ZZP 67 (1954) ,356 ff. 17 Lüke, ZZP 67 (1954), 356 (367) ; Stein/Jonas/Münzberg, § 817 Rdnr. 22 ; a.M. RGZ 153, 257 (261). 18 BGHZ 119, 75 (76 f.) ; Lüke, ZZP 67 (1954), 356 (370).

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und Hinzutreten weiterer Umstände wegen Arglist unbeachtlich sein19, ist systemwidrig und daher abzulehnen. Im Falle arglistigen Verhaltens steht dem Dritteigentümer gegen den Ersteher ein Schadensersatzanspruch auf Rückübereignung nach §§ 823 I, 826, 249 S. 1 BGB zu. Fälle dieser Art dürften wohl nur praktisch werden, wenn der Vollstreckungsgläubiger selbst die Sache ersteigert 20 . Die in der Literatur vertretene Ansicht, der Eigentumserwerb des bösgläubigen Erstehers verstoße gegen Art. 14, 19 IV, 20 III GG21, ist nicht haltbar 22 . Bei Nichtigkeit der Pfändung erwirbt der Ersteher kein Eigentum. Das gegenteilige Ergebnis läßt sich auch nicht mit der analogen Anwendung des § 366 HGB rechtfertigen 23 . Eine Mindermeinung wendet auf die Versteigerung einer nicht wirksam gepfändeten Sache § 1244 BGB entsprechend an, wobei teils nur positive Kenntnis24, teils grob fahrlässige Unkenntnis des Erstehers 25 für schädlich gehalten wird. Auch diese Versuche, einen privatrechtlichen Rest zu retten, sind inkonsequent, weil sie der öffentlichrechtlichen Struktur der Übereignung durch den Gerichtsvollzieher widersprechen 26 . Außer der wirksamen Pfändung sind wesentliche Voraussetzungen für den EigentumsUbergang, daß eine öffentliche Versteigerung stattgefunden hat und das Gebot beglichen ist, soweit nicht ausnahmsweise Barzahlung unterbleiben darf (§ 817 II ZPO)27. Ob auf Seiten des Erwerbers Prozeßfähigkeit oder wenigstens beschränkte Geschäftsfähigkeit vorliegen muß, ist umstritten 28 . Das gleiche gilt für die Wirksamkeit des Zuschlags29. c) Eigentum an dem vom Ersteher gezahlten Versteigerungserlös er19 20 21 22

Jauernig (o. Fußn. 12), § 18 IV a. Lüke, Fälle zum Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1993, S. 145 f. Marotzke, N J W 1978, 133 (135); s. auch Pesch, JR 1993, 358. Ebenso Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, 10. Aufl. 1987, § 53 III 1 b a.E. 23 Lüke, ZZP 67 (1954), 356, 370 f., gegen Stein, Grundfragen, S. 76, und Schwinge, Der fehlerhafte S t a a t s a k t im Mobiliarvollstreckungsrecht, 1930, S. 109; zur Unanwendbarkeit des § 366 H G B s. auch BGHZ 119, 75 (92 f.). 24 So Bruns/Peters, Zwangsvollstreckungsrecht, 3. Aufl. 1987, § 23 IV 4 c ; Lindacher, JZ 1970, 360. 25 So G. Huber, Die Versteigerung gepfändeter Sachen, 1970, S. 140 ff. 26 Ablehnend auch Rosenberg/Gaul/Schilken, § 53 III 1 b. 27 Stein/Jonas/Münzberg, § 817 Rdnr. 23 ; Lüke, ZZP 67 (1954), 356 (370 Fußn. 72). 28 Vgl. Stein/Jonas/Münzberg, § 817 Rdnr. 23. 29 Bejahend Lüke, ZZP 67 (1954), 356 (368) ; verneinend Stein/Jonas/Münzberg, § 817 Rdnr. 24.

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wirbt nicht der Staat oder der Gerichtsvollzieher, sondern der Eigentümer der gepfändeten Sache, in der Regel also der Vollstreckungsschuldner, ausnahmsweise der Dritte, wenn die gepfändete Sache ihm gehört30. Dieses Ergebnis gilt unabhängig von § 1247 S. 2 B G B ; es folgt daraus, daß die Forderung auf den Versteigerungserlös dem Eigentümer der Sache zusteht31. Verstrickung und Pfändungspfandrecht setzen sich am Erlös fort, der an die Stelle der Sache tritt, so daß sich das Verfügungsrecht des Gerichtsvollziehers nunmehr auf diesen erstreckt. Der Gläubiger kann nach § 766 ZPO verlangen, daß ihm der Erlös nach Abzug der Kosten ausgehändigt wird. Eine Änderung der materiellen Rechtsverhältnisse am Erlös tritt ein, wenn der Gerichtsvollzieher über den Erlös verfügt, und zwar wiederum hoheitlich. Erst dann verliert der Eigentümer sein Eigentums am Erlös, unabhängig davon, wer Eigentümer des Geldes ist. Die Übereignung ist nur an am Verfahren beteiligte Gläubiger wirksam32. Den Rest des Erlöses hat der Gerichtsvollzieher dem Schuldner auszuhändigen. Nach § 819 ZPO geht mit der Empfangnahme des Erlöses durch den Gerichtsvollzieher, den er vom Ersteher erhält, die Gefahr des Geldverlustes auf den Gläubiger über. Der Schuldner wird also frei, wenn z.B. der Gerichtsvollzieher das Geld unterschlägt, falls der Erlös aus dem Schuldnervermögen stammt. Das materielle Erlöschen der titulierten Forderung ordnet dagegen die Zahlungsfiktion des § 819 ZPO genausowenig an wie die des § 815 III ZPO33. 3. Den Sonderfall der Selbstersteigerung durch den Gläubiger regelt § 817 IV ZPO. Der Gläubiger ist als Ersteher von der Verpflichtung zur baren Zahlung des Kaufgeldes so weit befreit, als der Erlös nach Abzug der Kosten der Zwangsvollstreckung zu seiner Befriedigung zu verwenden ist. Insoweit gilt der Betrag als von dem Schuldner an den Gläubiger gezahlt. Nach ganz h.M. ist die Vorschrift rein prozessual auszulegen34. 30 LUke, AcP 153 (1954), 533 (535). 31 LUke, ZZP 68 (1955), 341 (357). 32 Die rechtswidrige Übereignung an nicht am Verfahren Beteiligte ist nicht Rechtsgeschäft, sondern bleibt Amtshandlung; auf sie findet folglich § 932 BGB keine Anwendung ; a.M. Stein/Jonas/Münzberg, § 819 Rdnr.10 Fußn. 39. 33 Näheres bei Kerwer, Die Erfüllung in der Zwangsvollstreckung, Diss. Saarbrücken 1996, S. 15 ff., 103 ff- Auf diese Arbeit, in der für die Zwangsvollstreckung eine geschlossene Erfüllungstheorie entwickelt wird, die bisher in der Literatur gefehlt hat, wird für die Erfüllung verwiesen. 34 BGHZ 100, 95 (99) ; MünchkommZPO-Schilken, § 817 Rdnr. 18 ; Krüger, JuS 1989, 182 (183) ; LUke (o. Fußn. 20), S. 142.

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Folglich kommt es für eine Befreiung des Gläubigers von der Barzahlungspflicht nur darauf an, ob der Erlös ihm nach dem Titel gebührt, so daß auch die Zahlungsfiktion des Satz 2 ungeachtet der Eigentumsverhältnisse an der versteigerten Sache eingreift. Die Literatur nimmt teilweise an, die Fiktion des § 817 IV 2 ZPO stelle eine Vereinfachung für eine normalerweise erforderliche Aufrechnung dar. Der Schuldner erwerbe als Eigentümer der versteigerten Sache gegen den Gläubiger als Ersteher die Forderung auf den Versteigerungserlös, mit der er gegen die materiellrechtliche Forderung des Gläubigers aufrechnen könne. Gehöre die versteigerte Sache aber einem Dritten, so erlösche die titulierte Forderung nicht, da der Gegenanspruch nicht dem Schuldner, sondern dem Dritteigentümer zustehe; für eine Aufrechnungsmöglichkeit fehle die nach § 387 BGB erforderliche Gegenseitigkeit35. Daraus werden folgende Konsequenzen gezogen: Die titulierte Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner bestehe in ihrer ursprünglichen Höhe weiter. Der Dritteigentümer habe gegen den Gläubiger aus dem diesem in der Versteigerung erteilten Zuschlag eine Forderung auf den Versteigerungserlös in Höhe des Meistgebots. Mithin fehle es an einem Vermögensvorteil i.S. des § 812 I 1 BGB, so daß ein Bereicherungsanspruch des Dritteigentümers gegen den Gläubiger ausscheide36. Von einer Verrechnung der Titelforderung des Gläubigers mit dem gegen ihn gerichteten Anspruch auf den Versteigerungserlös 37 geht auch der BGH aus38. Er will jedoch — anders als die dargestellte Meinung — dem Dritteigentümer wie im Falle der Ersteigerung durch einen unbeteiligten Dritten einen Bereicherungsanspruch gegen den Gläubiger gewähren. Dies ist inkonsequent; denn es gibt nur zwei Möglichkeiten : Entweder es findet eine Verrechnung statt; dann scheidet ein Bereicherungsanspruch gegen den Gläubiger aus, weil dieser seine Forderung verloren hat und aus diesem Grunde nicht bereichert sein kann. Oder eine Verrechnung erfolgt nicht; dann scheitert ein Ausgleich nach Bereicherungsgrundsätzen, weil der Gläubiger nicht von der Pflicht zur baren Zahlung des Meistgebots befreit worden ist und daher schon nichts erlangt hat39. Mit der Konstruktion der Verrechnung läßt sich also der 35 Lüke, AcP 153 (1954), 533 (544 Fußn. 44) ; v. Gerkan, NJW 1963, 1140. 36 Lüke (o. Fußn. 20), S. 148 f. 37 Es handelt sich nicht um eine „prozessuale Last", wie Gaul (o. Fußn. 13), S. 112, meint; s. auch Lüke (o. Fußn. 20), S. 148 Fußn. 47. Für einen echten Anspruch offenbar auch BGHZ 100, 95 (100). 38 BGHZ 100, 95 (100). 39 Erlangter Vermogensvorteil i.S. des § 812 BGB kann allein die Befreiung des

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vom B G H bejahte Bereicherungsanspruch nicht begründen 40 . Aber auch die dargestellte Literaturmeinung hat Schwächen. Diese liegen darin, daß sie die Schuldbefreiung nach § 817 I V 1 ZPO mit materiellrechtlichen Kriterien belastet und die Selbstersteigerung durch den Gläubiger konstruktiv anders erfaßt als die Regelfälle des Zuschlags an Dritte, was angesichts der rein technischen Funktion des § 817 IV ZPO nicht befriedigt 41 . Deshalb ist ein anderer Lösungsweg vorzuziehen 4 2 : Die Titelforderung ist an der Verrechnung zunächst nicht unmittelbar beteiligt, sondern erlischt erst als weitere Folge der dadurch wirksam erlangten Schuldbefreiung. Dies ist möglich, wenn die Schuldbefreiung als Verrechnung zwischen dem Anspruch des Gläubigers auf Erlösauskehrung 43 und dem Anspruch gegen ihn auf Zahlung des Versteigerungserlöses angesehen wird. Die vom Gläubiger ersteigerte S a c h e unterliegt nicht der Kondiktion. Die Bereicherung des Gläubigers besteht darin, daß er wirksam von der Pflicht zur Zahlung seines Meistgebots befreit worden ist, ohne daß er seine Titelforderung gegen den Schuldner verloren hat. Die Rechtslage ist nicht anders als in dem Fall, daß ein Dritter die schuldnerfremde Sache ersteigert hat und der Erlös an den Gläubiger ausgekehrt worden ist. Die Zurechnung als Zahlung des Schuldners nach der Fiktion des § 817 I V 2 ZPO wird durch den Umfang der Haftung begrenzt, so daß der Schuldner dann nicht befreit wird und seine Schuld gegenüber dem Gläubiger nicht erlischt, wenn die verwertete S a c h e nicht oder nur nachrangig für sie haftet 4 4 . 4. Bei der Anwendung des § 825 ZPO, der ebenfalls die öffentlichrechtliche Theorie der Zwangsvollstreckung betrifft, gehen die Meinungen in der Literatur teilweise auseinander. Nach dieser Vorschrift kann das Vollstreckungsgericht für die Verwertung Ausnahmen von der öffentlichen Versteigerung zulassen. Die beiden wichtigsten Fälle sind die Verwertung in anderer Weise und durch eine andere Person als den GeGläubigers von der Pflicht zur Barzahlung des Meistgebots sein. 40 Kritisch zum BGH auch Brehm, JZ 1987, 780; Krüger, JuS 1989, 182 (183 Fußn. 17) ; Lüke (o. Fußn. 20), S. 148 Fußn. 47. 41 Zutreffend Kerwer (o. Fußn. 33), S. 217. 42 Verf. gibt die bisher von ihm vertretene Auffassung auf und folgt der Lösung von Kerwer (o. Fußn. 33), S. 217 ff. 43 Es handelt sich um einen öffentlichrechtlichen Anspruch gegen den Staat, vertreten durch den Gerichtsvollzieher. Er ist nicht einklagbar, sondern kann nur mit der Erinnerung nach § 766 ZPO durchgesetzt werden ; Lüke, AcP 153 (1954), 533 (535) ; Stein/Jonas/Münzberg, § 819 Rdnr. 8. 44 Richtig Kerwer (o. Fußn. 33), S. 217.

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richtsvollzieher, um einen günstigen Erlös zu erzielen. a) In der Praxis üblich ist die Zuweisung der gepfändeten Sache in das Eigentum des Vollstreckungsgläubigers unter Anrechnung eines Betrages auf die titulierte Forderung 45 . Jedoch ist zu beachten, daß es sich hierbei nur um eine subsidiäre Verwertungsmaßnahme handelt. Da nämlich die ZPO die Versilberung der Sache durch Versteigerung als Regelfall ansieht (§ 814 ZPO) und eine Verwertung in sonstiger Weise nach § 825 ZPO der ausdrücklichen Anordnung des Vollstreckungsgerichts bedarf, ist die gerichtliche Zuweisung der gepfändeten Sache nur zulässig, wenn die Versteigerung erfolglos verlaufen ist oder von vornherein aussichtslos erscheint oder wenn der vom Gläubiger angebotene und vom Gericht festzusetzende Übernahmepreis mindestens so hoch ist wie der zu erwartende Versteigerungserlös 46 . Obgleich vereinzelt von einer gewohnheitsrechtlichen Anerkennung gesprochen wird47, ist die Bedeutung der Anordnung unklar und hat, wie es scheint, in der Literatur einen Wandel erfahren. Früher gingen Rechtsprechung und Lehre davon aus, daß der Beschluß des Vollstrekkungsgerichts auch dingliche Wirkung hat. Zweifelhaft war nur, ob er selbst die öffentlichrechtliche Übereignung ist48 oder ob, wie es die Praxis im Anschluß an die Rechtsprechung des RG forderte 49 , neben der Zustellung des Beschlusses die Übergabe der Sache an den Gläubiger durch den Gerichtsvollzieher nötig war. Heute nimmt man allgemein an, daß der Gerichtsbeschluß nur die Wirkung des Zuschlags hat, den er ersetze50. Unmittelbare Eigentumszuweisung durch das Gericht werde weder vom Wortlaut des § 825 ZPO gedeckt, noch bestehe für eine solche Überdehnung der Vorschrift ein Bedürfnis51. Dem kann nicht zugestimmt werden. § 825 ZPO sollte großzügig gehandhabt werden, um im Interesse von Gläubiger und Schuldner — auch ohne Gesetzesänderung — unterschiedliche Verwertungsarten zu ermögli45 Von einer „Zwangsüberweisung" zu sprechen, ist mißverständlich (Brox/ Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 4. Aufl. 1993, Rdnr. 429), da die Zuweisung nicht gegen den Willen des Gläubigers erfolgen kann, wohl aber gegen den des Schuldners. 46 Lüke, JuS 1970, 629. 47 Lüke, Zwangsvollstreckungsrecht, 2. Aufl. 1993, S. 193. 48 Stein, Grundfragen, S. 72. 49 RGZ 126, 21 (25) : der Gerichtsbeschuß als Ersatz für die Einigung über die Veräußerung zwischen Gläubiger und Schuldner; kritisch Lüke, JZ 1959, 114 (117). 50 BGHZ 119, 75 (78) ; Zöller/Stöber, ZPO, 19. Aufl. 1995, § 825 Rdnr. 17; Brox/ Walker (o. Fußn. 45), Rdnr. 428 f.; MünchkommZPO-ScfcVfen, § 825 Rdnr. 9. 51 Stein/Jonas/Münzberg, § 825 Rdnr. 15.

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chen52. Fraglich kann nur sein, ob der Beschluß selbst das Eigentum an der zugewiesenen Sache überträgt, oder ob die Verschaffung des unmittelbaren Besitzes durch den Gerichtsvollzieher hinzukommen muß. Im Interesse einer klaren und folgerichtigen Konstruktion ist die Frage im ersten Sinne zu beantworten; die Besitzverschaffung ist lediglich Hilfsvollstreckung53. Keine Bedenken ergeben sich daraus, daß der Zuweisungsantrag die eigene Sache des Gläubigers betrifft. Die Pfändung einer eigenen Sache des Gläubigers begründet Verstrickung und prozessuales Pfandrecht, ohne daß der Verzicht des Gläubigers auf sein Eigentum (vgl. § 1256 BGB) unterstellt werden muß ; eine wirksame Verwertungsgrundlage liegt daher vor. Falls der Gläubiger als Zuweisungsempfänger schon Eigentümer der Sache ist, wird die Innehabung des Eigentums jetzt an die öffentlichrechtliche Übereignung geknüpft. Etwaige Mängel beim früheren Eigentumserwerb werden damit unerheblich ; vorhandene Rechte Dritter an der Sache erlöschen. Demnach ist die Zuweisung der eigenen Sache an den Gläubiger nicht nur sinnvoll, sondern infolge der öffentlichrechtlichen Natur der Übereignung auch rechtlich möglich54. Zweifelhaft ist die vom BGH vertretene Auffassung, die Übereignung durch den Gerichtsvollzieher aufgrund eines Zuweisungsbeschlusses nach § 825 ZPO sei unwirksam, wenn sie einen ungetrennten wesentlichen Bestandteil eines Grundstücks — im konkreten Fall ein Blockhaus mit festem Fundament — betrifft 55 . Der BGH läßt offen, ob bereits die Pfändung des Blockhauses „wegen sachlicher und funktionaler Unzuständigkeit des Gerichtsvollziehers" nichtig war. Er mißt dem sachenrechtlichen Grundsatz des § 93 BGB gegenüber der hoheitlichen Übereignung größere Bedeutung zu mit der Folge, daß der Erwerb von Eigentum an ungetrennten wesentlichen Bestandteilen ebensowenig durch Hoheitsakt möglich sei wie durch Rechtsgeschäft. Diese Entscheidung ist mit Recht auf Kritik gestoßen. Es geht schlicht um die Abgrenzung nichtiger Hoheitsakte von den nur anfechtbaren. Nach heute allgemein anerkannter Auffassung sind fehlerhafte und daher rechtswidrige Vollstreckungsakte regelmäßig nur anfechtbar, also 52 S. die Bonner Tagung der Vereinigung der Zivilprozeßrechtslehrer 1992, Bericht von Stadlhof er-Wissinger, ZZP 105 (1992), 393 ff.; vgl. auch MünchKomm ZPO -Schilken, § 825 Rdnr. 11 a.E. 53 Lake, JZ 1959, 114 (117). 54 Luke, JuS 1970, 629 (630). 55 BGHZ 104, 298 (303).

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wirksam, bis sie auf entsprechenden Rechtsbehelf oder von Amts wegen aufgehoben werden56. Nur bei grundlegenden Verstößen gegen wesentliche Formvorschriften oder bei Fehlen jeglicher Voraussetzungen für eine Zwangsvollstreckung überhaupt ist Nichtigkeit anzunehmen. Kriterien können Schwere und Offenkundigkeit des Fehlers sein57. An beiden fehlt es hier, so daß weder der Beschluß des Vollstreckungsgerichts noch die Übereignung durch den Gerichtsvollzieher nichtig war58. b) Ordnet das Vollstreckungsgericht die freihändige Veräußerung durch eine andere Person als den Gerichtsvollzieher an, so ist sich die Literatur darüber einig, daß der Dritte bei der Ausführung rein privatrechtlich tätig wird. Er handelt aufgrund einer öffentlichrechtlichen Bestellung, für die die allgemeinen Rechtsgedanken der zivilrechtlichen Geschäftsbesorgung gelten. Er schließt mit dem Erwerber der Sache einen Kaufvertrag und nimmt die Übereignung nach §§ 929 ff. BGB vor59. Die ganz h.M. faßt die Verwertung auch dann privatrechtlich auf, wenn das Vollstreckungsgericht die Versteigerung der Sache durch den Dritten angeordnet hat60. Vor kurzem hat sich der BGH in einer ausführlich begründeten Entscheidung gegen die öffentlichrechtliche Qualifizierung der Versteigerung einer gepfändeten Sache durch einen öffentlich bestellten Auktionator ausgesprochen61. Die Möglichkeit der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Private auf der Grundlage einer „Beleihung"62 hat er zwar gesehen, aber nicht näher geprüft, weil im konkreten Fall nach seiner Meinung dafür nichts dargetan war. Hier scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein, auch wenn in der Rechtsprechung die Tendenz zur Ablehnung unverkennbar ist; denn die Entwicklung einer zusätzlichen hoheitlichen Eigentumszuweisung durch Privatleute unabhängig vom guten Glauben des Erwerbers würde nach Auffassung des BGH das System des Eigentumschutzes durch das bürgerliche Recht empfindlich stören63.

56 57 58 59 60 61 62 63

BGHZ 66, 79 (81) ; 80, 296 (298) ; BGH, NJW 1979, 2045. Gaul, Rpfleger 1971, 81, 88. Gegen den BGH auch Gaul, NJW 1989, 2509 ff. Stein/Jonas/Münzberg, § 825 Rdnr. 13 mit Nachw. S. nur MünchKommZPO Schilken, § 825 Rdnr. 11. BGHZ 119, 75 ff. Lüke, NJW 1954, 254 ; G. Huber (o. Fußn. 25), S. 42. BGHZ 119, 75 (81).

Die Entwicklung der öffentlichrechtlichen T h e o r i e der Zwangsvollstreckung in Deutschland

III. Der Streit um die Rechtsnatur

des

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Pfändungspfand-

rechts l. Zu den klassischen Streitfragen des deutschen Zwangsvollstreckungsrechts gehört die Frage nach der Rechtsnatur des Pfändungspfandrechts. Auch wenn die Antwort keine große praktische Bedeutung hat — ganz ohne Bedeutung ist sie nicht64, wie z.B. die problematische Anwendbarkeit des § 1227 BGB zeigt — muß sich jedenfalls die Wissenschaft dem Thema stellen. Unerheblich ist auch, daß das Zwangsvollstreckungsverfahren ohne das besondere Pfandrecht nach § 804 ZPO auskommen könnte65. So wird die Problematik nach wie vor zu Recht in der Literatur ausführlich behandelt. Die wohl h.M. steht noch immer auf dem Standpunkt der Lehre Steins mit ihrem Nebeneinander von privatem Pfändungspfandrecht und öffentlichrechtlicher Verwertung66. Demgegenüber wird die rein öffentlichrechtliche Theorie Uberwiegend in der Kommentarliteratur zur ZPO vertreten67. Der BGH hat sich zu dem Theorienstreit wiederholt geäußert 68 , ihn bisher jedoch nicht entschieden. Zu den einleitend skizzierten Merkmalen des nach der öffentlichrechtlichen Theorie prozessualen Pfändungspfandrechts kommen hinzu 69 : Es legt das Rangverhältnis zwischen konkurrierenden Gläubigern fest und gewährt im Konkurs ein Absonderungsrecht (§ 804 III ZPO). Insofern hat es die Wirkungen eines vertraglichen Pfandrechts. Auch eine anfechtbare Pfändung läßt es entstehen; wird der Mangel geheilt, so wird der Vollstreckungsakt unanfechtbar, womit sich die umstrittene Frage nach der Rückwirkung erledigt. — Das Pfändungspfandrecht erlischt — genauso wie die Verstrickung — außer durch die Verwertung der Pfandsache nur mit der Entstrickung, also mit der Aufhebung der Pfändung durch den Gerichtsvollzieher. Weder § 1255 BGB noch § 843 ZPO, der lediglich für 64 Häufig wird dem Streit jede praktische Bedeutung abgesprochen ; vgl. die Nachw. bei Schuschke (o. Fußn. 5), vor §§ 803, 804 ZPO Rdnr. 10 Fußn. 35. 65 Stein/Jonas/Münzberg, § 804 Rdnr. 1 und 3 mit Nachw. in Fußn. 3. 66 Nachw. in BGHZ 119, 65 (86 f.). 67 Nachw. in MünchKommZPO-Schilken, § 804 Rdnr. 5. 68 Zuletzt in BGHZ 119, 75 (82 ff.). 69 Wegen Einzelheiten s. Luke, JZ 1955, 484 ff. und 1957, 239 ff.

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den Verzicht auf die Rechte aus der Pfändung und Überweisung von Forderungen zur Einziehung gilt, ist auf das Pfändungspfandrecht an Sachen entsprechend anwendbar. Der Verzicht des Gläubigers kann jedoch als Freigabeerklärung und damit als Anweisung an den Gerichtsvollzieher zur Entstrickung ausgelegt werden, deren Nichtbeachtung durch den Gerichtsvollzieher Schuldner und Dritteigentümer mit der Erinnerung (§ 766 ZPO) rügen können. 2. Für die Richtigkeit der gemischten privat- und öffentlichrechtlichen sowie der rein öffentlichrechtlichen Theorie läßt sich der ZPO kein durchschlagendes Argument entnehmen, und zwar deshalb nicht, weil die öffentlichrechtliche Sicht der Zwangsvollstreckung sich von der Konzeption des historischen Gesetzgebers grundlegend entfernt hat. Beide Theorien sind entwickelt worden, um die Verwertungsgrundlage und damit die weitere Durchführung der Zwangsvollstreckung von materiellrechtlichen Faktoren, insbesondere der Zugehörigkeit des Vollstreckungsobjekts zum Schuldnervermögen, unabhängig zu machen. Insofern stimmen sie in ihren Ergebnissen überein. Eine Schwäche der gemischten privat- und öffentlichrechtlichen Theorie liegt darin, daß sie nicht begründen kann, weshalb die Verstrickung Verwertungsgrundlage und das nach ihr bürgerlichrechtliche Pfandrecht ohne Verwertungsbefugnis ist. Daß der Gläubiger, der eine dem Schuldner nicht gehörige Sache pfänden und verwerten läßt, einem Bereicherungsanspruch des Dritteigentümers ausgesetzt ist, stellt keinen inneren Widerspruch der öffentlichrechtlichen Theorie dar, „an dem die ganze Konstruktion zerbricht" 70 . Auch bei bürgerlichrechtlicher Einordnung des Pfändungspfandrechts kann der Bereicherungsanspruch des Dritteigentümers gegen den Gläubiger auf Herausgabe des Versteigerungserlöses bestehen71. Das bürgerlichrechtliche Pfandrecht ist ein Fremdkörper in einem rein prozessual ausgerichteten Pfändungs- und Verwertungsvorgang, während das prozessuale Pfändungspfandrecht systemgerecht ist und mit der Grundentscheidung des Gesetzgebers übereinstimmt, materiellrechtliche Fragen aus dem eigentlichen Vollstreckungsverfahren herauszuhalten 72 . Da sie auch den Vorteil der Rechtssicherheit für sich hat,

70 So aber Jauernig (o. Fußn. 12), § 16 III C 3. 71 Überzeugend zur Bedeutung des Pfändungspfandrechts für das Recht des Gläubigers zum endgültigen Behaltendürfen des Erlöses Stein/Jonas!MUnzberg, § 804 Rdnr. 22, 23; s. auch RüBmann, ZZP 102 (1989), 401f. 72 Treffend Stein/Jonas/Munzberg, § 804 Rdnr. 4.

Die Entwicklung der öffentlichrechtlichen Theorie der Zwangsvollstreckung in Deutschland

405

verdient sie den Vorzug73.

IV. Fazit Die Betrachtungen zum heutigen Stand der öffentlichrechtlichen Theorie der Zwangsvollstreckung in Deutschland haben gezeigt, daß diese sich in Rechtsprechung und Wissenschaft durchgesetzt und gegenüber den Anfängen kräftig fortentwickelt hat. Dabei ist noch nicht Uberall ihr sachgerechter Ausbau erreicht. Ziel der wissenschaftlichen Bemühungen sollte es sein, bei der Verwertung gepfändeter Sachen durchweg zu prozessualen Lösungen zu kommen, die systemkonform sind und der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit dienen74. Das Zusammenspiel von materiellem Recht und Vollstreckungsrecht ermöglicht die Korrektur ungerechtfertigter Beeinträchtigungen Beteiligter durch Gewährung von Ausgleichsansprüchen; diese können heute nach h.M. als gesichert angesehen werden75.

73 Ebenso Arens/W. Lake, Zivilprozeßrecht, 6. Aufl. 1994, S. 433 f. 74 In diesem Sinne Gaul (o. Fußn. 13), S. 107 ff.; zur Immobiliarvollstreckung Stadlhofer- Wissinger, Das Gebot in der Zwangsversteigerung — eine nicht anfechtbare Prozeßhandlung, 1993; dazu Peters, in: Festschrift für Henckel, 1995, S. 655, 662 ff. 75 Einzelheiten bei Lüke, Keio Law Review 1995 (übersetzt von T. Mikami) ; JuS 1996, Heft 3.

Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz Modell alternativer Streitbeilegung oder Regelung eines Sonderfalles?

von

Prof. Dr. W o l f g a n g Lüke, L L . M .

(Chicago)

Dresden

Professor an der Technischen Universität Dresden

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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung 1. Reformüberlegungen im deutschen Rechtspflegerecht 2 . Die Regelung der vermögensrechtlichen Folgen—insbesondere im Bereich des Grundstücksrechts—nach der deutschen Wiedervereinigung II. Verfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz 1. Gegenstand des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes 2 . Problem der Durchsetzung des Anspruchs 3 . Einzelheiten des notariellen Vermittlungsverfahrens III. Grundfragen des Verfahrens 1. Der Notar als Vermittler 2. Tätigwerden des Notars im Rahmen einer Verfahrensordnung IV. Ubertragbarkeit auf andere Regelungsbereiche 1. Beschränkung auf vermittelnde Tätigkeit 2. Mögliche weitere Anwendungsfälle für die notarielle „Vermittlung" V. Schluß

Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz

I.

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Einleitung

1. Reformüberlegungen im deutschen Rechtspflegerecht Die starke und stetig wachsende Belastung der Gerichte und die Knappheit finanzieller Mittel des Fiskus haben zu einer nunmehr schon weit über zehnjährigen Suche nach „Alternativen in der Ziviljustiz"1 und nicht nur dort geführt. Der Blick ins Ausland, wo teilweise schon erhebliche Anstrengungen unternommen wurden, M ö g l i c h k e i t e n zur außergerichtlichen Konfliktlösung zu schaffen, ist dabei von Bedeutung2. Große Beachtung fanden neben den verschiedenen Versuchen der „Alternative Dispute Resolution" im US-amerikanischen Recht, die bereits in den 60er Jahren ihren Ausgang nahmen3, auch Schlichtungsverfahren im japanischen Recht4. Die in Deutschland angestellten Erwägungen sind Bestandteil einer seit Anfang der 80er Jahre vom Bundesministerium der Justiz durchgeführten ressortübergreifenden „Strukturanalyse Rechtspflege", die Ende vergangenen Jahres den ersten Abschnitt ihres Arbeitsprogramms erledigt hat5. Neben der Ermittlung der Funktionsweise und -zusammenhänge ist es Ziel dieses Forschungsvorhabens, Antworten auf Grundfragen der Justizgewährung zu finden. Es soll geprüft werden, ob der Rechtsschutz schnell, uneingeschränkt, verständlich, durchschaubar und mit akzeptierten Ergebnissen gewährt wird. Bestehende „Defizite" sind zu ermitteln und Überlegungen über andere Möglichkeiten anzustellen6. 1 So der Titel gesammelter Beiträge, die auf einer Arbeitstagung des Bundesministeriums der Justiz gehalten wurden, herausgegeben v o n : E. Blankenburg, W. Gottwald und D. Strempel, Bonn 1982. 2 Vgl. hierzu vor allem Gottwald/Strempel, Streitschlichtung, Rechtsvergleichende Beiträge zur außergerichtlichen Streitbeilegung, Bonn 1995, passim. 3 Frank E.A. Sander, in: Gottwald/Strempel (Hrsg.), S. 31 ff. 4 Krapp, in: Gottwald/Strempel (Hrsg.), S. 77 f f . ; A. Ishikawa, Die Bedeutung der Schlichtung als Mittel der Streitbeilegung unter Vermeidung gerichtlicher Auseinandersetzung in Japan, Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europainstitut der Universität des Saarlandes, Nr. 127, 1988, passim. 5 Strempel/Rennig ZRP 1994, 144 ff. 6 StrempelIRennig ZRP 1994, 145.

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2. Die Regelung der vermögensrechtlichen Folgen — insbesondere im Bereich des Grundstücksrechts — nach der deutschen Wiedervereinigung In den fünf neuen Bundesländern stoßen nun zwei Umstände aufeinander, die für die Justiz eine erhebliche Belastung darstellen. Dies sind zum einen die sehr komplizierten Regelungswerke, die sich mit der Behandlung vermögensrechtlicher Probleme im weitesten Sinne befassen und zum anderen eine zahlenmäßig noch schwache personelle Ausstattung der Justiz, deren Aufgaben zudem von häufig wenig erfahrenen Richtern wahrgenommen werden. Die Schwierigkeit der Materie beruht auch auf der Vielgestalt der sich stellenden Fragen, die der Gesetzgeber teilweise erst allmählich mit zunehmender Vertrautheit mit der tatsächlichen Ausgangslage erkennen konnte. Daraus resultiert eine große Zahl von Gesetzen, die die jeweils sich stellende Problemlage auch in bezug auf ein und denselben Gegenstand regelt. Dies läßt sich exemplarisch anhand des Grundstückrechts darstellen: Wenn Grundstücke unvermessen sind, bedarf es einer Bodensonderung nach dem Bodensonderungsgesetz7, werden Rückübereignungsansprüche wegen einer Enteignung in früheren Zeiten geltend gemacht, so findet das Vermögensgesetz 8 Anwendung und es sind gegenüber den Ämtern für offene Vermögensfragen Ansprüche auf Rückübereignung geltend zu machen; es handelt sich also — jedenfalls zunächst — um ein Verwaltungsverfahren, dem sich allerdings ein Prozeß vor den Verwaltungsgerichten anschließen kann9. Fragen der Zuordnung des Grundstückes an die verschiedenen Träger öffentlicher Gewalt richten sich nach dem Vermögenszuordnungsgesetz10. Für landwirtschaftlich genutzte Grundstücke, die in Landwirtschaftsproduktionsgenossenschaften eingebracht werden mußten, sind eine Vielzahl gleicher Probleme im Landwirtschaftsanpassungsgesetz 11 geregelt. Dies sind nur einige der wich7 Gesetz über die Sonderung unvermessener und überbauter Grundstücke nach der Karte (Bodensonderungsgesetz - BoSoG) v. 20 12.1993, BGBl. I, 2182. 8 Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz - VermG) v. 23. 9.1990, BGBl. II, 885, 1159 ; zuletzt geändert durch das Gesetz v. 27.9.1994, BGBl. I, 2624, 2636. 9 Vgl. für Einzelheiten § 37 f. VermG. 10 Gesetz Uber die Feststellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen (Vermögenszuordnungsgesetz - VZOG) v. 22.3.1991, BGBl. I, 766. 11 Gesetz über die strukturelle Anpassung der Landwirtschaft an die soziale und ökologische Marktwirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik (Land-

Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz

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tigsten Bestimmungen, die in bezug auf Grundstücke Anwendung finden. Ein weiteres wichtiges Gesetz stellt das Sachenrechtsbereinigungsgesetz12 dar. Mit ihm sollen — vereinfacht ausgedrückt — die sachenrechtlichen Verhältnisse in der ehemaligen DDR an jene des BGB angepaßt werden. Am Beispiel dieses Gesetzes soll dargestellt werden, wie der Gesetzgeber auch Probleme der Rechtsdurchsetzung zu lösen versucht hat. Im einzelnen werden zunächts der Gegenstand des Gesetzes und die von ihm vorgesehenen verfahrensrechtlichen Besonderheiten darzustellen sein. Daran schließt sich eine Diskussion der Grundprobleme dieser verfahrensrechtlichen Bestimmungen an, um in einem letzten Teil die Frage zu erörtern, ob die Regelungen möglicherweise für weitere Gegenstände geeignet sind.

II. Verjähren

1. Gegenstand

nach dem

des

Sachenrechtsbereinigungsgesetz

Sachenrechtsbereinigungsgesetzes

Das Liegenschaftsrecht der ehemaligen DDR wies verschiedene Besonderheiten auf, von denen vor allem die Einräumung getrennten Gebäudeeigentums hervorzuheben ist, das unabhängig vom Grundeigentum war. Das Motiv für die Schaffung dieses Rechts ist vor allem darin zu sehen, daß Grund und Boden zwar einerseits grundsätzlich im „sozialistischen Eigentum" 13 standen, andererseits aber für den einzelnen ein Anreiz geschaffen werden sollte, um in privater Initiative Eigenheime zu errichten. Dieses Gebäudeeigentum und das an dem Grundstück bestehende Nutzungsrecht des Erbauers blieb auch nach der Wiedervereinigung zunächst bestehen 14 . Soweit das Nutzungsrecht in redlicher wirtschaftsanpassungsgesetz - LwAnpG) v. 3-7.1991, BGBl. I, 1418. 12 Gesetz zur Sachenrechtsbereinigung im Beitrittsgebiet (Sachenrechtsbereinigungsgesetz - SachenRBerG) i. d. F. des Sachenrechtsänderungsgesetzes v. 21. 9. 1994, BGBl. I, 2457. 13 Dieses u m f a ß t e Volkseigentum, Eigentum sozialistischer Genossenschaften, Eigentum gesellschaftlicher Organisationen. Es bestand an ca. 50 % der Gesamtfläche der DDR, Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, 2. Aufl. 1993, § 11 Rdn. 5. 14 Vgl. hierzu Art. 231 § 5, Art. 232 § 4 EGBGB.

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Weise an einem enteigneten Grundstück eingeräumt wurde, stand es sogar einem Rückiibereignungsanspruch nach dem Vermögensgesetz entgegen (§ 4 Abs. 2 VermG). Der Gesetzgeber sah es allerdings als erforderlich an, diesen rechtlichen Zustand an das BGB anzupassen, und regelte die Einzelheiten dieser Angleichung im sog. Sachenrechtsbereinigungsgesetz. Die Durchführung eines endgültigen Interessenausgleichs diene dem Rechtsfrieden. Die Klärung der Rechtsverhältnisse steigere des weiteren die Verfügbarkeit und Beleihbarkeit von Grundstücken15. Der Gesetzgeber entschied sich dabei für folgende Lösung : Der Nutzer eines bebauten Grundstücks hat gegen den Eigentümer dieses Grundstücks nach seiner Wahl einen Anspruch auf Abschluß eines Erbbaurechtsvertrages oder eines Kaufvertrages. Der Wertzuwachs des Grundstücks, den dieses vor allem durch die Schaffung der freien Marktwirtschaft im Gebeit der ehemaligen DDR erfahren hat, soll zwischen dem Eigentümer und dem Nutzer geteilt werden. Dies geschieht in der Weise, daß der Erbbauzins sich auf die Hälfte des für die entsprechende Nutzung üblichen Zinses beläuft (§ 43 SachenRBerG), während der Kaufpreis grundsätzlich die Hälfte des geschätzten Bodenwertes beträgt (§ 68 Abs. 1 SachenRBerG). Das Gesetz sieht neben dem zwingenden Inhalt der Verträge einzelne Regelungen vor, die Vertragsbestandteil werden, sofern entsprechendes vom Nutzer verlangt wird16. Darüber hinaus besteht eine Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten, die sich etwa auch aus der Erbbaurechtsverordnung 17 ergeben, auf die der Anspruchsinhaber aber kein Recht hat. Man spricht insoweit von „notardispositivem Recht"18. 2. Problem der Durchsetzung des Anspruchs Die große Zahl von Regelungen in einem solchen Vertrag, sei es nun ein Erbbaurechtsvertrag oder ein Kaufvertrag, und ihre Abhängigkeit von häufig nicht offenbaren tatsächlichen Verhältnissen erschwert die Durchsetzung des Anspruchs ganz erheblich. Dieser ist nämlich auf Annahme eines Vertrages gerichtet, der im Klageantrag angeboten werden muß. 15 So der Gesetzgeber in der amtlichen Begründung, BT-Dr. 12/5992, 50. 16 Für Einzelheiten hinsichtlich des Erbbaurechts (vgl. § 42 SachenRBerG). 17 Verordnung über das Erbbaurecht v. 15.1.1919, zuletzt geändert durch das Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung (EGInsO), BGBl. I, 1994, 2911).

18 Vossius, SachenRBerG, 1995, § 42 Rdn. 13 ff.

Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz

413

Der Gesetzgeber sah die Anspruchsinhaber vor die Schwierigkeit gestellt, mehrere formwirksame Vertragsangebote machen zu müssen, um einer Klageabweisung zu entgehen, falls nach Ansicht des Gerichts auf eine der Vertragsbestimmungen kein Anspruch besteht19. Die weiteren Angebote würden dann jeweils hilfsweise im Verfahren geltend gemacht werden. Um der Schwierigkeit jedenfalls teilweise zu entgehen, hat der Gesetzgeber der gerichtlichen Durchsetzung des Anspruchs ein sog. notarielles Vermittlungsverfahren als zwingende Sachentscheidungsvoraussetzung (§ 104 SachenRBerG) vorgeschaltet. Ziel des Verfahrens ist es, die gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs vorzubereiten, aber auch eine Klärung der Verhältnisse zu fördern. Das notarielle Vermittlungsverfahren ist eine Art Vertragshilfeverfahren, unterscheidet sich aber von jenem nach dem (nicht mehr geltenden) Vertragshilfegesetz 20 durch die fehlende Entscheidungsbefugnis des Notars. Als Vorbild für das Vermittlungsverfahren diente dem Gesetzgeber die Nachlaßauseinandersetzung nach den §§ 86 ff. FGG, ein Verfahren, das in der Praxis wohl nur selten zur Anwendung gelangt. Im Unterschied zur notariellen Vermittlung ist die Nachlaßauseinandersetzung keine Sachentscheidungsvoraussetzung für eine Klage auf Zustimmung zum Verteilungsplan (§ 2042 BGB)21. Wie das Nachlaßverfahren ist auch das notarielle Vermittlungsverfahren ein solches der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 89 Abs. 1 SachenRBerG). 3. Einzelheiten des notariellen

Vermittlungsverfahrens

Die notarielle Vermittlung nimmt im groben folgenden Verlauf: Ihre Einleitung erfolgt durch Antrag, der im einzelnen gesetzlich festgelegte Angaben enthalten muß(§ 90 SachenRBerG). Grundsätzlich sind die Notare zuständig, deren Amtsbezirk sich in dem Bundesland befinden, in dem das Grundstück gelegen ist. Den Parteien steht es allerdings of19 A l l e r d i n g s h a t der B G H in verschiedenen E n t s c h e i d u n g e n es f ü r zulässig angesehen, auf A b g a b e eines A n g e b o t e s zu klagen, w e n n es sich u m einen f o r m b e d ü r f t i g e n K a u f v e r t r a g (gem. § 313 BGB) handele. Es sei in diesen Fällen d e m K l ä g e r nicht „zuzumuten", eine M e h r z a h l von A n g e b o t e n unterschiedlichen I n h a l t s b e u r k u n d e n zu lassen und z u m G e g e n s t a n d von H i l f s a n t r ä g e n zu m a c h e n . D a s Gericht b e j a h t u n t e r diesen V o r a u s s e t z u n g e n ein R e c h t s s c h u t z b e d ü r f n i s f ü r ein solches Begehren, B G H Z 98, 130, 134 ; 97, 147; s.a. B G H N J W 1984, 479, 480. 20 Gesetz über die richterliche V e r t r a g s h i l f e v. 26.3.1952, BGBl. I, 198; s.a. die V e r t r a g s h i l f e V O v. 30.11.1939, RGBl. I, 2329. 21 Palandt/Edenhofer, BGB, 54. Aufl. 1995, § 2042 Rdn. 16.

414

fen, im Wege der Vereinbarung die Zuständigkeit eines anderen Notars vorzusehen. Besteht Streit über den zuständigen Notar, so entscheidet das Landgericht, in dessen Bezirk das Grundstück gelegen ist, durch unanfechtbaren Beschluß (§ 88 Abs. 2 SachenRBerG). Zur Ermittlung bestimmter Tatsachen hat der Notar amtliche Auskünfte einzuholen und Einsicht in Akten zu nehmen (§ 91 SachenRBerG). Er lädt unter Einhaltung gesetzlicher Ladungsfristen Grundstückseigentümer und Nutzer zu einem sog. Verhandlungstermin (§ 92 Abs. 1 SachenRBerG). Inhaber dinglicher Rechte sind in gesetzlich festgelegten Fällen ebenfalls zu laden (§ 92 Abs. 2 SachenRBerG). In dem Vermittlungstermin erörtert der Notar mit den Beteiligten den Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht mit dem Ziel, die für die Vereinbarungen notwendigen Klärungen soweit als möglich zu erreichen und vor allen Dingen zwischen den Parteien streitige und unstreitige Regelungspunkte festzustellen. Diese werden dann in einem sog. Eingangsprotokoll festgehalten (§ 93 Abs. 2 SachenRBerG). Auf Antrag eines der Beteiligten kann der Notar verschiedene Ermittlungen durchführen, die sich aber innerhalb der gestellten Anträge halten müssen (§ 93 Abs. 3 Satz 2 SachenRBerG). Dabei stehen vor allem Fragen der Bewertung des Grundstücks im Vordergrund. Neben amtlichen Auskünften und der Einleitung eines Bodensonderungsverfahrens 22 kann er auch ein schriftliches Sachverständigengutachten einholen. Auf die unterschiedlich beantwortete Frage, welche weiteren Beweismittel zugelassen sind, soll erst an späterer Stelle eingegangen werden. Auf der Grundlage seiner Ermittlungen erstellt der Notar einen Vertragsentwurf, den er den Parteien zur Annahme vorschlägt (§ 98 Abs. 1 SachenRBerG). Der Entwurf wird, wenn die Parteien den gemachten Vorschlag annehmen, vom Notar beurkundet. Anderenfalls werden die zwischen den Beteiligten streitig und unstreitig gebliebenen Punkte in einem Abschlußprotokoll festgehalten. Um den Beteiligten die Möglichkeit zu nehmen, von taktischen Erwägungen geleitet dem Verfahren fernzubleiben und es dadurch zu verzögern, sieht das Sachenrechtsbereinigungsgesetz ein besonderes Säumnisverfahren vor (§ 96 SachenRBerG). Es ähnelt den Regelungen der Nachlaßauseinandersetzung (vgl. §§ 89, 91 FGG). Bei Säumnis eines der Beteiligten hat der Notar auf Antrag des anwesenden Beteiligten einen Vermittlungsvorschlag anzufertigen, der beiden Beteiligten mit ei22 S. schon oben I . 1.

Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz

415

ner Ladung zu einem neuen Termin zuzustellen ist. Sofern es beantragt wird, kann in diesem dann der Vermittlungsvorschlag beurkundet werden, wenn der Beteiligte erneut abwesend ist. Das Gesetz fingiert hier das Einverständnis des Abwesenden. Eine Ausfertigung des Vertrages ist dann dem säumigen Beteiligten mit dem Hinweis zuzustellen, daß der Vertrag notariell bestätigt werde, wenn der Beteiligte nicht innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen nach Zustellung der Ausfertigung einen neuen Termin beantrage oder in dem Termin nicht erscheine (§ 96 Abs. 4 SachenRBerG). Über die verschiedenen Folgen des Ausbleibens sind die Beteiligten in den Ladungen zu belehren. Bei Versäumung der Notfrist ohne Verschulden ist auf Antrag Wiedereinsetzung zu gewähren (§ 96 Abs. 5 Satz 3 SachenRBerG). Erst wenn es im notariellen Vermittlungsverfahren nicht gelingt, eine Einigung zwischen den Beteiligten zu erzielen, steht dem Anspruchsinhaber die Möglichkeit der gerichtlichen Klage offen (§§ 103 ff- SachenRBerG) . Zuständig sind Landgerichte, die für diese Verfahren besondere Kammern einrichten können (§ 103 Abs. 2 SachenRBerG). Ziel der Klage ist die Feststellung über den Inhalt eines Erbbaurechts oder eines Ankaufrechts (§ 104 Satz 1 SachenRBerG). Hierbei hat der Kläger den notariellen Vermittlungsvorschlag und das Abschlußprotokoll vorzulegen. Er muß sich in seiner Klageschrift auf den Vermittlungsvorschlag beziehen und darlegen, ob und in welchen Punkten er eine hiervon abweichende Feststellung begehrt (§ 105 SachenRBerG). Das Verfahren folgt im übrigen den allgemeinen Regelungen der ZPO, allerdings mit der Besonderheit, daß das Gericht in seinem Urteil auch vom Klageantrag abweichende Rechte und Pflichten der Parteien feststellen darf (§ 106 Abs. 1 SachenRBerG). Das Gericht unterliegt also bei seiner Entscheidung nicht der strengen Antragsbindung des § 308 ZPO23. Es ist freilich insoweit in seinen Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt, als daß es sich nicht über ein von beiden Parteien beantragtes Grundstücksgeschäft, eine Verständigung der Parteien über einzelne Punkte oder über einen Vermittlungsvorschlag hinwegsetzen darf, soweit dieser von den Parteien nicht in den Rechtsstreit einbezogen wurde (§ 106 Abs. 1 Satz 2 SachenRBerG). Das Urteil und die in ihm festgestellten Rechte und Pflichten haben dieselbe Wirkung wie eine zwischen den Parteien geschlossene vertragliche Vereinbarung (§ 106 23 Der Gesetzgeber verweist hier auf § 308 a ZPO als weitere Ausnahme vom Grundsatz der Antragsbindung, vgl. B T - D r . 12/5992, 174.

416

Abs. 2 SachenRGerG).

III. Grundfragen

1. Der Notar ah

des

Verfahrens

Vermittler

Die Auswahl des Notars als Vermittler rechtfertigt sich aus verschiedenen Erwägungen. Der Gesetzgeber mußte ein Organ der Rechtspflege finden, das in der Lage ist, den mit der Sachenrechtsbereinigung verbundenen zusätzlichen Arbeitsanfall zu bewältigen. Aus diesem Grunde gab er sehr rasch den Plan auf, die vertragliche Gestaltung durch die Gerichte in einem gerichtlichen Verfahren vornehmen zu lassen. Immerhin entspräche er mit der Übertragung auf die Gerichte dem Vorbild der Nachlaßauseinandersetzung durch die Nachlaßgerichte 24 . Es lag daher nahe, die Vermittlerrolle statt dessen den Notaren zu Ubertragen, da sie ohnehin an den abzuschließenden Verträgen aufgrund der Beurkundung von Grundstückskaufvertrag und Auflassung (§§ 313, 925 BGB) mitwirken 25 . Die Aufgabe der Vermittlung ist im übrigen ihrer sonstigen Tätigkeit im Rahmen der Beurkundung durchaus ähnlich. Ein weiterer Grund für die Übertragung des Vermittlungsverfahrens auf die Notare liegt darin, daß durch die gefundene Regelung eine Einigung zwischen den Parteien außerhalb des Vermittlungsverfahrens begünstigt wird, die das Gesetz ausdrücklich zuläßt (§ 3 Abs. 1 Statz 2 SachenRBerG). Dem Notar ist es nämlich möglich, das einmal eingeleitete Vermittlungsverfahren in ein herkömmliches Beurkundungsverfahren überzuleiten, wenn die Parteien sich außerhalb des Vermittlungsverfahrens einigen. Da der Notar ein öffentliches Amt ausübt und Organ der Rechtspflege ist, lehnte der Gesetzgeber es ab, weiteren Berufsgruppen, die mit der Durchführung von Vertragsverhandlungen vertraut sind, die Befugnis zur Vermittlung nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz zu verleihen26. Diese Erwägungen können zwar grundsätzlich überzeugen, 24 Dies sind grundsätzlich die Amtsgerichte, § 72 FGG; vgl. allerdings die Möglichkeit abweichender landesrechtlicher Regelungen gem. Art. 147 EGBGB. 25 Zur Erbbaurechtsbestellung vgl. § 11 Abs. 2 ErbbauRVO, § 313 BGB. Die dingliche Einigung ist zwar formfrei, vgl. aber § 29 Abs. 1 GBO. 26 Der Vorschlag des Bundesrates sah vor, daß auch Wirtschaftsprüfer, Steuerbe-

Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz

417

doch ergeben sich aus dem gegenüber den Gerichten vergleichsweise geringeren Umfang der Unabhängigkeit des Notars gewisse Probleme, auf die an späterer Stelle noch einzugehen sein wird. 2. Tätigwerden

des Notars im Rahmen einer

Verfahrensordnung

Die Übertragung der Vermittlung auf die Notare war weiterhin von dem Gedanken geprägt, daß damit ein Organ im Rahmen bestehenden Verfahrensrechts tätig werden kann27. Nicht eindeutig ist die Zuordnung des Vermittlungsverfahren innerhalb der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Sinnvollerweise wird man sie als vorsorgende Rechtspflege ansehen müssen, im Rahmen derer der Notar allgemein tätig wird28. Das bedeutet aber auch, daß man — im Gegensatz zum Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit — von der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes ausgehen muß29. Dieser Grundsatz herrscht im übrigen in gewissem Umfang auch im Beurkundungsverfahren, wenn der Notar nach § 17 BeurkG die Pflicht zur Klärung des Sachverhaltes hat30. In dieser Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes liegt ein wichtiger Unterschied zum ordentlichen Zivilprozeß, der vom Verhandlungsgrundsatz beherrscht wird. Problematisch erscheint dies schon insoweit, als im Wege der Amtsermittlung Erkenntnisse gewonnen werden können, die im nachfolgenden zivilprozessualen Verfahren von der Partei, zu rater und auf dem Gebiet des Grundstücks- und Wohnungswesens öffentlich bestellte Sachverständige ein Vermittlungsverfahren durchführen können sollten ; vgl. hierzu die Gegenäußerung der Bundesregierung in: BT-Dr. 12/5992, 218. 27 Gerade dies wurde vom Bundesrat dagegen als Argument angeführt, um den Kreis zur Vermittlung befugter Berufsgruppen zu erweitern. Hierzu heißt es wörtlich: „Dies hätte zudem den Vorteil, daß der Verfahrensaufwand gemindert wird, da förmliche Verfahrensregelungen in einem nichthoheitlich geordneten Verfahren entfallen. Insbesondere entfallen auch zusätzliche Belastungen der Gerichte bei Beschwerden gegen Maßnahmen und Entscheidungen des Notars", BT-Dr. 12/5992, 200.

28 A.A. allerdings Vossius, aaO (Fn. 18), § 89 Rdn. 6; Albrecht, in: Eickmann, Sachenrechtsbereinigung, Stand März 1995, § 89 Rdn. 1. 29 So auch Albrecht, in : Eickmann, aaO (Fn. 28), § 89 Rdn. 3 ; Grün NJW 1994, 2641, 2648. 30 Allgemein wird zwar ausgeführt, § 17 BeurkG meine nicht den Amtsermittlungsgrundsatz, so ζ. B. Reithmann DNotZ Sonderheft „Deutscher Notartag" 1965, S. 96 ; doch ist unbestritten, daß der Notar — wenn auch auf Grundlage des tatsächlichen Vorbringens der Parteien —, den relevanten Sachverhalt zu ermitteln hat, vgl. ausführlich Keim, Das notarielle Beurkundungsverfahren, 1990, S. 39 ff- Er hat dabei auch die Pflicht, den Willen der Parteien zu erforschen.

418

deren Nutzen sie gereichen, verwendet werden. Ein weiteres kommt hinzu: Das Sachenrechtsbereinigungsgesetz versucht, die Ergebnisse des notariellen Vermittlungsverfahren selbst bei seinem Fehlschlagen in gewissem Umfang nutzbar zu machen. Dies geschieht — wie bereits dargelegt — etwa durch die Bindung an die im Abschlußprotokoll als vereinbart festgehaltenen Punkte (§ 99 Satz 3 SachenRBerG) sowie durch die notwendige Bezugnahme auf den notariellen Vermittlungsvorschlag (§ 105 SachenRBerG). Im vorliegenden Zusammenhang ist aber eine andere Regelung von Bedeutung: Gem. § 97 Abs. 3 SachenRBerG können Ermittlungen, die wegen des Grundstückswertes im Laufe des Vermittlungsverfahrens gemacht werden, im anschließenden Rechtsstreit verwertet werden. Wie bei einem selbständigen Beweisverfahren stehen sie einer Beweisaufnahme vor dem Prozeßgericht gleich (§ 97 Abs. 3 Satz 2 SachenRBerG, § 493 Abs. 1 ZPO). Die Ergebnisse eines Verfahrens, in dem in gewissem Umfang die Amtsermittlung und der Freibeweis herrschen, werden in einem anschließenden ordentlichen Prozeß unter der Geltung des Verhandlungsgrundsatzes und des Strengbeweises verwendet. Das hiermit verbundene Problem liegt auf der Hand. Allerdings ist es nicht so gravierend, wie es zunächst den Anschein hat. Mit Ausnahme des Zeugenbeweises dürfen nämlich selbst im ordentlichen Zivilprozeß sämtliche Beweise von Amts wegen erhoben werden. Zwar wird man auch den Zeugenbeweis im Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz für zulässig erachten müssen31, doch sind hierdurch gewonnene Beweisergebnisse nicht verwertbar. Gleiches gilt für Beweisergebnisse, die mit im Zivilprozeß nicht zugelassenen Beweismitteln des Freibeweises erreicht wurden. Es ist nämlich nicht davon auszugehen, daß der Gesetzgeber durch das Sachenrechtsbereinigungsgesetz die Möglichkeiten zivilprozessualer Beweiserhebung erweitern wollte, zumal eine solche besondere Regelung für die Sachenrechtsbereinigung jeglicher Rechtfertigung entbehrte. Problematisch ist aber des weiteren die Gleichstellung von Ergebnissen im notariellen Beweisverfahren mit solchen, die vor einem mit Unabhängigkeit ausgestatteten Gericht gewonnen werden. Zwar gilt der Notar auch als unabhängig, der Grad seiner Unabhängigkeit ist gegenüber der des Richters aber geringer32. Dies zeigt sich schon an der 31 Anders Albrecht, in: Eickmann, aaO (Fn. 28), § 97 Rdn. 6, der diesen Beweis grundsätzlich im vorliegenden Fall für ungeeignet hält. 32 Streitig, für die gleiche Unabhängigkeit: Seybold/Hornig, BNotO, 5. Aufl. 1976, § 1 Rdn. 15 ; kritisch dagegen Stürner JZ 1974, 154.

Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz

419

nach dem Gesetz bestehenden Möglichkeit des Nutzers, nur einem Beteiligten gegenüber beratend tätig zu sein (§ 24 Abs. 1 BNotO), sowie aus dem Institut des Anwaltsnotars (§ 3 Abs. 2 BNotO). So genießt der Notar auch nicht die gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit wie ein Richter. Man wird deshalb gegen die Verwertung stets den Einwand etwaiger Verfahrensverstöße mit dem Ziel zulassen müssen, die Beweiswirkung zu beseitigen.

IV. Ubertragbarkeit

auf andere

1. Beschränkung auf vermittelnde

Regelungsbereiche

Tätigkeit

Bevor erörtert werden soll, ob und für welche Bereiche sich de lege ferenda eine Übertragung dieser Form des vorgerichtlichen Verfahrens anbietet, ist auf eine wesentliche Schwäche der notariellen Vermittlung hinzuweisen. Der Gesetzgeber hat ganz bewußt das Verfahren als ein solches der Vermittlung ausgestaltet. Er folgt damit dem Vorbild der Nachlaßauseinandersetzung, die ebenfalls keine Streitentscheidung kennt33. Er versäumt es so aber, das Verfahren weitergehend zu nutzen. Dies wäre möglich, wenn dem Notar die Befugnis zustünde, bei fehlender Einigung der Parteien im Beschlußwege über den Inhalt der Vereinbarung zu entscheiden. Die Parteien müßten dann die Möglichkeit haben, hiergegen im Klagewege vorzugehen. Eine solche Kompetenz des Notars erscheint auch unter dem Aspekt gerechtfertigt, daß das notwendige Vermittlungsverfahren den Regeln der freiwilligen Gerichtsbarkeit folgt und nicht im Belieben des Notars steht. Es unterscheidet sich gerade in diesem Punkt von einer nur ermittelnden Tätigkeit Angehöriger anderer Berufsgruppen außerhalb der Justiz. Eine solche Ausgestaltung des Verfahren wäre im deutschen Recht nicht ohne Vorbild. Nach § 15 Abs. 1 VertragshilfeG konnte bei Ausbleiben einer Einigung über die Vertragsanpassung diese im Beschlußwege vorgenommen werden. Für die Parteien würde dadurch noch stärker eine Notwendigkeit gegeben sein, sich im Vermittlungsverfahren konstruktiv zu verhalten und es nicht als bloße „Durchlaufstation" auf dem Wege zur Klage zu betrachten. 33 Jansen,

FGG, Bd. II, 2. Aufl. 1970, § 86 Rdn. 1.

420

Darüber hinaus würde eine solche Regelung die Last des Angriffs auf denjenigen verlagern, der den vom Notar beschlossenen V e r t r a g angreift, und diese Partei nötigen, rechtliche Fehler im Bereich des Verfahrens oder materiellen Rechts darzutun. Auch dies ist eine Folge, die in Anbetracht des durchgeführten Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit angemessen erscheint.

2. Mögliche weitere Anwendungsfälle für die notarielle „ Vermittlung" Die praktische Bewährung der notariellen Vermittlung läßt sich gegenwärtig noch nicht feststellen. Die Zahl der durchgeführten Verfahren ist zumindest gering und dem Verfasser waren bislang keine Informationen Uber die praktische Durchführung zugänglich. Man wird also abwarten müssen, ob das Verfahren in seiner gesetzlichen Ausgestaltung sich überhaupt bewährt und der eben erörterte Mangel sich als solcher herausstellt. Gleichwohl wird es notwendig sein, die Sachgerechtigkeit der Regelungen genau zu beobachten. E s ist durchaus denkbar, die Regelungen de lege ferenda auf andere Streitigkeiten zu übertragen, sofern die notarielle Vermittlung sich in der P r a x i s bewährt. Erfahrungen im Ausland, insbesondere in den USA, bestätigen, daß es ein einheitliches, dem gerichtlichen Verfahren vorgelagertes oder an seine Stelle tretendes außergerichtliches Verfahren nicht geben kann. Vielmehr verlangen unterschiedliche Streitigkeiten unterschiedliche "Alternativen" zum ordentlichen Zivilprozeß 34 . Das notarielle Vermittlungsverfahren ist daher nur für ähnliche Situationen zu erwägen, in denen es auf die beratende T ä t i g k e i t eines auf diesem Gebiet erfahrenen Organs der Rechtspflege ankommt. Darüber hinaus muß es um die Konkretisierung von Ansprüchen gehen, deren Inhalt sich nicht klar dem Gesetz entnehmen läßt. Verfahrenseffizienz, indem etwa gesetzliche Formerfordernisse zugleich oder leichter eingehalten werden können, ist ein weiterer Aspekt, der für die T ä t i g k e i t des Notars sprechen könnte. Als ein Anwendungsbereich kämen andere Fälle der Auseinandersetzung im Bereich des Gemeinschaftsrechts in Betracht, so ζ. B . bei der Auseinandersetzung von Erbengemeinschaften. Denkbar wäre darüber hinaus, den Notar im Rahmen eines Streits über Gesellschaftsabfindungen als 34 Vgl. hierzu ausführlich Sander, aaO (Fn.3), S. 31 ff.; sowie Krapp, in: Gottwald/ Strempel (Hrsg.), S. 43 ff.

Notarielles Vermittlungsverfahren nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz

421

vorgerichtliche Instanz einzuschalten. Hier könnte die notarielle Vermittlung die Zahl der gerichtlichen Verfahren möglicherweise mindern und ein gewisser Entlastungseffekt erreicht werden. Dabei sollten zwar die Erfahrungen mit dem Anwaltsvergleich gem. § 1044 b ZPO, der 1991 in die ZPO aufgenommen wurde, zu denken geben. Er hat jedenfalls bisher nicht zur angestrebten außergerichtlichen Erledigung von Rechtsstreitigkeiten geführt. Die Gründe dafür sind aber nicht eindeutig auszumachen und liegen wohl auch in konzeptionellen Fehlern35 der Regelung. Ein notarielles Verfahren wäre aber im Gegensatz dazu als zwingendes Vorverfahren für eine Klage auszugestalten und vom Notar unter Ausnutzung seiner Beurkundungsbefugnisse durchzuführen. Schon diese Unterschiede könnten möglicherweise zu einer höheren Wirksamkeit des Verfahrens führen. Bei der weiteren Suche nach geeigneten Anwendungsbereichen der notariellen Vermittlung wird zu berücksichtigen sein, daß die Unsicherheit des Anspruchsinhalts sich weniger aus der tatsächlichen als aus der Rechtslage ergibt und der Notar in gewisser Weise den Anspruchsinhalt konkretisiert. Dem Tätigkeitsbild des Notars widerspräche es dagegen, wenn er mit einer umfänglichen Beweisaufnahme belastet würde.

V. Schiaß Die knappen Ausführungen belegen, daß aus dem schwierigen Gebiet des „Wiedervereinigungsrechts" durchaus Gewinn auch für andere Bereiche gezogen werden kann, und daher eine genaue Durchdringung der Fragen erforderlich ist. Es wäre verfehlt, die Regelungen als vorübergehendes und nach Wegfall des konkreten Regelungsgrundes bedeutungsloses Recht anzusehen. Vielmehr wird man es häufig als eine Möglichkeit werten müssen, neue Regelungsformen und ihre praktische Erprobung zu beobachten und im Bewährungsfalle eine Übertragung auf andere Problemgebiete zu erwägen.

35 Vgl. ζ. B. Geimer DNotZ 1991, 266, 271 f., 287; die Mitwirkung des Notars an einem solchen Vergleich kann notwendig sein, soweit es die Vollstreckbarerklärung betrifft, vgl. § 1044 b Abs. 2 S. 2 ZPO ; diese kann auch durch ihn erfolgen ; für Einzelheiten s. Ersfeld MittRhNotK 1992, 229.

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft von

Prof. Dr. Hans-Joachim Musielak

passau

Professor an der Universität Passau

424

Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV. V. VI.

Begriff und Wesen Gegenstand Kontradiktorisches Gegenteil Wirkungen für Folgeprozesse Zeitliche Grenzen Rückwirkung

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft

425

Jede Verfahrensordnung muß eine Antwort auf die Fragen geben, welche Wirkungen ein unanfechtbares Urteil für die Rechtsbeziehungen der Prozeßparteien aufweist und insbesondere welche Bindungen durch das Urteil für die Entscheidung weiterer Rechtsstreite zwischen diesen Parteien geschaffen werden. Diese Fragen werden in der japanischen ZPO durch § 199 Abs. 1 und in der deutschen ZPO durch § 322 Abs. 1 beantwortet. Die weitreichende Übereinstimmung beider Regelungen rechtfertigt die Erwartung, daß Erwägungen, die auf eine dieser Vorschriften bezogen werden, auch Bedeutung für die Interpretation der anderen haben können. Der Gleichlauf mancher Diskussionen in beiden Ländern über Fragen der Rechtskraft bestätigt dies.1 Wenn auch der folgende Beitrag zur materiellen Rechtskraft, der dem Jubilar zu seinem 70· Geburtstag mit den besten Wünschen gewidmet wird, nur eine auf das deutsche Recht beschränkte Erörterung enthält, dürfte doch manches davon auch für die Auslegung und Anwendung des § 199 Abs. 1 der japanischen ZPO von Interesse sein.

I. Begriff

und

Wesen

Jeder Rechtsstreit muß einmal sein Ende finden. Dies geschieht dadurch, daß durch Unanfechtbarkeit der ihn abschließenden Entscheidung der Bestand des richterlichen Spruchs gesichert wird. Die Entscheidung erlangt dann formelle (äußere) Rechtskraft. Durch diese Unanfechtbarkeit kann jedoch nicht verhindert werden, daß derselbe Rechtsstreit zum zweiten Male aufgenommen und durch eine erneute Anrufung des Gerichts versucht wird, ein von der formell rechtskräftigen Entscheidung abweichendes günstigeres Urteil zu erlangen. Eine solche Prozeßwiederholung würde jedoch den Rechtsfrieden zwischen den Parteien in gleicher Weise wie die Fortsetzung des Vorprozesses gefährden. Das Verbot, in einem neuen Prozeß über eine bereits rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge zu verhandeln und zu entscheiden, ist folglich 1 Vgl. Tokushige Yoshimura, Grundprobleme des Zivilprozeßrechts, Band 1 der Schriftenreihe Japanisches Recht, herausgegeben von Baumgärtel u. a., 1976, S. 239.

426

die notwendige Ergänzung der formellen Rechtskraft und bezweckt in gleicher Weise wie diese die aus rechtsstaatlichen Gründen gebotene Herstellung des Rechtsfriedens nach Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens. Das Verbot der Prozeßwiederholung ist Inhalt der materiellen (inneren) Rechtskraft. Bezweckt die materielle Rechtskraft also, den inhaltlichen Bestand des Richterspruchs zu sichern, dann ist zur Erreichung dieses Ziels eine Veränderung der materiellen Rechtslage durch das rechtskräftige Urteil nicht erforderlich, wie dies von den sog. materiellen Rechtskrafttheorien angenommen wird. Gegen sie spricht insbesondere, daß es nicht Aufgabe des Richters sein kann, die materielle Rechtslage durch seine Entscheidung umzugestalten, sondern daß ihm aufgetragen ist, außerhalb des Prozesses entstandene Rechte festzustellen. 2 Deshalb ist es mit der heute fast allgemein vertretenen Auffassung abzulehnen, der Entscheidung des Richters — wenn man einmal von der Ausnahme des Gestaltungsurteils absieht — eine verändernde Wirkung auf das materielle Recht zuzuerkennen.3 Das Wesen der materiellen Rechtskraft ist danach als die rein prozessual wirkende Bindung des Richters an die rechtskräftige Entscheidung zu begreifen, die jeder erneuten Verhandlung und Entscheidung der res iudicata entgegensteht. Die materielle Rechtskraft stellt also ein Wiederholungsverbot auf." Durch § 322 Abs. 1 ZPO wird als Gegenstand der materiellen Rechtskraft die Entscheidung über den durch die Klage oder Widerklage erhobenen Anspruch bezeichnet. Der Begriff des Anspruchs ist im prozessualen Sinn zu verstehen und als Streitgegenstand aufzufassen. Dies bedeutet also, daß in materieller Rechtskraft die Entscheidung über den Streitgegenstand erwächst. 5 Die Entscheidung des Gerichts ist in erster Linie dem Urteilstenor zu entnehmen. Er enthält das Ergebnis des Subsumtionsschlusses, der vom Gericht bei Anwendung des Rechtssat2 Zu dem insoweit geführten Meinungsstreit vgl. Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 1975, S. 4 ff. 3 Gaul, Festschrift f. Flume, 1978, S. 443, 512 ff.; Gottwald, in: Münchener K o m m e n t a r zur Zivilprozeßordnung, Band 1, 1992, § 322 Rn. 7;Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl. 1995, Vor § 322 Rn. 15 ff., jeweils m. weit. Nachw. 4 BGHZ 93, 287, 289; 123, 30, 34; ebenso die in Fn. 3 Zitierten; aA Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1985, § 88 III 2; Arens/Lüke, Zivilprozeßrecht, 6. Aufl. 1994, Rn. 353, die annehmen, die Bindung an den rechtskräftigen Richterspruch nehme dem Kläger das Rechtsschutzinteresse an einer erneuten Anrufung des Gerichts in derselben Sache. 5 BGH N J W 1990, 1795, 1796; 1993, 333, 334; Rosenberg,/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 153 I 1, auch zu abweichenden Auffassungen.

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft

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zes auf den entscheidungserheblichen Tatsachenstoff gezogen wird. Daß nur das Ergebnis des Subsumtionsschlusses und nicht auch seine einzelnen Glieder, insbesondere nicht der zur Entscheidung gestellte Sachverhalt, von der materiellen Rechtskraft erfaßt wird, stellt eine bewußte Entscheidung des Gesetzgebers dar. Denn wie die Entstehungsgeschichte des § 322 Abs. 1 ZPO belegt,6 ist diese Vorschrift als eine gesetzgeberische Reaktion gegenüber Auffassungen anzusehen, die weitergehend die materielle Rechtskraft auch auf tragende Begründungselemente der gerichtlichen Entscheidung ausdehnen wollten. Bei den Beratungen des Gesetzes sind die Folgen eines derartigen weiten Rechtskraftbegriffes erörtert und bewußt die Rechtskraft auf die Entscheidung über den „Anspruch" beschränkt worden. Diese Entscheidung des Gesetzgebers kann man durchaus aus rechtspolitischen Gründen kritisieren, sie muß aber von dem Rechtsanwender beachtet werden. Will eine Partei die Rechtskraft auch auf die den Urteilsspruch tragenden Entscheidungsgründe ausdehnen, dann muß sie den Weg der Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO gehen. Läßt sich allerdings der Urteilsformel nicht mit genügender Bestimmtheit entnehmen, worüber das Gericht entschieden hat, dann sind zur Ermittlung des Entscheidungsinhalts Tatbestand und Gründe sowie gegebenenfalls auch das in Bezug genommene Parteivorbringen heranzuziehen.7 Da allerdings die Entscheidungsgründe lediglich eine Auslegungshilfe darstellen, ist der Tenor maßgebend, wenn zwischen ihm und den Gründen Widersprüche auftreten. 8

II.

Gegenstand

Aus dem in § 322 Abs. 1 ZPO eindeutig zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers, die materielle Rechtskraft auf die Entscheidung über den Streitgegenstand zu beschränken, folgt, daß die vom Gericht festgestellten und seinem Urteil zugrunde gelegten Tatsachen nicht in Rechtskraft erwachsen. Entscheidet beispielsweise das Gericht, daß ein Vertrag infolge Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nichtig sei, dann steht 6 Hahn, Die gesammten Materialien zur Civilprozeßordnung, 2. Band 1. Abtheilung, 1880, S. 608 f. 7 BGH (Fn. 5). 8 OLG Celle OLGZ 1979, 194, 196; a A Lindacher ZZP 88 (1975), 64, 71 ff.

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rechtskräftig nur die Unwirksamkeit des Vertrages, nicht auch der dafür maßgebende Grund fest, so daß eine auf arglistige Täuschung gestützte Schadensersatzklage in einem zweiten Prozeß deshalb abgewiesen werden kann, weil das Gericht eine arglistige Täuschung verneint. 9 Präjudizielle Rechtsverhältnisse nehmen ebensowenig an der materiellen Rechtskraft der Entscheidung teil wie Einwendungen, Einreden und Gegenrechte des Beklagten, über die im Urteil entschieden wird. Diese enge Begrenzung der materiellen Rechtskraft auf das Ergebnis des Subsumtionsschlusses und die daraus folgende Ablehnung, Urteilselemente an der Rechtskraft teilhaben zu lassen, kann durchaus zu unbefriedigenden Ergebnissen im Einzelfall führen. Wenn der Kläger aufgrund bestimmter tatsächlicher oder rechtlicher Annahmen einen Prozeß gewinnt und in einem zweiten Prozeß diese Annahmen bestreitet, mag man geneigt sein, diese Inkonsequenz mit dem Hinweis auf die Rechtskraft der ersten Entscheidung im zweiten Verfahren zu unterbinden. Hat beispielsweise der Kläger mit der Behauptung, es sei ein Kaufvertrag zwischen ihm und dem Beklagten geschlossen worden, die Verurteilung des Beklagten zur Übereignung und Übergabe einer Sache erreicht, dann erscheint es als nicht hinnehmbar, daß der Kläger sich gegenüber dem Anspruch des Beklagten auf Zahlung des Kaufpreises darauf berufen kann, es sei kein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen. Es sind deshalb Vorschläge im Schrifttum unterbreitet worden, die die materielle Rechtskraft erweitern und auf „Sinnzusammenhänge" und auf „Ausgleichungszusammenhänge" 10 erstrecken wollen. Diese Vorschläge verfolgen zwar durchaus anerkennenswerte rechtspolitische Vorstellungen, sie sind aber mit der im Gesetz getroffenen Entscheidung nicht zu vereinbaren. 11 Vielmehr müssen andere prozessuale Instrumente eingesetzt werden, um unbillige Ergebnisse zu vermeiden, die sich aus der engen Begrenzung der materiellen Rechtskraft ergeben. Der Gesetzgeber hat dafür in erster Linie die Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO vorgesehen, um präjudizielle Rechtsverhältnisse feststellen zu lassen. Trägt eine Partei wie in dem Kaufver9 BGH N J W - R R 1988, 201, 202. 10 Zeuner, Die objektiven Grenzen der R e c h t s k r a f t im Rahmen rechtlicher Sinnzusammenhänge, 1959, S. 75 ff., 115 f.; zustimmend Blomeyer (Fn. 4) § 89 V 4; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. 1974, § 47 IV 2b; Schlosser, Zivilprozeßrecht I, 2. Aufl. 1991, Rn. 225 f. 11 Gottwald (Fn. 3) Rn. 49; Leipold, in: Stein/Jonas, Zivilprozeßordnung, 20. Aufl. 1977 ff., § 322 Rn. 216; Jauernig, Zivilprozeßrecht, 24. Aufl. 1993, § 63 III 2; Arens/ Lüke{Fn. 4) Rn. 365.

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft

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tragsbeispiel in einem zweiten Prozeß Tatsachen vor, die unvereinbar mit der Behauptung sind, die sie in einem ersten Rechtsstreit aufgestellt hat, dann wird sich regelmäßig für den Richter des zweiten Prozesses die Frage nach der Verletzung der Wahrheitspflicht durch die Partei und nach den sich daraus ergebenden Folgen für die richterliche Entscheidung stellen. Auch ist in solchen Fällen zu prüfen, ob sich eine Partei nicht rechtsmißbräuchlich verhält, wenn sie sich zur Verteidigung gegen eine Klage von dem Vorbringen distanziert, das ihr in einem Vorprozeß zum Sieg verholfen hat. Versagen im Einzelfall solche prozessualen Mittel, dann muß dies als Folge einer bewußt getroffenen Entscheidung des Gesetzgebers hingenommen werden. Im Interesse klarer Grenzen der materiellen Rechtskraft und damit auch im Interesse der Rechtssicher heit ist es abzulehnen, die Billigkeit der Entscheidung im Einzelfall dadurch zu suchen, daß man tragende Entscheidungsgründe an einer „relativen" Rechtskraft teilnehmen läßt12 oder daß man „in Grenzbereichen" die Bindungswirkung der Rechtskraft ausdehnt, um Sachverhalte zu erfassen, die „bei wertender Betrachtung Fällen unstreitiger Bindung gleichstehen". 13

III. Kontradiktorisches

Gegenteil

Eine Ausnahme ist jedoch nach dem Normzweck des § 322 Abs. 1 ZPO für die Fälle des sog. kontradiktorischen Gegenteils zuzulassen. Allerdings wird von der herrschenden Meinung bestritten, daß es sich insoweit um eine Ausdehnung über die Grenzen der materiellen Rechtskraft hinaus handelt. Denn es wird ganz überwiegend eine Identität des Streitgegenstandes bejaht, wenn der frühere Beklagte den Streit in seiner Umkehrung anhängig macht und das „kontradiktorische Gegenteil" der im ersten Prozeß ausgesprochenen Rechtsfolge begehrt.14 Wird dem Kläger ein Recht zugesprochen, beispielsweise das Eigentum, das nur einer Person zustehen kann, dann ist damit zugleich festgestellt, daß der Beklagte nicht Inhaber dieses Rechts ist. Hatte der Kläger mit seiner Klage auf Feststellung des Eigentums Erfolg, dann steht die Rechtskraft 12 Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 53. Aufl. 1995, § 322 Rn. 5. 13 Gottwald (Fn. 3) Rn. 50. 14 Vgl. nur BGHZ 123, 137, 139 f.; BGH NJW 1995, 967, 968, jeweils m. weit. Nachw.

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dieses Urteils nicht nur der negativen Feststellungsklage des ursprünglichen Beklagten entgegen, die sich darauf richtet, daß der Kläger nicht Eigentümer ist, sondern auch einer positiven Feststellungsklage, mit der die Feststellung des Eigentums des früheren Beklagten begehrt wird. Allerdings wird der Streitgegenstand durch die unterschiedlichen Anträge im ersten und im zweiten Prozeß verändert. Identisch ist nur der zugrundeliegende Lebenssachverhalt, der nach dem vorherrschenden Verständnis des Streitgegenstandsbegriffes neben dem Antrag das zweite Element dieses Begriffs bildet. Die Identität des zur Entscheidung gestellten Lebenssachverhalts und die Spiegelbildlichkeit der gestellten Anträge im ersten und zweiten Prozeß rechtfertigen, das durch die materielle Rechtskraft ausgesprochene Wiederholungsverbot auf das kontradiktorische Gegenteil auszudehnen. Die Identität des Lebenssachverhalts beim kontradiktorischen Gegenteil ist das Unterscheidungskriterium von Fällen der Präjudizialität. Klagt der im Rechtsstreit zur Leistung Verurteilte in einem zweiten Prozeß auf Rückzahlung des aufgrund des ersten Urteils Geleisteten mit der Begründung, er sei durch die Leistung ungerechtfertigt entreichert, dann hat das Gericht im zweiten Prozeß nicht über denselben Lebenssachverhalt wie im ersten zu befinden. Die aufgrund des ergangenen Urteils erbrachte Leistung des Beklagten und die darauf gestützte Rückforderung wegen ungerechtfertigter Bereicherung des Klägers stellen neu eingetretene Tatsachen dar, die den Lebenssachverhalt entscheidend verändern, über den das erste Gericht geurteilt hat. Die Rechtskraft des ersten Urteils bewirkt jedoch, daß der Richter des zweiten Prozesses an die Feststellung gebunden ist, der damalige Beklagte schulde dem Kläger aufgrund des von den Parteien vorgetragenen Lebenssachverhalts eine Leistung. Deshalb muß die ungerechtfertigte Bereicherung des Klägers durch diese Leistung verneint werden. Die Präjudizialität der ersten Entscheidung bewirkt jedoch nicht die Unzulässigkeit der zweiten Klage, sondern ihre Unbegründetheit. 15 Wird mit einer auf § 985 BGB gestützten Klage die Herausgabe einer Sache begehrt, nachdem der Kläger zuvor in einem Vorprozeß aufgrund derselben Vorschrift zur Herausgabe an den Beklagten verurteilt war, dann hängt es von dem Vortrag des Klägers ab, ob die Klage als unzulässig zu werten ist, weil derselbe Lebenssachverhalt erneut zur Entscheidung des 15 Gottwald (Fn. 3) Rn. 41; Zeiss, Zivilprozeßrecht, 8. Aufl. 1993, Rn. 560; a A Doderer N J W 1991, 878, 879.

Einige Gedanken zur materiellen R e c h t s k r a f t

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Gerichts gestellt wird, ob bei Vortrag neuer Tatsachen die Präjudizialität der ersten Entscheidung zur Unbegründetheit der Klage führt oder ob schließlich die nach Schluß der mündlichen Verhandlung im ersten Prozeß eingetretenen Tatsachen das Herausgabeverlangen des Klägers rechtfertigen. Ohne diese Differenzierungen läßt sich dieser im juristischen Schrifttum häufig als Beispiel eines kontradiktorischen Gegenteils gebrachte Fall nicht entscheiden. Dagegen macht der Kläger, der die Feststellung seines Eigentums an einem Grundstück begehrt, nachdem er als Bucheigentümer rechtskräftig zur Zustimmung zu einer Grundbuchberichtigung verurteilt worden ist, mit seinem Antrag nicht das kontradiktorische Gegenteil geltend. Denn das Eigentum an dem Grundstück stellt im ersten Prozeß lediglich eine von der Rechtskraft nicht erfaßte Vorfrage dar.16 Rechtskräftig ist nur festgestellt worden, daß der Beklagte des ersten Prozesses verpflichtet ist, seine Zustimmung zur Eintragung des Klägers als Eigentümer im Grundbuch zu erteilen. Von dieser Verpflichtung hat auch der Richter des zweiten Prozesses auszugehen. Deshalb kann er nicht zu dem Ergebnis gelangen, daß der Kläger Eigentümer des Grundstücks ist, wenn nicht ein neuer Erwerbstatbestand, der nach Schluß der mündlichen Verhandlung des ersten Prozesses verwirklicht wurde, vom Kläger des zweiten Prozesses mitgeteilt wird. Sonst bewirkt die rechtskräftige Feststellung des ersten Urteils, daß die Feststellungsklage als unbegründet abgewiesen werden muß, weil mit dem Eigentum des Feststellungsklägers seine Verpflichtung zur Grundbuchberichtigung unvereinbar ist. Denn hätte die Feststellungsklage Erfolg, dann müßte der Kläger als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen werden und die Eintragung des Beklagten (Kläger des ersten Prozesses) wäre falsch. Zu diesem Ergebnis darf jedoch wegen der materiellen Rechtskraft des ersten Urteils der Richter des zweiten Prozesses nicht gelangen. Um den Fall eines kontradiktorischen Gegenteils handelt es sich dagegen, wenn die zur Auflassung eines Grundstücks verurteilte Partei von ihrem erfolgreichen Gegner in einem zweiten Prozeß die Rückauflassung aufgrund eines Erwerbstatbestandes begehrt, der bereits im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung verwirklicht sein soll. Denn in beiden Prozessen geht es um denselben Lebenssachverhalt, zu dem sämtliche die Verpflichtung zur Übertragung des Grund16 Vollkommer 456.

(Fn. 3) Rn. 36; a A Gottwald (Fn. 3) Rn. 50; Mädrich MDR 1982, 455,

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stücks betreffenden Vorgänge gehören, also auch der vom Kläger des Folgeprozesses geltend gemachte Erwerbsgrund. 17 Die zweite Klage muß folglich als unzulässig abgewiesen werden. Die Richtigkeit dieses Ergebnisses bestätigt die Überlegung, daß gleich zu entscheiden wäre, wenn der im ersten Prozeß erfolglos gebliebene Kläger eine zweite Klage auf einen bereits vor Schluß der mündlichen Tatsachenverhandlung verwirklichten Erwerbstatbestand stützte, den er nicht kannte und deshalb auch nicht im ersten Prozeß vorgetragen hatte. Deshalb ist die Entscheidung des BGH unrichtig, die zu folgendem Sachverhalt getroffen wurde:18 Der Erblasser widerrief ein mit seiner Ehefrau errichtetes gemeinschaftliches Testament und setzte die Beklagte testamentarisch als Alleinerbin ein. Die Ehefrau hielt dieses zweite Testament für unwirksam und klagte auf Berichtigung des Grundbuchs wegen einer Eintragung der Beklagten als Eigentümerin eines zum Nachlaß gehörenden Grundstücks. Die Klage wurde abgewiesen, weil das Gericht von der Wirksamkeit der testamentarischen Verfügung zugunsten der Beklagten ausging. In einem zweiten Prozeß verlangten die Erben der Ehefrau erneut die gleiche Grundbuchberichtigung und beriefen sich zur Begründung darauf, daß der Widerruf des gemeinschaftlichen Testaments nicht wirksam gewesen sei und deshalb das zweite Testament wegen seines Widerspruchs zum gemeinschaftlichen Testament keine Wirksamkeit erlangt habe. Der BGH bestätigte die Verurteilung der Beklagten zur Grundbuchberichtigung. Das Gericht führte aus, die Rechtskraft des ersten Urteils stände dieser Entscheidung nicht entgegen. Denn dieses Urteil habe zwischen den Parteien nur rechtskräftig festgestellt, daß die Personen, zu deren Gunsten der Grundbuchberichtigungsantrag gestellt worden war, nicht Miteigentümer des Grundstücks geworden seien, weil nach dem Tode des Erblassers keine gesetzliche Erbfolge eingetreten sei. Es stehe dagegen nicht rechtskräftig fest, daß die Beklagte Eigentümerin des Grundstücks geworden sei, weil sie den Erblasser kraft Verfügung von Todes wegen beerbt habe. Hätte die Beklagte im Vorprozeß eine rechtskräftige Feststellung ihres Erbrechts erreichen wollen, dann hätte sie eine Feststellungswiderklage mit einem entsprechenden Antrag erheben müssen. Die Klägerin des ersten Prozesses und ihre Rechtsnachfolger, also die Kläger im zweiten Prozeß, seien durch das im Vorprozeß ergangene Urteil nicht gehindert, erneut die Berichtigung des Grund17 BGH NJW 1995, 967. 18 BGH NJW 1976, 1095.

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft

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buchs zu begehren und ihren Antrag auf die Behauptung zu stützen, nicht die Beklagte, sondern die damalige Klägerin habe den Erblasser aufgrund des gemeinschaftlichen Testaments beerbt. Über die Wirksamkeit des Widerrufs des gemeinschaftlichen Testaments sei im Vorprozeß nicht rechtskräftig entschieden worden. Der BGH übersieht offensichtlich, daß die zweite Klage als unzulässig abgewiesen werden muß, weil derselbe Streitgegenstand zum zweiten Mal zur Entscheidung des Gerichts gestellt wird. Der Streitgegenstand wird durch den identischen Antrag auf Grundbuchberichtigung und durch denselben Lebenssachverhalt im ersten und im zweiten Prozeß bestimmt. Dieser Lebenssachverhalt umfaßt alle Tatsachen, die den Tatbestand des anzuwendenden, den Klageantrag rechtfertigenden Rechtssatzes zumindest in seinem wesentlichen Kern verwirklichen. Dies sind alle Fakten, die für die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit beider Testamente rechtliche Bedeutung haben. Der erste Prozeß wurde falsch entschieden, weil das Gericht die Unwirksamkeit des Widerrufs und damit die Wirksamkeit des gemeinschaftlichen Testaments und als Folge davon die Nichtigkeit der letztwilligen Verfügung zugunsten der Beklagten verkannt hatte. Im zweiten Prozeß wird gerade diese Frage erneut zur Entscheidung gestellt und abweichend entschieden. Es muß überraschen, daß der BGH diese Zusammenhänge verkannt hat.

IV.

Wirkungen für

Folgeprozesse

Das praktische Problem, vor das der Richter bei Beantwortung der Frage gestellt wird, ob eine Partei erneut denselben Lebenssachverhalt vorträgt und eine darauf bezogene Klage als unzulässig abgewiesen werden muß, betrifft solche Tatsachen, die zwar zur Zeit der letzten Tatsachenverhandlung im Vorprozeß bereits existierten, aber von den Parteien nicht dem Gericht vorgetragen worden sind. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß solche Tatsachen durch die Rechtskraft der Entscheidung präkludiert sind. Der Normzweck des § 322 Abs. 1 ZPO verbietet es, daß die im Prozeß unterlegene Partei lediglich durch eine korrigierte Sachverhaltsdarstellung eine erneute Verhandlung und Entscheidung über ihr Rechtsbegehren zu erreichen vermag. Allerdings fällt es nicht immer leicht, die Grenzen des jeweiligen Lebenssachverhalts zu ermitteln. Hierbei handelt es sich um eine Schwierigkeit, die sich für die

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Lehre vom zweigliedrigen Streitgegenstand ergibt und die nicht auf die materielle Rechtskraft beschränkt ist. Der BGH, der sich in ständiger Rechtsprechung der Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff angeschlossen hat,19 verweist auf eine natürliche vom Standpunkt der Parteien ausgehende Betrachtungsweise und auf die Verkehrsauffassung, wenn zu beurteilen ist, welches einem Klageantrag zugrundeliegende tatsächliche Geschehen zusammengehört und den Streitgegenstand bildet. Doch lassen sich aufgrund einer „natürlichen Betrachtungsweise" gerade schwierige Fälle nicht genau genug erfassen und abgrenzen. Anstelle einer „natürlichen Betrachtungsweise" muß vielmehr eine Orientierung an rechtlichen Gesichtspunkten treten. Dies entspricht der wohl überwiegenden Auffassung im juristischen Schrifttum, wobei allerdings die aus dieser Erkenntnis zu ziehenden Schlußfolgerungen umstritten sind.20 Zu dem Lebenssachverhalt, der für den Streitgegenstand maßgebend ist, sind alle die Tatsachen zu rechnen, die den Tatbestand des anzuwendenden, den Klageantrag rechtfertigenden Rechtssatzes zumindest in seinem wesentlichen Kern verwirklichen. Auf den schlüssigen Vortrag entsprechender Tatsachen kommt es für den Erfolg der Klage an. Weitere Fakten, die zwar in einem Zusammenhang mit diesem Tatsachenstoff stehen, jedoch für die Schlüssigkeit der Klage ohne Bedeutung sind, gehören folglich nicht zum maßgebenden Lebenssachverhalt. Daß die aufgrund dieser Kriterien zu treffende Entscheidung des Einzelfalles nicht immer einfach ist und durchaus zu Zweifeln Anlaß geben kann, ist nicht zu verkennen. Das sich insoweit ergebende Problem ist—wie ausgeführt—nicht auf die materielle Rechtskraft beschränkt. Es stellt sich stets dann, wenn es um die genaue Erfassung des Streitgegenstandes und des ihm zugrundeliegenden Lebenssachverhaltes geht. Die Diskussion um die richtige Auffassung des Streitgegenstandsbegriffs im Schrifttum betrifft im besonderen Maße Sachverhalte, bei denen solche Abgrenzungsfragen Schwierigkeiten bereiten. Die Wertungen, die bei der Entscheidung getroffen werden müssen, ob es sich um denselben oder einen neuen Lebenssachverhalt handelt, lassen sich nicht durch weitere Kriterien erleichtern, die über die gegebenen Beschreibungen hinausge19 BGH NJW 1981, 2306; 1983, 388, 389; 1993, 334; BGHZ 117, 1, 5. 20 Vgl. Jauernig (Fn. 11) § 37 IV-VI; Schilken, Zivilprozeßrecht, 1992, Rn. 230 ff.; Grunsky (Fn. 10) § 5 II 2; Blomeyer (Fn. 4) § 89 III 3 (allerdings nur für den Urteilsgegenstand, der vom Streitgegenstand unterschieden wird); Schönke/Kuchinke, Zivilprozeßrecht, 9. Aufl. 1969, § 39 III; anders wohl BGHZ 117, 1, 5 ff.

Einige G e d a n k e n zur materiellen R e c h t s k r a f t

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hen. Hilfreich können dabei lediglich Orientierungspunkte sein, die sich aus Entscheidungen der Rechtsprechung ableiten lassen. Die im folgenden angeführten beiden Beispielsfälle aus der Judikatur des BGH dienen diesem Zweck. Im Vorprozeß wird die Klage auf Feststellung einer Schadensersatzpflicht für zukünftige Schäden deshalb abgewiesen, weil der den Schaden verursachende Bauzaun 1982 errichtet worden sei und deshalb ein gesetzlicher Haftungsausschluß eingreife. In einem zweiten Prozeß macht der Kläger erneut einen Ersatzanspruch wegen des durch den Bauzaun verursachten Schadens geltend und beruft sich darauf, daß der Bauzaun erst 1983 errichtet worden wäre und deshalb die Haftung des Beklagten gesetzlich nicht ausgeschlossen sei. Außerdem trägt der Kläger vor, der Beklagte sei ihm auch deshalb zum Schadensersatz verpflichtet, weil der Verlust des Vorprozesses durch eine falsche Auskunft über den Zeitpunkt der Errichtung des Bauzauns durch den Beklagten herbeigeführt worden sei. DerBGH 21 stellt zutreffend fest, daß der Lebenssachverhalt, auf den der Kläger sowohl im ersten als auch im zweiten Prozeß seinen Schadensersatzanspruch stützt, identisch sei. Die Identität des Lebenssachverhalts werde nicht dadurch in Frage gestellt, daß die Parteien ihn nicht in allen Einzelheiten gleich schilderten. Der unterschiedliche Zeitpunkt der Errichtung des Bauzaunes nach dem Vortrag im ersten und im zweiten Prozeß berühre diese Identität nicht. Soweit der Kläger sich darauf berufe, der Beklagte hafte ihm wegen der unrichtig erteilten Auskunft über den Zeitpunkt der Errichtung des Bauzaunes, stehe die Rechtskraft der Entscheidung des Vorprozesses der Zulässigkeit seiner Klage nicht entgegen. Denn der Kläger leite insoweit die von ihm in Anspruch genommene Rechtsfolge des Schadensersatzanspruches aus einem Ereignis her, das nicht zu dem Lebenssachverhalt gehöre, der Gegenstand des Vorprozesses war. Der Verlust des Vorprozesses sei nur der durch die unrichtige Auskunft möglicherweise verursachte Schaden. Daß der Kläger aber durch die falsche Auskunft geschädigt worden sei, könne er im zweiten Prozeß nicht mehr behaupten. Denn ein solcher Schaden sei dem Kläger nur dann entstanden, wenn er den Vorprozeß wegen der unrichtigen Auskunft zu Unrecht verloren habe. Dies könne aber im zweiten Prozeß im Hinblick auf die rechtskräftige Entscheidung des Vorprozesses nicht vom Gericht bejaht werden. Habe ein Gericht in einem Rechtsstreit den Streitgegenstand eines rechtskräftig entschiede21 BGH NJW 1993, 3204, 3205.

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nen Vorprozesses erneut zu prüfen, dann habe es den Inhalt der rechtskräftigen Entscheidung seinem Urteil zugrunde zu legen. Im Falle der Abweisung eines Schadensersatzanspruches stehe rechtskräftig fest, daß dem Kläger bei Schluß der mündlichen Verhandlung aufgrund des von ihm vorgetragenen Sachverhalts kein Schadensersatzanspruch zustehe. Dann könne aber der Verlust des Vorprozesses auch keinen durch die unrichtige Auskunft verursachten Schaden bewirken. In einem zweiten Fall22 verlangt der Factor nach Kündigung eines von den Parteien geschlossenen Factoringvertrages von der Anschlußfirma Zahlung eines Abschlußsaldos von ca. 7.300 DM. Die Anschlußfirma errechnet ihrerseits eine Forderung zu ihren Gunsten von 19 000 DM. Durch rechtskräftiges Urteil wird die Anschlußfirma zur Zahlung des vom Factor verlangten Betrages verurteilt. Nunmehr erhebt die Anschlußfirma erneut Klage und verlangt vom Factor die Begleichung von Kaufpreiszahlungen, die sie aufgrund des Factoringvertrages an den Factor abgetreten habe. Das Berufungsgericht weist die Klage als unzulässig ab, weil der Streitgegenstand des zweiten Prozesses mit dem des ersten identisch sei. Der BGH folgt dieser Auffassung nicht und führt dazu aus: Der Streitgegenstand werde sowohl durch den Klageantrag, in dem sich die vom Kläger in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiere, wie durch den Lebenssachverhalt, aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet, bestimmt. Die Antragstellung im ersten und im zweiten Prozeß sei jedoch nicht identisch. Auch begehre der Kläger mit seiner Klage nicht das kontradiktorische Gegenteil der im Prozeß zugunsten der Beklagten festgestellten Rechtsfolge. Die zweite Klage sei also zulässig, sie sei jedoch nicht begründet. Zwar erwüchsen die tatsächlichen Feststellungen in einem Urteil für sich nicht in Rechtskraft; andererseits dürfte die Rechtskraft der Entscheidung über den erhobenen Anspruch nicht mit dem Vorbringen ausgehöhlt werden, das rechtskräftige Urteil gründe sich auf unrichtige tatsächliche Feststellungen. Zu den Rechtskraftwirkungen gehöre aus diesem Grund die Präklusion nicht nur der im ersten Prozeß vorgetragenen Tatsachen, die zu einer Abweichung von der rechtskräftig festgestellten Rechtsfolge führen sollen, sondern auch der nicht vorgetragenen Tatsachen, sofern sie nicht erst nach Schluß der mündlichen Verhandlung im ersten Prozeß entstanden sind. Werde aufgrund eines Factoringvertrages die Anschlußfirma zur Zahlung eines Betrages an den Factor verurteilt, der 22 BGHZ 123, 137 ff.

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft

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sich als Saldo bei Abrechnung des Factoringverhältnisses ergibt, dann gehörten sämtliche den Saldo beeinflussenden Vorgänge — Ankäufe, Vergütung, Rückbelastung, Provisionen und Spesen — zu dem zur Entscheidung gestellten Lebenssachverhalt, unabhängig davon, ob sie vorgetragen worden seien oder nicht. Der Kläger hätte bereits im ersten Prozeß sämtliche von ihm jetzt im zweiten Prozeß geltend gemachten Forderungen beziffern und in seine Abrechnung einbeziehen müssen. Da er dies unterlassen habe, sei er damit auch im anhängig gemachten Rechtsstreit ausgeschlossen. Beide Entscheidungen machen also deutlich, daß sich die Wirkungen der Rechtskraft keinesfalls darin erschöpfen, eine erneute Verhandlung und Entscheidung wegen der Identität des Streitgegenstandes zu unterbinden, sondern daß die rechtskräftige Feststellung einer Rechtsfolge dazu führt, daß sie in Folgeprozessen der gerichtlichen Entscheidung ungeprüft zugrunde gelegt werden muß. Die rechtskräftig erkannte Rechtsfolge ist also für den zweiten Rechtsstreit vorgreiflich; diese „Vorgreiflichkeit", Präjudizialität, hindert das Gericht in Folgeprozessen, zu einer abweichenden Entscheidung zu gelangen. Dies bedeutet, daß der in materieller Rechtskraft erwachsende Spruch als feststehend und unabänderlich hinzunehmen ist und daß beispielsweise kein Beweisbeschluß ergehen darf, demzufolge über Tatsachen Beweis erhoben werden soll, denen Entscheidungserheblichkeit für das rechtskräftig festgestellte oder aberkannte Recht zukommt.23

V. Zeitliche

Grenzen

Es versteht sich von selbst, daß das Gericht in seinem Urteil nur solche Tatsachen berücksichtigen kann, die sich bis zum Zeitpunkt seiner Entscheidung ereignet haben. Hieraus ergibt sich eine natürliche Grenze für die richterliche Erkenntnis und damit für die materielle Rechtskraft des Urteils. Diese natürliche Grenze muß rechtlich noch präzisiert werden. Bei Geltung des Verhandlungsgrundsatzes muß auf den Zeitpunkt abgestellt werden, zu dem die Parteien spätestens Tatsachen vortragen können, über die das Gericht zu befinden hat und auf die es sein Urteil stützt. Dies ist der Schluß der letzten mündlichen Verhandlung, auf die 23

Vollkommer

( F n . 3) R n . 23.

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das Urteil ergeht(§ 296a ZPO), im schriftlichen Verfahren der vom Gericht bestimmte Zeitpunkt, bis zu dem noch Schriftsätze eingereicht werden dürfen. Endet der Prozeß in der Revisionsinstanz, dann bildet der Verhandlungsschluß in der Berufungsinstanz den maßgebenden Zeitpunkt, weil regelmäßig in der Revisionsinstanz keine neuen Tatsachen vorgetragen werden können. Diese zeitliche Grenze der materiellen Rechtskraft wird durch die in § 767 Abs. 2 ZPO für die Vollstreckungsgegenklage getroffene Regelung bestätigt. Positiv gefaßt bedeutet diese Regel: Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung hindert die durch sie betroffenen Personen (§§ 325 ff. ZPO) nicht daran, in einem späteren Prozeß solche Tatsachen vorzutragen, die nach Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung des Vorprozesses eingetreten sind. Ob neu entstandene Tatsachen in einem zweiten Prozeß zu einer vom ersten Urteil abweichenden Entscheidung führen können, richtet sich danach, ob sie geeignet sind, die rechtskräftig festgestellte Rechtslage zu verändern. Eine Antwort auf diese Frage ist aufgrund des materiellen Rechts zu suchen. Ist beispielsweise eine Klage deshalb abgewiesen worden, weil die Fälligkeit der geltend gemachten Forderung vom Gericht verneint wurde, dann kann nach Eintritt der Fälligkeit erneut die Forderung eingeklagt werden.24 Ist jedoch die Forderungsklage deshalb erfolglos geblieben, weil der Kläger keine nachvollziehbare Abrechnung vorlegen konnte und deshalb seinen Anspruch nicht schlüssig begründete, dann kann er nicht nach Erstellung einer neuen Abrechnung seine Klage wiederholen.25 Die neue Abrechnung ändert nichts daran, daß rechtskräftig festgestellt wurde, dem Kläger stehe gegen den Beklagten kein Anspruch zu. Anders verhält es sich in dem Fall, daß die Klage auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung mit der Begründung abgewiesen wird, der Kläger könne auf andere Weise Ersatz verlangen (§ 839 Abs. 1S. 2 BGB), sich aber später herausstellt, daß diese Erwartung nicht zutrifft. Dieses Scheitern stellt eine neue Tatsache dar, die die Rechtslage ändert, und es ist deshalb dem Kläger erlaubt, erneut Klage auf Schadensersatz zu erheben.26 Haben neu entstandene Tatsachen dazu geführt, daß der rechtskräftig festgestellte Rechtsgrund erloschen ist, dann kann diese neue Rechtslage nicht nur mit der Vollstreckungsgegenklage, sondern auch mit einer negativen Feststellungsklage oder einer 24 Vgl. Walchshöfer, Festschrift f. Schwab, 1990, s. 521. 25 OLG Düsseldorf NJW 1993, 802, 803. 26 BGHZ 37, 375, 377.

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft

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Bereicherungsklage geltend gemacht werden.27 Ist tatbestandliche Voraussetzung für den Eintritt einer Rechtsfolge eine Prognoseentscheidung des Gerichts, dann ändert sich die Rechtslage nicht, wenn sich später herausstellt, daß die Prognose nicht richtig war. Dementsprechend hat der BGH die Klage eines Versicherers abgewiesen, mit der geltend gemacht wurde, daß die ausgezahlte Versicherungssumme nicht zum Erwerb eines neuen Fahrzeuges verwendet worden ist, wie dies in den Versicherungsbedingungen als Voraussetzung für den rechtskräftig festgestellten Anspruch auf die Neuwertentschädigung vorgeschrieben war.28 Zur Begründung weist das Gericht darauf hin, daß der Anspruch auf die erhöhte Neuwertentschädigung bereits dann entstehe, wenn die Verwendung der Entschädigung durch Wiederherstellung oder zur Wiederbeschaffung eines anderen Fahrzeuges innerhalb von zwei Jahren nach Feststellung der Entschädigung sichergestellt sei. Der Richter habe deshalb vorausschauend zu entscheiden, ob diese Verwertungsart hinreichend sicher angenommen werden könne. Der maßgebliche Zeitpunkt einer solchen Prognose sei die letzte mündliche Verhandlung vor dem Tatrichter. Ein nachträgliches Verhalten des Versicherungsnehmers könne den Bestand des einmal entstandenen Anspruchs nicht mehr berühren, so daß die auf der Prognose beruhende Entscheidung für die Parteien auch dann bindend bleibe, wenn sich die Prognose als unzutreffend erweise. Auch wenn das Gericht über künftige Leistungspflichten zu entscheiden hat, muß es häufig eine Prognose über die künftige Entwicklung von Tatsachen treffen, die durch die Rechtskraft des Urteils fixiert wird. Die Abänderungsklage des § 323 ZPO stellt deshalb der betroffenen Partei ein Mittel zur Verfügung, um die rechtskräftige Entscheidung abändern zu können.29 Bei Beantwortung der Frage, ob neue Tatsachen geeignet sind, die in Rechtskraft erwachsenen Feststellungen im ersten Urteil zu verändern, muß darauf gesehen werden, wie weit diese Feststellungen reichen und welche Tatsachen davon umfaßt werden. Wird beispielsweise vom Kläger ein weiterer Schmerzensgeldanspruch geltend gemacht, nachdem ihm bereits durch ein rechtskräftiges Urteil auf seinen uneingeschränkten Antrag hin ein Schmerzensgeld zuerkannt worden ist, dann kommt 27 BGH N J W 1984, 126, 127; Leipold (Fn. 11) Rn. 241. 28 BGH N J W 1986, 2645, 2646. 29 Ob die R e c h t s k r a f t auch die erst in Zukunft eintretenden T a t s a c h e n u m f a ß t , ist allerdings streitig; vgl. Braun, Grundfragen der Abänderungsklage, 1994, S. 9 ff.; Gottwald, Festschrift f. Schwab, 1990, S. 151, 160 ff.

440

es darauf an, ob der Kläger durch nachträglich entstandene Tatsachen seinen Antrag zu begründen vermag. Dabei muß davon ausgegangen werden, daß durch den rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldanspruch alle diejenigen Schadensfolgen abgegolten sind, die entweder bereits während des ersten Prozesses eingetreten und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden konnte. Maßgebend ist insoweit nicht die subjektive Sicht der Parteien oder die Erfassung des Streitstoffes durch das Gericht, sondern die nach objektiven Gesichtspunkten zu treffende sachverständige Beurteilung der damaligen Rechtslage.30 Neue Tatsachen, die eine rechtskräftig festgestellte Rechtslage so umgestalten, daß eine abweichende Beurteilung von der rechtskräftig getroffenen Entscheidung gerechtfertigt ist, führen stets dazu, daß ein Lebenssachverhalt entsteht, der sich von dem unterscheidet, über den im ersten Prozeß zu befinden war. Folglich handelt es sich dann im zweiten Prozeß um einen neuen Streitgegenstand. Denn bei Abgrenzung des Lebenssachverhalts, der dem Streitgegenstand zugrunde liegt, ist — wie ausgeführt — auf die materiell-rechtlichen Regelungen zu sehen, aus denen sich das durch die Klage geltend gemachte Recht ableitet. Wird eine Klage wegen fehlender Aktivlegitimation des Klägers abgewiesen, dann steht die Rechtskraft dieses Urteils einer erneuten Klage nicht entgegen, mit dem der Kläger denselben Anspruch verfolgt, wenn er sich darauf beruft, daß ihm nach der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung die Forderung abgetreten worden sei. Die Zession verändert den bisher entschiedenen Sachverhalt und führt dazu, daß im zweiten Prozeß über einen neuen Streitgegenstand zu verhandeln ist.31 Eine rechtserhebliche Fortentwicklung und Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse ergibt also einen neuen Streitgegenstand. Abweichend von dieser Auffassung wird im Schrifttum die Meinung vertreten, der Eintritt neuer rechtserheblicher Tatsachen müsse nicht notwendigerweise den Streitgegenstand des Vorprozesses verändern, um eine neue Klage zuzulassen.32 Später eingetretene Tatsachen werden also in bezug auf die Abgrenzung des Streitgegenstandes so behandelt, als hätten sie sich bereits im Zeitpunkt des Vorprozesses ereignet. Diese Betrachtungsweise soll sicherstellen, daß die Rechtskraft der ersten Entscheidung im Rahmen der Frage nach der Begründetheit des zweiten Urteils zu beach30 BGH MDR 1995, 357. 31 BGH N J W 1986, 1046, 1047. 32 Leipold (Fn. 11) Rn. 238; Dietrich ZZP 83 (1970), 201, 204 ff.

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft

441

ten ist.33 In diesem Punkt besteht jedoch kein Unterschied zu der hier vertretenen Auffassung, nach der ebenfalls das rechtskräftige Urteil für die Parteien verbindlich bleibt und das Gericht des zweiten Prozesses nicht von den rechtskräftigen Feststellungen dieses Urteils abweichen darf. Hat beispielsweise in dem oben angeführten Zessionsfall das Gericht die Klage deshalb abgewiesen, weil die Existenz des geltend gemachten Anspruchs nicht festgestellt werden konnte, dagegen die Frage der Aktivlegitimation des Klägers offengelassen, dann bleibt selbstverständlich die rechtskräftige Feststellung dieses Urteils für die Parteien maßgebend und hat zur Folge, daß die behauptete Zession die Rechtslage nicht so ändert, daß eine neue Klage zulässig wird. In dieser Frage nach dem Umfang der Bindung des Richters bei seiner Entscheidung über neu eingetretene Tatsachen zeigt sich dann auch die praktische Bedeutung der dargestellten Meinungsverschiedenheit. Die Gegenmeinung will den Entscheidungsgründen, die den ersten Richterspruch tragen, Bindungswirkung für das zweite Urteil zuerkennen. Gerechtfertigt wird diese über die Grenzen der materiellen Rechtskraft hinausgehende Verbindlichkeit damit, daß die Entscheidungsbegründung für die im ersten Prozeß geltend gemachte Rechtsfolge für den damaligen Streitgegenstand ihre Wirkung behält und auch für den zweiten Rechtsstreit weiterhin wirksam bleibt, wenn sich der Streitgegenstand nicht verändert. 34 Die vorgeschlagene Abgrenzung des Streitgegenstandes dient also dazu, die tragenden Entscheidungsgründe des Urteils auch für die zweite Entscheidung maßgebend sein zu lassen. Eine solche Verbindlichkeit ist jedoch unvereinbar mit der Stellung des Richters. Dessen Entscheidungsfreiheit darf nur insoweit eingeschränkt werden, als dies zwingende Gründe gebieten. Einen solchen zwingenden Grund stellt die Rechtskraft dar, dagegen nicht die Prozeßökonomie, auf die man sich berufen kann, um eine erneute Verhandlung bereits entschiedener Fragen zu vermeiden. Der hier eingenommene Standpunkt unterscheidet sich von der Gegenauffassung auch darin, daß eine zweite Klage nur für zulässig gehalten wird, wenn der Kläger neue Tatsachen behauptet, die rechtserheblich sind, weil es sich nur dann um einen neuen Streitgegenstand handelt. Die Gegenmeinung läßt die Behauptung irgendwelcher neuen Tatsachen genügen, um die Zulässigkeit bejahen zu können und prüft die Rechtserheblichkeit dieser Tatsachen nur in bezug 3 3 Leipold, 3 4 Leipold

K e i o L a w R e v i e w 1990 ( N r . 6 ) , S. 277, 283 f f . (Fn. 33) S. 286 f.

442

auf die Begründetheit der neuen Klage.

VI.

Rückwirkung

Die Frage nach den Wirkungen der rechtskräftigen Entscheidung stellt sich nicht nur für die Zeit nach Erlaß des Urteils, sondern kann auch Bedeutung für den davor liegenden Zeitraum gewinnen. Ist beispielsweise der Beklagte auf der Grundlage des § 985 BGB zur Herausgabe einer Sache verurteilt worden und nimmt ihn der Kläger mit einer zweiten Klage auf Ersatz von Nutzungen in Anspruch (§ 988 BGB), dann fragt es sich, ob sich der Beklagte für die Zeit vor Rechtshängigkeit der Klage damit verteidigen kann, daß ein Herausgabeanspruch des Klägers und damit eine Vindikationslage nicht bestanden habe, die eine Voraussetzung für die Anwendung des § 988 BGB bildet. Der BGH hat die Auffassung vertreten, daß vor Zustellung der Herausgabeklage die Rechtskraft des Urteils der Verneinung eines Anspruchs auf Nutzungsvergütung mangels einer Vindikationslage nicht entgegenstehe.35 Diese Entscheidung ist richtig, wenn die Rechtskraft des Urteils die Zeit vor Rechtshängigkeit der Klage nicht erfaßt, denn rechtskräftig ist die Verpflichtung des Beklagten zur Herausgabe der Sache festgestellt worden und damit auch die Vindikationslage. Die zeitlichen Grenzen der materiellen Rechtskraft sind auch in bezug auf die Frage einer Rückwirkung nach gleichen Regeln zu entscheiden, wie sie für neu eingetretene Tatsachen gelten. Es kommt darauf an, welcher Lebenssachverhalt zur Entscheidung des Gerichts gestellt wird. Die zeitlichen Grenzen dieses Lebenssachverhalts sind für den Streitgegenstand und für das ihn entscheidende Urteil maßgebend. Die materielle Rechtskraft reicht somit nur soweit „wie der prozessuale Anspruch erhoben und über ihn entschieden ist".36 Da der Streitgegenstand durch den entscheidungserheblichen Lebenssachverhalt und dieser wiederum von dem Tatbestand der Rechtsnorm bestimmt wird, von dem die Entscheidung über das klägerische Begehren abhängt, hat der BGH zu Recht eine Ausdehnung der Rechtskraft des Herausgabeurteils auf die Zeit vor Rechtshängigkeit abgelehnt, weil es für die Herausgabepflicht des Beklagten irrelevant 35 BGH N J W 1985, 1553. 36 BGHZ 42, 340, 349.

Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft

443

ist, ob er in einem früheren Zeitpunkt besitzberechtigt war.37 Das gleiche gilt für den Fall, daß durch rechtskräftiges Urteil eine Unterlassungspflicht aufgrund eines Vertrages bejaht wird und die Parteien in einem zweiten Rechtsstreit über eine Schadensersatzpflicht streiten, für die es darauf ankommt, ob diese Unterlassungspflicht bereits vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses an bestanden hat. Auch in diesem Fall ist durch die Rechtskraft des ersten Urteils nicht der Vortrag von Tatsachen präkludiert, aus denen sich ergibt, daß die Unterlassungspflicht vor Rechtshängigkeit des ersten Urteils verneint werden muß.38 Zusammenfassend ist also festzustellen, daß dem Urteilstenor und den Entscheidungsgründen einschließlich der darin in Bezug genommenen Parteivorträge entnommen werden muß, wie die zeitlichen Grenzen des Lebenssachverhalts verlaufen, über den das Gericht entschied. Da die Rechtshängigkeit regelmäßig den Streitgegenstand festlegt, wird durch sie auch die zeitliche Grenze einer Rückwirkung der Rechtskraft bestimmt, sofern sich nicht aus dem Streitgegenstand etwas anderes ergibt, beispielsweise eine Feststellungsklage auf einen früheren Zeitpunkt gerichtet ist.39 Wenn sich jedoch im Laufe des Prozesses der dem Streitgegenstand zugrundeliegende Lebenssachverhalt verändert, ist auch hier die letzte mündliche Tatsachenverhandlung maßgebend.

37 Ebenso Hackspiel N J W 1986, 1150, jedoch mit abweichender Begründung. 38 BGHZ 42, 340; aA Zeuner J u S 1966, 147; Leipold (Fn. 11) Rn. 260 f. 39 Blomeyer (Fn. 4) § 90 III.

Zivilprozeß und der Grundsatz ·· der Öffentlichkeit in Ungarn von

Prof. Dr. Jänos Nemeth Budapest

Professor an der Eötvös Loränd Universität Budapest

446

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung II. Der Grundsatz der Öffentlichtkeit des Gerichtsverfahrens in der ungarischen Verfassung 1. Die Regelung im allgemeinen 2 . Die Unzulänglichkeit der Regelung und ihre Konsequenz a) die Teilnahme „offizielle Personen" an der geschlossenen Verhandlung b) die Frage der öffentlichen Verkündung der Entscheidungen III. Schlussfolgerung

Zivilprozeß und der Grundsatz der Öffentlichkeit in Ungarn

I.

447

Einleitung

Mehr als zweihundert Jahre sind seit der Aufklärung vergangen, in deren Zeit der Auffassung von den Menschenrechten zum ersten Mal gesetzliche Form verliehen wurde. Demnach habe der Mensch eingeborene Rechte, die nicht einmal vom Staat abgestritten werden können, da sie vom Wesen des Menschen untrennbar seien. Diese sogenannten Grundrechte wurden zunächst niedergelegt und zusammengefaßt in der vom amerikanischen Kongreß verabschiedeten Unabhängigkeitsproklamation vom 4. Juli 1776 und in der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte (1789) bzw. in der französischen Verfassung von 1791, die bekanntlich auf ganz Europa eine nachhaltige Wirkung ausgeübt hat. Die Anerkennung im breiteren Kreise, sowie die zur Durchsetzung der Grundrechte erforderlichen Garantien folgten jedoch erst dem zweiten Weltkrieg und den diesbezüglichen Deklarationen der Vereinten Nationen — in Mitteleuropa allerdings mit etwas Verspätung. 1 Im allgemeinen finden sich die Vorschriften über die Grundrechte heute in den Verfassungen und anderen Gesetzen jener Staaten, die die Bezeichnung des Rechtsstaates für sich beanspruchen. Sie kommen zur Geltung und Verwirklichung zusammen mit den anderen — von der Gesetzgebung des jeweiligen Staates für wichtig und grundlegend erachteten — Rechten, d. h. unter anderem auch in der Rechtssprechung und in deren Rahmen im Zivilverfahren. Darüber hinaus werden nicht selten sowohl von der Verfassungs- und ordentlichen Gerichtsbarkeit, als auch von der Rechtswissenschaft bestimmte Rechte als Grundrechte angesehen. Die Universale Deklaration der Menschenrechte, das Internationale Übereinkommen über die Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen Rechte, das Internationale Übereinkommen über die Bürger- und Politischen Rechte 2 , sowie die Kovention zum Schutze der Men1 Wahrscheinlich damit zu erklären ist das Hervortreten solcher Auffassungen in Ungarn, die „die Epoche der Menschenrechte" von der Mitte des 20. Jahrhunderts an rechnen. Vgl. ζ. B. Kardos Gäbor : Az emberi jogok kora ? („Epoche der Menschenrechte ? "), in : Jogtudomänyi Közlöny, 1994 / 7-8., S. 300-306. 2 Das Internationale Übereinkommen über Bürger- und Politischen Rechte, verabschiedet am 16. Dez. 1966 in der 21. Sitzungsperiode der Generalversammlung der

448

schenrechte und Grundfreiheiten 3 sind internationale Verträge, denen sich Ungarn angeschlossen hat und damit die Verpflichtung übernahm, die grundlegenden Menschenrechte zu sichen.4 Die Erfüllung dieser Verpflichtung hat zur Folge daß heute die Verfassung 5 , das GVG 6 , sowie die ZPO7 zahlreiche, im Zivilverfahren geltende Grundsätze enthalten, die die Grundfreiheiten des Menschen zum Gegenstand haben. Hierzu gehört unter anderem der Grundsatz der Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens.

II. Der Grundsatz

der Öffentlichkeit

rens in der ungarischen

1. Die Regelung im

des

Gerichtsverfah-

Verfassung

allgemeinen

Den Öffentlichkeitsgrundsatz, der in Ungarn bereits im vorigen Jahrhundert anerkannt und hochgeschätzt wurde8 und dem auch heute in den internationalen menschenrechtlichen Verträgen große Bedeutung zugeschrieben wird9, regelt unsere Verfassung nicht im X Abschnitt über die Gerichtsverfassung, sondern im XII der die grundsätzlichen Rechte und Pflichten der Staatsbürger behandelt. Das Wesentliche dieser Regel lautet: „Jeder hat das Recht darauf, daß seine Rechte und Pflichten vom Gericht im Prozeß in einer öffentlichen Verhandlung beurteilt werden" ( § 57. Abs. 1 der Verfassung).

3

4 5 6 7 8

9

Vereinten Nationen und in Ungarn verkündet mit der Gesetzesverordnung Nr. 8 1976. Im weiteren zitiert als Übereinkommen. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit den acht Ergänzungsprotokollen — verabschiedet am 4. Nov. 1950 in Rom. In Ungarn verkündet mit dem Gesetz Nr. XXXI. 1993. Im weiteren zitiert als Konvention. Siehe auch praktisch dasselbe in der Begründung zum § 34. des Gesetzes Nr. XXXI. 1989 über die Abänderung der Verfassung. Die Verfassung der Ungarischen Republik. (Das mehrmals abgeänderte Gesetz Nr. XX. 1949.) Gerichtsverfassungsgesetz. (Das mehrmals abgeänderte Gesetz Nr. IV. 1972.) Zivilprozeßordnung. (Das mehrmals abgeänderte Gesetz Nr. III. 1952.) Auch Szechenyi hielt die Öffentlichkeit— „daß die Verhandlungen nur öffentlich/ publice/abgehalten werden sollen···"— für eine wichtige Garantie im Verfahren. Siehe : Szichenyi Istvän : Städium, Budapest, 1958, S. 65. Der Grundsatz der Öffentlichkeit wird nicht nur in den internationalen menschenrechtlichen Verträgen hervorgehoben, sondern auch von der Europäischen Kommission für Menschenrechte, sowie dem Europäischen Gericht für Men-

Zivilprozeß und der Grundsatz der Öffentlichkeit in Ungarn

449

Diese Vorschrift, die im Rahmen einer Abänderung im Jahre 1989 in die Verfassung aufgenommen wurde, entspricht völlig dem Art. 14. Punkt 1. Satz 2 des Übereinkommens. 10 Dies untermauert jene aus der ungarischen Literatur gekannte Aussage, die behauptet: „Die neuen Verfassungen, so auch die ungarische von 1989, sind im engsten Sinne des Wortes Nachahmungen und kopieren lediglich die internationalen Abkommen." 11 Dieses Kopieren — das hinsichtlich des Zeitpunktes und der damaligen Umstände des mittel-osteuropäischen Raumes doch verständlich ist — würde an sich keine Schwierigkeiten bereiten, wäre es nicht zu kurz gefaßt geschehen. Bedauerlicherweise ist nämlich — zweifelsohne aus Unaufmerksamkeit — der nächste, d. h. dritte Satz der genannten Gesetzesstelle (Art. 14. Punkt 1) vernachlässigt worden und dessen Übernahme in die Verfassung ausgeblieben. Der vernißte dritte Satz lockert nämlich die Unbeugsamkeit und Ausschließichkeit des vorangehenden dadurch, daß in ihm — fast völlig entsprechend dem Art. 6. Punkt 1. Satz 2 der Konvention —, wenngleich nur in Ausnahmefällen, die Möglichkeit eröffnet wird, von der Verhandlung oder deren bestimmten Teilen die Presse und Öffentlichkeit auszuschließen, wenn dies als nötig erscheint aus den folgenden Gründen : - moralische Erwägungen - Schutz des ordre public der demokratischen Gesellschaft, bzw. Sicherheit des Staates - im Interesse des Schutzes der Privatsphäre der Parteien, oder - Vorhandensein besonderer Umstände, unter denen das Gericht den schenrechte in Straßbourg als außerordentlich bedeutsam behandelt. Die Kommission hat dazu folgendermassen Stellung genommen : „die Öffentlichkeit des Verfahrens dient als Garantie der billigen und gerechten / fair / Rechtspfleg dadurch, daß sie gegenüber willkürlichen Entscheidungen Schutz gewährt der Person, gegen die ein Verfahren eigeleitet worden ist. Andererseits erleichtert das öffentliche Verfahren die Verwirklichung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Judikatur··· Die Öffentlichkeit des Vefahrens und der Urteilsverkündung sind dazu berufen, das Publikum - so auch etwa durch die Presse — auf dem laufenden zu halten und eine allgemeine Aufsicht über die Rechtsanwendung zu ermöglichen. Folglich bestärkt dieser Grundsatz die Menschen in ihrem Vertrauen gegenüber der Rechthspflege." Zitiert von Mavi Viktor : Az Euröpa Tanäcs 6s az emberi jogok / „Der Europarat und die Menschenrechte" /, Budapest 1993. S. 149-, Stellungnahme der Kommission im Axen-Fall (Axen-case, Series Β. No. 57. p. 24.). 10 Und weist wesentliche Ähnlichkeit mit Art. 6. Punkt 1 der Konvention auf. 11 Dr. Kukorelli Istvän : Az alkotmänyozäs nehäny koncepcionälis k6rd£se ("Einige konzeptionelle Fragen der Verfassungsgesetzgebung"), in : Magyar Közigazgatäs 1994 / 8, S. 453.

450

Ausschluß für unbedingt notwendig hält, weil die Öffentlichkeit den Interessen der Rechtspflege schädlich zuwiderlaufen würde. Die obige besondere Ausschußregel des Übereinkommens schöpft ihren Inhalt aus der richtigen Erkenntnis, daß „•••das Recht auf öffentliche Verhandlung kein absolutes Recht ist •••"12; die Öffentlichkeit das Verfahrens könnte ja ζ. B. die grundlegenden Persönlichkeitsrechte der Teilnehmer bzw. der anderen Betroffenen verletzen.13 Derzeit befindet sich in unserer Verfassung leider keine solche Ausnahmeregel, die den Ausschluß der Öffentlichkeit oder dessen Zulassung durch ein anderes Gesetz ermöglichen würde. Im GVG und in der ZPO — in denen die Öffentlichkeitsregeln früher festgestellt worden waren, als dies im jetztigen § 57· Abs. 1 der Verfassung geschah — berücksichtigen diese Lücke so gut wie nicht. Die beiden Gesetzbücher deklarieren nämlich die Öffentlichkeit des Verfahrens lediglich als allgemeine, nicht als ausschieß liehe Regel ( § 8. Satz 1 GVG und § 7· Abs. 1 ZPO), nach der während des Verfahrens nicht nur die Teilnehmer, bzw. Betroffenen, sondern grundsätzlich jedermann anwesend sein darf. Jedoch kann das Gesetz dem Gericht ausnahmsweise das Recht einräumen (§ 8- Satz 1 GVG), eine geschlossene Verhandlung anzuordnen. Laut dieser Regelung kann das Gericht mit seinem Beschluß, der begründet werden muß, die Öffentlichkeit jederzeit von der ganzen Verhandlung oder deren einem Teil ausschließen, wenn dies zur Wahrung eines Staats-, Dienst-, oder Geschäftsgeheimnisses, bzw. hinschtlich der Interessen der Nationalwirtschaft oder aus moralischen Gründen als unbedingt nötig erscheint. Darüber hinaus kann auf Antrag einer Partei der Ausschluß angeordet werden, wenn anderenfalls in der Verhandlung von Geldinstituten stammende Angaben bezüglich der Vermögenslage der Partei (Bankgeheimnis) der Öffentlichkeit preisgegeben würden (§ 7. Abs. 2. Sätze 1-2 ZPO). [Sei es hier nebenbei bemerkt, daß der Ausdruck Geschäftsgeheimmis in der ZPO neuartig ist. Sein Schutz ist im Laufe der wirtschaftlichen Umwälzungen dringend notwendig geworden. Den Inhalt des Geschäftsgeheimnisses bestimmt § 5. Abs. 3. Punkt a / des Gesetzes über den Unlauteren Wettbewerb (Gesetz Nr. LXXXVI. 1990.) - Unter den Begriff fallen : alle solchen Tatsachen, Informationen, Methoden oder Angaben, an deren Geheimbleiben der Berechtigte ein billiges Interesse hat (u. a. Patent, know-how, 12 Mavi Viktor : o. Fn. 220., S. 149. 13 Ähnlich Füresz Klära : Az igazsägszolgältatäs („Die Rechtspflege"), in : Alkotmänytan („Verfassungslehre"), Hrsg. Kukorelli Istvän, Budapest, 1992, S. 329.

Zivilprozeß und der Grundsatz der Öffentlichkeit in Ungarn

451

Urheberrechte usw.)]. Ferner besteht die Möglichkeit — aufgrund gesetzlicher Ermächtigung — die Öffentlichkeit von der Verhandlung und auch der Verkündung der Entscheidung auszuschließen in Ehe- und Kindschaftssachen, sowie im Falle der Entziehung des elterlichen Sorgerechts, bzw. Pflegschaftssachen auf Antrag der Partei, auch bei Fehlen der in §7. Abs. 2 ZPO genannten Voraussetzungen. Das Gericht hat die Parteien auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen (§§284. Abs. 1, 293. Abs. 1, 302. Abs. 1, 303, 304. Abs. 2, 312. Abs. 2 ZPO). 2. Die Unzulänglichkeit

der Regelung und ihre

Konsequenz

Wie aus den bisher angeführten Stellen des GVG, bzw. der ZPO ersichtlich ist, stehen die Öffentlichkeitsregeln der beiden Gesetze zwar mit der Verfassung — fein ausgedrückt — nicht im Einklang, doch werden sie den von den Vereinten Nationen, sowie dem Europarat geschaffenen Dokumenten gerecht. Mit Rücksicht auf die letztgenannte Tatsache sollte eine Abänderung — genauer gesagt eine Erweiterung — der Vorschriften der Verfassung dafür sorgen, daß GVG, ZPO und Verfassung bei der Behandlung des Ausschlußes der Öffentlichkeit von der Verhandlung einander decken.14 Als Lösungsmöglichkeit dürfe auch das Schaffen einer völlig neuen Verfassung nicht auszuschließen sein. Demgegenüber erscheinen Abweichungen, bzw. ausdrücklicher Widerspruch zwischen den untersuchten internationalen Dokumenten und dem GVG, bzw. der ZPO, und zwar auf dem Gebiet der - Teilnahme „offizieller Personen" an der geschlossenen Verhandlung und - Verkündung der Entscheidungen. 14 Im wesentlichen geht es darum, daß eine Lücke in der Verfassung bezüglich einer Einzelfrage nur durch weitere Regelung gefüllt werden kann. Wegen dieser Lücke ist es laut der Verfassung unmöglich, eine geschlossene Verhandlung anzuordnen, es sei denn alle natürlichen Personen stimmen zu. Dies bedeutet aber ζ. B. im Strafverfahren eine grobe Gefährdung der Intersessen der Verletzten und der Zeugen [vgl. Α büntetöeljäräs koncepciöja / „Konzept des Strafverfahrens" /, in : Ügy6szs£gi firtesitö, 1994 / 1., S. 5. ] , bzw. den Erfolg des Beweisverfahrens (so Dr. Birö Andräs: Kritikai megjegyzfesek a büntetöeljäräs koncepciöjähoz / „Kritische Bemerkungen zur Konzept des Strafverfahrens" /, in : Ügy6zs6gi Ertesitö, 1994 / 2., S. 8.).

452

a)

die Teilnahme

„offizielle

Personen"

an der geschlossenen

Verhandlung

Was die Teilnahme von offiziellen Personen an der geschlossenen Verhandlung anbelangt, sollten folgende Tatsachen festgehalten werden: a, Weder aus Übereinkommen, noch aus der Konvention — die beide die Öffentlichkeit der Verhandlung detaillliert regeln — läßt sich eine Ermächtigung des Gerichts ableiten, jedweder offiziellen Person die Teilnahme an einer geschlossenen Verhandlung zulassen zu dürfen. Ganz in diesem Sinne haben auch unsere alte ZPO von 1911 und die ursprüngliche Fassung der heutigen ZPO keine solche Berechtigung dem Gericht zugedacht. b, In den Gesetzestext der heutigen ZPO (§ 7.) wurde jene Regel in 1954, mit § 3- der ZPO-Novelle 15 eingefügt, laut der das Gericht im Falle des Ausschlußes der Öffentlichkeit aufgrund § 7- Abs. 2 ZPO die Möglichkeit hat, „•••bestimmten offiziellen Personen··· die Teilnahme an der Verhandlung zu gestatten" (§ 7- Abs. 2. Satz 3 ZPO). Als solche werden von der Rechtssprechung diejenigen offiziellen Personen angesehen, bei denen die Teilnahme an der Verhandlung begründet ist entweder wegen der Erfüllung ihrer Pflichten im Rahmen ihres Aufgabenkreises oder wegen der Beschaffenheit, der Natur des Rechtsstreites bzw. wegen des Zusammenhanges mit dem Funktionieren des Gerichts.16 Punkte a und b lassen keinen Zweifel daran, daß § 7- Abs. 2. Satz 3 ZPO und die auch von unserer Gesetzgebung angenommenen und zum Gesetz erhobenen Dokumente (das Ubereinkommen und die Konvention) nicht im Einklang stehen. Zur Herstellung der Harmonie sollte — unserer Ansicht nach — die betreffende Vorschrift der ZPO baldmöglichst außer Kraft gesetzt, und -- seitens der Gerichte — auch bis dahin von deren Anwendung abgesehen werden. b) die Frage der öffentlichen

Verkündung

der

Entscheidungen

Mehr Umstände bereitet das Problem der öffentlichen Verkündung der gerichtlichen Entscheidungen. Es liegt auf der Hand, daß zwischen der Öffentlichkeit der gerichtlichen Verhandlung, also der Möglichkeit der Teilnahme auch für solche, die nicht Parteien, bzw. andere Betroffene 15 Gesetz Nr. VI. 1954 über die Abänderung der Zivilprozeßordnung 16 Siehe Stellungnahme Nr. 127 des Zivilkollegiums des Obersten Gerichts

Zivilprozeß und der Grundsatz der Öffentlichkeit in Ungarn

453

sind und der Öffentlichkeit der Verkündung der Gerichtsentscheidung als eine Art der Bekanntgabe unterschieden werden soll. Die Verfassung enthält in bezug auf die Verkündung keinerlei Vorschriften. Demgegenüber verfügen das GVG und de ZPO so, daß das Gericht seine während der Verhandlung getroffenen Entscheidungen — wenn das Gesetz nicht ein anderes bestimmt — öffentlich verküden{ §8. Satz e. GVG und § 7- Abs. 3 ZPO). Stellt man die ewähnten Vorschriften nebeneinander, so ergibt sich, daß das Gericht — soweit keine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung vorliegt, hiervon abzuweichen — auch diejenigen Entscheidungen öffentlich verkündet, die in geschlossener Verhandlung getroffen worden sind}1 Allerdings existiert in der ungarischen Literatur eine von hier vertretenen Ansicht abweichende Auffassung. Diese will § 7. Abs. 3 ZPO und das darin enthaltene Wort „im allgemeinen" dahin auslegen, daß der Fall des Ausschlußes der Öffentlichkeit aufgrund Abs. 2 als Ausnahme von der allgemeinen Regel aufgefaßt werden solle, woraus zwangsläufig folge : wenn eine Entscheidung unter Ausschluß der Öffentlichkeit ergangen ist, so müsse auch deren Verkündung in geschlossener Verhandlung erfolgen.18 Der Verweis auf § 7- Abs. 2 ZPO ist jedoch — nach unserer Meinung — nicht am Platze, weil damit dem Ausdruck „im allgemeinen" nicht jene einleuchtende — und auch von uns verfochtene — Bedeutung zugeschrieben wird, daß das Gericht von der Regel ausschlißlich bei Vorhandensein ausdrücklicher gesetzlicher Vorschriften abweichen kann. § 7- Abs. 2 ZPO — bzw. die in ihm enthaltene Regel — gilt nämlich für die Öffentlichkeit der Verhandlung, wogegen bei der Verkündung der Entscheidung die Phase der Verhandlung bereits zum Abschluß gekommen ist. Die Verhandlung wird ja vom Vorsitzenden Richter abge17 Die Richtigkeit dieser Folgerung wird auch durch § 11. Abs. 3 der Strafprozeßrdnung (Gesetz Nr. I. 1973-, in der Fassung vom Gesetz Nr. XXVI. 1989-, §1.) bestätigt, der klarstellt, daß das Strafgericht seine während der Verhandlung getroffene Entscheidung auch dann öffentlich verkündet, wenn von der Verhandlung die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden ist. (Das Verfassungsgericht betont übrigens den Einklang dieser Regel mit der Verfassung. Siehe Entscheidung Nr. 25 / 1991. (V. 18.) AB, Punkt II/ 3.) Dieselbe Meinung bringt auch Füresz Klära zum Ausdruck, und zwar allgemeingültig, d. h. nicht nur auf das Gebiet des Strafprozeßrechts beschränkt, indem die Autorin behauptet : „Die Verkündung des Urteils erfolgt •••auch im Fall der geschlossenen Verhandlung öffentlich", in : Siehe o. Fn. 13., S. 329.). 18 Dr. Noväk Istvän : Α hatärozathirdetis nyilvänossäga a polgäri perben („Die Öffentliichkeit der Entscheidungsverkündung im Ziviprozeß"), in : Magyar Jog, 1993 / 8., S. 483.

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schlossen, sobald der Prozeß oder getrennt eine einzelne Frage entschidungsreif geworden ist (§145. Abs. 1 ZPO). Ausdrüskliche gesetzliche Vorschriften geben dem Gericht die Befugnis, die Entscheidung unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu verkünden, in den Kapiteln XV-XVIII ZPO, die die Statusprozesse zum Gegenstand haben (§§ 284. Abs. 1, 293- Abs. 1, 302. Abs. 1, 303. 304. Abs. 2 und 312. Abs. 2). Dieser Kreis der Ausnahmen von der allgemeinen Regel — also der öffentlichen Verkündung — entsprich nicht ganz, bzw. überhaupt nicht dem Ausnahmenkreis des Übereinkommens und der Konvention, die allerdings auch einander gegenüber unterschiedlich sind. Das „jüngere" Übereinkommen (vom 16. Dez. 1966), das in Ungarn bereits im Jahre 1976 in einer Gesetzesverordnung verkündet und in Kraft gesetzt wurde, hält zwar an der allgemeinen Regel fest, es müssen also „alle Straf- und Zivilurteile öffentlich verkündet werden", läßt jedoch im Art. 14. Punkt 1 Ausnahmen zu, und zwar, wenn dies erforderlich ist hinsichtlich der Interessen von Jugendlichen, ferner in Ehesachen und in Vormundschaftssachen Kindern. Die weit früher entstandene (4. Nov. 1950) und bei uns erst 1993 verkündete und in Kraft gesetzte Konvention bestimmt hingegen im Art. 6. Punkt 1: Die Urteile sind ohne Ausnahme öffentlich zu verkünden Während das GVG und die ZPO überall die Bezeichnung Entscheidung verwenden — also den Begriff, unter den nicht nur Urteile, sondern auch andere Gerichtsentscheidungen fallen —, ist in den genannten internationalen Dokumenten (und dementsprechend auch in unseren Gesetzen und Gesetzesverordnungen, die auf diesen Dokumenten beruhen) stets von Urteil die Rede. Auch wenn man von diesem — scheinbar formellen — Unterschied absieht, ergibt sich aus den oben ausgeführten Tatsachen eindeutig, daß die Harmonisierung zwischen dem GVG, der ZPO und den internationalen Verpflichtungen keine Verzögerung dultet. Dies ist umsomehr 19 Einzigartigerweise finden sich der Literatur bei nur Verweise auf das Übereinkommen, nach denen dieses und § 7. Abs. 3. ZPO nicht ganz übereinstimmen (so Kengyel Miklös : Polgäri Eljäräsjog /„Zivilverfahrensrecht"/ Bd. I . , Pees, 1991., S. 72. und Dr. Noväk Istvän : o. Fn. 18., S. 484.). Demgegenüber nimmt man die aus der Sicht der ungarischen Regelung weitaus mehr problematische Konvention g a r nicht in Betracht. Dieses „Schweigen" läßt sich wohl mit der später erfolgten Eingliederung der Konvention in das ungarische Recht erklären, wobei nicht zu vergessen ist, d a ß Ungarn — aufgrund des Parlamentbeschlußes Nr. 76 / 1990. (XI. 2.) OGY — die Konvention s a m t den neun Protokollen bereits am 6. Nov. 1990. unterzeichnet hat.

Zivilprozeß und der Grundsatz der Öffentlichkeit in Ungarn

455

dringend, wenn man bedenkt, daß die Verpflichtungen in der Zwischenzeit als inneres Recht ihre Geltung entfalten. Der Einklang sollte zustandegebracht werden, indem das Gesetz klarstellt — entsprechend dem Art. 6. Punkt 1 der Konvention und der eindeutigen Straßbourger Praxis20 —, daß sich die Möglichkeit zur Einschränkung der Öffentlichkeit nur auf die Verhandlunsphase bezieht und die Verkündung solchen Einschränkungen nicht unterligt. Es würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, wollten wir noch auf die Frage eigehen, wann eigentlich von einer öffentlichen Verkündung gesprochen werden kann oder inwieweit die Gefahren vermieden werden können, die damit verknüpft sind, daß ein unter dem Schutzschirm der geschlossenen Verhandlung ergangenes Urteil dann öffentlich verkündet wird. Hierzu gibt es durchaus beachtenswerte, von der Praxis entwickelte Lösungen.21 Von diesen sollten in erster Linie diejenigen in Anspruch genommen und auf Gesetzesebene in den Dienst der Gerichtsbarkeit gestellt werden, die unseren inländischen Zuständen, sowie unseren Traditionen am meisten gerecht werden.

III.

Schlussfolgerung

Nach alledem kann festgestellt werden, daß die Öffentlichkeit zwar einer der einfachsten Grundsätze des Zivilverfahrens zu sein scheint — dessen Bedeutung und notwendige Durchsetzung bei uns von niemandem bestritten wird22 —, doch wird sich der Gesetzgeber in Zukunft die Mühe nicht ersparen können, eine neue, im Vergleich zu der heutigen sorgfältigere und genauere Regelung auszugestalten, die auch den breiten Kreis der oben angeführten und zu berücksichtigenden Faktoren nicht aus dem Auge verliert. Unserer Ansicht nach bietet sich in nächster Zukunft eine gute Möglichkeit für diese Harmonisation zwischen Verfassung, GVG, ZPO und den internationalen Übereinkommen damit, daß das Ungarische Parlament unlängst den Ausschuß für die Vorbereitung der neuen 20 Siehe dazu Mavi Viktor : o. Fn. 9-, S. 150. 21 Siehe dazu Mavi Viktor : o. Fn. 9„ S. 150-151. und Noväk Istvän : o. Fn. 18., S. 484. 22 Siehe dazu ζ. B.: Dr. Noväk Istvän : Polgäri eljäräsjogunk alapelveinek jövöje („Die Zukunft der Grundsätze unseres Zivilverfahrensrechts"), in : Magyar Jog, 1994 / 9., S. 552.

456

Verfassung der Republik Ungarn ins Leben gerufen hat.23 Der Ausschuß muß darauf hinarbeiten, daß ein Vorschlag über die Prinzipien der neuen Verfassung bis zum 31. Dez. 1995 fertiggestellt und neun Monate nach dem vorläufigen Gutheißen der Verfassung auch deren endgültigen Textvorschlag als Gesetzesvorlage eingereicht wird.24 Zu einer fristgerechten Bewältigung dieser Aufgabe wird sich der Ausschuß auch auf einige bereits veröffentlichte Verfassungskonzeptionen stützen können.25 Von diesen Konzeptionen ist es das Vorbereitungsmaterial des Justizministeriums, das eindeutig und allgemeingültig darauf hinweist — und das ist aus der Sicht unserer Untersuchungen von Belang —, daß Übernahme einzelner Grundrechte aus dem Übereinkommen in die Verfassung „•••lückenhaft und mit ungenauer Formulierung erfolgt ist."26 Besonders hervorgehoben wird in diesem Vorschlag, daß die Regelung des „•••Rechts auf gerechtes, billiges und öffentliches Verfahren" 27 in der neuen Verfassung durchaus begründet sei.

23 Siehe dazu den Parlamentsbeschluß Nr. 63 / 1995. (VI. 17.) OGY 24 Vgl. Punkt 6. des Parlamentsbeschlußes Nr. 63 / 1995. ( VI. 17.) OGY 25 So ζ. B. Bragyova Andräs : Az üj alkotmäny egy koncepciöja, Budapest, 1995. („Ein Konzept für die neue Verfassung"), ferner Igazsägügyi Miniszterium : A Magyar Köztärsasäg Alkotmänyänak szabälyozäsi koncepciöja / elözetes szakmai munkaanyag / , Budapest, 1995. („Ministerium der Justiz : Das Konzept der Kodifikation der Verfassung der Republik Ungarn / Sachvorbereitungsmateria /"). 26 S. 9. des Materials des Ministeriumes der Justiz, o. Fn. 25. 27 S. 12. des Materials des Ministeriumes der Justiz, o. Fn. 25.

Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts von

Prof. Dr. Hanns Prütting

Köln

Professor an der Universität zu Köln, Direktor des Instituts für Verfahrensrecht

458

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung II. Konzeptionelle Aspekte 1. Dreistufigkeit 2 . Rechtsmittelsumme 3 . Rechtsmittelzulassung 4 . Wegfall einer Instanz III. Die Bedeutung und die Entbehrlichkeit von Rechtsmitteln 1. Revision 2 . Berufung gegen Entscheidungen der Amtsgerichte 3 . Berufung gegen Entscheidungen der Landgerichte 4 . Verfassungsrechtliche Aspekte IV. Gegenläufige Tendenzen V. Fazit

Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts

I.

459

Einleitung

Das deutsche Rechtsmittelrecht ist ins Gerede gekommen. Es scheint in einen Strudel unterschiedlichster und gegenläufiger Tendenzen zu geraten. In rechtspolitischen Diskussionen wird das Rechtsmittelrecht vermehrt instrumentalisiert, um rechtsmittelfremde Ziele zu erreichen. Hintergrund dürfte vor allem der verzweifelte Versuch vieler Justizpolitiker sein, eine Einsparung von Personal-und Sachmitteln im Justizhaushalt zu erzielen. Typisch für diese seit etwa 10 Jahren deutlich nachweisbare und sich verstärkende Tendenz ist es, wenn ζ. B. das Bundesjustizministerium eine Arbeitstagung zum Thema „Rechtsmittel im Zivilprozeß" durchführt und diese Tagung ausdrücklich in den Zusammenhang mit den Grenzen der Rechtsgewährung und der hohen Belastung der Justiz stellt1. Ein weiteres Beispiel ist das Thema des 61· Deutschen Juristentages im September 1996, wo in der Abteilung Verfahrensrecht die Frage untersucht wird, ob sich im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes Maßnahmen zur Vereinfachung, Vereinheitlichung und Beschränkung der Rechtsmittel des Zivilverfahrensrechts empfehlen 2 . Auch auf dem 48. Anwaltstag im Mai 1995 in Berlin wurde das Thema ausführlich diskutiert und im Anschluß daran an vielen Stellen intensiv in der Tagespresse behandelt 3 . Am deutlichsten hat bisher möglicherweise die Präsidentin des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des OLG München, Hildegund Holzheid, diese Tendenzen zum Ausdruck gebracht. Sie hat im Rahmen eines Vortrags in Bonn am 18-5.1995 unter dem Titel : „Neue Wege in der Justiz — wieviel Reform braucht unser Rechtsstaat ? " die Auffassung vertreten, es müsse eine sehr einschneidende Beschränkung des Justizangebotes erfolgen, unter Umständen sogar durch vollständige Streichung einer Rechtsmittelinstanz 4 . 1 Die genannte Tagung fand im Dezember 1984 in Bochum statt. Zu ihr und zu ihren Ergebnissen vgl. Gilles/Röhl/Schuster/Strempel, Rechtsmittel im Zivilprozeß, 1985. 2 Das Gutachten hierzu wird im Frühjahr 1996 von Gottwald vorgelegt werden. Die Referate im September 1996 werden der Vorsitzende Richter am OLG Wolfgang Jaeger und der Rechtsanwalt Erhard Senninger halten. 3 Vgl. etwa FAZ vom 26.5.1995, Nr. 121, S. 5 ; DIE ZEIT vom 9.6.1995, Nr. 24, S. 4 ; Kölner Stadt-Anzeiger vom 27.5.1995, Nr. 122, S. 6. 4 Der Vortrag ist bisher nicht veröffentlicht. Er fand im Rahmen einer Vortragsreihe

460

Diese inzwischen von nahezu allen juristischen Seiten geführte Diskussion muß vor dem Hintergrund gesehen werden, daß der Gesetzgeber in den vergangenen fünf Jahren bereits zweimal Novellen zur Einschränkung und Entlastung der Rechtspflege erlassen hat, nämlich das Rechtspflegevereinfachungsgesetz vom 17.12.19905 und das Rechtspflegevereinfachungsgesetz vom 11.1.19936· Auch seither hat der Gesetzgeber ohne Unterbrechung Überlegungen angestellt, wie im einzelnen weitere Rechtspflegeentlastungen herbeigeführt werden können. So wird beispielsweise seit längerem ein „Zweites Gesetz zur Entlastung der Strafrechtspflege" beraten. Auch in Zivilsachen werden unverändert Wege zur Entlastung der Justiz gesucht, so zuletzt auf der Herbstkonferenz der Justizminister im November 1993 in Hamburg 7 . Untersucht man alle diese und andere justizpolitischen Vorschläge der jüngeren Zeit näher, so zeigt sich, daß in vielfältiger Weise mit einem „Etikettenschwindel" gearbeitet wird. Die in neuerer Zeit gemachten Vorschläge bieten keinen Beitrag zu einem effektiven Rechtsschutz, sie dienen nicht der Vereinheitlichug oder der Vereinfachung des Rechts, wie regelmäßig geltend gemacht wird. Es geht auch nicht um sinnvolle strukturelle Maßnahmen. Ausschließlicher Impetus der Justizpolitik ist in neuerer Zeit der Versuch, eine „spürbare Entlastungswirkung" 8 zu erzielen, ohne daß dabei Rechtsmittelzwecke, strukturelle Fragen oder gar die Verfassungsmäßigkeit näher ins Auge gefaßt würden. Das hier aufgegriffene Thema einer starken Einschränkung des deutschen Rechtsmittelrechts scheint zunächst rein rechtspolitische Fragestellungen aufzuwerfen. Bei näherer Untersuchung zeigt sich jedoch, daß es mit dogmatischen Grundsatzfragen des Verständnisses von Rechtsmitteln in allen Verfahrenszweigen, insbesondere auch im Bereich des Strafrechts 9 , eng zusammenhängt. Vergleichbare Probleme gibt es ferner

5 6 7 8 9

in der Bayerischen Vertretung in Bonn unter dem Generalthema : „Mut zu Neuem" statt. Rechtspflegevereinfachungsgesetz vom 17.12.1990, BGBl. I, S 2847, in K r a f t getreten am 1,4,1991. Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993, BGBl. I, S. 50, in K r a f t getreten am 1.3.1993. Zu den Beschlüssen dieser Konferenz vgl. den Überblick in DRiZ 1995, 57. Für den Bereich des Zivilrechts wurde dort die Absicht bekräftigt, weitere strukturelle Entlastungsmanahmen vorzuschlagen. So die Herbstkonferenz der Justizminister im November 1994, DRiZ 1995, 58. Zum Stand der Diskussion im Rahmen der Strafrechtspflege vgl. den Vorentwurf eines zweiten Rechtspflegeentlastungsgesetzes und hierzu zuletzt die Stellungnahme in ZRP 1995, 268.

Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts

461

im Bereich des Verwaltungsprozeßrechts 10 . Die folgenden Überlegungen werden sich trotz mancher Parallelitäten aber auf das Rechtsmittelrecht des Zivilprozesses beschränken.

II. Konzeptionelle

Aspekte

Was die Ausgestaltung des Rechtsmittelrechts im deutschen Zivilprozeß betrifft, gibt es eine Fülle unterschiedlicher Vorschläge und Konzeptionen. Auch das geltende Recht verwirklicht bekanntlich kein einheitliches Prinzip. Im wesentlichen finden sich drei verschiedene strukturelle Ansatzpunkte zur Beschränkung von Rechtsmitteln : die Einschränkung des Zugangs mit Hilfe einer Rechtsmittelsumme, die besondere Zulassung und Annahme von Rechtsmitteln, sowie in engen Grenzen die generelle Streichung einer Instanz. Überlagert werden diese strukturellen Aspekte von der Grundfrage nach dem Gerichtsaufbau und Rechtsmittelzug im deutschen Zivilprozeß. Dieser scheint rein äußerlich bekanntlich vierstufig zu sein, nämlich bestehend aus der Stufenleiter von Amtsgerichten, Landgerichten, Oberlandesgerichten und dem BGH. In Wahrheit ist der Rechtsmittelzug in Zivilsachen entweder zweistufig (erste Instanz Amtsgericht, zweite Instanz Landgericht) oder dreistufig (erste Instanz Landgericht, zweite Instanz Oberlandesgericht, dritte Instanz BGH). Die Besonderheiten des familiengerichtlichen Instanzenzuges (Dreistufigkeit : erste Instanz Amtsgericht — zweite Instanz Oberlandesgericht — dritte Instanz BGH) bedarf hier zunächst keiner näheren Betrachtung. Es muß daher unser besonderes Interesse wecken, wenn der rein äußerlich vierstufige Gerichtsaufbau in der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach in neuester Zeit wieder aufflammenden Diskussionen einer Dreistufigkeit weichen soll. Dem ist im folgenden kurz nachzugehen. 1.

Dreistufigkeit

Neuerdings wieder viel diskutiert wird in Deutschland die Frage der Ein10 Vgl. hierzu zuletzt den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der VwGO, vorgelegt v o m Bundesrat, B T - D r u c k s . 13/1433, v o m 18.5.1995. Zur Krise der Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. ferner Stelkens, N V w Z 1995, 325 und DVB1. 1995, im Druck.

462

führung eines dreistufigen Gerichtsaufbaus der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Neben anderen Stimmen beschloß insbesondere die Konferenz der Landesjustizminister im Herbst 1994, neue Stellungnahmen zur Einführung des dreigliedrigen Gerichtsaufbaus zu erarbeiten 11 . Der Zusammenhang dieser Diskussion mit strukturellen Fragen des Rechtsmittelrechts ist klar: Eine Veränderung des vierstufigen Gerichtsaufbaus der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Amtsgericht — Landgericht — Oberlandesgericht — BGH) in ein dreistufiges System mußte zwangsläufig zu einer Veränderung der Rechtsmittelzüge führen. Solche strukturellen Veränderungen wären also ein sinnvoller Ansatzpunkt für eine konzeptionelle Neugestaltung des Rechtsmittelrechts. In Wahrheit geht diese erneute justizpolitische Debatte jedenfalls im Hinblick auf erhoffte Ersparnisse in eine falsche Richtung. Die Erwartungen, die zum Teil an eine künftige Dreistufigkeit gestellt werden, beachten zu wenig, daß durch die beispielsweise denkbare Zusammenlegung von Amtsgericht und Landgericht zu einem sogenannten Eingangsgericht kein einziges konkretes Verfahren weniger bei der Justiz eingehen wird. Auch scheint die Debatte um die Dreistufigkeit immer wieder zu signalisieren, daß wir derzeit in irgendeiner Verfahrensart einen vierstufigen Instanzenzug hätten. Dies wäre ein gravierender Irrtum, wie bereits oben vor 1. angedeutet wurde. In Wahrheit würde ein vollständiger dreistufiger Gerichtsausbau in keinem einzigen Fall den Rechtsmittelzug verkürzen, sondern zunächst zwangsläufig zu einer Erweiterung der Rechtsmittelmöglichkeiten führen. Denn ohne zusätzliche Regelungen würden bei einer echten organisatorischen Dreistufigkeit auch alle diejenigen Verfahren grundsätzlich der Revision offenstehen, die heute beim Amtsgericht beginnen und für die bekanntlich gemäß § 545 Abs. 1 ZPO die Revision verschlossen ist. Auch darüber hinaus sind bei einer organisatorischen Dreistufigkeit keinerlei Einschränkungen des Rechtsmittelbereichs gerade durch die Einführung der Dreistufigkeit zu erkennen. Diesem negativen Befund gegenüber steht die Tatsache, daß ein organisatorischer Umbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit zunächst ungeheuere Kosten f ü r neue G e r i c h t s g e b ä u d e und U m s t r u k t u r i e rungsmaßnahmen in personeller und sachlicher Hinsicht erfordern würde. Von den psychologischen Belastungen aller Beteiligten und der großen Unruhe, die durch eine solche Neuordnung in alle Spruchkörper getragen würde, sei hier noch nicht einmal gesprochen. Zu beachten ist 11 Vgl. Block, DRiZ 1995, 57 I Schuschke, ZRP 1995, 208-

Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts

463

ferner, daß der Wunsch nach organisatorischer Dreistufigkeit zur Auflösung vieler kleinerer Amtsgerichte führen müßte und damit dem vielfältigen Wunsch nach Dezentralisierung staatlicher Gewalt zuwiderliefe. Die zur Zeit rein rechtspolitisch geführte Diskussion um die Neustrukturierung des Gerichtsaufbaus bedarf daher im folgenden keiner weiteren Vertiefung 12 . 2.

Rechtsmittelsumme

Bekanntlich ist in der Zivilgerichtsbarkeit die Beschränkung von Rechtsmitteln durch eine sogenannte Erwachsenheitssumme seit jeher das wichtigste Instrument des Gesetzgebers gewesen. Es ist dementsprechend auch ein seit langem bewährtes Hilfsmittel des Gesetzgebers, diese Wertgrenzen in den Rechtsmittelinstanzen zu verändern. Im Grunde läßt sich bereits seit Bestehen der ZPO von 1877 nahezu regelmäßig ein solches Vorgehen des Gesetzgebers beobachten. So hat sich die Berufungssumme, die es im Jahre 1877 noch nicht gegeben hatte, von 50,-RM (ab 1915) auf heute 1.500.-DM erhöht. Die Revisionssumme hat sich von 1. 500,-RM (im Jahre 1877) auf heute 60-000 -DM erhöht. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang ferner die Wertgrenze bei der Abgrenzung zwischen Amtsgericht und Landgericht. Sie wurde von 300,-RM (im Jahre 1877) auf heute 10.000,-DM gesteigert. Alle diese und andere Erhöhungen von Wertgrenzen haben freilich im Ergebnis immer nur sehr bescheidene Erfolge erzielt. Das läßt sich in jüngerer Zeit auch daran ablesen, daß die Erhöhungsmaßnahmen des Gesetzgebers in immer kürzeren Abständen erfolgen. Angesichts der allgemein bekannten Tendenz hin zu einer ständigen Geldentwertung und in Anbetracht der Tatsache, daß die Erhöhung von Wertgrenzen in den allermeisten Fällen jeweils in moderaten Anpassungsschritten erfolgte, läßt sich die nur sehr begrenzte Wirkung solcher Maßnahmen gut erklären. Hinzu kommt vor allem noch, daß gerade in jüngerer Zeit die ständig steigenden Eingangszahlen bei den Zivilsachen eventuelle Entlastungseffekte schnell wieder zunichte machen. Wollte man daher die Erhöhung von Rechtsmittelsummen als justizpolitisches Instrument zur dauerhaften Entlastung der ordentlichen Gerichte einsetzen, bräuchte man eine wirksame Erhöhung der einzelnen 12 S e h r kritisch zu dieser Diskussion zuletzt a u c h Schuschke,

Z R P 1995, 208.

464

Wertgrenzen, die sich sehr weit von einem reinen Ausgleich für zukünftige Geldentwertung entfernt. Aus heutiger Sicht müßte dann die Berufungssumme von 1.500,-DM auf ca. 6-000,-DM bis 8.000,-DM angehoben werden13. Für die Revisionssumme müßte man wohl eine Erhöhung von 60.000,-DM auf 100-000,-DM bis 150-000,-DM ins Auge fassen. Bei der Bewertung solcher Überlegungen mag zunächst außer acht bleiben, daß sich auch eine solche gravierende Erhöhung von Wertgrenzen nicht als ein sich selbst regulierendes Rechtsmittelsystem darstellt, sondern nach einigen Jahren wiederum der Anpassung bedarf. Nicht näher betrachtet werden soll auch die Frage, daß eine solche Veränderung der Wertgrenzen nach bisherigen Erfahrungen politisch und psychologisch sehr schwer durchsetzbar wäre. Wichtiger erscheint der Hinweis, daß die schon immer geltend gemachten Probleme von wertmäßigen Rechtsmittelbegrenzungen durch eine solche Steigerung erheblich verschärft würden. So würde der Gesichtspunkt der Ungleichbehandlung verschiedener Rechtsmittelführer evident. Auch die notwendigerweise unsoziale Wirkung starrer Wertgrenzen würde erheblich verschärft. Deutlicher käme ferner zum Tragen, wie ungeeignet wertmäßige Zugangsschranken für Rechtsmittelzwecke wie die Rechtsfortbildung und die Erhaltung der Rechtseinheit sind. Im Grunde waren solche wertmäßigen Einschränkungen schon bisher immer nur wirklich überzeugend und plausibel begründbar im sogenannten Bagatellbereich. Gerade dieser Bereich würde mit drastischen Erhöhungen aber eindeutig verlassen (falls man ihn mit der Berufungsgrenze von derzeit 1.500,-DM nicht schon als verlassen ansieht). Jenseits des Bagatellbereichs ist es eine seit langem anerkannte Tatsache, daß summenmäßige Beschränkungen nirgends ein geeignetes und überzeugendes Auswahlkriterium für die Geeignetheit von Streitsachen in höheren Instanzen darstellen, da sie Relevantes weder über die soziale oder ökonomische noch über die rechtliche oder gesellschaftliche Bedeutung eines Rechtsstreites auszusagen vermögen14. Damit ist festzuhalten, daß Rechtsmittelsummen nach ihrem Charakter in erster Linie zur Einschränkung von Rechtsmitteln im Bagatell13 H. Holzheid hatte in ihrem Vorschlag zur Entlastung der Gerichte in ähnlicher Weise gemeint, die Berufungssumme müßte auf mindestens 5 000,-DM angehoben werden (s. oben Fn. 4). Einen gleichen Vorschlag hatte Gottwald schon vor zehn Jahren gemacht (in : Gilles/Röhl/Schuster/Strempel, Rechtsmittel im Zivilprozeß, 1985, S. 298, 308). 14 Statt vieler zuletzt E. Schmidt, ZZP 108, 1995, 148.

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465

bereich geeignet sind. Überall dort, wo der (nicht klar abgrenzbare) Bagatellbereich eindeutig verlassen wird, stellen sie nur noch einen Notbehelf dar. Für eine strukturelle Neuordnung des Rechtsmittelrechts erscheint die Arbeit mit Rechtsmittelsummen vollkommen ungeeignet. 3.

Rechtsmittelzulassung

Wesentlich näher liegt es, den Gedanken der Zulassung von Rechtsmitteln, wie er im deutschen Recht seit längerer Zeit fest verankert ist, als Strukturprinzip weiter auszubauen. Die Zulassung von Rechtsmitteln wird heute nicht selten an die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache oder die Divergenz von Entscheidungen geknüpft. Bei aller Unbestimmtheit und Unscharfe dieser Zulassungskriterien kann nicht zweifelhaft sein, daß jedenfalls in der Revisionsinstanz entscheidender Gesichtspunkt für die grundsätzliche Bedeutung die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechts sind15. In der Praxis hat sich die Zulassung von Rechtsmitteln im Revisionsrecht bewährt. Sie läßt sich dort insbesondere mit den Revisionszwecken gut verbinden. Bevor man deshalb die Zulassung von Rechtsmitteln generell befürwortet, bedarf es allerdings einiger weiterer Überlegungen. So ist zu beachten, daß die Zulassung der Revision im deutschen Recht (außer in Strafsachen) nahezu überall voll durchgeführt ist. Hier ergeben sich also keine ernstzunehmenden Änderungsmöglichkeiten. Dies gilt weitgehend auch in Zivilsachen, wo die Zulassung der Revision bis 60.000,-DM vorgesehen ist und darüber hinaus eine sogenannte Annahmerevision (vgl. § 554b ZPO) geregelt ist. Wollte man den Bereich der Annahmerevision in eine Zulassungsrevision umwandeln, müßte man dies (wie in anderen Rechtsbereichen) mit einer Nichtzulassungsbeschwerde verbinden. Eine strukturelle Neuordnung kann darin im Revisionsrecht nicht gesehen werden. Die Einführung einer Zulassung von Rechtsmitteln als ein neuer Schritt ist also im deutschen Recht nahezu ausschließlich ein Problem der Berufungsinstanz. Wollte man hier künftig in Zivilsachen eine Berufung nur bei Zulassung durch die erste Instanz ermöglichen, stünden dem jedoch gravierende Bedenken entgegen. So ist der Zweck der Berufung im deutschen Recht gerade nicht in erster Linie durch die Erhaltung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechts geprägt. Insbesondere in der 15 Vgl. dazu insbesondere Prutting,

Die Zulassung der Revision, 1977, S. 101 ff.

466

Rechtsfortbildung kann man den Berufungsgerichten sicherlich keine erheblich höhere Kompetenz als den erstinstanzlichen Gerichten zuweisen. Im Vordergrund der Berufung steht ihre Ausformung als eine zweite Tatsacheninstanz. Wollte man einen im wesentlichen rechtlich orientierten Filter vor eine zweite Tatsacheninstanz schalten, würde dies dem Wesen und dem Kernanliegen der Berufung nach deutschem Recht entgegenstehen. Zu beachten sind insoweit auch wachsende Gefahren, wenn schon der Richter der ersten Instanz durch seine Zulassungsentscheidung über die Rechtskraft des Verfahrens entscheidet. In diesem Bereich wären weiterhin erhebliche Neubelastungen durch eine zwangsläufig erforderliche Nichtzulassungsbeschwerde zu befürchten. Ergebnis einer solchen Maßnahme könnte also statt einer erheblichen Einsparung eine gewisse Ressourcenverlagerung sein. Entschieden werden müßte dann in zweiter Instanz nicht mehr so häufig über die Sache selbst, sondern vielmehr über die Nichtzulassungsentscheidungund die Berufungswürdigkeit der Angelegenheit. Keineswegs außer acht lassen sollte man ferner den Gedanken, daß durch eine reine Zulassungsberufung manche Bereiche des geltenden Rechts völlig von den höheren Instanzen ferngehalten würden. Schließlich muß man einräumen, daß nicht selten in der Berufungsinstanz gerade in den problematischen Fällen der Sachverhalt besser aufgeklärt ist und die rechtlichen Alternativen schon deutlicher herausgearbeitet sind. Das Berufungsgericht kann deshalb sowohl in der Sache als auch über die Zulassung der Revision auf einer breiteren tatsächlichen und rechtlichen Grundlage entscheiden. Aus allen diesen Gründen erscheint eine reine Zulassungsberufung ausgeschlossen16. 4. Wegfall einer

Instanz

Die bisherigen Überlegungen zeigen sehr deutlich, daß die zum Rechtsmittelrecht vielfach diskutierten Aspekte eines dreistufigen Gerichtsaufbaus, einer weiteren Erhöhung von Rechtsmittelsummen und der Einführung von weiteren Rechtsmittelzulassungen kaum geeignet erscheinen, um die anstehenden Probleme zu lösen. Wirklich spürbare Entlastungen der Justiz im Rechtsmittelbereich setzen deshalb voraus, daß noch wesentlich schärfere Einschnitte vollzogen werden, wie sie insbesondere die totale Streichung einer Instanz darstellen. Einem solchen Konzept 16 Vgl. insbesondere Bethge, NJW 1991, 2391; Gottwald, in: Gilles/Röhl/Schuster/ Strempel, Rechtsmittel im Zivilprozeß, 1985, S. 301; Prutting, AnwBl. 1991, 609-

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der völligen Streichung einer Rechtsmittelinstanz, wie es kürzlich von H. Holzheid17 vorgeschlagen wurde, ist deshalb im folgenden etwas näher nachzugehen.

III. Die Bedeutung und die Entbehrlichkeit

von Rechtsmit-

teln Die Frage des Wegfalls einer Rechtsmittelinstanz soll hier getrennt nach Revision, Berufung gegen Entscheidungen der Amtsgerichte und Berufung gegen Entscheidungen der Landgerichte geprüft werden. I.

Revision

Die Streichung einer Rechtsmittelinstanz scheint auf den ersten Blick zur Disposition des Gesetzgebers zu stehen, da es nach herrschender Ansicht die verfassungsrechtliche Garantie eines Instanzenzuges nicht gibt18. Freilich gilt es darüber hinaus, den Zweck der Rechtsmittel und die Folgewirkungen eines solchen Schrittes sowie die strukturellen Aspekte des Gerichtsaufbaus und des Instanzenzuges zu beachten. In der Zivilgerichtsbarkeit gehen wir von einem pyramidenartigen Aufbau und einer ebensolchen zahlenmäßigen Teilung der Verfahren aus. Dieser gerichtliche Stufenbau spiegelt sich auch in der Zahl der Richter, ihrer Arbeitsbelastung und in der Verteilung der Spruchkörper wieder19. Zur Spitze dieser Pyramide sollen aus der riesigen Zahl der erstinstanzlichen Eingänge dann nur noch diejenigen Rechtssachen gelangen, die entweder von grundsätzlicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind oder die sich durch eine Divergenz zu einer bereits ergangenen Entscheidung auszeichnen. Es geht also erkennbar darum, beim Bundesgerichtshof im wesentlichen Fälle zu behandeln, die der Wahrung der Rechtseinheit und der Fortbildung des Rechts dienen20. Diesem vorrangigen Zweck der Revision nach Wahrung der Rechtseinheit entspricht es, daß der BGH als eine reine Rechtsinstanz ausgestaltet ist. Bereits mit 17 S. oben Fn. 4. 18 Vgl. dazu näher unten III 4. 19 Im einzelnen dazu vgl. Prutting, Prozessuale Aspekte richterlicher Rechtsfortbildung, Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 312. 20 Im einzelnen dazu und zum Zweck der Revision vgl. Prutting, Die Zulassung der Revision, 1977, S. 84 ff.

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diesen wenigen Andeutungen wird klar, daß die Funktion eines solchen obersten Bundesgerichts als einer zentralen Rechtsinstanz für den Gesamtbereich des Zivilrechts von einer solch zentralen Bedeutung ist, daß eine Streichung der Revisionsinstanz völlig ausgeschlossen erscheint. 2. Berufung gegen Entscheidungen

der

Amtsgerichte

In Betracht zu ziehen wäre dagegen vielleicht eine generelle Streichung der Berufung gegen die Entscheidungen von Amtsgerichten in Zivilsachen. Dies würde in einem Bereich bis zu (derzeit) 10.000,-DM eine absolute Rechtsmittelschranke bedeuten. Ein solcher Vorschlag hätte freilich eine extrem starke soziale Schlagseite. Er würde im übrigen angesichts der Tatsache, daß am Amtsgericht ausschließlich der Einzelrichter entscheidet und dieser bei weitem die höchste zahlenmäßige Belastung von Rechtssachen zu verkraften hat, gerade diejenigen Fälle treffen, die in erster Instanz am wenigsten sorgfältig aufgearbeitet und durch ein Kollegialorgan kontrolliert worden sind. Eine Verstärkung dieser Bedenken stellt es auch dar, daß gerade im Falle der amtsgerichtlichen Entscheidungen eine Revision generell verschlossen ist, so daß hier die Entscheidung der ersten Instanz in jedem Fall rechtskräftig wäre. Dies würde gegenüber den erstinstanzlichen landgerichtlichen Entscheidungen zu einer starken Ungleichbehandlung führen. Zu berücksichtigen wäre ferner, daß neben den kleinen Streitwerten vor die Amtsgerichte auch eine Reihe sachlicher Zuweisungen erfolgt sind: so insbesondere die Mietsachen und die Ehe-, Familienund Kindschaftssachen. Der Gesetzgeber hat nicht selten gerade in den Fällen dieser Sonderzuweisungen an die Amtsgerichte durch eine besondere Ausgestaltung des Instanzenzuges deutlich gemacht, daß hier die Möglichkeit einer obergerichtlichen Klärung von Streitfragen besondere Bedeutung aufweist. So ist etwa in Ehe- und Familiensachen ein besonderer Rechtszug bis zum BGH eingerichtet, in Familiensachen gibt es den sogenannten Rechtsentscheid bis zum Oberlandesgericht. Das bedeutet, daß beim völligen Ausschluß von Rechtsmitteln gegen die Entscheidungen der Amtsgerichte eine Fülle von sachlichen Ausnahmen zwingend wäre. Aus allen diesen Gründen erscheint daher insgesamt eine generelle Abschaffung der Berufung gegen die Entscheidungen der Amtsgerichte nicht denkbar, falls man nicht durch eine Veränderung der Rahmenbedin-

Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts

469

gungen und eine Fülle von Ausnahmen die Rechtsmittelstrukturen anpaßte. 3. Berufung gegen Entscheidungen der

Landgerichte

Zu denken wäre zuletzt noch daran, die Berufung im Falle erstinstanzlicher landgerichtlicher Entscheidungen zu streichen. Dies würde in gewisser Weise eine Anpassung an den Rechtsmittelzug bedeuten, wie wir ihn bis heute in Strafsachen kennen: Die großen Streitsachen hätten dann generell nur einen zweistufigen Verfahrenszug (Landgericht-BGH). Eine solche Kürzung des Rechtsmittelzuges würde freilich sogleich die Frage nach dem Zugang zur Revisionsinstanz aufwerfen. Wollte man gegen die erstinstanzlichen Urteile des Landgerichts einen freien Zugang zum BGH eröffnen, würde dieser mit Revisionen in unüberschaubarer Weise überschwemmt. Ein solcher freier Zugang zum BGH wäre undenkbar. Wollte man andererseits die Revision generell von der Zulassung durch die erste Instanz abhängig machen, entstünden erhebliche Gefahren für die Rechtseinheit. Angesichts der großen Zahl der Landgerichte und der Unsicherheit, in welchen Fällen ein erstinstanzliches Gericht die Revision gegen seine eigene Entscheidung zulassen würde, wäre die Gefahr schwerlich von der Hand zu weisen, daß in vielfältigen Gebieten durch eine zu enge Zulassungspraxis und möglicherweise an anderer Stelle durch eine großzügige Zulassungspraxis erhebliche Unsicherheiten in das System des Rechtsschutzes getragen würden. Kaum zweifelhaft kann dabei sein, daß in einem solchen System die an sich notwendige Kontrolle des judex a quo durch eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht verwirklicht werden könnte. Denn in diesem Falle müßte der BGH über eine unübersehbare Flut von Nichtzulassungsbeschwerden entscheiden. Das dargestellte Problem verschärft sich dort noch erheblich, wo bisher das jeweilige Oberlandesgericht zumindest teilweise die Leitlinien der Rechtspraxis als letzte Instanz bestimmt. Dies ist etwa im Falle des § 545 Abs. 2 ZPO im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes der Fall. Daher kommt heute ζ. B. in Wettbewerbssachen der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte für ihren Bezirk eine maßgebliche Rolle zu. Würde die Berufungsinstanz entfallen, würde in allen diesen Bereichen eine unerträgliche Rechtsunsicherheit eintreten. Darüber hinaus bedarf es eines Blickes auf den Zweck der Berufung, bevor man diese allzu leicht streichen wollte. Als Zweck der Berufung kann man wie allgemein als Zweck von Rechtsmitteln sowohl das Inter-

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esse der Parteien als auch gewisse Interessen der Allgemeinheit kennzeichnen. Die Interessen der Parteien lassen sich durch die Gesichtspunkte : Erhöhung des Gerechtigkeitgrades- Erhöhung des Akzeptanzgrades der Beteiligten-Gewährleistung von Rechtsgleichheit näher beschreiben. Hinzu komt im Interesse der Allgemeinheit eine Kontrolle der unteren Gerichte, damit eine Aufrechterhaltung und Stärkung des allgemeinen Vertrauens in die Rechtspflege und die Sicherung einer einheitlichen Anwendung des Rechts21. Bereits die Aufzählung dieser Rechtsmittelzwecke macht deutlich, daß die generelle Streichung der Berufungsinstanz einschneidende negative Konsequenzen für die Parteien und die Allgemeinheit haben müßte. Jedenfalls kann nicht zweifelhaft sein, daß zum Ausgleich für die Streichung einer Rechtsmittelinstanz dem Erfordernis besonderes Gewicht zukäme, die Richtigkeitsgewähr und die Tatsachenfeststellung durch die erste Instanz erheblich zu verbessern und zu stärken. Hier wäre insbesondere zu verlangen, daß in erster Instanz ein Kollegialgericht die Rechtssache nach ihrer tatsächlichen und rechtlichen Seite sorgfältig ausleuchtet. Jedoch wird mit dieser Forderung sofort eine weitere Schwierigkeit deutlich. Der Gesetzgeber hat bekanntlich die Spruchkörper am Landgericht in erster Instanz mehr und mehr vom System des Kollegialgerichts zum Einzelrichter umgepolt. Der neue § 348 ZPO weist hier in die grundlegend falsche Richtung. Er schreibt vor, daß heute in der Regel die erstinstanzliche Entscheidung durch den Einzelrichter ergehen soll. Jenseits aller dieser wichtigen Einzelaspekte darf aber nicht vergessen werden, daß der Aufbau der deutschen Ziviljustiz angesichts der ungeheuer großen Zahl von Eingängen in erster Instanz zu seiner Funktionsfähigkeit im Grundsatz den bestehenden pyramidenförmigen Aufbau benötigt. Wollte man den Filter der zweiten Instanz gänzlich herausnehmen, bestünde die große Gefahr, daß der Übergang von der breiten Basis zur schmalen Spitze nicht mehr gewährleistet wäre. Die Bedeutung einer funktionsfähigen Revisionsinstanz für das geltende Recht ist aber unbestritten. Die Überlegung zeigt, daß die Streichung der Berufungsinstanz ein grundsätzlich falscher Ansatz wäre. Kürzungen und Sparmaßnahmen in der Ziviljustiz müßten vielmehr alles daran setzen, die Zahl der erstinstanzlichen Eingänge zu senken.

21 Die hier genannte Aufgliederung der Zwecke der Berufung folgt einem Vorschlag von Leipold, in : Rechtsmittel im Zivilprozeß, 1985, S. 289.

Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts

4· Verfassungsrechtliche

471

Aspekte

Die diskutierten Aspekte der Streichung der Berufungsinstanz, sei es gegen Entscheidungen der Amtsgerichte oder der Landgerichte (oder beide), würde dazu führen, daß in über 99% aller Verfahren nur eine Instanz zur Verfügung stünde. Dies wirft zwar die bereits geschilderten verfahrensmäßigen Bedenken der Zweckmäßigkeit und Sachgerechtigkeit auf, erscheint aber verfassungsrechtlich unbedenklich. Denn es gilt der vielzitierte Satz, wonach das Grundgesetz zwar den Zugang zu Gericht (also das Bestehen einer Instanz), aber keinen Instanzenzug gewährleistet 22 . Die ständige ungeprüfte Wiederholung dieses Satzes täuscht freilich über den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion hinweg. Die Zahl derer, die diesem Satz widersprechen, wird nämlich zunehmend größer 23 . Hinzu kommt, daß die Relevanz und die Bedeutung dieses Satzes bisher nur an Randfragen zu messen war. Schließlich bezweifelt niemand ernstlich, daß es dem Gesetzgeber möglich ist, in gewissen Ausnahmefällen nur eine einzige Instanz vorzusehen, so ζ. B. im Falle der erstinstanzlichen Entscheidung eines Obergerichts oder sogar eines obersten Bundesgerichts. Im Extremfall kann hier das Bundesverfassungsgericht selbst als Beispiel dienen. Niemand wird geltend machen, daß gegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ein Rechtsmittel zulässig sein müsse. Nicht anders ist die Situation in Bagatellstreitigkeiten und im Rahmen einer vertretbaren Berufungssumme zu sehen. Die auch hier jeweils abgeschnittenen Rechtsmittel sind verfassungsrechtlich und nach der Verfahrensteleologie hinzunehmen. Diesen Fällen gegenüber steht aber der Typus eines Normalprozesses, bei dem in den vergangenen 100 Jahren im deutschen Recht immer zumindest eine zweite Instanz selbstverständlich eröffnet war. Hinzu kommt, daß dieser Normalprozeß in allen Verfahrensarten in erster Instanz regelmäßig vor einem Kollegialgericht abgewickelt wurde. Die generelle Abschaffung der zweiten Instanz und die weitgehende Einfüh22 BVerfGE 1, 433, 437: 49, 329, 343 ; 83, 24, 31; 87, 48, 61 ; BVerfG, N J W - R R 1993, 253. 23 Vgl. Gilles, Ziviljustiz und Rechtsmittelproblematik, 1992, S. 117 f f . ; Bethge, N J W 1991, 2391 ; Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 187 ff., 241 f f . ; Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie, 1973, S. 101; Klamaris, Festschrift f ü r Schwab, 1990, 275; Vokuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 255 f f - ; Buermeyer, Rechtsschutzgarantie und Gerichtsverfahrensrecht, 1975, S. 95; vgl. auch Prutting, AnwBl. 1991, 609.

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rung des Einzelrichtersystems würde hier also zu einer doppelten, auch verfassungsrechtlich unerträglichen Rechtsschutzlücke führen24. Hier ist nicht der Ort, die verfassungsrechtlichen Aspekte und Gründe im einzelnen zu diskutieren, die das Bestehen einer zweiten Instanz (sei es Rechtsinstanz oder Tatsacheninstanz) verfassungsrechtlich garantieren können. Zu nennen ist immerhin der Aspekt, daß eine zweite Instanz nach mehrfach vertretener Ansicht sich aus dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes ergibt25. Manchmal wird auch aus dem Gesichtspunkt von Art. 3 Abs. 1 GG das verfassungsrechtliche Gebot eines Instanzenzuges entnommen26. Schließlich wird in neuester Zeit die Kontrolle des Richters als ein verfassungsrechtliches Gebot unabhängiger richterlicher Entscheidung angesehen. Aus Art. 19 Abs. 4 GG wird damit eine Art sekundärer Kontrollanspruch gegen Gerichtsentscheidungen abgeleitet27. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit dieser Frage beschäftigen, bisher regelmäßig Fallgestaltungen zu entscheiden hatten, die zweifellos nicht den Normalfall eines mindestens zweiinstanzlichen Verfahrens betrafen. Prüft man diese Entscheidungen unter den hier dargelegten Aspekten näher, so zeigt sich, daß das Bundesverfassungsgericht in der Regel die Richtigkeitsgewähr erstinstanzlicher Entscheidungen und die besondere Kompetenz des jeweiligen Spruchkörpers betont und hervorhebt, wenn es sich zum Ausschluß eines Rechtsmittels geäußert hat28. Ohne die verfassungsrechtliche Problematik an dieser Stelle zu vertiefen, sei die These gewagt, daß ein genereller Ausschluß einer zweiten Instanz für alle oder nahezu alle Zivilverfahren jedenfalls dann gegen Art. 19 Abs. 4 GG und das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verstößt, wenn die zur alleinigen Entscheidung berufene erste Instanz in erheblichem Umfang der Einzelrichter ist.

24 Vgl. Schuschke, Z R P 1995, 211; Lindemann, ZRP 1989, 41; Voßkuhle, N J W 1995, 1384. 25 Vgl. dazu Gilles, JZ 1985, 260; Bethge, N J W 1991, 2394 ; Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie, 1973, S. 10126 Vgl. Bethge, N J W 1991, 2397 ; Schumann, i n : Gilles/Röhl/Schuster/Strempel, Rechtsmittel im Zivilprozeß, 1985, S. 269. 27 Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Rechter, 1993, S. 298 f f . ; ders., N J W 1995, 1383. 28 Vgl. etwa BVerfGE 4, 212 ; 8, 182 ; 54, 291; 58, 231; 65, 95; 71, 292.

Grundsatzfragen des deutschen Rechtsmittelrechts

IV. Gegenläufige

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Tendenzen

Nur kurz hingewiesen werden kann abschließend noch darauf, daß jeder Versuch des Gesetzgebers, den Instanzenzug zu beschränken, in der Praxis der Gerichte dazu führt, daß im Einzelfall vom Gesetz nicht vorgesehene Rechtsmittel und Rechtsbehelfe konstruiert wurden, um auf Kosten der Rechtssicherheit die materielle Einzelfallgerechtigkeit durchzusetzen. Es kann die These gewagt werden, daß die richterrechtliche Eröffnung neuer Rechtsmittelzüge um so intensiver festzustellen ist, je rigider der Gesetzgeber eine Beschränkung versucht. Dafür gibt es schon in der Vergangenheit eine Fülle von Beispielen, die weit über die Entscheidung von Einzelfällen hinausgreifen. So wurde etwa immer wieder versucht, mit einer analogen Anwendung von § 513 Abs. 2 ZPO an sich unangreifbare Entscheidungen der ersten Instanz anzufechten, z.B. Entscheidungen im schriftlichen Verfahren nach § 128 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO oder Verfahren, bei denen gegen § 283 ZPO verstoßen worden war oder auch Verfahren nach § 495a ZPO29. Hinzuweisen ist ferner auf die Entwicklung einer außerordentlichen Beschwerde bei "greifbarer Gesetzwidrigkeit". Hier wird ganz bewußt ein neuer Rechtszug gegen unanfechtbare Beschlüsse eröffnet, wenn dem angegriffenen Beschluß die gesetzliche Grundlage fehlt30. Zu nennen ist hier ferner die ständige Rechtsprechung zur Durchbrechung der Rechtskraft gemäß § 826 BGB31. Schließlich gehört in diesen Kontext auch die extreme Zunahme der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gegen Urteile der Fachgerichte. Entgegen der vom Bundesverfassungsgericht immer wieder betonten Leitlinie, es wolle keine „Superrevisionsinstanz" sein, hat sich das Bundesverfassungsgericht gerade in jüngerer Zeit bekanntlich in die Rolle eines „höchsten Amtsgerichts in Mietsachen" begeben und ebenso ist es zu einer „Mega-Berufung in Asylsachen" geworden. Weiterhin festzustellen ist die Tendenz, bei Ver29 Vgl. e t w a LG F r a n k f u r t , N J W 1985, 1171; LG D o r t m u n d , N J W 1986, 2959 ; LG Z w e i b r ü c k e n , JZ 1989, 50 ; LG H a n n o v e r , N J W - R R 1989, 382 ; LG Essen, N J W - R R 1993, 576 ; LG Mainz, N J W - R R 1993, 128. 30 BGH, N J W 1993, 135 ; u m f a s s e n d Schmidthals, Die g r e i f b a r e Gesetzwidrigkeit, Diss. jur. Köln 1992. 31 U m f a s s e n d hierzu Prutting/ Weth, R e c h t s k r a f t d u r c h b r e c h u n g bei unrichtigen T i t e l n , 2. Aufl. 1994.

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stoßen gegen das rechtliche Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG neue Rechtsmittelzüge richterrechtlich zu entwickeln. Typisches Beispiel ist hier die Erweiterung des § 568 Abs. 2 ZPO32, die Konstruktion einer außerordentlichen Beschwerde und die Gegenvorstellung. Zuletzt hat z. B. ein Gericht die Erweiterung des an sich nicht eröffneten Instanzenzuges ohne jede besondere Begründung allein auf Art. 103 Abs. 1 GG gestüzt33. Mit allen diesen Maßnahmen wird nicht nur die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit betont, es wird in einer systematischen Weise auf verfahrensrechtlichem Wege eine Kontrollinstanz eingerichtet, die der Gesetzgeber nicht vorgesehen hat. Dieses Verfahren schafft nicht nur hohe Rechtsunsicherheit, es macht auch deutlich, welchen verfassungsrechtlich abgesicherten Stellenwert das Bestehen einer richterlichen Kontrollinstanz für das „Normalverfahren" hat.

V. Fazit Die hier vorgestellten Überlegungen haben versucht, die in jüngster Zeit verstärkt erhobenen Forderungen nach starker Beschränkung oder völliger Abschaffung von Rechtsmitteln im deutschen Recht auf ihre strukturellen Auswirkungen im Hinblick auf den Zweck der Rechtsmittel, die Bedeutung des gesamten Rechtsmittelsystems und schließlich die Verfassungsmäßigkeit solcher Änderungen hin näher zu prüfen. Das Ergebnis zeigt, daß eine generelle Streichung einer Rechtsmittelinstanz aus vielfältigen Gründen nicht möglich und nicht sinnvoll wäre. Mit einem solchen Versuch der Rechtsmittelbeschränkung würde man „das Pferd beim Schwanz aufzäumen". Sinnvolle Maßnahmen zur Entlastung der Justiz müssen bei den Eingangszahlen in erster Instanz beginnen. Hier wäre das materielle Recht ebenso gefragt wie ein System intensiver Streitvermeidung und außergerichtlicher Streitschlichtung. Weiterhin hat sich gezeigt, daß der Instanzenzug im deutschen Recht aufgrund der großen Eingangszahlen erster Instanz notwendigerweise dem Gedanken eines pyramidenartigen Aufbaus verpflichtet ist. Das bedeutet, daß zwischen den in erster Instanz behandelten Eingängen von 32 BVerfGE 49, 255. 33 Vgl. AG Wiesbaden, N J W - R R 1995, 702.

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über 2 Millionen im Jahr und der notwendigerweise extrem eng beschränkten Kapazitität des BGH ein gewisser Filter als Mittelinstanz zwingend erforderlich ist. Der vielzitierte Satz, wonach die Verfassung keinen Instanzenzug garantiert, ist in dieser allgemeinen Form unrichtig und schwerlich haltbar. Auch deshalb verbietet sich die totale Abschaffung einer Rechtsmittelinstanz. Vielmehr dürfte es den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen, daß im Normalfall als Mindeststandard entweder eine echte richterliche Kontrollinstanz eröffnet ist oder daß eine im Einzelfall unanfechtbare erstinstanzliche Entscheidung jedenfalls von einem Kollegialgericht mit mehreren Berufsrichtern und unter besonderer Betonung tatsächlicher und rechtlicher Richtigkeitsgewähr erlassen ist.

Rechtssicherheit, Entscheidungsharmonie und Bindung an Vorfrageentscheidungen Überlegungen zu den objektiven Grenzen der Rechtskraft im österreichischen Zivilprozeßrecht

von

Prof. Dr. Walter H. Rechberger

Wien

ord. Universitätsprofessor an der Universität Wien

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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung II. Die Vorfrage als „Unterbau" der Hauptfrage III. Die Relevanz von Vorfrageentscheidungen über Rechtsverhältnisse, die „als Ganzes" Gegenstand der Vorentscheidung waren IV. Resümee

Rechtssicherheit, Entscheidungsharmonie und Bindung an Vorfrageentscheidungen

I.

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Einleitung

Die Bestimmung der objektiven Grenzen der Rechtskraft zählt zu den „Dauerbrennern" der Prozeßrechtsdogmatik im deutschsprachigen Raum. Insbesondere die Frage nach einer etwaigen Erweiterung dieser Grenzen durch eine Bindung nicht nur an den Spruch des Urteils, sondern auch an die in die Entscheidungsgründe aufgenommenen Vorfrageentscheidungen war vor allem seit der legendären Schrift Zeuners „Die objektiven Grenzen der Rechtskraft im Rahmen rechtlicher Sinnzusammenhänge" aus 1959 das Thema zahlloser fachjuristischer Diskussionen. Es gibt wohl kaum einen Prozeßrechtslehrer, den die geradezu suggestive Strahlkraft dieser Lehre nicht in irgendeinem Stadium seiner wissenschaftlichen Laufbahn in ihren Bann gezogen hätte. Freilich ist es in Österreich ebenso wie in Deutschland dabei geblieben, daß die hM weiterhin grundsätzlich bloß dem Spruch des Urteils Rechtskraftwirkung zuerkennt 1 — und das aus gutem Grund! Aus österreichischer Sicht sind dabei vor allem zwei Aspekte der dogmatischen Entwicklung hervorzuheben: Zum einen die Lehre Winfried Kraliks von der sogenannten „Vorfragenkette", eine originelle und durchaus überzeugende Theorie, die gerade in den letzten Jahren — fast ein Menschenalter nach ihrer Entwicklung — vermehrt Zustimmung in der österreichischen Lehre gefunden hat.2 Zweitens ist auf eine neuere Judikaturlinie des österreichischen Obersten Gerichthofs hinzuweisen, die — ohne klares dogmatisches Profil in Verwirklichung einer Art „Vulgata" der Zeunerschen Lehre (freilich ohne auf diesen bedeutenden Prozessualisten zu rekurrieren) — in den letzten Jahren die Bindungswirkung des Zivilurteils immer häufiger auch auf Vorfrageentscheidungen erstreckte, wenn und sofern dies im Einzelfall den Gerechtigkeitserwägungen des Höchstgerichtes entsprach. Es nimmt nicht wunder, daß diese Rechtsprechung von seiten der Lehre heftiger Kritik unterzogen wurde.3

1 Rechberger in Rechberger Rz 10 Zu § 411 ZPO mwN. 2 Vgl unten 2. 3 Vgl dazu unten 3.

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II. Die Vorfrage als „Unterbau"

der

Hauptfrage

Kralik weist in seiner 1953 im Druck erschienenen Habilitationsschrift „Die Vorfrage im Verfahrensrecht" darauf hin, daß — vergleicht man den Prozeß richterlicher Urteilsfindung mit sonstigen (psychologischen) Abläufen bei der Überzeugungsfindung — die objektiven Grenzen der Feststellungswirkung „gewaltsame Einschränkungen der natürlichen Wirkung der Überzeugung" darstellen; sie seien aber die notwendige Folge der Kompetenzverteilung im Staat. Vor diesem Hintergrund dürften die objektiven Grenzen der Feststellungswirkung jedoch nicht enger gezogen werden, als dies unbedingt erforderlich ist. Insbesondere sei es widersinnig, überall dort, wo der Spruch einer Entscheidung Bindungswirkung entfaltet, nicht auch von einer Bindungswirkung der diesen Spruch tragenden Vorfrageentscheidungen auszugehen. Die „Kette" von den Vorfrageentscheidungen zur Entscheidung der Hauptfrage hin, diese Einheit, die die Lösung der Hauptfrage erst verständlich mache, dürfe nicht gesprengt werden. Drastisch und anschaulich spricht Kralik davon, diese Einheit dürfe nicht plötzlich zerschlagen werden, „indem man den Kopf, die Lösung der Hauptfrage, von seinem körperlichen Unterbau, der Lösung der Vorfragen, trennt," weil „damit im entscheidenden Stadium nichts übrig bleibt als eine zerstückelte Leiche". Von dieser solcherart markant dargestellten Einsicht ausgehend, kommt Kralik zum Ergebnis, der Vorfrageentscheidung könne zwar im allgemeinen keine Feststellungswirkung zukommen; es erscheine jedoch richtig, einen Mittelweg zu beschreiten und zu sagen, daß die Lösung der Vorfrage relativ, nämlich im Verhältnis zur Hauptfrage von der Feststellungswirkung erfaßt werde. Mit anderen Worten: Immer, aber auch nur dort, wo die Hauptfrageentscheidung eines Verfahrens Bindungswirkung zeitigt, wirken auch die diese Hauptfrageentscheidung bedingenden Vorfrageentscheidungen materielle Rechtskraft, die Hauptfrage ist samt ihren Vorfragen bindend festgestellt. 4 5 4 Kralik, Die V o r f r a g e im Verfahrensrecht (1953) 117 f. 5 Vgl in jüngster Zeit zustimmend Rechberger/Simotta, Grundriß des österreichischen Zivilprozeßrechts 4 (1994) Rz 702; Rechberger in Rechberger Rz 9 zu § 411 ZPO; Oberhammer, Aufrechnung mit Forderungen auf Rückzahlung von verbotenen Leistungen und Entgelten im streitigen Verfahren, WoBl 1994, 208 f.

Rechtssicherheit, Entscheidungsharmonie und Bindung an Vorfrageentscheidungen

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So überzeugend diese Lehre von ihrem theoretischen Ansatz her erscheint, so schwer ist es, praktische Beispiele für sie zu finden; in der Tat ist ihr Anwendungsbereich auf eine geringe Zahl von Fällen beschränkt. Zurecht hat jedoch Oberhammer jüngst darauf hingewiesen, daß diese Lehre in ihren wenn auch seltenen Anwendungsfällen jene Einheit rechtlicher Sinnzusammenhänge wiederherzustellen vermag, die durch ein isoliertes Abstellen auf die Bindungswirkung des Tenors zerstört würde, ohne dabei dem Trugschluß einer allgemeinen Bindung an Vorfrageentscheidungen zu erliegen.6 Wenn mit Hilfe der hA zu den objektiven Grenzen der Bindungswirkung schon keine einheitliche Beurteilung rechtlicher Sinnzusammenhänge in verschiedenen Verfahren erreicht werden kann, so sollten diese Sinnzusammenhänge wenigstens nicht innerhalb eines Verfahrens zerrissen werden, was der Idee prozessualer Gerechtigkeit wohl in besonderem Maße zuwiderliefe. Im übrigen hat Oberhammer auch ein Beispiel dafür geboten, wie in einem praktischen Anwendungsfall unter Zuhilfenahme der Lehre Kraliks ein ansonsten auftretendes massives Gerechtigkeitsdefizit behoben werden kann: Gemäß § 33 Abs 2 des österreichischen Mietrechtsgesetzes (MRG) kann ein Mieter, der wegen eines Mietzinsrückstandes mit einer gerichtlichen Aufkündigung oder einer Räumungsklage nach §1118 ABGB belangt wurde, im anhängigen Zivilprozeß über diese gerichtliche Aufkündigung bzw Räumungsklage den Antrag stellen, das Gericht möge mit (deklaratorischem, bloß innerprozessual bindendem) Beschluß feststellen, in welcher Höhe rückständige Mietzinse geschuldet werden, um dann durch Bezahlung des solcherart festgestellten Betrages vor Schluß der mündlichen Verhandlung die Kündigung bzw Räumungsklage abzuwehren. Nach wohl richtiger Ansicht kann sich der Mieter des Mietzinsrückstandes auch durch eine Kompensationserklärung mit einer Forderung, die ihm gegen den Vermieter zusteht, entledigen. Hat er diese Kompensation vor Fällung des Beschlusses nach § 33 Abs 2 MRG erklärt, so hat das Gericht in dem Beschluß festzustellen, daß ein Mietzinsrückstand nach Maßgabe des Erlöschens der Schuld durch die Kompensation nicht mehr besteht. Erfolgt die Kompensationserklärung erst nach Feststellung des Mietzinsrückstandes durch den genannten Beschluß, so ist sie als nachträgliche Zahlung des Mietzinses iS dieser Gesetzesstelle zu werten und führt ebenfalls zur Abweisung der gerichtlichen Aufkün-

6 Oberhammer,

W o B l 1994, 209 F N 39.

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digung bzw Räumungsklage. 7 Problematisch ist die Situation dann, wenn der Mieter die Kompensation vor Fällung des Beschlusses nach § 33 Abs 2 MRG erklärt, es jedoch unterlassen hat, rechtzeitig das dadurch erfolgte Erlöschen des Mietzinsrückstandes vorzubringen. Durch die innerprozessuale Präklusionswirkung der bindenden Feststellung des Mietzinsrückstandes kann sich der Mieter nun nachträglich nicht mehr auf die erfolgte Kompensation berufen. Aus advokatorischer Sicht erschiene es nun naheliegend, dem Mieter zu raten, nach Fällung des Beschlusses die Kompensation neuerlich zu erklären und sich dann darauf zu berufen, daß durch diese der festgestellte Mietzinsrückstand erloschen sei. Dagegen könnte nun aber vom Vermieter eingewendet werden, daß es ja tatsächlich schon zu einer Kompensation gekommen und damit jedenfalls die Forderung des Mieters gegen den Vermieter, mit der er nun nochmals aufrechnen möchte, erloschen sei! Diese wäre die logische Konsequenz daraus, daß der Vermieter hinsichtlich der Aufrechnung durch die innerprozessuale Feststellungswirkung des Beschlusses nach § 33 Abs 2 MRG nicht präkludiert sein kann, da ihn im Verfahren zur Fällung dieses Beschlusses keinerlei Last getroffen hat, die etwa erfolgte Aufrechnung vorzubringen. Damit stünde nun aber der Mieter vor dem Dilemma, daß er sich auf die erfolgte Kompensation vor Fällung des Beschlusses nach § 33 Abs 2 MRG nicht berufen darf, weil er diesbezüglich — zu Recht! — durch die innerprozessuale Wirkung dieses Beschlusses präkludiert ist, seine Forderung, mit der er dazumal kompensiert hat, jedoch im fortgesetzten Verfahren gerade aufgrund der erfolgten Kompensation im Verhältnis zum Vermieter als erloschen anzusehen ist, und er daher keine neuerliche Aufrechnung erklären kann. In Anwendung der Lehre Kraliks kommt Oberhammer nunmehr zu dem im interessierenden Zusammenhang wohl einzig sachgerechten Ergebnis, daß der Vermieter, der sich im fortgesetzten Verfahren auf die innerprozessuale Bindungswirkung des Beschlusses nach § 33 Abs 2 MRG berufen darf, sich aber nun nicht mehr darauf berufen kann, daß es zu einer Kompensation vor Fällung dieses Beschlusses gekommen ist. Es stellt nämlich (gedanklich) eine logische Voraussetzung, also eine Vorfrage, für die beschlußmäßige Feststellung, daß ein bestimmter Mietzinsrückstand bestehe, dar, daß es gerade zu keiner Erfüllung des Mietzinsrückstandes — hier durch Kompensation — gekommen ist. IS der Lehre Kraliks kann 7 Voraussetzung dafür ist nach der genannten Gesetzesbestimmung freilich immer, daß den Mieter an der Entstehung des Mietzinsrückstandes kein grobes Verschulden getroffen hat!

Rechtssicherheit, Entscheidungsharmonie und Bindung an Vorfrageentscheidungen

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im fortgesetzten Verfahren nichts vorgebracht werden, was im logischen Widerspruch zu den logischen Voraussetzungen dieses Beschlusses steht, weil diesbezüglich auch die Vorfrageentscheidung Bindungswirkung zeitigt.8

III. Die Relevanz von Vorfrageentscheidungen über Rechtsverhältnisse, die „als Ganzes" Gegenstand Vorentscheidung waren

der

Wie bereits erwähnt, entspricht es der in Österreich hA, daß nur der Spruch einer Vorentscheidung in Rechtskraft erwächst. Auch die Rsp geht grundsätzlich von einer Feststellungswirkung nur in Ansehung des Tenors des Zivilurteiles aus; gerade in den letzten Jahren gewinnt aber eine Judikaturlinie an Boden, in der diese dogmatische Kontur zusehends verwischt wird. Der Oberste Gerichtshof hat in einer Reihe von Fällen die Bindungswirkung auch auf Entscheidungselemente und Vorfrageentscheidungen ausgedehnt, ohne seinen Überlegungen durch die Herausarbeitung von Fallgruppen dogmatisches Profil zu verleihen, in denen eine solche Einschränkung des Grundsatzes, wonach nur der Spruch Bindungswirkung zeitigt, gerechtfertigt wäre. Im Gegenteil: Die gleich zu referierende Entscheidungspraxis des Höchstgerichtes stellt ein besonders markantes Beispiel dafür dar, daß Gerichte — abgehoben von der lex lata und objektiv vermittelbaren Argumentationsmustern — in einer Art „Textbausteintechnik" zu ihren Entscheidungen gelangen, indem sie durch die Aneinanderreihung gleichbleibender Stehsätze und Leerformeln den Anschein von Argumentationstopoi zu vermitteltn suchen. Ein Schulbeispiel dieser Argumentationstechnik findet sich in 3 Ob 52/ 939: Schon in einer Reihe von Vorentscheidungen hatte das Höchstgericht die objektiven Grenzen der Bindungswirkung unter Hinweis darauf ausgedehnt, daß im konkreten Einzelfall „Rechtssicherheit und Entscheidungsharmonie" keine einander widersprechenden Entscheidungen gestatten würden.10 In der genannten Entscheidung hatte der OGH über 8 Näheres bei Oberhammer, WoBl 1994, 208 f. 9 JB1 1994, 482 (krit Frauenberger). 10 MietSlg 22.618; ähnlich RZ 1977/49 = MietSlg 28. 603; vgl auch SZ 55/74; RZ 1980/ 31; JB1 1980, 541; kritisch zu dieser Tendenz schon Rechberger in Rechberger Rz 10 zu § 411 ZPO.

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einen Fall zu befinden, in dem über einen Teilbetrag eines Anwaltshonorars ein vollstreckbarer Notariatsakt errichtet worden war. Der Rechtsanwalt klagte daher zunächst nur den nicht in der Notariatsurkunde verkörperten, „überschießenden" Teilbetrag ein. In der Folge brachte indes der Schuldner eine Oppositionsklage (§ 35 EO) mit dem Ziel der Einstellung der Exekution aus dem vollstreckbaren Notariatsakt ein; er brachte dazu vor, es seien Leistungen überhöht verrechnet oder gar nicht erbracht worden, manche Leistungen seien zwecklos oder mangelhaft gewesen. Der Oberste Gerichtshof kam hier zum Ergebnis, daß durch das Urteil, mit dem aufgrund der Klage des Rechtsanwaltes der Bestand des (geringeren) „überschießenden" Betrages festgestellt worden war, auch bindend festgestellt sei, daß der nunmehrige Oppositionskläger den „Sockelbetrag" schulde. Er führte dazu aus, der Rechtsanwalt habe in seiner ursprünglichen Leistungsklage seinen gesamten Η onorar anspruch abgerechnet. Das zwischen den Parteien bestandene Rechtsverhältnis sei „als Ganzes" Entscheidungsgegenstand gewesen; die aus diesem Rechtsverhältnis ohne Sachverhaltsänderung abgeleiteten Folgerungen bildeten nunmehr den Gegenstand der Entscheidung im Verfahren über die Oppositionsklage. Es sei logisch miteinander nicht vereinbar, im Folgeprozeß davon auszugehen, daß der Honoraranspruch des Beklagten insgesamt nicht höher sei als der im Vorprozeß zuerkannte Betrag, wenn dort geprüft worden sei, wie hoch der den „Sockelbetrag" übersteigende Anspruch des nunmehrigen Oppositionsbeklagten sei. Beide Verfahren — und hier sind wir bei der oben angeführten „textbausteinhaften" Stehsatz -Argumentation des Höchstgerichtes angelangt — stünden nämlich in einem so engen inhaltlichen Zusammenhang, daß die gebotene Rechtssicherheit und Entscheidungsharmonie die widersprechende Beantwortung ein- und derselben in beiden Fällen zu entscheidenden Rechtsfrage nicht gestatte. Es kann durchaus in Zweifel gezogen werden, ob die Einklagung eines bloß „überschießenden" Teilbetrages ohne gleichzeitige urteilsmäßige Feststellung des „Sockelbetrages" überhaupt zulässig ist." Geht man mit dem OGH aber grundsätzlich von der Zulässigkeit einer solchen Klage aus, so ist das Ergebnis, daß durch die Verurteilung zur Leistung des „überschießenden" Betrages auch eine Feststellung des Gesamtbetrages erfolgt, nachvollziehbar. Es kann aber keineswegs aus der vom OGH gewählten Argumentation gefolgert werden, sondern nur daraus, daß 11 Vgl dazu Oberhammer, JB1 1995, 460 (Entscheidungsanmerkung).

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die Einklagung eines bloß „überschießenden" Betrages logisch auch ein Begehren auf Feststellung des Gesamtbetrages in sich schließen muß.12 Freilich müßte eine solche Klage dann aber mit dem Gesamtbetrag bewertet werden, was insbesondere wesentliche Konsequenzen für die Rechtsmittelzulässigkeit hätte. Die Begründung des Obersten Gerichtshofes ist auf massive Kritik gestoßen: Das Postulat der „Rechtssicherheit und Entscheidungsharmonie" gibt überhaupt kein Argument für die Ausdehnung der objektiven Grenzen der Bindungswirkung über den Spruch des Zivilurteils hinaus ab. Schon der Umstand, daß die österreichische ZPO mit dem Zwischenantrag auf Feststellung ein Institut kennt, das —- ausnahmsweise! — die Möglichkeit einer rechtskraftfähigen Feststellung von Vorfragen ermöglicht, erlaubt den Umkehrschluß, daß dem eben ansonsten nicht so ist. Zudem steht die gegenteilige Auffassung auch in offenem Widerspruch zu § 411 ZPO (Rechtskraft des Urteils), wenn diese Bestimmung ausführt, Urteile seien der Rechtskraft insoweit teilhaft, als in dem Urteil über den durch die Klage geltend gemachten Anspruch entschieden ist. Aufgrund der im Zivilprozeß herrschenden Dispositionsmaxime hat das Gericht nur über den vom Kläger behaupteten Anspruch zu entscheiden (§ 405 ZPO); eine Erstreckung der Bindungswirkung auf Vorfrageentscheidungen, hinsichtlich derer eine urteilsmäßige Feststellung gar nicht beantragt war, nötigt damit den Parteien eine Entscheidung auf, die sie gar nicht angestrebt bzw bedacht haben.13 Besonders bedenklich und inhaltsleer erscheint zudem die Aussage des OGH, eine Feststellungswirkung von Vorfrageentscheidungen komme dann in Betracht, wenn ein bestimmtes Rechtsverhältnis „als Ganzes" Gegenstand der Entscheidung im ersten Prozeß war. Oberhammer hat treffend darauf hingewiesen, daß das einzige Rechtsverhältnis, das „als Ganzes" Gegenstand des Vorprozesses ist, immer nur der mit der Klage geltend gemachte Anspruch iS von § 411 ZPO ist; es könne für die Präjudizialität nicht darauf ankommen, meint er pointiert, ob über eine bestimmte Frage in einem Vorprozeß „von Herzen, mit Schmerzen, ein bißchen, ein wenig, fast gar nicht oder überhaupt nicht gestritten worden ist".14 12 So Oberhammer, JB1 1995, 460 (Entscheidungsanmerkung); aA aber Frauenberger, JB1 1994, 483 ff (Entscheidungsanmerkung). 13 Vgl Frauenberger, JB1 1994, 483 ff (Entscheidungsanmerkung); Oberhammer, JB1 1995, 461 (Entscheidungsanmerkung). 14 Oberhammer, JB1 1995, 461 (Entscheidungsanmerkung).

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Wie weit sich der OGH in diesem Zusammenhang von dogmatisch klar erfaßbaren Argumentationsmustern entfernt hat, wird deutlich, wenn er in einer jüngst ergangenen Entscheidung15 davon spricht, die oben skizzierte Ausdehnung der Bindungswirkung auf Vorfrageentscheidungen sei nicht ein Fall der Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft, sondern vielmehr „ein Sonderfall der Präjudizialität". 16 Wie sorglos das Höchstgericht mit dem Gegenstand der Feststellungswirkung umgeht, sei zuletzt anhand einer anderen Entscheidung vor Augen geführt, die in der Literatur viel Staub aufgewirbelt hat: In 3 Ob 511/9417 hat der OGH — nachdem das Höchstgericht in dieser Frage lange Zeit schwankend war — ausgesprochen, daß eine Person, der der Streit verkündet wird, damit sie dem Verfahren zwischen den Hauptparteien als einfacher Nebenintervenient beitreten kann, von der Bindungswirkung des gegen die Hauptpartei ergangenen Urteils erfaßt wird, und zwar auch dann, wenn sie dem Verfahren nicht beigetreten ist.18 In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, daß der österreichischen Zivilprozeßordnung eine eigene „Interventionswirkung" iS von § 68 dZPO unbekannt ist, ja noch mehr: Der Gesetzgeber der öZPO, der viele Bestimmungen und ganze Passagen des deutschen Gesetzes übernahm, hat dieses Institut nicht „importiert", obwohl es ihm bekannt und ohne Zweifel ins gesetzgeberische Kalkül gezogen worden war. Die ganz einhellige österreichische Prozeßrechtslehre hat aus diesem und einer Reihe von anderen Gründen die Bindungswirkung gegenüber dem einfachen Nebenintervenienten seit jeher verneint,19 15 9 Ob 510/95, JB1 1995, 458. 16 Gerade in dieser Entscheidung hat sich der neunte Senat des OGH freilich merklich von diesem Ansatz distanziert: Er hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem im Vorprozeß der Kläger vom Beklagten die Entfernung einer Maschinenanlage von seiner Liegenschaft verlangt hatte, in dem er ausführte, diese sei das Eigentum des Beklagten. Diese Klage wurde abgewiesen, wobei in den Entscheidungsgründen festgestellt wurde, daß zwischen den Parteien ein Kaufvertrag geschlossen wurde, aufgrund dessen der Kläger Eigentum an der Maschinenanlage erworben habe. Im Folgeprozeß klagte nun der Verkäufer den Kaufpreis ein; der Käufer wendete wiederum ein, daß ein Kaufvertrag nicht existiere. Entgegen der Rechtsmeinung des Erst- und Berufungsgerichtes kam der neunte Senat des OGH zum richtigen Ergebnis, daß hier von einer Bindung an die Vorfrageentscheidung, ob ein Kaufvertrag vorliege, nicht die Rede sein könne (vgl zu dieser Entscheidung ausführlich Oberhammer, JB1 1995, 459 ff [Entscheidungsanmerkung]). 17 EvBl 1995/52 = JB1 1995, 113 = ecolex 1995, 400; vgl zu dieser Entscheidung krit Klicka, Wirkungen der Streitverkündung und Nebenintervention, ecolex 1995, 397. 18 Vgl noch skeptisch dazu JB1 1993, 119 = ecolex 1992, 19. 19 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 404, 415, 695; Rechberger/Simotta, Zivilprozeßrecht 4 Rz

Rechtssicherheit, Entscheidungsharmonie und Bindung an Vorfrageentscheidungen

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Im vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem ein Aspekt an dieser grundlegend verfehlten Entscheidung: Klicka hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Annahme einer Bindungswirkung gegenüber dem einfachen Nebenintervenienten — anders als dies ansonsten der hA entspricht — die Annahme einer Bindungswirkung in Ansehung der Vorfrageentscheidung voraussetzt, da die Entscheidung in der Hauptsache den einfachen Nebenintervenienten ja schon definitionsgemäß nicht erfaßt (§ 20 ZPO) .20 Der OGH hält dem entgegen, daß es in der Konstellation, über die er im Anlaßfall zu befinden hatte, ohnedies nur um eine Bindung an den Tenor des Urteils gehe. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf den einschlägigen Sachverhalt: Ein Werkunternehmer hatte den Werkbesteller auf Zahlung des Werklohnes geklagt, dieser hatte eingewendet, daß ein Teil der Werkleistung mangelhaft erbracht worden sei. Gerade der angeblich mangelhafte Teil des Werkes war jedoch von einem vom Werkunternehmer beauftragten Subunternehmer hergestellt worden. Im Gefolge der Einwendung des Werkbestellers hatte der Werkunternehmer dem Subunternehmer den Streit verkündet, der Subunternehmer hatte sich jedoch am Prozeß nicht beteiligt. Im Folgeprozeß wollte sich nun der Werkunternehmer am Subunternehmer regressieren, da er mit seiner Werklohnklage zum Teil unterlegen war; der OGH verweigerte dem Subunternehmer nun in diesem Verfahren die Einwendung, daß er seine Werkleistung ordnungsgemäß erbracht habe. Das Höchstgericht ging also in dieser Entscheidung — entgegen seinen eigenen Ausführungen — nicht nur davon aus, daß die Entscheidung einer Vorfrage Bindungswirkung entfalte, sondern mehr noch, daß sogar Tatsachen (!) rechtskräftig festgestellt werden können. Dies steht freilich in offenem Widerspruch zur Bestimmung des § 228 ZPO, wonach (sieht man von der Ausnahme der Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde ab) nur Rechte und Rechtsverhältnisse der rechtskräftigen Fest226; Ballon, Einführung in das österreichische Zivilprozeßrecht" 93; Buchegger/ Deixler/Holzhammer, Praktisches Zivilprozeßrecht4 117; Klicka, Bindungswirkung bei einfacher Nebenintervention und Streitverkündung ? RZ 1990, 2; ders, ecolex 1995, 397; Deixler-Häbner, Die Nebenintervention im Zivilprozeß (1993) 135; Rechberger in Rechberger Rz 4 zu § 234 ZPO; Fucik in Rechberger Rz 3 zu § 21 ZPO; RechbergerI Oberhammer, Das Recht auf Mitwirkung im österreichischen Zivilverfahren im Lichte von Art 6 EMRK, ZZP 106 (1993) 353 ff; Oberhammer, Das Auftragsverfahren in Bestandstreitigkeiten (1992) 178; ders, Richterliche Rechtsgestaltung und rechtliches Gehör (1994) 70; Böhm, ecolex 1992, 19 (Entscheidungsanmerkung) . 20 Klicka, RZ 1990, 2 ff.

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Stellung fähig sind. Was im hier interessierenden Fragenkomplex an dieser Entscheidung aufhorchen läßt, ist der Umstand, daß dem Höchstgericht — gleichlaufend zur mehr oder weniger konturlosen Ausdehnung der objektiven Grenzen der Rechtskraft auf Vorfrageentscheidungen — zusehends die Unterscheidung zwischen Vorfragen und Hauptfragen selbst (und überhaupt das Wissen darüber, was eine feststellungsfähige Rechtsfrage ist) abhandenzukommen scheint. Es darf vermutet werden, daß zwischen der einen und der anderen Entwicklung gewisse inhaltliche Bezüge bestehen.

IV.

Resümee

Schon eingangs ist bemerkt worden, daß der Idee einer Bindung an Vorfrageentscheidungen in den Entscheidungsgründen eine gewisse suggestive Strahlkraft zukommt. In der Tat scheint es in zahlreichen konkreten Einzelfällen so, also ob gerade durch die Annahme einer solchen Bindung der Idee prozessualer Gerechtigkeit besser entsprochen werden könnte als durch ein isoliertes Abstellen auf die Rechtskraftwirkung des Spruches. Unbestreitbar kommt den Entscheidungsgründen auch zur Auslegung des Spruches wesentliche Bedeutung zu, insbesondere bei ab- oder zurückweisenden Entscheidungen („relative Rechtskraftwirkung der Entscheidungsgründe") .2I Die oben referierte Judikatur des österreichischen OGH zeigt jedoch noch viel mehr als die Lehre Zeuners (der dies auch immer wieder vorgehalten wurde), worin die grundlegende Crux eines solchen Ansatzes liegt: Eine grundsätzliche Annahme, wonach Entscheidungsgründe immer in Rechtskraft erwachsen, scheint für das österreichische Zivilprozeßrecht (und wohl auch für den ganzen deutschen Rechtskreis) unvertretbar und würde auch der Sache nicht zum Vorteil gereichen. Sie würde zu unabsehbaren Weiterungen führen, denn letztlich wäre niemals mehr klar, was alles durch eine rechtskräftige Entscheidung festgestellt ist, bedenkt man, welche Vielzahl von Einzelaussagen in umfangreichen Entscheidungsbegründungen getroffen wird. Es erscheint daher jedenfalls notwendig, jene Fälle, in denen — ausnahmsweise — von einer Bindung an Entscheidungsgründe ausgegangen würde, entsprechend abzugrenzen. Gerade das hat jedoch 21 Vgl nur Rechberger/Simotta, Zivilprozeßrecht' Rz 702.

Rechtssicherheit, Entscheidungsharmonie und Bindung an Vorfrageentscheidungen

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mE bis dato noch niemand in befriedigender Weise zu Wege gebracht; insbesondere die oben kritisierte Judikaturlinie des OGH, die letztlich mit reinen Leerformeln arbeitet, stellt die Schwierigkeit einer dogmatisch sauberen Lösung eindrucksvoll unter Beweis. Gerade die materielle Rechtskraft des Zivilurteils ist aber dem Zweck der Schaffung von Rechtssicherheit verpflichtet. Es würde den rechtlichen Ordnungswert der materiellen Rechtskraft und ihrer Feststellungswirkung geradezu konterkarieren, könnten auch sorgfältige und rechtskundige Parteien ex ante — also vor einem Folgeprozeß — niemals mit Sicherheit feststellen, was nun alles von der etwaigen Bindungswirkung eines Vorurteils umfaßt ist, welche Rechtsverhältnisse „als Ganzes" von der Vorentscheidung betroffen waren und welche nicht, ob im vorliegenden Fall der Gerechtigkeitswert „Entscheidungsharmonie" besonders hoch ist oder nicht usw. Der vom österreichischen OGH beschworenen „Rechtssicherheit" ist damit gerade in keiner Weise gedient, dieser Ansatz eröffnet vielmehr ein weites Feld für Spekulationen, was nun Gegenstand eines Folgeverfahrens sein darf und welche Einwendungen abgeschnitten sind. Die Beschränkung der Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft auf den Spruch der Entscheidung mag in vielen Fällen dem Rechtsempfinden des Rechtsanwenders unangemessen erscheinen; zweifellos lassen sich im prozeßtheoretischen Diskurs eine Vielzahl — auch von schwerwiegenden — Argumenten finden, die für eine Ausdehnung der Bindungswirkung auch auf Entscheidungsgründe sprechen. Allein: Eine klare Abgrenzung vermag nur das Abstellen auf den Spruch der Entscheidung zu bieten. Umgekehrt stellt auch der vielbeschworene Grundsatz der „Entscheidungsharmonie", der „Einheit des rechtlichen Staatswillens", des „Gleichlaufs der gerichtlichen Entscheidungstätigkeit" oder wie auch immer dieses Prinzip bezeichnet wurde, keinen absoluten Höchstwert prozessualer Gerechtigkeit dar, steht dieser Grundsatz doch immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Richtigkeitsgewähr zivilgerichtlicher Entscheidungen. Dieses Prinzip kann vielmehr immer nur sub specie „Rechtssicherheit" zu Buche schlagen; aber gerade der Boden dieser Rechtssicherheit wird in bedenklicher Weise verlassen, wenn man die objektiven Grenzen der Bindungswirkung nach der Methode der Einzelfallgerechtigkeit ermitteln will.

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung von

Prof. Dr. Haimo Schack, LL.M. (Berkeley)

Kiel

Professor an der Universität zu Kiel, Direktor des Instituts für Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht

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Inhaltsverzeichnis

I. Entwicklung in ausgewählten Rechtsordnungen 1. Deutschland 2. Österreich 3. USA 4. Japan II. Völkerrechtliche Schranken? III. Zusätzliche Inlandsbeziehung? IV. Kriterien 1. Personale Kriterien 2. Streitgegenstandsbezogene Kriterien 3 . Vermögensbelegenheit als Kriterium 4. Rechtliche Kriterien V. Auswirkungen und Fazit

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

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In den letzten 20 Jahren ist es zunehmend üblich geworden, darüber zu streiten, wo man streiten darf. War früher die internationale Zuständigkeit recht starr an die örtliche gekoppelt bzw. in den USA vor 1945 streng territorialem Denken verhaftet, so hat sie sich heute von diesen Fesseln mehr und mehr befreit. Während der Grundsatz der Doppelfunktionalität der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit früher eine rasche und zuverlässige Bestimmung der internationalen Zuständigkeit erlaubte, dürfen und müssen Parteien, Anwälte und Richter heute in bis zu drei und mehr Instanzen jahrelang über das Vorliegen dieser Sachurteilsvoraussetzung streiten. Die Gerichte gießen Öl ins Feuer, wenn sie, um Einzelfallgerechtigkeit bemüht oder schlicht im Bestreben, ihnen lästige Auslandsfälle abzuschieben, die internationale Zuständigkeit in vermögensrechtlichen Streitigkeiten neuerdings nur bejahen wollen, wenn über die Verwirklichung des örtlichen Anknüpfungsmoments hinaus eine „Inlandsbeziehung des Rechtsstreits", eine „ausreichende inländische Nahebeziehung" oder „minimum contacts" vorliegen, wenn „jori", fairness oder due process gewahrt sind. Die Unbestimmtheit dieser Rechtsbegriffe hat zu einer Flut von Gerichtsentscheidungen, aber noch längst nicht zu auch nur annähernder Rechtssicherheit geführt. 1 Im folgenden soll diese bedenkliche Rechtsentwicklung am Beispiel Deutschlands, Österreichs, der USA und Japans aufgezeigt werden (unten I). Die Wege in das Chaos sind verschieden, die einen sind schneller (USA, Österreich), die anderen langsamer (Deutschland, Japan). Doch die Grundfragen sind überall die gleichen: Unterliegt die Wahrnehmung der internationalen Zuständigkeit völkerrechtlichen Schranken (unten II) ? Empfiehlt es sich unabhängig davon, die internationale Zuständigkeit vom Vorliegen zusätzlicher Inlandsbeziehungen abhängig zu machen (unten III) ? Wie müßten derartige Kriterien aussehen (unten IV) ? Am Ende der Untersuchung wird ein Blick auf die Auswirkungen und ein Plädoyer für feste Zuständigkeitsregeln stehen (unten V).

1 Vgl. Casad, Jurisdiction in Civil Actions, 2. Aufl., B u t t e r w o r t h / U S A 1991, Vorwort S. IX, mit Besprechung von Schock in ZZP 106 (1993) 259-262.

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I. Entwicklung

1.

in ausgewählten

Rechtsordnungen

Deutschland

Außerhalb von Staatsverträgen 2 ist die internationale Zuständigkeit in vermögensrechtlichen Streitigkeiten in der deutschen ZPO nicht ausdrücklich geregelt, wohl aber, wie besonders §§ 15, 16, 23, 23a und 27 II ZPO zeigen, bei den Vorschriften der örtlichen Zuständigkeit vom Gesetzgeber mitgedacht worden. Örtliche und internationale Zuständigkeit sind selbständige Prozeßvoraussetzungen, wenn auch „in ihren Voraussetzungen miteinander verknüpft". 3 Nach ständiger Rechtsprechung indiziert die örtliche zugleich die internationale Zuständigkeit. 4 Diese regelmäßige Verknüpfung ist mit dem Ausdruck Doppelfunktionalität gemeint. 5 Auch wenn die internationale Zuständigkeit nicht mechanisch aus der örtlichen folgt, 6 ist die Rechtsprechung bis vor kurzem von diesem Grundsatz nur äußerst selten abgewichen. Zunächst sind Fälle denkbar, in denen aus deutscher Sicht (z.B. gemäß § 29a ZPO) eine ausschließliche internationale Zuständigkeit im Ausland begründet ist, aber ein dort ergehendes Urteil etwa mangels Verbürgung der Gegenseitigkeit (§ 328 I Nr. 5 ZPO) in Deutschland nicht anerkennungsfähig wäre. Dann muß, um Vollstreckungsoasen zu verhindern, die Doppelfunktionalität der ausschließlichen örtlichen Zuständigkeit durchbrochen 2 Von herausragender Bedeutung sind hier das Brüsseler EG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27-9.1968 (GVÜ) und das Parallelübereinkommen von Lugano vom 16.9.1988 (LugÜ); ferner z.B. Art. 31 CMR, Art. 28 Warschauer Abkommen. 3 BGH 14.6.1965, BGHZ 44, 46, 47. 4 BGH 18.4.1985, BGHZ 94, 156, 157 f. mwN; BGH 2.7.1991, BGHZ 115, 90, 91 f. (unten N. 11). 5 Kropholler, im Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. I Tübingen 1982, Kap. III Rn. 30; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht (IZVR), 2. Aufl München 1996, Rn. 236; Kralik, Die internationale Zustädigkeit, ZZP 74 (1961) 2-48, 26. 6 Allg.M., deutlich Walchshöfer, Die deutsche internationale Zuständigkeit in der streitigen Gerichtsbarkeit, ZZP 80 (1967) 165-229, 189 ff.

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

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und auf einen anderen doppelfunktionalen fakultativen Gerichtsstand (in casu § 15 I 2 ZPO) übergegangen werden.7 Steht keine andere örtliche Zuständigkeit zur Verfügung, besteht aber ein unabweisbares Bedürfnis für die Rechtsschutzgewährung ausgerechnet in Deutschland, dann kann dem Kläger durch Eröffnung einer internationalen Notzuständigkeit geholfen werden. 8 Doch so reizvoll negative Kompetenzkonflikte, 9 seien sie rechtlichen oder faktischen Ursprungs, in der Theorie auch sein mögen, in der Praxis kommen sie kaum jemals vor. Theoretisch aber ist die Notzuständigkeit eine Möglichkeit, die internationale Zuständigkeit ohne Rückgriff auf eine örtliche unmittelbar als forum conveniens zu begründen. Da die Lehre vom forum non conveniens in Deutschland nicht anerkannt ist,10 besteht keine Möglichkeit, die internationale trotz Vorliegens der örtlichen Zuständigkeit zu verneinen, weil der Rechtsstreit angeblich besser vor ein ausländisches Gericht gehöre. Diese heile Welt der internationalen Zuständigkeit bekam 1991 einen Riß, als der XI. Zivilsenat des BGH in einer heftig umstrittenen Entscheidung auf die Idee kam, den über 100 Jahre lang praktizierten Vermögensgerichtsstand des § 23 ZPO durch die zusätzliche Voraussetzung einzuschränken, daß „der Rechtsstreit einen hinreichenden Bezug zum Inland hat".11 Die Begründung des BGH ist ebenso verfehlt 12 wie 7 So LG Bonn 4-10.1973, NJW 1974, 427 mit zust. Anm. Geimer 2189, hierzu auch Schack, IZVR, Rn. 237. Vgl. auch RG 20.1.1894, RGZ 32, 414, 416 (zu § 24 II ZPO). 8 Schack, IZVR, Rn. 397 ff.; Kropholler (oben N. 5), Rn. 182 ff., 191; Geimer, Internationales Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. Köln 1993, Rn. 1030. 9 Vgl. Milleker, Der Negative Internationale Kompetenzkonflikt, 1975. 10 OLG München 22.6.1983, IPRax 1984, 319. Jüngst Schack, Die Versagung der deutschen internationalen Zustädigkeit wegen forum non conveniens und lis alibi pendens, RabelsZ 58 (1994) 40-58, 41 ff-, 44 (engl. Fassung in Fawcett (Hrsg.), Declining Jurisdiction in Private International Law , Oxford 1995, S. 189-205 ; ferner Kropholler (oben N. 5), Rn. 209, 212; Geimer (oben N. 8), Rn. 1075 ff. Verschlossen ist auch der Umweg über ein besonderes inländisches Rechtsschutzbedürfnis; gegen W. Lüke, Anm. ZZP 105 (1992) 321, 328 f. 11 BGH 2.7.1991, BGHZ 115, 90, 94 = JZ 1992, 51 mit ablehnenden Anmerkungen Schack 54 = ZZP 105 (1992) 314 (W.. Lüke) = N J W 1991, 3092 (Geimer 3072 und Fncke, NJW 1992, 3066); ablehnend auch Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1995, S. 545 ff., 646 f. Dem BGH stimmen zu: Schlosser, Einschränkung des Vermögensgerichtsstandes, IPRax 1992, 140-143; Kleinstück, Due Process-Beschränkungen des Vermögensgerichtsstandes durch hinreichenden Inlandsbezug und Minimum Contacts, München 1994, S. 123 ff-, 217 (besprochen von Lurger, ZFRV 1995, 61-64). 12 Hierzu Schack, JZ 1992, 54-56 und ebenfalls ablehnend Lüke und Geimer (vorige

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seine Absicht, der ausländischen Klägerin einen Gerichtsstand zu verweigern, den der Gesetzgeber bewußt unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Wohnsitz der Parteien ausgestaltet hat. Der Wortlaut von § 23 ZPO läßt durchaus vernünftig 13 allein das objektive Merkmal der inländischen Belegenheit von (im Fall des BGH mit 150.000 DM durchaus beachtlichem) Vermögen des Beklagten genügen. Die Verlockung für die Untergerichte, sich unter Hinweis auf das Urteil des XI. Zivilsenats unliebsame Auslandsfälle vom Hals zu schaffen, ist groß. Diese Chance ließ sich das OLG München nicht entgehen, obwohl beide Parteien gewichtige Kontakte mit Deutschland hatten.14 Andere Gerichte haben nur knapp festgestellt, daß der von BGHZ 115, 90 geforderte Inlandsbezug in casu jedenfalls erfüllt und die internationale Zuständigkeit gemäß § 23 ZPO daher gegeben sei.15 Bisher hat sich die Rechtsprechung des XI. Zivilsenats also noch nicht verfestigt; 16 vielmehr bleibt die Hoffnung, daß ein anderer Senat des BGH den Großen Senat für Zivilsachen (§ 132 GVG) anruft, der die Dinge wieder zurechtrücken kann. Es besteht jedoch die ernste Gefahr, daß über das Erfordernis einer vom XI. Zivilsenat nicht weiter definierten Inlandsbeziehung des Rechtsstreits Rechtsunsicherheit in die internationale Zuständigkeit nicht nur des § 23 ZPO getragen wird, die forum non conveniens durchaus vergleichbare Züge aufweist. 17 Von daher ist die Suche nach den für eine ausreichende Inlandsbeziehung maßgeblichen Kriterien (unten IV) für das deutsche Recht von ganz besonderer Bedeutung. N.); Bittighofer, Der internationale Gerichtsstand des Vermögens, Frankfurt/M. 1994, S. 168 ff., 257; Grothe, „Exorbitante" Gerichtszuständigkeiten im Rechtsverkehr zwischen Deutschland und den USA, RabelsZ 58 (1994) 686-726, 711 ff. 13 Ausführlich Schuck, Vermögensbelegenheit als Zuständigkeitsgrund — exorbitant oder sinnvoll ?, ZZP 97 (1984) 46-68, rechtsvergleichend. S. unten IV 3. 14 OLG München 7.10.1992, WM 1992, 2115, 2118 = IPRax 1993, 237, 239 mit abl. Anm. Gelmer 216: Die Klägerin, ein saudi-arabisches Unternehmen, war 10 Jahre lang in Deutschland durch einen Rechtsanwalt vertreten; die beklagte US-Fluggesellschaft besaß Landerechte und seit 1950 ein Büro in Deutschland. 15 BGH 29.4.1992 (XII. ZS), NJW-RR 1993, 5 (deutsche Staatsangehörigkeit des Beklagten, Unterhaltsklage); OLG Frankfurt/M. 4.6.1992, WM 1993, 1670 = NJW -RR 1993, 305 (deutsche Staatsangehörigkeit und Wohnsitz der Klägerin; beklagt war eine Schweizer Bank mit Guthaben in Deutschland). 16 Im Fall BGH 20.4.1993 (XI. ZS), WM 1993, 1109, 1110 = IPRax 1995, 98, 99, ergab sich die Unzuständigkeit schon aus dem Trennungsprinzip; beklagt war der Alleingesellschafter einer N e w Yorker Gesellschaft, der eine deutsche GmbH gehörte. 17 Schock, RabelsZ 58 (1994) 47 Fußn. 37 mwN.

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

2.

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Österreich

Wie in Deutschland ist auch in Österreich die internationale Zuständigkeit in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, von Staatsverträgen abgesehen,18 nicht gesetzlich geregelt. Daß es sich bei ihr um eine gegenüber der örtlichen Zuständigkeit selbständige Prozeßvoraussetzung handelt,19 zeigt schon § 28 I JN,20 der dem OGH die Befugnis gibt, bei Fehlen einer gesetzlichen örtlichen Zuständigkeit ein örtlich zuständiges Gericht zu bestimmen (Ordination), „wenn 1. Österreich aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages zur Ausübung von Gerichtsbarkeit verpflichtet ist21 oder 2. die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre." Terminologisch unscharf wird in Österreich häufig von „inländischer Gerichtsbarkeit" gesprochen und nicht immer klar genug zwischen der völkerrechtlichen Begrenzung staatlicher Gerichtsgewalt und der internationalen Zuständigkeit unterschieden.22 Das gilt auch für die Leitentscheidung von 1950, mit der der OGH die Universalitätstheorie begründete: Die inländische Gerichtsbarkeit sei immer gegeben, solange sie nicht durch positive Vorschrift oder Völkerrecht ausgeschlossen sei; deren Beschränkung auf Fälle mit Inlandsbeziehungen beruhe auf einer Norm inländischen zwingenden Rechts.23 Letzteres ist grundsätzlich zutreffend; 24 die Universalitätstheorie müßte, wenn man sie auch auf die internationale Zuständigkeit bezöge, ins Uferlose führen. Unsere Frage 18 Hier sind nun vor allem Art. 2 ff. LugÜ zu beachten. 19 OGH 18.10.1950, SZ 23 Nr. 293, S. 654. 20 Jurisdiktionsnorm vom 1.8.1895 idF der Zivilverfahrens-Novelle von 1983. Vgl. unten bei N. 37. 21 Z.B. Art. 31 I CMR. Vgl. demgegenüber BGH 6.2.1981, BGHZ 79, 332 und Schock, IZVR, Rn. 189. 22 Für eine klare Begriffsbestimmung Bajons, Ein österreichisches System der internationalen Zuständigkeit, ZfRV 1972, 91-129, 101 ff., 104; Hoyer, Die Neuregelung des IZVR in Österreich, ZZP 95 (1982) 151-170, 155 f.; Rechberger, Gibt es eine „internationale Zuständigkeit" der öst. Gerichte ? , in FS Nagel, Münster 1987, S. 294-317, 301 (terminologische Haare spaltend). 23 OGH 18.10.1950, SZ 23 Nr. 293, S. 655 und 656. 24 Allerdings müssen diese Normen nicht stets zwingend sein, da die internationale Zuständigkeit regelmäßig auch durch eine Gerichtsstandsvereinbarung oder rügelose Einlassung begründet werden kann; Loewe, ZfRV 1983, 180, 185; OGH 30. 6.1982, SZ 55 Nr. 95 = JB1. 1983, 541, 544 = EvBl. 1983 Nr. 13 = ZfRV 1983, 147 Zahnarzthonorar; a.A. bezüglich der rügelosen Einlassung Fasching, Lehrbuch des öst. Zivilprozeßrechts, 2. Aufl. Wien 1990, Rn. 77.

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ist gerade, wie die völkerrechtlich unbegrenzte (s. unten II) internationale Zuständigkeit sinnvoll, insbesondere ob sie anhand der örtlichen Zuständigkeit eingegrenzt werden kann. Die Universalitätstheorie zwingt damit die Gerichte zur Suche nach einer „ausreichenden inländischen Nahebeziehung". 25 Einen Anhalt hierfür sollen die Vorschriften der §§ 65 ff. JN über die örtliche Zuständigkeit geben. Für diese Vorgehensweise hat sich der Ausdruck „Indikationentheorie" eingebürgert. 26 Anders als bei der Doppelfunktionalität deutschen Rechts sind theoretischer Ausgangspunkt nicht die Vorschriften der örtlichen Zuständigkeit, sondern die inländische Nahebeziehung.27 Dieses Vorgehen erlaubt nicht nur die Versagung der internationalen trotz örtlicher Zuständigkeit, 28 sondern auch die Berücksichtigung zusätzlicher, in der JN nicht enthaltener Faktoren, wie etwa der Staatsangehörigkeit der Parteien oder des Wohnsitzes des Klägers.29 Beides ist so in Deutschland nicht möglich, zum ersten, weil die seltenen Durchbrechungen der Doppelfunktionalität 30 längst nicht das Ausmaß der österreichischen durchaus an forum non conveniens erinnernden Praxis erreichen, zum zweiten, weil es in Deutschland grundsätzlich keine internationale ohne gesetzliche örtliche Zuständigkeit gibt.31 So dient die Indikationentheorie in Österreich bei Bedarf vor allem der Zurückdrängung unerwünschter Gerichtsstände, ehrlicher wohl: dem Abschieben unerwünschter Streitigkeiten. Die Verwirklichung des örtlichen Anknüpfungsmoments allein soll z.B. nicht ausreichen beim Ver25 OGH (vorige N.), JB1. 1983, 541, 544 mit zust. Anm. Schwimann, JB1. 1984, 9-13. 26 OGH 19.11.1986, I P R a x 1988, 246, 247 f.; OGH 24.5.1989, JB1. 1990, 396, 397; Schwimann, Internationales Zivilverfahrensrecht, Wien 1979, S. 23; Mayr, in: Rechberger, K o m m e n t a r zur ZPO, W i e n / N e w York 1994, § 28 JN, Rn. 4. Vgl. auch Fasching (oben N. 24), Rn. 76, der sich indes im Interesse der Rechtssicherheit für strikte Parallelität ausspricht. 27 Sehr deutlich OGH 6.6.1991, EvBl. 1992 Nr. 8 = JB1. 1992, 331, 333 mit zust. Anm. Pfersmann, und Anm. Mayr, ÖJZ 1995, 329, 334 f. Vgl. auch Bajons (oben N. 22), S. 108 ff. versteckt in Fußn. 55. Das wird gelegentlich auch in die Gestalt eines angeblich erforderlichen „besonderen Rechtsschutzbedürfnisses" gekleidet; so etwa Schwimann (vorige N.), S. 25; und in beiden Fällen eine Ordination ablehnend OGH 2.6.1978 und 17.3.1978 (beide unten N. 38). 28 Das widerspricht nach Loewe, ZfRV 1983, 180, 184, dem klaren Willen des Gesetzgebers; ebenso Matscher, JB1. 1983, 505, 511 ff., 514; Rechberger (oben N. 22), S. 316 f.; und (vereinzelt / ) auch OGH 25.9.1984, SZ 57 Nr. 143 = EvBl. 1985 Nr. 23, ausgerechnet f ü r den exorbitanten Fakturengerichtsstand in § 88 II J N / 29 Z.B. OGH 16.9.1975, JB1. 1976, 267, 269 = EvBl. 1976 Nr. 110. 30 S. oben nach N. 6. 31 S. oben bei N. 8. Ebenso in Japan, unten 4 bei N. 75.

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mögensgerichtsstand in § 99 JN,32 für den Gerichtsstand des Erfüllungsortes in § 88 I JN,33 den der Streitgenossenschaft in § 93 I JN34 und den der Widerklage in § 96 JN.35 Umgekehrt folgt, wie § 28 JN zeigt, aus dem Fehlen einer örtlichen noch lange nicht das Fehlen auch der internationalen Zuständigkeit. Aufschlußreich ist deshalb die Praxis des OGH zu § 28 I Nr. 2 JN, insbesondere inwieweit er eine örtliche Zuständigkeit auch außerhalb der Extremfälle eines negativen Kompetenzkonflikts, die in Deutschland über eine flexible Notzuständigkeit gelöst würden,36 ordiniert. Die 1983 in § 28 JN mit den Nummern 1 und 2 eingefügten engeren Voraussetzungen einer Ordination waren als Eingrenzung der Universalitätstheorie gedacht.37 So spitzt sich bei Fehlen einer örtlichen Zuständigkeit heute alles auf die Frage zu, ab wann einem Kläger „die Rechtsverfolgung im Ausland ... unzumutbar" ist. Hierbei ist in den letzten Jahren eine deutliche Zurückhaltung des OGH spürbar, wenn österreichischen Gläubigern zugemutet wird, ihre Zahlungsansprüche im nahen Ausland zu verfolgen.38 Der OGH stellt mitunter den Gerechtigkeitsgehalt der Vorschrift über die örtliche Zuständigkeit ganz in den Vordergrund, prüft das Fehlen ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen und erklärt das Ergebnis (mit Recht) kurzerhand für zumutbar. 39

32 OGH 24.5.1989, SZ 62 Nr. 101 = JB1. 1990, 396 mit zust. Anm. Pfersmann — f ü r ein deutsches Unternehmen in Nigeria tätiger öst. Arbeitnehmer; OGH 29.10.1992, SZ 65 Nr. 141 = JB1. 1993, 666, 669 = EvBl. 1993 Nr. 93 — beide Parteien Deutsche, Ferienwohnung in Tirol. Anders OGH 8.9.1987, SZ 60 Nr. 164 = EvBl. 1988 Nr. 33: die von § 99 J N vermittelte ausreichende Inlandsbeziehung sei „nicht zweifelhaft". 33 OGH (oben N. 24), JB1. 1983, 541, 543 f. 34 OGH (unten N. 90), I P R a x 1988, 246, 247; OGH 16-12.1987, SZ 60 Nr. 277 = JB1. 1989, 48. 35 OGH 26.4.1991, JB1. 1992, 330, 331. 36 S. oben 1 bei N. 8. 37 Vgl. Loewe, Erneuerung des öst. IZVR, ZfRV 1983, 180-189, 184; Matscher, Zur Abgrenzung der inländischen Gerichtsbarkeit, vornehmlich in Vermögenssachen, JB1. 1983, 505-516, 509. 38 OGH (oben N. 27), JB1. 1992, 331, 333 - Hotelier, Belgien; OGH 9.3.1994, JB1. 1994, 762, 763 = EvBl. 1994 Nr. 154 - Hotelier, Deutschland; vor 1983 ebenso OGH 2.6. 1978, EvBl. 1979 Nr. 94 - Hotelier, Schweiz; OGH 17.3.1978, SZ 51 Nr. 34 = JB1. 1978, 653 = EvBl. 1978 Nr. 131 - Architekt, Deutschland. 39 OGH 20.1.1983, I P R a x 1984, 214, 215 mit Anm. Pöch 222 - § 23 öUWG, Deutschland; OGH 22.2.1994, ZfRV 1994, 166, 168 f. - § 92b JN, Italien; OGH 24.9.1980, SZ 53 Nr. 124 = EvBl. 1981 Nr. 24 - § 99 J N , ungeachtet verweigerter Urteilsanerkennung.

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3. USA In den USA ist die interstaatliche und internationale Zuständigkeit (personal jurisdiction) nur selten bundesgesetzlich geregelt. In den meisten Fällen müssen die Staats- und auch die Bundesgerichte auf die einzelstaatlichen long-arm statutes zurückgreifen, die ausführliche Zuständigkeitskataloge, manchmal aber auch nur Leerformeln enthalten.40 In einem zweiten entscheidenden Schritt wird dann im Einzelfall geprüft, ob die Ausübung der jurisdiction nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot von due process verstößt. Seit 1945 versucht der U.S. Supreme Court, „fair play and substantial justice" über sog. „minimum contacts" zu gewährleisten. 41 Die Unsicherheit, welche contacts für due process ausreichen und welche nicht, ist auch 50 Jahre später noch unvorstellbar groß,42 zumal der Supreme Court jüngst so systemsprengende Gesichtspunkte wie reasonableness 43 oder bloße Tradition 44 stärker betont. Ein besonders problematischer contact ist doing business im Forumstaat, was dessen allgemeine Zuständigkeit über den Beklagten zur Folge hat,45 während die Belegenheit von Vermögen des Beklagten im Forumstaat für sich allein in aller Regel zur Begründung der internationalen Zuständigkeit nicht ausreicht.46 Charakteristisch für das US-amerikanische Recht ist dessen Fixierung auf minimum contacts des Beklagten, auf allein dessen due process rights.47 Legitime Klägerinteressen, etwa an 40 Vgl. Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. München 1995, S. 23 f. 41 International Shoe Co. v. Washington, 326 US 310, 316 (1945). 42 Vgl. nur Casad (oben Ν. 1); Schack, Jurisdictional Minimum Contacts Scrutinized, Heidelberg 1983. 43 Letztlich entscheidend in Asahi Metal Industry Co., Ltd. v. Superior Court, 480 US 102 (1987); hierzu Schack, IZVR, Rn. 403, und Anm. Otte, IPRax 1987, 384. 44 Burnham v. Superior Court, 495 US 604 (1990) — tag jurisdiction dort, wo dem Beklagten während seines vorübergehenden Aufenthalts im Inland die Klage persönlich zugestellt wird. 45 Schack, Minimum Contacts (oben N. 42), S. 37 ff.; Grothe, RabelsZ 58 (1994) 696 f. Im allgemeinen großzügig zum Nachteil ausländischer Beklagter gehandhabt, ist die trotz umfangreicher Forumaktivitäten des Beklagten doing business verneinende Entscheidung Helicopteros Nationales de Colombia, S.A. v. Hall, 466 US 408 (1984), ein kaum erklärlicher Ausreißer. 46 Shaffer v. Heitner, 433 US 186 (1977), hierzu Schack, Minimum Contacts (oben N. 42), S. 53 ff. 47 Vgl. World-Wide Volkswagen Co. v. Woodson, 444 US 286, 291 f. (1980); Schack, Einführung (oben N. 40), S. 26, 29.

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einer Tatortzuständigkeit, können deshalb, wenn überhaupt, nur auf dem Umweg äußerst gedehnter und damit wenig überzeugender Beklagtenkontakte berücksichtigt werden. So hält man bei Bedarf den „stream of commerce" vom Beklagten für final in den Forumstaat gesteuert, oder man behauptet, der Beklagte habe irgendwelche (nicht unbedingt streitbezogene ! ) „benefits and protections" des Forumstaates in Anspruch genommen, weshalb er sich auch dessen Gerichten unterwerfen müsse.48 Die Suche nach der internationalen Zuständigkeit US-amerikanischer Gerichte führt also auf schwankenden Grund. Das Ergebnis wird zusätzlich dadurch unberechenbar, daß das Gericht seine jurisdiction nicht auszuüben braucht, wenn es sich für ein forum non conveniens hält. In diese Ermessensentscheidung fließen zahllose private und öffentliche Interessen ein.49 Als bedenkliche Tendenz läßt sich feststellen, daß USamerikanische Kläger so gut wie nie ins Ausland verwiesen werden,50 während ausländischen Klägern mittels forum non conveniens nicht selten die Möglichkeit genommen wird, US-Unternehmen an ihrem allgemeinen Gerichtsstand in den USA zu verklagen. 51 Die Parteilichkeit zugunsten einheimischer Gläubiger ist unübersehbar. 52 4·

Japan

Die internationale Zuständigkeit ist in Japan, abgesehen von vereinzelten Staatsverträgen, 53 gesetzlich nicht geregelt. Die japanische ZPO vom 189054 enthält nur Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit, die überwiegend denen der deutschen ZPO nachgebildet sind. Während in

48 Vgl. Hanson v. Denckla, 357 US 235, 253 (1958). 49 Gulf Oil Corp. v. Gilbert, 330 US 501, 508 (1947); Schock, IZVR, Rn. 497. 50 Vgl. Born/ Westin, International Civil Litigation in U.S. Courts, 2. Aufl. Deventer/ Boston 1992, S. 287 m w N . 51 Krasses Beispiel Piper A i r c r a f t Co. v. Reyno, 454 US 235 (1981), hierzu Schack, Einführung (oben Ν. 40), S. 34 f. Anders im Recht von Florida: Piper A i r c r a f t Co. v. Schwendemann, 578 So.2d 319, 320 (Fla.App. 1991) — Flugzeugabsturz in München. 52 Gegen Auswirkungen der Staatsangehörigkeit des Klägers wendet sich engagiert Wolinsky, F o r u m Non Conveniens and American Plaintiffs in the Federal Courts, 47 U.Chi.L.Rev. 373-393 (1980). 53 Einer der wenigen einschlägigen ist Art. 28 des W a r s c h a u e r A b k o m m e n s vom 12. 10. 1929 über die Beförderung im internationalen Luftverkehr. 54 Deutscher T e x t bei Nakamura/Huber, Die japanische ZPO in deutscher Sprache, Köln 1978.

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der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vorschriften ohne nennenswerte Ausnahmen doppelfunktional auf die internationale Zuständigkeit ausgedehnt wurden,55 faßte nach dem Zweiten Weltkrieg die Ansicht Fuß, daß die internationale losgelöst von der örtlichen Zuständigkeit allein aufgrund der Gebote von due process, fairness und reasonableness zu beurteilen sei.56 Jori als Maßstab bleibt sehr vage, wie schon die verschiedenen Übersetzungen mit „principles of justice", „reasonableness", „Sachgerechtigkeit" oder „Natur der Sache"57 zeigen. Etwas festeren Grund brachte die Leitentscheidung des OGH in Sachen Malaysian Airlines.58 Geklagt hatten die Hinterbliebenen eines japanischen Passagiers, der bei einem Flugzeugabsturz in Malaysia ums Leben gekommen war, wo er auch sein Flugticket erworben hatte. Der OGH nimmt als Ausgangspunkt „principles of justice requiring impartiality between the parties and a speedy and fair trial", setzt diese im nächsten Atemzug aber mit deren Ausformung in den Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit gleich. Dem OGH genügte dann, daß die Beklagte eine Niederlassung in Japan unterhielt.59 Obwohl es nahegelegen hätte, geht der OGH auf eine mögliche Einschränkung dieser sehr weiten internationalen Zuständigkeit nicht ein. 55 Aus der Literatur insb. Kaneko, auszugsweise zitiert in: Hatton/Henderson, Civil Procedure in Japan, New York 1985 (Loseblatt), § 4.07 [2] [b]. Hierzu R. Schaack, Methodik und Interessenbewertung im japanischen internationalen Zuständigkeitsrecht, ZVglRWiss 91 (1992) 443-464, 444 f.; Nakano, Interessenabwägung bei der Zuständigkeitsprüfung in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, in: Heldrich/Kono (Hrsg.), Herausforderungen des IZVR, Tübingen 1994, S. 231-245, 232; wenig ergiebig Matsuo, Jurisdiction in T r a n s n a t i o n a l Cases in Japan, 23 Int.Lawyer 6-9 (1989). Gute Übersicht bei Fujita, Japanese Rules of Jurisdiction, Law in J a p a n 4 (1970) 55-86. 56 Aus der Literatur insb. Ikehara, hierzu Schaack (vorige N.), S. 445 f., und Nakano (vorige N.), S. 233. Aus der Rechtsprechung LG T o k y o 24.7.1974, Japanese Annual of International Law (JAIL) 19 (1975) 225, 228 — Klage gegen Boeing nach Flugzeugabsturz in Japan, letztlich jedoch ausgehend von der T a t o r t z u s t ä n d i g k e i t in § 15 ZPO. Reasonableness ohne Bezug auf eine bestimmte örtliche Zuständigkeit bejaht beiläufig LG Osaka 30.9.1983, J A I L 28 (1985) 233, 235 — Zahlungsklage unter Indern. 57 So KonoI Trunk, Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile in Japan, ZZP 102 (1989) 319, 327. 58 OGH 16.10.1981, JAIL 26 (1983) 122. Urteilsanalysen bei Iuiasaki, Japanese Court's Competence/Jurisdiction for International Litigations, Euro. Transp.L. 19 (1984) 559-582, 561 ff.; und Schaack (oben N. 55), S. 448 ff. 59 § 4 III ZPO spricht von „Büro- oder Geschäftsräumen" und eröffnet im Unterschied zu § 21 dZPO keine besondere, sondern die allgemeine Zuständigkeit über ein ausländisches Unternehmen.

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

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Die Untergerichte 60 gehen seitdem ebenfalls von den Vorschriften der örtlichen Zuständigkeit aus, widmen sich im Anschluß daran jedoch eingehender den besonderen Umständen, die gegen das Vorliegen der internationalen Zuständigkeit sprechen können.61 Die dabei berücksichtigten Umstände ähneln stark den aus den USA bekannten private interest factors bei forum non conveniens.62 Großes Gewicht hat dabei die Zugänglichkeit von Beweismitteln.63 So erklärte sich das LG Tokyo im Fall eines Flugzeugabsturzes in Taiwan für unzuständig, weil mangels eines Rechtshilfevertrages mit Taiwan die Fairneß des Verfahrens nicht gewährleistet sei,64 im Parallelfall eines Flugzeugunglücks in Spanien dagegen für zuständig, da die Beweisschwierigkeiten auf dem Wege der Rechtshilfe behoben werden könnten.65 Anders als in den USA66 ließ sich das japanische Gericht auch nicht durch die Anwendbarkeit ausländischen Rechts schrecken, denn es könne das spanische Recht ohne große Schwierigkeiten anwenden.67 Obwohl eine frühere ausländische Rechtshängigkeit in Japan grundsätzlich nicht beachtet wird,68 kann die Rück sichtnahme auf ein ausländisches Verfahren im Einzelfall zur inter60 Rechtsprechungsübersichten bei Schaack (oben N. 55), S. 453-462, Nakano (oben N. 55); vgl. auch Dogauchi, in: Herausforderungen (oben N. 55), S. 163, 169 ff.; Ishiguro, Einige Kernprobleme des japanischen Kollisionsrechts von heute, in: Recht in Japan 8 (1991) 7-37, 15.; Baum, in: Menkhaus (Hrsg.), Das Japanische im jap. Recht, München 1994, S. 167, 181-185. 61 Besonders deutlich die die internationale Zuständigkeit verneinenden Entscheidungen LG Tokyo 15.2.1984, JAIL 28 (1985) 243, 245 (s. unten N. 69); 20.6.1986, JAIL 31 (1988) 216 (s. unten N. 64); 28.7.1987, JAIL 32 (1989) 161, 162 (s. unten N. 76); 29.1.1991, JAIL 35 (1992) 171, 172 — negative Feststellungsklage eines jap. Produzenten. — Vgl. auch, die internationale Zuständigkeit letztlich bejahend, LG Tokyo 27.3.1984, JAIL 28 (1985) 248, 250, 252 — Klage gegen Boeing nach Hubschrauberabsturz in Japan; 8.5.1987, JAIL 31 (1988) 220, 221 — Flugzeugzusammenstoß in Spanien; 27.3.1989, JAIL 33 (1990) 199, 200 f. — Klage eines jap. Arbeitnehmers gegen Reader's Digest. — Im Rahmen der Vollstreckbarerklärung eines deutschen Urteils LG Nagoya 6.2.1987, JAIL 33 (1990) 189 = GRUR Int. 1988, 860 mit Anm. Kono/Trunk: Das LG beurteilte die Gerichtsstandsvereinbarung „nach der Natur der Sache (jori) sowie unter Berücksichtigung vernünftiger internationaler Gepflogenheiten". 62 Fawcett (oben N. 10), General Report S. 1-70, 17f., und der Landesbericht Japan von Dogauchi, ebd. S. 303-319, 309f. 63 LG Tokyo 29.1.1991, JAIL 35 (1992) 171, 174. Vgl. auch die Übersicht bei Nakano (oben N. 55), S. 245. 64 LG Tokyo 20. 6.1986, JAIL 31 (1988) 216, 218. 65 LG Tokyo 8. 5.1987, JAIL 31 (1988) 220, 222. 66 S. oben 3 bei N. 51. 67 LG Tokyo (oben N. 65), S. 223. 68 LG Tokyo 9. 6.1989, JAIL 33 (1990) 202, 205.

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nationalen Unzuständigkeit der japanischen Gerichte führen.69 Leitmotiv scheint die Absicht zu sein, „kleinen Leuten" eine Klage an ihrem japanischen Heimatgerichtsstand zu ermöglichen; demgegenüber hält man es nicht für unfair, die Zuständigkeit über internationale Unternehmen überall dort zu begründen, wo sie geschäftlich tätig sind.70 Hier hat ganz offensichtlich die US-amerikanische Vorstellung Pate gestanden, daß mit den wirtschaftlichen Vorteilen prozessuale Nachteile in Kauf zu nehmen sind.71 Eine potentiell sehr weite Zuständigkeit erlauben die Gerichtsstände der Niederlassung in § 4 III ZPO72 und der Streitgenossenschaft in § 21 ZPO.73 Bei letzterem werden die Interessen des Klägers an einer einheitlichen Entscheidung und des Beklagten, nicht an einem unvorhersehbaren Gerichtsstand verklagt zu werden, gegeneinander abgewogen.74 Im ganzen gesehen bestätigen jedoch die unter Berufung auf jori gemachten Ausnahmen die nach wie vor gültige Regel der Doppelfunktionalität. So kann die internationale nicht ohne eine vorhandene örtliche Zuständigkeit bestehen.75 Auch hätte sich manche mit jori begründete Ausnahme von der Doppelfunktionalität besser mit einer vernünftigen Gesetzesauslegung begründen lassen, wie etwa die Selbstverständlichkeit, daß ein Schuldner an seinem Wohnsitz keine negative Feststellungsklage erheben kann, mit der er die Forderung des Gläubigers, die den Vermögensgerichtsstand des § 8 ZPO begründen soll, gerade leugnet.76 Welche „besonderen Umstände" für eine Verneinung der inter69 Nakano (oben N. 55), S. 241; LG T o k y o 15.2.1984, JAIL 28 (1985) 243, 246, nicht zuletzt auch weil die Niederlassung des Beklagten in J a p a n (§ 4 III ZPO) g a r nichts mit dem in Kalifornien konzentrierten Rechtsstreit zu tun hatte. 70 Fujita, Procedural Fairness to Foreign Litigants as Stressed by Japanese Courts, 12 Int.Lawyer 795-811, 810 (1978); Schaack (oben Ν. 55), S. 460. Ausdrücklich LG T o k y o 24.7.1974, JAIL 19 (1975) 225, 230 (oben Ν. 56): „Plaintiffs are a v e r a g e citizens and of limited m e a n s when compared to defendant." 71 S. oben bei Ν. 48. Deutlich Fujita (vorige N.); LG T o k y o 27.9.1982, J A I L 27 (1984) 174, 183 — Beklagte KLM wegen Frachtschadens. 72 S. oben N. 5973 Diesen der deutschen ZPO unbekannten Gerichtsstand sieht auch Art. 6 Nr. 1 G V Ü / L u g Ü vor; vgl. Schock, IZVR, Rn. 356 ff. 74 Die internationale Zuständigkeit bejahend LG T o k y o 8.5.1987, JAIL 31 (1988) 220, 221 — Flugzeugzusammenstoß ( / ); verneinend LG T o k y o 29.1.1991, JAIL 35 (1992) 171, 175 (oben N. 61). Vgl. Schaack (oben N. 55), S. 457 f., 461. 75 LG T o k y o 28.8.1989, JAIL 33 (1990) 206, 208 — Pressedelikt (jap. T a t o r t fragwürdig verneint); Kaneko (oben N. 55). 76 LG T o k y o 28-7.1987, JAIL 32 (1989) 161, 163. Vgl. Schuck, ZZP 97 (1984) 58 m w N .

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

505

nationalen Zuständigkeit ausreichen, läßt sich schwer vorhersagen. Diese eine unbekannte Größe ist indes leichter zu ertragen als in den USA deren zwei, wenn nämlich die jurisdiction nicht nur von so dehnbaren Begriffen wie doing business abhängig ist, sondern später auch noch wegen forum non conveniens abgelehnt werden kann. Auch wenn in die Bestimmung der japanischen internationalen Zuständigkeit Erwägungen des forum non conveniens mit einfließen, kennt Japan doch nicht das für diese Lehre typische Ermessen des Richters, ob er eine gegebene Zuständigkeit ausüben will oder nicht.77 Mag auch der Wunsch, daß die japanischen Gerichte an dem bewährten Konzept der deutschen ZPO festhalten mögen,78 nicht ganz in Erfüllung gegangen sein, so ist das japanische Recht der internationalen Zuständigkeit doch weit weniger verschwommen als das US-amerikanische.

II. Völkerrechtliche

Schranken ?

Rechtsprechung als Ausübung staatlicher Gewalt ist territorial begrenzt. Solange der Beklagte nicht exemt ist, wird indes die Souveränität anderer Staaten durch den Erlaß eines Urteils noch nicht berührt. Es wirkt zunächst allein im Urteilsstaat. Ob dann andere Staaten das Urteil mit wiederum auf ihr Territorium begrenzten Wirkungen anerkennen, ist allein deren Sache. Jeder Staat entscheidet frei, ob er die ihm auf seinem Territorium zustehende Gerichtsgewalt voll ausschöpfen oder ob er sie durch nationale oder staatsvertragliche Vorschriften der internationalen Zuständigkeit einschränken möchte. Völlig mit Recht hat deshalb der österreichische OGH die Universalititätstheorie für „völkerrechtlich unbedenklich" erklärt. 79 Die internationale Zuständigkeit wird

Ferner LG T o k y o 11.6.1959, berichtet von Fujita (oben N. 70), S. 799: geringwertiges Vermögen, in casu Muster und Schreibmaschine der Beklagten, reicht f ü r die internationale Zuständigkeit in Art. 8 ZPO nicht aus; dazu auch Munzel, Internationales Privatrecht, in: Eubel (Hrsg.), Das japanische Rechtssystem, F r a n k f u r t / M. 1979, S. 519, 564. 77 Vgl. Hayes, F o r u m Non Conveniens in England, Australia and Japan: T h e Allocation of Jurisdiction in T r a n s n a t i o n a l Litigation, 26 U.Brit.Col.L.Rev. 41-64, 56 (1992), zu J a p a n 54-63; Dogauchi, in F a w c e t t (oben N. 10), S. 310. 78 Fujita, Law in J a p a n 4 (1970) 84 ff. 79 OGH 24.9.1980, ZfRV 1981, 49, 50 mit Anm. Verschraegen 15-23.

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durch keine allgemeinen Regeln des Völkerrechts eingeschränkt. 80 Völkerrechtskonform sind insbesondere auch die exorbitanten Zuständigkeiten,81 die es in nahezu allen Staaten in verschiedenen Spielarten gibt und die Art. 4 II GVÜ/LugÜ im Verhältnis zu Drittstaaten sogar noch ausgebaut hat. Auch wenn in der Literatur die exorbitanten Gerichtsstände vornehmlich anderer Staaten vielfach kritisiert werden, sind sie doch gängige und, solange die weltweite Urteilsanerkennung nicht gesichert ist, berechtigte Praxis, gegen die bezeichnenderweise auch keine diplomatischen Proteste erhoben worden sind.82 Häufiger liest man, kein Staat dürfe Gerichtsverfahren durchführen, wenn es an jeglichem Inlandsbezug fehle.83 Doch wird in der Praxis kein Staat seine kostbaren Rechtsprechungsressourcen auf solche Fälle verschwenden wollen. Trotzdem ist dieser angebliche Rechtssatz nicht bloß unschädlich, sondern falsch insofern, als die internationale Zuständigkeit anerkanntermaßen auch privatautonom begründet werden kann, etwa wenn die Parteien ein neutrales Forum vereinbart haben oder sich der Beklagte rügelos eingelassen hat. Wunschdenken verfällt, wer meint, dem Völkerrecht entnehmen zu können, daß die internationale Zuständigkeit nur ausgeübt werden dürfe, wenn dies reasonable sei.84 Öfter wird insoweit auf § 421 des Restatement of the Law Third, Foreign Relations Law of the United States (1987), verwiesen, das dieses Erfordernis aufstellt, wohlweislich aber gleich dazu sagt, daß es unklar sei, ob es auf Völkerrecht oder nationalem Recht (due process) beruhe.85 Das Völkerrecht hilft uns also auf der Suche nach den für die internationale Zuständigkeit maßgeblichen minimum contacts nicht weiter. 80 Akehurst, Jurisdiction in International Law, Brit.Yb.Int.L. 46 (1972/73) 145-257, 170-177; Kropholler (oben N. 5), Rn. 44-48; Schack, IZVR, Rn. 186, beide m w N ; Kleinstück (oben N. 11), S. 130-166; Grothe, RabelsZ 58 (1994) 691 f.; Kaneko, bei Schaack (oben N. 55), S. 445. 81 So f ü r § 23 ZPO BGH 24.11.1988, W M 1989, 355, 357 = I P R a x 1990, 41, 42 m w N mit Anm. Schack 19, auch BGHZ 115, 90, 92 (oben N. 11). 82 Letzteres betont Akehurst (oben N. 80), S. 176 f. 83 OG Η 30.6.1982, JB1. 1983, 541, 544 (beiläufig); Walchshöfer, ZZP 80 (1967) 171; Gelmer, Menschenrechte im IZVR, BerDGesVöR 33 (1994) 213-275, 226 f. m w N , jedoch mit entgegensetzter Tendenz in IZPR (oben N. 8), Rn. 127 ff-, 848. 84 Born, Reflections on Judicial Jurisdiction and International Cases, 17 Ga.J.Int.& Comp.L. 1-44, 19 (1987). Dagegen mit Recht Matscher, Etude des regies de competence judiciaire d a n s certaines conventions internationales, Recueil des Cours 161 (1978-III) 127-228, 157; Kropholler (oben N. 5), Rn. 46. 85 Restatement Third, Einl. vor § 421, S. 305.

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

III. Zusätzliche

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Inlandsbeziehung ?

Die gesetzlichen Vorschriften der örtlichen Zuständigkeit sind Ausdruck vertypter Sachgerechtigkeit. Die einfachste und klarste Lösung wäre, die dort für maßgeblich erklärten meist räumlichen, seltener personalen oder rechtlichen Bezugspunkte doppelfunktional auf die internationale Zuständigkeit zu übertragen. Auf diese Weise läßt sich, solange die internationale Zuständigkeit nicht spezialgesetzlich oder staatsvertraglich direkt geregelt ist, die größtmögliche Rechtssicherheit erreichen. Zeitraubender und teurer Zuständigkeitsstreit wird damit im Keim erstickt. Dagegen steht wie immer die Einzelfallgerechtigkeit, das Bemühen, den Beklagten von einer als zu weit empfundenen internationalen Zuständigkeit zu verschonen oder dem Kläger eine Klagemöglichkeit im Inland zu eröffnen. Letzteres ließe sich, wenn dem Kläger auch kein exorbitanter Gerichtsstand offensteht, nur wie in § 28 I Nr. 2 JN unter völliger Loslösung von der örtlichen Zuständigkeit bewerkstelligen. Ersteres ließe sich bereits mit dem Erfordernis einer zusätzlichen Inlandsbeziehung erreichen, die entweder wie beim forum conveniens86 zur positiven Voraussetzung für die internationale Zuständigkeit gemacht werden könnte — so im Ergebnis in Österreich und Japan — oder deren Fehlen wie beim forum non conveniens in den USA zum Entfallen der internationalen Zuständigkeit führen könnte. Charakteristisch für alle diese Varianten ist, daß sie dem Richter ein weites Ermessen zugestehen, ob er einen oft besonders arbeitsintensiven und schwierigen Rechtsstreit zur Entscheidung annehmen will oder nicht. Hiervor sollten sich alle dem geschriebenen Gesetz verpflichteten Rechtsordnungen hüten, auch wenn sie das deutsche Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I 2 GG) nicht kennen. Zu groß ist die Gefahr, daß die Richter aus Bequemlichkeit internationalrechtliche Fälle abzudrängen versuchen oder der Legislative vorbehaltene Rechtspolitik betreiben, etwa indem sie inländische Unternehmen vor ausländischen Klägern abschirmen oder inländischen Klägern um jeden Preis einen Heimatgerichtsstand eröffnen wollen. Die vorsichtige Eingrenzung exor86 Vgl. im englischen autonomen Recht RSC Order 11, rule 1 (1).

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bitanter Zuständigkeiten im Wege der Gesetzesauslegung ist legitim, nicht jedoch die Erfindung neuer Tatbestandsmerkmale, wie das einer zusätzlichen Inlandsbeziehung in BGHZ 115, 90- Jede derartige Eingrenzung gesetzlicher Gerichtsstände vergrößert zudem die Gefahr negativer Kompetenzkonflikte, die dann mühsam durch Schaffung einer Notzuständigkeit behoben werden müssen, Regeln, die ihrerseits wiederum einen beträchtlichen Ermessensspielraum haben. Letztlich fahren alle Beteiligten, die Parteien wie das Gericht, besser mit gesetzlich vernünftig ausgestalteten „hard and fast rules": ι) Der Beklagte kann den Prozeß nicht dadurch verzögern, daß jahrelang über die Relevanz irgendwelcher vom Gesetz nicht verlangter Inlandsbeziehungen oder um die Voraussetzungen für eine Abweisung wegen forum non conveniens gestritten wird. 2) Einer versteckten, vom Gesetzgeber nicht gewollten Ausländerdiskriminierung wird ebenso ein Riegel vorgeschoben, wie einer parteiischen Begünstigung von Inländern. 87 3) Naheliegenden Manipulationen einer Inlandsbeziehung, wie dem Vorschieben eines inländischen Zessionars als Kläger oder Vermögensverschiebungen von einem Land in ein anderes, wird der Boden entzogen. 4) Das Recht des regelmäßig vernünftigen und nicht arglistigen Klägers, unter mehreren international zuständigen Gerichten frei wählen zu können (vgl. § 35 ZPO), wird ungeschmälert gewahrt, ebenso das Vertrauen beider Parteien auf die Respektierung ihrer Vereinbarung eines neutralen Forums.

IV.

Kriterien

Da die Gerichte auf der schiefen Ebene, die sie mit der besonderen Inlandsbeziehung des Rechtsstreits einmal betreten haben, so schnell nicht anhalten und sicheres Terrain werden wiedergewinnen können, muß die Suche nach festen Orientierungspunkten für die internationale Zuständigkeit fortgesetzt werden. Während der BGH es wenig hilfreich dabei beläßt, „einen über die Vermögensbelegenheit hinausgehenden Inlandsbezug" zu fordern, 88 anstatt ihn zu definieren, meint der öst. OGH, 87 Vgl. etwa Piper Aircraft Co. v. Reyno (oben N. 51). 88 BGHZ 115, 90, 94.

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

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die Inlandsbeziehung könne „entweder in einer Ortsgebundenheit der Parteien oder in einer Ortsbezogenheit des Streitgegenstandes" bestehen.89 Das ist etwas konkreter, kann aber nicht abschließend gemeint sein, da die internationale Zuständigkeit andernfalls z.B. weder durch die Vereinbarung eines neutralen Forums noch durch die Belegenheit eines die Klageforderung sogar übersteigenden Vermögens begründet werden könnte. In die Betrachtung möglicher Kriterien sind daher nicht nur personale und streitgegenstandsbezogene, sondern auch vermögensbezogene und rein rechtliche Kriterien einzubeziehen. 1. Personale

Kriterien

Als zusätzliche Inlandsbeziehung kommen in erster Linie Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt und der schlichte Aufenthalt (mere presence) des Beklagten ebenso wie des Klägers in Betracht. Sobald einer dieser zusätzlichen Beklagtenkontakte vorliegt, ist gegen die Annahme internationaler Zuständigkeit auch dann nichts einzuwenden,90 wenn dieses Kriterium sonst zuständigkeitsrechtlich irrelevant ist, wie z.B. in Deutschland grundsätzlich der schlichte Aufenthalt des Beklagten.91 Was in den USA und anderen Common-Law-Staaten, wie exorbitant auch immer, sogar einen allgemeinen Gerichtsstand begründet, sollte uns als zusätzliches Kriterium allemal ausreichen. Während die Vermögensbelegenheit zufällig sein kann, sind es diese Forumkontakte des Beklagten nicht. Umgekehrt gilt mit Ausnahme des schlichten Aufenthalts das gleiche für entsprechende Kontakte des Klägers. Auch sie begründen vielerorts, wie z.B. die Staatsangehörigkeit in Frankreich (Art. 14 Code civil) und

89 OG Η (oben N. 32), JB1. 1993, 666, 668; OG Η 8.7.1993, JB1. 1994, 343, 344 = ZfRV 1994, 124 — Gerichtsstandsvereinbarung, § 104 JN. 90 BGH (oben N. 15), N J W - R R 1993, 5 — Staatsangehörigkeit; OG Η 19.11.1986, SZ 59 Nr. 205 = ZfRV 1988, 134 = IPRax 1988, 246, 247 mit Anm. Hoyer 255 — Wohnsitz des Erben bei Vindikationslegat eines ausländischen ( / ) Grundstücks; OGH 22.10. 1986, EvBl. 1987 Nr. 25 — Zweitwohnsitz; OGH 28.9.1993, GRUR Int. 1994, 638, 640 — Sitz (urheberrechtlicher Unterlassungsanspruch, § 83c J N ) . 91 § 16 dZPO gilt nur für Beklagte, die nirgends einen Wohnsitz haben, ebenso § 67 JN; dagegen gilt § 2 II jap. ZPO für Beklagte, die keinen Wohnsitz in Japan haben (zweifelnd für die internationale Zuständigkeit Takata, in: Herausforderungen (oben N. 55), S. 49, 61). Daß der Vermögensgerichtsstand nicht schon jeden Touristen wegen seines mitgeführten Reisegepäcks erfaßt, ergibt sich unmittelbar aus einer vernünftigen Auslegung des § 23 ZPO; Schack, ZZP 97 (1984) 57 f.

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der Wohnsitz in Belgien und bislang in den Niederlanden,92 allein schon eine (exorbitante) internationale Zuständigkeit. In unserem Zusammenhang indizieren diese Kriterien ein legitimes inländisches Rechtsschutzbedürfnis, 53 insbesondere auch eines Ausländers mit inländischem Wohnsitz.94 Der schlichte Aufenthalt des Klägers im Forumstaat ist allerdings zu schwach und mißbrauchsanfällig, als daß ihm zuständigkeitsbegründende Bedeutung zukommen könnte.95 Zu den personalen Kriterien gehört auch die geschäftliche Niederlassung im Inland, gleich ob sie wie in Japan (§ 4 III ZPO) und wohl auch in den USA96 die allgemeine oder sonst nur eine besondere Zuständigkeit eröffnet. 97 Als Klägerkontakt erweist die Niederlassung das inländische Rechtsschutzbedürfnis, als Beklagtenkontakt ist sie der fixierte Kern von doing business. Doch wird man als zusätzliche Inlandsbeziehung des Beklagten auch dessen ohne inländische Niederlassung entfaltete Geschäftstätigkeit ausreichen lassen müssen,98 solange deren Umfang nicht ganz unbedeutend ist. Unberücksichtigt bleiben müssen allerdings vergangene Aktivitäten im Forumstaat, die keine Beziehung zum Rechtsstreit haben, da ein Beklagter, nur weil er früher einmal „benefits and protection" des Forumstaates in Anspruch genommen hat, nicht auf unabsehbare Zukunft dessen internationaler Zuständigkeit unterworfen werden darf. 2. Streitgegenstandsbezogene

Kriterien

Diese Kriterien müssen nicht den engen Streitgegenstand im technischen Sinne, z.B. die eingeklagte Geldforderung, betreffen, sondern den klagebegründenden Sachverhalt. Als zusätzliche Inlandsbeziehung reichen etwa ein inländischer Tatort, Abschluß-, Erfüllungs- oder Zahlungs92 Vgl. Schuck, IZVR, Rn. 406. 93 OLG F r a n k f u r t / M . (oben N. 15), W M 1993, 1670; OLG S t u t t g a r t 6.8.1990, I P R a x 1992, 179, 181 mit Anm. Fncke 159 ( = Vorinstanz zu BGHZ 115, 90, dort offengelassen, a a O 99). In aller Regel auch in J a p a n (oben bei N. 70), anders dagegen in Österreich (oben bei N. 38). In den USA k o m m t der U S - S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t und residence des Klägers im Rahmen der reasonableness große Bedeutung zu; Asahi (oben N. 43), 480 US, 102, 114 (1987); Born/ Westin (oben N. 50), S. 84 m w N . 94 Diskriminierend dagegen Kleinstück (oben N. 11), S. 212, 218. 95 So auch Zöller/ Vollkommen ZPO, 19. Aufl. Köln 1995, § 23 ZPO, Rn. 13. 96 Vgl. etwa Ciprari v. Servicos Aeros Cruzeiro do Sul, S.A., 232 F.Supp. 433 (S.D.N. Y. 1964). 97 § 21 dZPO, § 87 I JN, Art. 5 Nr. 5 G V Ü / L u g Ü . 98 Gegen OLG München (oben N. 14), I P R a x 1993, 237.

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

511

ort oder Auswirkungen auf den inländischen Markt" aus. Wird die Dienstleistung im Inland erbracht, die Ware vom Inland aus100 oder ins Inland geliefert, dann liegt eine ausreichende Nahebeziehung vor.101 In all diesen Fällen geht es darum, inländische Ereignisse rechtlich zu sanktionieren. 3. Vermögensbelegenheit

als

Kriterium

Besonders umstritten ist, inwieweit die inländische Belegenheit von Vermögen, das mit dem Streitgegenstand in keinerlei Zusammenhang steht,102 die internationale Zuständigkeit begründen kann. Die Abneigung, an die manchmal zufällige Belegenheit geringwertigen Vermögens Millionenprozesse zu knüpfen, ist verständlich, versperrt vielen jedoch den Blick auf den berechtigten, im internationalen Rechtsverkehr unentbehrlichen Kern des Vermögensgerichtsstands. 103 Solange die weltweite gegenseitige Urteilsanerkennung nicht gesichert ist, ist es sehr vernünftig, sogleich dort zu klagen, wo später auch vollstreckt werden muß. Die inländische Belegenheit eines die Klageforderung übersteigenden großen Vermögens muß deshalb, auch wenn es sich dabei um die einzige Inlandsbeziehung handelt, immer ausreichen.104 Problematischer sind die Fälle, in denen der Wert des inländischen Vermögens die Klageforderung nicht erreicht. In Österreich hat die Zivilverfahrensnovelle 1983 in § 99 I 2 JN versucht, dieses Problem, vorbehaltlich einer etwa erforderlichen zusätzlichen Nahebeziehung, über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu lösen: Die neuere Rechtsprechung setzt die Grenze bei etwa 20 % des Wertes des Streitgegenstandes an.105 Diese Begrenzung schließt indes noch nicht aus, daß „kleine Leute" schon wegen relativ kleiner Forderungen einer sie besonders belasten99 OG Η 9.10.1990, JB1.1991, 800, 802 = EvBl. 1991 Nr. 54 — Wettbewerbsverstoß, § 83 c JN. 100 OGH 23.11.1982, EvBl. 1983 Nr. 35 — Lieferung von Holz nach Südtirol, § 88 II JN. Für nicht ausreichend gehalten von OGH 27. lo. 1994, ZfRV 1995, 72. 101 Schlosser, IPRax 1992, 142. 102 Unproblematisch ist demgegenüber der Gerichtsstand des Streitgegenstandes in § 23 Satz 1, 2. Alt. dZPO; § 99 I 1, 2. Alt. JN; § 8 1. Alt. jap. ZPO. 103 Ausführlich Schuck, ZZP 97 (1984) 46-68; ders., IZVR, Rn. 323 ff.; Gelmer, Verfassungsrechtliche Vorgaben bei der Normierung der internationalen Zuständigkeit, in FS Schwind, Wien 1993, S. 17-42, 39 ff. 104 Gegen Schlosser, IPRax 1992, 142, der verlangt, daß sich die Hauptmasse des Vermögens des Beklagten im Inland befindet. 105 OGH 6.6.1991, EvBl. 1991 Nr. 182.

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den internationalen Zuständigkeit eines Staates unterworfen werden, in welchem sie relativ geringfügiges Vermögen besitzen. Statt einer relativen möchte ich deshalb eine absolute Wertgrenze vorschlagen: Sobald der Wert des inländischen Vermögnens 50 000 oder 100 000 DM (über die Höhe mag man streiten) übersteigt, ist die Inlandsbeziehung des Beklagten nicht mehr zufällig, sondern bewußt gewählt und gewichtig genug, um auch ohne weitere streitgegenstandsbezogene Kontakte die internationale Zuständigkeit des Belegenheitsstaates begründen zu können. Kann der Kläger seine Forderung über 1 Mio. DM nicht in einem einzigen Staat durchsetzen, weil das Vermögen des Beklagten über mehrere Staaten gestreut ist, die womöglich ausländische Urteile nicht anerkennen, dann darf man die Belastung des Klägers nicht noch dadurch vergrößern, daß man es ihm verwehrt, dort zu klagen, wo „nur" 100 000 DM belegen sind.106 Ist das inländische Vermögen groß genug, dann steht damit auch das inländische Rechtsschutz - und Vollstreckungsbedürfnis des Klägers fest, einer weiteren Inlandsbeziehung bedarf es dann nicht mehr. Alles andere schafft einem geordneten internationalen Rechtsverkehr abträgliche Vollstreckungsoasen und belastet den Kläger wie die Gerichte nur mit zusätzlichen Vollstreckbarerklärungsverfahren, die bei oft unsicherem Prozeßausgang weitere Verzögerungen und Kosten mit sich bringen. Selbstverständlich ist auch nach BGHZ 115, 90 eine über die Belegenheit inländischen Vermögens hinausgehende Inlandsbeziehung für die internationale Zuständigkeit im Verfahren zur Vollstreckbarerklärung ausländischer Urteile unnötig;107 alles andere wäre glatte Rechtsschutzverweigerung. 4. Rechtliche

Kriterien

Eine ganz anders geartete Inlandsbeziehung kann sich aus rein rechtlichen Kriterien ergeben. Hierher gehören eine Gerichtsstandsvereinbarung und die Anwendbarkeit inländischen Sachrechts. Für die Wirksamkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung zusätzlich ein personales Kriterium, wie den Sitz des Klägers108 oder des Beklagten, zu fordern, wäre ein 106 Soweit, wie in Deutschland, eine Teilklage zulässig ist, ist es schon deshalb sinnlos, auf eine bestimmte Wertrelation abzustellen. 107 Im Ergebnis zutreffend LG Heilbronn 15.8.1994, RIW 1995, 55 mit zust. Anm. Mankowski 57108 So OGH 8.7.1993 (oben N. 89).

Internationale Zuständigkeit und Inlandsbeziehung

513

Rückschritt in die Provinzialität, da den Parteien damit die Möglichkeit genommen würde, ein neutrales Forum zu vereinbaren, und weil sie damit noch weiter in die Arme der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit getrieben würden, was nicht Ziel der staatlichen Gerichte sein kann. Das anwendbare Recht indes ist als ein zusätzliches Kriterium durchaus geeignet.109 Es geht wohlgemerkt nicht darum, im Sinne einer lex fori in foro proprio einen strengen Gleichlauf von internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht herzustellen,110 sondern darum, eine doppelfunktional gegebene internationale Zuständigkeit nicht zu verneinen, wenn in der Hauptsache inländisches Recht anwendbar ist.111 Von diesem vernünftigen Ergebnis sollten sich die Gerichte auch nicht wie in Österreich durch die Verengung der Perspektive auf partei- und streitgegenstandsbezogene Kriterien abhalten lassen.

V. Auswirkungen

und

Fazit

Im Ergebnis werden sich also, wenn das Gericht nur will, fast immer ausreichende zusätzliche Inlandsbeziehungen des Rechtsstreits finden lassen. Die Suche nach ihnen ist umständlich, zeitraubend und teuer, der Gewinn an Einzelfallgerechtigkeit, wenn überhaupt, verschwindend gering. In jedem Fall ist der mit dem Verlust an Rechtssicherheit gezahlte Preis zu hoch. Das gilt erst recht, wenn man sich vor Augen führt, daß jede Eingrenzung der internationalen Entscheidungszuständigkeit wegen des im Anerkennungsrecht geltenden Spiegelbildprinzips112 zu einer entsprechenden Eingrenzung der Anerkennungszuständigkeit und damit zu einer Verringerung der Anerkennung ausländischer Urteile führt.113 Damit 109 OLG S t u t t g a r t (oben N. 93), I P R a x 1992, 179, 181; Kleinstück (oben N. 11), S. 213 f. Dagegen OG Η 2.6.1978, EvBl. 1979 Nr. 94 — öst. Hotelier; grundsätzlich auch Fasching (oben N. 24), Rn. 76 am Ende. 110 Ehrenzweig, Α Proper Law in a Proper Forum, 18 Okla.L.Rev. 340-352 (1965). Vgl. hierzu Schack, IZVR, Rn. 214 ff., 218. 111 In England ist die Anwendbarkeit englischen Vertragsrechts sogar geeignet, die internationale Zuständigkeit selbständig zu begründen, RSC Order 11, rule 1 (1) (d) (in). 112 § 328 I Nr. 1 dZPO; § 80 Nr. 1 EO; § 200 I Nr. 1 jap. ZPO. 113 Vgl. Fricke, N J W 1992, 3066, 3068 f.; Basedow, I P R a x 1994, 183, 186; Grothe, RabelsZ 58 (1994) 721. So f ü r die Zuständigkeit am Erfüllungsort LG T o k y o 2.5.

514

verdoppelt sich die Rechtsunsicherheit auf der Anerkennungsebene, und außerdem würde die anerkennungsfreundliche Tendenz der letzten Jahre in ihr Gegenteil verkehrt.114 Diese Fernwirkungen im Anerkennungsrecht sind deshalb ein Grund mehr, bei der Entscheidungszuständigkeit an dem bewährten Grundsatz der Doppelfunktionalität festzuhalten und sich nicht auf das Glatteis hinreichender oder unzulänglicher zusätzlicher Inlandsbeziehungen zu begeben. Soweit hinter den geschilderten neueren Entwicklungen der Wille steht, die exorbitanten Zuständigkeiten durch zusätzliche Erfordernisse einzuschränken, sollten die Gerichte bedenken, daß jede einseitige Abrüstung durch Entwertung der eigenen exorbitanten Gerichtsstände ohne Gegenleistung anderer Staaten politisch unklug ist und den primär zu Gesetzesänderungen berufenen Gesetzgeber wichtiger Verhandlungsmasse beim Abschluß von Staatsverträgen beraubt.115 Die Zukunft liegt in einem vom GVÜ und LugÜ vorgezeichneten geschlossenen System von internationaler Zuständigkeit und Urteilsanerkennung. Zu diesem Ziel führen nur Staatsverträge, nicht aber einseitige Reparaturversuche der Gerichte, die mehr Schaden anrichten als nützen.

1972, JAIL 18 (1974) 209, 213, hierzu Munzel (oben N. 76), S. 585 f. Beabsichtigt von OLG Osaka 25.2.1992, JAIL 36 (1993) 217, 218. 114 Basedow (IPRax 1994, 186) plädiert deshalb für eine Loslösung vom Spiegelbildprinzip. Doch würde damit die Rechtsunsicherheit im Anerkennungsrecht nur noch größer. An dem Prinzip ist deshalb festzuhalten; vgl. Schack, IZVR, Rn. 831 ff., 833; Fricke, Anerkennungszuständigkeit zwischen Spiegelbildgrundsatz und Generalklausel, Bielefeld 1990, S. 117. 115 Schack, JZ 1992, 55.

Wann ist ein Urteil aufgehoben? von

Prof. Dr. Peter Schlosser

München

Professor an der Universität München

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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung : Der Grundsatz : Die formelle Rechtskraft als Wirksamkeitszeitpunkt eines Gerichtsurteils II. Aufhebung eines Urteils ohne Rechtskraft des Aufhebungsurteils im Rahmen von § 717 Abs. 2 ZPO ? III. Die innere Berechtigung der Anbindung der Aufhebungswirkung eines Urteils an seine formelle Rechtskraft IV. Ergebnis

Wann ist ein Urteil aufgehoben?

I. Einleitung : Der Grundsatz : Die formelle als Wirksamkeitszeitpunkt

eines

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Rechtskraft

Gerichtsurteils

Nach der Entwicklung, die das deutsche Zivilprozeßrecht in langen Jahrzehnten genommen hat, hat es auch gerichtlichen Entscheidungen, die noch nicht rechtskräftig sind, einen erheblichen praktischen Wert verliehen. Verantwortlich dafür ist der Umstand, daß die übergroße Anzahl der Urteile Leistungsurteile sind, und sie nahezu allesamt für vorläufig vollstreckbar erklärt werden müssen, wenn auch Varianten hinsichtlich der Verpflichtung des Gläubigers oder des Schuldners zur Sicherheitsleistung bestehen. Zudem haben Gesetzgeber und Rechtsprechung das Institut der vorläufigen „Vollstreckbarkeit" auch in einem Bereich eingesetzt, mit dem es an sich nichts zu tun hat, nämlich im Bereich der prozessualen Gestaltungsurteile. Gestaltungsurteile unterscheiden sich nämlich von Leistungsurteilen dadurch, daß sie einer „Vollstreckung" nicht bedürfen 1 . Gleichwohl setzt § 775 Nr. 1 ZPO voraus, daß ein Urteil, welches ein anderes Urteil aufhebt, typischerweise also ein Berufungsurteil, in dieser seiner Eigenschaft „vollstreckbar" sein muß. Man ist sich denn auch einig, daß Urteile von Berufungsgerichten, die landgerichtliche Urteile aufheben, auch dann vorläufig für vollstreckber erklärt werden, wenn sie nicht in der Sache gegenläufig entscheiden, sondern den Rechtsstreit an das Ausgangsgericht zurückverweisen 2 . Auch Urteile, die einer Drittwiderspruchsklage 3 oder einer Vollstreckungsgegenklage 4 stattgeben, sind für vorläufig vollstreckbar zu erklären 5 . Dies zu postulieren, hat nur Sinn vor dem Hintergrund der allgemeinen Rechtsregel, daß in der streitigen Zivilgerichtsbarkeit Gerichtsentscheidungen ihre Wirkungen im Prinzip erst mit Eintritt der formellen Rechtskraft entfalten. Dieser rechtspolitische Grund, nämlich den Eintritt der intendierten Urteilswirkung vor den Zeitpunkt des Eintritts 1 2 3 4 5

RGZ 100, 100; Rosenberg/Schwab/ Gottwald Zivilprozeßrecht 15 § 94 III 1 ; allg. M. OLG München MDR 82, 238; OLG Karlsruhe JZ 84, 635; allg. Lit. Μ. Thomas/Putzo19 § 771 Rdnr. 24. Thomas/Putzo" § 767 Rdnr. 30. Nähere Zusammenstellung bei Schlosser, Gestaltungsklagen und Gestaltungsurteile (1966) S. 244.

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der formellen Rechtskraft vorzuverlagern, wird auch in den genannten Fällen, in denen Urteile für vorläufig vollstreckbar erklärt werden, oft herausgestellt. Völlig übergangen wird hierbei freilich der Umstand, daß Vollstreckungswirkungen und Gestaltungswirkungen zwei grundverschiedene Urteilswirkungen sind und eine „vorläufige" Gestaltungswirkung, sollte sie denn durch ein Gericht geschaffen werden können, eigentlich nicht dadurch zu erzielen ist, daß man ein Urteil schlicht für vorläufig „vollstreckbar" erlärt. Vorläufige Vollstreckbarkeit würde eigentlich immer nur bedeuten, daß die Wirkungen eines Urteils, die Vollstreckungswirkungen sind, vorläufig eintreten. Immerhin hat das Gesetz bei prozessualen Gestaltungsurteilen selbst zum Ausdruck gebracht, daß es auch den vorläufigen Eintritt von prozessualen Gestaltungswirkungen als Vollstreckungswirkungen ansieht. Denn in § 775 Nr. 1 ZPO ist von einer „vollstreckbaren" Entscheidung die Rede, „aus der sich ergibt, daß das zu vollstreckende Urteil aufgehoben oder daß die Zwangsvollstreckung für unzulässig erklärt ist". Die prozessuale Gestaltungswirkung eines Urteils betrifft in diesen Fällen auch nur die Vollstreckungswirkung. Aber selbst bei materiellrechtlichen Gestaltungsurteilen bedient sich der Gesetzgeber gelegentlich der Denkfigur der vorläufigen „Vollstreckbarkeit", wenn er die Gestaltungswirkung bereits mit Erlaß des Gestaltungsurteils als vorläufig eingetreten behandelt wissen will. § 708 Nr. 7 ZPO bringt dies für ein Gestaltungsurteil, das nach §§ 556a, 556b, BGB die Fortsetzung eines Mietverhältnisses, eventuell zu geänderten Bedingungen, verfügt, beispielhaft zum Ausdruck. Wie es um die gelegentliche Verquickung von Vollstreckungs- und Gestaltungswirkung auch immer bestellt sein mag, jedenfalls ist der vom Gesetzgeber akzeptierte Ausgangspunkt jener, daß die prozessuale Gestaltungswirkung eines Urteils nicht von Haus aus bereits mit dessen Erlaß eintritt, sondern erst mit seiner formellen Rechtskraft.

II. Aufhebung eines Urteils ohne Rechtskraft des Aufhebungsurteils im Rahmen von § 717 Abs. 2 ZPO? Ganz anders liegen die Dinge nach Deutung der herrschenden Meinung auffälligerweise im Bereich der verschuldensunabhängigen Schadenser-

Wann ist ein Urteil aufgehoben?

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satzverpflichtung aufgrund einer vorläufigen Vollstreckung aus einem Urteil, das später wieder aufgehoben worden ist. In § 717 Abs. 2 ZPO spricht das Gesetz nämlich nicht von einer „vollstreckbaren" Entscheidung, durch die ein für vorläufig vollstreckbar erklärtes Urteil wieder aufgehoben worden ist, sondern nur schlicht von „Aufhebung" (wobei allerdings als selbstverständlich vorausgesetzt ist, daß diese Wirkung nur ein gegenläufiges Gerichtsurteil vollbringen kann). Wann aber ist in diesem Sinne ein Urteil „aufgehoben"? Nach dem Gesagten kann dies nur dann der Fall sein, wenn jene Gerichtsentscheidung, die ein Urteil aufhebt, ihrerseits formell rechtskräftig geworden ist6 oder einen Bestandteil enthält, der die Aufhebungswirkung vorwegnimmt, indem etwa das Institut der vorläufigen „Vollstreckbarkeit" eingesetzt wird, um eine vorläufige Gestaltungswirkung zu erzielen. Urteile von Oberlandesgerichten, die erstinstanzliche Urteile aufheben und die Sache zurückverweisen, werden, wie gezeigt, schon im Hinblick auf § 775 Nr. 1 ohne Obliegenheit zu einer Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt. Nach allgemeiner Ansicht soll es aber darauf, ob ein Aufhebungsurteil im Sinne von § 717 Abs. 2 ZPO rechtskräftig oder vollstreckbar ist, überhaupt nicht ankommen 7 . Knapp und bündig, aber ohne den Versuch, eine Ableitung zu machen, sagt das OLG Karlsruhe 8 : „Mit Erlaß der aufhebenden Entscheidung wird der Anspruch aus § 717 Abs. 2 existent und fällig." Ganz unerörtert bleibt hierbei, woraus ein Aufhebungsurteil vor Rechtskraft seine aufhebende Kraft nehmen soll. Denn die Hypothese ist gerade das Fehlen formeller Rechtskraft oder eines Ausspruchs über vorläufige „Vollstreckbarkeit". Ein solches Ergebnis könnte sich daher entgegen der gesetzlichen Grundregel zum Eintritt von Urteilswirkungen nur aufgrund einer Auslegung ergeben, die, um eines stimmigen Ineinandergreifens von Einzelnormen des Prozeßrechts willen, auf eine solche Annahme angewiesen ist: Durch seine Einzelregelungen hätte der Gesetzgeber eine solche Vorwirkung der prozessualen Gestaltungswirkung eines Aufhebungsurteils konkludent angeordnet. Solche Einzelnormen 6 Den Schadensersatzanspruch davon abhängig machend: Weismann, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts Band 2 (1905) 27 ; de lege ferenda dies fordernd: Baur, Studien zum einstweiligen Rechtsschutz (1967) S. 115. 7 Stein/Jonas/Münzberg21 § 717 Fn. 49; MünchKommZPO-A'nfeer § 717 Rdnr. 9 ; a 11g. M. 8 OLGZ 79, 370, 374.

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gibt es aber nicht. Die einzige Rechtsregel, an die man denken könnte, ist § 717 Abs. 2 S. 2 ZPO, der es dem Vollstreckungsschuldner gestattet, seinen Schadensersatzanspruch durch einfachen Antrag in das Verfahren einzufügen, wofür man einiger dogmatischer Skepsis zum Trotz gut den Begriff der privilegierten Widerklage gebrauchen kann. Jedoch hat auch die Handhabung dieses Antrags nichts damit zu tun, daß die Wirkungen der aufhebenden Entscheidung auf deren Erlaß vorverlegt werden. Dies sei etwas näher erläutert. 1. Folgende Situation zeigt, daß die Zulässigkeit des Inzidentantrags nach § 717 Abs. 2 S. 2 ZPO gar nicht voraussetzt, daß schon ein gerichtlicher Ausspruch ergangen ist, wonach das vorläufig vollstreckbare Urteil aufgehoben wird 9 : Kommt ein Berufungsgericht zu der Überzeugung, das der Klage stattgebende, angefochtene Urteil sei jedenfalls so, wie gefällt, nicht haltbar, wieweit es durch ein die Klage abweisendes zu ersetzen sei, stehe noch nicht fest: Dann kann nicht etwa durch eine Art Zwischenurteil die angegriffene Entscheidung aufgehoben und zur Sache weiter verhandelt werden. Die isolierte Haltbarkeit des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils ist weder ein Zwischenstreit, noch Teil eines Rechtsstreits im Sinne von § 301 ZPO. Vielmehr kann nur durch ein einheitliches Urteil die angegriffene Entscheidung aufgehoben und über den Streitgegenstand neu entschieden werden10. Gleichwohl kann der Inzidentantrag nach § 717 Abs. 2 Satz 2 ZPO bereits im Berufungsverfahren gestellt werden. Er hat dann die Natur eines unechten Hilfsantrags; für den Fall des Berufungserfolges wird ein weiterer Sachantrag gestellt. Die Möglichkeit eines Inzidentantrags „in dem anhängigen Rechtsstreit" spricht also nicht dafür, daß eine Gerichtsentscheidung, die eine andere aufhebt, sofort wirksam wäre. 2. Hebt ein OLG als Berufungsgericht ein landgerichtliches Urteil auf und verweist es den Rechtsstreit an die erste Instanz zurück, dann kann gewiß, sobald die Sache wieder in die erste Instanz gelangt ist, dort der Inzidentantrag nach § 717 Abs. 2 S. 2 gestellt werden. In dieser Situation ist solches aber erst möglich, nachdem das aufhebende Urteil formell rechtskräftig geworden ist. Vorher ist die erste Instanz mit der Sache noch nicht wieder befaßt. Auch wenn ihr ein Duplikat der Gerichtsakten zur Verfügung stünde, könnte sie die neue Arbeit am Rechtsstreit nicht 9 So mit Recht MündnKommZPO-Krüger § 717 Rdnr. 22. 10 Will das Berufungsgericht ein Teilurteil nach § 301 ZPO erlassen, so darf es das angefochtene Urteil nur insoweit aufheben, als es dem Erlaß des Teilurteils entgegensteht.

W a n n ist ein Urteil aufgehoben?

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wiederaufnehmen, solange noch das Revisionsverfahren schwebt. Darin ist man sich allseits einig. Seinen Grund kann dieser Rechtssatz aber nur darin haben, daß der bloße Ausspruch der Aufhebung eines angefochtenen Urteils seine Aufhebung noch nicht bewirkt, also den Weg zur neuen Arbeit in der unteren Instanz noch nicht wieder freigibt. Es muß die formelle Rechtskraft der Aufhebungsentscheidung hinzukommen. 3. Der Inzidentantrag kann auch im Revisionsverfahren gestellt werden. Zwar lassen die Revisionsgerichte eine Beweisaufnahme, die durch kontroverse Tatsachenbehauptungen zu diesem Antrag ausgelöst werden würde, nicht zu, sondern verweisen dann die Sache an das OLG zurück. Unbestrittene neue Tatsachen können aber entgegen allen sonstigen Grundsätzen des Revisionsrechtes sehr wohl in das laufende Revisionsverfahren eingeführt werden11. Auch diese Möglichkeit basiert aber nicht auf der Annahme, daß bereits eine Aufhebungsentscheidung existierte, die vor ihrer Rechtskraft wirksam geworden wäre. Auch wenn das OLG die landgerichtliche Entscheidung bestätigt hat, und hiergegen Revision eingelegt worden ist, ist der Inzidentantrag zulässig, für den Fall des Revisionserfolges Schadensersatz wegen der Vollstreckung aus dem vorläufig vollstreckbar erklärten Landgerichtsurteil zuzuerkennen. Die Art und Weise, wie der Gesetzgeber jeder Partei raschen und effizienten Rechtsschutz gewährt, wenn aus einem vorläufig für vollsteckbar erklärten Urteil gegen sie vollstreckt wurde, das sich später als unberechtigt herausstellt, ist also ungeeignet, die Vorstellung zu begründen, die Aufhebungswirkung eines Aufhebungsurteils trete grundsätzlich vor seiner formellen Rechtskraft ein.

III. Die innere Berechtigung der Anbindung der Aufhebungswirkung eines Urteils an seine formelle Rechtskraft Auch in einigen anderen Aspekten mag das Gesetz davon absehen, den Eintritt von Rechtswirkungen der Aufhebung eines Urteils an den Eintritt der Aufhebungswirkung zu knüpfen. Steht schließlich fest, daß das die vorläufige Vollstreckbarkeit begründende Urteil zu Unrecht ergangen ist, so ist es evident sinnvoll, daß Pro11 BGH NJW 94, 2095, 2096; RG JR 26 Nr. 798 ; allg. Lit. Μ.

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zeßzinsen von dem Zeitpunkt an geschuldet werden, zu dem aufgrund der Vollstreckung etwas beigetrieben worden ist bzw. zur Abwendung der Vollstreckung gezahlt worden ist. Durch die effektive Vorverlegung der Rechtshängigkeit im letzten Halbsatz von § 717 Abs. 2 ZPO begründet das Gesetz eine solche Rechtsregel12. Wenn der Schaden des Vollstrekkungsschuldners allein schon dadurch eingetreten ist, daß Pfändungen vorgenommen worden sind, ist schon sehr fraglich, ob die fiktive Vorverlegung der Rechtshängigkeit tatsächlich sinnvoll ist. Wie es immer auch sei, all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sinnvoll ist, den Eintritt der Aufhebungswirkung dann, wenn das Gesetz nichts Besonderes anordnet, an den Eintritt der formellen Rechtskraft der Aufhebungsentscheidung zu binden. Das sei anhand zweier Konstellationen belegt: 1. Zuständigkeit der ersten Instanz für Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes wird erst dann wieder begründet, wenn die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils rechtskräftig ist. Ist etwa eine Klage abgewiesen worden, und hat das OLG als Berufungsinstanz dieses Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, so kann sich noch bevor dieses Urteil rechtskräftig wird, die Notwendigkeit einstweiligen Rechtsschutzes ergeben. Für ihn ist nach § 919 ZPO das Gericht „der Hauptsache" zuständig. Bevor das Urteil des OLG rechtskräftig wird oder durch Einlegung der Revision der diesem Rechtsmittel eigene Devolutiveffekt eintritt, ist Gericht der Hauptsache das OLG13. Die Aufhebungswirkung (weche bei Fehlen einer gegenläufigen Sachentscheidung die Zurückverweisungswirkung automatisch nach sich zieht, weshalb die Zurückverweisung durch das Berufungsgericht nur deklaratorisch ist), ist noch nicht eingetreten. 2. Vor allem aber kann die Verjährung des Schadensersatzanspruches vernünftigerweise erst mit formeller Rechtskraft des Aufhebungsurteils beginnen. Allgemein unterwirft man die Verjährung des Anspruchs aus § 717 Abs. 2 ZPO der dreijährigen Verjährungsfrist des § 852 BGB. Es handelt sich im weiteren Sinne um einen Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung14. Ganz allgemein sagt man auch, die Verjährung beginne bereits mit der Fällung jener Entscheidung, die die für vorläufig

12 Stein!Jonas/Münzberg20 § 717 Rdnr. 42. 13 Stein/Jonas/Grunsky20 § 919 Rdnr. 6 ; allg. M. 14 OLG Karlsruhe aaO; Baumbach/Hartmann™ § 717 Rdnr. 11; allg. M.

W a n n ist ein Urteil aufgehoben?

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vollstreckbar erklärte aufhebt 15 . Doch ist dies nicht nur dogmatisch unkritisch, sondern auch im Ergebnis unvernünftig. Der Geschädigte soll frei entscheiden können, ob er mit der Geltendmachung seines Schadensersatzanspruches abwarten will, bis Klarheit über die endgültige Aufhebung des vorläufig für vollstreckbar erklärten Urteils besteht. Bis diese Klarheit einkehrt, können aber mehr als drei Jahre ins Land gehen. Die Forderung wäre also verjährt, noch bevor das Aufhebungsurteil rechtskräftig geworden wäre. Auch wenn der Geschädigte die Möglichkeit hat, den Verjährungseintritt dadurch zu vermeiden, daß er den Schadensersatzanspruch als Inzidentantrag im laufenden Verfahren geltend macht, so besteht kein Grund, ihn unter Verjährungsdruck dazu zu zwingen.

IV.

Ergebnis

Es bleibt also dabei: Sofern das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes anordnet, ist ein Urteil durch eine andere Gerichtsentscheidung erst dann aufgehoben, wenn diese rechtskräftig geworden ist.

15 Wie vorige Note.

Dissenting Opinions im Schiedsverfahren von

Prof. Dr. Rolf A. Schütze

Stuttgart

Rechtsanwalt in Stuttgart

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Inhaltsverzeichnis

I. Dissenting opinions im deutschen Zivilverfahrensrecht II. Vor- und Nachteile von Sondervoten 1. Akzeptanz des Schiedsspruchs 2. Rechtsfortbildung 3 . Bedeutung in Vollstreckbarerklärungs- und Aufhebungsverfahren 4 . Interesse, keinen falschen Spruch widerspruchslos zu unterzeichnen III. Zulässigkeit der dissenting opinion im deutschen Schiedsverfahrensrecht 1. Parteiautonomie 2. Verfahrensregelung durch die Schiedsrichter a. Mehrheitliche Regelung b. Vereinbarkeit mit §§1025 ff. ZPO 3. Fazit IV. Folgen unzulässiger Veröffentlichung einer dissenting opinion 1. Aufhebbarkeit des Spruchs 2 . Schadensersatzansprüche gegen die Schiedsrichter V. Ergebnis

Dissenting Opinions im Schiedsverfahren

527

Dissenting opinions in der Schiedsgerichtsbarkeit sind ein durch die Jahre diskutiertes Thema 1 . Die Internationale Handelskammer hat sich mit der Problematik in jüngerer Zeit eingehend beschäftigt 2 , ohne sie — auch nur in ihrem Bereich — lösen zu können. Gegenstand dieser Untersuchung ist allein die Zulässigkeit der dissenting opinion im deutschen Recht, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich um ein nationales oder internationales Schiedsverfahren handelt. Der unglückseligen Trennung von nationaler und internationaler Schiedsgerichtsbarkeit in einigen modernen Schiedsgesetzen — aus einem juristischen Krämertum geboren, möglichst viele internationale Schiedsverfahren an sich zuziehen — ist das deutsche Recht — bis heute — nicht gefolgt.

I. Dissenting

opinions im deutschen

Zivilverfahrensrecht

Während andere Rechtsordnungen es dem Richter weitgehend gestatten, seine von der Mehrheitsentscheidung oder -begründung abweichende Meinung den Parteien und ggf. der Öffentlichkeit bekanntzumachen 3 , kennt das deutsche Recht die dissenting oder concurring opinion nur in Ausnahmefällen. Ende der 60iger Jahre wurde die Einführung der dissenting opinion in Deutschland für alle Gerichtsbarkeiten diskutiert 4 . Das Problem war 1 Vgl. dazu Werner, Dissenting opinions beyond fears, Journal of International Arbitration 9 (1992), No. 4, S. 23 ff.; zum Meinungsstand Berger, Internationale Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit, 1992, S.425 f. 2 Vgl. Final Report of the Working Party on Dissenting opinions, The ICC International Court of Arbitration Bulletin vol. 2, No. 1, S.32 ff. 3 Vgl. dazu den Überblick bei Zweigert, Empfiehlt es sich, die Bekanntgabe der abweichenden Meinung des überstimmten Richters (Dissenting opinions) in den deutschen Verfahrensordnungen zuzulassen?, Gutachten für den 47. Deutschen Juristentag, 1968, D 49 ff. 4 Vgl. z. b. Adam, Die dissenting opinion in der Gerichtspraxis der USA, DRiZ 1968, S. 961 ff.; Berger, Empfiehlt sich die Bekanntgabe abweichender Meinungen überstimmter Richter ? , NJW 1968, S, 961 ff.; Federer, Die Bekanntgabe der abweichenden Meinung des überstimmten Richters, JZ 1968, S. 511 ff.; Vollkommer, Empfiehlt es sich, die Bekanntgabe der abweichenden Meinung des überstimmten

528

Gegenstand des 47. Deutschen Juristentages in Nürnberg vom 17.-20. 09. 19685, für den Zweigert sein das Minderheitsvotum grundsätzlich befürwortendes Gutachten erstattete 6 . Leider fand diese Veranstaltung in einer Zeit statt, da Reformer ihre politischen Ideen durchsetzen wollten. Die Diskussion führte schliesslich zu keiner grundlegenden Änderung in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Das einzige Resultat war die Zulassung des Sondervotums in der Verfassungsgerichtsbarkeit, die nach einer auch hier sehr kontrovers geführten Diskussion7 durch Gesetz vom 21. 12. 19708 erfolgte. Nach §30 Abs. 2 BVerfGG kann ein Richter „seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen". Der Meinungsstreit 9 , der dieser Gesetzesänderung voranging, zeigt die Problematik des Sondervotums. Die Befürworter machten geltend, das Ansehen des Gerichts werde durch eine umfassende Darstellung aller rechtlichen Gesichtspunkte gestärkt, die Anonymität werde beseitigt, Richtergremium und Richterpersönlichkeit gestärkt. Es trete ein Demokratisierungseffekt ein, und das Sondervotum diene der Rechtsentwicklung. Die Gegner gingen von einer Schwächung des Gerichts aus, da die Gefahr bestehe, daß auf öffentlichen Beifall Rücksicht genommen, das Beratungsklima verschlechtert und das Gewicht der Entscheidung gemindert werde. Sieht man von der unsinnigen Leerformel des Demokratisierungseffektes ab, die nur aus den verqueren politischen Ideen der „68er" zu erklären ist, so konzentriert sich die Diskussion darauf, ob die Akzeptanz des Spruches durch eine dissenting opinion gestärkt oder geschwächt wird und welche Konsequenzen das Sondervotum für die Rechtsentwicklung10 hat. Letzterer Gesichtspunkt tritt in der Schiedsgerichtsdiskussion zurück, da Schiedssprüchen keine rechtliche und nur geRichters (dissenting opinion) in den deutschen Verfahrensordnungen zuzulassen ? , JR 1968, S.241 ff. 5 Vgl. auch den Bericht ΝJW 1968, S. 2045 ff. (2048 f.) 6 Vgl. dazu Zweigert (FN 3) 7 Vgl. für viele Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, §30 Rdn. 4 ff.; Umbach/Clemens/Zöbeley, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, §30 Rdnr. 16 ff. 8 BGBl. 1970 I, 1765. 9 Vgl. dazu Schneider, Die Einführung des offenen Sondervotums beim Bundesverfassungsgericht, FS für Maunz, 1971, S.345 ff. (347 ff.) 10 Vgl. dazu Zweigert (FN 3), D 22 ff.

Dissenting Opinions im Schiedsverfahren

529

ringe faktische Präjudizialität zukommt 11 . Sondervoten sind in der Zivilgerichtsbarkeit im übrigen unzulässig12. Den Richtern beim Bundesgerichtshof ist es zwar gestattet, ein Sondervotum zu den Personal- oder Senatsakten zu geben, ein veröffentlichtes Sondervotum ist aber auch ihnen nicht erlaubt.

IL Vor-

und Nachteile

von

Sondervoten

Die Vor- und Nachteile von Sondervoten sind für die Gerichte der unterschiedlichen Gerichtszweige und die Schiedsgerichte nicht unbedingt identisch. Sie können für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anders sein als für die ordentlichen Zivilgerichte. Die Schiedsgerichtsbarkeit— als Form der privaten Gerichtsbarkeit— nimmt wiederum eine besondere Rolle ein.

1. Akzeptanz des Schiedsspruchs Jedes Schiedsverfahren hat—wenn es nicht durch Vergleich beendet wird— Gewinner und Verlierer. Während es für den Obsiegenden regelmäßig gleichgültig ist, warum er gewonnen hat, und ob der Spruch einstimmig oder nur mehrheitlich gefällt worden ist, ist die Situation für die unterlegene Partei grundsätzlich anders. Sie wird sich fragen, was denn das Recht sei, wenn die Schiedsrichter zu Rechtsfragen unterschiedliche Meinungen vertreten. Der Unterlegene wird darin bestärkt, daß es nur die Zusammensetzung des Schiedsgerichts war, die ihn verlieren ließ. Die Akzeptanz des Spruches wird für ihn durch eine dissenting opinion geschwächt. Anders mag dies bei der concurring opinion sein. Sie zeigt auf, daß der Spruch auch bei unterschiedlicher rechtlicher Würdigung des Sachverhalts nicht anders ausgefallen wäre.

11 Vgl. dazu Schütze, Zur Präzedenzwirkung von Schiedssprüchen, F S für Glossner, 1994, S.333 ff.; ders.. The Precedential Effect of Arbitration Decisions, Journal of International Arbitration, 11 (1994), No. 3, S. 69 ff. 12 Dies folgt aus §43 DRiG: Der Richter hat über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen.

530

2.

Rechtsfortbildung

Dissenting oder concurring opinions angesehener Richter können zur Rechtsfortbildung beitragen13. Sie können auf einen Trend hindeuten, den das Gericht unter Umständen zukünftig einschlagen könnte. In der Schiedsgerichtsbarkeit ist dieser Gesichtspunkt bedeutungslos. Schiedssprüche von Gelegenheitsschiedsgerichten haben — von Ausnahmen abgesehen" — keine — auch nicht faktische — präjudizielle Wirkung. Bei institutionellen Schiedsgerichten-insbesondere mit Listenbindung15— mag dies etwas anders sein16. Insgesamt sind dissenting opinions in der Schiedsgerichtsbarkeit für die Rechtsfortbildung jedenfalls wegen der mangelnden Präjudizialität von Schiedssprüchen weitgehend bedeutungslos. 3. Bedeutung in Vollstreckbarerklärungs-

und

Aufhebungsverfah-

ren Die dissenting opinion kann der unterlegenen Partei Hinweise für ein Aufhebungsverfahren (§§ 1041 ff. ZPO) und die Verteidigung im Vollstreckbarerklärungsverfahren geben. Wenn die dissenting opinion eines Schiedsrichters etwa die ordre public-Widrigkeit des Anspruchs (Verstoß gegen den materiellen ordre public) begründet, so kann dies im Aufhebungs- und Vollstreckbarerklärungsverfahren bedeutsam sein. Jedenfalls wird die unterlegene Partei zur Anfechtung geradezu er13 Vgl. Zweigert (FN 3) D 22 ff. 14 Eine solche Ausnahme stellt beispielsweise der Aramco Schiedsspruch Rev. crit. 1963, 305 dar; vgl. dazu Batiffol, La sentence Aramco et le droit international privg, Rev. crit, 1964, S. 647 ff. 15 So hat der Schiedsspruch des Schiedsgerichts der Allunionskammer in der Sache Jordan Investments Ltd. v. Soiusneftexport, RabelsZ 24 (1959), 540 — jedenfalls für die sozialistische Aussenhandelsschiedsgerichtsbarkeit — präjudizielle Wirkung für die Frage der Einwirkung eines Embargos auf die Erfüllung von Verträgen gewonnen. Vgl. dazu Berman, Force Majeure and the Denial of an Export License under Soviet Law: A Comment on Jordan Investments Ltd. v. Soiusnefteksport, RabelsZ 24 (1959), S.449 ff.: Sasson, The Soviet-Israel Oil Arbitration, Journal of Business Law, 1959, S. 132 ff.; Hecht, Noch ein Wort zur israelisch-sowjetischen Öl-Arbitrage, AWD 1959, S. 36 f.; Jerusalem, Einstellung sowjetischer Öllieferungen nach Israel — Entscheidung der Aussenhandels — Arbitragekommission bei der Handelskammer der UdSSR in Moskau, AWD 1958, S. 187. 16 Vgl. Schütze (FN 11)

Dissenting Opinions im Schiedsverfahren

531

muntert17. Dies muß nicht unbedingt ein Nachteil sein. Die Aufdeckung von Aufhebungsgründen kann der endgültigen Rechtsfindung dienen und ist unter Umständen die einzige Möglichkeit, Mängel des Schiedsverfahrens, die sonst durch das Beratungsgeheimnis verborgen bleiben, den Parteien zu offenbaren und ihnen die Möglichkeit zu geben, diese im Verfahren vor dem staatlichen Gericht geltend zu machen18. 4. Interesse, keinen falschen

Spruch

widerspruchslos

zu

unter-

zeichnen Jeder Richter eines Kollegialgerichts und jedes Mitglied eines Schiedsgerichts hat ein Interesse daran, daß eine richtige Entscheidung ergeht, zumindest möchte es nicht widerspruchslos überstimmt werden. Dieses Interesse ist in der Schiedsgerichtsbarkeit regelmäßig größer als bei ordentlichen Gerichten, da die Zusammensetzung des Schiedsgerichts — zumindest teilweise — parteiabhängig ist und es leider immer wieder vorkommt, daß Schiedsrichter tätig werden, die — ohne einen Ablehnungsgrund zu geben — nicht völlig unparteiisch sind. Die Möglichkeit, einen unliebsamen Spruch durch Verweigerung der Unterschrift zu blockieren, die leider meist unlautere Motive hatte, ist durch das IPRG 1985 abgeschafft worden; weigert sich ein Schiedsrichter zu unterschreiben, so genügen jetzt zwei Unterschriften bei einem Dreierschiedsgericht19. Der überstimmte Schiedsrichter kann den Spruch nicht mehr verhindern. Die dissenting opinion gibt ihm die einzige Möglichkeit auszudrücken, daß er ihn für falsch hält. Die Gefahr dabei ist jedoch— anders als bei staatlichen Gerichten—, daß der abweichende Schiedsrichter die dissenting opinion nur abgibt, um „seiner" Partei zu gefallen. Er wird versucht sein, sich der Partei gegenüber, die ihn bestellt hat, zu rechtfertigen. Das ist ungut und für die Spruchfindung schädlich. In der Diskussion auf dem Juristentag 1968 17 Vgl. dazu Werner (FN 1), S. 23 ff-, der von einem paving the way for an appeal spricht (S. 26) 18 Werner (FN 1) sieht die Gefahr deshalb schon gering (moot issue), weil die Anfechtbarkeit von Schiedssprüchen sehr beschränkt ist. 19 Vgl. §1039 ZPO; dazu von Hoffmann, Die Novellierung des deutschen Schiedsverfahrensrechts, IPrax 1986, S. 337 ff.; Lörcher, Kein Schiedsspruch ohne Unterschrift des Vorsitzenden ?, B B 1988, S. 78 ff.; Sandrock, Das Gesetz zur Neuregelung des Internarionalen Privatrechts und die internationale Schiedsgerichtsbarkeit, R I W / Α WD Beil. 2/1987, S. 14 f.

532

wurde das Argument — mit einigem Recht — insbesondere im Hinblick auf die Laienrichter in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit vorgebracht20. Werner 21 versucht— etwas polemisch— abzuwiegeln. Die Unterstellung, ein Schiedsrichter werde sich „seiner Partei" gegenüber rechtfertigen, sei durch nichts bewiesen. Die Praxis sieht anders aus.

III. Zulässigkeit

der dissenting

opinion im deutschen

Schiedsverfahrensrecht Vor- und Nachteile der dissenting opinion sind eine Sache, ihre Zulassung nach geltendem Recht eine andere22. Selbst wenn alle Vorteile für die Zulassung einer dissenting opinion sprächen, so würde dies de lege lata nichts über ihre Zulässigkeit besagen. 1.

Parteiautonomie

Die Parteien sind nach § 1034 Abs. 2 ZPO berufen, das Verfahren zu regeln. Sie sind innerhalb der Grenzen einer rechtsstaatlichen Prozeßführung bei der Aufstellung von Verfahrensvorschriften frei23. Die Art der Bekanntmachung eines Schiedsspruchs gehört zum Verfahren24. Sie unterfällt der Regelung des § 1034 ZPO. Die Veröffentlichung von Sondervoten ist mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens nach deutschem Recht vereinbar. Das zeigt sich allein aus der Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht Sondervoten veröffentlichen kann und von dieser Möglichkeit extensiv Gebrauch macht. Die Parteien sind deshalb berechtigt, die Veröffentlichung von Sondervoten zusammen mit dem Schiedsspruch zuzulassen25.

20 Vgl. die in dem Bericht (FN 5) wiedergegebenen Diskussionsbeiträge aus den Kreisen der Arbeits- und Sozialrichter und von Ostler für die anwaltliche Standesgerichtsbarkeit. 21 Vgl. Werner (FN 1), S. 25 f. 22 Vgl. dazu Berger (FN 1) S. 425 m. w. N. in FN 50 für einige ausländische Rechtsordnungen. 23 Vgl. im einzelnen Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Aufl., § 1034 Rdnr. 3ff. 24 Vgl. Wieczorek/Schütze (FN 23), § 1034 Rdnr. 6. 25 Vgl. Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, 21. Aufl., § 1034 Rdnr. 41 für die Entbindung der Schiedsrichter vom Beratungsgeheimnis

Dissenting Opinions im Schiedsverfahren

2. Verfahrensregelung

durch die

533

Schiedsrichter

In Ermangelung von Verfahrensvorschriften, die den Parteien vorgegeben sind, können die Schiedsrichter nach § 1034 Abs. 2 ZPO das Verfahren nach freiem Ermessen regeln. Eine solche Verfahrensregelung setzt voraus, - daß sie vom Schiedsgericht — also von den Schiedsrichtern mehrheitlich — erlassen wird und - daß sie mit den Vorschtiften der §§ 1025 ff- ZPO vereinbar ist. a. Mehrheitliche

Regelung

§ 1028 ZPO gilt auch im Rahmen des § 1034 Abs. 2 ZPO. Es kann nicht jeder Schiedsrichter seine eigenen Regelungen treffen, auch ist der Obmann hierzu nicht befugt. Die Zulassung einer dissenting opinion bedarf also — wenn sie überhaupt zulässig ist — einer mehrheitlichen Entscheidung26. Dagegen hat sich Werner27 gewandt. Er fürchtet, daß die Mehrheit der Schiedsrichter ihren Spruch durch eine dissenting opinion nicht in Frage gestellt sehen möchte. Diese Ansicht verkennt — jedenfalls für das deutsche Recht — daß die Verfahrensregelung nach § 1034 Abs. 2 ZPO regelmäßig zu Beginn des Verfahrens getroffen werden muß, zu einem Zeitpunkt also, in dem nicht abzusehen ist, wie die Entscheidung der Mehrheit aussehen wird. b. Vereinbarkeit

mit §§ 1025 f f - ZPO

Auch dort, wo die Parteien von den Regelungen des 10- Buchs der ZPO abweichen dürfen, ist das Schiedsgericht im Rahmen seines „freien Ermessens" in § 1034 Abs. 2 ZPO gebunden. § 1034 Abs. 2 ZPO gibt dem Schiedsgericht nur das Recht zur Lückenausfüllung für den Fall, daß eine gesetzliche Regelung oder verfahrensrechtliche Parteivereinbarungen fehlen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Vereinbarkeit der Veröffentlichung eines Sondervotums mit dem Beratungsgeheimnis28. Dieses ist zwar nicht in §§ 1025 ff. ZPO ausdrücklich mani-

26 Vgl. Berger (FN 1), S. 426. 27 Vgl. Werner (FN 1), S. 28 f. 28 Vgl. dazu insbes. Prutting, Zur Rechtsstellung des Schiedsrichters — dargestellt am richterlichen Beratungsgeheimnis, FS für Schwab, 1990, S. 409 ff.

534

festiert. Es ist aber heute in Rechtsprechung 29 und Schrifttum 30 unbestritten, daß auch Schiedsrichter einem Beratungsgeheimnis unterliegen. Die Begründung ist unterschiedlich. Teils wird das Beratungsgeheimnis aus dem Schiedsrichtervertrag 31 , teils aus Gewohnheitsrecht 32 , teils aus analoger Anwendung von §43 DRiG33 hergeleitet. Die Analogie zu §43 DRiG erscheint überzeugend. Der Schiedsrichter ist ein privater Richter, der mit richterlicher Unabhängigkeit in gleicher Weise wie ein staatlicher Richter ausgestattet ist34 und auf den die ratio legis des § 43 DRiG in gleichem Maße zutrifft. Mit der Feststellung, daß Schiedsrichter dem Beratungsgeheimnis unterliegen, ist aber allein noch nichts über die Unzulässigkeit der dissenting opinion gesagt. Es gilt, den Umfang des Beratungsgeheimnisses abzustecken. Werner 35 vertritt die Ansicht, die dissenting opinion berühre nicht die Beratungen selbst, betreffe vielmehr nur eine unterschiedliche rechtliche Bewertung des festgestellten Sachverhalts. Dagegen meint Prutting36, das Beratungsgeheimnis sei extensiv auszulegen. Es umfasse sowohl den Kernbereich richterlicher Entscheidungsfindung, also Beratung und Abstimmung, als auch alle Unterlagen des Schiedsgerichts, die zur Grundlage von Beratung und Entscheidung dienen. Die Ansicht Pruttings sichert allein den Schutz des Beratungsgeheimnisses. Es ist offenbar, daß die Veröffentlichung eines Sondervotums eines Schiedsrichters nicht nur sein Abstimmungsverhalten offenlegt, vielmehr auch die Gründe dartut, die zu seinem Abstimmungsverhalten geführt haben. 29 Vgl. RGZ 129,15; RG JW 1932, 2877; BGHZ 23,138, jeweils allerdings nur als obiter dictum im Rahmen der Entscheidurg, ob Schiedsrichter als Zeugen über den Inhalt eines von ihnen gefällten Schiedsspruchs vernommen werden dürfen. 30 Vgl. Gleiss/Helm, Beratungsgeheimnis im Schiedsverfahren, MDR 1969, S. 93 ff.; Maier, Handbuch der Schiedsgerichtsbarkeit, 1979, S. 338; Prutting (FN 28), S. 409 ff.; Schütze/ Tscherning/ Wais, Handbuch des Schiedsverfahrens, 2. Aufl., 1990, Rdnr. 518; Stein/Jonas/Schlosser (FN 25), § 1034 Rdnr. 41; Wieczorek/Schütze (FN 23) § 1038 Rdnr. 2. 31 So Schlosser, Das Recht der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl., 1989, Rdnr. 456; wohl auch Real, Der Schiedsrichtervertrag, 1983, S. 156; Strieder, Rechtliche Einordnung und Behandlung des Schiedsrichtervertrages, 1984, S. 101. 32 Vgl. für diese Begründung Gleiss/Helm (FN 30), S. 94; Real (FN 31), S.156 33 In diesem Sinne, aber die Analogie letztlich nicht als entscheidend ansehend Prutting (FN 28), S. 414. 34 Vgl. dazu für viele Kornblum, Probleme der schiedsrichterlichen Unabhängigkeit, 1968. 35 Vgl. Werner (FN 1), S. 25. 36 Vgl. Prutting (FN 28), S. 416 ff.

Dissenting Opinions im Schiedsverfahren

535

3. Fazit Die Veröffentlichung einer dissenting opinion verstößt gegen das Beratungsgeheimnis. Sie ist damit nach deutschem Recht unzulässig. Nur die Parteien können vom Beratungsgeheimnis entbinden und Sondervoten im Rahmen einer Verfahrensregelung nach § 1034 Abs. 2 ZPO zulassen. Das Schiedsgericht ist nicht befugt, im Rahmen seiner Regelungsbefugnis — auch nicht mit Mehrheit — ein Sondervotum zuzulassen. Allerdings ist es keinem Schiedsrichter verwehrt, seine von der Mehrheitsentscheidung abweichende Meinung schriftlich niederzulegen und zu den Schiedsakten zu geben37, deren Inhalt ebenfalls vom Beratungsgeheimnis umfaßt wird38.

IV. Folgen unzulässiger ting

Veröffentlichung

einer dissen-

opinion

1. Aufhebbarkeit

des Spruchs

Schlosser39 verneint einen Einfluß einer dissenting opinion auf dem Bestand des Spruchs. Jedoch beruht der Schiedsspruch, der wegen eines Sondervotums das Beratungsgeheimnis verletzt, auf einem unzulässigen Verfahren40. § 1041 Abs, 1 Nr. 1 ZPO erlaubt in diesen Fällen die Aufhebung des Spruchs, der auch nicht für vollstreckbar erklärt werden kann (§ 1042 Abs. 2 ZPO). Nun genügt es für die Aufhebung des Spruchs nach § 1041 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht, daß er auf einem unzulässigen Verfahren beruht, der Verfahrensverstoß muß auch ursächlich für die Entscheidung gewesen sein41. Ebenso wie bei der Revision genügt die Möglichkeit, daß der 37 So Maier (FN 30), Rdnr. 420, der aber auch darüber hinaus ein Sondervotum zulassen will. 38 Vgl. Prutting (FN 28), S. 416 ff. 39 Vgl. Schlosser (FN 31), Rdnr. 691. 40 Α. A. Maier (FN 30), Rdnr. 420. 41 Vgl. BGH N J W 1959, 2213; 1952, 27; OLG H a m b u r g MDR 1958, 1018; Münchener K o m m e n t a r Z P O / M a i e r §1041 Rdnr. 10; Schütze/ Tscherning/ Wais (FN 30), Rdnr, 541; Schwab/ Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 4. Aufl., 1990, S. 200f.; Wieczorek/

536

Spruch bei zulässigem Verfahren anders ausgefallen wäre42. Das Beratungsgeheimnis soll u. a. die Unbeeinflußtheit des Schiedsrichters sichern, die durch Bekanntwerden des Abstimmungsverhaltens gefährdet wäre. Diese Gefährdung genügt für die Möglichkeit eines anderen Ausgangs des Verfahrens. Nun mag man einwenden, der abweichende Schiedsrichter sei ohnehin in der Minderheit. Die Mehrheit habe ihre Ansicht im Spruch ja durchsetzen können. Dies vermag aber nicht die Möglichkeit eines anderen Spruchs ohne Sondervotum auzuräumen. Denn allein der Druck, der durch ein etwaiges Sondervotum erzeugt wird, kann das Abstimmungsverhalten aller Schiedsrichter beeinflussen. Ein unzulässiges Sondervotum führt damit zur Aufhebung des Spruchs nach § 1041 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Ein solcher Spruch kann nach §1042 Abs. 2 ZPO nicht für vollstreckbar erklärt werden. 2. Schadensersatzansprüche

gegen die

Schiedsrichter

Die Wahrung des Beratungsgeheimnisses ist eine Verpflichtung des Schiedsrichtervertrages. Die Verletzung führt zur Schadenersatzpflicht43. Dabei haften die Schiedsrichter für Vorsatz und jede Art von Fahrlässigkeit 44 . Zwar ist dieser strenge Haftungsmaßstab für die Spruchtätigkeit durchbrochen45. Bei der Verletzung des Beratungsgeheimnisses handelt es sich aber nicht um einen Akt der Spruchtätigkeit, so daß die Haftungserleichterung nicht Platz greift. Nun meint Schlosser46, „Schadensersatzansprüche gegen den Schiedsrichter scheitern wohl immer daran, daß durch die Äußerung einer abweichenden Meinung niemand geschädigt sein kann" Das aber ist

Schütze (FN 23), §1041 Rdnr. 22; 42 Vgl. BGH NJW 1959, 2213; Schütze,/ Tscherning/ Wais (FN 30), Rdnr, 541; Wieczorek/Schütze (FN 23), §1041 Rdnr. 22; 43 Α. A. Maier (FN 30), Rdnr, 420, der meint, die dissenting opinions könne „kaum Konsequenzen für den dissentierenden Schiedsrichter haben". 44 Vgl. Schütze/Tscherning/Wais (FN 30), Rdnr. 230; Schwab/ Walter (FN 41), S. 41. 45 Vgl. RGZ 41, 251; 59, 247; 65, 175; BGHZ 15, 12; Glossner/Bredow/Bühler, Das Schiedsgericht in der Praxis, 3. Aufl., 1990, Rdnr. 265; Henn, Schiedsverfahrensrecht, 2. Aufl., 1991, S. 71; Maier (FN 30), Rdnr. 185; Schütze, Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 1991, Rdnr. 43; Schwab/ Walter (FN 41), S. 94; Zöller/Geimer, ZPO, 19. Aufl., § 1025 Rdnr. 67. 46 Vgl. Schlosser (FN 31), Rdnr. 691.

Dissenting Opinions im Schiedsverfahren

537

nicht der Fall. Wenn der Schiedsspruch wegen Verfahrensmangels nach § 1041 Abs. 1 Nr. 1 ZPO aufgehoben wird, so liegt der Schaden in den Kosten eines zweiten Schiedsverfahrens und der Verzögerung der Erlangung eines vollstreckbaren Titels. Fällt der Schiedsbeklagte zwischen dem ersten und dem zweiten Verfahren in Konkurs, so wird dieser Verzögerungschaden offensichtlich.

V.

Ergebnis

(1) Während andere Rechtsordnungen dem Schiedsrichter das Recht zur Veröffentlichung eines Sondervotums zuzugestehen scheinen 47 , läßt das Beratungsgeheimnis im deutschen Recht die Kundgabe einer dissenting opinion nicht zu. Der abweichende Schiedsrichter kann jedoch ein Sondervotum zu den Schiedsakten geben, deren Inhalt wiederum vom Beratungsgeheimnis u m f a ß t wird. (2) Die Parteien — aber nur sie — können den Schiedsrichtern die Veröffentlichung von Sondervoten gestatten. Das folgt aus ihrer Regelungsbefugnis nach §1034 Abs. 2 ZPO. (3) Die unzulässige Veröffentlichung eines Sondervotums führt zu einem Aufhebungsgrund nach § 1041 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Ein Spruch, zu dem eine dissenting opinion veröffentlicht worden ist,kann nicht für vollstreckbar erklärt werden (§1042 Abs. 2 ZPO). (4) Der Schiedsrichter, der durch die Veröffentlichung einer dissenting opinion das Beratungsgeheimnis bricht, ist den Parteien wegen Verletzung des Schiedsrichtervertrages schadensersatzpflichtig.

47 Vgl. für Nachweise für die Rechtslage in der Schweiz und den Niederlanden Berger (FN 1), S.425, FN 150, Berger geht zu weit, wenn er apodiktisch statuiert, in internationalen Schiedsverfahren habe der Schiedsrichter „nach allen Gesetzen" das Recht, eine abweichende Meinung zu eröffentlichen (S. 425) ·

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in ·· Familiensachen in Osterreich von

Prof. Mag. Dr. Daphne-Ariane Simotta Graz

ord. Universitätsprofessorin an der Karl-Franzens-Universität Graz

540

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung II. Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen 1. Ursprüngliche Rechtslage 2 . Einführung der Familiengerichtsbarkeit a. Allgemeines b. Gerichtsorganisatorisches—Familienrechtliche Abteilungen bei den Schwerpunkt- Bezirksgerichten c. Begründung für die von den allgemeinen Bezirksgerichten abweichende Sprengeleinteilung von 73 familienrechtlichen Abteilungen d. Gründe für die Einführung der Familiengerichtsbarkeit e. Etappenweise Einführung der Familiengerichtsbarkeit durch das Eherechtsänderungsgesetz f. (Negative) Auswirkungen der Einführung der Familiengerichtsbarkeit 3. Ausweitung der Familiengerichtsbarkeit durch die ZivilverfahrensNovelle 1983 4 . Abschaffung der Familiengerichtsbarkeit durch das Familiengerichtsgesetz a. Allgemeines b. Kritik an der Aufhebung der Familiengerichtsbarkeit c. Die Rechtslage seit dem Familiengerichtsgesetz 5. Überblick über die Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen nach den jeweiligen Rechtslagen 6 . Zusammenfassung und Reformvorschlag

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

I.

541

Einleitung

An mein erstes Zusammentreffen mit dem Jubilar im Jahr 1983 auf dem VII. Internationalen Kongreß für Zivilprozeßrecht in Würzburg erinnere ich mich noch sehr gut. Obwohl ich damals noch nicht habilitiert war, behandelte der Jubilar mich mit ausgesuchter Höflichkeit und wie eine arrivierte Kollegin. Da der verehrte Jubilar auf dem genannten Kongreß den Generalbericht über die Familiengerichtsbarkeit erstattet hat, hoffe ich, ihm mit diesen Beitrag, der das Schicksal der Familiengerichtsbarkeit in Osterreich zum Gegenstand hat, Freude zu bereiten. Zuerst wird in diesem Beitrag geschildert, welche Entwicklung die Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich genommen hat, dann wird an Hand eines praktischen Beispiels gezeigt, welche Gerichte nach der jeweiligen Rechtslage zur Entscheidung der Ehe- und Ehefolgesachen zuständig waren und abschließend wird ein Reformvorschlag zu einer weiteren Vereinheitlichung der Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen unterbreitet.

II. Entwicklung

der Gerichtsbarkeit

1. Ursprüngliche

Rechtslage

in

Familiensachen

Nach der Jurisdiktionsnorm 1 in ihrer ursprünglichen Fassung waren zwei verschiedene Gerichtstypen für die Familiensachen zuständig. Die Bezirksgerichte hatten über die Streitigkeiten betreffend die Vaterschaft zu einem unehelichen Kind und über die dem unehelichen Vater der Mutter und dem Kind gegenüber gesetzlich obliegenden Verpflichtungen (§ 49 Absatz 2 Zahl 2 Jurisdiktionsnorm) sowie, wenn deren Streitwert die Bezirksgerichtsgrenze 2 nicht überstieg, Uber die vermögens1 Gesetz vom 1.8.1895 über die Ausübung der Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen, RGBl 1895/111. 2 Die Streitwertgrenze ist wegen der Inflation und aus gerichtsorganisatorischen

542

rechtlichen Streitigkeiten aus dem Ehe- und Eltern-Kindverhältnis (§ 49 Absatz 1 Jurisdiktionsnorm in Verbindung mit § 50 Absatz 2 Zahl 3 Jurisdiktionsnorm) sowie die Pflegschafts- und Vormundschaftssachen (§ 109 Jurisdiktionsnorm) und — soweit nicht das Gesetz, wie etwa bei der Aufteilung des Hausrats nach der 6. Durchführungsverordnung zum Ehegesetz 3 , etwas anderes vorsah — über die außerstreitigen Eheangelegenheiten 4 zu entscheiden. Nach der 3. Gerichtsentlastungsnovelle 5 waren dann die Bezirksgerichte auch für die sonstigen Streitigkeiten Uber den gesetzlichen Unterhalt (§ 49 Absatz 2 Zahl 2a Jurisdiktionsnorm) zuständig. Die Gerichtshöfe erster Instanz (Landes- und Kreisgerichte) 6 waren für die Streitigkeiten über die Anerkennung oder Bestreitung der ehelichen Abstammung (§ 50 Absatz 2 Zahl 1 Jurisdiktionsnorm), für die Ehesachen 7 (§ 50 Absatz 2 Zahl 2 Jurisdiktionsnorm), für alle nicht rein vermögensrechtlichen Streitigkeiten aus dem Ehe- und dem ElternKindverhältnis (§ 50 Absatz 2 Zahl 3 Jurisdiktionsnorm) sowie für jene vermögensrechtlichen Streitigkeiten aus Ehe- und Eltern-Kindverhältnis zuständig, bei denen der Streitwert die Bezirksgerichtsgrenze 8 überstieg (§ 50 Absatz 1 in Verbindung mit § 50 Absatz 2 Zahl 3 Jurisdiktionsnorm). Seit der 3. Gerichtsentlastungs-Novelle 9 gab es die Möglichkeit, vermögensrechtliche Streitigkeiten aus dem Eheverhältnis, insbesondere

3

4 5 6

7 8 9

Gründen immer wieder geändert worden. Zur Zeit des Inkrafttretens der JN betrug sie 500 Gulden, zum Zeitpunkt der Erlassung des EheRÄG und des FamGG 30-000 Schilling, derzeit beträgt sie 100-000 Schilling. Verordnung vom 21.10-1944 über die Behandlung der Ehewohnung und des Hausrats nach der Scheidung, dRGBl I 256; § 11 der 6. Durchführungsverordnung zum Ehegesetz bestimmte, daß für die Aufteilung von Ehewohnung und Hausrat nach der Scheidung das Bezirksgericht zuständig war, in dessen Sprengel sich die letzte gemeinsame Wohnung der Ehegatten befunden hat. Hatten die Ehegatten keine gemeinsame Wohnung, so war das Landes- bzw Kreisgericht zuständig, bei dem der Scheidungsstreit anhängig war. Das zuständige Gericht konnte auf Antrag aus wichtigen Gründen die Sache auch an ein anderes Gericht übertragen. Zum Begriff der außerstreitigen Eheangelegenheiten siehe FN 55. Dritte Gerichtsentlastungsnovelle vom 2.12.1921 BGBl 743. Durch das Bundesgesetz BGBl 1993/91 erhielten auch die sich nicht in den Landeshauptstädten befindlichen Gerichtshöfe erster Instanz die Bezeichnung „Landesgerichte". Es gibt seitdem keine Kreisgerichte mehr. Bedingt nicht zuletzt durch Änderungen des materiellen Rechts war der Begriff der Ehesache mehrfach einem Bedeutungswandel unterworfen. Dazu siehe FN 2. Siehe FN 5.

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Unterhaltsklagen eines Ehegatten gegen den anderen, mit einer Eheklage zu verbinden (§§ 7a Absatz 3, 49 Absatz 2 Zahl 2a, 100 Jurisdiktionsnorm). Interessant sind die Gründe, warum der Gesetzgeber der Jurisdiktionsnorm einen Teil der Familiensachen den Bezirksgerichten, den anderen Teil hingegen den Gerichtshöfen erster Instanz zugewiesen hat. In den Materialien zu § 49 Jurisdiktionsnorm 10 heißt es: „Für die Bestimmung der Zahl 2 cit u , wonach den Bezirksgerichten die Anerkennung der Vaterschaft und die Entscheidung einer Reihe damit zusammenhängender, vermögensrechtlicher Ansprüche ohne Rücksicht auf deren Höhe zugewiesen wird, spricht zunächst die Erwägung, daß die in solchen Streitigkeiten zu entscheidenden Fragen regelmäßig von großer Einfachheit sind, und daß ferner die Geltendmachung solcher Ansprüche durch das Festhalten an der grundsätzlichen Kompetenz der Gerichtshöfe ungemein erschwert würde. In allen Fällen, in welchen die Vaterschaft nicht anerkannt wird, müßte diese Anerkennung bei einem Gerichtshofe erwirkt und dann doch erst der Anspruch auf Alimentation und so weiter bei dem Bezirksgerichte erhoben werden, wenn man ihn nicht als ein bloßes Corollar (Beigabe, Anhängsel; Anmerkung der Verfasserin) der Vaterschaftsklage betrachtet, ihn deshalb gleichfalls den Gerichtshöfen zuweist, und so die Rechtsverfolgung zwar konzentrieren, aber auch wieder erschweren wollte. Eine solche Erschwerung würde zu einer empfindlichen Verkümmerung der Rechte unehelicher Kinder führen." Und zu § 50 Absatz 2 Zahl 1 bis 3 Jurisdiktionsnorm wird in den Materialien 12 folgendes ausgeführt: „Die im § 52, Zahl 1 bis 3 (entspricht § 50 Absatz 2 Zahl 1 bis 3, Anmerkung der Verfasserin), bezeichneten Streitigkeiten Uber nicht vermögensrechtliche Ansprüche sind kraft ihrer weitreichenden rechtlichen Folgen so wichtig und verlangen so sehr die Anwendung aller der Gesetzgebung zur Verfügung stehenden Garantien gründlicher und sorgfältiger Verhandlung und Entscheidung, daß der Entwurf dieselben zum Teil in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen Gesetzgebung den

10 K.k. Justizministerium (Hrsg), Materialien zu den neuen österreichischen Zivilprozeßgesetzen (1897) I 59. Hervorhebungen von der Verfasserin. 11 Gemeint ist § 49 Ζ 2 JN : „Vor die Bezirksgerichte gehöhen: ... 2. Streitigkeiten über die Vaterschaft zu einem unehelichen Kinde und Uber die dem unehelichen Vater der Mutter und dem Kinde gegenüber gesetzlich obliegenden Pflichten." 12 Mat I 61. Hervorhebungen von der Verfasserin.

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Gerichtshöfen erster Instanz ausschließlich zuweist. Die geplante Beteiligung der Staatsanwaltschaft an einzelnen dieser Streitigkeiten ist ein weiterer Grund, um dieselben bei den Gerichtshöfen erster Instanz zu konzentrieren." Aus den Materialien folgt, daß Kriterien für die Zuweisung einer streitigen Familiensache zum Gerichtshof erster Instanz die Wichtigkeit und die Kompliziertheit der betreffenden Familiensache waren. Näheres zur Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen nach der ursprünglichen Rechtslage siehe Überlick Tabelle 1. 2. Einführung der a.

Familiengerichtsbarkeit

Allgemeines

Die spezielle Familiengerichtsbarkeit 13 wurde in Osterreich völlig überraschend — sie war nämlich in der Regierungsvorlage noch nicht vorgesehen gewesen, sondern wurde erst durch den Justizausschuß angeregt14 — und ohne daß vorher eine Auseinandersetzung mit dem Problemkreis der 13 Zur Familiengerichtsbarkeit in Österreich siehe: Reissig, Familiengerichte in Österreich? Stb 1977 Η 22, 1; Hellbling, Selbständige Familiengerichte, Stb 1978, Η 4,2; Köhler, Ehescheidungsrecht, 1. Auflage (1978) ; Berger, Verfahrensrechtliches zu den neuen eherechtlichen Gesetzen, RZ 1978, 257 ; Ent / Hopf, Das neue Eherecht (1979) ; Ent, Die Eherechtsreform 1978, NZ 1979, 117, 149, 165 (165ff) ; Maurer, Betrachtungen zur neuen Familiengerichtsbarkeit, RZ 1979, 220 ; Fasching, Schwerpunkte der Zivilprozeßreform, in: Verbesserter Zugang zum Recht, Vorträge, gehalten bei der Richterwoche 1979 in Bad Gastein, hrsg vom BMJ (1979) 177 (183 ff) ; Ballon, Verfahrensrechtliche Aspekte der Familienrechtsreform 1977/78, in Ostheim (Hrsg), Schwerpunkte der Familienrechtsreform 1977/1978 (1979) 185; Kohlegger, Empfiehlt sich für Österreich die Einführung von Familiengerichten? in Bezauer Tage, Familienrechtsseminar 1978, hrsg vom BMJ (1980) 1; Ent, Die Reform eherechtlicher Bestimmungen 1978, in Bezauer Tage 27 (75 ff) ; Simotta, Die sachliche Zuständigkeit in Ehe- und Familiensachen, JB1 1980, 348; Ent, Die familienrechtliche Abteilung des Bezirksgerichts — ein neuer Weg, ÖA 1981, 3 ; Simotta, Die Änderungen der Zuständigkeit in Ehe- und Familiensachen in der geplanten „Zivilverfahrensnovelle", ÖJZ 1982, 29, 66; Fasching, Die Familiengerichtsbarkeit (im weitesten Sinne), in Nakamura (Hrsg), Familiengerichtsbarkeit, Die Nationalberichte und der Generalbericht zum VII. Internationalen Kongreß für Prozeßrecht, Würzburg 1983 (1984) 251; ders, Lehrbuch des österreichischen Zivilprozeßrechts 1. Auflage (1984) Rz 184, 246 ff, 270 f f ; Maurer, ZPO Novelle 83 aus der Sicht eines Familienrichters, RZ 1984, 138. 14 Vergleiche die RV zum EheRÄG (289 BlgNR 14. GP) mit dem JAB (916 BlgNR 14. GP).

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Familiengerichtsbarkeit stattgefunden hätte15, durch das Bundesgesetz vom 15-6.1978 über Änderungen des Ehegattenerbrechts, des Ehegüterrechts und des Ehescheidungsrechts, Bundesgesetzblatt 1978 Nummer 280, eingeführt. b. Gerichtsorganisatorisches - Familienrechtliche den Schwerpunkt - Bezirksgerichten

Abteilungen

bei

Die Familiengerichtsbarkeit wurde — wie in den meisten Ländern — offensichtlich wegen der größeren Volksnähe und der dort bestehenden Einzelgerichtsbarkeit 16 auf unterster, das heißt, auf bezirksgerichtlicher Ebene eingerichtet. Man schuf nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland17 sogenannte „familienrechtliche Abteilungen". Allerdings ist man insoweit vom bundesdeutschen Vorbild abgewichen, als man nicht bei jedem Bezirksgericht, sondern nur bei ganz bestimmten, nämlich in der Anlage zur Jurisdiktionsnorm genannten Bezirksgerichten eine familienrechtliche Abteilung errichtete 18 . Um eine Spezialisierung der mit Familiensachen befaßten Richter zu erreichen, sollten nämlich nur solche Bezirksgerichte für familienrechtliche Angelegenheiten für zuständig erklärt werden, bei denen die Bildung besonderer familienrechtlicher Abteilungen möglich war und zumindest ein Richter immer zur Verfügung stand19. Bei den Bezirksgerichten, bei denen familienrechtliche Abteilungen eingerichtet worden waren, handelte es sich in der Regel um Bezirksgerichte, die in einem Ort beziehungsweise einer Stadt mit eigenem Statut ihren Sitz haben, die zugleich auch Sitz der Bezirksverwaltungsbehörde ist20. Der Sprengel der familienrechtlichen Abteilungen erstreckte sich 15 Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 188. 16 Denn auch vorher h a t t e in Familiensachen meistens der Einzelrichter zu entscheiden, und z w a r selbst dann, wenn die Familiensache vor den GH 1. Instanz gehörte. Eine Ausnahme bildeten nur die Streitigkeiten aus dem Ehe- und ElternKindverhältnis, über die, soweit sie vor den GH 1. Instanz gehörten, g e m ä ß § 7 J N der Senat zu entscheiden hatte. 17 Vgl §§ 23b, 23c dGVG und §§ 621 ff dZPO. 18 Denn von der ihnen in § 23c dGVG erteilten Ermächtigung, einem Amtsgericht f ü r die Bezirke mehrerer Amtsgerichte die Familiensachen zuzuteilen, haben nur die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Sachsen Gebrauch gemacht, sodaß es in der Mehrzahl der deutschen Bundesländer bei jedem Amtsgericht eine familienrechtliche Abteilung gibt. 19 J A B zum EheRÄG (vgl FN 14) 21 = Ent/Hopf, Eherecht 178. 20 Vgl Absatz 1 der Anlage zur J N = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 109 = Ent/Hopf, Eherecht 189 = Stohanzl, Zivilprozeßgesetze 3. Auflage (1983) 116 = Rechberger,

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dabei auch auf die jeweiligen Sprengel der anderen Bezirksgerichte, die ihren Sitz in dem betreffenden politischen Bezirk hatten21. So umfaßte zum Beispiel der Sprengel der familienrechtlichen Abteilung des Bezirksgerichtes Vöcklabruck auch jenen der Bezirksgerichte Frankenmarkt, Mondsee und Schwanenstadt. Insgesamt gab es 73 familienrechtliche Abteilungen, die bei den Bezirksgerichten am Sitz der Bezirkshauptmannschaft errichtet worden waren und einen gegenüber den allgemeinen Bezirksgerichten 2 2 erweiterten Zuständigkeitsbereich hatten23. Darüberhinaus erwies es sich aus verschiedensten Gründen (Vermeidung verfassungsrechtlicher Schwierigkeiten, Einhaltung des Staatsvertrages von Saint Germain, Zweckmäßigkeitsgründen) als notwendig, auch noch bei einer Reihe weiterer Bezirksgerichte familienrechtliche Abteilungen einzurichten24. Insgesamt wurden durch das Eherechtsänderungsgesetz bei 10225 von insgesamt 204 Bezirksgerichten, das heißt also bei jedem zweiten Bezirksgericht eine familienrechtliche Abteilung eingerichtet. Im Rahmen der Zivilverfahrens Novelle 198326 wurde mit 1.5-1983 zusätzlich noch eine familienrechtliche Abteilung (beim Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs) installiert, sodaß es Zivilprozeßgesetze idF der Zivilverfahrens-Novelle 1983 (1983) 83; siehe auch J A B zum EheRÄG 21 und 24f = Ent/Hopf, Eherecht 178f und 191f; Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 189 ; Ent, NZ 1979, 165 ; ders in Bezauer T a g e 75 ; ders, ÖA 1981, 4 ; Kohlegger in Bezauer T a g e 18 ; Fasching in Nakamura, Familiengerichtsb a r k e i t 257. 21 Vgl Abs 1 der Anlage zur J N = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 109 = Ent/Hopf, Eherecht 189 = Stohanzl, Zivilprozeßgesetze 116 = Rechberger, Zivilprozeßgesetze 83 ; siehe auch J A B zum EheRÄG 24 = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 110 = Ent/ Hopf, Eherecht 191; Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 189 ; Ent, NZ 1979,165 ; ders, ÖA 1981, 4 ; Kohlegger in Bezauer T a g e 18 ; Fasching, Zivilprozeßrecht 1 Rz 170. 22 Bei der familienrechtlichen Abteilung handelte es sich um ein auf bezirksgerichtlicher Ebene geschaffenes Kausalgericht. Das Verhältnis der familienrechtlichen Abteilung zu den übrigen Gerichten w a r daher eine F r a g e der sachlichen Zuständigkeit. In diesem Sinn J A B zum EheRÄG 22 f = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 95 ; Berger, RZ 1978, 260; Ent/Hopf, Eherecht 183; Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 191; Simotta, JB1 1980, 349 F N 4. 23 J A B zum EheRÄG 24 = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 110 = Ent/Hopf, Eherecht 191. 24 Näheres dazu siehe im J A B zum EheRÄG 24f = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 111 = Ent/Hopf, Eherecht 192. 25 Laut J A B zum EheRÄG (S 24) hatten 73 familienrechtliche Abteilungen einen erweiterten, sich auf alle in ihrem politischen Bezirk gelegenen Bezirksgerichte erstreckenden Sprengel. Dazu k a m e n die 6 im Abs 2 und die 23 im Abs 3 der Anlage zur J N genannten Bezirksgerichte, deren Sprengel sich mit jenem der allgemeinen Bezirksgerichte deckte. 26 BGBl 1983/135.

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schließlich 103 familienrechtliche Abteilungen gab27. c. Begründung für die von den allgemeinen Bezirksgerichten abweichende Sprengeleinteilung von 73 familienrechtlichen Abteilungen

Als Begründung dafür, daß nicht bei jedem Bezirksgericht, sondern nur bei den sogenannten "Schwerpunkt-Bezirksgerichten" familienrechtliche Abteilungen eingerichtet worden sind, wird in den Materialien zum Eherechtsänderungsgesetz 28 folgendes ausgeführt: „Diesen Bestrebungen liegt der Gedanke zugrunde, die Vollziehung familienrechtlicher Angelegenheiten in die Hand von Richtern zu geben, die für die Behandlung dieser Angelegenheiten besonders geeignet scheinen, dafür besonders geschult werden sollen und in der Behandlung dieser Angelegenheiten besondere Erfahrungen sammeln können. Um dies zu gewährleisten, sollen nur solche Bezirksgerichte für zuständig erklärt werden, bei denen die Bildung besonderer familienrechtlicher Abteilungen möglich ist und zumindest ein Richter immer zur Verfügung steht." An anderer Stelle der Materialien zum Eherechtsänderungsgesetz 29 heißt es : „Durch die Konzentration der Abstammungssachen grundsätzlich beim Bezirksgericht am Sitz der Bezirksverwaltungsbehörde wird die als Amtsvormund oder Amtssachwalter einschreitende Bezirksverwaltungsbehörde in die Lage versetzt, künftig Abstammungsprozesse jeweils am Gericht ihres Amtssitzes zu führen; diese Konzentration erleichtert es überdies, für die Erledigung dieser Angelegenheiten Richter einzusetzen, die besondere Erfahrungen und Fachkenntnisse auf diesem Gebiet besitzen." 27 Vgl die Anlage zur J N (weitere Fundstellen siehe F N 21) sowie die im J A B zum EheRÄG 25 = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 112 und Ent/Hopf, Eherecht 24 abged r u c k t e Übersicht. Allerdings ist beim Zuständigkeitsbereich der familienrechtlichen Abteilung des BG Amstetten das BG Waidhofen an der Ybbs zu streichen und als siebente familienrechtliche Abteilung im Sprengel des Kreisgerichtes St. Pölten jene des Bezirksgerichtes Waidhofen an der Ybbs einzufügen. 28 J A B zum EheRÄG 21 = Ent/Hopf, Eherecht 178. Hervorhebungen von der Verfasserin. 29 J A B zum EheRÄG 22 = Ent/Hopf, Eherecht 179- Hervorhebungen von der Verfasserin. Vgl auch Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 189 und Fasching in Nakamura, Familiengerichtsbarkeit 257.

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Im übrigen wird in den Materialien zum Eherechtsänderungsgesetz 30 darauf hingewiesen, daß, soweit die vorgeschlagene Regelung an Stelle der Zuständigkeit des Landes- oder Kreisgerichtes 31 die Zuständigkeit des Bezirksgerichtes vorsieht, also im wesentlichen bei der Scheidung nach § 55a Ehegesetz32 und der Bestreitung der ehelichen Abstammung, sie auf eine Dezentralisation der Gerichtsbarkeit in wichtigen Rechtsgebieten hinauslaufe, die dem Wunsch der rechtssuchenden Bevölkerung nach einer leichten Erreichbarkeit des zur Entscheidung berufenen Gerichtes entgegenkomme. Die in den Materialien zum Eherechtsänderungsgesetz für die Konzentrierung der familienrechtlichen Abteilungen bei den SchwerpunktBezirksgerichten angeführten Argumente waren, wie Ballon33 aufgezeigt hat, alles andere als Uberzeugend. Gegen das Argument, daß durch diese Konzentration ein höheres Maß an Spezialisierung erreicht werden könnte, brachte er vor, daß die an einem Bezirksgericht am Land tätigen Richter im Rahmen von Pflegschafts-, Vormundschafts- und Entmündigungssachen34 ohnehin mit Materien befaßt seien, die ebenso wie die familienrechtlichen Angelegenheiten Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen und Erfahrung verlangen, wobei die bis zum Eherechtsänderungsgesetz gezeigten Ergebnisse sicher keine schlechten gewesen wären35. Auch lasse sich gegen die Konzentrierung von Familiengerichten einwenden, daß der persönliche Kontakt zwischen Richter und Parteien (Beteiligten), der doch gerade im Bereich des Familienrechts von besonderer Bedeutung sei36, wenn schon nicht in Frage gestellt, so doch erschwert werde37. 30 JAB zum EheRÄG 22 = Ent/Hopf, Eherecht 179. Hervorhebungen von der Verfasserin. 31 Siehe FN 6. 32 Bundesgesetz vom 15. Juni 1978 über Änderungen des Ehegattenerbrechts, des Ehegüterrechts und des Ehescheidungsrechts, BGBl 280. 33 Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 189 f. 34 Seit dem SachwG gibt es keine Entmündigung mehr, sondern nur mehr eine Sachwalterschaft für geistig behinderte oder psychisch kranke Personen. 35 Vgl auch Noll, Auflösung der kleinen Bezirksgerichte, Stb 1979, Η 5,18, der meint, daß es auch bisher dem „kleinen Landrichter" möglich gewesen wäre, sämtliche Reformen zu verdauen und in der Rechtswirklichkeit durchzusetzen. 36 Gerade diese wurde im Bericht der (deutschen) Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit (1961) 111 für besonders wichtig gehalten. So auch Kropiunig, Kompetenz-Dschungel in der Familiengerichtsbarkeit, Kleine Zeitung vom 31.12.1983, abgedruckt in RZ 1984, 35. 37 Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 190 ; Noll, Stb 1979, Η 5, 2 ; Kropiunig, RZ 1984, 36; ferner Brüggemann, Familiengerichtsbarkeit — Verfahren in Ehesachen im

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In Wahrheit war die im Justizausschußbericht 38 angeführte Begründung bloß eine Scheinbegründung. Der Gesetzgeber war sich nämlich des Umstandes, daß der Zugang zum Recht bei den bis zum Eherechtsänderungsgesetz in die Kompetenz der Bezirksgerichte fallenden Rechtssachen, nämlich den Streitigkeiten über die Vaterschaft zu einem unehelichen Kind und jenen über den gesetzlichen Unterhalt, durch die vom allgemeinen Bezirksgericht abweichende Sprengeleinteilung der familienrechtlichen Abteilungen verschlechtert beziehungsweise erschwert wurde, sehr wohl bewußt. Er räumte nämlich bei den wirtschaftlich bedeutsamen Unterhaltsklagen dem Kläger das Recht ein, zwischen der familienrechtlichen Abteilung und dem allgemeinen Bezirksgericht zu wählen (sachliche Wahlzuständigkeit, § 49 Absatz 4 Jurisdiktionsnorm in der Fassung des Eherechtsänderungsgesetz). Hier war er offensichtlich der Meinung, daß es den Parteien nicht zumutbar sei, daß sie infolge der Errichtung der familienrechtlichen Abteilungen, die größtenteils einen von den allgemeinen Bezirksgerichten abweichenden Sprengel aufwiesen, möglicherweise einen weiteren Weg zu Gericht hätten39. Bei den Unterhaltsklagen war dem Gesetzgeber also der erleichterte Zugang zum Recht40 wichtiger als das Konzentrationsprinzip und der Gedanke der Spezialisierung des Familienrichters. Der wahre Grund für die zwischen den allgemeinen und den familienrechtlichen Bezirksgerichten unterschiedliche Sprengeleinteilung lag vielmehr darin, daß der Gesetzgeber dadurch die schon lang geplante Auflösung der kleinen Bezirksgerichte vorbereiten wollte41. Dadurch, daß man den kleinen Bezirksgerichten keine Kompeallgemeinen — Verfahren in anderen Familiensachen, FamRZ 1977, 4 ; Diederichsen, Die Einführung der Familiengerichte durch das 1. EheRG, NJW 1977, 602 Anm 20 ; Blankenburg, Justizreform in Raten, ZRP 1974, 278f. 38 Siehe die FN 28 und 2939 Vgl Simotta, JB1 1980, 355 ; dies, ÖJZ 1982, 32. Der JAB zum EheRÄG selbst gibt keinen Aufschluß darüber, aus welchem Grund die sachliche Wahlzuständigkeit des § 49 Abs 4 JN geschaffen worden ist. 40 Vgl Ent, NZ 1979, 166; ders, ÖA 1981, 4. 41 Siehe Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 190 und Huber, Eine Stellungnahme zur Abhandlung „Ist das einheitliche Erstgericht eine Utopie?" RZ 1980, 55. Ganz deutlich spricht dies Fasching (in Nakamura, Familiengerichtsbarkeit 257 und im Zivilprozeßrecht 1 Rz 184) aus. Tatsächlich wurden zum Beispiel mit Verordnung der Bundesregierung BGBl 1991/586 im Bundesland Niederösterreich 14 Bezirksgerichte mit anderen Bezirksgerichten zusammengelegt (aufgelassen), wobei die aufgelassenen Gerichte ausnahmslos keine familienrechtliche Abteilung gehabt hatten. 13 davon wurden mit jenem Bezirksgericht zusammengelegt, wo seinerzeit die zuständige familienrechtliche Abteilung gewesen war.

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tenz in streitigen Familiensachen 42 und außerstreitigen Eheangelegenheiten43 mehr gab, wollte man sie „aushungern"44, um sie später mit der Begründung, sie seien viel zu wenig ausgelastet, leicht auflösen zu können. Man wollte so die rein föderalistischen und sachlich kaum gerechtfertigten Widerstände gegen eine Organisationsreform ausmanövrieren 45 . Der Anhang zur Jurisdiktionsnorm, in dem alle Bezirksgerichte aufgezählt waren, die mit einer familienrechtlichen Abteilung ausgestattet wurden, stellte daher in Wahrheit nichts anderes als eine Liste jener Bezirksgerichte dar, die vom Bundesministerium für Justiz für erhaltungswürdig erachtet worden waren46. Das vom Gesetzgeber des Eherechtsänderungsgesetz Uber den Umweg der Einführung der Familiengerichtsbarkeit angestrebte Fernziel der Gerichtsorganisationsreform war eine sich mit der der Bezirksverwaltungsbehörden deckende Sprengeleinteilung der Bezirksgerichte. d. Gründe für die Einführung

der

Familiengerichtsbarkeit

Wie bereits erwähnt, war ein Hauptgrund für die Einführung der Familiengerichtsbarkeit, daß die Bezirksgerichte, die sich nicht am Sitz der Bezirksverwaltungsbehörde befanden, aufgelassen werden sollten. Uber die weiteren Gründen, die zur Einführung der Familiengerichtsbarkeit in Österreich geführt haben, geben die Materialien nur wenig Auskunft. In den Erläuterungen des Justizausschußberichtes heißt es gleich zu Beginn 47 : „Die Neuerungen auf dem Gebiet des materiellen Rechtes erfordern besondere Verfahrensvorschriften. Über die Scheidung im Einvernehmen, den Anspruch auf Aufteilung ehelichen Gebrauchsvermögens sowie den Anspruch auf Abgeltung der Mitwirkung im Erwerb wird, dem besonderen Wesen dieser Angelegenheiten gemäß, im außerstreitigen Verfahren entschieden. Für diese Angelegenheiten wird überdies eine 42 Darunter versteht man die in § 49a Abs 1 Ζ 1 bis 4 JN idF des EheRÄG bzw heute in § 49 Abs 2 Ζ 1, 2, 2a, 2c JN aufgezählten im streitigen Verfahren zu erledigenden Familiensachen. 43 Zum Begriff siehe FN 55. 44 So auch Paschinger, Besserer Zugang zum Recht durch radikale Vereinfachung des Rechts und besseren Zugang zum Richter, RZ 1984, 81. 45 Siehe auch Paschinger, RZ 1984, 81. 46 Fasching in Nakamura, Familiengerichtsbarkeit 257. 47 JAB zum EheRÄG 3. Hervorhebungen von der Verfasserin.

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besondere Zuständigkeit auf bezirksgerichtlicher Ebene geschaffen, um zu gewährleisten, daß die Vollziehung in die Hand von besonders geeigneten und erfahrenen Richter gelegt wird. Mit 1. Jänner 1980 wird diesen Bezirksgerichten auch die Zuständigkeit in bestimmten streitigen Familienangelegenheiten übertragen und auf diese Weise — nach ausländischen Vorbildern — der Aufbau einer besonderen Familiengerichtsbarkeit in Österreich eingeleitet werden48." Ausführlicher ist da schon die von Ent49, der im Bundesministerium für Justiz am Eherechtsänderungsgesetz mitgearbeitet hat, für die Einführung der Familiengerichtsbarkeit angegebene Begründung : „Diesen Forderungen liegt die Vorstellung zugrunde, daß in Familienrechtssachen wegen des für ihre Behandlung erforderlichen besonderen Verständnisses nicht nur auf dem Gebiet des Rechtes, sondern auch der (Sozial -) Psychiatrie, -Psychologie, -Pädagogik, der Soziologie und der Sozialarbeit — eine im Einzelfall nicht nur gerechte, sondern auch lebensnahe Tätigkeit der Gerichte durch die Konzentration der Führung dieser Angelegenheiten bei bestimmten gerichtlichen Organen besonders gefördert werden kann. Diese Konzentration ermöglicht, Richter (und Rechtspfleger) für Familienrechtssachen auszuwählen, die für die Bearbeitung dieser Angelegenheiten besonders geeignet scheinen, dafür besonders geschult werden und als Folge der gehäuften Befassung in der Bearbeitung besondere Erfahrungen sammeln ; auch sollen möglichst alle rechtlichen Verfügungen im Zusammenhang ein und desselben Falles, also etwa bezüglich der Ehegattenwohnung, des Unterhaltes für Ehegatten und Kinder, deren Erziehung und Pflege, der Besuchsregelung, der Scheidung, der Vermögensaufteilung, von demselben gerichtlichen Organ erledigt werden. Für die Zweckmäßigkeit der Schaffung besonderer familienrechtlicher Gerichtseinheiten finden sich auch Beispiele im Ausland, etwa in den USA, Japan und der Bundesrepublik Deutschland." Mit ein Grund für die Einführung der Familiengerichtsbarkeit in Österreich war sicherlich der in den siebziger Jahren bestehende internationale Trend, für Familiensachen spezielle Familiengerichte zu schaffen50. Ausschlaggebend war dabei aber sicherlich der Umstand, daß erst 48 Ähnlich auch JAB zum EheRÄG 21 f = Ent/Hopf, Eherecht 178 f. 49 Ent, ÖA 1981, 3 f, (Hervorhebungen von der Verfasserin) ; ähnlich auch ders, NZ 1979, 165. 50 Vgl JAB zum EheRÄG 3 und 22 ; Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 188 ; Ent,

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kurz zuvor in der Bundesrepublik Deutschland familienrechtliche Abteilungen eingeführt worden waren, weil der Gesetzgeber des Eherechtsänderungsgesetz sich auch in vielen anderen Punkten das 1. Ehereformgesetz 197751 zum Vorbild genommen hatte. Eine nicht ganz unbedeutende Rolle dürfte es auch gespielt haben, daß sich die Richterschaft von der Einführung der Familiengerichtsbarkeit eine Verbesserung ihrer Besoldung erwartete. Tatsächlich wurde den bei den familienrechtlichen Abteilungen tätigen Gerichtsvorstehern der familienrechtlichen Bezirksgerichte die Möglichkeit eröffnet, eine höhere Gehaltsstufe als bei den allgemeinen Bezirksgerichten, nämlich statt der Gehaltsstufe 13 die Gehaltsstufe 16, zu erreichen52. e. Etappenweise Einführung Eherechtsänderungesetz

der Familiengerichtsbarkeit

durch

das

Die Familiengerichtsbarkeit wurde aus organisatorischen Gründen etappenweise 53 eingeführt. Dies war unter anderem deshalb notwendig, weil das erst am 15-6.1978 erlassene Eherechtsänderungsgesetz, soweit nichts anderes bestimmt worden war, bereits mit 1.7-1978, also nach einer Legisvakanz von bloß 15 Tagen (!), in Kraft getreten war. Zunächst — nämlich ab 1.7.197854 — waren die familienrechtlichen Abteilungen gemäß § 104b Jurisdiktionsnorm in der Fassung des Eherechtsänderungsgesetz nur für die sogenannten Eheangelegenheiten 55 zuständig. Zu den (in der NZ 1979, 165; ders, ÖA 1981, 4 ; Fasching, Zivilprozeßrecht 1 Rz 184. 51 Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechtes vom 14.6.1976 dBGBl I 1421. 52 Das Gehalt in der Gehaltsstufe 16 war zur Zeit der Einführung dieser Regelung im Jahre 1979 immerhin um 5.301 Schilling (etwa 19%) höher als jenes in der Gehaltsstufe 1353 Siehe dazu Ent, NZ 1979, 165 f ; ders, ÖA 1981, 4; ders in Bezauer Tage, 75 f f ; Kohlegger in Bezauer Tage, 19 f ; Simotta, JB1 1980, 349. 54 Gemäß Art XXIII § 1 Abs 1 EheRÄG. 55 Zum Begriff der Eheangelegenheiten siehe JAB zum EheRÄG 23 f ; Erlaß des Bundesministeriums für Justiz vom 21.6.1978 zur Vollziehung des Bundesgesetzes Uber Änderungen des Ehegattenerbrechts, des Ehegüterrechts und des Ehescheidungsrechts sowie das Bundesgesetz vom 30.6 1978 über eine Änderung des Ehegesetzes, JAB1 1978/20; Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 107 f ; Ent/Hopf, Eherecht 187 Anm 3 ; Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 194; Aicher, Ehescheidung und Scheidungsfolgen, in Floretta, Das neue Ehe- und Kindschaftsrecht, 114 FN 108 \ Simotta, JBI 1980, 357 f ; dies, Die Prozeßfähigkeit in (außerstreitigen) Eheangelegenheiten, ÖJZ 1989, 577 ; Mayr in Rechberger, Kommentar zur ZPO (1994) Rz 1 zu § 114a JN. Die dort genannte Untersagung der Namensführung nach § 65 EheG wurde allerdings per 1.5.1995 durch das Namensrechtsänderungsgesetz (BGBl 1995/25) abgeschafft.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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freiwilligen Gerichtsbarkeit zu erledigenden) Eheangelegenheiten zählen die einvernehmliche Scheidung (§ 55a Ehegesetz), die Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse (§§ 81 ff Ehegesetz), die Abgeltung der Mitwirkung eines Ehegatten im Erwerb des anderen (§ 98 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch)56, der Antrag, das Gericht möge nach § 98 Ehegesetz57 mit Wirkung für den Kreditgläubiger aussprechen, daß derjenige Ehegatte, der im Innenverhältnis zur Zahlung verpflichtet ist, Hauptschuldner, der andere jedoch Ausfallsbürge wird, und die Feststellung der Rechtmäßigkeit der Wohnsitzverlegung beziehungsweise der gesonderten Wohnungsnahme (§ 92 Absatz 3 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch). Mit 1.1.198058 wurden den familienrechtlichen Abteilungen auch die in § 49a Jurisdiktionsnorm in der Fassung des Eherechtsänderungsgesetz aufgezählten streitigen Familiensachen übertragen. Zu diesen streitigen Familiensachen zählten die Streitigkeiten über die Vaterschaft zu einem unehelichen Kind und die daraus gegenüber Mutter und Kind resultierenden Verpflichtungen (zum Beispiel Vaterschaftsklage und die damit verbundene Unterhaltsklage des Kindes, Klage der Mutter auf Ersatz der Entbindungskosten), die Streitigkeiten über die eheliche Abstammung (zum Beispiel Ehelichkeitsbestreitungsklage), die Streitigkeiten über den gesetzlichen Unterhalt (zum Beispiel die Unterhaltsklage eines volljährigen Kindes oder eines Ehegatten) und die Streitigkeiten aus dem Ehe- und Eltern-Kindverhältnis 59 (zum Beispiel Klage eines Ehegatten gegen den anderen auf Unterlassen des Aussperrens aus der Ehewohnung) . Die familienrechtlichen Abteilungen waren hingegen weder für die Ehesachen noch für die in der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu erledigenden Familiensachen zuständig60. Die Ehesachen, zu denen die Klage auf Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung der Ehe und die Klage auf 56 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch vom 1.6.1811 JGS 946 idgF. 57 Den Antrag nach § 98 EheG gibt es erst seit dem Bundesgesetz vom 24. Oktober 1985, mit dem Bestimmungen zum Schutz des für einen Kredit mithaftenden Ehegatten getroffen werden, BGBl 481, welches mit 1.1.1986 in Kraft trat. 58 Gemäß Art XXIII § 1 Abs 2 EheRÄG. 59 Zum Begriff der Streitigkeiten aus dem Eheverhältnis siehe Simotta, Was sind Streitigkeiten aus dem Eheverhältnis? Eine Judikaturanalyse, BeitrZPR IV (1991) 191. 60 Dazu siehe JAB zum EheRÄG 22 f = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 95 = Ent/ Hopf, Eherecht 183; Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 192 f; Simotta, JB1 1980, 352 f; Fasching, Zivilprozeßrecht 1 Rz 246 ff.

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Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der Ehe zwischen den Parteien gehören, fielen nach wie vor in die Zuständigkeit des Gerichtshofes erster Instanz (Landes- oder Kreisgericht 61 )· Die außerstreitigen Familiensachen, welche alle in der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu erledigenden Familien-, Pflegschafts- und Vormundschaftssachen umfassen, verblieben in der Kompetenz der allgemeinen Bezirksgerichte 62 . Näheres zur Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen nach dem EheRÄG siehe Überblick Tabelle 2. Der Umstand, daß die Ehesachen (zuerst noch) in der Zuständigkeit der Gerichtshöfe erster Instanz verblieben, dürfte auf organisatorische Gründe zurückzuführen gewesen sein. Hätte der Gesetzgeber nänlich im Eherechtsänderungsgesetz neben den Streitigkeiten über die eheliche Abstammung und den Streitigkeiten aus dem Ehe- und Eltern-Kindverhältnis auch noch die Ehesachen aus der Kompetenz der allgemeinen Gerichtshöfe erster Instanz herausgenommen, so hätten diese — abgesehen von der in einigen Sondergesetzen vorgesehenen — keine Eigenzuständigkeit mehr besessen63. Das hätte zur Folge gehabt, daß die allgemeinen Gerichtshöfe erster Instanz, da die streitige Ehesachen damals immerhin 30% des Geschäftsanfalls ausmachten, um fast ein Drittel zu wenig ausgelastet gewesen wären, während die (familienrechtlichen) Bezirksgerichte um 30% mehr Arbeitsanfall gehabt hätten. Bei den (allgemeinen) Gerichtshöfen erster Instanz hätte man also zu viele Richter gehabt, während sie bei den familienrechtlichen Bezirksgerichten gefehlt hätten. Es ist aber unmöglich, einen am Gerichtshof erster Instanz ernannten Richter bei einem Bezirksgericht einzusetzen64. Bei den außerstreitigen Familiensachen bildeten wieder die Rechtspfleger, die in Vormundschafts- und Pflegschaftssachen einen großen Teil der Arbeit erledigen65, das einer Zuständigkeitsverschiebung im Weg stehende Problem66. Die Rechtspfleger würden es nämlich für unzumutbar 61 Siehe FN 6. 62 Vgl JAB zum EheRÄG 22 = Ent/Hopf, Eherecht 179 ; Ent (NZ 1979,166 und ÖA 1981, 5) sprach deswegen auch davon, daß die neue Zuständigkeitsordnung vorerst nur Stückwerk sei. 63 Im JAB zum EheRÄG (S 23 = Köhler, Ehescheidungsrecht 1 , 96 = Ent/Hopf, Eherecht 185) wird gar keine Erklärung für die Beibehaltung der alten Zuständigkeitsregelung angegeben; siehe dazu auch Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 194. Herrn Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Jelinek verdanke ich den Hinweis, daß meine im JB1 1980, 351 FN 20 ausgesprochene Vermutung stimmt. 64 Vgl Art 88 B-VG und § 77 RDG. 65 Vgl § 16 RPflG, BGBl 1985/560 idgF. 66 Auch diesen Hinweis verdanke ich Herrn Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Jelinek.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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halten, daß sie — wären die außerstreitigen Familiensachen ebenfalls in die Familiengerichtsbarkeit gefallen — deswegen möglicherweise zu der (bis zu 30 km) entfernten familienrechtlichen Abteilung zum Dienst fahren müßten, während sie am Sitz des allgemeinen Bezirksgerichtes ihren Wohnsitz haben und daher keinen langen W e g zur Arbeit hätten. Den Richtern sei dies schon viel eher zumutbar, da ein Richter in der Regel j a nicht ein Leben lang bei einem Gericht bleibe, sondern dieses (öfter) wechsle. Daher müsse ein Richter schon von Haus aus mit einem längeren Weg zur Arbeit oder einem Wohnsitzwechsel rechnen. Ein Rechtspfleger hingegen bleibe in der Regel bei ein und demselben Gericht, dem er zugeteilt worden ist. E r müsse sich daher auch darauf verlassen können, daß dieses sein Arbeitsplatz bleibe. / . (Negative)

Auswirkungen

der Einführung

der

Familiengericbtsbarkeit

Die Einführung der Familiengerichtsbarkeit stieß in Österreich auf wenig Gegenliebe, weil sie zu einer weiteren Komplizierung des ohnedies schon nicht einfachen Zuständigkeitsrechtes führte 67 . Sehr deutlich zeigte dies der Fall, der Ende 1980 anläßlich des Notstandsprogrammes der Richterschaft durch alle Tageszeitungen ging, in dem gleich sechs verschiedene Gerichte mit einer Scheidung und den mit ihr zusammenhängenden Folgesachen befaßt worden waren 68 . Schuld an diesem Zuständigkeitschaos war vor allem der Umstand, daß man nicht alle familienrechtlichen A n g e l e g e n h e i t e n den familienrechtlichen Abteilungen zur Entscheidung zugewiesen hatte. Für die E h e - und Familiensachen gab es nämlich seit Einführung der familienrechtlichen Abteilungen gleich drei sachliche Zuständigkeiten : F ü r die außerstreitigen Familiensachen 6 9 waren die allgemeinen Bezirksgerichte, für die streitigen Familiensachen 7 0 und die außerstreitigen Eheangelegenheiten 71 die familienrechtlichen Abteilungen und für die Ehesachen die Gerichtshöfe e r s t e r Instanz zuständig. Dadurch, daß die außerstreitigen Familiensachen vor die allgemeinen

67 Siehe Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 189; Simotta, JB1 1980, 348 f f ; Ent, ÖA 1981, 5 ; Simotta, ÖJZ 1982, 29. 68 Siehe Seite 56 des Notstandsberichtes zur Lage der Justiz in Österreich sowie Arbeiter-Zeitung, Kronen-Zeitung, Kurier und Die Presse vom 6.12.1980, Wochenpresse vom 17.12.1980. 69 Zum Begriff siehe Simotta, JB1 1980, 356 f. 70 Siehe FN 42. 71 Siehe FN 55.

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Bezirksgerichte, die Ehesachen hingegen vor die Gerichtshöfe erster Instanz gehörten, war es schon aufgrund der unterschiedlichen sachlichen Zuständigkeit ausgeschlossen, daß das Gericht der Ehesache auch über die die minderjährigen ehelichen Kinder der Ehegatten betreffenden Ehefolgesachen (zum Beispiel Unterhalt, Zuteilung der Obsorge, Recht auf persönlichen Verkehr) entscheiden konnte72. Außerdem hing, weil die streitigen Familiensachen in die Zuständigkeit der familienrechtlichen Abteilungen, die außerstreitigen Familiensachen dagegen in die Zuständigkeit der allgemeinen Bezirksgerichte fielen, in vielen Fällen, wie zum Beispiel bei der Geltendmachung des Unterhaltes eines Kindes, die sachliche Zuständigkeit von der Frage ab, ob für den geltend zu machenden Anspruch der streitige oder der außerstreitige Rechtsweg zulässig war. Wenn das Kind volljährig war, und der Unterhalt daher klagsweise geltend zu machen war, war die familienrechtliche Abteilung zuständig; war das Kind hingegen minderjährig, die Vaterschaft geklärt, und war der Unterhalt im Außerstreitverfahren durchzusetzen, dann war das allgemeine Bezirksgericht zuständig". Weiters trug zur Zuständigkeitszersplitterung die sachliche Wahlzuständigkeit des § 49 Absatz 4 Jurisdiktionsnorm in der Fassung des Eherechtsänderungsgesetz 74 bei, die es dem Kläger ermöglichte, die Unterhaltsklage statt bei der familienrechtlichen Abteilung beim allgemeinen Bezirksgericht einzubringen. Da es überdies eine sachliche Wahlzuständigkeit für vermögensrechtliche Ansprüche aus dem Eheverhältnis gab, die zugleich mit einer Eheklage oder während eines in erster Instanz anhängigen Eheprozesses geltend gemacht wurden, und der Ehegattenunterhalt zu diesen vermögensrechtlichen Ansprüchen aus dem Eheverhältnis zu zählen ist, konnte der Ehegattenunterhalt während eines in erster Instanz anhängigen Eheprozesses bei drei verschiedenen Gerichten anhängig gemacht werden: Erstens konnte die Unterhaltsklage beim allgemeinen Bezirksgericht, in dessen Sprengel der Beklagte seinen allgemeinen Gerichtsstand hatte, zweitens bei der familienrechtlichen Abteilung, in deren Sprengel der Beklagte seinen allgemeinen Gerichtsstand hatte oder drittens bei dem Landes- oder Kreisgericht75, bei dem die Ehesache gleichzeitig anhängig gemacht wurde oder in 72 73 74 75

Siehe Siehe Dazu Siehe

auch Simotta, ÖJZ 1982, 30bereits Simotta, JB1 1980, 357 ; dies, ÖJZ 1982, 31. kritisch Simotta, JB1 1980, 355, dies, ÖJZ 1982, 32. FN 6.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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erster Instanz anhängig war, eingebracht werden. Sehr nachteilig wirkte sich in der Praxis vor allem der Umstand aus, daß es nicht bei jedem Bezirksgericht eine familienrechtliche Abteilung gab, sondern bei fast 72% aller familienrechtlichen Abteilungen der Gerichtssprengel der familienrechtlichen Abteilungen größer als jener des allgemeinen Bezirksgerichtes war76. Dem Rechtssuchenden, der sich in einer familienrechtlichen Angelegenheit zu seinem sonst zuständigen und nächstgelegenen Bezirksgericht (zum Beispiel dem Bezirksgericht Bad Aussee) begab, konnte es passieren, daß er dort erstaunt erfahren mußte, daß „sein Bezirksgericht" nicht zuständig war und er sich wegen dieser ihn persönlich stark berührenden Rechtssache an das Bezirksgericht am Sitz der Bezirkshauptmannschaft (das heißt an das Bezirksgericht Liezen) zu wenden hatte77. Dazu kam, daß in manchen Fällen die am Bezirksgericht der Bezirkshauptmannschaft eingerichtete familienrechtliche Abteilung (zum Beispiel die familienrechtliche Abteilung des Bezirksgerichtes Liezen) von dem sonst zuständigen allgemeinen Bezirksgericht (im vorliegenden Fall dem Bezirksgericht Bad Aussee) relativ weit entfernt war78. Die Parteien hatten daher in manchen Fällen einen weiteren (Anreise-) Weg zu Gericht, was (trotz der großen Motorisierung der Bevölkerung und den sonst gut ausgebauten Verkehrsverbindungen) als unzumutbar angesehen wurde. Weiters sah man es als nachteilig an, daß der Familienrichter in der Bezirkshauptmannschaft naturgemäß nicht in gleicher Weise mit den Verhältnissen am Ort des Geschehens vertraut sein konnte wie der zuständige Bezirksrichter 79 . Der Familienrichter in der Bezirkshauptmannschaft würde nun manchmal ein aufwendiges Verfahren durchführen, bei dem er sich sehr oft der Hilfe des örtlichen Bezirksrichters bedienen und die Parteien und Zeugen im Rechtshilfeweg vernehmen lassen müsse80, um dann die betreffende Familienrechtssache zu entscheiden, ohne aber dabei mit den persönlichen Verhältnissen der 76 Auf mögliche Nachteile hatten bereits Ballon (in Ostheim, Schwerpunkte 189) und Simotta (JB1 1980, 349 F N 3 und ÖJZ 1982, 29ff) hingewiesen. 77 Kropiunig, RZ 1984, 36. 78 Vgl Familiengerichtsbarkeit: Graff „überholt" Ofner, „Die Presse" ν 6.12.1983, abgedruckt in RZ 1984, 13 f und Kropiunig, RZ 1984, 36. Darauf hat bereits Noll, Stb 1979, Η 5, 2 hingewiesen. 79 Siehe F N 11 sowie Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 189 f. 80 Kritisch dazu Ballon in Ostheim, Schwerpunkte 190.

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Beteiligten intensiv vertraut geworden zu sein81. Auf der anderen Seite hatte es — und dies dürfte bei dem Ruf nach einer Reform der Familiengerichtsbarkeit im Vordergrund gestanden sein — für die Gerichtsvorsteher standee- und besoldungsrechtliche Nachteile, wenn sie einem Bezirksgericht vorstanden, bei dem es keine familienrechtliche Abteilung gab. Für diese Gerichtsvorsteher galt nämlich die sogenannte „13-er Sperre", das heißt sie konnten in keine höhere als die dreizehnte Gehaltsstufe gelangen82. Aus diesen Gründen gab es seit Ende 1980 insbesondere von Seiten der Richterschaft Bestrebungen, eine Änderung der Bestimmungen über die Zuständigkeit in Angelegenheiten des Familienrechts herbeizuführen. Dabei wurde vor allem vehement gefordert, die damalige Regelung zum ehestmöglichen Zeitpunkt dahin abzuändern, allen Bezirksgerichten die Gerichtsbarkeit in Familiensachen zuzuweisen83. 3. Ausweitung der Familiengerichtsbarkeit Zivilverfahrens-Novelle 1983

durch die

Der Gesetzgeber glaubte der Kritik der Richterschaft betreffend den Kompetenz-Dschungel in der Familiengerichtsbarkeit am besten dadurch begegnen zu können, daß er in Artikel I Zahl 18 der ZivilverfahrensNovelle 1983 vorsah, daß mit 1.1.1986 auch die Ehesachen vor die familienrechtlichen Abteilungen gehören sollten. Vom Organisatorischen her war — was im Jahr 1980 aus den bereits erwähnten Gründen nur sehr schwer möglich gewesen wäre — eine derartige Zuständigkeitsverschiebung per 1.1.1986 jetzt plötzlich machbar gewesen, weil mit 1.1.198684 bei den allgemeinen Gerichtshöfen erster 81 Kropiunig, RZ 1984, 36. 82 Die sogenannte „Dreizehner-Sperre" bedeutete, daß der Richter besoldungsmäßig nicht über die dreizehnte Gehaltsstufe hinauskommen konnte. Bei den BG, die eine familienrechtliche Abteilung hatten, konnten die Gerichtsvorsteher jedoch bis in die sechzehnte Gehaltsstufe vorstoßen. Vgl § 66 Abs 11 RDG idF BGBl 1979/136. 83 Vgl den Initiativantrag der Abgeordneten Dr. Graff und Genossen betreffend ein Bundesgesetz, mit dem die Vorschriften über die Zuständigkeit der Bezirksgerichte in Angelegenheiten des Familienrechts geändert werden (Familiengerichtsgesetz) Nr 58/A, Parlamentskorrespondenz II 493 BlgNR 16. GP 5. 84 Vgl § 93 ASGG idF der ersten Regierungsvorlage (1189 BlgNR 15. GP). Da das Gesetz jedoch in der 15. Gesetzgebungsperiode nicht mehr beschlossen werden konnte, mußte in der nächsten Gesetzgebungsperiode eine neue Regierungsvorlage eingebracht und der Zeitpunkt des Inkrafttretens des ASGG auf den 1.1.1987 verschoben werden. Bundesgesetz vom 7.3.1985 über die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, BGBl 104.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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Instanz die Arbeits- und Sozialgerichte eingerichtet werden sollten. Das hieß, daß die allgemeinen Gerichtshöfe erster Instanz, die nach Wegfall der Ehesachen zu wenig ausgelastet gewesen wären, einen neuen Aufgabenbereich bekamen und die bis dahin bei den Arbeitsgerichten tätig gewesenen Bezirksrichter, soweit sie nicht zu Richtern bei den neu geschaffenen Arbeits- und Sozialgerichten avanciert wären, in der Familiengerichtsbarkeit eingesetzt hätten werden können. Von der Zuweisung der Ehesachen an die familienrechtlichen Abteilungen erhoffte sich der Gesetzgeber der Zivilverfahrens-Novelle 1983 eine zweckmäßige Zuständigkeitsvereinheitlichung85. Wie von mir an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden ist86, hätte diese Zuständigkeitsverschiebung jedoch- nur eine geringfügige Milderung des Zuständigkeitschaos in Familiensachen gebracht. Es wäre nämlich — auch wenn die familienrechtlichen Abteilungen für die Ehesachen zuständig gewesen wären — nur in den wenigsten Fällen möglich gewesen, daß das Gericht der Ehesache auch über die Ehefolgesachen hätte entscheiden können. Näheres siehe in der Tabelle 4 des Überblicks. 4· Abschaffung der Familiengerichtsbarkeit Familiengerichtsgesetz87 a.

durch das

Allgemeines

Die Österreichische Volkspartei griff dann die Reformanliegen der Richtervereinigung und des Zentralausschusses der nichtrichterlichen Bediensteten auf und brachte am 19.10-1983 einen Initiativantrag zur Erlassung eines Familiengerichtsgesetzes 88 ein, demzufolge bei allen Bezirksgerichten eine familienrechtliche Abteilung eingerichtet werden und damit allen Bezirksgerichten eine Gerichtsbarkeit in Familiensachen zukommen sollte. Im Justizausschuß89 kam es dann zu einer Kehrtwendung, es wurde zwar allen Bezirksgerichten die Kompetenz in Familiensachen zugewiesen, dafür aber die erst wenige Jahre vorher eingeführte spezielle Familiengerichtsbarkeit wieder abgeschafft. Be85 Vgl die EB zur ZVN 1983 (669 BlgNR 15. GP) 33. 86 Simotta, ÖJZ 1982, 29 ff. 87 Bundesgesetz vom 23.1.1985, mit dem Bestimmungen über die Zuständigkeiten der Gerichte in Familienangelegenheiten geändert werden, BGBl 70. 88 Vgl FN 83. 89 Vgl den JAB zum FamGG 528 BlgNR 16. GP.

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gründet90 wurde die Abschaffung der Familiengerichtsbarkeit lapidar mit folgenden Worten: „Da die Familienrechtssachen künftig von jedem Bezirksgericht (nur) für seinen örtlichen Zuständigkeitsbereich zu führen sein werden, bedarf es daher der mit dem nunmehr aufgehobenen § 49a Jurisdiktionsnorm geschaffenen „familienrechtlichen Abteilung" nicht mehr, ..." Die Abschaffung der familienrechtlichen Abteilungen durch das Familiengerichtsgesetz war in mehrfacher Hinsicht überraschend. Zum einen weil die Bestimmungen der Zivilverfahrens-Novelle 1983, die erst mit 1.1.1986 in Kraft treten sollten (wie zum Beispiel § 49 Absatz 1 Zahl 4 Jurisdiktionsnorm in der Fassung der Zivilverfahrens-Novelle 1983) noch vor deren Inkrafttreten schon wieder aufgehoben worden sind, zum anderen weil man in vielen Ländern mit der Familiengerichtsbarkeit gute Erfahrungen gemacht hat91. Die Abschaffung der erst 1978 in Österreich eingeführten Familiengerichtsbarkeit widersprach total dem internationalen Trend. b. Kritik

an der Aufhebung der

Familiengerichtsbarkeit

Die Einführung der Familiengerichtsbarkeit hat zugegebenermaßen — und darauf habe ich selbst wiederholt hingewiesen92 — zu einer weiteren Komplizierung des ohnehin schon genug komplizierten Zuständigkeitsrechts geführt. Dies lag aber nur zu einem sehr geringen Teil am Institut der Familiengerichtsbarkeit selbst, sondern zu einem überwiegenden Teil daran, daß nicht konsequent alle Familiensachen bei den Familiengerichten konzentriert wurden. Mit der Einbeziehung der außerstreitigen Familiensachen in die Familiengerichtsbarkeit und mit Gerichtsständen des Sachzusammenhanges für Ehe- und Ehefolgesachen hätte aber durchaus eine sinnvolle Konzentration bei den Familiengerichten erreicht werden können. Daß sich die Familiengerichtsbarkeit in Österreich lange nicht so bewährt hat wie in anderen Ländern mag zu einem Teil auch daran liegen, daß ihre Einführung von der Richterschaft nicht besonders gut aufgenommen worden ist93. Nicht von ungefähr gingen die Bestrebungen 90 Vgl JAB zum FamGG 2. 91 Vgl die Länderberichte und den Gereralbericht des Jubilars in Nakamura, Familiengerichtsbarkeit. 92 Simotta, JB1 1980, 349; dies, ÖJZ 1982, 29. 93 Dies war auf die bereits erwähnte „Dreizehner-Sperre" zurückzuführen, nach der jene Gerichtsvorsteher nicht in eine höhere Gehaltsstufe als die dreizehnte gelangen konnten, bei deren Bezirksgericht es keine familienrechtliche Abteilung gab.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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zur Abschaffung der Familiengerichtsbarkeit von Seiten der Richterschaft aus94. Anscheinend wurde nicht gesehen, welch große Chancen zur Hebung des Ansehens ihres Standes gerade die Einführung der Familiengerichtsbarkeit den Richtern geboten hätte. Denn das Funktionieren der Familiengerichtsbarkeit steht und fällt, wie die Erfahrungen in anderen Ländern gezeigt haben, mit der Person der Richters. Der über die Grenzen seines Staates und seines Landes wegen seiner großen Persrinlichkeit bekannt gewordene Richter des Familiengerichtes von Toledo, Paul Alexander95, hat dies treffend wie folgt formuliert: „... all the plans, all the details, all the machinery, all the legal framework will be of little avail unless you find the right keystone... The keystone is the judge." Es scheint so, als ob es in Österreich zu wenig Richterpersönlichkeiten gegeben hätte, die in dem Amt des Familienrichters eine echte Lebensaufgabe gesehen haben. Andernfalls hätte die Richterschaft nicht so vehement die Abschaffung der Familiengerichtsbarkeit 96 gefordert, sondern hätte sich vielmehr für deren sinnvolle Ausgestaltung einsetzen müssen. Meines Erachtens war die Idee, für Familiensachen eine eigene Gerichtsbarkeit zu schaffen, an sich gut, weil damit ein Zeichen gesetzt worden ist, daß man in einer Zeit der zunehmenden Zerrüttung von Ehen und des Auseinanderfallens der Familie auch von Seiten der Rechtspflege etwas für die Ehe und Familie tun wollte. Äußerst schlecht hingegen war, wie bereits erwähnt, die Ausführung dieser Idee ausgefallen. Meines Erachtens wäre das aber kein Grund zur Abschaffung der Familiengerichtsbarkeit gewesen, sondern man hätte sie vielmehr sinnvoll ausgestalten müssen und, wie von Reiterer97 gefordert, ein einheitliches Außerstreitverfahren für alle bisher unterschiedlich geregelten familienrecht94 Vgl den Initiativantrag zum FamGG 5 und den JAB zum FamGG 2. 95 Family Cases are Different — Why not Family Courts, Canada Law Review 26 (1954) 35, zitiert nach Busekist, Das Familiengericht in den Vereinigten Staaten von Amerika (1970) 190 FN 153; Hervorhebungen von der Verfasserin. 96 Offensichtlich standen dabei besoldungsrechtliche Erwägungen im Vordergrund. Ansonsten hätte sich der Gesetzgeber nicht im JAB zum FamGG (S 2) zu folgender Äußerung bemüßigt gefühlt: „Im Zusammenhang damit (gemeint ist die Abschaffung der familienrechtlichen Abteilungen, Anm der Verfasserin) vertritt der Ausschuß — vorbehaltlich einer künftigen weitergehenden dienst- und besoldungsrechtlichen Regelung — die Auffassung, daß mit dem Wegfall der familienrechtlichen Abteilungen für die Vorsteher der vom Art IV Ζ 8 des Bundesgesetzes BGBl 1978/280, erfaßten Bezirksgerichte keine dienst- und besoldungsrechtliche Verschlechterung eintritt." 97 Am 8. Österreichischen Juristentag 1982 in Graz, leider unveröffentlicht.

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lichen Verfahren schaffen sollen. Darüberhinaus hätte man finanzielle und sonstige Anreize schaffen sollen, um möglichst qualifizierte und ambitionierte Richter als Familienrichter zu gewinnen. Vielleicht hätte man auf die Bewußtseinsbildung der Richter auch soweit einwirken können, daß den Richtern die große Bedeutung des Familienrichters für die Rechtssuchenden und das Ansehen des Richterstandes bewußt geworden wäre. c. Die Rechtslage seit dem

Familiengerichtsgesetz

Durch das Familiengerichtsgesetz 98 wurden die in § 49a Jurisdiktionsnorm in der Fassung der Zivilverfahrens-Novelle 1983" aufgezählten streitigen Familiensachen und die außerstreitigen Eheangelegenheiten100 den (allgemeinen) Bezirksgerichten zugewiesen101. Seit 1.1.1986102 ist daher das Bezirksgericht für alle Familiensachen — unabhängig davon, ob sie im streitigen oder im außerstreitigen Verfahren zu erledigen sind — sachlich zuständig. Weiters wurden durch das Familiengerichtsgesetz Bestimmungen geschaffen, die es in größerem Umfang als zuvor ermöglichen, daß das Gericht, bei dem die Ehesache anhängig ist, auch über die Ehefolgesachen entscheiden kann: Nach § 76a Jurisdiktionsnorm ist, wenn ein Eheprozeß bereits in erster Instanz anhängig ist oder gleichzeitig anhängig gemacht wird, für alle aus dem Eheverhältnis entspringenden Klagen103 — ausdrücklich wird die Unterhaltsklage eines Ehegatten gegen den anderen Ehegatten erwähnt — ausschließlich zuständig104. Dasselbe gilt gemäß § 114a Absatz 3 Jurisdiktionsnorm, wenn während eines in erster Instanz anhängigen Eheprozesses ein Antrag auf Entscheidung 98 BGBl 1985/70. 99 Bundesgesetz vom 2.2.1983, mit dem Vorschriften über das zivilgerichtliche Verfahren geändert werden (Zivilverfahrens-Novelle 1983) BGBl 135. 100 Zum Begriff siehe FN 55. 101 Die dadurch überflüssig gewordenen §§ 49a und 104b JN wurden durch Art I Ζ 2 und 10 FamGG aufgehoben. 102 Zu Ubergangsrechtlichen Problemen siehe Simotta, Wann treten in Ehe- und Familiensachen die neuen Zuständigkeitsbestimmungen in und die alten außer Kraft? ÖJZ 1986, 705 ; dies, Kann eine Scheidungswiderklage trotz Inkrafttretens des FamGG noch beim GH 1. Instanz erhoben werden? ÖJZ 1987, 546 ff. 103 Zum Begriff der aus dem Eheverhältnis entspringenden Streitigkeiten siehe Simotta, BeitrZPR IV (1991) 191. 104 Beispiel: Der Ehemann reicht beim BG Innere Stadt Wien Scheidungsklage ein. Die Ehefrau klagt ihn hierauf auf Zahlung von Unterhalt, dann ist für diese Unterhaltsklage gemäß § 76a JN das BG Innere Stadt Wien zuständig.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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einer (außerstreitigen) Eheangelegenheit105 gestellt wird106. Ein weiterer Gerichtsstand des Zusammenhanges wurde in § 114a Absatz 2 Jurisdiktionsnorm geschaffen. Ist eine (außerstreitige) Eheangelegenheit anhängig und das Verfahren in erster Instanz noch nicht geschlossen, so ist für jeden weiteren Antrag auf Entscheidung einer Eheangelegenheit107 das Gericht, bei dem der erste Antrag auf Entscheidung einer Eheangelegenheit anhängig ist, ausschließlich zuständig108.

105 Nach dem Wortlaut des § 114a Abs 3 JN würde dies nur für die Anträge auf angemessene Abgeltung der Mitwirkung eines Ehegatten im Erwerb des anderen und auf Feststellung der Rechtmäßigkeit des Verlangens auf Verlegung der gemeinsamen Wohnung, der Weigerung mitzuziehen oder die gesonderte Wohnungsnahme durch einen Ehegatten, nicht aber auch für den Antrag auf einvernehmliche Scheidung gelten. Da jedoch die Vorgängerbestimmungen zu § 114a Abs 3 JN idgF (§ 104b Satz 2 JN idF des EheRÄG, § 114a JN idF der ZVN 1983) stets das Gericht, bei dem die Scheidungsklage anhängig ist, auch für die einvernehmliche Scheidung für zuständig erklärten, muß § 114a Abs 3 JN — insbesondere auch wegen der Unterbrechungsvorschrift des § 460 Ζ 10 ZPO — trotz dessen Nicht-Erwähnung auch für den Antrag auf einvernehmliche Scheidung gelten. Dazu ausführlich Simotta, ÖJZ 1986, 710 f und dies, Die einvernehmliche Scheidung während eines anhängigen Eheprozesses (§ 460 Ζ 10 ZPO) ÖJZ 1987, 130 f f ; mir folgend Mayr in Rechberger, ZPO Rz 4 zu § 114a JN. 106 Beispiel: Der Ehemann erhebt beim BG Innere Stadt Wien Scheidungsklage. Die Ehefrau stellt hierauf einen Antrag auf Abgeltung ihrer Mitwirkung im Erwerb ihres Mannes. Für diesen Antrag ist gemäß § 114a Abs 3 JN das BG Innere Stadt Wien zuständig. 107 Nach dem Wortlaut des § 114a Abs 2 JN würde dieser nur für den Antrag auf Feststellung der Rechtmäßigkeit des Verlangens auf Verlegung der gemeinsamen Wohnung, der Weigerung mitzuziehen oder der gesonderten Wohnungsnahme durch einen Ehegatten, den Antrag auf angemessene Abgeltung der Mitwirkung eines Ehegatten im Erwerb des anderen oder der Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse, nicht aber auch für die einvernehmliche Scheidung und den Antrag nach § 98 EheG gelten. Es folgt insbesondere aus § 226 Abs 3 AußStrG, daß, wenn die Ehegatten einen Ausspruch nach § 98 Ehegesetz noch vor Erlassung des auf (einvernehmliche) Scheidung lautenden Beschlusses beantragt haben, der Ausspruch nach § 98 EheG mit dem Scheidungsbeschluß verbunden werden kann. Die Verbindung der beiden Beschlüsse ist aber nur möglich, wenn ein und dasselbe Gericht für beide Anträge zuständig ist. Ausführlich dazu Simotta, ÖJZ 1986, 710 f. Die in § 114a Abs 2 JN ebenfalls erwähnte Untersagung der Namensführung wurde durch das Namensrechtsänderungsgesetz mit 1.5.1995 abgeschafft. 108 Beispiel: Hat der Ehemann beim BG Innere Stadt Wien einen Antrag auf Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens gestellt und begehrt die Ehefrau später die Abgeltung ihrer Mitwirkung im Erwerb ihres Mannes, so ist für diesen Antrag gemäß § 114a Abs 2 JN (ebenfalls) das BG Innere Stadt Wien zuständig.

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Bei den genannten Gerichtsständen des Zusammenhanges (§§ 76a, 114a Absätze 2 und 3 Jurisdiktionsnorm) handelt es sich allerdings um keine Zwangsgerichtsstände, eine sie abändernde Gerichtsstandsvereinbarung ist nämlich zulässig109. Näheres zur Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen siehe Überblick Tabelle 4. Ergänzend zu den Zuständigkeitsbestimmungen trifft eine gesetzlich angeordnete Geschäftsverteilung dafür Vorsorge, daß bei den Bezirksgerichten ein und derselbe Richter beziehungsweise bei den Landesgerichten ein und derselbe Rechtsmittelsenat über die Ehe- und Ehefolgesache zu entscheiden h a t : Nach § 26 Absatz 3 Gerichtsorganisationsgesetz110 sind bei den Bezirksgerichten der selben Gerichtsabteilung sowohl die Rechtssachen nach § 49 Absatz 2 Zahl 1 bis 2c und Absatz 3 Jurisdiktionsnorm als auch die Außerstreitangelegenheiten nach §§ 109 bis 114a Jurisdiktionsnorm zuzuweisen. Wenn die genannten Familiensachen wegen des Geschäftsumfanges mehreren Abteilungen zuzuweisen sind, sind sie so zu verteilen, daß alle die selben Personen (Ehegatten oder Kinder) betreffenden familienrechtlichen Angelegenheiten zu der selben Gerichtsabteilung gehören. Bei den Landesgerichten sind die in § 26 Absatz 4 Gerichtsorganisationsgesetz genannten familienrechtlichen Angelegenheiten dem selben Rechtsmittelsenat zuzuweisen. Gibt es in den genannten Familiensachen mehrere Rechtsmittelsenate, so ist die Geschäftsverteilung wiederum so zu treffen, daß alle die selben Personen betreffenden familienrechtlichen Angelegenheiten zu dem selben Rechtsmittelsenat gehören (§ 32 Absatz 4 Gerichtsorganisationsgesetz). 5. Uberblick über die Zuständigkeit nach den jeweiligen

in Ehe- und

Ehefolgesachen

Rechtslagen

Anhand eines Beispiels soll in Tabellenform gezeigt werden, inwieweit nach der jeweiligen Rechtslage der Richter der Ehesache auch über die wichtigsten Ehefolgesachen entscheiden konnte. 109 JAB zum FamGG 2 ; Mayr in Rechberger, ZPO Rz 1 zu § 76a JN, Rz 3 und 4 zu § 114a JN. 110 Gesetz vom 27.11.1896, womit Vorschriften über die Besetzung, innere Einrichtung und Geschäftsordnung der Gerichte erlassen werden (Gerichtsorganisationsgesetz) RGBl 217 idF BGBl 1994/507.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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Es wird dabei von folgendem Beispiel ausgegangen: Die Ehegatten hatten in Bad Ischl ihren gemeinsamen Wohnsitz (Aufenthalt). Im Zeitpunkt der Erhebung der Scheidungsklage haben sie keinen gemeinsamen Aufenthalt mehr, der klägerische Ehemann hält sich in Mondsee, die Ehefrau in Lambach auf. Die Scheidungsklage wurde bei dem für Lambach sachlich zuständigen Gericht eingebracht. Das Kind hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei seiner Großmutter in Wien-Döbling. Im Zuge beziehungsweise nach Beendigung des Scheidungsverfahrens werden folgende Verfahren durchgeführt: 1. Verfahren auf Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten ( = Obsorge) bezüglich der minderjährigen Kinder an einen Ehegatten (nach § 177 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch), 2. Verfahren zur Regelung des Rechtes auf persönlichen Verkehr hinsichtlich der gemeinsamen Kinder der Ehegatten (gemäß § 148 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch), 3. Verfahren bezüglich des Unterhalts eines Kindes gegenüber einem Elternteil (§ 140 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch), 4. Verfahren betreffend die Herausgabe eines Kindes an den anderen Elternteil, 5. Verfahren zur Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse (gemäß §§ 81 ff Ehegesetz), 6. Verfahren zur Abgeltung der Mitwirkung eines Ehegatten im Erwerb des anderen (§ 98 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch), 7. Verfahren über den Antrag, das Gericht möge mit Wirkung für den Kreditgläubiger aussprechen, daß derjenige Ehegatte, der im Innenverhältnis zur Zahlung verpflichtet ist, Hauptschuldner, der andere Ausfallsbürge wird (§ 98 Ehegesetz), 8. Verfahren, in dem der Unterhaltsanspruch eines Ehegatten gegen den anderen geltend gemacht wird (§ 94 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch), 9. Verfahren, in dem ehegüterrechtliche Ansprüche geltend gemacht werden. Bei den unter den Punkt 1 bis 4 genannten Fällen handelt es sich — außer es ist ein volljähriges Kind unterhaltsberechtigt — um sogenannte außerstreitige Familiensachen U1. Der Unterhalt eines volljährigen 111 Zum Begriff siehe Simotta, JB1 1980, 356 f.

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Kindes, der auf dem streitigen Rechtsweg geltend zu machen ist112, fällt unter den Begriff der streitigen Familiensachen113. Die unter den Punkten 5 und 6 genannten Fälle zählen zu den außerstreitigen Eheangelegenheiten114. Die durch die Ehe begründete gesetzliche Unterhaltspflicht und die ehegüterrechtlichen Ansprüche sind unter die streitigen Familiensachen 115 zu subsumieren.

112 Vgl Jud 237 alt = G1UNF 7608 = AmtlSlg 1664 = JB1 1916, 129 = GH 1916, 218 = ZB11916/99; SZ 1/46. Es ist jedoch eine Gesetzesänderung geplant, nach der auch der Unterhalt volljähriger Kinder im außerstreitigen Verfahren durchzusetzen ist. 113 Zum Begriff siehe FN 42. 114 Zum Begriff siehe FN 55. 115 Siehe FN 42.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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Tabelle 1 :

Die Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen vor dem EheRÄG Art der Rechtssache sachliche Zuständigkeit örtliche Zuständigkeit zuständiges Gericht I.Streitige Ehesache § 50 Abs 2 Ζ 2 JN Kreisgericht Wels § 76 Abs 1 JN II.Folgesachen 1. Außerstreitige Familiesachen: a) Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten (obsorge) Bezirksgericht §109 J N b) Recht auf Döbling Vormundschafts- und persönlichen Verkehr Pflegschaftsgericht c) Unterhalt eines minderjährigen Kindes d) Herausgabe des Kindes 2. Außerstreitige Eheangelegenheiten Aufteilung des ehelichen Hausrats 3.Streitige Familiensachen a) Unterhalt eines volljährigen Kindes

§ 11 Abs 1 der 6. DVEheG

Bezirksgericht Bad Ischl

§ 49 Abs 2 Ζ 2a J N

§ 66 J N a) Vater beklagt b) Mutter beklagt

Bezirksgericht a) Mondsee b) Lambach

b) Unterhalt eines Ehegatten ba) bei selbständiger Einklagung:

§ 49 Abs 2 Ζ 2a JN

§ 66 JN a) Mann beklagt b) Frau beklagt

Bezirksgericht a) Mondsee b) Lambach

bb) bei Verbindung mit einer Ehesache

§ 7a Abs 3 iVm § 49 Abs 2 Ζ 2a J N .

§ 100 J N

Kreisgericht Wels

c) ehegüterrechtliche Ansprüche (vermögensrechtliche) ca) bei selbständiger e contrario aus Einklagung § 50 Abs 2 Ζ 3 JN: Wertzuständigkeit a) Streitwert bis 30.000 S: § 49 Abs 1 J N b) Streitwert über 30.000 S: § 50 Abs I JN

§ 66 JN a) Mann beklagt b) Frau beklagt § 66 JN a) Mann beklagt b) Frau beklagt

Bezirksgericht a) Mondsee b) Lambach

cb) bei Verbindung mit einer Ehesache

§ 100 J N

Kreisgericht Wels

§ 7a Abs 3 JN iVm § 49 Abs 2 Ζ 2a JN

a) Kreisgericht Wels b) Kreisgericht Wels

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Tabelle 2 :

Die Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen nach dem EheRÄG Art der Rechtssache I.Streitige Ehesache II.Folgesachen 1. Außerstreitige Familiesachen: a) Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten (Obsorge) b) Recht auf persönlichen Verkehr c) Unterhalt eines minderjährigen Kindes d) Herausgabe des Kindes 2. Außerstreitige Eheangelegenheiten a) Aufteilung des ehelichen Gebrauchs verm ögens b) Abgeltung der Mitwirkung eines Ehegatten im Erwerb des anderen

Z.Streitige Familiensachen a) Unterhalt eines volljährigen Kindes

sachliche Zuständigkeit § 50 Abs 2 satz 1 JN

örtliche Zuständigkeit § 76 Abs 1 JN

zuständiges Gericht Kreisgericht Wels

§ 104a JN Vormundschaftsund Pflegschaftsgericht

§ 109 JN

allgemeines Bezirksgericht Döbling

§ 104b JN

§ 114b JN

familienrechtliche Abteilung des BezirksG a) Wels b) Vöcklabruck c) entweder des BezirksG Wels oder des BezirksG Vöcklabruck

a) Mann Antragsteller b) Frau Antragsteller c) gemeinsame Antragstellung

§ 49a Abs 1 Ζ 2 JN

oder

b) Unterhalt eines Ehegatten ba) bei selbständiger Einklagung

§ 49 Abs 4 JN (sachliche Wahlzuständigkeit) § 49a Abs 1 Ζ 2 JN

oder

bb) bei Verbindung mit einer Ehesache c) ehegüterrechtliche Ansprüche ca) bei selbständiger Einklagung

cb) bei Verbindung mit einer Ehesache

§ 49 Abs 4 JN (sachliche Wahlzuständigkeit) § 50 Abs 2 Satz 2 JN

§ 66 JN a) Vater beklagt b) Mutter beklagt oder § 66 JN a) Vater beklagt b) Mutter beklagt

§ 66 JN a) Mann beklagt b) Frau beklagt oder §66 JN a) Mann beklagt b) Frau beklagt § 100 JN

§ 49a Abs 1 Ζ 4 JN

§ 66 JN

§ 50 Abs 2 Satz 2 JN

a) Mann beklagt b) Frau beklagt § 100 JN

familienrechtliche Abteilung des BezirksG a) Vöcklabruck b) Wels oder allgemeines BezirksG a) Mondsee b) Lambach

familienrechtliche Abteilung des BezirksG a) Vöcklabruck b) Wels oder allgemeines BezirksG a) Mondsee b) Lambach Kreisgericht Wels

familienrechtliche Abteilung des BezirksG a) Vöcklabruck b) Wels Kreisgericht Wels

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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Tabelle 3: Die Zuständigkeit in Ehe-und Ehefolgesachen nach der nicht in Kraft getretenen Z V N 1983 Art der Rechtssache zuständiges Gericht sachliche Zuständigkeit örtliche Zuständigkeit familienrechtliche I.Streitige Ehesache § 49a Abs 1 Ζ 5 JN § 76 Abs 1 JN Abteilung des BezirksG Wels II. Folgesachen 1 .Außerstreitige Familiesachen: a) Zuteilung der allgemeines § 104a JN § 109 JN elterlichen Rechte und VormundschaftsBezirksgericht Döbling Pflichten (Obsorge) und b) Recht auf Pflegschaftsgericht persönlichen Verkehr c) Unterhalt eines minderjährigen Kindes d) Herausgabe des Kindes 2. Außerstreitige Eheangelegenheiten a) Aufteilung des familienrechtliche § 104b JN § 114a JN ehelichen Abteilung des BezirksG Gebrauchsvermögens a) Mann Antragsteller a) Wels b) Abgeltung der b) Frau Antragsteller b) Vöcklabruck Mitwirkung eines c) gemeinsame c) entweder Ehegatten im Erwerb Antragstellung Vöcklabruck oder des anderen Wels 3- Streitige Familiensachen § 49a Abs 1 Ζ 2 JN a) Unterhalt eines familienrechtliche §66 JN volljährigen Kindes Abteilung des BezirksG a) Vater beklagt a) Vöcklabruck b) Mutter beklagt b) Wels oder oder oder allgemeines BezirksG § 49 Abs 4 JN §66 JN (sachliche a) Vater beklagt a) Mondsee Wahlzuständigkeit) b) Lambach b) Mutter beklagt b) Unterhalt eines Ehegatten ba) bei selbständiger § 49a Abs 1 Ζ 2 JN familienrechtliche § 66 JN Einklagung Abteilung des BezirksG a) Mann beklagt a)· Vöcklabruck b) Frau beklagt b) Wels oder oder oder § 49 Abs 4 JN § 66 JN allgemeines BezirksG (sachliche a) Mann beklagt a) Mondsee Wahlzuständigkeit) b) Frau beklagt b) Lambach bb) bei Verbindung mit § 49a Abs 1 Ζ 2 JN familienrechtliche § 100 JN einer Ehesache Abteilung des BezirksG Wels c) ehegüterrechtliche Ansprüche ca) bei selbständiger § 49a Abs 1 Ζ 5 JN familienrechtliche § 66 JN Einklagung Abteilung des BezirksG a) Mann beklagt a) Vöcklabruck b) Frau beklagt b) Wels cb) bei Verbindung mit § 49a Abs 1 Ζ 2 JN familienrechtliche §100 JN einer Ehesache Abteilung des BezirksG Wels

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Tabelle 4 :

Die Zuständigkeit in Ehe-und Ehefolgesachen nach dem FamGG Art der Rechtssache I.Streitige Ehesache II. Folgesachen 1 .Außerstreitige Familiesachen: a) Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten (Obsorge) b) Recht auf persönlichen Verkehr c) Unterhalt eines minderjährigen Kindes d) Herausgabe des Kindes 2. Außerstreitige Eheangelegenheiten a) Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens b) Abgeltung der Mitwirkung eines Ehegatten im Erwerb des anderen 3. Streitige Familiensachen a) Unterhalt eines volljährigen Kindes b) Unterhalt eines Ehegatten ba) bei selbständiger Einklagung (wenn keine Eheklage in 1. Instanz anhängig ist)

sachliche Zuständigkeit

örtliche Zuständigkeit

zuständiges Gericht

§ 49 Abs 1 Ζ 2b JN

§ 76 Abs 1 JN

BezirksG Lambach

§ 104a JN Vormundschaftsund Pflegschaftsgericht

§ 109 JN

Bezirksgericht Döbling

§ 104a JN

§ 114a JN a) Mann Antragsteller b) Frau Antragsteller c) gemeinsame Antragstellung

Bezirksgericht a) Lambach b) Mondsee c) entweder Lambach oder Mondsee

§ 49 Abs 2 Ζ 2 JN

§66 JN a) Vater beklagt b) Mutter beklagt

Bezirksgericht a) Mondsee b) Lambach

§ 49 Abs 2 Ζ 2 JN

§ 66 JN a) Mann beklagt b) Frau beklagt

Bezirksgericht a) Mondsee b) Lambach

bb) wenn eine Ehesache § 76£ JN gleichzeitig anhängig gemacht wird oder in erster Instanz anhängig ist c) ehegüterrechtliche Ansprüche ca) bei selbständiger § 49a Abs 2 Ζ 2c JN §66 JN Einklagung (wenn keine a) Mann beklagt Eheklage in 1. Instanz b) Frau beklagt anhängig ist) cb) wenn eine Ehesache § 76a JN gleichzeitig anhängig gemacht wird oder in erster Instanz anhängig ist

Bezirksgericht Lambach

Bezirksgericht a) Mondsee b) Lambach Bezirksgericht Lambach

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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Tabelle 5 :

Oberblick über die Änderung der Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen Art der Rechtssache I.Streitige Ehesache II.Folgesachen 1. Außerstreitige Fam iliesachen: a) Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten (Obsorge) b) Recht auf persönlichen Verkehr c) Unterhalt eines minderjährigen Kindes d) Herausgabe des Kindes

vor dem EheRÄG zuständiges Gericht

nach dem FamGG zuständiges Gericht

Kreisgericht Wels

Kreisgericht Wels

BezirksG Lambach

Bezirksgericht Döbling

allgemeines Bezirksgericht Döbling

Bezirksgericht Döbling

2.Außerstreitige Eheangelegen heiten a) Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens aa) selbständige Antragstellung aaa) durch Mann Bezirksgericht Bad Ischl aab) durch Frau aac) gemeinsame Antragstellung ab) während eine andere hier gilt dasselbe wie Eheangelegenheit unter aa) ausgeführt anhängig ist b) Abgeltung der Mitwirkung im Erwerb 1 des anderen ba) selbständige Antragstellung baa) durch den Mann bab) durch die Frau bb) während der Anhängigkeit einer anderenEheangelegenheit in 1. Instanz bc) während eines in 1. Instanz anhängigen Eheprozesses c) Antrag nach § 98 EheG 2 ca) selbständige Antragstellung caa) Mann Antragsteller cab) Frau Antragsteller cb) während der Anhängigkeit einer anderen Eheangelegenheit in 1. Instanz

nach dem EheRÄG zuständiges Gericht

familienrechtliche Abteilung des BezirksG aaa) Vöcklabruck aab) Wels aac) entweder Vöcklabruck oder Wels hier gilt dasselbe wie unter aa) ausgeführt

familienrechtliche Abteilung des BezirksG baa) Wels bab) Vöcklabruck hier gilt dasselbe wie unter ba) ausgeführt hier gilt dasselbe wie unter ba) ausgeführt

Bezirksgericht aaa) Lambach aab) Mondsee aac) entweder Lambach oder Mondsee BezirksG, bei dem die Eheangelegenheit in 1.Instanz anhängig ist

Bezirksgericht baa) Lambach bab) Mondsee bei dem die andere Eheangelegenheit anhängig ist BezirksG Lambach (das BezirksG, bei dem der Eheprozeß in erster Instanz anhängig ist)

Bezirksgericht caa) Lambach cab) Mondsee cb) bei dem die Eheangelegenheit in erster Instanz anhängig ist

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3. Streitige Familliensachen a) Unternalt eines volljährigen Kindes aa) Vater beklagt

ab) Mutter beklagt

b) Unterhalt eines Ehegatten ba) bei selbstständiger Einklagung baa) Mann beklagt

bab) Frau beklagt

Bezirksgericht Mondsee

Bezirksgericht Lambach

Bezirksgericht Mondsee

Bezirksgericht Lambach

bb) bei Einklagung Kreisgericht Wels während der Anhängigkeit einer Eheklage in erster Instanz (Verbindung mit Eheklage) c) ehegüterrechtliche Ansprüche ca) bei selbständiger Einklagung caa) Mann beklagt BezirksG Mondsee bzw Kreisgericht Wels cab) Frau beklagt

BezirksG Lambach bzw Kreisgericht Wels

cb) bei Einklagung während der Anhängigkeit einer Eheklage in 1. Instanz (Verbindung mit Eheklage)

Kreisgericht Wels

familienrechtliche Abteilung des BezirksG Vöck labruck oder allgemeines BezirksG Mondsee familienrechtliche Abteilung des BezirksG Wels oder allgemeines Bezirks Lambach

Bezirksgericht Mondsee

familienrechtliche Abteilung des Bezirksgericht Vöck labruck oder allgemeines BezirksG Mondsee familienrechtliche Abteilung des BezirksG Wels oder allgemeines BezirksG Lambach Kreigericht Wels

Bezirksgericht Mondsee 3

familienrechtliche Abteilung des BezirksG Vöck labruck familienrechtliche Abteilung des BezirksG Wels Kreisgericht Wels

BezirksG Mondsee 3

Bezirksgericht Lambach

Bezirksgericht Lambach 3

BezirksG Lambach

BezirksG Lambach 3 BezirksG Lambach

1 Die A b g e l t u n g der M i t w i r k u n g eines E h e g a t t e n im Erwerb d e s anderen w u r d e erst durch Art I Ζ 1 EheRÄG eingeführt. 2 Der Antrag, d a s Gericht m ö g e m i t W i r k u n g für den Kreditgläubiger aussprechen, d a ß d e r j e n i g e E h e g a t t e , d e r i m I n n e n v e r h ä l t n i s z u r Z a h l u n g v e r p f l i c h t e t ist, H a u p t s c h u l d n e r , d e r a n d e r e A u s f a l l s b ü r g e w i r d (§ 98 E h e G ) , w u r d e e r s t d u r c h A r t I d e s B u n d e s g e s e t z e s B G B l 1 9 8 5 / 4 8 1 g e s c h a f f e n . § 98 E h e G t r a t m i t 1.1.1986 in K r a f t . 3 A u s § 76a J N in d e r F a s s u n g d e s F a m G G f o l g t , d a ß e i n e s e l b s t ä n d i g e E i n k l a g u n g g r u n d s ä t z l i c h nur d a n n m ö g l i c h ist, w e n n k e i n E h e p r o z e ß in e r s t e r I n s t a n z a n h ä n g i g ist. W ä h r e n d e i n e s in e r s t e r I n s t a n z a n h ä n g i g e n E h e p r o z e s s e s ist e i n e s e l b s t ä n d i g e E i n k l a g u n g n u r d a n n m ö g l i c h , w e n n d i e P a r t e i e n e i n e d e n § 76a J N a b ä n d e r n d e G e r i c h t s s t a n d s v e r e i n b a r u n g g e s c h l o s s e n h a b e n . E s ist d a n n d a s v o n d e n P a r t e i e n vereinbarte Bezirksgericht zuständig.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

6. Zusammenfassung

und

573

Reformvorschlag

Vergleicht man die Zuständigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen nach den jeweiligen Rechtslagen miteinander (siehe Tabelle 5), so zeigt sich, daß das Familiengerichtsgesetz tatsächlich eine gewisse Zuständigkeitskonzentration in Ehe- und Ehefolgesachen herbeigeführt hat. Allerdings ist auch die derzeitige Rechtslage als alles andere als perfekt zu bezeichnen, weil es noch immer Fälle gibt, in denen es wegen unterschiedlicher örtlicher Zuständigkeit nicht möglich ist, daß ein und derselbe Richter über die Ehe- und die Ehefolgesache entscheidet. Die Identität des Richters in Ehe- und Ehefolgesachen ist aus folgenden Gründen sehr wichtig: Ist für das Eheverfahren und die mit ihm zusammenhängenden Folgeverfahren das selbe Gericht zuständig, so erhält der Rechtssuchende von einem Richter eine Generalbereinigung seines Falles und wird nicht „von Tür zu Tür" geschickt116. Sachlich Zusammenhängendes wird nicht mehr getrennt, sondern durch den gleichen Richter entschieden117. Die Folgesachen in ihrer Gesamtheit werden in kürzerer Zeit geklärt sein als wenn für sie verschiedene Gerichte zuständig wären118. Weiters ist die Gefahr widersprechender Erklärungen gebannt119. Entscheiden nämlich über die miteinander in Zusammenhang stehenden Familiensachen verschiedene Richter, so besteht die Gefahr, daß jeder nur auf den ihm überlassenen Ausschnitt des Gesamtkomplexes sieht und am Ende von einer richtigen Gesamtordnung des einheitlichen Lebenssachverhaltes nicht mehr gesprochen werden kann120. So wird zum Beispiel der Richter, der auch Uber den Unterhalt der Ehegatten zu entscheiden hat, weil er weiß, daß dieses auch auf den Unterhaltsanspruch Auswirkungen hat, im Scheidungsprozeß die Frage des Verschuldens ganz 116 Rothenberger, Der deutsche Richter (1943) 143117 Schiffer, Die deutsche Justiz (1928) und (1949) 138 f ; ders, Empfiehlt sich eine grundsätzliche Änderung in der Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren? 35. DJT II 111 f f ; Habscheid, Das Familiengericht, FamRZ 1955, 154 ; ders, Familiengerichte für Deutschland? JJB 5, 53 ; Brox, Vorschläge zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit in Familienrechtssachen, FamRZ 1963, 106. 118 Schiffer, 35. DJT II 111 f ; Grobe, Die Entstehung und Funktion des Familiengerichts, Diss (1963) 69. 119 Habscheid, FamRZ 1955, 155 ; Brox, FamRZ 1963, 106 ; Grobe, Entstehung 75. 120 Brox, FamRZ 1963, 106.

574

besonders sorgfältig prüfen121. Grundsätzlich wird ein einzelner Richter, der aus der Gesamtschau des Falles die notwendigen Maßnahmen und Entscheidungen trifft, der Familie sinnvoller und wirksamer zu helfen vermögen als eine Mehrzahl von Richtern, die ohne Kenntnis voneinander in getrennten Verfahren entscheiden122. Die einzelnen familienrechtlichen Verfahren könnten hintereinander geschaltet und — soweit dies zweckmäßig ist — zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden werden. Das erspart den Parteien, den Parteienvertretern und den Zeugen Zeit und verbilligt, weil die Verhandlungen kürzer dauern, das Verfahren123. Auch wird es leichter zu einer generellen Bereinigung aller zwischen den Parteien bestehenden familienrechtlichen Streitigkeiten kommen, als wenn die Streitigkeiten bei verschiedenen Gerichten anhängig sind124. Denn dem Richter, der selbst über die unerledigten Streitigkeiten zu entscheiden hätte, wird schon im eigenen Interesse besonders an einer gütlichen und generellen Bereinigung aller zwischen den Parteien bestehenden Streitigkeiten gelegen sein125. Das wird auch die Chancen für eine Aussöhnung der Ehegatten vergrößern126. Weiters wird es, wenn ein und derselbe Richter über mehrere Familiensachen entscheidet, zu einer Arbeitsersparnis des Richters kommen. Der Richter, der den Sachverhalt — zum Beispiel aus einem Eheverfahren — bereits kennt, kann sich schneller in das anschließende Unterhaltsverfahren einarbeiten, als der Richter, der mit dem Eheverfahren nichts zu tun hatte127. Außerdem wird, wenn es ein für die meisten Familiensachen zuständiges Gericht gibt, das letztlich fruchtlose Hin- und Herwandern der Akten zwischen den Gerichten beziehungsweise den einzelnen Gerichtsabteilungen verringert und es fällt auch sonst manch ein physischer 121 Siehe die vorhergehende FN. 122 Erdsiek, Der Family Court in USA — Das japanische Familien- und Schlichtungsgericht — zum Vorschlag eines deutschen Familiengerichts, NJW 1961,1006; Grobe, Entstehung 82. 123 So bereits Schiffer, 35. DJT II 111 f f ; Habscheid, FamRZ 1955, 154, Grobe, Entstehung 75. 124 Habscheid, JJB 5, 71; vgl Simotta, ÖJZ 1982, 33 sowie in Bezug auf die streitigen und außerstreitigen Familiensachen Maurer, RZ 1979, 220. 125 Maurer, RZ 1979, 220. 126 May, Neue Rechtsordnung in Ehe und Familie, Preußisches Jahrbuch 137, 319 ; Grobe, Entstehung 68. 127 Brox, FamRZ 1963, 106; Grobe, Entstehung 82 ; Vgl auch Simotta, JB1 1980, 351.

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Aufwand — sei es im Bereich der Verfahrensbeteiligten, sei es im Bereich des Gerichts — weg128. Soweit die Parteien in den Verfahren identisch sind, kann der Richter, weil ja hier aufgrund der Identität des Richters keine Durchbrechung der Unmittelbarkeit des Verfahrens vorliegt — ohne daß sich eine Partei mit Erfolg dagegen aussprechen könnte129 — aufgrund des § 281a Zivilprozeßordnung130 die im Eheverfahren gewonnenen Beweisergebnisse im anderen Verfahren verwerten131 und umgekehrt. Mehrfache Beweisaufnahmen (vor verschiedenen Richtern) entfallen dadurch. Entscheidet ein Richter über die Ehe- und die Ehefolgesachen, wird er die im Ehe- oder einem anderen Vorverfahren gewonnenen persönlichen Eindrücke und seine Kenntnisse über ihre familiären und persönlichen Verhältnisse in den anderen Verfahren verwerten können. Auch wird die Beweiswürdigung eine einheitliche sein. In folgenden Fällen ist es jedoch nach der derzeit geltenden Rechtslage nicht möglich, daß ein und derselbe Richter Uber die Ehesache und die Ehefolgesache entscheidet: Da wären an erster Stelle die kindesbezogenen Ehefolgesachen zu nennen. Soweit diese nämlich — wie die Zuteilung der Obsorge, die Besuchsregelung, die Bemessung des Unterhaltes eines minderjährigen Kindes und das Begehren auf Herausgabe eines Kindes — im Außerstreitverfahren zu erledigen sind, ist dafür gemäß §§ 104a, 109 Jurisdiktionsnorm das Vormundschafts- und Pflegschaftsgericht zuständig. Die örtliche Zuständigkeit des Vormundschafts- und Pflegschafts128 Brox, FamRZ 1963, 106. 129 Denn an sich stellt die Bestimmung des § 281a ZPO eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dar (Rechberger/Simotta, Grundriß des österreichischen Zivilprozeßrechts 4 [1994] Rz 611). Da die Unmittelbarkeit des Verfahrens darin besteht, daß der erkennende und der B e w e i s aufnehmende Richter identisch sind, kann im Fall der Verwertung der Beweisergebnisse durch den Richter, der sie in einem Vorverfahren selbst erzielt hat, kein Verstoß gegen die Unmittelbarkeit erblickt werden. 130 Gesetz vom 1.8.1895, über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Zivilprozeßordnung) RGBl 113 idgF. 131 Zum Problem der Unmittelbarkeit im Außerstreitverfahren siehe SZ 23/10 ; RPflSlgA 1021; JB1 1961, 232 ; RZ 1967, 17 ; EFSlg 18.922, 23.497 sowie Gögl, Der Beweis im Verfahren außer Streitsachen, ÖJZ 1956, 348 und Klicka/Oberhammer, Außerstreitverfahren (1995) Rz 43. Aufgrund des in § 222 Abs 1 bzw § 230 Abs 2 AußStrG enthaltenen Verweises auf die Bestimmungen der ZPO über die Beweise ist § 281a ZPO im Verfahren über die einvernehmliche Scheidung, die Abgeltung der Mitwirkung eines Ehegatten im Erwerb des anderen und die Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse direkt anwendbar.

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gerichtes richtet sich aber primär nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes, mangels eines solchen im Inland nach dem Aufenthalt des Kindes. Erst wenn das Kind auch keinen Aufenthalt im Inland hat, wird an den gewöhnlichen Aufenthalt seines gesetzlichen Vertreters oder eines Elternteils angeknüpft. Daraus folgt, daß sich gemäß § 109 Jurisdiktionsnorm die örtliche Zuständigkeit für die kindesbezogenen Ehefolgesachen nur dann mit der örtlichen Zuständigkeit in Ehesachen deckt, wenn das Kind dort seinen (gewöhnlichen) Aufenthalt hat, wo entweder die Ehegatten ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt haben oder der die Zuständigkeit nach § 76 Absatz 1 Jurisdiktionsnorm begründende Ehegatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Wenn sich zum Beispiel die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des auf Scheidung geklagten Mannes (zum Beispiel: nach Graz) richtete und lebt das Kind bei seiner Mutter in einem anderen Ort (zum Beispiel in Wien-Döbling), dann kann der Scheidungsrichter (des Bezirksgerichtes Graz) nicht auch über die im Außerstreitverfahren zu erledigenden kindesbezogenen Ehefolgesachen entscheiden, weil für diese ein anderes Bezirksgericht (nämlich das Bezirksgericht Döbling) örtlich zuständig ist. Ähnlich sieht es bei der während eines Scheidungsverfahrens erhobenen Unterhaltsklage eines volljährigen Kindes aus, die gegen einen Elternteil gerichtet ist. Diese ist mangels eines besonderen Gerichtsstandes für Unterhaltsklagen beim allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten einzubringen. Hier wird das Gericht der Ehesache nur dann für die Unterhaltsklage des Kindes zuständig sein, wenn die Eheklage beim gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten eingebracht worden ist oder für die Zuständigkeit im Eheprozeß an den gewöhnlichen Aufenthalt des im Unterhaltsprozeß Beklagten angeknüpft wird. Allerdings gilt dies auch nur dann, wenn nach der Einbringung der Eheklage keine Änderungen des gewöhnlichen Aufenthaltes des beziehungsweise der zuständigkeitsbegründenden Ehegatten erfolgt ist. Hat zum Beispiel der in Graz wohnende Mann seine in Wien-Döbling wohnende Frau auf Scheidung geklagt und zahlt er nun der volljährigen Tochter, weil sie zu ihrer Mutter gezogen ist, keinen Unterhalt, so ist für die Scheidungsklage das Bezirksgericht Döbling, für die Unterhaltsklage hingegen das Bezirksgericht Graz zuständig. Trotz der Attraktionsgerichtsstände der §§ 76a und 114a Absatz 3 Jurisdiktionsnorm, nach denen während der Anhängigkeit einer Ehesache in erster Instanz das Gericht der Ehesache für alle Streitigkeiten aus dem Eheverhältnis und alle Eheangelegenheiten ausschließlich zuständig

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ist, kann es Fälle geben, in denen dennoch ein anderes Gericht als jenes der Ehesache über derartige Ehefolgesachen entscheidet. Da § 76a Jurisdiktionsnorm, wie bereits erwähnt, nur ein einfacher ausschließlicher Gerichtsstand ist132, kann § 76a Jurisdiktionsnorm dadurch unterlaufen werden, daß die Ehegatten bezüglich der Ehefolgesache eine ihn abändernde Gerichtsstandsvereinbarung schließen (zum Beispiel, daß für die Streitigkeit aus dem Eheverhältnis statt des Bezirksgerichtes Graz das Bezirksgericht Linz zuständig sein soll). Einen ähnlichen Effekt 133 hat der — allerdings nur bei den Streitigkeiten aus dem Eheverhältnis zulässige — Delegationsantrag nach § 31a Absatz 1 Jurisdiktionsnorm. Die Ehegatten brauchen nur zu Beginn der mündlichen Streitverhandlung übereinstimmend beantragen, das Gericht der Ehesache (zum Beispiel das Bezirksgericht Linz) möge die bei ihm anhängige Streitigkeit aus dem Eheverhältnis an das von den Parteien namhaft gemachte Bezirksgericht (zum Beispiel das Bezirksgericht Graz) übertragen. Weiters kommen die §§ 76a und 114a Absatz 3 Jurisdiktionsnorm dann nicht zur Anwendung, wenn die Ehefolgesache vor der Ehesache anhängig gemacht wird. Beispiel: Die Ehefrau klagt, als die Ehe bereits kriselt, ihren Mann auf Unterhalt beziehungsweise begehrt eine angemessene Abgeltung ihrer Mitwirkung in seinem Erwerb. Da die Ehegatten getrennten Aufenthalt haben — die Frau lebt in Leoben, der Mann in Graz — ist zur Erledigung dieser eherechtlichen Ansprüche gemäß § 66 Absatz 1 beziehungsweise § 114a Absatz 1 Jurisdiktionsnorm das Bezirksgericht Graz zuständig. Kurz danach erhebt der Mann die Scheidungsklage, für welche gemäß § 76 Absatz 1 Jurisdiktionsnorm das Bezirksgericht Leoben zuständig ist. Ein Blick über unsere Grenze zu unserem deutschen Nachbarn zeigt, wie man das auch nach dem Familiengerichtsgesetz noch immer bestehende Problem der unterschiedlichen örtlichen Zustädigkeit in Ehe- und Ehefolgesachen lösen könnte. In Anlehnung an § 621 II deutsche Zivilprozeßordnung sollte man in Erweiterung der §§ 76 a und 114 a Absatz 3 Jurisdiktionsnorm eine Bestimmung schaffen, nach der 132 Zur Zulässigkeit der Prorogation siehe F N 109. 133 Deswegen wird die Delegation nach § 31a Absatz 1 JN auch als nachträgliche Konsensprorogation bezeichnet (EB zur ZVN 1983, 30 ; ähnlich Ballon, Einführung in das österreichische Zivilprozeßecht 4 [1993] 61) · Allerdings erfolgt die Zuständigkeitsverschiebung hier nicht allein durch die Parteien, sondern sie bedarf einer Verfügung durch das Gericht (Fasching, Lehrbuch des österreichischen Zivilprozeßrechts 2 [1990] Rz 211; Mayr in Rechberger, ZPO Rz 1 zu § 31a J N ) .

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während der Anhängigkeit einer Ehesache in erster Instanz das Gericht der Ehesache nicht nur für die Streitigkeiten aus dem Eheverhältnis und die Eheangelegenheiten, sondern auch für die Zuteilung der Obsorge, die Regelung des Besuchsrechts, die Herausgabe eines Kindes an den anderen Elternteil und — unabhängig davon, ob diese im streitigen oder außerstreitigen Verfahren zu erfolgen hat — die Entscheidung über die gesetzliche Unterhaltspflicht gegenüber einem ehelichen Kind zuständig ist134. Außerdem sollte es — auch im streitigen Verfahren — eine amtswegige Überweisung an das Gericht der Ehesache geben, wenn eine Ehefolgesache, obwohl ein Eheverfahren in erster Instanz anhängig ist, bei einem anderen Gericht anhängig gemacht wurde. Und damit diese Attraktionsgerichtsstände nicht dadurch umgangen werden können, daß zuerst die Ehefolgesache und dann erst die Ehesache anhängig gemacht wird, sollte man analog zu § 621 III deutsche Zivilprozeßordnung135 beziehungsweise § 64 Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit 136 eine Bestimmung schaffen, nach der, wenn eine Ehesache anhängig wird, während eine Ehefolgesache bereits bei einem anderen Gericht in erster Instanz anhängig ist, die Ehefolgesache von Amts wegen an das Gericht der Ehesache zu überweisen wäre137. Außerdem müßte man — wenn man die totale Zuständigkeitskonzentration von Eheund Ehefolgesachen beim Gericht der Ehesache erreichen will — für die Ehefolgesachen, die während der Anhängigkeit einer Ehesache anhängig gemacht werden, ein Prorogationsverbot erlassen138 und wegen ihres prorogationsähnlichen Effektes 139 auch die vereinfachte Delegation nach § 31a Absatz 1 Jurisdiktionsnorm für unzulässig erklären. Als weitere begleitende Maßnahme müßte normiert werden, daß jede 134 So bereits Simotta, ÖJZ 1982, 70. 135 Deutsche Zivilprozeßordnung, dRGBl 1877, 83 in der Fassung der Bekanntmachung vom 12.9.1950, dBGBl 533 idgF. 136 Deutsches Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, dRGBl 1898, 189 idgF. 137 Vgl Simotta, ÖJZ 1982, 32. 138 So bereits Simotta, ÖJZ 1982, 32 unter Hinweis darauf, d a ß die Zulässigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung dem Zweck der Bestimmung widersprechen würde. Der Gesetzgeber des FamGG stellte jedoch die Parteienautonomie über den Grundsatz der Verfahrensökonomie. Vgl J A B zum FamGG 2 : „Die Attraktionsbestimmungen der Absätze 2 und 3 (ergänze des § 114a JN, Anm der Verfasserin) lassen aber Gerichtsstandsvereinbarungen zu (Abs 2 letzter Halbsatz) ; damit sind die Parteien nicht gehindert, einen ihnen im Einzelfall genehmeren Gerichtsstand in Anspruch zu nehmen." 139 Vgl F N 133.

Die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Familiensachen in Österreich

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Eheklage als zwingendes Inhaltserfordernis Angaben darüber zu enthalten habe, ob eine Ehefolgesache bereits anhängig ist140 und daß jeder Schriftsatz, mit dem die Entscheidung einer Ehefolgesache141 begehrt wird, zwingend Angaben darüber zu enthalten habe, ob eine Ehesache bereits anhängig ist. Denn dadurch wird dem Gericht die Zuständigkeitsprüfung in Ehefolgesachen erleichtert und die Voraussetzung für die amtswegige Überweisung an das Gericht der Ehesache geschaffen. Ohne diese Angaben in der Klage beziehungsweise im verfahrenseinleitenden Schriftsatz könnte — außer das Gericht weiß aus seiner amtlichen Tätigkeit von der Anhängigkeit der Ehesache — die Ehefolgesache nur dann an das Gericht der Ehesache überwiesen werden, wenn der Beklagte rechtzeitig die Unzuständigkeitseinrede erhebt.

140 Denn im streitigen Verfahren h a t das Gericht bezüglich seiner Zuständigkeit nur ein formelles Prüfungsrecht, dh es ist grundsätzlich an die Angaben des Klägers in der Klage gebunden (Rechberger/Simotta, Grundriß Rz 519; Mayr in Rechberger, ZPO Rz 2 zu § 41 J N ; OLG Wien EvBl 1946/299 ; EvBl 1965/428 ; LGZ Wien W R 428). Es könnte daher in limine litis nicht von A m t s wegen erforschen, ob eine Ehefolgesache bereits anhängig ist. AA sind hingegen Fasching, Lehrbuch 2 Rz 227, Buchegger, Praktisches Zivilprozeßrecht 4 (1994) 24 sowie Teile der Rsp (EvBl 1979/105; OLG Innsbruck EvBl 1988/136), die dem Gericht bei Verdacht des Vorliegens einer unprorogablen Unzuständigkeit ein materielles Prüfungsrecht einräumen. Allerdings werden sich auch, wenn m a n von einem materiellen Prüfungsrecht des Gerichtes ausgeht, diese von mir zusätzlich geforderten Angaben bei der Zuständigkeitsprüfung vorteilhaft auswirken, weil sich der Richter dadurch Erhebungen darüber, ob eine Ehefolgesache bereits anhängig ist, erspart. 141 Handelt es sich um eine im Außerstreitverfahren zu erledigende Ehefolgesache, hat das Gericht bezüglich der Zuständigkeit ein materielles Prüfungsrecht. Im übrigen kann auf die Ausführungen in der vorhergehenden F N verwiesen werden.

Ein einheitlicher Europäischer Vollstreckungstitel als Vorbote eines weltweiten Titels von

Prof. D r . Marcel Storme

Gent

President der Internationalen Vereinigung für Prozeßrecht Vorsitzender des interuniversitären Zentrums für Prozeßrecht (Belgien)

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Inhaltsverzeichnis

I. II. III. IV. V.

Einleitung Argumente für den einheitlichen Europäischen Titel Vorgehensweise in der Praxis Lösung für die Übergangszeit Schlußfolgerung

Ein einheitlicher Europäischer Vollstreckungstitel als V o r b o t e eines weltweiten Titels

I.

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Einleitung

Unter dem einheitlichen Titel, der europaweit vollstreckbar ist, wird hier das Urteil verstanden, welches von einem Richter in einem der Mitgliedstaaten der Europäischen Union1 gefällt wurde. Konkret bedeutet dies, daß beispielsweise ein Urteil eines Gerichts in Coimbra (Portugal) ohne weiteres in Rovaniemi (Finnland) vollstreckbar sein muß. Hierzu einige einleitende Bemerkungen. a) In Betracht gezogen werden können nur Urteile, die in Europa durch die einschränkende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Anerkennung finden. Dies sind die Urteile, die aufgrund eines kontradiktorischen Verfahrens zustande gekommen sind, sollte dieses auch zu einem Versäumnisurteil geführt haben. b) Weiter geht es um diejenige Gerichtsinstanz des Art. 177 EGVertrag 2 und des Art. 25 der Europäischen Übereinkunft über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (27-9-1968 — EuGVÜ) 3 wie sie durch den Gerichtshof in Luxemburg interpretiert wird. c) Die oben genannte Vollstreckungsmöglichkeit muß nicht nur des1 Der Begriff Europäische Union wird trotz der Tatsache verwendet, daß noch nicht alle Mitgliedstaaten durch die folgenden Ausführungen betroffen werden. 2 Artikel 177: (Vorabentscheidung) Der Gerichtshof entscheidet im Wege der Vorabentscheidung : a) über die Auslegung dieses Vertrages, b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft und der EZB, c) über die Auslegung der Satzungen der durch den Rat geschaffenen Einrichtungen, soweit diese Satzungen dies Vorsehen. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaates gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet. 3 Artikel 25 : Unter „Entscheidung" im Sinne dieses Ubereinkommens ist jede von einem Gericht eines Vertragsstaats erlassene Entscheidung zu verstehen, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluß oder Vollstreckungsbefehl, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Urkundsbeamten.

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wegen möglich sein weil wir uns in demselben Europäischen M a r k t befinden, sondern auch deswegen, weil seit geraumer Zeit die nationalen Richter der Europäischen Mitgliedstaaten in wahrsten Sinne des Wortes europäische Richter geworden sind. Sie wenden das Europäische Recht an, sie können oder müssen sich für Auslegungs- oder Gültigkeitsfragen an den Gerichtshof in Luxemburg wenden, sie allein sind berufen um auf nicht diskriminierende Weise den Rechtsschutz auf europäischer Ebene zu garantieren, sie müssen Richtlinienkonform auslegen d) Der Europäische Titel erscheint zudem noch als wichtiger Schritt für die weitere Annäherung und Vereinheitlichung des Prozeßrechtes der Mitgliedstaaten. Tatsächlich sind dabei drei verschiedene Stufen bezüglich des Rechtschutzes zu unterscheiden: - der Teil des Gerichtsverfahrens, in dem der Anspruch formuliert und vor dem nationalen Richter verhandelt wird ; - nachfolgend der Schritt, in dem ein vollstreckbarer Titel frei und ohne zusätzliche Garantien im internen M a r k t verwendet werden kann ; - schließlich die Vollstreckung dieses Titels in dem betroffenen Mitgliedsstaat. Im Vergleich dieser drei Etappen erkennt man, daß die zweite Etappe, d.h. der freie Umlauf des vollstreckbaren Titels, die einfachste ist um zu einer vollständigen Vereinheitlichung zu kommen.

II. Argumente für den einheitlichen Europäischen

Titel

l. Schon das Bestehen des Internen M a r k t e s fordert einen einheitlichen vollstreckbaren Titel, der am freien „Verkehr" im Vertragsgebiet der Europäische Union teilnehmen kann. Der freie Verkehr von Diensten u m f a ß t auch, daß „die Produkte der Dienstleistung Gericht" frei im Europäischen M a r k t zirkulieren können. Durch den Vertrag über die Abschaffung der Legalisation von Urkunden in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (Brüssel, 25. Mai 1987) wurden Legalisation und Apostille (Den Haager Vertrag, 5Oktober 1961) für alle öffentlichen Urkunden abgeschafft. Dieser Vert r a g ist leider noch immer nicht in K r a f t getreten. 2. Selbst in einem föderalen Staat, in dem das Prozeßrecht von Gliedstaat zu Gliedstaat (z.B. Kantone in der Schweiz, States in den USA) verschieden ist, ist es undenkbar, daß die gerichtlichen Urteile in

Ein einheitlicher Europäischer Vollstreckungstitel als Vorbote eines weltweiten Titels

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den anderen Gliedstaaten vor der Vollstreckung einer Umsetzung bedürfen. Demgemäß bestimmt Art. 61 Schweizerische Bundesverfassung, daß „die rechtskräftigen Zivilurteile, die in einem Kanton gefällt werden .... in der ganzen Schweiz vollzogen werden." (Allerdings gibt es noch fünf Kantone in denen für „außerkantonale Entscheide" ein besonderes Anerkennungsverfahren vorgesehen ist: Habscheid, W., Schweizerisches Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1990, Basel, Nr. 948, S. 581). Und in den USA sorgt die „full faith and credit clause" für eine befriedigende zwischen staatliche Regelung. 3. Nach Art. 26 EuGVÜ4 werden gerichtliche Entscheidungen ohne Prozeß anerkannt. Das bedeutet, daß diese in der Europäischen Union die Gültigkeit und Wirksamkeit haben, die sie in dem Land besitzen, in dem sie ausgesprochen worden sind. 4. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, daß der Kläger, der in einem Vertragsstaat eine Entscheidung zu seinen Gunsten bekommen hat, die mit der Vollstreckungsklausel nach Art. 31 EuGVÜ Vertrag 5 versehen werden kann, von einem Richter in einem zweiten Vertragsstaat nicht mehr verlangen kann, daß dieser die Gegenpartei zu dem verurteilt, zu dem diese schon in dem ersten Vertragsstaat verurteilt worden ist (EuGH42/76, 30. November 1976, De Wolf/Cox, Jur., 1976, 1759). Diese Interpretation, der übrigens nicht immer gefolgt wird, hat eine große Tragweite. Ein neues Verfahren vor einem anderen Richter in ei4 Artikel 26 : „Die in einem Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Vertragsstaaten anerkannt, ohne daß es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. Bildet die Frage, ob eine Entscheidung anzuerkennen ist, als solche den Gegenstand eines Streites, so kann jede Partei, welche die Anerkennung geltend macht, in dem Verfahren nach dem 2. und 3. Abschnitt dieses Titels die Feststellung beantragen, daß die Entscheidung anzuerkennen ist. Wird die Anerkennung in einem Rechtsstreit vor dem Gericht eines Vertragsstaats, dessen Entscheidung von der Anerkennung abhängt, verlangt, so kann dieses Gericht über die Anerkennung entscheiden." 5 Artikel 31 hat folgenden Wortlaut: „Die in einem Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Staat vollstreckbar sind, werden in einem anderen Vertragsstaat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag eines Berechtigen für vollstreckbar erklärt worden sind. Im Vereinigten Königreich wird eine derartige Entscheidung jedoch in England und Wales, in Schottland oder in Nordirland vollstreckt, wenn sie auf Antrag eines Berechtigten zur Vollstreckung in dem betreffenden Teil des Vereinigten Königreichs registriert worden ist."

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nem anderen Mitgliedsstaat kann nicht noch einmal begonnen werden. Falls man hiernach die Anerkennung der Entscheidung verweigern würde, würde dies bedeuten, daß man die Vollstreckbarkeit einem Titel erweigert, der gerade wegen dieser Vollstreckbarkeit eingeklagt wurde. Dies ist eine besondere Form von Rechtsschutzverweigerung, eine Art „deni de justice europeen". Auf der einen Seite kann man nicht vollstrecken und auf der anderen bekommt man in dem zu vollstreckenden Land keinen neuen Titel. Aus diesen Gründen erscheint es mir notwendig, daß ein einheitlicher Europäischer Titel per se in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vollstreckbar ist. 5. Die Voraussetzungen die für das Stellen eines Antrages auf Vollstreckbarkeit notwendig sind können übrigens von Land zu Land unterschiedlich sein, da die verfahrensrechtlichen Vorschriften, denen die Antragstellung genügen müssen, durch das nationale Gesetz des Staates bestimmt werden, in dem der Antrag gestellt wird. Das bedeutet, daß über diese nationale Anerkennungsverfahren neue Diskriminierungen, die fundamental den Grundsätzen des Internen Marktes widersprechen, aufrecht erhalten werden können. Beispielsweise ist dies durch den Anwaltszwang gegeben, der gem. Art. 1026 Ger. W.6 in Belgien die Verpflichtung aufstellt, sich durch einen Anwalt vertreten zu lassen, der den Antrag selbst unterschreiben muß (Vgl. Art. 812-813 des französischen Code proc. civ. und das Urteil, das diese Vorschrift als vereinbar mit dem EuGVÜ sieht: Trib. gr. inst. Paris (ord. req.), 17- Januar 1983, Gaz. Pal. 15--16- Juni 1986, 15). In diesem Zusammenhang besteht in Deutschland und in Dänemark kein Anwaltszwang. Zudem soll hier an das Urteil (Mund & Fester / Hartex; EuGH, 10. Februar 1994, Jur. 1994, S. 467-482) erinnert werden, nach welchem eine prozeßrechtliche Bestimmung keine Diskriminierung aufrechterhalten darf (siehe auch: Ameli, F., Le principe de non-discimination ä l'epreuve des saisies conservatoires ou le traitement ögalitaire des decisions judi6 Artikel 1026: „Der Antrag muß zwingend enthalten : 1. Tag, Monat und J a h r ; 2. Name, Vorname, Beruf und Wohnort des Antragstellers und im Falle der gesetzlichen Vertretung, Name, Vorname, Wohnort und die Funktion des gesetzlichen Vertreters; 3. Gegenstand und die wesentlichen Gründe des Anspruches, 4. die Bezeichnung des zuständigen Gerichts ; 5. die Unterschrift des Anwaltes des Antragstellers, es sei denn, das Gesetz trifft eine andere Bestimmung."

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ciaires communautaires, E.P.L.R. 1995, noch im Druck). In diesem Fall ging es um die Vorschrift des § 917 Abs. 2 der Deutschen ZPO7, wonach ein dinglicher Arrest in Deutschland einfacher erlangt werden kann, wenn eine Vollstreckung im Ausland erfolgen muß. Die ratio legis ist klar, eine Vollstreckung im Ausland ist umständlicher als eine im eigenen Land. Unter Hinweis auf das EuGVÜ vertrat der EuGH die Auffassung, daß die Vollstreckung in einem anderen Mitgliedsstaat weder langsamer noch unsicherer ist. Daher ist § 917 ZPO unvereinbar mit den Grundregeln des Europäischen Gemeinschaftsrechtes. Meine Schlußfolgerung ist daher, daß fundamental verschiedene Prozeßregeln, beispielsweise bei Fristen und Formvorschriften, zu einer unakzeptablen Diskriminierung gegenüber dem nationalen Prozeßrecht führen können. Daher muß eine Annäherung des Prozeßrechtes in Europa so schnell als möglich geschehen. 6. Die Anerkennung kann nur aus den in Art. 27 - 28 EuGVÜ8 genann7 § 917 Abs. 2 ZPO: „(1) Der dingliche Arrest findet statt, wenn zu besorgen ist, daß ohne dessen Verhängung die Vollstreckung des Urteils vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde. (2) Als ein zureichender Arrestgrund ist es anzusehen, wenn das Urteil im Ausland vollstreckt werden müßte." 8 Artikel 27: Eine Entscheidung wird nicht anerkannt: 1) wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde ; 2) wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das dieses Verfahren einleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht ordnungsgemäß und nicht so rechtzeitig zugestellt worden ist, daß er sich verteidigen konnte; 3) wenn die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist; 4) wenn das Gericht des Ursprungsstaats bei seiner Entscheidung hinsichtlich einer Vorfrage, die den Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gezetzliche Vertretung einer natürlichen Person, die ehelichen Güterstände oder das Gebiet des Erbrechts einschließlich des Testamentrechts betrifft, sich in Widerspruch zu einer Vorschrift des internationalen Privatrechts des Staates, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, gesetzt hat, es sei denn, daß die Entscheidung nicht zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, wenn die Vorschriften des internationalen Privatrechts dieses Staates angewandt worden wären; 5) wenn die Entscheidung mit einer früheren Entscheidung unvereinbar ist, die in einem Nichtvertragsstaat zwischen denselben Parteien in einem Rechtsstreit wegen desselben Anspruchs ergangen ist, sofern diese Entscheidung die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anerkennung in dem Staat erfüllt, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird. Artikel 28 : Eine Entscheidung wird ferner nicht anerkannt, wenn die Vorschriften des 3., 4. und 5. Abschnitts des Titels II verletzt worden sind oder wenn ein Fall des Artikels 59 vorliegt. Das Gericht oder die Behörde des Staates, in dem die

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ten Gründen (Art.34 S.2 EuGVÜ) 9 verweigert werden, jedoch nie aus Gründen, die den Anspruch selbst betreffen {the merits). Betrachtet man aber drei der fünf in Artikel 27 aufgeführten Gründe näher, stellen sich doch einige Fragen. Ich lasse hier die Annahme der Unvereinbarkeit zwischen in zwei verschiedenen Staaten gefällten Entscheidungen (Art. 27, Nr. 3 und 5) außer Betracht, ebenso die Entscheidungen, die von einem nach dem EuGVÜ unzuständigen Richter getroffen wurden (Artikel 28). (a) Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung (Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ) .Gemeint ist hier natürlich der internationale „ordre public" des Staates, in dem die Anerkennung erfolgen soll. Hieran anschließend muß natürlich die Frage gestellt werden, ob es wirklich mit dem einheitlichen großen ökonomischen Markt vereinbar ist daß in handels- und Vermögens- rechtlichen Fällen noch ein von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat verscheidener „ordre public" aufrecht erhalten werden kann. Hierzu paßt ein Beispiel, daß übrigens besonders Anwälte betrifft. In Frankreich wurde die Anerkennung eines Urteils aus Düsseldorf verweigert, welches einen pactum de quota litis bestätigte. Der Französische Richter vertrat die Auffassung, daß eine Vereinbarung, die eine Anwaltsvergütung betraf, nicht anerkannt werden könnte, da dieses Urteil nach Art. 10 eines französischen Gesetzes vom 31.12.1971 unvereinbar mit dem französischen „ordre public" sei. Es ist für mich unverständich, daß in Europa keine einheitliche Regelung für die Berechnung für Anwaltshonorare entstehen können soll. Die Unterschiede zwischen den europäischen RechtsanwaltsordnunAnerkennung geltend gemacht wird, ist bei der Prüfung, ob eine der im vorstehenden Absatz angeführten Zuständigkeiten gegeben ist, an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, auf Grund deren das Gericht des Ursprungsstaats seine Zuständigkeit angenommen hat. Die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsstaats darf, unbeschadet der Bestimmungen des ersten Absatzes, nicht nachgeprüft werden; die Vorschriften über die Zuständigkeit gehören nicht zur öffentlichen Ordnung im Sinne des Artikels 27 Nr.

1. 9 Artikel 34 : Das mit dem Antrag befaßte Gericht erläßt seine Entscheidung unverzüglich, ohne der Schuldner in diesem Abschnitt des Verfahrens Gelegenheit erhält, eine Erklärung abzugeben. Der Antrag kann nur aus einem der in den Artikeln 27 und 28 angeführten Gründe abgelehnt werden. Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.

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gen sind heute so groß, daß von einem wirklichen Mißverhältnis auf dem internen Markt gesprochen werden kann (siehe hierzu: Storme, M., Rapprochement du droit judicaire en Europe, Den Haag, 1994, S. 18). Meiner Meinung nach bleibt dies ein zentrales Problem für den Rechtsschutz in der Europäischen Union. Wäre es hier nicht angebracht von einem einheitlichen „Europäischen ordre public" zu sprechen? Man kann doch nur unter Schwierigkeiten behaupten, daß sich der Begriff des „ordre public" in diesem Zusammenhang nicht seit 1968 weiterentwickelt hat. Die erste Etappe der Annäherung des Prozeßrechtes in Europa geschah doch noch in einer Zeit, in der die Mitgliedstaaten noch sehr nationalistisch auftraten. Seither entstand jedoch die Idee eines internen Marktes mit eigenen supranationalen Gesetzmäßigkeiten, zu welchem auch der freie Verkehr von Urteilen gehört (siehe oben). Der Europäische „ordre public" umfaßt demnach die Regeln, die für den internen Markt als so fundamental erachtet werden, daß man diese nicht antasten kann, ohne den Fortbestand der Europäischen Union zu gefährden. Hierzu gehört auch die Vereinheitlichung, beziehungsweise die Annäherung des Prozeßrechtes in Europa. Nach meiner Interpretation darf daher der internationale „ordre public" des angegangenen Mitgliedsstaat, auf den Art. 27 Nr. 1 verweist, nicht Uber dem Europäischen „ordre public" stehen, der zweifellos, freilich jedoch nicht in einem Vertragstext niedergeschrieben, in der Gemeinschaftsrechtsordnung entstanden ist. Die Lehre befaßt sich oft mit dem ordre public des Prozeßrechts (Gaudemet Tallon, H., Les conventions de Bruxelles et de Lugano, Paris, 1993, Nr. 365 ff, S. 256 ff). Aber dieser kann nicht allein als ein zusätzliches Kriterium für die Überprüfung ausländischer Urteile umschrieben werden, man kann im Gegenteil in dem „ordre public" des Prozeßrechts vor allem die Grundlage finden zur Entfernung eines jeden Hindernisses, das einer unmittelbaren Vollstreckbarkeit eines in der Europäischen Union gefällten Urteils im Wege steht. Zusammenfassung: Der internationale „ordre public" des angegangenen Vertragsstaates, der in Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ genannt ist, hat dann zu weichen, wenn der Europäische „ordre public" fordert, daß ein Urteil, welches in einem Mitgliedsstaat ausgesprochen wurde, in allen anderen Mitgliedstaaten vollstreckt werden können muß. Dem EuGH wird die Aufgabe zustehen durch seine Rechtsprechung den Begriff des Europäischen „ordre public" inhaltlich näher zu bestimmen.

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(b) Nichtanerkennung im Falle der ungenügenden Verteidigungsmöglichkeit bei Versäumnisurteilen (Art. 27, Nr. 2 EuGVÜ). Auch hier muß wiederholt werden, daß es undenkbar ist, daß auf dem internen Markt nicht dieselben Garantien für das Recht auf Verteidigung gelten. Im Falle eines Versäumnisurteils muß der Richter hierauf besonderen Wert legen. Man erweist niemanden einen Dienst indem man bestimmte Versäumnisurteile für vollstreckbar erklärt. Vielmehr ist es nötig, die Prozeßvorschriften für Versäumnisurteile in Europa so zu vereinheitlichen, daß das Recht auf Verteidigung überall gleich stark gewährleistet ist. Die Arbeitsgruppe, die ich leiten durfte, hat hierzu übrigens einen ausführlichen Vorschlag für Richtlinien ausgearbeitet (Storme, M., Rapprochement, S. 199 ff). Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß die Art der Einreichung der prozeßeinleitenden Urkunde zur Vermeidung der in Art. 27, Nr. 2 EuGVÜ genannten Schwierigkeiten beitragen kann (siehe u.a. de Leval, Les Conventions de Bruxelles et de La Haye en matiere civile et commerciale, I, Nr. 74). (c) Unvereinbarkeit mit dem Internationalen Privatrecht des angegangenen Staates (Art. 27, Nr. 4 EuGVÜ). Dieser Weigerungsgrund betrifft allerdings allein den Fall, daß indirekt und ausnahmsweise Urteile über eine Frage des Personenstands, der Rechts- und Handlungsfähigkeit von natürlichen Personen, der ehelichen Güterstände und des Testaments- und Erbrecht ergehen. Ansonsten fallen diese Rechtsstreitigkeiten aus dem Anwendungsbereich des EuGVÜ (Art. 1). Diese Regelung kann mit dem Bedauern angegiffen werden, daß mit der Vereinheitlichung des Internationalen Privatrechts noch nicht begonnen wird. In Erinnerung gerufen werden soll hier der Vertrag von Den Haag vom 11. Mai 1951, der ein einheitliches Benelux-Gesetz in Bezug auf das Internationale Privatrecht beinhaltet. 7. Ist kein Anerkennungsverfahren mehr nötig, kann dies die Prozeßokonomie verbessern. Nicht allein, daß dann selbstverständlich kein Anerkennungsurteil von Seiten des Antragstellers vorgelegt werden muß, die Gegenpartei kann sich auch gegen die einheitliche Anerkennung nicht mehr wehren. Daß der Antragsteller in diesem Fall ebensowenig Rechtsmittel gegen die Ablehnung der Anerkennung einlegen muß, bedarf keiner näheren Begründung. Auch werden auf diese Weise die beachtlichen Verfahrensverzögerun-

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g e n , die durch R e c h t s m i t t e l e n t s t e h e n , sei e s i m R a h m e n d e s ursprünglichen Hauptsacheverfahrens

( s i e h e u.a. A r t . 38

Rahmen des Anerkennungsverfahrens

E u G V Ü ) 1 0 , sei e s i m

( s i e h e u.a. A r t . 40

EuGVÜ)11

vermieden. F a l l s in B e l g i e n ein v o r l ä u f i g v o l l s t r e c k b a r e s U r t e i l g e f ä l l t wird, k a n n d i e s in B e l g i e n a u c h u n m i t t e l b a r v o l l s t r e c k t w e r d e n . M u ß d a s U r t e i l d a g e g e n in e i n e m a n d e r e n S t a a t v o l l s t r e c k t w e r d e n , d a n n k a n n

die

Vollstreckung verweigert werden oder durch ein Rechtsmittel angefocht e n w e r d e n . W e i t e r k a n n B e r u f u n g und R e v i s i o n e i n g e l e g t w e r d e n und der Richter, der m i t der A n e r k e n n u n g der E n t s c h e i d u n g b e f a ß t ist, k a n n s e i n e E n t s c h e i d u n g a u s s e t z e n b i s i m U r s p r u n g s l a n d alle

ordentlichen

R e c h t s m i t t e l e r s c h ö p f t sind. E s k a n n d a m i t e i n e d e u t l i c h e D i s k r i m i n i e r u n g e n t s t e h e n , a b h ä n g i g d a v o n , o b m a n i m U r s p r u n g s l a n d o d e r in e i n e m 10 Artikel 38 : Das mit dem Rechtsbehelf befaßte Gericht kann auf Antrag der Partei, die ihn eingelegt hat, das Verfahren aussetzen, wenn gegen die Entscheidung im Ursprungsstaat ein ordentlicher Rechtsbehelf eingelegt oder die Frist für einen solchen Rechtsbehelf noch nicht verstrichen ist; in letzterem Falle kann das Gericht eine Frist bestimmen, innerhalb deren der Rechtsbehelf einzulegen ist. Ist eine gerichtliche Entscheidung in Irland oder im Vereinigten Königreich erlassen worden, so gilt jeder in dem Ursprungsstaat statthafte Rechtsbehelf als ordentlicher Rechtsbehelf im Sinne von Absatz 1. Das Gericht kann auch die Zwangsvollstreckung von der Leistung einer Sicherheit, die es bestimmt, abhängig machen. 11 Artikel 40 : Wird der Antrag abgelehnt, so kann der Antragsteller einen Rechtsbehelf einlegen: - in Belgien bei der ,cour d'appel' oder dem ,hof van beroep'; - In Dänemark bei dem .landsret'; - in der Bundesrepublik Deutschland bei dem Oberlandesgericht; - in Griechenland bei dem , ε φ ε τ ε ί ο ' ; - in Frankreich bei der ,cour d'appel'; - in Irland bei dem ,High Court'; - in Italien bei der ,corto d'apello'; - in Luxemburg bei der ,Cour superieure de Justice' als Berufungsinstanz für Zivilsachen; - in den Niederlanden bei dem .gerechtshof'; - im Vereinigten Königreich : 1) in England und Wales bei dem ,High Court of Justice' oder für Entscheidungen in Unterhaltssachen bei dem .Magistrates' Court'; 2) in Scotland bei dem ,Court of Session' oder für Entscheidungen in Unterhaltssachen bei dem .Sheriff Court' 3) In Nordirland bei dem .Magistrates Court'. Das mit dem Rechtsbehelf befaßte Gericht hat den Schuldner zu hören. Läßt dieser sich auf das Verfahren nicht ein, so ist Artikel 20 Absätz 2 und 3 auch dann anzuwenden, wenn der Schuldner seinen Wohnsitz nicht in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat.

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anderen Land vollstreckt (siehe auch oben). Daneben muß man hier auf Art. 24 EuGVÜ12 achten. Dieser bestimmt, daß vorläufige oder sichernde Maßregeln in jedem Vertragsstaat beantragt werden können, auch wenn die europäische Zuständigkeitsregelung für das Hauptsacheverfahren anders lautet. Dem Wesen nach werden hier die Anerkennungsregeln des EuGVÜ durch die Regel durchbrochen, daß man in dringenden Fällen sofort vor den Richter des Landes gehen kann, in dem die anzuordnende Maßnahme auszuführen ist. Diese Regelung bedeutet für Eilfälle schon eine leichte Umgehung der Anerkennungsregeln. Das EuGVÜ hat also für vorläufige und sichernde Maßnahmen ausdrücklichdie Prozeßökonomie in seinem Texte verankert. Dies erscheint mir eine sehr bemerkenswerte Feststellung zu sein. 8. Nach Art. 4313 ist eine Verurteilung zu einem Zwangsgeld nur dann vollstreckbar, wenn sie durch das Ursprungsland endgültig festgesetzt ist. Also wurde das französische System der „liquidation d'astreinte" in das EuGVÜ übernommen. Dies bedeutet ein wesentliches Hindernis für den freien Verkehr von Urteilen, die Zwangsgelder aussprechen. Kürzlich beschloß das Berufungsgericht in Paris, daß keine Anerkennung einer Verurteilung zu einem Zwangsgeld erfolgen kann, bevor dieses nicht endgültig festgesetzt ist (Paris, 7- Juli 1992, Boss / Boss, D., 1992, inf. rap., 226). Dies ist eine gute Illustration der Feststellung, daß auf diesem Gebiet das EuGVÜ „counter-productive" ist und der Prozeßokonomie in Europa sicher nicht dient. Das macht das Anwenden von Zwangsgeldern in transnationalen Fällen in Europa dann problematisch, wenn gerade für diese Rechtsfigur auf dem internen Markt ein sehr großer Bedarf besteht (Storme, M., Rapprochement du droit judiciaire en Europe, S. 212 ff). 9. Hierbei wurde noch außer Betracht gelassen, daß im Falle der Vollstreckung in allen anderen Mitgliedsländern heutzutage 14 mal ein

12 Artikel 24 : Die in dem Recht eines Vertragsstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich solcher, die auf eine Sicherung gerichtet sind, können bei den Gerichten dieses Staates auch dann beantragt werden, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache das Gericht eines anderen Vertragsstaats auf Grund dieses Übereinkommens zuständig ist. 13 Artikel 43: Ausländische Entscheidungen, die auf Zahlung eines Zwangsgelds lauten, sind in dem Vollstreckungsstaat nur vollstreckbar, wenn die Höhe des Zwangsgelds durch die Gerichte des Ursprungsstaats endgültig festgesetzt ist.

Ein einheitlicher Europäischer Vollstreckungstitel als V o r b o t e eines weltweiten Titels

593

Anerkennungsverfahren durchgeführt werden muß. Nebenbei muß hierzu zudem erwähnt werden, daß es nach dem oben über den Internationale ordre public Gesagten, nicht undenkbar ist, daß in einigen Ländern die Anerkennung sehr wohl und in anderen dagegen nicht erfolgt. Gleichzeitig muß an das alte französische Sprichwort erinnert werden „exequatur sur exequatur ne vaut", nachdem ein anerkanntes Urteil nicht nocheinmal selbst in einem anderen Land Anerkennung finden kann. 10. Schließlich darf nicht aus den Augen verloren werden, daß, ist einmal die Anerkennung erfolgt, der eventuelle Leidensweg der Vollstreckung, ein Leidensweg für beide Parteien, erst noch beginnt. Das EuGVÜ ist nicht auf das Beschlagnahme- und Vollstreckungsrecht anwendbar, welches immer noch, wie durch den EuGH bestätigt (Deutsche Genossenschaft / Soc. brasserie du pecheur, 2. Juli 1985,148/84, Jur., 1985, S. 1981-1993), durch die nationalen Prozeßrechtsregeln beherrscht wird. Nach der Anerkennung wird der Ausländer, der dennoch Europäischer Bürger ist, mit einem ihm unbekannten Räderwerk von Beschlagnahmeund Vollstreckungsrecht des Staates konfrontiert, in dem die Vollstreckung durchgeführt werden muß. Weiß man, daß auch im Beschlagnahme- und Vollstreckungsrecht noch Schutzvorschriften zu finden sind, die dem Schuldner noch zusätliche Rechtsschutzmöglichkeiten geben, bleibt es unverständlich, daß die Anerkennung in der Europäischen Union immer noch den langen Weg zwischen dem Hauptsacheurteil und der Vollstreckung in dem anderen Staat erfordert.

III. Vorgehensweise in der

Praxis

Hier ist die Frage zu stellen, wie das Vorgehen in der Praxis organisiert werden muß, wenn kein Anerkennungsverfahren, selbst nicht in der einfachsten Form, mehr nötig ist. Dabei sind sowohl Schnelligkeit und Rechtssicherheit zu beachten. (a) Für die Abfassung des Urteils und dessen Übersetzung muß ein Standardformular ausgearbeitet werden. Hierzu kann man sich an die Modelle in dem Anhang zum Haager Vertrag vom 15. November 1965 anlehnen. (b) Der Sprachengebrauch in der Praxis bleibt in der Europäischen

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Union mit elf verschiedenen Sprachen ein schwieriges Problem. An dem Grundsatz der Rechtsprechung und Rechtspflege in der eigenen Sprache der Partei darf nicht gerüttelt werden, auch nicht durch das Einführen von Vorrangssprachen wie Französisch oder Englisch im Vertrag von Den Haag vom 15. November 1965Somit wird das Urteil regelmäßig in der Sprache abgefaßt sein, in der es gefällt wurde und in die Sprache des Staates übersetzt werden, in dem es vollstreckt werden muß. Für die praktische Arbeit müßte so langsam an ein Sprachen-Labo gedacht werden, in dem mit Hilfe der heutigen Technologie ein verfeinertes Netzwerk für die Übersetzung in die verschiedenen europäischen Sprachen aufgebaut wird. Das in Luxemburg aufzubauende EU-Übersetzungsbüro könnte hierfür in Betracht kommen. (c) Bei früheren internationalen Verträgen wurde immer dafür gestimmt, eine inländische zuständige Stelle zu benennen, die für bestimmte Aufgaben in Bezug auf die Anerkennung oder die Überwachung, Antragstellung oder Informationsübermittlung zuständig war. Auch hier kann die Frage gestellt werden, ob man sich nicht für eine zentrale europäische Stelle einsetzen muß, die für diese Aufgaben innerhalb der Europäischen Union zuständig ist. Vor allem kann hier an den EuGH in Luxemburg gedacht werden. Falls man Probleme mit diesem europäischen Zentralismus hat, könnte auch in jedem Land ein Richter für die Aufgabe zuständig sein, einen europaweit vollstreckbaren Titel auszufertigen. Wenn die Vollstreckbarkeitserklärung jedoch nicht mehr durch eine nationale richterliche Instanz geschehen muß, stellt sich die Frage, in wessen Namen die Vollstreckung angeordnet werden kann. In einem Europa, in dem unumkehrbar alle nationalen Richter schon zum Teil auch europäische Richter sind und sie es in der Zukunft in der vollen Bedeutung dieses Wortes werden, geht diese Frage sang- und klanglos unter. Aber in der Zwischenzeit sind die Richter immer noch Mitglieder einer richterlichen Macht, deren Gewalt und Vollstreckungsbefugnis die Landesgrenzen eines Mitgliedstaates nicht zu überschreiten vermag. Daher bleibt die Frage offen: Wer setzt die Vollstreckbarkeitsklausel auf das Urteil ? Und wie lautet diese? Perönlich denke ich, daß diese Klausel am besten durch den Urkundsbeamten des EuGH in Luxemburg erteilt wird oder durch ein „Exequaturbüro" bei dem EuGH. Die Klausel sollte etwa so lauten: „Im

Ein einheitlicher Europäischer Vollstreckungstitel als Vorbote eines weltweiten Titels

595

Namen des Europäischen Volkes". (d) Die eben genannte Lösung bleibt jedoch umständlich. Meines Erachtens besteht daher kein ernster Grund gegen die Vorgehensweise, daß eine Vollstreckung in allen europäischen Ländern ohne weiteres vollzogen wird. Solch eine Lösung zeigt echtes europäisches Handeln und Denken. (e) Dies bedeutet keine „brave new world", wenn ich behaupte, daß dies einfach und schnell geschehen kann. Der Urkundsbeamte in Coimbra sendet das Urteil per Fax 14 , wir leben schließlich nicht mehr in der Zeit der Postkutschen, an den Urkundsbeamten des EuGH in Luxemburg. Das Urteil wird mit der Vollstreckungsklausel versehen die in Finnisch Ubersetzte Kopie wird beigelegt und das Ganze wird per F a x an den Gerichtsvollzieher in Rovaniemi gesendet.

IV. Lösung für die

Ubergangszeit

Auch wenn man für die Vereinheitlichung des Europäischen Titels in Bezug auf die Vollstreckbarkeit eintritt kann man nicht übersehen, daß die Verwirklichung dennoch in Etappen geschehen muß. Die Wahrheit gebietet uns in diesem Zusammenhang zu erwähnen, daß bereits vor mehr als 25 Jahren das EuGVÜ der erste und wichtigste S c h r i t t in Richtung freier V e r k e h r der g e r i c h t l i c h e n und außergerichtlichen Urkunden in Europa war. Das Schaffen eines einheitlichen europäischen vollstreckbaren Titels kann folgendermaßen erreicht werden: (a) Man könnte in einer ersten Übergangsperiode die Vereinheitlichung des vollstreckbaren Titels auf einige Länder beschränken, so zum Beispiel auf die Benelux- Staaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg), Frankreich, Deutschland und Italien. Persönlich denke ich, daß frühere Versuche zur Vereinheitlichung und/ oder Annäherung bewiesen haben, daß man schneller vorankommt, indem man Rechtskreise benennt, in denen eine gewisse Gleichheit des Prozeßrechtssystems zu erkennen ist. So erscheint es beispielsweise 14 Siehe Storme, M.L. und Storme, Briers, Gent, 1993, S. 377 ff

M.E., De telefax in het procesrecht, in F B Marcel

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angebracht, Griechenland und Deustschland zusammen zu nehmen, da das griechische Prozeßrecht seinen Ursprung in Deutschland findet. Darum stimme ich für eine Vereinheitlichung des Prozeßrechtes der „zwei oder drei Geschwindigkeiten". (b) Man kann den einheitlichen Europäischen Titel auch auf bestimmte Verfahren beschränken. Meines Erachtens wäre es angebracht, hierfür das Mahnverfahren zu wählen. Es sind zwei Verfahren denkbar. Entweder führt man Uber eine europäische Richtlinie in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union dasselbe Verfahren ein. Dabei kann der Vorschlag der Arbeitsgruppe, die ich leiten durfte, als Leitfaden dienen. Oder man faßt den Beschluß, an alle bestehenden Mahnverfahren zur Bezahlung einer Geldschuld einen Titel anzufügen, der in der Europäischen Union automatisch vollstreckbar ist. (c) Auch könnte man den einheitlichen europäischen Titel auf bestimmte Rechtsgebiete beschränken. So liegt es auf der Hand, daß in Rechtstreitigkeiten über Immobilien oder über Gesellschaften, aufgrund der Zuständigkeitsregel des Art. 16 EuGVÜ15 der angerufene Richter meistens derjenige ist, in dessen Land man auch vollstreckt. Auch hier wird das Anerkennungsverfahren überflüssig. Es gibt übrigens schon Parallelen in anderen Verträgen, die ein vereinfachtes Verfahren vorsehen, beispielsweise der Europäische Vertrag vom 20. Mai 1980, der die Anerkennung und Vollstreckung in Kindschaftssachen betrifft. (d) Zum Schluß kann man eine gemäßigte Form eines Automatismus überlegen, indem für die europäische Vollstreckbarkeit ein allerletztes und spezifisches Rechtsmittel geschaffen wird. So könnte beispielsweise die automatische Vollstreckbarkeit in ganz 15 Art. 16, 1 und 2 : 1. a) für Klagen, welche dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen sowie die Miete oder Pacht von unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben, die Gerichte des Vertragsstaats, in dem die unbewegliche Sache belegen ist; b) für Klagen betreffend die Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen zum vorübergehenden privaten Gebrauch für höchstens sechs aufeinanderfolgende Monate sind jedoch auch die Gerichte des Vertragsstaats zuständig in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, sofern der Eigentümer und der Mieter oder Pächter natürliche Personen sind und ihren Wohnsitz in demselben Vertragsstaat haben; 2. für Klagen, welche die Gültigkeit, die Nichtigkeit oder die Auflösung einer Gesellschaft oder juristischen Person oder der Beschlüsse ihrer Organe zum Gegenstand haben, die Gerichte des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Gesellschaft oder juristische Person ihren sitz hat.

Ein einheitlicher Europäischer Vollstreckungstitel als Vorbote eines weltweiten Titels

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Europa durch ein einheitliches Rechtsmittelverfahren aufgehalten werden. Auf diese Weise muß die Initiative für die Vollstreckbarkeitserklärung nicht mehr von dem Kläger ausgehen. Vielmehr ist es nun an dem Schuldner um eine Nicht-Vollstreckbarkeitserklärung zu verlangen. In diesem Fall könnte man zudem an eine stillschwiegende Anerkennung denken, falls sich der Schuldner binnen beispielsweise 30 Tagen nicht rührt.

V. Schlußfolgerung

:

Der Arbeitsrichterrat von Thionville (Frankreich) hat sich am 13. November 1984 für örtlich unzuständig erklärt und die Rechtssache weiterverwiesen an das Arbeitsgericht in Brüssel. Ungeachtet der Tatsache, daß dies nach dem EuGVÜ nicht möglich ist, hat der belgische Hof van Cassatie contra legem, hier gegen das EuGVÜ, die Verweisung eines Französichen Richters an einen Belgischen Richter nicht aufgehoben (Cass., 15- November 1993). Wenn also ein belgischer Richter dem Verweisungsbeschluß eines Französischen Richters nachkommt, muß es auch möglich sein, daß ein Urteil eines nationalen Richters aus einem europäischen Mitgliedsstaat in allen anderen Mitgliedstaaten vollstreckt wird. Und dies ohne weitere Formalitäten bezüglich der Gültigkeit und Vollstreckbarkeit des Titels. In Zentral- und Osteuropa sowie in Südamerika besteht eine deutliche Tendenz um zuerst das Recht, das Prozeßrecht mitinbegriffen, in voller Größe auszubauen, bevor man an die ökonomische Entwicklung denkt. Es wird höchste Zeit, daß man in der Europäischen Union das weitere ökonomische Wachstum durch eine große Europäische Rechtsordnung unterstützt. Hiervon eingeschlossen ist das so sehr notwendige Prozeßrecht. Falls man es erreichen sollte, in den 15 Ländern der Europäischen Union einen einheitlichen vollstreckbaren Titel zu schaffen würde diese Entwicklung zu einem Modell für die ganze Welt. Die japanischen Prozeßrechtler haben 1992 ein internationales Kolloquium mit dem Thema organisiert, „Civil procedure in the era of globalisation". Dieses Kolloquium wäre nicht möglich gewesen, hätte sich nicht der ausgezeichnete Prozeßrechtler Hideo Nakamura schon seit geraumer Zeit mit Prozeßrechtsvergleichung beschäftigt. Gerne widme

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ich ihm diesen Beitrag.

Das französische und englische Zwangsvollstreckungsrecht Reform und Tradition in Europa

von

Prof. Dr. Rolf Süürner

Freiburg i. Br.

Professor an der Universität Freiburg i. Br., Direktor des Instituts für Deutsches und Ausländisches Zivilprozeßrecht

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Inhaltsverzeichnis I. Einleitung II. Frankreich 1. Geschichtliche Rahmenbedingungen 2. Vollstreckungstitel 3 . Vollstreckungsarten der Geldforderungsvollstreckung a. Forderungspfändung („saisie-attribution") b. Sachpfändung („saisie-vente") c. Sonderformen der Pfändung d. Immobiliarvollstreckung e. Verhältnis der Vollstreckungsarten f. Sachverhaltsaufklärung g. Verbraucherrestschuldbefreiung 4. Naturalvollstreckung a. Herausgabevollstreckung und Räumung b. Vertretbare Handlungen und Beseitigung c. Astreinte d. Willenserklärungen 5 . Sicherungsmaßnahmen („mesures conservatoires") 6 . Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen a. Europäische Urteilsvollstreckung b. Weitere Verträge c. Autonomes Recht 7. Entwicklungsstand III. England 1. Rahmenbedingungen 2. Vollstreckungstitel 3 . Die Vollstreckungsarten der Geldforderungsvollstreckung a. Vollstreckung in bewegliche Sachen („execution on goods") b. Vollstreckung in Forderungen („garnishee proceedings" bzw. „attachment of debts") c. Vollstreckung in Lohn- und Gehaltsforderungen („attachment of earnings") d. Immobiliarvollstreckung („charging order on land") e. Pfändung von anderen Vermögensrechten f. Zwangsverwaltung g. Zwangshaft („imprisonment for debt") h. Sachverhaltsaufklärung i. Schuldnerschutz 4. Naturalvollstreckung a. Herausgabevollstreckung b. Handlungen und Unterlassungen 5 . Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen a. Europäische Entscheidungen b. Deutsch-britisches Vollstreckungsübereinkommen c. Autonomes Recht 6. Entwicklungsstand IV. Schlußbemerkung

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

I.

601

Einleitung

Das Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen bildet als gemeinsames internationales Anerkennungs- und Vollstreckungsrecht der EU-Staaten die Brücke zwischen den verschiedenen Vollstreckungssystemen der Einzelstaaten 1 . Harmonisierungsbestrebungen im Vollstreckungsrecht gibt es bisher kaum, und auch die Vorschläge der sog. Storme-Kommission für ein Europäisches Zivilprozeßgesetzbuch 2 geben sich insoweit sehr zurückhaltend. Ob ein sehr großer Harmonisierungsbedarf insoweit überhaupt besteht, mag offen bleiben3. Es ist jedenfalls wichtig, die Entwicklungen in den verschiedenen EU-Staaten aufmerksam zu verfolgen. Dabei ist ein Vergleich des französischen und englischen Vollstreckungsrechts für die deutsche Wissenschaft besonders reizvoll. Während Frankreich gerade dabei ist, einen neuen Code de l'execution forcfie zu vollenden, verharrt England noch eher in der Tradition. Frankreich hat als prägende kontinentale Kraft des 19. Jahrhunderts das deutsche Vollstreckungsrecht maßgeblich beeinflußt 4 , England verkörpert eine stärker abweichende Rechtstradition. Allerdings bleibt schon eingangs festzuhalten, daß beide Vollstreckungssysteme nicht so weit auseinanderliegen, wie es erstem Anschein entspricht. Gemeinsame historische Wurzeln erweisen sich doch als relativ stark.

II. Frankreich5

1 Hierzu ausführlich Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, Bd. I: Einzelvollstreckungsrecht, 12. Aufl. 1995, § 55. 2 Storme (ed.), Rapprochement du Droit Judiciaire de I'Union europgenne, 1994, Art. 12, S. 209 f. 3 Sehr weitgehend die Motive der Storme-Kommission in Storme, Rapprochement, S. 109 ff.; vorsichtiger Stürner, Das europäische Zivilprozeßrecht — Einheit oder Vielfalt, in: Grunsky u. a., Wege zu einem europäischen Zivilprozeßrecht. Tübinger Symposium zum 80. Geburtstag von Fritz Baur, 1992, S. 1 ff., 15/16. 4 Baur/Stürner a.a.O. Bd. I, Rn. 3.20 ff.\ders., FS Waseda Universität, 1988, S. 287 ff. 5 Literatur: Blanc, Les nouvelles procedures d'exfecution, 2. Aufl. 1994; Vincent /

602

1. Geschichtliche

Rahmenbedingungen

Der Code de procedure civile und der Code civil von 1806 schufen ein für Kontinentaleuropa ebenso prägendes wie neues Vollstreckungssystem: Deregulierung der Einzelvollstreckung, Vollstreckungsklausel als einzig notwendige gerichtliche Voraussetzung, „huissier" als zentrales Vollstreckungsorgan der Vollstreckung mit nur geringfügiger Restmitwirkung des Gerichts; weitgehende Ersetzung der Naturalvollstreckung durch Schadensersatz; Gleichrang mehrerer pfändender Gläubiger; gerichtliche Kontrolle der Vollstreckung nicht durch das Prozeßgericht, sondern in gesonderter Zuständigkeit („Desaisierungsprinzip") · Diese Deregulierung der Einzelvollstreckung war die Gegenbewegung zur gerichtsorientierten, zentralistischen Vollstreckung des gemeinen Prozesses 6 ; mögen bereits vorrevolutionäre Wurzeln dieses Vollstrekkungsmodells existieren — sein endgültiger Durchbruch beruht auf seiner Adhäsion zum Liberalismus der Revolution. Die Rechtslage, wie sie der Code de procedure civile 1806 geschaffen hatte, blieb bis 1992 grundsätzlich bestehen, wenngleich Novellen (insbesondere 1955 und 1972) stetige kleinere Änderungen schufen. Die Prozeßrechtsreform von 1976 ließ den Kernbereich des Vollstreckungsrechts unberührt. Neben wenigen neuen Vorschriften des Nouveau Code de procöure civile (art. 500 ff.) galten weiterhin art. 1142 ff., 2092, 2093 Code civil und art. 553 ff- Ancien Code de procedure civile; in den Gebieten Elsaß-Lothringen war die teilweise Fortgeltung der deutschen Reichszivilprozeßordnung und des deutschen ZVG als „droit local" zu beachten. Die Reform des Einzelvollstreckungsrechts plant — wie erwähnt — einen selbständigen und einheitlichen „Code de l'execution forcee". Bisher ist aber erst das Recht der Mobiliarvollstreckung und der Handlungs- bzw. Unterlassungsvollstreckung durch Gesetze und Dekrete reformiert, der Code de l'organisation judiciaire und der Nouveau Code de procedure civile sind durch diese Gesetze teilnovelliert und angepaßt 7 ; der Ancien Code de procedure civile ist für die Mobiliarvoll-

Prövault, Voies d'exScution, 6. Aufl. 1993; Kommentierungen der Enzyklopädien Dalloz und Juris Classeur. Deutsche Literatur: Recq/ Wilske RIW 1993, 809 und DGVZ 1994, 81 ff. 6 Hierzu Baur/Stürner a.a.O. Bd. I, Rn. 3. 16 ff. 7 Rechtsquellen des gegenwärtigen reformierten Rechts: Gesetz no. 91-650 vom 9-7.

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

603

Streckung außer Kraft, gilt aber noch für die Immobiliarvollstreckung. Die Bedeutung der bisherigen Reform liegt in der Klärung und Festschreibung gerichtlicher Kontrollzuständigkeit („juge de l'execution"), der Verbesserung und Ordnung der Pfändungsformen, der systematischen Kodifikation des Zwangsgeldes („astreinte") und der Einführung staatsanwaltschaftlicher Aufklärungsbefugnisse. 2.

Vollstreckungstitel

Die wichtigsten Vollstreckungstitel sind Urteile mit „force executoire", einspruchslose Mahnbescheide („injonction de payer"), richterliche Vergleichsprotokolle („protocole de conciliation"), notarielle Urkunden (ohne besondere Unterwerfungserklärung) und für vollstreckbar erklärte ausländische Titel. Die Vollstreckungstitel müssen mit einer Klausel („formule executoire") versehen sein. 3. Vollstreckungsarten a. Forderungspfändung

der

Geldforderungsvollstreckung

(„saisie-attribution")

Die französische Forderungspfändung® hat zwar Ähnlichkeit mit der deutschen Pfändung, es sind aber gewichtige Unterschiede zu beachten. Pfändungsorgan ist der Gerichtsvollzieher („huissier"), der die Pfändungsverfügung auf Antrag des Gläubigers dem Drittschuldner zustellt und dem Schuldner die Pfändung anzeigt („dönonciation"). Bei Einwänden („contestations") gegen das Bestehen des Pfandrechts (Fortbestehen der Gläubigerforderung, Mißachtung von Verfahrensvorschriften) entscheidet der „juge de l'execution". Das Verfahren kann auch einen „titre exöcutoire" gegen den Drittschuldner schaffen, vor allem bei Anerkenntnis, vorausgehender Verurteilung oder verweigerter Auskunft. Der Drittschuldner ist wie im deutschen Recht auskunftspflichtig und muß bei Pflichtverletzungen Schadensersatz leisten. Es gibt pfändungsfreie Forderungen (ζ. B. Renten- und Unterhaltsansprüche) und Pfändungsgrenzen bei Kontopfändungen. Bei der Forderungspfändung gilt strenges Prioritätsprinzip, sogar 1991 (JO 14.7.1992, 9228 ff.), Gesetz no. 92-644 ν. 13.7-1992 (JO 14.7.1992, 9456 ff.) und die Dekrete no. 92-755 ν. 31.7.1992 (JO 5.8.1992, 10530 ff.) und no. 93-911 v. 15. 7.1993 (JO v. 18.7.1993, 10138). 8 Früher auch „saisie-arret", „saisie-opposition".

604

gegenüber privilegierten Gläubigern und im Falle späterer Insolvenz; nur Gläubiger, die am gleichen Tag pfänden, haben Gleichrang. Die Entscheidung gegen den Gleichrang bei Forderungspfändung ist ein wichtiger Reformpunkt und ein endgültiger Bruch mit einer Tradition, die mehrere Gläubiger wie im Konkurs grundsätzlich gleich behandelte und nur bei Privilegien Vorrang einräumte. Darin liegt eine Annäherung an das deutsche Recht, das um der Rechtssicherheit und Praktikabilität willen die Priorität dem Gleichrang vorzieht 9 . Gewisse Sonderregeln gelten bei Lohn- und Gehaltspfändungen („saisie des remunerations"). Hier muß der Pfändung ein Ausgleichsversuch vorausgehen („tentative de conciliation"). Bei Mehrfachpfändung gilt nicht Priorität, sondern der herkömmliche Gleichrang. Es gibt einen absolut unpfändbaren Gehaltsanteil, einen für Unterhaltsforderungen pfändbaren Anteil und den unbeschränkt pfändbaren Anteil. „Mesures conservatoires", also vorläufige Sicherungsmaßnahmen, dürfen in Lohn und Gehalt nicht erfolgen. Die Auskunft des Arbeitgebers als Drittschuldner ist — anders als nach h. M. in Deutschland — mit Zwangsgeldern durchsetzbar („amende civile"). b. Sachpfändung

(„saisie

vente")10

Die Sachpfändung ist ebenfalls Sache des Gerichtsvollziehers („huissier"). Er leitet sie durch Zustellung einer letzten Zahlungsaufforderung („signification de commandement de payer") ein, die spätestens acht Tage vor Pfändungsbeginn erfolgen muß. Die Pfändung erfolgt durch Inventarisierung der gepfändeten Sachen und Protokollerrichtung und ist mit der Übergabe von Protokoll- und Inventarausfertigung an den Schuldner bewirkt. Bargeld wird beim Gerichtsvollzieher hinterlegt, normalerweise bleibt der Schuldner Besitzer der Pfandsache, Sequestrierung muß der Vollstreckungsrichter eigens anordnen. Der Schuldner kann die Pfandsachen dreißig Tage lang freihändig verwerten und muß den Kauferlös hinterlegen; bei ausbleibender Eigenverwertung erfolgt die öffentliche Versteigerung durch einen amtlich bestellten Versteigerer. Ähnlich wie in Deutschland gibt es in Frankreich natürlich pfändungsfreie Sachen (Gegenstände des täglichen Gebrauchs, Hilfsmittel für Kranke etc.). Die Konkurrenz mehrerer Gläubiger bei der Sachpfändung wird nicht 9 Dazu Baur/Stümer a.a.O. Bd. I, Rn. 6. 37 ff. 10 Früher auch „saisie-execution".

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

605

nach dem Prioritätsprinzip gelöst, vielmehr gilt das traditionelle Gleichrangprinzip (art. 2093 C.c.): „Les biens du döbiteur sont le gage commun de ses creanciers; et le prix s'en distribue entre eux par contribution, ä moins qu'il n'y ait entre les creanciers des causes legitimes de preference". Jeder Gläubiger, der schon eine Zahlungsaufforderung zugestellt hat, kann sich durch „opposition" der laufenden Vollstreckung anschließen bis zur Versteigerung. Der Teilungsplan des Versteigerers muß Privilegien an Pfandsachen berücksichtigen (insbesondere art. 2092 ff., 2100 ff. C.c.), bei Widerspruch folgt ein Schiedsverfahren und letztendlich entscheidet der Vollstreckungsrichter. Die Vollstreckung durch mehrere Gläubiger innerhalb eines bestimmten Zeitraums ist also ein kleiner Konkurs, wobei das französische Recht ein Insolvenzverfahren für Privatleute im Sinne einer Liquidation nicht kennt, sondern nur das Insolvenzverfahren für Kaufleute und Gewerbetreibende"; lediglich das — unten erwähnte — Verfahren zur Verbraucherrestschuldbefreiung hat insolvenzrechtliche Züge. Über Rechtsbehelfe gegen die Sachpfändung („demande en nullite" des Schuldners, „contestations relatives ä la saisissabilite", „action en distraction" des Dritteigentümers etc.) entscheidet der „juge de l'execution". c. Sonderformen

der

Pfändung

Die Vollstreckung in Kraftfahrzeuge („execution sur les vehicules terrestres ä moteur") kann erfolgen durch Anzeige bei der Zulassungsstelle („saisie par declaration"), die zu Zulassungsschranken führt und eine Kontrolle der Pfändungsfreiheit (keine Neuausgabe einer „carte grise") beim Weiterverkauf ermöglicht. Sie ist aber auch durch Stillegung und Siegelung denkbar („saisie par immobilisation"). Die Vollstreckung in Gesellschaftsanteile und Wertpapiere („saisie des droits incorporels") folgt bei der Pfändung überwiegend den Regeln der „saisie-attribution", bei der Verwertung eher den Regeln der „saisie-vente" (Versuch freihändigen Verkaufs durch den Schuldner, Zwangsverkauf durch Börsenauftrag oder Versteigerung). d.

Immobiliarvollstreckung

Die Immobiliarvollstreckung folgt noch mehr oder weniger unverändert altem Recht (art. 673 ff. a.c.p.c.). Die „saisie immobilere" kann jeder 11 Ausführlich Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, Bd. II: Insolvenzrecht, 12. Aufl. 1990, Rn. 3.20, 39.1.

606

Gläubiger (Gläubiger mit Privilegien, Hypothekengläubiger, gewöhnlicher Gläubiger) betreiben; für den Hypothekengläubiger ist die notarielle Bestellungsurkunde bzw. ihre „copie executoire" ein ausreichender Titel. Das Verfahren beginnt mit der Zustellung einer Zahlungsaufforderung („commandement valant saisie") und des „titre executoire" mit der „formule executoire" durch den Gerichtsvollzieher („huissier"). Falls der Schuldner nicht zahlt, kommt es zur „publication du commandement" im Hypothekenregister; sie hat Beschlagnahmewirkung und verhindert weitere Vermietung. Die Verwertung erfolgt durch Zwangsversteigerung („adjudication forcee"). Der Gläubiger hat ein Lastenverzeichnis („cahier des charges") beim Vollstreckungsrichter des Tribunal de grande instance einzureichen. Es wird dem Schuldner und den anderen Gläubigern eingetragener Rechte zugestellt („sommation de prendre communication du cahier des charges"), die in einem Erörterungstermin ihre Einwendungen („dires et observations") vortragen können. Beim Landgericht besteht Anwaltszwang. In der öffentlichen Versteigerung im Gerichtssaal machen Interessenten ihr Gebot über einen Anwalt. Das Mindestgebot setzt der betreibende Gläubiger im Lastenverzeichnis fest. Der Zuschlag („jugement d'adjudication") bewirkt den Eigentumsübergang auf den Meistbietenden und wird im Hypothekenregister publiziert, die Belastung zugunsten des betreibenden und nachrangiger Gläubiger erlischt. Allerdings kann in Frankreich — eine Form des Verschleuderungsschutzes — noch 10 Tage nach der Versteigerung ein Überangebot von mehr als 10 % abgegeben werden („surenchöre", art. 708 a.c.p.c.). Bei fehlendem Gebot erwirbt der Gläubiger das Grundstück zum Mindestgebot (art. 705, 706 a.c.p.c.). Im Verteilungsverfahren (art. 2218 C.c., 656 ff., 749 ff. a.c.p.c.) werden Hypotheken- und Privilegiengläubiger vorzugsweise befriedigt („opposition sur le prix"), gewöhnliche Gläubiger werden anteilsmäßig befriedigt („contribution"), also nicht nach Priorität. Auch hier also — anders als in Deutschland — eine Art Kleinkonkurs über das Grundstück. Für manche Verfahren gelten Besonderheiten. Der Darlehensvertrag kann freihändigen Verkauf durch den Darlehensgeber vorsehen („clause de la voie paree"). Für den Credit foncier (Hypothekenbank) und gleichgestellte Institute existiert ein vereinfachtes und beschleunigtes Verwertungsverfahren. In Elsaß-Lothringen gilt als „droit local" ein amtsgerichtliches Verfahren mit notarieller Versteigerung.

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

e. Verhältnis

der

607

Vollstreckungsarten

Grundsätzlich hat der Gläubiger freie Wahl. Teilweise gilt aber ein sehr eingeschränkter „gradus executionis". Bei Forderungen geringer Höhe ist in bestimmten Fällen (Pfändung in der Wohnung) die Sachpfändung („saisie-vente") subsidiär gegenüber der Forderungspfändung („saisieattribution"). Die „saisie immobiliöre" kann nicht fortbetrieben werden, falls der Jahresertrag eines Grundstücks zur Gläubigerbefriedigung ausreicht (art. 2212 C.c.). /.

Sachverhaltsaufklärung

Der Vollstreckungsschuldner ist verpflichtet, die Adresse seines Arbeitgebers und die Identität seiner Bankkonten offenzulegen, um eine Forderungspfändung zu ermöglichen. Nach fruchtlosen Pfändungsversuchen kann auf Antrag die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden, um Schuldneradresse, Arbeitgeberadresse oder Bankkonten festzustellen; Behörden sind dabei auskunfts- und amtshilfepflichtig. g.

Verbraucherrestschuldbefreiung12

Weil das französische Recht keine Insolvenz von Privatleuten kennt, ist eigentlich die endlose, lebenslängliche Einzelvollstreckung denkbar ohne Entschuldung, wie sie das Insolvenzverfahren für Kaufleute und Gewerbetreibende vorsieht. Die ursprüngliche Abhilfe bei Vermögensverfall des Privatmannes („deconfiture") bestand im richterlichen Zahlungsaufschub (art. 1244 C.c.: „dölai de gräce"). Das Gesetz vom 31.12.1989 — no. 89-1010 — relative ä la prevention et au reglement des difficultes Hees au surendettement des particuliers et des families sieht nunmehr die Möglichkeit eines vergleichsähnlichen Entschuldungsplans vor, den eine Verwaltungskommission erarbeitet unter Aufsicht des Amtsrichters („juge d'instance"). Der Entschuldungsplan kann Stundungen, Erlasse, Zinsherabsetzung, Aufgabe von Sicherheiten etc. vorsehen, muß aber von allen Beteiligten gebilligt werden. Scheitert der Kommissionsplan, so ist ein gerichtliches Sanierungsverfahren möglich, das den Richter insbesondere zu Stundungen berechtigt — die Parallele zum Sanierungsverfahren nach dem Insolvenzgesetz ist unverkennbar 13 .

12 H i e r z u Klopp K T S 1992, 347 ff., 353 ff. 13 Baur/Stürner a.a.O. Bd. II, Rn. 39.8, 39.9.

608



Νaturalvollstreckung

α. Herausgabevollstreckung

und

Räumung

Die Herausgabevollstreckung („saisie-apprehension" und „saisie-revendication") vollzieht sich wie in Deutschland durch Wegnahme seitens des Gerichtsvollziehers. Eine Herausgabeanweisung an den Schuldner acht Tage vor Vollstreckung („commandement de delivrer") muß vorausgehen. Herausgabetitel kann — anders als in Deutschland — neben dem Urteil eine dem Mahn- bzw. Vollstreckungsbescheid entsprechende „injonction de livraison ou de restitution" sein. Bei der Räumungsvollstreckung („mesure d'expulsion") in Wohnraum hat der Schuldner nach Zustellung des „commandement" eine zweimonatige Frist zur freiwilligen Räumung. Darüber hinaus bestehen Mitteilungspflichten gegenüber örtlichen Behörden zur Vermeidung von Obdachlosigkeit. b. Vertretbare

Handlungen

und

Beseitigung

Für vertretbare Handlungen und Beseitigung erlauben schon art. 1143, 1144 C.c. die gerichtliche Anordnung der Ersatzvornahme auf Kosten des Schuldners. Allerdings fehlte ursprünglich eine Regelung für den Fall, daß der Schuldner die Ersatzvornahme nicht duldet. c.

Astreinte14

Ursprünglich waren nichtvertretbare Handlungen und Unterlassungen nicht vollstreckbar, art. 1142, 1145 C.c. verweisen den Gläubiger auf Schadensersatz. Richterrechtlich entwickelte sich aber die „astreinte" als Form des Zwangsgeldes; sie ist 1972 erstmals kodifiziert und war nunmehr Gegenstand der Reformgesetzgebung. Obwohl sie als umfassendes richterliches Zwangsmittel für alle Vollstreckungsarten konzipiert ist, liegt doch ihr originärer Anwendungsbereich bei nicht vertretbaren Handlungen und Unterlassungen. Die „astreinte" ist eine bedingte Verurteilung zur Zahlung einer bestimmten oder bestimmbaren Summe Geldes für jeden Tag der Nichterfüllung des richterlichen Vollstreckungsbefehls durch den Schuldner. 14 Hierzu Remien, Rechtsverwirklichung durch Zwangsgeld, 1992; Stutz, Die internationale Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung unter dem EuGVÜ, 1992.

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

609

Ihre Parallele findet sie im englischen Rechtsinstitut des „contempt of court" mit dem gewichtigen Unterschied, daß die „astreinte" dem Gläubiger und nicht der Staatskasse anfällt. Sie steht jedem Richter zur Durchsetzung seiner eigenen und dem Vollstreckungsrichter zur Erzwingung fremder Entscheidungen zur Verfügung. Die „astreinte provisoire", die ζ. B. für den Fall der Nichterfüllung einer titulierten Verpflichtung eine tägliche Verurteilung zur Zahlung von 50,F F vorsieht, kann nachträglich verändert oder sogar, wenn etwa im Einzelfall die Erfüllung für den Schuldner eine unzumutbare Härte bedeutet hätte, aufgehoben werden. Im Gegensatz dazu wird der Schuldner bei der „astreinte definitive" letztlich zu genau dem Betrag verurteilt, der sich aus dem festgesetzten „Tagessatz" und der Anzahl der Tage ergibt, in denen der Schuldner die Leistung verweigerte. Die Festsetzung der „astreinte definitive" setzt nunmehr — anders als früher — die erfolglose Verhängung der „astreinte provisoire" voraus. d. Willenserklärungen Die Verpflichtung zur Abgabe eines „acte juridique" zählt zu den „obligations de faire"; die Willenserklärung wird durch Urteil ersetzt — wie in §894 ZPO. Eine gesetzliche Regelung hat auch die Vollstrekkungsreform allerdings nicht geschaffen. 5. Sicherungsmaßnabmen

(„mesures

conservatoires")

Das französische Vollstreckungsrecht erlaubt dem Gläubiger eine Sicherungsvollstreckung in folgenden Fällen: Sicherung nach vollstreckbarer gerichtlicher Entscheidung anstatt befriedigender Vollstreckung, Sicherung der Vollstreckung von Entscheidungen ohne „force executoire" und Sicherung von Forderungen aus ungedeckten Schecks und protestierten Wechseln. Falls sonst ein Sicherungsbedürfnis besteht, muß der Vollstreckungsrichter die „mesures conservatoires" anordnen. Der Gläubiger hat binnen einer bestimmten Frist einen vollstreckbaren Titel in jedem Falle vorzuweisen, will er die Aufhebung der Sicherungsmaßnahme vermeiden. Die „saisie conservatoire" sichert Geldforderungen durch Zugriff auf Forderungen und bewegliche Sachen. Sobald dem Gläubiger ein Vollstreckungstitel zusteht, wird dem Schuldner ein „Umwandlungstitel" zugestellt („acte de conversion"), die „saisie conservatoire" hat dann die Wirkung einer „saisie-attribution" bzw. „saisie-vente". An Immobilien

610

oder Sachgesamtheiten entsteht eine „sürete judiciaire". 6. Anerkennung a. Europäische

und Vollstreckung

ausländischer

Entscheidungen

Urteilsvollstreckung

In der EU und im Bereich des LugV gelten für Frankreich Art. 31 ffEuGVÜ bzw. LugV, soweit es sich um Titel i. S. d. Art. 1 EuGVÜ handelt. Frankreich hat kein besonderes Ausführungsgesetz erlassen. Zuständig für die „ordre d'execution" ist der „juge unique" beim Tribunal de grande instance (Art. L 311-11 Code de l'organisation judiciaire n. F. 1991). b. Weitere

Verträge

Frankreich ist Konventionsstaat des europäischen Sorgerechtsübereinkommens, des Haager Unterhaltsübereinkommens 1973 und des UN -Vollstreckungsübereinkommens für Schiedssprüche ebenso wie des Europäischen Übereinkommens über internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit. Obwohl es mit einigen Staaten zweiseitige Vollstrekkungsabkommen geschlossen hat, existiert kein solches Abkommen mit Deutschland. c. Autonomes

Recht

Das autonome französische Recht ist grundsätzlich anerkennungsfreundlich. Grundlegend für die neuere Rechtsprechung ist die Munzer-Entscheidung der Cour de Cassation15, die folgende Anerkennungsvoraussetzungen richterrechtlich fixiert: internationale Zuständigkeit des fremden Gerichts (Spiegelbildlichkeit), Wahrung rechtlichen Gehörs, Anwendung des nach französischem IPR zutreffenden Rechts, Vereinbarkeit mit dem französischen „ordre public", Fehlen einer betrügerischen Absicht. 7.

Entwicklungsstand

Wenn man angesichts der früheren Vorbildfunktion des französischen Rechts für Deutschland versucht, das moderne französische Recht einzuordnen, so ergeben sich nur kleinere Korrekturen des ursprünglichen 15 Cour de Cassation (Ch. civ. Ire sect.), 7 janvier 1964, Revue crit. dr. internat. privfe 1964, 344 ff. mit Anm. Batiffol.

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

611

Bauplans. Die Gläubigerdisposition ist geblieben, es gibt bloß geringfügige Zugeständnisse im Sinne einer Reihenfolge der Vollstreckungsarten; dem entspricht die Beibehaltung des Parteibetriebes. Die Geltung des Beibringungsgrundsatzes ist durch verstärkte inquisitorische Elemente etwas stärker durchbrochen, dem rechtlichen Gehör sind auf Kosten der Einseitigkeit verstärkte Zugeständnisse gemacht. Interessant und für die deutsche Reformdiskussion besonders lehrreich ist die Verdrängung des Gleichranges zugunsten der Priorität bei Forderungspfändung. Internationalem Trend entspricht die stärkere Hinwendung zur Naturalvollstreckung. Das französische Recht ist bei dezentraler Vollstreckungsorganisation geblieben, lediglich die Tendenz zum Einheitsrechtsbehelf und zu umfassender Kontrollzuständigkeit des Vollstreckungsgerichts ist noch deutlicher als ursprünglich, wobei allerdings die „astreinte" auch vom Prozeßgericht verhängt werden kann. Die Selbstverwertungsmöglichkeit des Schuldners verstärkt — anders als in Deutschland — Deregulierungstendenzen. Insgesamt hat das französische Einzelvollstrekkungsrecht also seiner — durchaus bewährten — Tradition möglichst weitgehender gerichtlicher und staatlicher Zurückhaltung die Treue gehalten.

III.

1.

England16

Rahmenbedingungen

Die Zwangsvollstreckung ist in ihren Grundlinien geregelt für das High Court-Verfahren in den Rules of the Supreme Court 1965 (Order 45—52) und für das County Court-Verfahren im County Court Act 1984 und den County Court Rules 1981, daneben in einer Vielzahl anderer Vorschriften. Die Gliederung der Vollstreckungsorgane und Vollstrekkungsarten ist stark traditionsgebunden, es gibt keine klare und einfache Organisation und auch keine „general enforcement machinery", vielmehr initiiert der Gläubiger jede Vollstreckungsart getrennt und nach ihren 16 Literatur: Cason, Odgers on High Court Pleading and Practice, 27th ed. 1991, p. 416-430; O'Hare/N. Hill, Civil Litigation, 6th ed. 1993, p. 587-609; Jacob,The Fabric of Civil Justice, 1987, p. 185-210; Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung in England, 1995.

612

eigenen Regeln. Es gelten Gläubigerherrschaft und Dezentralisation. Grundsätzlich vollstreckt jedes Gericht seine eigenen Urteile und Verfügungen ; dies gilt für den High Court (Central Office in London und District Registries außerhalb Londons), die County Courts und die Magistrates' Courts. Allerdings gibt es Möglichkeiten, die Vollstreckung von High Court-Urteilen bei den County Courts zu betreiben und umgekehrt die Vollstreckung von County Courts-Urteilen beim High Court etc. Ein mehrfacher Schuldner sieht sich also verschiedenen Vollstrekkungsgerichten gegenüber. Unter den Gläubigern gilt das Prioritätsprinzip („first come, first served"). Die Vollstreckungsorganisation bei den einzelnen Gerichtsarten ist verschieden. Beim High Court vollstreckt der „sheriff" gegen streitwertabhängige Gebühren als eine Art privater Unternehmer, sein Einsatz gilt als durchaus effektiv. Bei den County Courts und den Magistrates' Courts fungiert der „bailiff" als gerichtlicher Beamter, die Vollstreckung ist eine Art „public service". 2.

Vollstreckungstitel

Vollstreckungstitel sind vor allem gerichtliche Entscheidungen, nämlich Urteile („judgment") oder Beschlüsse („order"); dabei ist wichtig, daß Vergleiche („settlement or compromise") durch gerichtliche „consent order" zum Vollstreckungstitel werden. Gerichtliche Entscheidungen sind vollstreckbar, auch soweit noch Rechtsmittel möglich sind ; jedoch kann nicht gerechtfertigte Vollstreckung zu Schadensersatzansprüchen führen. Das englische Recht kennt nicht die vollstreckbare Urkunde. 3. Die Vollstreckungsarten a. Vollstreckung

der

Geldforderungsvollstreckung

in bewegliche Sachen („execution

on goods")

Der Gläubiger beantragt den „writ of fieri facias" (High Court) oder den „warrant of execution" (County Court), der den „sheriff" bzw. "bailiff" am Ort des Vollstreckungsgutes zur Vollstreckung anweist. Er beschlagnahmt Sachen insoweit, als es zur Deckung des Titels und der Vollstreckungskosten notwendig ist. Die beschlagnahmten Sachen werden in öffentlicher Versteigerung („public auction") verkauft, der Gläubiger wird befriedigt und ein Ubererlös gebührt dem Schuldner. „Sheriff" bzw. „bailiff" können den Schuldner im Besitz des Vollstrekkungsguts belassen, falls der Schuldner verspricht, keine Verfügungen oder

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

613

Ortsveränderungen vorzunehmen („agreement for walking possession"). Die Liste unpfändbarer Gegenstände ähnelt sehr dem deutschen Recht. Wichtig ist, daß Gegenstände Dritter nicht gepfändet werden dürfen; falls ein Dritter Rechte am Vollstreckungsgut geltend macht und der Gläubiger widerspricht, leitet der „sheriff" bzw. „bailiff" ein summarisches gerichtliches Prüfungsverfahren ein („interpleader proceedings", order 17 RSC). Eine besondere „order granting leave to issue" ist notwendig bei Ablauf der Sechsjahresfrist nach Urteilserlaß, bei Rechtsnachfolge bzw. Parteiwechsel und — praktisch wichtig — bei parallel laufender Gehaltspfändung („attachment of earnings"); hier verlangt der Schutz des Schuldners die gerichtliche Prüfung, ob der Vollstreckung Hindernisse entgegenstehen. b. Vollstreckung in Forderungen „attachment of debts")

(„garnishee proceedings"

bzw.

Pfändbar sind fällige und künftig fällig werdende Geldforderungen („debt due and debt accruing due"). Der Gläubiger („judgment creditor") beantragt beim Gericht einen Beschluß („garnishee order to show cause"), der die Forderung des Schuldners („judgment debtor") dem Gläubiger zuweist und den Drittschuldner („garnishee") anweist, an den Gläubiger zu bezahlen. Der Beschluß ist zuerst dem Drittschuldner persönlich zuzustellen, dann dem Schuldner „by ordinary service"; der Drittschuldner ist mit Zustellung gebunden. Der Drittschuldner wird in dem Beschluß zu einem „hearing" geladen, um sich über seine Zahlungsbereitschaft zu äußern. Falls er nicht erscheint oder bestreitet, ergeht eine „garnishee order absolute", die als Titel eine Vollstreckung gegen den Drittschuldner gestattet; bei Bestreiten kann das Gericht im summarischen Verfahren entscheiden oder die volle streitige Verhandlung anordnen („direction to be tried"). Anders als in Deutschland und ähnlich wie in Frankreich kann also im Vollstreckungsverfahren ein Titel gegen den Drittschuldner entstehen, er muß nicht stets gesondert verklagt werden, falls er nicht leistet. „Garnishee proceedings" gegen Banken als Drittschuldner müssen zusätzliche besondere Regeln beachten. c. Vollstreckung earnings")

in Lohn- und Gehaltsforderungen

("attachment

of

Die Lohn- und Gehaltspfändungen — geregelt im Attachment of Earnings

614

Act 1971 und den County Court-Rules — ist zwar ein Unterfall der Forderungspfändung, folgt aber doch einigen wichtigen und rechtsvergleichend interessanten Sonderregeln. Zuständig ist für alle Titel der County Court des Schuldnerwohnsitzes, nur bei Unterhaltstiteln kann der High Court Lohnpfändungen erlassen. Die „application for an attachment of earnings order" wird durch das Gericht dem Schuldner zugestellt mit der Aufforderung, sich über seine Einkünfte zu erklären. Soweit er sich erklärt („statement of means"), wird die „attachment of earnings order" erlassen und den Parteien und dem Arbeitgeber zugestellt. Falls der Schuldner die Auskunft verweigert, wird er unter Strafandrohung vorgeladen („penal notice") und gegebenenfalls zur Auskunft gezwungen („arrest and imprisonment"). Die „attachment of earnings order" des Gerichts berücksichtigt die „protected earnings rate" — sie entspricht den Sozialhilfebeträgen („income support") — und legt die „normal reduction rate" fest. Der Arbeitgeber kann eine kleine Bearbeitungsgebühr beanspruchen. Schuldner und Arbeitgeber müssen dem Gericht Änderungen im Arbeitsverhältnis anzeigen, der Schuldner kann zu Angaben gezwungen werden; das Gericht kann dann seinen Beschluß auf den neuen Arbeitgeber umändern. Solange die „attachment of earnings order" läuft, können keine Zinsen für die vollstreckbare Summe liquidiert werden, andere Vollstreckungsformen sind ohne gerichtliche Erlaubnis nicht möglich. Die Lohnpfändung ist zwar als Hauptvollstreckungsform gedacht, in der Praxis kommt sie aber wegen der geschilderten Nachteile oft erst als letzter Ausweg zur Anwendung. d. Immobiliarvollstreckung

(„charging

order on land")

Der Gläubiger beantragt — ähnlich wie bei „garnishee proceedings" — beim Gericht eine „order to show cause", die dem Schuldner zugestellt wird und sich bei Schweigen des Schuldners bzw. nach einem „hearing" in eine „order absolute" verwandelt. Der Gläubiger erlangt auf diese Weise eine Sicherheit für seine Forderung, die dem Grundpfandrecht („mortgage") ähnelt. Bleibt die Schuld unbezahlt, so muß der Gläubiger eine „order for sale" eigens beantragen. Bei ihrem Erlaß berücksichtigt das Gericht insbesondere die Interessen von Miteigentümern („joint proprietor") oder Bewohnern, wobei jedoch letztlich die Interessen des Gläubigers meist überwiegen. Jedenfalls gibt es keine „Automatik" zum Verkauf. Zuständig für „charging orders on land" sind High Court und County

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

615

Courts, wobei der High Court grundsätzlich nur für seine Urteile die „charging order" erlassen kann. Die Kompetenz der County Courts für eine „order for sale" ist auf Streitwerte unter £30-000 beschränkt — eine wiederum etwas komplizierte Regelung. e. Pfändung

von anderen

Vermögensrechten

Eine „charging order on securities" ergeht insbesondere bei „stocks" oder „partnership property". Das Verfahren ähnelt der „charging order on land", insbesondere ist also eine besondere „order for sale" nötig. In verbriefte Wertpapiere (ζ. B. Wechsel) wird wie in bewegliche Sachen vollstreckt („writ of fieri facias" oder „warrant of execution"). f.

Zwangsverwaltung

Als Vollstreckungsform der „equity" hat sich in England die Zwangsverwaltung („receivership") entwickelt, die immer greift, wenn die anderen Vollstreckungsformen versagen, also ζ. B. bei Einkommen aus „trust" oder „partnership" etc. g. Zwangshaft

(„imprisonment

for

debt")

Die Zwangshaft zur Erzwingung von Geldzahlungen war in England länger als im übrigen Europa möglich. Noch heute ist sie denkbar bei Unterhaltsforderungen („maintenance order") und — hier nicht weiter interessant — Steuern und Abgaben. Im Jahre 1984 waren über 1050 Unterhaltsschuldner in Haft. Die Frage der Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention liegt auf der Hand. h.

Sachverhaltsaufklärung

Der Gläubiger kann den Schuldner schon vor Beginn der Vollstreckung durch Gerichtsbeschluß zur Vernehmung über sein Vermögen laden lassen. Der Schuldner muß dabei alle erheblichen Bücher und Unterlagen vorlegen und — beim High Court — eine eidesstattliche Versicherung („affidavit") abgeben. Im Weigerungsfalle ergeht eine „order for commital", die im Regelfall die Auskunft erzwingt, so daß Verhaftungen selten sind. Die Vernehmung erfolgt in Form eines Kreuzverhörs, falls die vorausgehende schriftliche Auskunft unbefriedigend war. Auf die besonderen Aufklärungsmöglichkeiten im Rahmen des Lohnpfändungsverfahrens ist bereits hingewiesen. Eine schwere Waffe zur Erzwingung der Aufklärung ist die „Anton

616

Piller Order"17 : sie ordnet Durchsuchung und Auskunft unter Zwangsandrohung an und dient meist der Beweissicherung vor dem Prozeß, kann aber auch nachprozessual zur Ermittlung von Vollstreckungsgegenständen eingesetzt werden. Eine sog. „Mareva-Injunction" 18 kann dem Schuldner und Dritten verbieten, Uber Vermögensgegenstände zu verfügen bzw. sie wegzuschaffen, um auf diese Weise die Vollstreckungsmöglichkeit zu sichern. Insgesamt stehen dem Gläubiger schärfere Waffen zur Verfügung als in Deutschland oder Frankreich. i.

Schuldnerschutz

Der Schuldner kann „stay of execution" beantragen, insbesondere falls er Sicherheit leistet und ihn eine Vollstreckung stark schädigen müßte. Bei Verfahrensverstößen („irregular execution") kann er die Aufhebung der Maßnahme betreiben („writ of execution to set aside"). Möglich ist die Anordnung von Ratenzahlungen („instalment order") oder die Koordination mehrerer Gehaltspfändungen („consolidated order"). Schließlich gibt es für private Überschuldungsfälle unter £5000,- eine Art Kleininsolvenz beim County Court („administration order"). Im übrigen greift aber bei Zahlungsunfähigkeit das Recht der Insolvenz19. 4.

Naturalvollstreckung

a.

Herausgabevollstreckung

Die Herausgabe von Immobilien („recovery of land") beantragt der Gläubiger im „writ of possession" bzw. „warrant of possession", die Herausgabe von Mobilien („recovery of goods") durch „writ of delivery" bzw. „warrant of delivery". Die Wegnahme erfolgt durch den „sheriff" bzw. „bailiff" notfalls mit Gewalt. b. Handlungen

und

Unterlassungen

Handlungen und Unterlassungen können der Inhalt von „mandatory and prohibitory injunctions" oder einer „order for specific performance" sein, wobei das englische Recht ursprünglich eher Schadensersatz als Naturalvollstreckung gewährte und auch heute insoweit auf vielen Gebieten 17 Dazu Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 1991, Rn. 428; Anton Piller KG v. Manufacturing Processes Ltd. [1976] 1 All ER 779 (C.A.). 18 Schack a.a.O., Rn. 4.27; House of Lords T h e Siskina [1977] , 3 All ER 803, 821; Baur/Stürner a.a.O. Bd. I, Rn. 55.7. 19 Baur/Stürner a.a.O. Bd. II, Rn. 39.18 ff.

Das französische und englische Zwangsvollstreckungs

617

größere Zurückhaltung wahrt als das deutsche Recht. Das englische Recht betrachtet den Ungehorsam gegenüber gerichtlichen Anordnungen allgemein und im Vollstreckungsrecht als „contempt of court", der durch Haft („imprisonment"), Geldstrafe („contempt fine") oder Beschlagnahme von Vermögen („sequestration of property") geahndet wird. Eine „contempt order" ergeht nach einem „hearing"; die „penalty for a civil contempt of court" wird aufgehoben, falls der Schuldner die gerichtliche Anordnung befolgt. Anders als die französische „astreinte" fließt die „contempt fine" wie das deutsche Zwangs- bzw. Ordnungsgeld der Staatskasse zu. Neben der Contempt-Sanktion stehen für bestimmte Handlungen alternative Vollstreckungsarten zur Verfügung. Bei vertretbaren Handlungen kann das Gericht Ersatzvornahme anordnen und ein Geldzahlungsurteil über die Kosten erlassen. Willenserklärungen oder ähnliche Akte (ζ. B. „execution of conveyance" nach Grundstückskauf) können durch einen Gerichtsbeauftragten oder den Richter selbst mit Wirkung für den Schuldner abgegeben bzw. vorgenommen werden, wobei diese Vollstreckungsform wegen des fehlenden Abstraktionsprinzips anders als in Deutschland nicht so häufig vorkommt. 5.' Anerkennung a. Europäische

und Vollstreckung

ausländischer

Entscheidungen

Entscheidungen

Die Vollstreckung ausländischer Entscheidungen aus der EU nach dem EuGVÜ ist im Civil Jurisdiction and Judgments Act 1982 und in den Supreme Court Rules Order 71 geregelt; diese Vorschriften transformieren das EuGVÜ ins englische Recht. Der Civil Jurisdiction and Judgments Act 1991 trifft für die Vertragsstaaten des Abkommens von Lugano eine ähnliche Regelung. Auf Antrag des Gläubigers erläßt der „district judge" im einseitigen Verfahren (Art. 34 EuGVÜ: „ex parte application") einen Beschluß, der die Registrierung des ausländischen Titels erlaubt („order giving leave to register"; Art. 31 Abs. 2 EuGVÜ). Der Schuldner hat bis zu einer bestimmten Frist nach Zustellung des Registrierungsbeschlusses Gelegenheit, beim High Court Judge „appeal" einzulegen. Während der Rechtsmittelfrist ist keine Vollstreckung möglich, möglich ist aber die Sicherung insbesondere durch „Mareva-Injunction". Mit der Registrierung ist der Titel wie ein englisches Urteil vollstreckbar. Wichtig ist, daß

618

auf diese Weise auch Titel registriert werden können, die das englische Recht selbst nicht kennt, ζ. B. vollstreckbare Urkunden. b. Deutsch-britisches

Vollstreckungsübereinkommen

Das deutsch-britische Vollstreckungsübereinkommen von I960 ist teilweise enger als das EuGVÜ (ζ. B. Ausschluß der Titel von County Courts und Amtsgerichten), teilweise reicht es auch weiter (ζ. B. Erbsachen) und hat insoweit noch neben dem EuGVÜ einen Anwendungsbereich. Die Umsetzung des Abkommens erfolgt über den Foreign Judgments Reciprocal Enforcement Act 1933 in einem Registrierungsverfahren. c. Autonomes

Recht

Der Administration of Justice Act 1922 und der Foreign Judgments Reciprocal Enforcement Act 1933 gestatten die Registrierung von Titeln auch aus anderen Staaten. Das „Common Law" selbst kennt die „action upon the judgment", eine Art Klage aus dem fremden Urteil, die aber viele Verteidigungsmöglichkeiten offen läßt. 6.

Entwicklungsstand

Das englische Vollstreckungsrecht ist ein sehr dezentrales und differenziertes Recht, manche Zuständigkeitsüberschneidungen wirken etwas verwirrend. Es genügen aber wenige Begradigungen, um dieses im Kern sehr leistungsfähige System auf modernen Stand zu bringen; verfehlt ist der Ruf nach einer „general enforcement machinery". Ähnlich wie in Deutschland sollte man Auswüchse der Dezentralisierung beschneiden und nicht in zentraler Vollstreckungsleitung sein Heil suchen. Es ist aber interessant, den Pendelschlag der Prozeßgeschichte vom dezentralen, gläubigerbeherrschten Vollstreckungsverfahren zum staatlich geleiteten Einheitsverfahren auch in England zu spüren.

IV.

Schlu&bemerkung

Die nähere Betrachtung des französischen und englischen Vollstreckungsrechts hat die eingangs festgestellte Konvergenz wichtiger europäischer Vollstreckungsrechte bestätigt. England, Frankreich und Deutschland

Das französische und englische Zwangsvolistreckungs

619

— also drei wichtige Staaten der EU — kennen bei allen Unterschieden in Einzelheiten sehr ähnliche Vollstreckungsmöglichkeiten. Für die deutsche Reformdiskussion erscheinen zwei Gesichtspunkte wesentlich: beide anderen Rechtsordnungen schaffen bei der Forderungspfändung rascher einen Titel gegen den Drittschuldner als das deutsche Recht und beide Staaten kennen intensivere Aufklärungsmöglichkeiten.

Legal Cultures and Models of Civil Justice by

Prof. Dr. Michele Taruffo

Pavia

Full Professor of University of Pavia

622

Contents

I. Theories of Civil Justice in Comparative Perspective 1. Civil Justice and Dispute Resolution 2 . Civil Justice and Law Enforcement 3 . Toward a Combined Theory II. The Search of Truth in Civil Litigation 1. Theories of Judicial Truth 2 . The Function of Truth in Civil Litigation 3 . Judicial Truth and Legal Cultures III. Models of Judicial Decision-Making

Legal Cultures and Models of Civil Justice

I. Theories of Civil Justice

in Comparative

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Perspective

Comparative law in the area of civil procedure is a rather young legal science. It developed systematically only in the last decades, involving some scholars in several countries. In most cases comparative civil procedure deals with the analysis of some institutions or machineries of civil litigation, and proceeds by description and comparison of some "pieces" of the legal process in the most important legal systems. It is then a sort of micro-comparison which often produces interesting outcomes, but only at the level of descriptive knowledge. However, the need of getting a deeper understanding of several procedural problems has led some scholars to build up more comprehensive theories of civil justice and of the administration of justice in general. Traditionally this trend was only internal to each national legal system ; at present an interesting field of research is the comparative analysis of general theories concerning civil justice. In this direction a basic step is the well known book by Mirjan Damaska (The Faces of Justice and State Authority. A Comparative Approach to the Legal Process, New Haven London 1986) • At the level of general theories of justice, the comparative analysis cannot confine itself to the description of single pieces of several systems. On the contrary, it cannot refrain from dealing with very general issues, such as : history of the several legal and procedural systems ; ideas and ideologies of justice ; theories and ideologies concerning the role of the judge, of lawyers and of the parties inside the legal process ; theories and models of state power and social organization ; ethical values and trends in different societies, and so on. From this point of view, the comparative analysis of the systems of civil justice enters into a strict relationship with the several legal cultures, and becomes in itself an important part of the legal culture in each system, and of the general culture of lawyers. On the other side, it must be stressed that legal cultures affect the comparative analysis of the systems of civil justice, at least in two relevant ways. First : the legal culture of a given system plays an important role in shaping the legal process in that system, and also in influencing how the legal process is perceived inside that system. Second : when a lawyer considers several systems in a comparative perspective he should take into account that each system is the outcome

624

of a given culture, but also that he himself is influenced by his own original legal culture. Then the comparative analysis of the models of civil justice is intertwined with several cross-cultural and intracultural issues, dealing both with the definition of the objects of comparison and with the cultural attitudes of people making the comparison. Notwithstanding the difficulties arising from all this, some general theories of civil justice are emerging in the recent literature, and they usually pay due attention to such cultural issues. The following pages are devoted to sketching out some more relevant features of these theories. 1. Civil Justice

and

Dispute

Resolution

According to a widespread theory, the main goal of civil litigation is dispute resolution. Such a theory is supported by several legal theorists in civil law and common law systems. In the last decades it found a new theoretical basis in some areas of the sociology of law. Its main assumption is that the legal process in civil matters is aimed essentially at providing for a suitable solution of a legal conflict, that is a solution which may be accepted by the parties of the conflict itself. In a sense, the civil litigation is a means to produce or to increase the "social peace", since it works by absorbing or getting rid of social and economical conflicts that are disposed of under the label of "legal dispute" or "legal case". At the same time, the legal process promotes the citizens' confidence in the legal system, since it shows that such a system is able to deal with conflicts and to solve them in a "just" way, that is according to some standards that the involved parties may accept. The cultural implications of this theory of civil litigation are quite clear, already at this extremely general approach ; however, some further features of the theory are worth stressing. First of all, the idea of "conflict" or "dispute" plays a basic role in such a model of civil litigation : the legal process in itself is viewed as a contest or a duel between two opposed parties. Moreover, it is viewed only or essentially as a duel or a combat. This is quite common in theories concerning the "adversary system of litigation" that are extremely popular in USA and in England, but very similar conceptions exist in European continental systems (under the names of Dispositionsmaxime or alike). Correspondingly, the real protagonists of the legal process are the opposing parties, and the true heroes of the combat are their champions.

Legal Cultures and Models of Civil Justice

625

1. e. their lawyers. Moreover, virtually everything happening in the course of civil litigation should be made by the parties and should depend only on them. So to say, the parties hold the monopoly of procedural activities : it is up to them to do what (they believe) is necessary, they are burdened to do everything by themselves, and then the outcome of the combat depends exclusively on what each party has done in his own behalf. As a further consequence, the role of the judge cannot but being that of a neutral and passive umpire, who draws the consequences of the fight when it has come to an end. In the course of the litigation the judge should confine himself to ensure that the combat is carried on according to the rules governing it, solving incidental issues and controlling the correctness of the procedure. The function of provisions dealing with the legal process is coherent with such a conception of the dynamics of civil litigation and of the roles of the people involved : the legal regulation of civil procedure should be aimed at supporting and exalting the parties' enterprise, at ensuring the fairness of the parties' combat, and at circumscribing the role of the judge. Determining the kind of culture underlying such a conception of the function and structure of civil litigation is quite easy from the historical and political point of view, and therefore also from the point of view of the legal culture. Its true matrix is the classic liberal theory of the society, of the state and of the role of individuals, according to which the free enterprise of individuals is the basic dynamics of the society, and the role of the state is "minimal" and residual. As in the free economic market, also in civil litigation there should be a sort of "invisible hand" that leads the free competitition of individual parties towards the outcome that is mostly just and convenient for them, for the society as a whole, and therefore also for the legal system. The culture of liberalism has produced also a legal culture both in common law and in civil law countries : within the most prominent features of such a legal culture there is the conception of civil litigation as a machinery essentially aimed at solving disputes between individuals, by means of a free competitition among them. 2. Civil Justice and Law

Enforcement

A different general conception of the nature and function of civil litigation has its corner-stone in the idea that the legal process is aimed essentially at enforcing the law by providing for its application in

626

concrete cases. The occasion and the opportunity for applying the law are given by disputes raised by the parties, but the goal is of deciding such disputes according to the law. Then the legal process is oriented to produce and increase the legitimacy and legality in every relevant situation or transaction ; its main function is to ensure and protect the "rights" that are ascribed to te citizens by the legal order, reacting against unlawful acts and providing for adequate procedural remedies. The law is considered as the most important paradigm of individual and social actions, and therefore civil litigation is intended to ensure and promote the compliance with the law. From this basic idea about the function of the legal process in civil matters some consequences are usually drawn. First of all, the process has a goal that is relatively independent from the individual interests of the parties, since the social and the legal system as a whole is primarily interested in the exact and faithful enforcement of the law. It entails that the society, the state or the legal system, are directly involved in what happens inside the civil litigation, and in its outcomes. It means that decisions produced in civil cases should be above all lawful ; it is by far less important that such decisions are perceived as acceptable and convenient by the parties. On the other hand, the parties are expected to litigate in order to get a decision according to the law, not a decision simply reflecting their private interest and advantage. A further consequence is that the judge cannot be a mere umpire. Since it cannot be expected that the parties by themselves pursue the "objective" enforcement of the law, it is up to the judge to do it, both in the course of the proceedings and in the final judgment. Therefore the judge should be provided with all the powers that are needed in order to search for a legally valid decision, independently of the parties' activity. Then the regulation of the legal process should be shaped in such a way that judicial proceedings be oriented towards the search of a legally valid decision, and that the roles of the parties, of the lawyers and of the judge converge in reaching this goal. A "pure" version of this theory may be found inside the conceptions of "positivistic legalism", according to which the enforcement of the law is in itself the goal of every legally relevant action. More concrete versions of this theory are based on the assumption that the enforcement of the law is required because of the need of enforcing the policies embodied in the law. Then the goal of civil litigation is to achieve some purposes transcending the mere solution of an individual dispute : these purposes

Legal Cultures and Models of Civil Justice

627

are pursued by the state, by the political power or by the society at large, and they represent the subject-matter and the final aim of the law. Consequently, applying the law while deciding a case means also carrying on a general and super-individual policy that inspired the choices of the legislator. Determining the culture or cultures underlying this conception of civil justice is also relatively easy. Such a culture is that of the Sozialstaat in the European continental modern experience, and of the welfare State in the anglo-american experience. More generally, whenever the state interferes in private affairs and transactions with the aim of subordinating them to some general or collective standards, the procedural consequence is that such standards are enforced also in the context of civil litigation. Even more generally, it happens whenever it is said that the outcome of the civil proceeding should be "just", according to any standard of "substantive justice", since it introduces into the context of the judicial decision a criterion that goes beyond the individual interests of the parties involved. In its extreme and worst version, the theory of civil justice as a means to enforce a state policy is connected with authoritarian or totalitarian ideologies of power. In some cases, in fact, the policy that should be put into effect through the civil litigation is not a social benefit standard or a criterion of substantive justice, but only the will of some people holding the political power. This was the case of nazi Germany when the Führerprinzip was considered as the overwhelming standard of every judicial activity. At least in part it was also the case of Soviet justice, where the communist ideology was used as the framework of judicial decisions. It should be stressed, therefore, that the theory of civil justice as a machinery to enforce the law may be connected with several political cultures, and that it may have different meanings in different ideological contexts. In any case, the constant feature of this theory is that the legal process is oriented to enforce a standard of legality, justice or policy, that goes beyond the sheer outcome of the fight between individual parties. 3· Toward

a Combined

Theory

In most cases the difference between the two main theories described above is sketched out by stressing the contrast between an extreme

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version of the "adversary" conception and the "authoritarian" conception of civil litigation. Even behind such a methodic choice, however, there is a cultural attitude, according to which the advantages of a "free enter prise" civil litigation are vindicated against the danger of a state Leviathan or a Torquemada managing the legal process in civil matters. Apart from such biases and exaggerations, however, it should be recognized that both theories correspond to some reasonable and acceptable values, and that they are not at all in a sharp conflict. On the one side, in fact, it is easy to recognize that in civil litigation the role of the parties' enterprise is essential, and that the guarantees of due process, that is of defense and contradiction, should be considered as intangible. All developed systems of civil litigation ascribe a basic importance to the due process rule, and afford the parties with an effective opportunity to be heard, to adduce evidence and to take an active part in every stage of the proceedings. Moreover, it is commonly acknowledged that the main goal of the legal process in civil matters is the resolution of disputes. On the other side, it is also widely recognized that not any judicial decision is a proper solution of the conflict between the parties. The legal case is a conflict of interests, but such a conflict is legal, not only because it is formally relevant in a legal perspective, but mainly because the parties claim the protection of their rights in the context of a legal system based upon principles of justice and of the rule of law. As a consequence, a proper judgment should not only be accepted by the parties or by the society as a whole : it should also be just and correct according to the recognized standards of lawfulness and justice. At least in a theoretical perspective the two sides of the issue are not in conflict. On the contrary, they may be interpreted in directions converging towards a combined coherent outcome. Such an outcome may be sketched out in the following way : the main function of civil litigation is to reach a dispute resolution the concrete terms of which should be lawful and just according to the standards accepted in the time and place of the judgment. This definition combines the positive features of the "dispute resolution theory", that is the fundamental value ascribed to the role of the parties and to the need of getting rid of their conflicts, and the positive values embodied in the "law enforcement theory", that is the necessary justice and legality of the judicial decision and of the procedure used to reach the final judgment. This is only a theoretical hypothesis that is aimed at stressing the possibility of a rational and legal judicial litigation in civil matters.

Legal Cultures and Models of Civil Justice

629

However, it may be used as a reference point in the comparative analysis of the civil justice systems, and moreover in the design and accomplishment of reforms. It should be stressed, on the other hand, that several modern systems are actually evolving in the direction defined by this hypothesis : common law systems, traditionally infused with the "adver sarial" conception of civil litigation, are going to discover a managerial role of the judge with the aim of ensuring just and correct judgments ; civil law systems, traditionally inspired by the "law enforcement" conception of the legal process, tend to maximize the protection of the parties' procedural rights and guarantees. One might even think that there is some sort of common culture underlying such transformations, that is a common way of conceiving the function of civil justice in modern societies.

II. The Search of Truth in Civil

Litigation

Among the several issues concerning the general theory of civil litigation a vey important one deals with the "facts in issue" and the judgment about them. On the one side, both lawyers and lay people are inclined to think that a main function of the legal process, and of civil litigation in particular, is to establish the truth about the facts in issue, as a necessary condition for a just and correct final judgment. On the other side, many arguments may be used to support the theory that the truth of the facts in issue cannot or should not be searched in the legal process, and particularly in the context of civil litigation. Moreover, since the problem of judicial truth is obviously a specific version of the general problem of truth and factual knowledge, it is directly influenced by philosophical attitudes and epistemological approaches concerning the knowledge of facts. No doubt all these problems cannot be discussed here ; however, some factors that are more tightly connected with relevant features of the legal cultures and of the theories of civil litigation should be briefly stressed. 1. Theories

of Judicial

Truth

The direct connection between the problem of judicial truth and the legal and general culture is clearly proved by the fact that several

630

theories of judicial truth have been built up, each of them having a different cultural basis. Sometimes the problem of judicial truth is influenced by the general culture, and sometimes by the lawyers' culture and by their attitudes concerning the nature of civil litigation. From the first point of view it is clear that people sharing any radically idealistic or irrationalistic conception of the word, of human mind and of knowledge, cannot but denying any possibility of proving the truth of a fact, and then any possibility of establishing the truth of the facts in issue in a judicial context. Then for instance nihilism and radical decostructionism, hegelian idealism and heideggerian ermeneutics, cannot even realize that the problem of judicial truth may be maningful. There is nothing new in it, since the history of philosophy knows a lot of theories substantially denying the possibility of a reliable knowledge of anything. When the lawyer or the legal theorist shares one of these basically irrational attitudes, the obvious consequence is that he must reject any idea of a reasonable truth in a judicial context. On the contrary, there are also several philosophical orientations according to which the problem of truth in general is meaningful, and therefore some ideas of judicial truth are rationally conceivable. One may share the Tarski's theory of truth, or another correspondence theory following for instance Quine, or some kind of critical realism, and then he will be inclined to acknowledge that a reasonable truth of a fact may be reached. When one of these attitudes is shared by a lawyer, he may be inclined to admit that the truth of the facts in issue may be established in judicial proceedings. At the level of the legal cultures the connections with the problem of judicial truth are even more evident. For instance, there are some theories according to which the lawyer, and the judge inside the legal process, never deal with facts because they deal only with legal issues ; therefore, the truth of facts is a meaningless question, and the only meaningful issue is interpreting the law. Less extreme but no less puzzling is the theory according to which only institutional facts, and not brute facts, are worth considering in legal and judicial contexts. This theory does not exclude the problem of judicial truth, since institutional facts are facts however, but it influences the theoretical framework of the definition of "fact" in the legal language, and therefore the ideas of a possible truth of such a "fact". Theories concerning the nature and function of the legal process and of civil litigation are even more relevant for the problem of judicial truth. First of all, the theory according to which the aim of civil litiga-

Legal Cultures and Models of Civil Justice

631

tion is only to solve a dispute in a way the parties may accept simply denies that the legal process is oriented towards the search of truth. The truth of the facts is not needed in a pure dispute resolution machinery, since the dispute may be efficieutly solved even on the basis of false statements of fact. At best the truth of the facts in issue may be a side-product of such a machinery, but it is not relevant. Therefore it should not be searched, and the litigation should not be oriented toward such a goal. There are, moreover, several theories of civil litigation that do not deny in principle the meaning of judicial truth but maintain that the truth of the fact simply cannot be established in judicial proceedings, because of practical and legal reasons such as lack of time, the need to come quickly to a final judgment, the legal regulation of evidence, the need to enforce legal rules protecting interests conflicting with the search of truth (i. e. for instance privileges) and so on. There are, moreover, gaps and contradictions inside the lawyers' cultural attitudes toward the search of truth in judicial proceedings. Surprisingly enough, gaps and inconsistencies may be easily found inside the same legal culture (as Twining shows with reference to the common law legal culture). It happens for instance that in the same legal culture at the same moment in the same country the law of evidence and its theory are truth-oriented (saying for instance that evidence is a means for the search of truth), but the law and the theory of civil litigation are not truth- oriented (saying for instance that the legal process is aimed only at solving disputes), and that the legal theory in general is divided and conflicting on such issues. But it also happens (as in some European theories), that the aim of the legal process is defined in terms of enforcement of the law on the basis of a truthful statement of the facts in issue, but the search of truth is not included among the aims of the litigation or of the law of evidence, or among the purposes of the court' s actions and of its judgment. 2. The Function of Truth in Civil

Litigation

When the whole panorama of the theories of judicial truth is considered, it is easy to note that nearly all the possible theoretical attitudes are represented, and that each cultural orientation has a counterpart among such theories. The descriptive approach is useful, however, but it does not exhaust the matter. On the other hand, the several answers to

632

the problem of judicial truth are not interchangeable, nor are they irrelevant from the point of view of judicial practice and of the regulation of the legal process. In the labyrinth of theories an Ariadne's thread may be found by looking at the function that is ascribed to civil litigation, and at the cultural choices concerning this function. Then f. i. an attitude contrary to the search of truth may be maintained on the basis of a radically "adversary" theory of civil litigation. Things are different, on the contrary, if one starts from the premise that the legal process is aimed in general at solving disputes but maintains that the solution of disputes should be just, lawful and correct. In such a case the problem arises of defining the conditions under which a judgment may be considered just, legal and correct. Of course this is a multifaceted and immensely complex problem, and once again a lot of cultural implications come into play. But one important point should be stressed here. It was clearly stated by Jerome Frank when he said that "no just decision can be founded upon the wrong facts". It corresponds to a basic condition that is necessarily required for the correct enforcement of the law in concrete cases. Each legal provision is properly used as a standard for deciding a case provided that several conditions are satisfied. A condition that is specially important is the following : since the legal provision must be applied to certain "facts" that are generally defined and selected by the provision itself, and such a provision cannot be applied to "other" facts or in absence of any fact, the consequences is that, in order to decide according to this legal provision, some facts should be established as "true". When such a condition is met, the judgment may be just and correct ; when this condition is not satisfied, the judgment cannot be just and correct. From this point of view the judicial truth about the facts in issue is one among the necessary conditions of a just and correct judgment. Correspondingly, if reaching a judgment having there features is considered as a fundamental aim of civil litigation, and of the legal process in general, then the search of truth cannot be longer considered as irrelevant or even conflicting with the aims of the administration of justice. 3. Judicial

Truth

and

Legal

Cultures

Even when an agreement exists about judicial truth as a condition of justice in civil litigation, the problem does not come to an end. Paradoxi-

Legal Cultures and Models of Civil Justice

633

cally, on the contrary, it starts again in a sort of circular movement. Once again it happens because of the variety of cultural attitudes concerning what a "judicial truth" is or should be. Legal scholars are accustomed, with slight differences in the several countries or systems, to look at this topic from inside the context of legal provisions regulating the proceedings and the law of evidence. In such a perspective two main factors appear as prominent : one is that the law deals with the facts inside the legal process, and therefore every issue is conceived as a legal issue, leaving aside what is not only or strictly legal ; the second is that the law about facts and evidence is mainly made of provisions aimed at limiting, manipulating and excluding the evidence, i. e. the cognitive data that the court should use to support the search of truth about the fact in issue. As a consequence of their "internal" perspective, many legal scholars are inclined to believe that the court will reach a judicial or legal or procedural truth, but that such a truth has little or nothing to do with what a lay man in a not-judicial situation would consider as a factual truth. Then in their opinion the judicial truth is not a version of the factual truth, but it is something special, that occurs only in the procedural context and which is meaningful, relevant and understandable only inside this context. The theory of a sharp distinction between judicial truth and factual truth in general is unfounded and it has been criticized and rejected by several legal theorist (f. i. by Twining). However it is still widely shared in many areas of the legal culture in several systems. A different but somewhat connected point of view is often adopted by practicing lawyers, and by the legal theorists who share and express the perspective of the partisan advocate. The advocate's point of view starts usually, more or less consciously, from his own self-image. The main feature of such an image is that the advocate is a champion of his client, a fighter, a "hired gun" who has to do his best in the judicial combat. The purpose of such an advocate is to win his client's case by every legal (or also illegal) means, using every tactics or strategies in order to overcome the counterpart. His goal is not at all to search the truth of the facts in issue : he will fight for the truth only when the truth is favourable to him ; he will fight against the truth when it is contrary to his client's position ; in general, he is not specially interested in searching the truth. This is a simplified and crude picture of the advocate's point of view, but it is not false. On the contrary, it corresponds to the true bulk of the role that many practicing lawyer ascribe to themselves. Some

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aspects of this role are partly mitigated in more advanced and sophisticated theories of the role of the lawyer in modern litigation : then it is said f. i. that the lawyer should cooperate with the court in reaching a just decision, that he should follow rules of legal and professional ethics dealing with "candor" and truthfulness (or at least forbidding deliberate falsehood), and that he should promote the search of truth in the legal process. These theories are more sensitive to the judicial truth as a value that should be implemented inside the litigation, also with the cooperation of lawyers. However the idea of the advocate as a hard fighter for the victory, and nothing else, is still deeply rooted in several legal systems. Even when the judicial truth is admitted as a worthwile purpose of litigation, and when it is not dissociated from the factual truth in general, further cultural problems and attitudes come into play. Once again the variety of attitudes and solutions existing with reference to the general problem of truth influences the sub-problem of judicial truth. In fact some of these solutions, originally worked out in philosophical or epistemological contexts, have been adopted by legal scholars and then have become a part of the legal culture, usually as "theories of evidence and proof". The outcome is that there are different "cultures of judicial truth" stemming from different philosophical sources. For instance, a very traditional approach in European continental systems was founded upon the application of deductive schemes to the judge's reasoning, with reference also to the decision on the facts. It produced the "syllogistic theory" of the judicial truth that dominated the European culture for at least two century and that is still rather popular, although it is now considered as completely unreliable. When the syllogistic model is set aside in favor of more moderns and sophisticated frameworks, a frequent approach makes references to theories of probability, maintaining that judicial truth is a probable truth, and that the judge should use the probability calculus as a tool for deciding about the facts in issue. Probability theories of judicial truth started already in the XVII and XVIII centuries ; then they were followed by many legal scholars, as a rational answer to the need of conceiving a relative truth or an approximate version of the facts, which is necessary since the judicial evidence never leads to an absolute truth. At present, but for the same basic reason, the probability calculus is rather frequently used, even in its more sophisticated versions, as a conceptual means to define the degree of reliability of the judgment on the facts. In Germany and Sweden some

Legal Cultures and Models of Civil Justice

635

scholars make reference to the concepts of quantitative or statistical probability ; a very similar approach is used in USA by the "Bayesian doctrine" of evidence and proof. However, in recent years some legal theorists (mainly following Jonathan Cohen) state their dissatisfacion with conceptual models of evidence derived from quantitative probability, and follow an approach based upon logical probability as the main tool for the decision about the facts in issue. Then the judicial truth is viewed as the outcome of a judicial reasoning based upon the evidence and shaped by means of inductive arguments aimed at establishing a degree of rational or reasonable support for the statement of the facts of the case. If all this various and complex landscape is gazed at, a conclusion that may be drawn is that the problem of judicial truth in civil litigation is a crossroads where several cultural approaches and tendencies meet and collide. On the one side, in fact, general theories about the function and the goals of civil litigation, and of the legal process in general, affect the definition of how the issues of fact should be solved. On the other side, general conception of knowledge and truth directly influence the way the knowledge of facts and the truthfulness of the decision about them are defined inside the judicial context. At a more specific level, the legal regulation of judicial proceedings and of evidence affects the search of judicial truth, producing a wide range of different outcomes in the several legal systems. On the other hand, conceptions concerning the role of the judge and of the advocates in civil litigation tend to vary in the several systems. Such conceptions are influenced by complex cultural and legal factors such as legal ethics, self-images, procedural machineries, models of legal and logical reasoning, cultural traditions, historical trends and so on. Nobody can reasonably cast a doubt upon the complex and intrinsic interactions between legal and metalegal cultures on the one side, and the legal process and the systems of civil litigation on the other side. The comparative perspective is specially efficient in showing how this interaction works, in most cases going beyond the national borders and the particular legal systems. The issue concerning judicial truth is a good example of it, specially when it is considered in connection with general theories of civil litigation.

636

III. Models of Judicial

Decision-Making

In strict connection with the issues discussed above, another topic shows very clearly how the legal cultures influence the models of civil justice. Conceptions concerning what the judge does or should do while he finds out and states the final decision of a case reflect different cultural approaches about the legal system, the administration of justice, the role of the judiciary in the legal and political system, the role of the court in the legal process, and the reasonings or proceedings which come to an end in the final judgment. For instance, the traditional continental culture of legal positivism produced the Montesquieu's image of the judge bouche de la loi, who does not create the law and confines himself to "stating" what the law says about the case. This judge is also the "machine for syllogisms" who gets to the decision by deductive and logically valid reasonings, both about the facts and the law. This picture never corresponded with the reality of European justice, but it was for a long time a powerful ideology, which influenced many features of the legal system, of the organization of the judiciary and of the administration of justice. On the contrary, when legal sociology and political science started being used also by lawyers, the opposite idea of the judge as a legal or social engineer, or as a problem-solver, became very popular. This idea of the judge's role entails a quite different model of decision-making : much more attention to the concrete facts of the case and to the social conditions surroundings the facts in issue ; evaluative judgments about facts and about the relevant legal rules ; a prominent creative and active role of the judge in the interpretation of the law and in shaping the final decision ; attention paid to the personal, economic and social consequences of the judgments ; due consideration of collective and general interests and values involved in the individual litigation. A further version of this conception of the judge is the idea of the judge as a guarantor and protector of the individual and collective fundamental rights, and generally as a guarantor of the lawfulness of the legal system, of the social system and of the administration of justice. Such an idea of the judge's role in the legal process and in the legal system as a whole entails also a particular conception of the judicial decision-

Legal Cultures and Models of Civil Justice

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making. Beside the standards of proper and effective problem-solving and social advantage, a special importance is ascribed to criteria of substantive justice of the decision and of legality of the outcome of the decision-making. Moreover, the judge is expected to behave according to controllable and intersubjective rationality, and to comply correctly and precisely with the rule of law which applies to the "true" facts of the case. Rationality and lawfulness, but also and consequently truthfulness and reliability of the judgments on the facts, are then the main standards of decision-making. It may easily be seen that these different versions of the judge's role, and the corresponding models of decision-making, are directly related with the main trends of the legal culture concerning the administration of justice in the modern era. The pendulum of the legal theory shifts from one model to the other according to the evolution of social and political situation, to the growing or diminishing importance ascribed to the judge and to the law in the political and legal culture, and depending on the axiology dominating in any country at any moment. It is clear, however, that the main medium of these extremely complex phenomena is the legal culture, and that their analysis can be effectively carried on in a comparative perspective.

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und K o n k u r s von

Prof. Dr. Hans Ulrich Walder

Zürich

Rechtsanwalt em. Professor an der Universität Zürich

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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung II. Rechtsbehelfe im einzelnen 1. Beschwerde a. Regelung im allgemeinen b. Beschwerdeobjekte c. Wiedererwägung von Entscheidungen d. Nichtigkeit von Verfügungen 2. Rechtsvorschlag a. Formelles b. Begründung c. Nachträglicher Rechtsvorschlag 3. Klagen a. Bisherige Klagen b. Feststellungsklage nach Art. 85a SchKG c. Klagen betr. neues Vermögen nach Art. 265a SchKG 4 . Rechtsmittel im gerichtlichen Verfahren a. Allgemeines b. Rechtsvorschlag in der Wechselbetreibung c. Konkursdekret d. Einspracheentscheid im Arrestverfahren 5. Gemeinsame Fragen a. Ausstandsrecht b. Verantwortlichkeit der Behördemitglieder c. Kostenfragen III. Schlussfolgerung

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

I.

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Einleitung

Die am 16. Dezember 1994 glücklich zu Ende geführte Revision des Bundesgesetzes vom 11. April 1889 (SchKG) ist geprägt von zwei Besonderheiten. - Die eine Besonderheit ist die formelle Struktur. Bei vergleichbaren Gesetzen werden in der Schweiz entweder spezielle Einzelmaterien (Eherecht im Zivilgesetzbuch, Mietrecht im Obligationenrecht) total neu konzipiert oder es wird gleich ein neues Gesetz geschaffen (Urheberrechtsgesetz, Anlagefondsgesetz, Markenschutzgesetz) . Das genannte Bundesgesetz dagegen wurde mit zahlreichen Einzelrevisionen neu gestaltet; das Gesetz erhielt gewissermassen ein neues Kleid. - Die zweite Besonderheit ist die Ausgangssituation: Die Revision hat ihren Ursprung u. a. in einer Anzahl von parlamentarischen Anregungen, die verschiedenste Materien betreffen und bis ins Jahr 1954 zurückgehen, dann aber auch in solchen aus Wissenschaft, Praxis und Wirtschaft. Von seinem System her wurde das SchKG aber, wie die Botschaft an das Parlament in ihrer Übersicht ausführt, „trotz seines beachtlichen Alters und trotz des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels" als etwas bewährtes und klares betrachtet, das völlig neu zu konzipieren kein Anlass gesehen wurde. Das ist keineswegs selbstverständlich. In seinen Anfängen war das SchKG nämlich durchaus nicht so unbestritten und — nachdem schon 1895 der Bundesrat als oberste Aufsichtsbehörde durch das Bundesgericht ersetzt worden war, die Einführung des Zivilgesetzbuches einiges an Anpassung erfordert und die Zeit des ersten Weltkrieges auch hier ihre Spur hinterlassen hatte — befasste sich schon 1932 der Schweizerische Juristentag mit Vereinfachungen des Schuldbetreibungs- und Konkursrechtes. In der Schweiz werde niemand, so der deutschsprachige Referent Robert Haab, von einem „Konkurse des Konkurses", von einem „Bankrotte des Vollstreckungsverfahrens" einer „hoffnungslosen Apathie der Gläubiger" und dergleichen reden können. Nichtsdestoweniger dürfe man sich keiner Täuschung darüber hingeben, „dass das schweizerische

642

Vollstreckungsrecht nicht nur nach der juristischen, sondern auch nach der wirtschaftlichen Seite vielfach nicht befriedigt, und dass eine Reform nach beiden Richtungen ganz erhebliche Verbesserungen zu bringen vermag". 1 Noch pointierter äusserte sich Paul Carry, wenn er in seinem Referat gleich zu Beginn ausführte: „nous n'eprouvons aucune surprise ä constater que notre loi sur la poursuite pour dettes et la faillite est certainement dans Γ arsenal des lois föderales, l'une des plus vivement critiquees"2. Ist es alsdann nicht geradezu erstaunlich, dass in unserer doch vermehrt kritikfreudigen Zeit dem SchKG ein so gutes Zeugnis ausgestellt worden ist ? Wer für diesen Wandel in den letzten sechzig Jahren den Dank in Anspruch nehmen darf: die Beamtenschaft, die Aufsichtsbehörden und unter ihnen vor allem die oberste, das Bundesgericht, die in den ersten folgenden Jahrzehnten tätigen grossen Rechtslehrer, wie etwa Ernst Blumenstein, Antoine Favre, Hans Fritzsche und Alfred von Overbeck oder gar die an der Rechtsfortbildung nicht unbeteiligte Anwaltschaft, wer vermag das zu sagen ? Symptome des schweizerischen Rechtssystems sind - die Balance zwischen den Gerichten einerseits und den mit der Verfahrensabwicklung betrauten Betreibungs- und Konkursämtern andererseits; - die Bedeutung des Rechtsscheins als Signal für betreibungsrechtliche Vorgänge; - die Rücksichtnahme auf potentiell Beteiligte, die nicht Verfahrensparteien sind.

II. Rechtsbehelfe

im

einzelnen

1. Beschwerde

1 Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) Neue Folge (NF) 51/1932 S. 247a ff. (248a). 2 ZSR N F 51/1932 S. 375a.

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

a. Regelung

im

643

allgemeinen

Die betreibungs- und konkursrechtliche Beschwerde hat ihre bisherige Funktion behalten. Nach wie vor ist es so, dass die Kantone eine oder zwei (untere und obere) Aufsichtsbehörden haben können3. Diese haben volle Kognition, wogegen, was in Art. 19 SchKG noch etwas deutlicher als bisher zum Ausdruck kommt, vor dem Bundesgericht als oberster Aufsichtsbehörde der Weiterzug auf „Verletzung von Bundesrecht oder von völkerrechtlichen Verträgen des Bundes sowie wegen Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens" beschränkt ist. Nicht verwirklicht, ja nicht einmal diskutiert wurde das Postulat von Robert Haab, wonach die Kompetenzen, die heute der Aufsichtsbehörde, dem Rechtsöffnungsrichter, dem Konkursrichter und dem Nachlassgericht zustehen, in der Hand einer Behörde, und zwar zweckmässigerweise des Zivilgerichts erster Instanz vereinigt werden sollten, das derart die Stellung eines „Betreibungs- und Konkursgerichts" erhalten hätte 4 . Dafür ist das bisher bundesrechtlich kaum geregelte Beschwerdeverfahren durch Art. 20a SchKG etwas näher dargestellt worden. Vielfach handelt es sich um bestehende Praxis; neu ist aber der zweite Satz von Abs. 2 Ziff. 2, wonach die Aufsichtsbehörde die Parteien zur Mitwirkung anhalten kann und auf deren Begehren nicht einzutreten braucht, wenn sie die zumutbare und notwendige Mitwirkung verweigern. Das Prinzip der Kostenlosigkeit ist aus der Gebührenverordnung neu in Abs. 1 von Art. 20a aufgenommen worden. Nicht kostenlos ist nach jüngst bekanntgewordener Ansicht des Bundesgerichts ein gegen den Entscheid des Bundesgerichts als oberster Aufsichtsbehörde gerichtetes Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 136 des Bundesgesetzes über die Bundesrechtspflege. b.

Beschwerdeobjekte

Beschwerdeobjekte sind Verfüngen und Entscheide - der Betreibungsämter 5 und der Konkursämter 5 - der ausserordentlichen Konkursverwaltungen 6 - der Gläubigerversammlungen 7 3 4 5 6 7

SchKG 17, 18. Haab (zit. Anm. 1) S. 370a. SchKG 17 SchKG 241 SchKG 239

644

-

der Sachwalter im Nachlassverfahren 8 der Gläubigerausschüsse im Nachlassverfahren 9 der Liquidatoren im Nachlassverfahren mit Vermögensabtretung 10 .

c. Wieder er wägung

von

Entscheidungen

Art. 17 Abs. 4 SchKG hat die in der Praxis entwickelte Regelung aufgenommen, wonach das Amt bis zu seiner Vernehmlassung die angefochtene Verfügung in Wiedererwägung ziehen kann. d. Nichtigkeit

von

Verfügungen

aa Umschreibung der Nichtigkeit Nachdem bisher der Begriff der Nichtigkeit in Literatur und Rechtsprechung entwickelt wurde, hat die Thematik nunmehr mit Art. 22 Eingang in das Gesetz gefunden; Art. 22 Abs. 1 Satz 1 SchKG lautet: „Verstössen Verfügungen gegen Vorschriften, die im öffentlichen Interesse oder im Interesse von am Verfahren nicht beteiligten Personen erlassen worden sind, so sind sie nichtig." Beispiele aus den beiden Gruppen sind nach bisheriger Praxis: - die Fortsetzung der Betreibung nach erfolgtem Rechtsvorschlag (Bestreitung von Forderung oder Pfandrecht); - die Vornahme einer Pfändung, trotz verspätetem (nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Zahlungsbefehls) Fortsetzungsbegehren. bb Bedeutung der Nichtigkeit Einmal gilt, dass — unabhängig davon, ob Beschwerde geführt worden ist - die Aufsichtsbehörde von Amtes wegen die Nichtigkeit einer Verfügung feststellen kann11. Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 1 SchKG kann auch das Amt selber eine nichtige Verfügung durch Erlass einer neuen Verfügung ersetzen. Satz 2 regelt diesen Vorgang bei Pendenz eines Beschwerdeverfahrens als Spezialfall von Art. 17 Abs. 4 SchKG. cc Verfahren zur Feststellung der Nichtigkeit Die Nichtigkeit kann sich in einem Stadium des Verfahrens ergeben, in 8 SchKG 295 Abs. 3. Aufsichtsbehörde ist hier das Nachlassgericht, es sei denn, dass der Sachwalter einem Betreibungs- oder Konkursamt angehöre (Hans Fritzsche/ Hans Ulrich Walder, Schuldbetreibungen und Konkursrecht Bd. II, Zürich 1993, § 72 Rz 21. 9 SchKG 320 10 SchKG 327 11 SchKG 22 Abs. 1 Satz 2

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

645

welchem die sofortige Korrektur durch das Amt oder die Aufsichtsbehörde nicht mehr möglich ist. Alsdann kann letztere auch in ganz anderem Zusammenhang die Nichtigkeit einer früheren Verfügung annehmen: z.B. in einer Verwertungsauseinandersetzung die Nichtigkeit der Pfändung, wenn es sich um einen Konkursschuldner handelt; dies allerdings nur, solange der Erlös nicht verteilt ist. Im umgekehrten Fall ist auch heute noch der mit dem Konkursbegehren befasste Konkursrichter gehalten, die Frage der Aufsichtsbehörde vorzulegen, ob der Schuldner überhaupt der Konkurseröffnung unterliege12. Das schliesst aber nicht aus, dass in ganz klaren Fällen ein Gericht seinerseits Nichtigkeit feststellt (z.B. der Rechtsöffnungsrichter bei nichtigem Zahlungsbefehl). 2. Rechtsvorschlag a.

(Forderungsbestreitung)

Formelles

Der Rechtsvorschlag kann in der bekannten einfachen Art weiterhin schriftlich oder mündlich erklärt werden. Neu ist die Regelung des Falles, da die Forderung nur teilweise bestritten wird. Wird nämlich der bestrittene Betrag nicht genau angegeben, so gilt nunmehr die ganze Forderung als bestritten 13 . b.

Begründung

Nach wie vor bedarf der Rechtsvorschlag keiner Begründung14. Die Notwendigkeit, bei Bestreitung neuen Vermögens den Rechtsvorschlag zu begründen (von der Praxis eingeführt), hat nun als Ausnahme in Art. 75 Abs. 2 Platz gefunden. In Absatz 3 ist sodann der Fall des Rechtsvorschlags in der Zwangsvollstreckung für Wechselforderungen vorbehalten. Art. 179 Abs. 2 SchKG hat die differenzierende Auslegung der Praxis aufgenommen. Aus dem Gesetz verschwunden ist schon früher der begründete Rechtsvorschlag bei Betreibung der Ehefrau15. Im neueren System kann bei Gütergemeinschaft jeder Ehegatte in der Betreibung des andern Rechtsvorschlag erheben16, die Auseinanderset 12 SchKG 173 Abs. 2 SchKG 13 SchKG 74 Abs. 2. Nach bisherigem Recht war in einem solchen Fall der Rechtsvorschlag wirkungslos. 14 SchKG 75 Abs. 1 15 SchKG 68bis 16 SchKG 68a Abs. 2

646

zung über das Haftungssubstrat geschieht jedoch im Widerspruchsverfahren17. Dasselbe gilt bezüglich der Haftungsbeschränkung bei gesetzlicher Vertretung oder Beistandschaft18. Was noch bleibt, ist der begründete Rechtsvorschlag in der Betreibung auf Pfandverwertung. Zwar steht er nach wie vor nicht ausdrücklich im Gesetz, doch sagt Art. 85 Abs. 1 der Verordnung über die Zwangsverwertung von Grundstücken: „Erhebt der Schuldner gegen den Zahlungsbefehl Rechtsvorschlag, so wird, wenn in diesem nichts anderes bemerkt ist, angenommen, er beziehe sich nur auf die Forderung und nicht auf das Pfandrecht." Art. 153a Abs. 1 SchKG setzt diesen auf das Pfandrecht bezogene Rechtsvorschlag seinerseits voraus. c. Nachträglicher

Rechtsvorschlag

Der Nachträgliche Rechtsvorschlag ist auch im Zusammenhang mit der Begründungsfrage in Art. 75 Abs. 3 SchKG vorbehalten. Er hat — da in seinem bisherigen Hauptanordnungsbereich durch das Wiedereinsetzungsrecht hinfällig geworden — nur noch jene Funktion beibehalten, die ihm seinerzeit durch die Praxis verliehen wurde und die jetzt gesetzlich verankert ist. Der Randtitel der Bestimmung lautet: „Nachträglicher Rechtsvorschlag bei Gläubigerwechsel". Das ist nunmehr aber differenziert worden. Der Rechtsvorschlag muss nach wie vor beim Richter des Betreibungsortes angebracht und begründet werden. Dabei sind die Einreden gegen den neuen Gläubiger sogar glaubhaft zu machen. Neu ist die Frist von drei Tagen dafür auf deren zehn verlängert worden. Abs. 4 nimmt auf, was das Bundesgericht schon in seinem Kreisschreiben vom 15. November 1899 präsentierte: „Wird der nachträgliche Rechtsvorschlag bewilligt, ist aber bereits eine Pfändung vollzogen worden, so setzt das Betreibungsamt dem Gläubiger eine Frist von zehn Tagen an, innert der er auf Anerkennung seiner Forderung klagen kann. Nutzt er die Frist nicht, so fällt die Pfändung dahin." Mit der Beschränkung des nachträglichen Rechtsvorschlags auf Ein17 SchKG 68b 18 SchKG 68c, 68d

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

647

reden gegen den neuen Gläubiger wird auch das Prozessthema festgelegt. Es kann sich nurmehr um die Berechtigung des neuen Gläubigers (etwa Gültigkeit der Abtretung oder des Erwerbs der Forderung in einer Zwangsvollstreckung bzw. besondere Einwendungen, wie etwa Bestreitung der Vertretungsmacht des Gläubigervertreters oder Verrechnung mit Gegenforderung) handeln. 3.

Klagen

a. Bisherige

Klagen

An den bisherigen Klagen hat sich wenig geändert. Weggefallen ist die Arrestaufhebungsklage des bisherigen Art. 289 SchKG, die durch das Einspracheverfahren (vgl. nachstehend Ziff. 4d) ersetzt wird. b. Feststellungsklage

nach Art.

85^

SchKG

Sie ist ein besonderes Merkmal der Revision und ein nicht unbedingt geglücktes Produkt des Gesetzgebers. Die Feststellungsklage wurde ursprünglich geschaffen, um dort, wo aus unglücklichen Umständen heraus ein Rechtsvorschlag nicht erhoben oder die Aberkennungsklage unterlassen wurde, ein letztes Hilfsmittel für den Schuldner herzustellen, damit dieser nicht auf die Rückforderungsklage nach Art. 86 SchKG angewiesen sein sollte. Sie wird ihre Funktion aber auch erhalten zur Verteidigung des ungerechtfertigterweise betriebenen Schuldners an sich. Die neuere Praxis zum Feststellungsinteresse weist in diese Richtung19. Die Klage bringt aber einige Probleme mit sich. Ein erstes ist die Frage der Legitimation. Wer ist Betriebener? Ist es nur die Person, gegen die eine Betreibung im Gange ist, oder jedermann, der einmal betrieben wurde, auch wenn aufgrund des Rechtsvorschlages die Betreibung nicht fortgesetzt wurde oder gar dieselbe, ohne dass Rechtsvorschlag erhoben wurde, zufolge Ablaufs der Gültigkeitsfrist des Zahlungsbefehls erloschen ist? Wegen Art. 8a Abs. 3 lit. a SchKG20 wird man im ersten Fall 19 Vgl. dazu den Entscheid des Bundesgerichts in BGE 121 III 81 ff., wo die Löschung der auf einem Irrtum des Gläubigers beruhenden Betreibung im Register angeordnet wird. Der Registereintrag ist mit dem Vermerk zu versehen, dass die Betreibung vom Gläubiger irrtümlicherweise angehoben worden ist. Die so gekennzeichnete Betreibung darf fortan in den Registerauszügen nicht mehr erwähnt werden. 20 Keine Kenntnisgabe von Betreibungen, die eingestellt oder aufgehoben worden

648

geneigt sein, die Frage zu bejahen. Das kann aber zu einer Schlechterstellung des Gläubigers führen, der — um die Verjährung zu unterbrechen 21 — betrieben hat und sich jetzt am Betreibungsort einer negativen Feststellungsklage ausgesetzt sieht, für die es vorher kein Feststellungsinteresse gegeben hätte. Wird aber als Zweck der Klage auch die in Art. 8a SchKG enthaltene Konsequenz (keine Kenntnisgabe von der Betreibung an Dritte) anerkannt, so wird man die nicht weiterführungsfähige Betreibung als legitimationsbegründend betrachten müssen. Das bedeutet aber, dass etwa die Erben eines Gläubigers, der vor Jahren einmal betrieben hat, mit der Klage konfrontiert werden können und als Beklagte die Unterlagen zusammensuchen müssen, um den Anspruch nicht zu verlieren. Gegen diese Betrachtungsweise spricht indessen eine weitere Besonderheit dieser Klage. Sie führt nämlich (auch ohne besonderes Begehren) zu einer vorsorglichen Massnahme, der vorläufigen Einstellung der Betreibung, sobald die Klage sehr wahrscheinlich begründet ist22. Hauptzweck der Klage ist es ja, nicht von der Betreibung überrollt zu werden, obschon man nichts schuldet. Ist dieser Zweck nicht notwendig, weil die Betreibung durch Rechtsvorschlag schon eingestellt ist23 oder weil es keine Betreibung mehr gibt, so hat die Klage keinen praktischen Sinn; die Möglichkeit der gewöhnlichen Feststellungsklage muss genügen24. Auch so bleibt aber, wie es scheint, eine Inkonsequenz. Der Betriebene, der betrieben wurde und keinen Rechtsvorschlag erhoben hat, kann auf jeden Fall während der Dauer der Betreibung die negative Feststellungsklage erheben und den Gläubiger am Orte der Betreibung, also nicht am ordentlichen Gerichtsstand des Gläubigers, in den Prozess zwingen (unter Inkaufnahme des Risikos, die Einstellung der Betreibung nicht zu erwirken), wogegen der nicht betriebene Schuldner das Feststellungsinteresse darlegen und erst noch am ordentlichen Gerichtsstand des Gläubigers klagen muss. Wird die Betreibung nicht fortgesetzt, so muss konsequenterweise, da sind, an Dritte. 21 Art. 135 Ziff. 2 des Obligationenrechts sieht die Unterbrechung der Verjährung durch Schuldbetreibung vor. 22 SchKG 85a Abs. 2 23 SchKG 78 Abs. 1 24 Ob die Betreibung für sich allein zur Begründung des Feststellungsinteresses ausreicht, ist im konkreten Fall zu entscheiden (dazu BGE 120 II 20 ff.)

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

649

gemäss Art. 85a Abs. 2 SchKG Einstellung der Betreibung erst vor der Verwertung oder nach zugestellter Konkursandrohung möglich ist, die Klage gegenstandslos werden. Wird sie bei nichtbewilligter Einstellung mit Erfolg fortgesetzt, wird man es als ungeschriebenes Bundesrecht annehmen müssen, dass die Klage in eine Rückforderungsklage umgewandelt werden kann; führt die Betreibung ganz oder teilweise zu einem Verlustschein, so wird die Klage in diesem Umfang gegenstandslos, falls die Betreibung nicht nach Art. 149 Abs. 3 SchKG fortgesetzt wird. Ein zweites Problem ist folgendes: Die Klage erscheint als unzulässig bei Wohnsitz des Gläubigers im Ausland. In Art. 30a SchKG ist das Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht 25 vorbehalten; es wurde in diesem Punkt nicht ergänzt. Schon gar keinen Platz hat diese Klage im Zusammenhang mit dem Lugano-Übereinkommen (LugU)26, obwohl sie — weil damals nicht bekannt — nicht in die Liste der exorbitanten Gerichtsstände des Art. 3 aufgenommen wurde. Dies ist umso bedauerlicher, weil gerade gegenüber einem im Ausland ansässigen Gläubiger die Rückforderungsklage ihren Zweck nicht zu erfüllen vermag. Bei LugÜStaaten kommt dann noch hinzu, dass selbst die Verarrestierung des Auszahlungsanspruchs des Gläubigers gegenüber dem Betreibungsamt nicht allzu nützlich ist, wenn die Rückforderungsklage nicht am Arrestort erhoben werden kann. Es will vielleicht eingewendet werden, Art. 289 SchKG sehe für die paulianische Anfechtungsklage neu den Gerichtsstand am Ort der Pfändung oder des Konkurses vor, wo der Beklagte keinen Wohnsitz in der Schweiz habe. Dabei handelt es sich aber um eine vollstreckungsrechtliche Klage, nicht um eine solche des Zivilrechts, in welchem Bereich allein das IPRG massgebend ist. Schliesslich stellt sich die Frage des Schicksals dieser Klage nach Art. 85a SchKG bei Konkurseröffnung. Da keine Betreibung mehr existiert, wird sie gegenstandslos, dem Gläubiger steht der normale Kollokationsweg offen. Der Unterschied gegenüber der Aberkennungsklage ist durchaus legitim. Bei ihr hat jedenfalls ein Rechtsvorschlag und eine provisorische Rechtsöffnung stattgefunden, und sie ist dieser gegenüber rechtzeitig eingeleitet worden. Die Alternative des Konkursverwalters bzw. der Gläubigerschaft, die Klage zurückzuziehen und damit die 25 Vom 18. Dezember 1987 (Systematische Sammlung des Bundesrechts = SR 291). 26 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16. September 1988.

650

Forderung anzuerkennen oder aber den Prozess weiterzuführen, erscheint berechtigt. Im Fall von Art. 85a SchKG dagegen ist es vernünftig, wenn die Würfel neu aufgeworfen werden; das Interesse an ihr ist beim Schuldner auch mit Wirkung für die Konkursmasse dahingefallen. c. Klagen

betr.

neues Vermögen

nach Art.

265ώ

SchKG

Hier ist das System des Rechtsvorschlags in der Betreibung für Wechselforderungen und des nachträglichen Rechtsvorschlags angewendet und zugleich erweitert worden. Die Regelung gehört in das Paket der Erschwerung von Insolvenzerklärungen 27 , die auf drei Ebenen stattfindet: aa Kein unbedingter Anspruch mehr auf Konkurseröffnung 28 bb Möglichkeit eines besseren Schuldenbereinigungsverfahrens 29 cc Erschwerung der Einrede des fehlenden neuen Vermögens30. Art. 265a SchKG behandelt diesen Rechtsvorschlag, der nun nicht mehr einfach erklärt werden kann, sondern richterlich bewilligt werden muss. Wird er bewilligt (aufgrund glaubhaft gemachter Einwendungen), so steht dem Gläubiger innert 20 Tagen der Klageweg offen; wird er nicht bewilligt, so stellt der Richter den Umfang des neuen Vermögens fest. Der Schuldner kann dann aber — ebenfalls innert zwanzig Tagen — auf Bestreitung des neuen Vermögens klagen. Art. 265a SchKG hat im Laufe seiner Beratung im Parlament eine nicht ganz glückliche Änderung erfahren, was die vom Schuldner auf Dritte übertragenen Vermögenswerte betrifft. Aber schon der Regierungsentwurf entsprach nicht dem, was die Expertenkommission erarbeitet hatte. Was damals gewollt war, legte Bundesrätin Elisabeth Kopp am Schweizerischen Juristentag 1985 mit folgenden Worten dar31: „Nach erfolgtem Konkurs unternimmt der Schuldner dann auch noch alles, um die Bildung neuen Vermögens zu verhindern. Er bezieht als Angestellter im Geschäft des Dritten ein bescheidenes Salär und vermag gleichwohl ein erstaunlich komfortables Leben zu führen. Nach dem Vorentwurf soll deshalb als neues Vermögen auch die wirtschaftliche Besserstellung gelten. Steht fest, dass der ehemalige Konkursit faktisch, d.h. wirtschaftlich nicht aber rechtlich, nach wie vor über Vermögen verfügt, das nominell im Eigentum Dritter steht, 27 28 29 30 31

Konkurseröffnung auf eigenes Begehren. SchKG 191 SchKG 333-336 SchKG 265, 265a ZSR NF 104/1985 II 317 f.

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

651

soll ihm die Einrede verweigert werden, er verfüge nicht über neues Vermögen. Um diesen durchdachten Plan des Schuldners möglichst einfach — ohne grossen Prozess- und Kostenaufwand — durchkreuzen zu können, wird vorgesehen, dass Handlungen des Schuldners zur Vermeidung neuen Vermögens angefochten werden können mit gleichzeitiger Klage auf Feststellung neuen Vermögens." Diese Regelung, damals in Art. 288 Abs. 2 SchKG eingebaut, wurde bei den weiteren Vorarbeiten aus dem Gesetzesentwurf wieder entfernt mit dem Bemerken, dass nach dem gleichzeitig vorgeschlagenen und nunmehr Gesetz gewordenen Art. 265 Abs. 2 letzter Satz SchKG zum neuen (und damit pfändbaren) Vermögen nicht nur das gehöre, was dem Schuldner rechtlich zustehe, sondern auch das, worüber er wirtschaftlich verfüge. Das Thema der wirtschaftlichen Zugehörigkeit könne im Widerspruchsverfahren erledigt werden. In der Folge hielt es dann der Nationalrat für nötig, den Richter zu ermächtigen, Vermögenswerte einer Drittperson pfändbar zu erklären, wenn das Recht dieser Person auf einer Handlung beruhe, die der Schuldner in der dem Dritten erkennbaren Absicht vorgenommen habe, die Bildung neuen Vermögens zu vereiteln. Damit sind unglücklicherweise drei Institute miteinander vermengt worden: - die Feststellung neuen Vermögens - die Pfändung - die paulianische Anfechtung. Das führt zu folgender Misshelligkeit: Der mit der Feststellung neuen Vermögens befasste Richter hatte ja bis jetzt nichts anderes zu tun, als im Umfang des neuen Vermögens (aber höchstens bis zur Höhe der Betreibungsforderung) die Fortsetzung der Betreibung zu ermöglichen. Jetzt wird ihm eine neue Aufgabe zugewiesen: Er soll Vermögen Dritter pfändbar erklären. Diese Dritten sollen dann zum Schutze ihrer Rechte ein Widerspruchsverfahren einleiten. Ein solches setzt aber eine effektive Pfändung (durch das Amt) voraus32. Solange das Amt nicht gepfändet hat, gibt es auch kein Widerspruchsverfahren. Es ist auch systemwidrig, wenn dann der Widerspruchsrichter sich mit der Pfändbarerklärung durch den für das neue Vermögen angerufenen Richter auseinandersetzen muss. Dazu kommt, dass zwar die Pfändbarerklärung— ein neues Institut— ohne Mitwirkung der betroffenen Drittperson geschieht, diese aber sich bis zur effektiven Pfändung 32 SchKG 106 Abs. 1

652

der betreffenden Gegenstände entledigen kann. Ist aber die neue Pfändbarerklärung in Wirklichkeit doch mehr als ein Signal für den späteren Pfändungsbeamten, damit dieser nicht gewärtigen muss, es werde später Nichtigkeit der Pfändung angenommen, weil es sich um „offensichtlich im Eigentum des Schuldners stehende Gegenstände"33 handle? In diesem Falle wäre sie einem Arrestbefehl gleichzusetzen. Dann müsste aber auch die Einsprachemöglichkeit für den Betroffenen bestehen34. Die Kombination der Klage betr. neues Vermögen mit einer Anfechtungsklage hätte demgegenüber den Vorteil gehabt, dass — würden die Gegenstände fehlen — deren Wert ersatzweise bei der begünstigten Person eingefordert werden könnte35. Nach der jetzigen Ordnung muss bei Fehlen der Gegenstände eine Ersatzforderung des Schuldners gepfändet werden (deren Bestand übrigens fraglich ist) und es kommt zu einer Verwertung nach Art. 131 Abs. 2 SchKG, also zu einem an die Pfändung anschliessenden Verfahren, was mit der Lösung der Expertenkommission (Klage betr. neues Vermögen kombiniert mit Anfechtungsklage) gerade vermieden werden wollte. 4· Rechtsmittel a.

im gerichtlichen

Verjähren

Allgemeines

Nur in wenigen Fällen sieht das SchKG in gerichtlichen Verfahren einen Rechtsmittelweg selber vor. Zu den bisher bekannten Fällen (Konkurseröffnung, Wechselbetreibung und Nachlassverfahren) tritt jetzt derjenige des Weiterzugs eines Einspracheentscheides im Arrestverfahren. b. Rechtsvorschlag

in der

Wechselbetreibung

Art. 185 SchKG sagt nicht mehr aus als der bisherige; es bleibt zu erwähnen, dass immer noch die kurze Frist von fünf Tagen gilt. c.

Konkursdekret

Bei der bisherigen Berufung (neu: Weiterzug der Entscheidung) gegen das Konkursdekret ist einiges geregelt worden, was bisher teilweise die Praxis des Bundesgerichts oder diejenige der kantonalen Gerichte zu 33 BGE 84 II 79 34 SchKG 278 35 Fritzsche/ Walder (zit. Anm. 8) § 68 Rz 6

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

653

behandeln hatte, nämlich alles, was das Novenrecht betrifft. Unechte Noven sind gemäss Art. 174 Abs. 1 unbeschränkt zulässig, d. h. dass der Schuldner, welcher die Quittung nicht mehr fand, sie in zweiter Instanz nachbringen kann. Die bisher vom kantonalen Recht den Kantonen überlassene Behandlung des echten Novums der nachträglichen Tilgung ist jetzt Gegenstand von Art. 174 Abs. 2 SchKG. Danach kann das obere Gericht die Konkurseröffnung aufheben, wenn der Schuldner mit der Einlegung des Rechtsmittels seine Zahlungsfähigkeit glaubhaft macht und durch Urkunden beweist, dass inzwischen 1. die Schuld einschliesslich Zinsen und Kosten getilgt ist; 2. der geschuldete Betrag beim oberen Gericht zuhanden des Gläubigers hinterlegt ist, oder 3. der Gläubiger auf die Durchführung des Konkurses verzichtet. Die ausführliche Formulierung bringt den Begriff der Hinterlegung, der ja keine Tilgung ist. Die Botschaft des Bundesrates sagt dazu nichts aus. Es ist natürlich nicht so, dass der Schuldner mit der Hinterlegung eine neue Auseinandersetzung über den Bestand der Betreibungsforderung bewirken kann. Die Hinterlegung kann aber von Bedeutung sein, wenn andere Gründe dem Konkursbegehren in erster Instanz erfolglos entgegengehalten wurden, ζ. B. der Konkursrichter sei nicht zuständig oder die Forderung sei bereits durch Verrechnung getilgt. Um im Falle erneuten Unterliegens mit solcher Einwendung nicht in Konkurs gebracht zu werden, kann die Forderung zu Händen des Konkursgläubigers hinterlegt werden. Zahlungsfähigkeit ist auch glaubhaft zu machen, wenn ein Rückzug des Konkursbegehrens vorliegt. Das ist vernünftig, weil vom Moment an, da der Konkurs eröffnet wurde, unmittelbar die Interessen weiterer Gläubiger tangiert sind. d. Einspracheentscheid

im

Arrestverfahren

Hier sei lediglich angemerkt, dass nach dem Willen von Art. 278 Abs. 3 SchKG beim Weiterzug des Einspracheentscheides neue Tatsachen geltend gemacht werden können. Bezüglich der echten Nova kommt es dann allerdings darauf an, ob sie für den Entscheid überhaupt relevant sind, also ζ. B. auf die Frage, ob es bezüglich des Arrestgrundes allein auf den Zeitpunkt der Arrestnahme ankommt.

654

5. Gemeinsame α.

Fragen

Ausstandsrecht

Neu ist im Gesetz die Einfügung des Ausstandsgrundes der Befangenheit und der Einbezug der Mitglieder der Aufsichtsbehörden. Die Beurteilung streitiger Ausstandsbegehren hat durch die Stellvertreter im Amt zu erfolgen mit der Möglichkeit des Weiterzuges auf dem Beschwerdeweg; bei den Aufsichtsbehörden hat das betroffene Mitglied für die Beurteilung der Ausstandsfrage den Ausstand zu wahren. Wiederum ist auch da der Weiterzug an die obere Aufsichtsbehörde oder an das Bundesgericht gegeben. Auch wenn die Aufsichtsbehörden Gerichte sind, so hat das kantonale Ausstandsrecht hier keine Funktion. b. Verantwortlichkeit

der

Behördemitglieder

Die neue Ordnung bringt hier die in anderen Bereichen längst geltende Staatshaftung für Fehler der Beamten, bringt aber auch die Unterstellung der Gerichtsbehörden unter die Staatshaftung. Das führt dazu, dass je nach der Art des Verfahrens die Gerichte entweder der Haftung nach kantonalem Recht oder derjenigen nach Art. 5 SchKG unterstehen. Im Ergebnis dürfte dies nicht von grosser Bedeutung sein, wohl aber für die Kompetenz zur Entscheidung. Durch die Unterstellung dieser Streitfälle unter das Bundesrecht ergibt sich deren Beurteilung durch das Bundesgericht im Berufungsverfahren 36 . c.

Jfostenfragen

Welche Auseinandersetzungen kostenmässig nicht nach dem Recht des Prozesskantons beurteilt werden, ergibt sich aus der Gebührenverordnung. Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich bei gemischten Verfahren, so bei der Vollstreckung ausländischer Urteile (Exequaturverfahren) im Verhältnis zur Rechtsöffnung 37 .

36 Nach einer jüngst publizierten Entscheidung des Bundesgerichts ist die auf kantonales öffentliches Recht gestützte Haftungsklage auch im Falle von Art. 5 SchKG nicht vom Bundesrecht beherrscht. 37 Vgl. dazu H. U. Walder, Kollisionen von Rechtsbehelfen, in Festschrift für Anton Heini, Zürich 1995, S. 502f. Z. 6.

Rechtsbehelfe im schweizerischen Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

III.

655

Schlussfolgerung

In den hier behandelten Fragen hat sich die Revision des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes eher schuldnerfreundlich ausgewirkt. Sie ist auch etwas sozial ausgerichtet, sucht indessen Missbräuchen zu Lasten der Gläubiger zu steuern. In verfahrensrechtlicher Beziehung bringt sie Vereinfachungen, stellt aber auch die Beteiligten vor neue Probleme, die dadurch verschärft werden, dass immer noch auf kantonale Prozessbestimmungen Rücksicht genommen werden muss.

Vorläufiger Rechtsschutz in der Schweiz von

Prof. Dr. Gerhard Walter

Bern

Professor an der Universität Bern, Direktor des Instituts für Schweizerisches und Ausländisches Zivilprozessrecht

658

Inhaltsverzeichnis

I. Vorbemerkungen Α. Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen im allgemeinen B. Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen im Bereiche des vorläufigen Rechtsschutzes im besonderen C. Zum weiteren Vorgehen II. Fragenkatalog Part I : The types of relief available 1. For the protection of non-monetary claims 2. For the protection of money claims and subsequent money judgments 3. To what extent is such an order specific? Does the judge have a discretion to draft the Order? Please give an example how such an order might be drafted. Is any particular form prescribed by Rules of Court? 4. At what stage of the proceedings can such order be made; before the commencement of the substantive proceedings, after service, at any time before trial, or only after final judgment ? Can it be made ex parte ? 5. Can such relief be claimed against third parties? 6. What steps can be undertaken to enforce such an order? 7. May such an order be accompanied by any complementary order to disclose assets? Or does it by any other device, implied or express, empower the claimant to obtain the information about the respondent's assets? If not, are there other means available to obtain such information? 8. Does such an order or its enforcement confer any right of priority on the claimant? 9. Are the preconditions for the issuing of such measures specified by code, statute or rule or by case-law? 10. Does the court have any discretion whether to issue an interim measure of protection and/or as to its content? II. Will such an order be issued only if the plaintiff establishes reason to fear that assets will be removed or hidden or otherwise placed beyond the reach of the plaintiff? 12. Does the court's order imply or otherwise constitute any in rem effect? 13. To what extent can the criminal process be used to obtain speedier and more effective provisional and/or protective relief under the law of your country?

Vorläufiger Rechtsschutz in der Schweiz

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In seinem Beitrag über „Die zwei Typen des Zivilprozesses — Der Zivilprozeß im kontinentalen und im anglo-amerikanischen Rechtskreis — h a t Hideo Nakamura in bewundernswerter Klarheit und in meisterlicher Demonstration der profunden Kenntnis beider Rechtskreise die so grundlegend verschiedenen Denkweisen dargestellt, auf denen die Institutionen des kontinentalen und des anglo-amerikanischen Zivilprozesses beruhen. Er unterzog dabei den Zweck des Prozesses, den Streitgegenstand, die Lehre von den Prozeßparteien, den Beweis und die Aufgaben des Gerichtes im Verhältnis zur Legislative und zur Exekutive einer genauen vergleichenden Analyse.2 Bei eigenen rechtsvergleichenden Studien bin ich erneut auf diesen Beitrag gestoßen und möchte ihn deshalb zum Anlaß nehmen, zu Ehren von Hideo Nakamura auf die Unterschiede der beiden Rechtskreise im Bereich des vorläufigen (einstweiligen) Rechtsschutzes einzugehen. Zur folgenden Darstellung ist eine Erklärung erforderlich: Der Verfasser ist Mitglied im „Committee on International Civil and Commercial Litigation" der International Law Association (ILA), die sich unter dem Vorsitz des australischen Richters und Professors Dr. Peter Nygh in ihrem neuesten Projekt eben mit dem Thema „Provisional and Protective Measures in International Litigation" beschäftigt. Zur Vorbereitung der Arbeitssitzungen hat der Rapporteur, der englische Anwalt Dr. Campbell McLachlan, einen Fragebogen an die einzelnen Mitglieder des Komitees zur Beantwortung gesandt. Ich werde im folgenden die Fragen im Original, d. h. auf englisch wiedergeben und dann anhand der Rechtslage in der Schweiz auf deutsch beantworten. Dies soll auch eine Hommage an die sprachliche Vielseitigkeit des Geehrten darstellen, der sowohl auf deutsch wie auf englisch publiziert. Aus Platzgründen muß ich mich allerdings auf den nationalen Teil des Fragebogens beschränken und die Teile, die sich mit internationalen Aspekten des vorläufigen Rechtsschutzes beschäftigen, ausklammern. Allein schon aus der Fragestellung werden aber, so meine ich, schon die grundlegenden Auffassungsunterschiede der beiden Rechtskreise deutlich, und zwar auch für den rein nationalen Bereich.

* Frau Oberassistentin Dr. Sabine Kofmel danke ich sehr für ihre Mitwirkung an diesem Beitrag. 1 Abgedruckt in: Law in East and West / Recht in Ost und West, Festschrift zum 30-jährigen Jubiläum des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda Universität, Tokyo 1988, S. 299 ff. 2 A. a. O., insbes. S. 304 - S. 320.

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1.

Vorbemerkungen

Α. Kompetenzverteilung im allgemeinen

zwischen dem Bund und den

Kantonen

Die Schweiz ist ein Bundesstaat. Für die Kompetenz zur Gesetzgebung in dem uns interessierenden Bereich gilt dabei folgendes: ι• Art. 64 der Bundesverfassung (BV) 3 räumt dem Bund die Kompetenz zum Erlass des Privatrechtes ein und ermächtigt ihn zudem, das Betreibungsverfahren (= Verfahren der zwangsweisen Durchsetzung von Geldforderungen) und das Konkursrecht zu regeln. Die Organisation der Gerichte, das gerichtliche Verfahren und die Rechtsprechung liegen gemäss Art. 64 Abs. 3 BV hingegen in der Zuständigkeit der Kantone (= der Gliedstaaten, die den Bund bilden). 2. Widersprechen sich kantonales und Bundesrecht, geht das letztere vor (Bundesrecht bricht kantonales Recht; Art. 2 der Ubergangsbestimmungen der Bundesverfassung) 4 . B. Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen im Bereiche des vorläufigen Rechtsschutzes im besonderen ι• Als erstes gilt es festzuhalten, dass die Massnahmen zur Sicherung der Vollstreckung einer Geldforderung — gestützt auf Art. 64 Abs. 1 BV — abschliessend im Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) 5 geregelt sind. Das Bundesgericht hat in BGE 86 II 295 ausdrücklich festgehalten: „In welcher Weise die Vollstreckung von Geldforderungen gesichert werden kann, ist eine Frage des Bundesrechts (Art. 64 Abs. 1 BV, Art. 38 und 271 SchKG). Neben dem bundesrechtlich geregelten, an bestimmte Voraussetzungen gebundenen und in bestimmter Weise zu vollziehenden und zu prosequierenden Arrest (Art. 271 ff. SchKG) ist kein Raum für eine zu solcher Sicherung zu treffende einstweilige Verfügung des kantonalen Prozessrechts ...."6 3 Systematische Sammlung des Bundesrechts (SR) 101. 4 Saladin, Peter, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Loseblatt, April 1986, Art. 2 UeB, Rz. 5 ff. 5 SR 281. 1. 6 Zur Unterscheidung zwischen einstweiliger Verfügung und Arrest s. Amonn, Kurt,

Vorläufiger Rechtsschutz in der Schweiz

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Eine abschliessende Regelung enthält das SchKG aber nur für die Szc/zenmgsmassnahmen, nicht auch für die Leistungsmassnahmen, mit denen der Gesuchsgegner zu vorläufiger Zahlung verpflichtet werden kann 7 (dazu unten II 2 c). 2. Im übrigen Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes sind die Kompetenzen wie folgt verteilt: a. Ansicht des Bundesgerichtes Das Bundesgericht vertritt eine dualistische Theorie: Für die Frage, ob einstweiliger Rechtsschutz zu gewährleisten ist, ist das Bundesrecht massgeblich, soweit es sich um Massnahmen handelt, welche für die Dauer des Prozesses subjektive Rechte zu- oder aberkennen. Massregeln zur Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens fallen jedoch in die Zuständigkeit der Kantone, vorausgesetzt, diese Massregeln ergeben sich nicht aus dem Bundesrecht 8 . Dazu BGE 103 II 5: „Nach Bundeszivilrecht bestimmt sich, ob für einen sich daraus ergebenden Anspruch Rechtsschutz zu gewähren ist. Das gilt grundsätzlich auch für den Erlass vorsorglicher Massnahmen vor der rechtskräftigen Erledigung eines Prozesses (...), und zwar jedenfalls dann, wenn das Bundesrecht den Anspruch auf solche Massnahmen selber ausdrücklich regelt. Das ist hinsichtlich der vorsorglichen Massnahmen im Scheidungsprozess der Fall. Art. 145 ZGB9 schreibt vor, der Richter habe die für die Dauer des Prozesses nötigen vorsorglichen Massregeln, wie namentlich in bezug auf die Wohnung und den Unterhalt der Ehefrau, die güterrechtlichen Verhältnisse und die Versorgung der Kinder, zu treffen. Welches diese Massregeln im einzelnen sind, wird vom Gesetz (...) offen gelassen (...). Insofern als sich die zu treffenden Massnahmen nicht unmittelbar aus dem Bundesrecht ergeben, was nur für einen Teil derselben zutrifft, ist es Sache des kantonalen Prozessrechts, die Formen und Mittel zu bestimmen, die dem Richter zur Verwirklichung des bundesrechtlichen Anspruchs zur Verfügung stehen (...). Soweit sich allerdings

Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, Bern 1993 (zit.: SchKG), § 51, Rz. 35. 7 S. Stach, Patrick Α., Vorsorgliche Massnahmen nach Bundesrecht und st. gallischem Zivilprozessrecht, St. Gallen 1991, S. 76 mit weit. Hinw. 8 BGE (Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts, Amtliche Sammlung) 103 II 5; 104 II 179; dazu Habscheid, Walther J., Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, Basel et al. 1990 (zit.: ZPR), Rz. 618; Vogel, Oscar, Grundriss des Zivilprozessrechts, Bern 1992 (zit.: ZPR), Kapitel 12, Rz. 207. 9 Schweizerisches Zivilgesetzbuch, SR 210.

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die vorsorglichen Massnahmen nicht darauf beschränken, einen bestehenden Zustand aufrecht zu erhalten, sondern für die Prozessdauer subjektive Privatrechte zu- oder aberkennen, bedürfen sie diesbezüglich einer Grundlage im Bundesprivatrecht (...)." Dass das Bundesgericht für die Regelung des Verfahrens für den Erlass der vorsorglichen Massnahmen grundsätzlich die Kantone als zuständig erachtet, dürfte selbstverständlich sein (vgl. Art. 64 Abs. 3 BV; s. aber auch z.B. Art. 28 d und e ZGB, die bezüglich der vorsorglichen Massnahmen zum Schutze der Persönlichkeit das Verfahren regeln). b. Herrschende Lehre Die herrschende Lehre vertritt die Auffassung, der einstweilige Rechtsschutz unterstehe dem Bundesrecht, die Kantone hätten nur das Verfahren zu regeln. Die Frage, ob und in welcher Weise für ein im Bundesprivatrecht begründetes Recht einstweiliger Rechtsschutz durch vorsorgliche Massnahmen zu gewähren ist, richtet sich demzufolge allein nach Bundesrecht. Zur Hauptsache handelt es sich dabei um ungeschriebenes Bundesrecht10. Gesetzlich verankert sind beispielsweise die vorsorglichen Massnahmen zum Schutz der Persönlichkeit (Art. 28 c ZGB). Diese Meinung dient als Grundlage für die nachfolgenden Erörterungen. C. Zum weiteren

Vorgehen

Da innerhalb der Schweiz dem Kanton Zürich die grösste wirtschaftliche Bedeutung zukommt, wird im folgenden — soweit es um eine kantonale Regelung geht — hauptsächlich auf das System des vorsorglichen Rechtsschutzes gemäss der Zivilprozessordnung des Kantons Zürich hingewiesen werden. Die Zivilprozessordung des Kantons Zürich (ZPO ZH) stammt vom 13. Juni 1976, ebenso das zürcherische Gerichtsverfassungsgesetz (GVG ZH).

II.

Fragenkatalog

Part I: The types of relief available

10 Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 205; s. auch Habscheid, ZPR, Rz. 618; Hohl, Fabienne, La

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Please state what types of provisional and/or protective relief is available under your national law generally (ie in domestic cases): l. For the protection of non-monetary claims Die Massnahmen zum Schutz nicht pekuniärer Ansprüche lassen sich — entsprechend der bekannten Einteilung des deutschen Prozessrechts — in die folgenden drei Kategorien einordnen: 1. Sicherungsmassnahmen, 2. Regelungsmassnahmen und 3· Leistungsmassnahmen". a. Sicherungsmassnahmen Sicherungsmassnahmen sollen die künftige Vollstreckung eines Urteils sicherstellen; sie dienen der Erhaltung des bestehenden Zustandes während der Prozessdauer. Als Beispiele seien genannt12: aa. Stillegemassnahmen - Erlass eines Veräusserungsverbots 13 (vgl. §223 Ziff. 1 ZPO ZH) - Beschlagnahmung des Streitgegenstandes 14 (vgl. §223 Ziff. 2 ZPO ZH). bb. Vorsorgemassnahmen15 - Vormerkung von Verfügungsbeschränkungen im Grundbuch (Art. 960 ZGB) - Vormerkung von vorläufigen Eintragungen im Grundbuch (Art. 961 ZGB) - Anordnung der Sicherstellung bei der Erbschaftsklage (Art. 598 Abs. 2 ZGB) - Massnahmen zur Sicherung des Verbotes, ohne Zustimmung des andern Ehegatten über Vermögenswerte zu verfügen, einschliesslich Grundbuchsperre (Art. 178 Abs. 2 und 3). Zu Art. 178 ZGB, der im Scheidungsverfahren im Rahmen von vorsorglichen Massnahmen im Sinne von Art. 145 ZGB zumindest sinngemäss anwendbar ist, BGE 118 II 380: „Art. 178 ZGB (...) räumt dem Richter die Befugnis ein, die

realisation du droit et les procedures rapides, Fribourg 1994 (zit.rprocedures rapides), Rz. 499 t.\Jametti Greiner, Monique, ZBJV (Zeitschrift des bernischen Juristenvereins) 1994, S. 671. 11 Vgl. Vogel, Kap. 12, Rz. 192 ff.; Habscheid, ZPR, Rz. 611 ff.; Hohl, procedures rapides, S. 161 ff., Jametti Greiner, ZBJV 1994, S. 650 f. 12 S. Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 192 ff. 13 Vogel, ZPR, Kap, 12, Rz. 193 ; Habscheid, ZPR, Rz. 611. 14 Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 193. 15 Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 193 ; Habscheid, ZPR, Rz. 611.

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Verfügung über bestimmte Vermögenswerte auf Gesuch eines Ehegatten von dessen Zustimmung abhängig zu machen (Abs. 1). Vorausgesetzt ist einzig, dass die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen der Familie oder die Erfüllung einer vermögensrechtlichen Verpflichtung aus der ehelichen Gemeinschaft dies erfordert. Der Zweck dieser neu als Eheschutzbestimmung eingeführten Vorschrift dient der Sicherung u. a. von güterrechtlichen Ansprüchen, die in schweren Ehekrisen durch Vermögensverschiebungen gerade im Hinblick auf eine Auflösung der Ehe gefährdet werden können (...)" Mit den sichernden Massnahmen nach Art. 178 Abs. 2 ZGB soll der Erwerb eines von der Verfügungsbeschränkung betroffenen Vermögenswertes durch einen gutgläubigen Dritten nach Möglichkeit zum vornherein ausgeschlossen werden16. Nach Hausheer/Reusser/ Geiser17 geht es bei den sichernden Massnahmen gemäss Art. 178 Abs. 2 ZGB — abgesehen von deren Anordnung im Zusammenhang mit Art. 145 ZGB — jedoch um einen materiellrechtlichen Sicherungsanspruch und nicht bloss um einen vorsorglichen Rechtsschutz. Beispiele von sichernden Massnahmen gemäss Art. 178 Abs. 218: - Hinterlegung von beweglichem Vermögen mit Sperrvermerk beim Gericht, bei einer Bank oder bei einem dazu geeigneten Dritten, - richterliche Sperre über Guthaben bei Banken, Versicherungen und weiteren Schuldnern oder - Beschlagnahmung von bestimmten Vermögenswerten. - Zahlungsverbot bei Kraftloserklärungen (Artt. 982, 1072 OR19) - die vorsorglichen Massnahmen auf dem Gebiete des Persönlichkeitsschutzes nach A r t . 28 c - f ZGB. Dazu BGE 118 II 369 (Persönlichkeitsverletzung durch periodisch erscheinende Medien): die Richtigstellung (eines Artikels über die Scientology Kirche) auf dem Weg vorsorglicher Massnahmen ist nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des Rechts auf Gegendarstellung, Art. 28 g ZGB, nicht erfüllt sind. b. Regelungsmassnahmen Mit diesen Massnahmen soll für die Dauer des Prozesses ein Dauerrechtsverhältnis vorläufig gestaltet, „innerhalb desselben eine vorläufige Frie16 Hausheer, H e i n z / Reusser, R u t h / Geiser, Thomas, K o m m e n t a r zum Eherecht, Band 1, Bern 1988 (zit.: K o m m e n t a r zum Eherecht), Art. 178, Rz. 20. 17 K o m m e n t a r zum Eherecht, Art. 178, Rz. 20 mit weit. Hinw. 18 Hausheer/Reusser/Geiser, K o m m e n t a r zum Eherecht, Art. 178, Rz. 20. 19 Obligationenrecht, SR 200.

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densordnung

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hergestellt werden" 2 0 .

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Beispiele ·. - Regelung des Getrenntlebens, der Zuweisung der Ehewohnung, der Kinderzuteilung, des Besuchsrechtes und der Unterhaltsbeiträge ( b e t r i f f t F o r d e r u n g e n in Geld) im Ehescheidungsprozess (Art. 145 ZGB) 2 2 . In BGE 119 II 195 hat das Bundesgericht zu Art. 145 ZGB ausgeführt: „Im Verfahren um Erlass vorsorglicher Massnahmen nach Art. 145 ZGB sind für die Dauer des Scheidungsverfahrens die Folgen zu regeln, welche sich aus der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes ergeben (...). Dazu gehören auch Anordnungen im Hinblick auf die güterrechtliche Auseinandersetzung, die als solche jedoch nicht in diesem (summarischen) Verfahren vorzunehmen ist (...). So kann in einem Massnahmeverfahren die Verwaltung und Nutzung von Vermögenswerten festgelegt sowie die Verfügung darüber beschränkt werden, sofern die Gefährdung eines güterrechtlichen Anspruchs zumindest glaubhaft gemacht worden ist. Auf keinen Fall darf aber in einem solchen Verfahren über Ansprüche befunden werden, deren Beurteilung einzig im Hauptverfahren oder in einem separaten güterrechtlichen Prozess zu erfolgen hat. Die für die Dauer des Scheidungsprozesses getroffenen Anordnungen fallen nämlich mit Beendigung des Verfahrens grundsätzlich dahin ..." S. auch BGE 120 II 233: „Aus dem unter aa) Dargelegten darf indes nicht geschlossen werden, das Besuchsrecht könne im Rahmen der Scheidung ebenso provisorisch geregelt werden wie im Massnahmeverfahren nach Art. 145 ZGB. Im Gegensatz zum Massnahmeentscheid ergeht das Scheidungsurteil nicht im summarischen Verfahren. Im Scheidungsprozess ist der Sachverhalt bezüglich der Elternrechte und -pflichten vollständig abzuklären. Das Scheidungsurteil erwächst zudem in materielle Rechtskraft, was für den Massnahmeentscheid gar nicht oder nur beschränkt zutrifft (...). Während bei Art. 145 ZGB bereits eine andere Beurteilung der Gegebenheiten eine Abänderung der Massnahme rechtfertigen kann (...), vermögen nach ergangenem, formell und materiell rechtskräftigem Scheidungsurteil nur seit dem Urteil eingetretene Veränderungen der Verhältnisse dazu Anlass zu geben...." - v o r l ä u f i g e r E n t z u g der V e r t r e t u n g s b e f u g n i s eines Kollektivgesellschaf 20 Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 195. 21 Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 195; Habscheid, ZPR, Rz. 612. 22 S. ζ. B. BGE 120 II 1 (zum Anwendungsbereich vorsorglicher Massnahmen nach Rechtskraft der Scheidung).

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ters (Art. 565 Abs. 2 OR) - Massnahmen bei Klage auf Auflösung einer Kollektivgesellschaft (Art. 574 Abs. 3 OR), einer Aktiengesellschaft (Artt. 625 Abs. 2, 643 Abs. 3 OR) und einer Genossenschaft (Art. 831 Abs. 2 OR). Beispiele vorsorglicher Massnahmen gemäss Art. 574 Abs. 3 OR: - Verbot der Veräusserung von Vermögenswerten, - Sperre der Bezüge der Gesellschafter, - Hinterlegung des Gewinnes, - Entzug der Gechäftsführungsbefugnis und - Anordnungen zur Sicherung eines geordneten Geschäftsganges 23 . Als Beispiele für vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 643 Abs. 3 OR seien genannt: - Sicherstellung von Aktiven und Dokumenten, - Bestellung eines Sachwalters 24 .

c. Leistungsmassnahmen^ Leistungsmassnahmen dienen der vorläufigen Vollstreckung behaupteter Ansprüche während der Prozessdauer. Beispiele26: aa. Leistungsmassnahmen zur vorläufigen Vollstreckung von Unterlassungsansprüchen, wenn der Ansprecher von einer unrechtmässigen schädigenden Handlung bedroht ist - Verbot drohender Verletzungen der Persönlichkeitsrechte (Art. 28 c ZGB) - Verbot der Ausübung einer Konkurrenztätigkeit bei Glaubhaftmachung der Voraussetzungen von Art. 340 b Abs. 3 OR - im gewerblichen Rechtsschutz (Art. 77 PatG27, Art. 14 UWG28, Art. 13

23 Staehelin, Daniel, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht II: Art. 530-1186, hrsg. von Heinrich Honseil, Nedim Peter Vogt, Rolf Watter, Basel et al. 1994, Art. 575, Rz. 11 mit weit. Nachw. 24 Schenker, Franz, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht II: Art. 530-1186, hrsg. von Heinrich Honsell, Nedim Peter Vogt, Rolf Watter, Basel et al. 1994, Art. 643, Rz. 9. 25 Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 196 ff. 26 Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 199 ff. 27 Bundesgesetz betreffend die Erfindungspatente, SR 232. 14. 28 Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, SR 241.

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KG29, Art. 59 Abs. 2 MSchG 30 , Art. 62 Abs. 1 URG 31 ). Art. 77 PatG: „Zur Beweissicherung, zur Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes oder zur vorläufigen Vollstreckung streitiger Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche" kann die zuständige Behörde als vorsorgliche Massnahme insbesondere eine genaue Beschreibung der angeblich widerrechtlich angewendeten Verfahren oder hergestellten Erzeugnisse und der zur Herstellung dieser Erzeugnisse dienenden Einrichtungen, Geräte usw. oder die Beschlagnahme dieser Gegenstände anordnen. Zu Art. 77 PatG BGE 114 II 435: „Am 16. Mai 1988 stellten die Firmen R. und S. bezüglich eines patentierten Verfahrens zum Belegen textiler Unterlagen mit pulverförmigem Kunstharz ein Gesuch um vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 77 PatG. Sie beantragten dem Präsidenten des Obergerichts des Kantons Thurgau, der X. AG zur Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes und zur Beweissicherung jede Verwendung von Vorrichtungen zur Durchführung eines patentverletzenden Verfahrens zu untersagen, sie zur Offenbarung anzuhalten und die zur Patentverletzung verwendeten Vorrichtungen zu beschlagnahmen . "32 Man vgl. dazu BGE 114 II 368 (zu Art. 62 Abs. 1 URG): Die Alleinerbin des bekannten Schweizer Künstlers Le Corbusier ersuchte im Juli 1988 das Obergericht des Kantons Luzern, „A. die Wiedergabe und den Vertrieb von Le Corbusier-Werken, namentlich die Herausgabe einer Gedenkmedaille von 33 mm Durchmesser aus Anlass des 100. Geburtstags des Künstlers, wegen Verletzung von Urheber- und Markenrechten vorsorglich bei Strafe zu verbieten. Auf der einen Seite dieser Medaille ist das Porträt und die Unterschrift des Künstlers, auf der andern dessen Skulptur 'Petite Confidence ou La Biche' samt deren Bezeichnung plastisch wiedergegeben". Das Obergericht wies das Gesuch am 18. Juli 1988 ab. Es fand, es sei der Gesuchstellerin nicht gelungen, einen nicht leicht ersetzbaren Nachteil glaubhaft zu machen. Jedenfalls sei es fraglich, ob der Nachteil nur durch eine vorläufige Anordnung abgewendet werden könne. Das Bundesgericht sah in der Ablehnung des Gesuchs eine willkürliche Anwendung von Art. 53 Ziff. 1 URG (in der Fassung vom 7.12.1922; heute: Art. 62 Abs. 1 lit. a). Seiner Ansicht nach „liegt doch schon nach dem

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Bundesgesetz über Kartelle und ähnliche Organisationen, SR 251. Bundesgesetz ber den Schutz von Marken und Herkunftsangaben, SR 232. 11. Bundesgesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte, SR 231. 1. Hervorhebungen nicht im Original.

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eigenmächtigen Vorgehen des Beschwerdegegners nahe, dass Urheberrechte des Künstlers beeinträchtigt worden sind und der Beschwerdeführerin, die angeblich deren rechtmässige Inhaberin geworden ist, deshalb nicht leicht ersetzbare Nachteile drohen, wenn sie die unbefugte Wiedergabe der Skulptur ,La Biche' samt deren unverkennbaren Veränderungen weiterhin hinzunehmen hat."

bb. Leistungsmassnahmen zur vorläufigen Vollstreckung von positiven Leistungsansprüchen Ansprüche auf ein Tun: - Publikation einer Richtigstellung oder Gegendarstellung (Art. 28 g ff. ZGB) zwecks vorläufiger Vollstreckung des Anspruchs auf Beseitigung von Persönlichkeitsverletzungen 33 . - S. auch BGE 108 II 228 (Denner AG gegen Bierbrauerverein): Um die unter ihnen vereinbarte Preisbindung der zweiten Hand durchzusetzen, hatten der Schweizerische Bierbrauerverein (SBV) und seine Mitglieder die Denner AG mit einer Liefersperre belegt. Die Denner AG verlangte in der Folge beim Einzelrichter des Handelsgerichts des Kantons Zürich eine vorsorgliche Massnahme „und beantragte im wesentlichen, der SBV und seine Mitglieder seien zu verpflichten, den Boykott zu widerrufen". Ansprüche auf Geldzahlung: - dazu unten 2 c.

d. Beweissicherungsmassnahmen In der Lehre ist umstritten, ob die Beweissicherungsmassnahmen zu den vorsorglichen Massnahmen zu zählen sind34. Immerhin reihen manche Bestimmungen des Bundesrechtes bzw. kantonale Zivilprozessordnungen sie unter den vorläufigen Rechtsschutz ein. Art. 77 PatG beispielsweise führt die Beweissicherung als einen Zweck vorsorglicher Massnahmen ausdrücklich auf: „Zur Beweissicherung, zur Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes oder zur vorläufigen Vollstreckung streitiger Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche verfügt die zuständige Behör33 S. Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 200; nach Habscheid, ZPR, Rz. 614, handelt es sich hier allerdings um Regelungsverfügungen. 34 Verneinend z.B. Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz, 202; Walter, Gerhard, AJP (Aktuelle Juristische Praxis) 1992, S. 62; nach Habscheid, ZPR, Rz. 615, handelt es sich bei den Beweissicherungsmassnahmen um einstweilige Anordnungen.

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de auf Antrag eines Klageberechtigten vorsorgliche Massnahmen; ...". Das Bundesgericht stellt in BGE114 II 439 (vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 77 PatG) nicht klar, ob es sich bei der Beweissicherung generell um vorsorgliche Massnahmen handelt, weist aber auf die Auffassung von Isaak Meier hin, wonach „die Beweissicherung ohnehin nicht zu den eigentlichen vorsorglichen Massnahmen zählt." 2. For the protection of money claims and subsequent money judgments Auch insoweit gilt die oben bei 1. angegebene Einteilung in die drei Kategorien möglicher Massnahmen. a. Sicherungsmassnahmen Wie erwähnt, ist die Sicherung der künftigen Vollstreckung einer GeWforderung durch die bundesrechtliche Regelung des Arrestes abschliessend geregelt; eine einstweilige Verfügung (Sicherungsmassnahme) nach kantonalem Recht ist hier nicht möglich. Der Arrest gehört nach Ansicht von Walter / Bosch/Brönnimanri3* nicht zu den vorsorglichen Massnahmen als einstweiliger Rechtsschutz im engeren Sinne, sondern bildet einen eigenen Teilbereich des einstweiligen Rechtsschutzes im weiteren Sinne. b. Regelungsmassnahmen - Regelung der Unterhaltsbeiträge im Eheprozess (Art. 145 ZGB)36 - Anordnung der Hinterlegung im Prätendentenstreit (Art. 168 Abs. 3 OR). c. Leistungsmassnahmen Leistungsmassnahmen zur vorläufigen Vollstreckung von Ansprüchen auf Geldzahlung sind gemäss h. L. nur ausnahmsweise zulässig. Solche Ausnahmen sind37: - Unterstützungsleistungen (Art. 329 Abs. 3 ZGB) 35 Internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz, Bern 1991, S. 130. 36 Dazu: BGE 119 II 314 (Festsetzung der Unterhaltsbeiträge während des Scheidungsverfahrens); BGE 118 II 376 (Bemessung von Unterhaltsbeiträgen); BGE 118 II 225 (Unterhaltsbeitrag an eine Ehefrau, die im Konkubinat lebt); BGE 115 II 201 (rückwirkende Zusprechung von Unterhaltsleistungen im Scheidungsprozess); BGE 115 II 424 (Bemessung des Unterhaltsbeitrags); BGE 114 II 393 (Bemessung der Unterhaltsbeiträge). 37 Dazu Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 201; Habscheid, ZPR, Rz, 613: „Vorläufige Verurteilung (Befriedigungsverfügung)"; s. auch Hohl, procedures rapides, Rz, 575 ff.

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- die Verpflichtung zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen bei vermuteter Vaterschaft (Art. 283 ZGB) - A r t . 281 Abs. 2 ZGB38 (bei Feststehen des Kindesverhältnisses Verpflichtung zur Hinterlegung oder zur vorläufigen Zahlung von Beiträgen an das Kind). BGE 117 II 127: „Der Richter, der den beklagten Elternteil im Rahmen der vorsorglichen Massregeln nach Art. 281 Abs. 2 ZGB zur vorläufigen Zahlung angemessener Beiträge verurteilt, verpflichtet diesen zur vorzeitigen Erbringung der in der Sache selber eingeklagten Leistung. Er muss deshalb prüfen, ob die Voraussetzungen von Art. 277 Abs. 2 ZGB gegeben sind; blosses Glaubhaftmachen genügt ..." - Verpflichtung des Ehemannes zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen an die Ehefrau nach Eintritt der Teilrechtskraft des Scheidungsurteils im Scheidungspunkt. Grundlage für die vorsorgliche Massnahme sind der noch strittige Anspruch auf eine Rente nach Artt. 151/152 ZGB sowie die Gefahr, „dass die geschiedene Ehefrau in der Zwischenzeit unter Umständen der wirtschaftlichen Not preisgegeben wäre" (BGE 111 II 312)39. BGE 111 II 312: „Es entspricht ( . . . ) dem ureigensten Zweck einer vorsorglichen Massnahme, dass sie vorweg auf rechtlich abzusichernde Bedürfnisse eingeht, deren Berechtigung erst noch zu klären bleibt. Die Berechtigung einer vorsorglichen Massnahme liegt gerade in ihrer Eigenständigkeit gegenüber dem endgültigen Entscheid in der Sache selbst. Der endgültige Entscheid betreffend Unterhaltsbeiträge gemäss Art. 151 bzw. 152 ZGB wird möglicherweise erst längere Zeit nach Eintritt der Rechtskraft im Scheidungspunkt gefällt, so dass die geschiedene Ehefrau in der Zwischenzeit unter Umständen der wirtschaftlichen Not preisgegeben wäre. Von Bundesrechts wegen dürfen daher vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 145 ZGB in Fällen, da die Rechtskraft einstweilen erst im Scheidungspunkt eingetreten ist, nicht grundsätzlich und von vornherein ausgeschlossen werden." 3. T o what extent is such an order specific? Does the judge have a discretion to draft the Order? Please give an example how such an order might be d r a f t e d . Is any particular form prescribed by Rules of Court? 38 Hohl, procedures rapides, Rz. 576. 39 S. Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 201.

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a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen aa. Ist der Zivilprozess bereits rechtshängig, trifft das Gericht gemäss § 110 ZPO ZH „die geeigneten vorsorglichen Massnahmen". Der Gesetzgeber räumt dem Gericht bezüglich des Inhalts der vorsorglichen Massnahmen folglich ein Auswahlermessen ein40 (zum Entschliessungsermessen, also dem Ermessen bei der Frage, ob eine vorsorgliche Massnahme zu erlassen ist, unten Frage 10)· Sträuli/Messmern verweisen auf die im Bundesrecht sowie in § 223 Ziff. 1 und 2 ZPO ZH genannten Massnahmen. Bundesrechtliche Beispiele: - Art. 28 c Abs. 2 Ziff. 1 ZGB: Verbot einer Persönlichkeitsverletzung - Vormerkung von Verfügungsbeschränkungen und vorläufigen Eintragungen im Grundbuch, Artt. 960, 961 ZGB - Regelung der Unterhaltsbeiträge, Art. 145 ZGB Es gilt der Grundsatz der Verhältnismässigkeit: die Massnahme soll nicht weitergehen, als zum vorläufigen Schutz des glaubhaft gemachten Anspruchs nötig ist42. Ob der Richter an die Anträge des Gesuchsstellers gebunden ist, ist allerdings umstritten 43 . bb. Für den Fall, dass der Hauptprozess noch nicht angehoben ist, richten sich die einzelnen Möglichkeiten einer vorsorglichen Massnahme direkt nach § 222 f. ZPO ZH (Befehlsverfahren) 44 . Möglich sind (§223 Ziff. 1, 2 und 3 ZPO ZH): 1. Befehle und Verbote gegen bestimmte Personen unter Androhung von Rechtsnachteilen iSv §§ 306 ff. ZPO ZH; 2. Massnahmen, welche den Beklagten an der Verfügung über bestimmte Gegenstände hindern, wie eine Beschlagnahme, die Sperrung öffentlicher Register oder die Beauftragung eines Dritten mit der Wahrung von Parteiinteressen; 3. Zusprechung dinglicher Rechte an Grundstücken gemäss Artt. 665 und 963 ZGB. 40 S. Habscheid, ZPR, Rz. 619; vgl. Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 216. 41 Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, Zürich 1982 (zit.: KommZPO ZH), § 110, Rz. 12. 42 Sträuli/Messmer, KommZPO ZH, § 110, Rz. 12 mit Hinw. auf BGE 94 I 8; zum Grundsatz der Verhältnismässigkeit bei der Bestimmung des Umfangseiner Massnahme gemäss Art. 178 ZGB Hausheer/Reusser/Geiser, Kommentar zum Eherecht, Art. 178, Rz. 10. 43 Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 217. 44 S. dazu Sträuli/Messmer, KommZPO ZH, § 222, Rz. 20 ff.

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b. Arrest Der Arrest besteht ausschliesslich in der Beschlagnahmung von Vermögen des Schuldners45 (s. Art. 271 SchKG). Zum Ermessen bezüglich des Inhalts der Beschlagnahmung s. unten Frage 10 b. 4. At what stage of the proceedings can such order be made; before the commencement of the substantive proceedings, after service, at any time before trial, or only after final judgment? Can it be made ex parte? a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen Vorsorglicher Rechtsschutz kann den Parteien vor oder während des ordentlichen Prozesses gewährt werden46. Eine Zustellung der Klage (in der Hauptsache) oder des Gesuchs (um Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz) ist nicht erforderlich. aa. Vor Anhebung des Hauptprozesses ist § 222 Ziff. 3 ZPO ZH anwendbar (Befehlsverfahren vor dem Einzelrichter im summarischen Verfahren; selbständige vorsorgliche Massnahmen des Einzelrichters) 47 . BGE 108 II 229 (Denner AG gegen Bierbrauerverein): „Die Denner AG verlangte beim Einzelrichter im summarischen Verfahren des Handelsgerichts des Kantons Zürich eine vorsorgliche Massnahme (...)" Die vorsorgliche Massnahme kann ohne Anhörung des Prozessgegners angeordnet werden (§ 224 ZPO ZH; sog. „Superprovisorium") 48 . Voraussetzung ist einzig, dass der Kläger die Berechtigung glaubhaft macht. Das rechtliche Gehör des Gegners wird gewahrt durch die Gelegenheit zur nachträglichen Einsprache gemäss § 224 Abs. 2 ZPO ZH49. Kann dem Gegner Schaden zugefügt werden, ist auf sein Begehren hin eine Sicherheitsleistung anzuordnen (§ 227 ZPO ZH). bb. Nach Anhebung des Hauptprozesses gilt § 110 ZPO ZH50. (Unselbständige vorsorgliche Massnahmen im Prozess) 51 . Die Entscheidung ergeht in einem summarischen Verfahren, §§ 205 ff. ZPO ZH sind analog 45 46 47 48 49 50 51

Amonn, SchKG, § 51, Rz. 1. Vogel, ZPR, Kap. 12, Rz. 190, 219. S. Habscheid, ZPR. Rz, 619; Sträuli/Messmer, KommZPO ZH, § 227, Rz. 1. S. Habscheid, ZPR, Rz. 619. S. Sträuli/Messmer, KommZPO ZH, § 224, Rz, 4. Für Einzelheiten Habscheid, ZPR, Rz, 619. S. SträuliIMessmer, KommZPO ZH, § 227, Rz. 1.

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anwendbar52. cc. Das Superprovisorium (order ex parte) ist in § 110 Abs. 2 ZPO ZH geregelt: „In Fällen besonderer Dringlichkeit wird auf Antrag sofort eine vorläufige Anordnung getroffen, über deren Aufrechterhaltung als vorsorgliche Massnahme nach Anhörung der Gegenpartei entschieden wird. Dieser kann statt dessen eine Frist von höchstens zehn Tagen zur Einsprache angesetzt werden unter der Androhung, dass es im Säumnisfall bei der vorläufigen Anordnung sein Bewenden habe; die Einsprache soll kurz begründet werden." Eine ausdrückliche bundesrechtliche Regelung des Superprovisoriums findet sich z.B. in Art. 77 Abs. 3 PatG: „Bevor eine vorsorgliche Massnahme verfügt wird, ist die Gegenpartei anzuhören; ist Gefahr im Verzug, so kann schon vorher eine einstweilige Verfügung erlassen werden"™, b. Arrest Der Gläubiger kann das Arrestbegehren sowohl nach als auch vor Anhebung der Betreibung oder Klage stellen. Er muss jedoch — um die erreichte Beschlagnahmung nicht zu verlieren — den Arrest gemäss Artt. 278 f. SchKG prosequieren54; d.h. binnen einer (kurzen) Frist von zehn Tagen eine Klage erheben oder ein Betreibungsverfahren einleiten, wenn dies vor Erlass des Arrestes noch nicht geschehen war. 5. Can such relief be claimed against third parties? a. Sträuli / Messmer5S halten fest, dass sich eine vorsorgliche Massnahme nicht nur an eine der Prozessparteien, sondern auch an dritte Personen, welche den Streitgegenstand aufgrund eines obligatorischen oder dinglichen Rechts besitzen, richten kann. Beispiel: im Prätendentenstreit über eine Forderung Anordnung an einen Drittschuldner, die Forderungssumme zu hinterlegen (Art. 168 Abs, 3 OR). S. als weiteres Beispiel § 223 Ziff. 2 ZPO ZH: Die Verfügung im Befehlsverfahren kann bestehen in der „Beauftragung eines Dritten mit der Wahrung von Parteiinteressen". b. Für den Arrest gilt, dass Drittschuldner und Drittgewahrsamsinhaber 52 53 54 55

Sträuli/Messmer, KommZPO ZH, § 110, Rz. 34. Hervorhebung nicht im Original. S. Amonn, SchKG, § 51, Rz. 74 ff. KommZPO ZH, § 110, Rz. 13.

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des Arrestschuldners die mit dem Arrestbeschlag verbundene Zahlungsund Verfügungssperre beachten müssen, um sich vor Schaden zu bewahren56. BGE 108 III 114 : Gläubigerin Parabole S.A. erwirkte am 26· Januar 1982 beim Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich gegen die Societe Siag Hötels-Tourisme einen Arrestbefehl. Gestützt darauf arrestierte das zuständige Betreibungsamt bei der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA) die Vermögenswerte, die der Arrestschuldnerin zustehen (Akkreditivdokumente, Ansprüche aus Akkreditiven, sonstige Konten und Ansprüche). Von der SKA wird — als Drittgewahrsamsinhaberin und Drittschuldnerin — verlangt, „dass sie jene Guthaben sperre, von denen sie weiss oder wissen muss, dass sie der Arrestschuldnerin gehören,

Bei der Arrestierung von Forderungen oder Ansprüchen wird dem Schuldner des Arrestschuldners, also dem Drittschuldner, gemäss Art. 275 iVm Art. 99 SchKG angezeigt, dass er rechtsgültig nur noch an das Betreibungsamt leisten kann. 6. What steps can be undertaken to enforce such an order? a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen Bei den vorsorglichen Massnahmen sind wie im ordentlichen Zivilprozess zwei Stadien zu unterscheiden: „der Massnahmeprozess, eine Art Erkenntnisverfahren, der mit der einstweiligen Verfügung endet, und der Vollzug der angeordneten Massnahme, eine Art Vollstreckung" 58 . Die Vollstreckung geschieht nach kantonalem Recht59; z.B. gem. §§ 300 ff. ZPO ZH. Beispiel·. Bei einem Unterlassungsgebot gegen einen Journalisten liegt die Vollziehung einstweiliger Massnahmen in der Androhung und der Ausfällung einer Strafe iSv Art. 292 StGB oder einer Ordnungsbusse bei erfolgter Zuwiderhandlung (vgl. § 223 Ζ. 1 iVm § 306 Abs. 1 ZPO ZH)60. 56 57 58 59 60

Amonn, SchKG, § 51, Rz. 59. BGE 108 III 118. Habscheid, ZPR, Rz. 610. Vgl. Habscheid, ZPR, Rz. 610Habscheid, ZPR, Rz. 610.

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Vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 28 c ZGB werden gemäss Art. 28 e ZGB und damit von Bundesrechts wegen in allen Kantonen wie Urteile vollstreckt. b. Arrest Der Arrest wird nach den in Artt. 91-109 SchKG für die Pfändung aufgestellten Vorschriften vollzogen (Art. 275 SchKG) .61 7. May such an order be accompanied by any complementary order to disclose assets? Or does it by any other device, implied or express, empower the claimant to obtain the information about the respondent's assets? If not, are there other means available to obtain such information? a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen Vorsorgliche Massnahmen sind grundsätzlich auf den Streitgegenstand des Hauptprozesses bezogen (vgl. insbesondere die Sicherungsmassnahmen); sie erstrecken sich nicht auf anderes Vermögen des Schuldners62. Eine Offenlegung der Vermögensverhältnisse einer Partei im Rahmen der Anordnung vorsorglicher Massnahmen erfolgt höchstens dann, wenn im entsprechenden Verfahren ausnahmsweise nicht die Verhandlungs-, sondern die Untersuchungsmaxime gilt. Beispiel·. Vorsorgliche Massnahme gemäss Art. 145 ZGB, insbesondere Regelung des Unterhalts der Familie63. Im übrigen gelten im schweizerischen Zivilprozess weitgehende Pflichten zur Edition (Vorlage) von Urkunden (etwa Bankunterlagen über Einkommen bzw. Vermögen), die allenfalls auch mittels einer Beweissicherungsmassnahme (s. oben 1 d) durchgesetzt werden können. b. Arrest Wer die Sicherung seines Vollstreckungsanspruchs durch Arrest wünscht, muss die mit Arrest zu belegenden Vermögenswerte des Schuldners bezeichnen und ihren Standort angeben; ein Sucharrest ist unzulässig (Art. 274 Abs. 2 Ziff. 4 SchKG)M. Im Rahmen einer dem Arrest nachfolgenden Pfändung indessen ist der Schuldner gem. Art. 91 Abs. 1 SchKG verpflichtet, unter Straffolge „... seine Vermögensgegenstände anzugeben, mit Einschluss derjenigen, welche sich nicht in seinem Gewahrsam 61 62 63 64

Einzelheiten bei Amonn, SchKG, § 51, Rz. 38 ff. S. Jametti Greiner, ZBJV 1994, S. 666. Vgl. Sträuli/Messmer, KommZPO ZH, § 110, Rz. 36. Amonn, SchKG, § 51, Rz. 23.

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befinden, sowie seiner Forderungen und Rechte gegenüber Dritten." Gemäss Abs. 2 von Art. 91 SchKG sind dem Pfändungsbeamten auf Verlangen Räumlichkeiten und Behältnisse zu öffnen; nötigenfalls kann er Polizeigewalt in Anspruch nehmen. In BGE 102 III 6 hat das Bundesgericht festgehalten, dass der Gläubiger im Falle der (provisorischen) Pfändung von Vermögen des Schuldners bei einer Bank die zwangsweise Öffnung des vom Schuldner gemieteten Tresorfaches verlangen kann. 8. Does such an order or its enforcement confer any right of priority on the claimant? a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen Die Frage nach einem Vorrecht der eine vorläufige Massnahme beantragenden Partei stellt sich insbesondere bei den Sicherungsmassnahmen (ζ. B. bei der Beschlagnahmung des Streitgegenstandes). Ein Vorrecht des Antragstellers— in unserem Beispiel auf den beschlagnahmten Streitgegenstand — ist zu verneinen: Uber das endgültige Recht an dem beschlagnahmten Gegenstand entscheidet allein der endgültige Entscheid im Hauptprozess 65 ; die einstweilige Massnahme präjudiziert die Entscheidung des Hauptprozesses nicht66. S. dazu § 212 Abs. 3 ZPO ZH: „Ist die Berechtigung des Begehrens lediglich glaubhaft zu machen, ist das ordentliche Gericht an den Entscheid im summarischen Verfahren nicht gebunden." b. Arrest Der Arrest gewährt dem Gläubiger im Zwangsvollstreckungsverfahren kein Vorrecht auf Befriedigung aus dem Erlös der vorsorglich sichergestellten Vermögenswerte. „Alle anderen Gläubiger, die mit ihm in diesem Verfahren konkurrieren — sei es als Konkursgläubiger oder als Gläubiger derselben Pfändungsgruppe —, haben gleiches Recht darauf" 67 . Dem Arrestgläubiger stehen lediglich die folgenden zwei Privilegien zu (Art.

65 Vgl. Kummer, Max, Grundriss des Zivilprozessrechts, Bern 1984 (zit.: ZPR), S. 268 f. 66 Habscheid, ZPR, Rz. 623. 67 Amonn, SchKG, § 51, Rz. 51.

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281 SchKG) 68 : 1. provisorische Anschlusspfändung (Art. 281 Abs. 1 SchKG) im Hinblick auf eine Pfändung des Gegenstandes durch einen anderen Gläubiger 2. kann der Gläubiger die vom Arrest herrührenden Kosten aus dem Erlös der Arrestgegenstände vorwegnehmen (Art. 281 Abs. 2 SchKG). 9. Are the preconditions for the issuing of such measures specified by code, statute or rule or by case-law? a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen aa. Ubersicht Der Erlass vorsorglicher Massnahmen setzt regelmässig das Vorliegen der folgenden Voraussetzungen voraus 69 : 1. Wahrscheinliche Begründetheit des Hauptbegehrens (materiellrechtlicher Anspruch, Verfügungsanspruch)·, 2. drohender, nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil (Verfügungsgrund) ; 3- Glaubhaftmachung des Vorliegens dieser beiden Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen werden teils in den kantonalen Prozessordnungen genannt, nach der hier vertretenen Auffassung 70 bilden sie zudem (grösstenteils ungeschriebenes) Bundesrecht 71 . Für Zürich s. § 110 Abs. 1 ZPO72: „Das Gericht trifft die geeigneten vorsorglichen Massnahmen, wenn glaubhaft gemacht wird, dass einer Partei ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil, besonders durch Veränderung des bestehenden Zustands, drohe" und § 222 Ziff. 3 ZPO ZH: „zur Abwehr eines drohenden, nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteils,... falls diese Voraussetzungen glaubhaft gemacht werden ...". bb. Im einzelnen 1) Zum matenellrechtlichen Anspruch BGE 114 II 435 (vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 77 PatG): „Vorsorgliche Massnahmen können zur Beweissicherung, zur Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes oder zur vorläufigen Vollstreckung streitiger Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche ver68 69 70 71 72

Amonn, SchKG, § 51, Vgl. Vogel, ZPR, Kap. S. oben I Β 2 b. Vgl. Vogel, ZPR, Kap. Dazu Sträuli/Messmer,

Rz. 52 ff. 12, Rz. 209 ff. 12, Rz. 208, 211, 205. K o m m Z P O ZH, § 110, Rz. 6.

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fügt werden (Art. 77 Abs. 1 PatG). Dabei bedarf keiner weiteren Erörterung, dass vorsorgliche Massnahmen zum Schutz patentrechtlicher Defensivansprüche vom Bestand eines materiellen Schutzrechtes abhängig sind, ist der Rechtsbestand des angeblich verletzten Patentes doch Voraussetzung des Rechtsschutzes schlechthin. N i c h t i g e oder erloschene P a t e n t e lassen sich nicht d u r c h vorsorgliche M a s s n a h m e n schützen. Selbstverständlich ist weiter, dass— vorbehaltlich eines F o r d e r u n g s u n t e r gangs zufolge Verj ährung, Verwirkung oder aus andern Gründen— Schadenersatzansprüche aus Patentverletzung auch nach Ablauf der Schutzdauer noch geltend g e m a c h t w e r d e n können, s o f e r n die r e c h t s w i d r i g e H a n d l u n g in die Zeit des Patentschutzes fällt.... Streitgegenstand bildet diesfalls nicht mehr der reale Schutz des Patentes, sondern allein noch der Ausgleich wirtschaftlicher Beeinträchtigungen durch Schutzrechtsverletzungen." 73 Das Bundesgericht hatte nun zu prüfen, ob hiefür, insbesondere zur Sicherung der die Ansprüche stützenden Beweise, der vorsorgliche Rechtsschutz nach Bundesrecht ebenfalls zur Verfügung steht. Es verneinte die Frage: „Die Beweissicherung ist nach Sinn und Zweck von Art. 77 PatG nicht als selbständiges Institut zum Schutz aller beliebigen patentbezogenen Forderungen, sondern lediglich als besondere Gewähr zur Sicherung der Defensivansprüche zu betrachten." 74 2) Zum nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteil BGE 108 II 231 (zu Art. 9 Abs. 2 UWG in der Fassung vom 30.9.1943; Denner AG gegen Bierbrauerverein) : Der Denner AG droht durch die Liefersperre ein finanzieller Schaden im Sinne eines entgehenden Gewinnes. Zur Frage, ob es sich bei einem bloss finanziellen Schaden um einen nicht leicht ersetzbaren Nachteil im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UWG bzw. gleich oder ähnlich lautender Vorschriften in Prozessordnungen und anderen Spezialgesetzen des Bundes handelt, führt das Bundesgericht aus75: „Lehre und Rechtsprechung nehmen im allgemeinen einen nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteil an, wenn die Zahlungsfähigkeit der Gegenpartei zu Zweifeln Anlass gibt; LEUCH (..) und STRÄULI/MESSMER (..) möchten einen solchen Nachteil auch dann bejahen, wenn der drohende Schaden nicht leicht zu beweisen sein wird. Etwas weniger strenge Anforderungen an die Unersetzbarkeit des Nachteils stellen BLUM/PEDRAZZINI (...), und der Obergerichtspräsident des Kantons Basel-Landschaft scheint in einem Entscheid vom 22. Juni 1979 (...) bereits das Erfordernis einer Schadenersatzklage als unersetzlichen Nachteil anzusehen (...) c) (...) an die Unersetzbarkeit des Nachteils [müssen] grössere Anforderungen gestellt werden, wenn mit einer vorsorglichen Massnahme nicht allein der 73 BGE 114 II 436 f . ; Hervorhebungen nicht im Original. 74 Kritik dieser Entscheidung von Vogel, ZPR, Kapitel 12, Rz. 207. 75 BGE 108 II 231 f.

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bisherige Zustand sichergestellt, sondern bereits die vorläufige Vollstrekkung eines Anspruchs verlangt wird, über dessen Bestand der Zivilrichter im ordentlichen Verfahren erst in Zukunft wird befinden müssen. In solchen Fällen müssen die Interessen beider Parteien sorgfältig gegeneinander abgewogen werden ...". 3) Zum Erfordernis des Glaubhaftmachens beispielsweise BGE 118 II 377: „Im Verfahren betreffend vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Scheidungsprozesses gemäss Art. 145 ZGB genügt es, die behaupteten Tatsachen glaubhaft zu machen (vgl. § 110 Abs. 1 der Zürcher Zivilprozessordnung). Art. 8 ZGB [d. h. die allgemeine Beweislastregel] kommt daher in seinem eigentlichen Ausmass gar nicht zum Tragen ...". Weiter BGE 118 II 381 (bezüglich der analogen Anwendung von Art. 178 ZGB beim Eralass vorsorglicher Massnahmen im Scheidungsverfahren): „Allerdings ist es Sache der solche Sicherungsmassnahmen begehrenden Ehefrau, glaubhaft darzulegen, dass eine ernsthafte und aktuelle Gefährdung vorliege. Der Richter darf keinen strikten Beweis verlangen (...), sondern er hat sich im summarischen Verfahren mit der blossen Glaubhaftmachung einer Gefährdung zu begnügen (...). Die Gefährdung muss aufgrund objektiver Anhaltspunkte als wahrscheinlich erscheinen, und zwar in nächster Zukunft (...)." b. Arrest76 Die Voraussetzungen für den Arrest sind im SchKG (Artt. 271 f.) geregelt. Das Gesetz verlangt kumulativ 1. eine Arrestforderung (idR fällige Forderung, die nicht durch ein Pfand gedeckt ist), 2. einen Arrestgrund (ζ. Β. fehlender Wohnsitz des Schuldners in der Schweiz) — Arrestforderung und Arrestgrund müssen vom Gläubiger glaubhaft gemacht werden (Art. 272 SchKG) —, 3• einen Arrestgegenstand und 4• ein Arrestbegehren. io. Does the court have any discretion whether to issue an interim measure of protection and/or as to its content? a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen Sind die oben unter Frage 9 genannten Voraussetzungen für die Anord76 D a z u Amonn,

S c h K G , § 51, R z . 3 f f .

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nung einer vorsorglichen Massnahme erfüllt, ist das Gericht zu ihrer Anordnung verpflichtet. S. § 110 ZPO ZH: „Das Gericht tnfft die geeigneten vorsorglichen Massnahmen, wenn ...". Von einem Entschliessungsermessen des Richters kann hier keine Rede sein. Zu einem Fehlen eines solchen Ermessens führt auch die von Habscheid77 vertretene Auffassung, wonach aus dem Rechtsstaatsprinzip ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Sicherungs- und Regelungsverfügungen fliesst. Bezüglich des richterlichen Ermessens beim Inhalt der vorsorglichen Massnahme s. oben Frage 3. b. Arrest aa. Ermessen bezüglich der Bewilligung des Arrestes Hat der Gläubiger seine Forderung und das Vorhandensein eines Arrestgrundes sowie die Zugehörigkeit des von ihm bezeichneten Arrestgegenstandes zum Vermögen des Schuldners glaubhaft gemacht, ist der Arrest von der zuständigen Behörde zu bewilligen (Art. 272 SchKG)78. Der Behörde steht bezüglich der Bewiligung des Arrestes folglich kein Ermessen zu. bb. Ermessen bezüglich des Inhaltes des Arrestes Arrest bedeutet amtliche Beschlagnahmung von Vermögen des Schuldners79. Beschlagnahmt werden dürfen nur die im Arrestbefehl angeführten, im Betreibungskreis befindlichen Gegenstände80. Ermessen steht dem für den Vollzug des Arrestes zuständigen Betreibungsbeamten hinsichtlich der Reihenfolge der zu beschlagnahmenden Gegenstände und des Ausmasses der Beschlagnahmung nur ausserhalb eines Arrestes, also bei einer Pfändung, nicht aber beim Vollzug eines Arrestes selbst, zu. 11. Will such an order be issued only if the plaintiff establishes reason to fear that assets will be removed or hidden or otherwise placed beyond the reach of the plaintiff? a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen Aus der oben unter Frage 1 illustrierten Vielfalt möglicher vorsorglicher Massnahmen ergibt sich, dass eine solche Massnahme nicht nur bei Gefahr des Verschwindens von Vermögensgegenständen angeordnet wird. Zu denken ist etwa an die vorsorglichen Massnahmen auf dem Gebiete 77 78 79 80

ZPR, Rz. 618. S. auch Amonn, SchKG, § 51, Rz. 31. Amonn, SchKG, § 51, Rz. 1. Amonn, SchKG, § 51, Rz. 40.

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des Persönlichkeitsschutzes gemäss Artt. 28 c - f ZGB oder an die vorsorglichen Massnahmen gemäss Art. 145 ZGB (ζ. B. Regelung der Obhut über die Kinder). b. Arrest Einen Arrestgrund stellt zwar das Beiseiteschaffen/Verstecken von Vermögensgegenständen dar. Arrest kann aber nicht nur in einem solchen Fall (Art. 271 Abs. 1 Ziff. 2), sondern in sämtlichen in Art. 271 Abs. 1 SchKG genannten Fällen verlangt werden, beispielsweise auch dann, wenn der Schuldner nicht in der Schweiz wohnt (Ausländerarrest, Ziff. 4). Die blosse Tatsache des Wohnsitzes des Schuldners ausserhalb der Schweiz und der Belegenheit von Vermögenswerten des Schuldners innerhalb der Schweiz ergibt also einen Arrestgrund — ohne dass die Gefahr einer Gefährdung von Gläubigerrechten dargetan werden müsste. 12. Does the court's order imply or otherwise constitute any in rem effect? a. Vorsorgliche Massnahmen zum Schutze nicht pekuniärer Forderungen Eine dingliche Wirkung, d.h. Wirkung erga omnes und nicht nur inter partes, haben insbesondere die folgenden vorsorglichen Massnahmen: Veräusserungsverbot im Sinne eines Verfügungsverbotes·, dem Eigentümer einer Sache wird mit der vorsorglichen Massnahme verboten, an dieser Sache das Eigentum zu Ubertragen81. Dieses Verbot gilt für Veräusserungen der Sache an jeden beliebigen Dritten und gilt insofern dinglich. Es ist allerdings zu beachten, dass der gutgläubige Dritte gemäss Art. 933 ZGB gleichwohl Eigentum an der Sache erwerben kann. So jedenfalls ausdrücklich Hausheer/Reusser/Geiser*2 hinsichtlich der Verfügungsbeschränkung gemäss Art. 178 Abs. 1 ZGB: „Wurde trotz richterlicher Verfügungsbeschränkung eine bewegliche Sache im Besitz des Eigentümers belassen und veräussert sie dieser, ist der gutgläubige Erwerber (..) geschützt (...). Die Sache ist dem aus der Verfügungsbeschränkung Berechtigten nicht abhanden gekommen (...). Sie muss dem Eigentümer als im Sinne von Art. 933 ZGB anvertraut gelten"; dem gutgläubigen Dritten gegenüber entfaltet die Verfügungsbeschränkung gemäss Art. 178 ZGB also keine Wirkung83. Verfügungsbeschränkungen, die gemäss Art. 960 ZGB im Grundbuch vor81 Vgl. Hausheer/Reusser/Geiser, Kommentar zum Eherecht, Art. 178, Rz. 11. 82 Kommentar zum Eherecht, Art. 178, Rz. 13. 83 Hausheer/Reusser/Geiser, Kommentar zum Eherecht, Art. 178, Rz. 18.

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gemerkt werden, erhalten im Gegensatz dazu gemäss Abs. 2 von Art. 960 ZGB Wirkung gegenüber jedem später erworbenen Rechte; nachherige Eintragungen können keine nachteiligen Wirkungen mehr für das vorgemerkte Recht nach sich ziehen84. - Vormerkung von vorläufigen Eintragungen im Grundbuch (Art. 961 ZGB). Die vorläufigen Eintragungen geschehen gemäss Art. 961 Abs. 2 ZGB mit der Folge, dass das Recht für den Fall seiner späteren Feststellung vom Zeitpunkte der Vormerkung an dinglich wirksam wird. b. Arrest Für den Vollzug des Arrestes gelten aufgrund von Art. 275 SchKG die Vorschriften für die Pfändung in Artt. 91-109 SchKG. Der Arrest hat demnach die folgenden hier interessierenden Wirkungen: - Verfügungsverbot über die arrestierte Sache. Vorbehalten ist allerdings der Besitzerwerb durch gutgläubige Dritte (Art. 96 Abs. 2 SchKG). - Bei arrestierten Grundstücken erfolgt eine Vormerkung der Verfügungsbeschränkung im Grundbuch gemäss Art. 960 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB (Art. 101 SchKG). Es gilt also das unter a. Gesagte. 13· To what extent can the criminal process be used to obtain speedier and more effective provisional and/or protective relief under the law of your country? a. Zum Verhältnis zwischen Strafverfahren und Zivilverfahren 85 : Der Zivilrichter hat das Recht, das Zivilverfahren einstweilen einzustellen, um den Ausgang eines Strafverfahrens abzuwarten, das für die Beurteilung des Streitgegestands Material liefern könnte. Da die Anordnung vorsorglicher Massnahmen jedoch rasch erfolgen soll86, fällt hier eine solche Aussetzung des Verfahrens ausser Betracht. b. Zum Verhältnis zwischen Strafurteil und Zivilverfahren 87 : Der Zivilrichter ist nicht an freisprechende Strafurteile (Art. 53 Abs. 1 OR) und bezüglich verurteilender Strafurteile nicht an deren Beurteilung der Schuld und die Bestimmung des Schadens (Art. 53 Abs. 2 OR) gebunden. 84 Tuor, Peter / Schnyder, Bernhard / Schmid, Jörg, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, Zürich 1995, S. 648. 85 S. Habscheid, ZPR, Rz. 152. 86 Vgl. Kummer, ZPR, S. 269. 87 S. Vogel, ZPR, Kap. 1, Rz. 40 mit Hinw. auf BGE 107 II 158; Habscheid, ZPR, Rz. 149151.

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Im übrigen steht es den Kantonen frei, die Verbindlichkeit eines Strafurteils für den Zivilrichter vorzusehen, insbesondere was die Feststellung der T a t als solcher und deren Widerrechtlichkeit betrifft. Die frühere Zürcher Praxis legte Art. 53 OR im Umkehrschluss im Sinne einer Bindung des Zivilgerichts an die Feststellung der Tat und der Widerrechtlichkeit durch den Strafrichter aus. Von dieser Praxis ist das Zürcher Obergericht inzwischen abgerückt88. Aufgrund dieser fehlenden Bindung des Zivilrichters an das Urteil des Strafrichters können die Parteien im Verfahren der vorsorglichen Massnahme aus einem Strafurteil keine Vorteile für sich ableiten.

88 Hinweise auf die einschlägige Rechtsprechung bei Habscheid, ZPR, Rz. 150.

Geständnis zu eigenen Lasten und zu Lasten Dritter? von

Prof. Dr. Manfred Wolf

Frankfurt a. M.

Professor an der Universität Frankfurt

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Inhaltsverzeichnis

I. Geständnis und Wahrheitspflicht II. Geständnis und Parteivernehmung 1. Typische Fallsituationen 2 . Schutz des außenstehenden Dritten 3 . Vorliegen und Fehlen eines Geständniswillens

Geständnis zu eigenen Lasten und zu Lasten Dritter?

I. Geständnis und

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Wahrheitspflicht.

Die privatrechtliche Privatautonomie setzt sich im Zivilprozeß im Dispositions - und Verhandlungsgrundsatz fort und rechtfertigt auch eine weitgehende Parteiautonome im zivilgerichtlichen Verfahren. Es läßt sich kaum rechtfertigen einer Partei, die außerhalb des gerichtlichen Verfahrens ihre Rechtsbeziehungen durch Verträge in selbstbestimmter Weise ordnen und gestalten kann, diesen Einfluß im gerichtlichen Verfahren zu verwehren. Vor diesem Hintergrund muß auch das Verhältnis von Geständnis und Wahrheitspflicht gesehen werden mit der Folge, daß eine Partei einen ihr günstigen oder ungünstigen Tatsachenvortrag des Gegners zugestehen kann ohne Rüchksicht darauf, ob dieser Vortrag der Wahrheit entspricht oder nicht 1 . Wer einen Kaufvertrag schließen oder einen Geldbetrag auch ohne eine entsprechende Verpflichtung bezahlen kann, muß auch die Behauptung des Gegners ohne Rücksicht auf die Wahrheit zugestehen können, ein Kaufvertrag sei zustande gekommen, und sich ζ. B. nur mit Einwendungen und Einreden verteidigen können. Ebenso muß die Partei einen die Schadensersatzpflicht begründenden Eingriff zugestehen können. Es macht keinen Sinn, den Parteien vor Gericht zu versagen, was sie außerhalb des Gerichts rechtswirksam vornehmen können. Der Einwand, daß es nicht der Stellung des Richters entspreche, solche Manöver hinzunehmen2, bewertet die Richtermacht höher als die Parteiherrschaft, was jedoch der Grundentscheidung der ZPO für die Verhandlungsmaxime und gegen die Ermittlung von Amts wegen nicht entspricht, denn dem Richter stehen im Zivilprozeß außer bei offenkundigen Tatsachen keine Möglichkeiten zur Wahrheitsermittlung eines Geständnisses zur Verfügung. Wenn dem Richter weder bei bestrittenem noch bei nichtbestrittenem (§ 138 Abs. 3 ZPO) Vortrag Aufklärungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, so ist nicht zu sehen, wie er zum einen ein 1 S. BGHZ 37, 154; MünchKomm ZPO/Prutting, 1992, § 288 Rz 3 ; Stein/Jonas/ Leipold, ZPO, 20. Aufl. 1985, § 288 Rz 2 3 ; E. Schneider MDR 1975, 444 ; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 114 I 1 e ; Thomas/Putzo, 19. Aufl. 1995, § 288 Anm. 3 b c c ; Schilken, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1995, Rz 422. 2 MiinchKommZPO/Pefe«; § 138 Rz 13 m. w. N . ; A k - Z P O / S c h m i d t § 138 Rz 2 6 ; Martens JuS 1974, 788 ; Olzen ZZP 98 (1985), 403, 415 ff; Bernhardt JZ 1963, 245-

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unwahres Geständnis überhaupt aufdecken soll und wie zum anderen selbst ein unwahres Geständnis anders als ein Nichtbestreiten nach §138 Abs. 3 ZPO behandelt werden soll. Darüberhinaus beeinträchtigt es weder das Ansehen noch die Würde des Gerichts, wenn der Richter in Anerkennung der Privatautonomie die Parteien über ihr Rechtsverhältnis eigenverantwortlich verfügen läßt. Es ist deshalb daran festzuhalten, daß abgesehen vom Fall des gegen offenkundige und unmögliche Tatsachen3 verstoßenden Geständnisses, jedes Geständnis ohne Überprüfung seines Wahrheitsgehalts vom Richter zu beachten ist.

II. Geständnis und

Parteivernehmung

Der Vorrang der Parteiautonomie vor der Wahrheitspflicht hat lange Zeit auch die Rechtsprechung bei ihrer Auffassung bestimmt, daß eine Aussage im Rahmen einer Parteivernehmung Geständniswirkung entfalten kann und damit der Beweiswürdigung gemäß § 453 Abs. 1 ZPO entzogen ist, wenn diese Aussage eine vom Parteigegner vorgetragene Behauptung bestätigt". Diese Auffassung, die in der Literatur nie auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist5, hat in einer neueren Enstcheidung auch der BGH geändert und den Aussagen im Rahmen einer Parteivernehmung die Fähigkeit abgesprochen, die Wirkung eines Geständnisses nach sich ziehen zu können6. 1. Typische

Fallsituationen.

Die Konstellation, zwischen freier Beweiswürdigung bei der Parteienvernehmung und Bindung an ein Geständnis entscheiden zu müssen, ist nicht typisch. Wenn eine Partei etwas zugestehen will, so wird sie dies nicht erst in der Parteivernehmung tun, die als Mittel der Beweiser3 Ein Geständnis läßt die h. M. insoweit nicht zu, s. BGH N J W 1979, 2089 ; MünchKomm ZPO/Prutting § 288 Rz 4 ; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, §288 Rz 21 f. 4 BGHZ 8 , 235; s. auch BGH LM § 141 ZPO Nr. 2 ; BGH VersR 1965, 287, 288; 1966, 266, 270; BGH N J W 1987,1947; M ü n c h K o m m Z P O / P r u t t i n g , § 288 Rz 26; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 124 I 3. 5 Gegen die Möglichkeit eines Geständnisses Lent N J W 1953, 622 ; Stein/Jonas/ Leipold, ZPO, 20. Aufl. 1985, § 288 Rz 12 ; Wiezorek, ZPO, 2. Aufl., 1975,. § 288 Anm. Β III a ; Orfanides N J W 1990, 3174. 6 BGH LM H. 8 / 1995 § 288 Nr. 11 m. abl. Anm. Wax.

Geständnis zu eigenen Lasten und zu Lasten Dritter?

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hebung ja ein vorangehendes Bestreiten voraussetzt. Vielmehr wird die Partei im Normalfall gleich von Anfang an ihren Vortrag so gestalten, daß sie zugesteht (§ 288 ZPO) oder nicht bestreitet (§ 138 Abs. 3 ZPO), so daß die Notwendigkeit für eine Beweiserhebung und Parteivernehmung gar nicht entsteht. Es ist deshalb zu fragen, in welchen Prozeßsituationen es überhaupt zu dem Problem des Geständnisses im Rahmen einer Parteivernehmung kommt. Dabei kehrt vor allem eine Fallkonstellation immer wieder. Es handelt sich um Haftpflichtfälle, bei denen zwar der Schädiger formal als Partei verklagt wird, in Wirklichkeit aber die dahinter stehende Haftpflichtversicherung den Prozeß führt, indem sie insbesondere dem Beklagten den Anwalt stellt und durch diesen den Klageanspruch zum Zwecke ihrer eigenen Entlastung abzuwehren bemüht ist7. Dabei kann es sein, daß die beklagte Partei an sich die anspruchsbegründenden Tatsachen wahrheitsgemäß oder aus Gefälligkeit für den Kläger anerkennen will, der Anwalt aber diese Tatsachen im Interesse der Versicherung bestreitet. Zwar könnte die Partei, auch wenn sie in Prozessen mit Anwaltszwang nicht postulationsfähig ist, ein Geständnis auch ohne und sogar gegen den Anwalt abgeben. Dies entnimmt die h. M.8 zu Recht aus dem Grundgedanken des § 85 Abs. 1 S. 2 ZPO. Wenn die Partei jedoch nicht aus eigener Initiative oder auf gerichtliche Anordnung (§ 141 ZPO) in der mündlichen Verhandlung erscheint oder wenn sie dort schweigt, weil sie nicht befragt wird, so verbleibt es beim bestreitenden Vortrag des Anwalts und der Kläger kann nur noch durch den Antrag auf Parteivernehmung gemäß § 445 ZPO die Aussage des Beklagten vor Gericht erreichen, wobei der Interessengegensatz zwischen dem Beklagten und seiner Haftpflichtversicherung dann in der Parteivernehmung in Erscheinung tritt. Weitere Fallkonstellationen, in denen ein Geständnis erst nach vorausgegangenem Bestreiten in der Parteivernehmung in den Prozeß eingeführt wird, sind möglicherweise denkbar, aber sicher selten. Typisch für sie erscheint ein Interessengegensatz zwischen der Partei und ihrem Anwalt, der außergerichtlich zugleich die Interessen eines Dritten vertritt, dem das Geständnis nachteilig ist. Die freie Beweiswürdigung des „Geständnisses" dient dabei zugleich dem Zweck, ein Zusammenwirken der Parteien mit unberechtigten Nachteilen zu Lasten des außenstehenden Dritten zu verhindern. 7 S o offenbar durchweg die Konstellation in BGHZ 8, 235 ; BGH VersR 1965, 287; 1966, 269 ; BGH N J W 1987, 1947 ; BGH LM H. 8 / 1995 §288 ZPO Nr. 11. 8 MünchKomm ΖΫΟ/υ. Mettenheim, § 85 Rz 5 und Prutting § 288 Rz 26 ; Stein/Jonas/ Bork, ZPO, 21. Aufl. 1993, § 78 Rz 40.

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Die Partei selbst bedarf keines Schutzes gegen sich selbst und kann deshalb an ihr Geständnis gebunden werden. 2. Schutz des außenstehenden

Dritten.

Geht es nach der Interessenlage in erster Linie um den Schutz des außenstehenden Dritten, so fragt sich, ob dafür nicht andere Mittel und Wege zur Verfügung stehen. a) Die bindende Wirkung des Geständnisses entfällt nach allgemeiner Meinung im Fall des kollusiven Zusammenwirkens der Parteien zum Nachteil Dritter9. Ein solches Verhalten erfüllt den Tatbestand des § 826 BGB und verpflichtet nach § 249 BGB die Schädiger zugleich zur Beseitigung der nachteiligen Folgen mit der Konsequenz, daß das Geständnis keine Wirkung entfalten darf. Die Voraussetzungen des kollusiven Zusammenwirkens, das das bewußte Handeln zum Nachteil eines Dritten verlangt, wofür Fahrlässigkeit nicht ausreicht, dürften aber nicht immer leicht zu beweisen sein, so daß ein Bedürfnis nach anderweitigen Mögichkeiten des Schutzes für Dritte besteht. b) Der beste Schutz des Dritten ergibt sich aus den subjektiven Grenzen der Rechtskraft, die gemäß § 325 ZPO grundsätzlich nur für und gegen die Parteien wirkt. Ein Geständnis des Beklagten, das zu seiner Verurteilung führt, berührt deshalb aus prozessualer Sicht nicht einen regreßpflichtigen Dritten, auch nicht eine Haftpflichtversicherung. Die Tatsachen, auf die sich das Geständnis bezieht, sind darüberhinaus von vornherein nicht von der Rechtskraft erfaßt. Auch bei einfachen Streitgenossen im Falle gesamtschuldnerischer Haftung wirkt ein Geständnis gemäß § 61 ZPO nicht zu Lasten der anderen Streigenossen10. Die Stellung des Dritten wird auch im Falle einer Nebenintervention oder Streitverkündung insofern gesichert, als die Interventionswirkung des § 68 ZPO nicht eintritt bezüglich eines von ihm nicht gebilligten Geständnisses der Partei11. Die ihm nachteiligen Folgen eines Geständnisses der 9 BGHZ 57, 156; BGH VersR 1970, 826, 827; OLG Frankgurt/M. VersR 1978, 260: Stein/Jonas/Leipold, ZPO 20. Aufl. 1985, § 288 Rz 23; MüchKommZPO/Prattz'wg, § 288 Rz 34 ; E. Schneider MDR 1991., 299; Thomas/Putzo, ZPO, § 288 Anm. 3 b c c ; weitergehend offenbar Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 114 I 1 e : „auf einen Betrug abzielt." 10 S. BGH NJW 1982, 887 ; MünchKomm ZPO/Schilken, § 61 Rz 4 ; Stein/Jonas/Bork, ZPO, 21. Aufl. 1993, § 61 Rz 3. 11 BGH NJW 1976, 292, MünchKomm ZPO/Schilken § 68 Rz 21; Stein/Jonas/Bork, ZPO, 21. Aufl. 1993, § 68 Rz 6, 8.

Geständnis zu eigenen Lasten und zu Lasten Dritter?

691

Partei muß sich der Dritte deshelb nicht entgegenhalten lassen, wenn er dem Geständnis entgegen getreten ist bzw. nicht entgegen treten konnte. Das Prozeßrecht verhindert damit ein Geständnis zu Lasten Dritter, ohne daß es des Mittels der Beweiswürdigung im Rahmen der Parteivernehmung bedarf. c) Für die Versicherung ergibt sich eine abweichende Situation insofern, als sie aufgrund des Versicherungsvertrags, ζ. B. in Verbindung mit § § 1, 3 II Nr. 1 AHB oder mit § 10 AKB, grundsätzlich zur Ersatzleistung im Falle einer gerichtlichen Verurteilung des Versicherungsnehmers verpflichtet ist. Der Versicherungsvertrag überspielt deshalb die prozessualen Barrieren und begründet eine Verpflichtung über die Grenzen der Rechtskraft und Interventionswirkung hinaus. Gegen ein Geständnis zu Lasten der Versicherung als Dritter sieht aber auch das Versicherungsrecht einen Schutz vor. Nach § 5 Nr. 3 und 4 AHB (ähnlich § 7 II Nr. 5 AKB) ist der Versicherungsnehmer zur Klarstellung des Schadensfalls und zur Schadensabwendung verpflichtet und muß im Falle eines Prozesses die Prozeßführung dem Versicherer und dem von der Versicherung gestellten Anwalt überlassen, dessen Prozeßführung er nicht durchkreuzen darf 12 . Ein Verstoß gegen diese Obliegenheit befreit die Versicherung nach § 6 AHB und nach § 62 VVG von ihrer Leistungspflicht. Voraussetzung ist allerdings, daß ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten des Versicherungsnehmers zu einer Belastung der Versicherung führt, die ohne dieses Verhalten nicht entstanden wäre. Ein Schadensersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung wegen fahrlässiger Verletzung einer Pflicht aus dem Versicherungsvertrag wird von der h. M. daneben nicht zugelassen13. Die Leistungsbefreiung nach § 6 AHB und § 62 VVG tritt danach zwar unter einfacheren Voraussetzungen ein als beim kollusiven Zusammenwirken, weil nicht nur Vorsatz, sondern auch grobe Fahrlässigkeit die Leistungspflicht entfallen läßt. Zudem trägt der Versicherungsnehmer die Beweislast dafür, daß ihm nicht Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt. Es kann aber auch bei einem unwahren Geständnis dieser Entlastungsbeweis gelingen, wenn der beklagte Versicherungsnehmer ohne Verschulden oder mit einfacher Fahrlässigkkeit eine falsche Aussage gemacht hat. Der Versicherer wäre deshalb besser geschützt, 12 S. dazu auch Voit in Pro Iss / Martin, VVG, 25. Aufl. 1992, § 5 AHB Anm. 3 b und d. 13 S. Prölss/Martin, VVG, § 62 Anm. 4 ; s. auch § 6 Anm. 4 ; anders jedoch § 6 Anm.

11.

692

wenn die Aussage bei der Parteivernehmung im Wege der Beweiswürdigung als unrichtig bewertet werden könnte, ohne daß der Richter hieran durch die Annahme eines Geständnisses gehindert wäre. Es fragt sich deshalb, ob eine solche Beweiswürdigung eines „Geständnisses" im Rahmen der Parteivernehmung zuzulassen ist. 3. Vorliegen und Fehlen eines

Geständniswillens.

a) Ausgehend von der Parteiautonomie, die als Fortsetzung der materiellrechtlichen Privatautonomie und Rechtsausübungsfreiheit den Parteien zu Recht die Disposition über den Prozeßstoff zuerkennt, kann ein den Richter bindendes Geständnis im Rahmen der Parteivernehmung nicht von vornherein und generell ausgeschlossen werden. Es wäre ein unnötiger und nicht zu rechtfertigender Formalismus, wenn die Partei ein Geständnis zwar außerhalb, nicht aber in der Parteivernehmung vornehmen könnte, wie dies teilweise vertreten wird14. Die mündliche Verhandlung stellt eine Einheit dar, die nicht in Teilabschnitte mit mehr oder weniger Parteiautonomie zerlegt werden kann. Ein berechtigter Kern mag in der Ablehnung eines Geständnisses im Falle der Parteivernehmung jedoch insofern liegen, als das Geständnis eine bestimmte Willensrichtung erfordert, die bei der Parteivernehmung nicht ohne weiteres anzunehmen ist15. Darin liegt aber eine entscheidende Akzentverschiebung insofern, als das Vorliegen eines Geständnisses im Rahmen der Parteivernehmung nicht generell als unmöglich angesehen wird, sondern als Ausfluß der Parteiautonomie grundsätzlich möglich ist, im Einzelfall aber vom Vorliegen eines Geständniswillens abhängt16. Bei einer solchen Lösung besteht auch nicht das vom BGH in seiner neuen Entscheidung17 angenommene Problem, daß die in § 453 ZPO vorgesehene freie Beweiswürdigung in wesentlichen Teilen nicht mehr zum Zuge kommen könne, denn die Bestätigung der vom Gegner behaupteten Tatsachen stellt nicht in jedem Fall ein Geständnis dar, sondern unterfällt bei Fehlen eines Geständniswillens der freien Beweiswürdigung. Damit ist eine flexible Lösung gewonnen, die unter Beachtung der Parteiautonomie, den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Geständnis und Parteivernehmung aufhebt und beiden Instituten ihren Anwendungsbe14 15 16 17

S. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. 1985, § 288 Rz 12. Darauf stellt zu Recht ab Wax in Anm. zu BGH LM H. 8 / 1995 § 288 ZPO Nr. 11 So zu Recht Wax aaO. BGH LM H. 8/1995 § 288 ZPO Nr. 11.

Geständnis zu eigenen Lasten und zu Lasten Dritter?

693

reich beläßt. Entscheidend kommt es dann aber auf den Geständniswillen und seinen Inhalt an. b) Das Geständnis als prozessualer Dispositionsakt setzt dem Wesen der Parteiautonomie entsprechend einen Geständniswillen voraus, weil die Parteiautonomie als Ausfluß der Selbstbestimmung Rechtsfolgen nur auf der Grundlage des Willensprinzips erzeugen kann. Das Erfordernis des Geständniswillens ist deshalb auch allgemein anerkannt 18 . Fraglich ist jedoch, welchen Inhalt dieser Wille im einzelnen haben muß. Wie für sonstige Prozeßhandlungen der Parteien ist auch für das Geständnis neben dem reinen Handlungswillen ein auf die jeweilige prozessuale Wirkung gerichteter Wille erforderlich 19 . Dieser muß aber die Rechtsfolge nicht in juristisch exakter Weise umfassen. Vielmehr genügt eine laienhafte Vorstellung von dem hauptsächlichen Zweck, den die Prozeßhandlung erreichen soll. Demgemäß verlangt das Geständnis nicht den Willen, eine Tatsache bindend festzustellen (sog. animus confitendi) 20 . Vielmehr genügt der allgemeine Wille, daß die betreffende Tatsache ungeprüft vom Gericht seinem Urteil zugrunde gelegt werden kann21. Das Bewußtsein, daß es sich um eine unwahre oder der Partei ungünstige Tatsache handelt, ist dagegen nicht erforderlich 22 . c) Legt man einen Geständniswillen diesen Inhalts zugrunde, so können seine Voraussetzungen im Rahmen einer Parteivernehmung nicht ohne weiteres als gegeben angesehen werden. Die allgemeine Annahme, daß die Partei, die die den Beweisgegenstand bildenden Tatsachen ja zuvor bestritten haben muß, in der Parteivernehmung von diesem Bestreben nicht ohne weiteres ohne Prüfung des Wahrheitsgehalts durch das Gericht wird abrücken wollen, trifft auf die Fallsituation der hinter dem Beklagten stehenden Haftpflichtversicherung nicht zu, wenn das Bestreiten nur vom Anwalt und nicht vom Beklagten selbst ausgeht. Das Gericht und die beteiligten Anwälte können aber die vernommene Partei 18 BGH N J W 1991, 1683 ; M ü n c h K o m m Z P O / P r u t t i n g , § 288 Rz 3, 5 ; Stein/Jonas/ Leipold, ZPO, 20. Aufl. 1985, § 288 Rz 4 ; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 114 I 1 g. 19 Die Auseinandersetzung zwischen dem f u n k t o n a l e n und dem systematicschen Prozeßhandlungsbegriff (s. M ü n c h K o m m ZPO/Lüke, Einl. Rz 262) ist dabei ohne Bedeutung. 20 S. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. § 288 Rz 11 21 BGH LM § 288 ZPO Nr. 3 = N J W 1962, 1390 ; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. § 288 Rz 4 ; MünchKomm ZPO/Prutting, § 288 Rz 5. 22 Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. § 288 Rz 11 ; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 114 I 1 d.

694

nach ihrem Geständniswillen befragen, indem sie insbesondere auch auf die nachteiligen Folgen für die Partei selbst hinweisen und klar machen, daß ein Geständnis allein zum Nachteil der Versicherung nicht möglich ist, sondern daß der Nachteil in Gestalt der Verurteilung in erster Linie die Partei selbst trifft verbunden mit der Gefahr, daß die Versicherung wegen Obliegenheitsverletzung gemäß § 6 AHB, § 62 VVG von ihrer Leistungspflicht frei wird. Läßt die Partei unter diesen Umständen immer noch erkennen, daß sie die ihr nachteiligen Tatsachen ungeprüft dem Urteil zugrunde gelegt wissen will, so mag sie an ihrem Geständniswillen festgehalten werden. Dabei bleibt es dabei, daß das Bewußtsein der nachteiligen Tatsachen nicht zum Inhalt des Geständniswillens gehört. Der Hinweis auf die Nachteile dient vielmehr nur dazu, die Ernsthaftigkeit des Geständniswillens zu ermitteln. Zugleich können auf diese Weise bei Vorliegen eines unwahren Geständnisses die Voraussetzungen für den Nachweis der Leistungsbefreiung nach § 6 AHB, § 62 VVG im Sinne einer zumindest grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzung vorbereitet werden. Der Versicherungsnehmer, der auf Befragen seinen Geständniswillen zum Ausdruck bringt und damit die Verwendung seiner Aussage im Urteil ohne Wahrheitsprüfung durch das Gericht ermöglicht, nimmt dadurch wesentlichen Einfluß auf die Prozeßführung und entzieht sie insoweit dem Versicherer. Darin liegt im Falle eines unrichtigen Geständnisses ein Verstoß gegen die in den Versicherungsbedingungen (ζ. B. § 5 Nr. 4 A H B ; § 7 II Nr. 5 A K B ) niedergelegte Pflicht, die Prozeßführung dem Versicherer zu überlassen. Dem Versicherungsnehmer dürfte es, nachdem er über die Bedeutung seines Geständniswillens aufgeklärt ist, kaum gelingen, den Entlastungsbeweis für das Fehlen zumindest grober Fahrlässigkeit zu führen, denn er muß erkennen, daß der Verzicht auf Wahrheitsprüfung die Versicherung in der Prozeßführung behindert. Erweist sich das Geständnis danach als unrichtig, so sind regelmäßing die Voraussetzungen der Leistungsbefreiung nach § 6 A H B und § 62 VVG gegeben, sodaß das Geständnis sich nicht mehr zu Lasten der Versicherung auswirken kann. Die Prüfung des Wahrheitsgehalts des Geständnisses verlagert sich sodann vom Prozeß zwischen Geschädigtem und Schädiger in den möglicherweise stattfindenden Regreßprozeß zwischen dem Schädiger und seiner Haftpflichtversicherung, weil der Schädiger die Folgen seines unrichtigen Geständnisses als Konsequenz seiner bewußten Entscheidung tragen muß und nur die Versicherung Entlastung verdient. Die drohende Haftung zusammen mit der schwindenden Aussicht auf einen Regreßanspruch gegen die

Geständnis zu eigenen Lasten und zu Lasten Dritter?

695

Versicherung wird den beklagten Schädiger in aller Regel von einem unwahren Geständnis abhalten. Ihn vor den Folgen eines solchen Geständnisses dadurch zu schützen, daß ein Geständnis im Rahmen der Parteivernehmung für unmöglich erklärt wird, besteht jedenfalls kein Anlaß. Der Parteiautonomie gebührt bei Vorligen eines Geständniswillens der Vorrang auch im Rahmen der Parteivernehmung. Geständniswirkungen zu Lasten Dritten können vermieden werden.

Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece by

Prof. Dr. P. Yessiou-Faltsi

Thessaloniki

The Dean of the School of Law and Economics Aristotle University of Thessaloniki

698

Contents

I. Introduction — The Constitutional Foundation of The Diffuse Judicial Review in Greek Law II. The Constitutional Bases of The Administration of Justice 1. General Remarks 2 . The Fundamental Principles as the Framework of the Diffuse Judicial Review a. The Principle of Separation of Powers b. The Principle of "Natural" Judge (Article 8 of the Constitution) c. Independence and Impartiality of the Judiciary (Article 87 of the Constitution) d. Publicity (Article 93 §§ 2, 3 of the Constitution) e. Reasoning of Judicial Decisions (Article 93 §3 of the Constitution) III. The Main Features of The Diffuse Judicial Review as Currently Exercised in Greece 1. The Historical Background 2 . The Extent of the Judicial Review and its Procedural Application 3 . Review of the Constitutionality of Administrative Acts 4 . Jurisdiction of the Special Highest Court in Case of Contradictory Decisions on the Issue of Constitutionality IV. Critical Approaches of The Greek System of Diffuse Review

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Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece

I. Introduction

— The Constitutional

Diffuse Judicial

Foundation of the

Review in Greek Law

Article 93 § 4 of the present Greek Constitution of 1975 explicity provides that " The courts shall be bound not to apply laws, the content of which are contrary to the Constitution". This provision has given official form to a practice already known in Greece since the end of last century. Before discussing this topic it is, however, useful to briefly discribe the constitutional framework within which the system of diffuse judicial review of unconstitutional legislation has developed in Greece to an undeniable constitutional costum through a constant case law for the last hundred years.

II. The Constitutional

Bases of the Administration

of

Justice in Greece

1. General

Remarks

The Greek Constitution of 1975, like all previous Constitutions, is a direct source of Procedural Law. The present Constitution comprises numerous regulations regarding procedural issues; and has thus supported, even more distinctly than its predecessors, a predominant consideration of procedure being a kind of "applied Constitutional Law". Section V of Part Three of the Constitution of 1975 (Articles 87-100) has been totally devoted to the "Judicial Power", including all fundamental rules with regard the administration of justice. Its first chapter (Articles 87-92) covers the "Judicial Functionaries and Staff"; and the second (Articles 93-100) the "Organization and Jurisdiction of the Courts". Section V, naturally, refers to all three branches of ordinary justice (cf. Article 93 § 1), i.e. administrative, criminal and civil justice, as one of the state functions. On the other hand, the Constitution of 1975

700

provides for a series of general fundamental principles, directly or indirectly regarding the administration of justice, several of which have been also repeated in the Codes of Procedure under the same of more concrete formulations. They introduce a complex of constitutional guarantees, among which Article 20 § 1 safeguards the right of access to courts. 2. The Fundamental Judicial Review a. The Principle

Principles

of Separation

of

as the Framework

of the Diffuse

Powers

More than 2.000 years ago Aristotle [ΤΙολιτικά (Politika) Δ, 14,129. 7/3 129-δα] spoke about the principle of separation of powers : "Εστί δη τρία μόρια των πολιτειών παΰών... Εστι δε των τριών τούτων έν μεν τί τό βονλενόμενον περί των κοινών, δεύτερον δε τό περί τας αρχάς... τρίτον δε τί τό δικάζον" [{All Constitutions have three elements... There is one element which deliberates about public affairs, secondly that concerned with the magistracies... and thirdly that which has judicial power}. (The translation is taken from "The works of Aristotle, translated into English" under the editorship of W.D. Ross, Volume X, Politika, by Benjamin Jowett, Oxford at the Clarendon Press)]. Nowadays, the Greek Constitution of 1975 contains this generally accepted principle in its Article 26- According to Article 26 § 3 : "fudicial Power shall be vested in the courts of law, the decisions of which shall be executed in the name of the Greek People". b. The Principle

of "Natural"

Judge

(Article

8 of the

Constitution)

According to Article 8 § 1 of the Constitution of 1975 "No person shall, against his will, be deprived of the judge assigned to him by law". This generally accepted individual right, provided since 1823 in all previous Greek Constitutions1, and again by the similar wording of Article 109 § 1 of the Code of Civil Procedure in relation to civil proceedings, is nat1 A. Manessis, Constitutional Rights, vol. a' : Individual Freedoms {Συνταγματικά δικαιώματα ,νοΐ. a': Ατομικές Ελευθερίες, Syntagmatika dikaiomata, a': Atomikes elefteries), 4th ed. (Sakkoulas, Thessaloniki 1982), p. 212 ; A. Kaissis, Annulment of Arbitral Awards (Ακύρωση διαιτητικών αποφάσεων, Akyrosse diaitetikon apofaseon), 2nd ed. (Sakkoulas, Thessaloniki 1989), p. 48, with further references (note 16).

Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece

701

urally regarded 2 a s g u a r a n t y i n g the s o - c a l l e d "natural" or "legal" judge (•.φυσικός η νόμιμος δικαστής, p h y s i k o s or n o m i m o s d i k a s t e s ) ; n a m e l y subordination of e a c h p e r s o n t o c o u r t s e s t a b l i s h e d b e f o r e h a n d by law, on the b a s i s of g e n e r a l and a b s t r a c t criteria. F u n c t i o n i n g of c o u r t s organized in c o n c r e t o is thus prohibited. Indeed, A r t i c l e 8 § 2 of t h e Constitution additionaly d e c l a r e s that "Judicial committees or extraordinary courts, under any name whatsoever, shall not be constituted" unless a l l o w e d e x c l u s i v e l y b y the Constitution itself (see A r t i c l e 48 § l ) 3 · T h i s constitutional b a c k b o n e of the principle of "natural judge" c e r t a i n l y prohibits its v i o l a t i o n b y ordinary legislation 4 . Courts a l r e a d y e s t a b l i s h e d b y l a w m a y neither be interrupted b y the administration 5 , nor c o n v e y their authority, unless o t h e r w i s e provided (Article 109 § 2a of the Code of Civil P r o c e d u r e ) . Only s p e c i f i c procedural a c t s are a l l o w e d t o be entrusted t o another j u d g e (Article 109 § 2 b of t h e Code of Civil P r o c e d u r e ) , i.e. e x a m i n a t i o n of w i t n e s s e s (Article 5 of the Code of Civil P r o c e d u r e : C o m m i s i o n s rogatoires; s e e a l s o A r t i c l e 341 §§ 2, 3, 5, 6, 10) 6 . 2 Manessis, op. cit. (note 1), pp. 212-213; Kaissis, op. cit. (note 1), pp. 48-49; K. Kerameus, Civil Procedural Law, General Part (Αστικό δικονομικό δίκαιο, γενικό μέρος, Astiko dikonomiko dikaio, Geniko meros), (Sakkoulas, Athens/Thessaloniki 1986), pp. 86-87. 3 For distinctions and restrictions see, however, Manessis, op. cit. (note 1), pp. 219, 220-221. See, also, G. Mitsopoulos, Civil Procedure (Πολιτική δικονομία, Politiki Dikonomia), vol. Ä (Athens 1972). 4 Statutory modification of the courts' competence has not been regarded as such. See Manessis, op. cit. (note 1), p. 215; Kerameus, op. cit. (note 2), p. 87; also Areios Pagos 142/1984, Legal Tribune (Nomiko Vima, Νομικό Βήμα) 33 (1985), pp. 248 ff. (249). On the contrary, it has been repeatedly argued that legal regulations about the method of designating particular judges as member of the court's panels are certainly likely to entail infringments of this constitutional guarantee, if such method is not based on an objective criterion. See Manessis, op. cit. (note 1), pp. 213-214; Kerameus, op. cit. (note 2), p. 87; K. Beys, "The Lifelong Legal Judge" (0 ισόβιος νόμιμος δικαστής, Ο isovios nomimos dikastes), Volume in Honour of George Rammos, II (University of Athens, Athens 1979), pp. 695-700. For this reason it has been recently provided (Article 15 §§ 2 17ßß Law 1756/1988 on the Code for the Organization of Courts and the Status of Judicial Functionaries, as amended) that in some of the biggest courts (Court of Appeals in Athens; Courts of First Instance in Athens, Thessaloniki and Piraeus; Justice of Peace in Athens), the exact composition of each court is formed through decisions of a three-member council before the beginning of each judicial year (which means before September 16 of each year; Article 11 § 1 Law 1756/1988). 5 Manessis, op. cit. (note 1), p. 215. 6 Mitsopoulos, op. cit. (note 3), p. 136; P. Yessiou-Faltsi, Law of Evidence (Δίκαιο Αποδείξεως, Dikaio Apodeixeos), 3rd ed. (Sakkoulas, Thessaloniki 1985), pp. 127-128.

702

Direct constitutional reservation of the volition of the parties (Article 8 § 1: "No person shall, against his will") confirms the constitutionality of both arbitration 7 , if non compulsory8, and prorogation 9 . c. Independence and Impartiality Constitution)

of the Judiciary

(Article

87 of the

The Greek Constitution of 1975 explicitly declares the independence of the judiciary and contains guarantees of its realization 10 . According to Article 87 §§ 1, 2 "...judges ... enjoy functional and personal independence. Judges shall in the discharge of their duties be subject only to the Constitution and the laws...". Functional independence of the judge refers to the freedom from interference by the Legislature or Executive; and to the lack of any hierarchical control of the inferior courts by the superior. The principle of independence of the judicial function against the Legislature has indeed resulted to the aforementioned practice. Since the close of the last century, Greek courts have reviewed the unconstitutional laws, denying to apply those opposed to the Constitution11. In addition, Greek courts, based on their independence against the Executive, proceed to review of the legality of administrative acts, though to an extent which is still under discussion (as to whether correctness of the factual statements of the administrative organs is also included) 12. 7 Manessis, op. cit. (note 1), p. 217; Kerameus, op. cit. (note 2), p. 87; Kaissis, op. cit. (note 1), pp. 49 ff. 8 Kerameus, op. cit. (note 2), p. 87. See more specifically Kaissis, op. cit. (note 1), pp. 50 ff., with f u r t h e r references in notes 30, 30a. 9 Kerameus, op. cit. (note 2), p. 87. 10 All former Constitutions of Greece, including the first Constitution of Epidauros of 1822, contained guarantees of judicial independence. See Ch. Fragistas, "Judicial Independence" (Διχαστική ανεξαρτησία, Dikastike Anexartisia), Yearbook of the Faculty of Law and Economic Studies in Thessaloniki, Thessaloniki 1940 = Legal Studies, vol. 1 (Sakkoulas, Athens/Komotine, 1987), p. 5; the same author, "Die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit in Griechenland", Deutsche Richterzeitung 1956, pp. 46-48 = Legal Studies, vol. I, pp. 31-39; the same author, "Recht und Rechtsprechung im heutigen Griechenland", Universitas, Zeitschrift f ü r Wissenschaft, Kunst und Literatur 16 (1961), pp. 273 ff. = Legal Studies, vol. I, pp. 49-54; Κ. Kerameus, National Report for Greece, in Sh. Shetreet and J. Deschenes (eds.), Judicial Independence: The Contemporary Debate (Martinus Nijhoff Publishers, Dordrecht, Boston/Lancaster, 1985), p. 123-140 (123). 11 See more specifically infra, § 3. 12 Kerameus, op. cit. (note 10), p. 127; the same author, Civil Procedural Law (Αστικό δικονομικό δίκαιο, Astiko dikonomiko dikaio), vol. I, 2nd edition (Sakkoulas, Athens/Thessaloniki 1983), pp. 102-105.

Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece

703

However, civil courts are not allowed to abolish the acts of the Executive, but can only deny to apply them (Article 2 of the Code of Civil Procedure). T h e power to declare illegal administrative acts as null and void belongs to the administrative courts, and more specifically the Council of State (Σι>μβοί>λιο της Επικρατείας, Symvoulion tis Epikratias) 1 3 . T h e hierarchical independence of the jugde, within the scope of the judicial function itself, seems, on the contrary, to have only theoretical meaning: T h e inferior courts, although not obliged, usually follow the legal opinion of the superior in order to avoid review of their decision 14 . T h e personal independence of the judge, in the spirit of Article 87 § 1 of the Constitution of 1975, aims to guarantee the freeing of the judicial action from any influence due to political interventions and the rendition of judgements in accordance with the law and the judge's own conscience. Based on such a conception, it is in the method of selection, appointment, promotion and tenure that the Constitution of 1975 intensifies its endeavor to guarantee the impartiality of the jugde 15 . According to Article 88 § 1 judges are appointed by a presidential act on the basis of the law which determines their qualities and the method of their selection. Greece, since 1892, has thus a career judiciary selected after a special examination 16 . Judges are promoted f r o m the inferior courts to the superior 17 until the age limit designated for their retirement (Article

13 Article 95 §§ la, 3 of the Constitution of 1975 : "The jurisdiction of the Council of State pertains mainly to: a) The annulment upon petition of executive acts of administrative authorities for abuse of power or violation of the Law". 14 Kerameus, op. cit. (note 12), p. 106; P. Yessiou-Faltsi, "Les bases constitutionelles de Γ organisation judiciaire en Grece", Rapport au Xe Congres International de Droit Compare, Budapest 1978, Revue Hellenique de Droit International 32 (1979), p. 79/80. 15 Mitsopoulos, op. cit. (note 3), pp. 72 ff.; D. Maniotis, The Contribution of the Systems Concerning the Appointment and the Control of the Judiciary to the Judicial Independence (Η συμβολή των συστημάτων διορισμού και ελέγχου των δικαστικών λειτουργών στην κατοχύρωση της δικαστικής ανεξαρτησίας, I symvole ton systematon diorismou k a e eleghou ton dikastikon letourgon sten katochyrosse tis dikastikes anexartesias), (Sakkoulas, Athens/Komotini, 1989), pp. 997 ff. 16 For the a d v a n t a g e s (and disadvantages) of this system see Ch. Fragistas, "La responsabilitfe du juge en droit hellSnique" in La Responsabilita del Giudice (Perugia, 1978), p. 186/187 = Legal Studies, vol. 1 (Sakkoulas, Athens/Komotini, 1987), pp. 63 ff. (65); Mitsopoulos, op. cit. (note 3), pp. 85-87; Maniotis, op. cit. (note 15), pp. 59-62, 185/186. 17 T h e promotions of the judges is the only way for s t a f f i n g superior courts. See in

704

88 § 5 of the Constitution). On the other hand, judges are not permitted to exercise another salaried service or profession (Article 89 § 1 of the Constitution) 18 . Judges are also not permitted to be members of the Government (Article 88 § 4 of the Constitution). A fundamental guarantee of judicial independence is the judges' appointment for life (Article 88 § 1 of the Constitution). Holding office for life does not only mean that judges have tenure. They remain in office even though their post is abolished19. On the other hand, judges must vacate their office on the day on which they reach the age of 67, if they belong to a superior court, or of 65 if they belong to an inferior one (Article 88 § 5 of the Constitution). Judges are dismissed only on the basis of a judicial decision in the case of a criminal sentence against them, a grave disciplinary fault, sickness, invalidity or service inefficiency (Article 88 § 4 of the Constitution). Since the Constitution of 1911, Justice in Greece has its own administration: The promotions and transfers of judges are realized after a decision of a Supreme Judicial Council20. This council is composed of the President and judges of the Supreme Courts of each branch (Article 90 § 1 of the Constitution), so that judges are not subject to the risk of an unfavorable transfer by the Minister of Justice21. d. Publicity

(Article

93 §§ 2, 3 of the

Constitution)

The Greek Constitution of 1975 guarantees publicity of both the courts' sittings (Articles 93 § 2) and the pronouncement of the courts' judgedetail Maniotis, op. cit. (note 15), p. 24. 18 With the exception of the post of a Professor at the University, membership in the Academy of Athens or in special courts or councils (Article 89 § 2 Constitution of 1975). 19 The Constitution of 1975 has extended the appointment for life to all judges, including justices of the peace and public prosecutors, who were previously appointed only as permanent (as all other state officials). See Fragistas, op. cit. (note 16), p. 187; Kerameus, op. cit. (note 2), p. 86; Yessiou-Faltsi, op. cit. (note 14), p. 75. 20 With the disputed exception of the appointment to the post of the President and the Vice President of Areios Pagos (Supreme Civil and Criminal Court), Council of State (Supreme Administrative Court) and Comptroller's Court, which is carried out by Government. See more specifically Article 90 § 5 of the Constitution of 1975; and also the critical aspects about this provision in Maniotis, op. cit. (note 15), p. 67 note 11. 21 Fragistas, op. cit. (note 16), p. 187/188; Yessiou-Faltsi, op. cit. (note 14), p. 80; Maniotis, op. cit. (note 15), p. 25-26. For overall critical r e m a r k s Kerameus, op. cit. (note 10), pp. 133-134.

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ments (Articles 93 § 3a)22. Publicity of the courts' sittings is subject to rather limited exceptions, namely when it is "detrimental to moral principles" or when "special reasons call for the protection of the private or family life of the litigants" (Article 93 § 2)23· The Code of Civil Procedure, on the other hand, includes a detailed regulation, regarding the principle of publicity (Articles 112-114), which has been elaborated and has entered into force before the present Constitution (1975). Ac22 G. Rammos, Manual of Civil Procedural Law (Εγχειριδίου αστικού δικονομικού δίκαιον, Egheiridion astikou dikonomikou dikaiou), vol. I (Sakkoulas, Athens 1978), p. 336-337; Mitsopoulos, op. cit. (note 3), pp. 75-76; Kerameus, op. cit. (note 2), pp. 177-181. 23 Greece is a signatory to the Convention of Rome for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms of November 4, 1950, and its Protocols. Fundamental guarantees of this Convention, and more specifically its Article 6 § 1, have consequently become "An integral part of domestic Greek law" and "Prevail over any contrary provision of the law" (Article 28 1 of the Constitution). The Convention and its "Additional" (First) Protocol of March 20, 1952, were initially ratified in 1953 (Law 2329/1953), renounced on December 12, 1969, by the military junta during the dictatorship (1967-1974), and reratified in 1974 (Legislative Degree 53/ 1974). On the basis of this last ratification they entered into force in Greece on November 28, 1974 [(see the Official Announcement of the Greek Ministry of Foreign Affairs of March 3, 1975 (ΦΕΚ, Ä, 38/08-03.1975) ] . Since then Greece has ratified Protocols 2, 3, 5, in force also since November 28, 1974 (see Official Announcement of the Greek Ministry of Foreign Affairs of March 3, 1975, ΦΕΚ, Ä, 42/12.03.1975), and 7 (Legislative Degree 215/1974, Law 1705/1987). With the exception of Protocol 4 of the Convention, Greece has signed, but not yet ratified, all other Protocols (6 and 8). The jurisdiction of the European Court of Human Rights, under Article 46 of the European Convention, has been recognized since January 30, 1979, for an initial period of three years (Official Announcement of the Greek Ministry of Foreign Affairs of March 21, 1979, ΦΕΚ, A, 64/02.04.79), being subsequently regularly extended. The right to individual petition (application) under Article 25 of the European Convention has been recognized since November 20, 1985, also for an initial period of three years (Official Announcement of the Greek Ministry of Foreign Affairs of December 11/31 1985, ΦΕΚ A, 231/1985), which has been since extended. See Chr. Yiakoumopoulos, "Individual Petitions against Greece to the European Commision of Human Rights" (Ατομικές προσφυγές κατά της Ελλάδος στην Ευρωπαϊκή Επιτροπή των Δικαιωμάτων του Ανθρώπου, Atomikes prosphyges kata tes Ellados sten Evropaiki Epitrope ton Dikaiomaton tou Anthropou), Greek Review of European Law (Ελληνική Επιθεώρηση Ευρωπαικον Δικαίου), Helliniki Epitheorissi Evropaikou Dikaiou) 1990, p. 281 ff. According to an important ruling of Areios Pagos [30/1991, Hellenic Justice (Ελληνική Δικαιοσύνη, Helliniki Dikaiossini) 33 (1992), pp. 105 (106)] , Article 6 § 1 of the European Convention, by providing the guarantees of a fair trial, must be regarded as also instituting the corresponding substantial rights of the parties. Hence, violation of such rights may result in a ground of cassation for violation of a substantial rule of law (Article 559 nr. 1 of the Code of Civil Procedure).

706

cordingly, to the extent it is divergent, this statutory regulation is regarded as unconstitutional 24 . e. Reasoning

of Judicial

Decisions

(Article

93 § 3 of the

Constitution)

According to Article 93 § 3 of the Greek Constitution of 1975 "All court judgments must be specifically and thoroughly reasoned..''. Article 93 § 4b of the Constitution moreover provides t h a t : "Publication of the minority opinion shall be compulsory. A law shall specify matters concerning the entry of any minority opinion into the minutes as well as the conditions and prerequisites for the publication thereof". This constitutional provision, accordingly supplemented by Articles 35-38 of Law 184/ 1975, has since 1975 modified Article 302 § lb of the Code of Civil Procedure, which previously allowed publication of dissenting opinions only in the decisions by lower courts, but not of Areios Pagos25. Literature on the Convention includes : Ph. Vegelis, The Convention of Human Rights and the Constitution (Η Σύμβαση των δικαιωμάτων τον ανθρώπου και το Σύνταγμα, I Symvase ton dikaiomaton tou anthropou kai to Syntagma), (Athens, 1977); E. Kroustalakis, "The Right of Access to Justice (Right of Fair Trial) According to Article 6 of the European Convention on Human Rights" (To δικαίωμα προσφυγής στη Δικαιοσύνη (διχα'ιωμα για χρηστή δίκη) κατά το άρθρο 6 της Ευρωπαϊκής Σνμβασης των Δικαιωμάτων του ανθρώπου, To dikaioma prosphygis ste Dikaiossyne (dikaioma chrestes dikes) kata to arthro 6 tes Evropaikes Symvasis ton dikaiomaton tou anthropou), Hellenic Justice (Ελληνική Δικαιοσύνη, Helleniki Dikaiossini) 27 (1986), pp. 601 ff.; D. Evrigenis, "The European Convention of Human Rights — 35 Years" (Η Ευρωπαϊκή Σύμβαση των Δικαιωμάτων του λνθρώπου — 35 Χρονιά, I Evropaiki Symvasse ton Dikaiomaton tou Anthropou — 35 chronia), Greek Review of European Law (Ελληνική Επιθεώρηση Ευρωπάίκοϋ Δίκαιου, Helleniki Epitheorissi Hellinikou Dikaiou) 1983, pp. 479-484; Κ. Konstas, "The European Commission of Human Rights" (H Ευρωπαϊκή Επιτροπή των Δικαιωμάτων του Ανθρώπου, I Evropaiki Epitropi ton Dikaiomaton tou Anthropou), Greek Review of European Law 1983, pp. 485-498. 24 G. Mitsopoulos, "The Impact of the Constitution on Civil Procedure (Η επίδρασις του Συντάγματος επί της Πολιτικής Δικονομίας, I epidrasis tou Syntagmatos epi tis Politikes Dikonomias), Dike [Δίκη) 6 (1975), pp. 673 ff. (676). However, where publicity is understood as a direct accessibility to a court's session, this fundamental guarantee has a rather limited practical relevance in 20th century Greece. In this sense, the extent of publicity with regard to a judicial case is inevitably dependent on whether proceedings remain oral. On the contrary, indirect publicity, i.e. press reporting of judicial decisions or judicial conduct, has been playing a steadily increasing role. Nevertheless, it is still under discussion as to whether and, if so, on what conditions television should be allowed to enter court rooms; and moreover if the constitutional guarantee of publicity should be interpreted as also comprising access of television to civil trials. 25 The underlying idea of this exception was to sustain the prestige of the Supreme

Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece

III. The Main Features of the Diffuse Judicial as Currently 1. The Historical

707

Review

Exercised

Background

The first ruling of Areios Pagos which clearly accepted the diffuse review of the unconstitutional ordinary legislation was given in 189726. Although the National Assemblies during the period of the Greek revolution of independence (1821-1827) had repeatedly proclaimed the prevalence of the Constitution over ordinary legislation, this principle was not regarded as also including judicial review of unconstitutional legislation 27 . One of the first explicit provisions, which allowed the

Court's decisions. Currently, on the basis of Article 93 § 4b of the Constitution and Article 35 of Law 184/1975, all judicial decisions, including decisions of Areios Pagos, comprise also minority opinions, with reference to the number of judges (and to their names) who have supported it. In quite a number of Areios Pagos' decisions, and most often in decisions of the court's plenary session, significant minority opinions are appearing. 26 Areios Pagos 23/1987, Themis (Θέμις·) Η, p. 329; see A. Manessis, "Questions of Invalidity of the Anticonstitutional Laws" (Ζητήματα εκ τον ανιβχνρου των αντισυνταγματικών νόμων, Zetemata ek tou anischyrou ton antisyntagmatikon nomon), Mnimossinon (volume published in memory of) Per. Vizoukides, (Thessaloniki 1960), pp. 507 ff. = T h e Volume Constitutional Theory and Praxis, (Sakkoulas, Thessaloniki 1981), pp. 288 ff.; A. Manitakis, "Fondement et legitimitfe du contröle juridictionnel de lois en Gröce", Rövue Internationale de Droit Compare 1988, p. 39 (44); the same author, "Foundations of the Power of the Judge to Review Unconstitutional Legislation" (Τα νομιμοποιητικά θεμελια της εξουσίας τον δικαστή κατά τον ελεγχο της συνταγματικότητας των νομών, Ta nomimopoiitika themelia this exousias tou dikasti kata ton elegcho tis syntagmatikotitas ton nomon), in the Publications of the Association of Jurists of Nothern Greece, nr. 16 (1992), pp. 15 (25-26); V. Skouris/E. Venizelos, Judicial Review of the Constitutionality of Laws (Ο δικαστικός ελεγχος της συνταγματικότητας των νόμων, Ο dikastikos elegchos tis syntagmatikotetas ton nomon) (Sakkoulas, Athens/ Komotini, 1985), p. 25; in particular E. Spiliotopoulos, "Judicial Review of Legislation Acts in Greece", Temple Law Quarterly, vol. 56 (1983), pp. 463-502. 27 Ph. Vegleris, "La Constitution, le loi et les tribunaux en Gröce", Analles de la Faculte de Droit de Liege 1967, pp. 439 ff. (446/447); Manitakis, op. cit. (note 26), p. 43; the same author, op. cit. (note 26), pp. 15-16. See, however, also Kyriakopoulos, "Le contröle de la constitutionnalite des lois en Grgce", Revue Hellenique de Droit International, 1950, p. 114, who expresses the opinion that the drafters of the Constitution of 1827 intended to impose this judicial review.

708

courts not to apply unconstitutional laws, is Article 96 of the Constitution of Kreta of February 8, 190728. For the second time we find such a provision in the Greek Constitution of June 3, 1927 (Article 5, Explanatory Declaration) 29 . On the contrary, the Greek Constitutions of 1844, 1864, 1911 and 1952 did not make any explicit reference as to the right of the courts to review the constitutionality of ordinary legislation. Nevertheless, such authority of the courts was generally accepted since the beginning of this century, and the constitutionality of common legislation was repeatedly examined in hundreds of courts' decisions. In legal theory no major reservations30 were expressed: The reasoning of this practice was fundamentally based on the hierarchical superiority of a strict, written Constitution compared to other legal sources and to the principle of separations of powers31. 2. The Extent Applications

of

the Judicial

Review

and

its

Procedural

According to Article 93 § 4 of the Constitution of 1975, Greek courts, 28 Kyriakopoulos, op. cit. (note 27), p. 114. 29 This Interpretative Declaration of Article 5 of the Constitution of 1927, which provided that the judicial power shall be exercised by independent courts subject only to the statute law, made clear its real meaning: the courts are obliged not to apply a statute law, whose content is opposed to the Constitution. See Skouris/ Venizelos, op. cit. (note 26), P- 24, note 29; Spiliotopoulos, op. cit. (note 26), p. 470 note 8; Manitakis, op. cit. (note 26), p. 16 note 2; Vegleris, "Peculiarities and Stages of Greek Administrative Law" (Ιδιομορφίες και στάδια τον ελληνικοί> διοικητικού δίκαιον δικαίου, Idiomorphies kai stadia tou ellinikou dioikitikou dikaiou), Volume in Honour of G. Michaelidis-Nouaros, A (1987), pp. 107 ff (127 note 18). 30 For a thorough discussion of the evolution of Greek legal theory and case-law towards this direction see Vegleris, op. cit. (note 27), pp. 448 ff; Manitakis, op. cit. (note 26), pp. 21-26. 31 A. Manessis/A. Manitakis, "State Intervention and Constitution" (Κρατικός παρεμβατισμός και Σύνταγμα, Kratikos paremvatismos kae Syntagma), Legal Tribune (Nomiko Vima, Νομικό Βημα) 29 (1981), pp. 1199 ff; Kyriakopoulos, op. cit. (note 27), pp. 115 ff; Skouris/Venizelos, op. cit. (note 26), p. 24. In particular A. Svolos, "The Review of the Constitutionality of Ordinary Legislation by the Courts" (Η ερευνά της συνταγματικότητας των νόμων im ο των δικαστηρίων, I erevna tis syntagmatikotetos ton nomon ipo ton dikasterion), Legal Studies, vol. II; pp. 213 ff; A. Manitakis, op. cit. (note 26), Revue internationale de droit compare, 1988, pp. 39-55; the same author, op. cit. (note 26), pp. 27 ff; Pr. Dagtoglou, "Judicial Review of Unconstitutional Legislation" (Ο δικαστικός ελεγχος της συνταγματικότητας των νόμων, Ο dikastikos elegchos tis syntagmatikotitas ton nomon), Legal Tribune (Νομικό Βήμα, Nomiko Vima) 36 (1988), pp. 721ff.

Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece

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no matter if civil, criminal or administrative, are bound to review the constitutionality of ordinary legislation acts only regarding, not the conformity, but rather the non opposition of their substantial regulation to the Constitution32. The courts may proceed to the review of the constitutional legality of the acts of Legislature, only in connection with their content; they may not interfere with questions about the political aims or conveniences of a statute and its efficaciousness. Also, no review of the so called "typical" constitutionality of legislative acts is allowed. External elements of a statute-law are examined only when giving the form of enacted law to a certain State act. Beyond those, no review may be exercised with regard to the procedure for the production of the law33. Under this conception, which today expresses the spirit of Article 94 § 3 of the Constitution of 1975, namely its concern to avoid the interference of the courts' review with the inner function of the Legislature, one must distinguish the previous insistance of the Greek courts on excluding from their review the procedural faults of enacted law. Legal theory usually points out that the review of the constitutionality of legislative acts is allowed only in cases of an obvious contradiction between the Constitution and an ordinary statute law34. Even under the express provision of Article 93 § 4, it has been accepted that only in extreme cases of unconstitutionality may the judge exercise this review. The presumption is thus in favour of the constitutional legality35. The review leads only to the denial of application of the unconstitutional statute and not to an official proclamation of its invalidity; thus, it may be exercised by every court, but only incidentally: The courts can refuse the application of that legislative act which would be applied on the concrete case. The review must be moreover limited to the applicable provision and may not extend to the act as a whole. Unconstitutionality of a certain provision may not lead to the denial of the application of the whole statute. An action brought solely to produce ju32 Manessis/Manitakis, op. cit. (note 31). 33 For a contrary opinion see K. Beys, "The Constitutional Bases of Judicial Protection" (Τα* συνταγματικά θεμελια της διχαστικής προστασίας, Ta syntagmatika themelia tis dikastikes prostasias), Aphieroma (Volume in honor of) George Economopoulos, (Sakkoulas, Athens/Komotini 1981), p. 211. 34 For reservations refering to the difficulty of establishing objective criteria for this kind of distinctions see Vegleris, op. cit. (note 27), p. 453/454. 35 Manessis/Manitakis, op. cit. (note 31), p. 1201; Skouris/Venizelos, op. cit. (note 26), p. 96-99; Manitakis, op. cit. (note 26), pp. 45 ff.;

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dicial proclamation of the unconstitutionality of a certain legislative act is inadmissible36. The evident result of an incidental review is that it cannot allow the general review of all unconstitutional legislation, since the judge proceeds only within the limits of a concrete case. Consequently, legislative acts, which, due to their nature, do not provide admissible grounds for a personal action before civil or administrative courts, or for criminal consequences, cannot be reviewed by the courts37. A characteristic example of how the diffuse review has been implemented in Greece concerns the principle of equality (Article 4 § 1 of the Constitution of 1975: "All Greeks are equal before the law"). The interpretation of this principle has followed two successive directions: According to the second tendency, today prevailing, the constitutional principle of equality does not refer only to the Executive and the Judicial function, by imposing their obligation to handle similar cases in a similar way, but also to the Legislature, which is constitutionaly bound in its law making power to ensure that similar cases are regulated in a similar way38. Indeed, Greek courts have repeatedly reviewed the constitutionality of legislation acts, which, according to the offended parties, introduced an unjustifiable priviledge or a "Privilegium odiosum" for certain persons or in certain situations39. In judging the constitutionality of a certain legislation act, the court declares whether the reasons which allow a certain dissimilar legal treatment are sufficient, such as when required by the public or social interest40. If the judge decides that a certain act unjustifiably favours or disfavours a certain class of persons or certain cases, he must deny its application. His mission then becomes 36 Court of Appeals of Athens 7623/1981, Dike (Αίχη) 12 (1981), pp. 633 ff. See also Skouris/Venizelos, op. cit. (note 26), pp. 99-102; Manitakis, op. cit. (note 26), p. 35; Dagtoglou, op. cit. (note 31), p. 728-729. 37 Vegleris, op. cit. (note 27), p. 470 ff. 38 For a thorough discussion see Svolos- Vlachos, The Constitution of Greece (To Χννταγμα της Ελλάδος, T o Syntagma tis Ellados), ΙΑ, Athens, 1954, p. 187 ff; Vegleris, "Le Conceil d' E t a t et Γ e x a m e n de la constitutionnalitfe des lois en Grece", Studi in onore di Silvio Lessona II, Bologna, p. 597 (624 ff); Manessis, " T h e Constitutional Principle of Equality" (Η συνταγματική αρχή της ισότητος, I syntagmatiki archi tis isotitos), in the volume Constitutional Theory and Practice, Thessaloniki 1980, p. 316 ff. 39 See the characteristic examples f r o m the earlier series of cases by Svolos - Vlachos, op. cit. (note 38), p. 192, note 36 and p. 194, note 41. For the gradual evolution t o w a r d s this direction see the analysis by Vegleris, supra (note 38), pp. 626 ff. 40 See, e.g., Areios Pagos 1277/1977, T h e Constitution (per. publ.) 1978, p. 196; Court

Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece

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very delicate. According to some judicial decisions41, he may not extend the application of a favourable statute law to everyone, because in this case he should exercise powers allowed only to the Legislature. But he may apply the general rule which is in force for every other person, if an unfavourable legislation act is considered to be unconstitutional 42 . 3· Review

of the Constitutionality

of Administrative

Acts

The Greek system of diffuse judicial review led to a significant peculiarity regarding the administrative acts43. The legality of these acts is mainly reviewed by the Council of State (the Supreme Administrative Court), which was founded in Greece in 1927/1928 and was based on the French model44. In Greece, nevertheless, under a system allowing review of the unconstitutional legislation acts to every court, the reviewing of the administrative action by the Council of State proved to be a more complex function than in France45. This review must proceed on two levels: The first question deals with the conformity of an administrative act with the ordinary legislation acts; the second refers to the conformity of legislation, on which the administrative act was based, with the Constitution. Under the above system, the Greek Council of State has developed far reaching powers compared to its model. Indeed, the Council of State in Greece can proceed to an official declaration of the invadility of an adof Appeals of Athens 7623/1981, Dike 12 (1981), p. 633 (638). See also Manitakis, The Constitutional Principle of Equality and the Notion of Public Interest (Ησυνταγματική αρχή της ισότητας και η έννοια του δημοσίου συμφέροντος, I syntagmatiki archi tis isotitas kai I ennoia tou demosiou sympherontos), T h e Constitution (per. publ.) 1978, pp. 433 ff. 41 See, e. g., Court of Appeals of Athens 7623/1981, Dike 12 (1981) p. 633 (638, 640). 42 See the decision of the Council of State 2080/1950, where, instead of an unfavourable statute which regulated the salary of the magistrature and which was considered to be unconstitutional, a general regulation concerning the salary of all public functionaries was applied. 43 See the special article by Vegleris, Le Conceil d' fitat et Γ examen de la constitutionnalite des lois en Gröce, op. cit. (note 39), pp. 597 ff; the same author, op. cit. (note 29), pp. 128-131. 44 Stassinopoulos, "Introductory Article" to the Volume in honor of the Council of State I (in Greek), Athens-Komotini 1979, p. 4. 45 Vegleris, "The Characteristic Points of the Greek Council of State", Volume in honor of the Council of State ( in Greek), Athens-Komotini 1979, pp. 18 ff; the same author, op. cit. (note 29), pp. 130-131; Manitakis, op. cit. (note 26), Rfevue Internationale de Droit Comparfe 1988, pp. 45 ff.

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ministrative act on the ground of the unconstitutionality of the ordinary legislation act which allowed it. In this case, as it is characteristically pointed out, this latter act is "mortally wounded"46.

4· Jurisdiction of the Special Highest Court in Case of Contradictory Decisions on the Issue of Constitutionality T h e Constitution of 1975, for the first time in the constitutional history of Greece, has faced the problem of contradictory court decisions on the issue of unconstitutionality. This danger was very often pointed out as a consequence of the authority of every single court to proceed to a review of the constitutionality of ordinary legislation 47 . According to Article 100 § l e of the Constitution of 1975, a "Special Highest Court" is founded, whose juridiction includes, among other matters, the judgement upon the unconstitutionality of a statute law in cases where contrary decisions have been rendered by the Council of State ( = T h e Supreme Administrative Court), Areios Pagos ( = T h e Supreme Civil and Criminal Court), or the Comptrollers' Council ( = Supreme Fiscal Court). Contrary to other courts, the decision of the Special Highest Court declares officially the invalidity of the unconstitutional legislation act (Article 100 § 4b) and may not be attacked by any form of remedies (Article 100 § 4a). Official declaration of the unconstitutionality of a legislation act by the Special Highest Court limits the dangers of uncertainty of law; but may not prevent situations in which the same statute may be considered as constitutional by one court and unconstitutional by another 48 . Due to the usually different legislation applied by these three Supreme Courts, it is rather unlikely that the same legal norm is relevant before these Courts, so that contradictory decisions on the issue of its constitutionality are pronounced. Therefore, since its foundation in 1976, the Special Highest Court of Greece has rendered a rather limited number of decisions di46 Vegleris, op. cit. (note 45); the same author, op. cit. (note 38), p. 610. According to Vegleris, op. cit. (note 29), p. 128 note 20, the issue of unconstitutionality must logically come before the question of illegality of administrative acts. The problem of the applicable rule, in cases in which the judge denies application of a certain legislation act, because of its unconstitutionality, is thoroughly discussed by Manessis, op. cit. (note 26), Mnimossinon P. Vizoukides, pp. 507 f f = Constitutional Theory and Practice, pp. 288 ff. 47 Vegleris, op. cit. (note 27), p. 459, 474/473. 48 Kypraios, "The Revue of the Constitutionality of Laws by the Courts", Volume in honour of Symvoulion tis Epikratias I (Athens), pp. 201 ff. (212).

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rectly related to the constitutionality of common legislation49.

I V . Critical Approaches of the Greek System of Diffuse Review The diffuse system of reviewing the constitutionality of ordinary legislation50, which has developed in Greece51, allows a very significant role to the judge52 in his extended power to intervene in the law making process, despite the prevailing opinion that it does not infringe upon the principle of separation of powers, since the jurisdiction of the courts does not reach further than the incidental refusal of the application of the relevant legislation act. However, the contribution of the judicial function in the preservation of the constitutional legitimacy is generally 49 See, e.g., 1/1976; 5/1977; 8/1977; 9/1980; 2/1981. 50 For the distinctions of such systems see: L. Favoreu, "Modöle americain et modfele europfeen de justice constitutionnelle", Annuaire International de Justice Constitutionnelle IV (1988), pp. 51-66; the same author, Les Cours constitutionnelles, Que sais-je ? 1986, pp. 5ff. 51 T h e system of diffuse review, based in the U.S.A. on the well known decision of the Supreme Court of 1803 (Marbury v. Madison), w a s among the European countries first adopted in N o r w a y and Greece, during the last decades of the 19th century. It w a s than introduced, a t the beginning of the 20th century, in Danemark and later in Sweden, where the review is exercised rarely and in an extremely prudent way. On the contrary of w h a t happens in England, this s a m e system has been introduced also in the former English colonies, as Canada, Australia and India. See Cappelletti Μ., II controlo giudiziario di constituzionalitä delle leggi nel diritto comparato, Ristampa inalterata, Milano 1975, pp. 52 ff; the same author, " T h e Significance of Judicial Review of Legislation in the Contemporary World", Ius Privatum Gentium I, Festschrift fur Max Rheinstein I, Tübingen 1696, pp. 147 ff.; M. Cappelletti and W. Cohen, Comparative Constitutional Law, T h e Bobbs Merril Company, New York 1979, pp. 12 ff; L. Garlicki and W. Zakrrewski, "La protection jurisdictionnelle de la Constitution dans le monde contemporain", Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1985, Economica 1987, pp. 17 ff; Skouris, "Systems of Judicial Review of the Constitutionality of Legislation" (Συστήματα τον διχαστικού ελεγχον της συνταγματικότητας των νόμων, Systimata tou dikastikou elegchou tis s y n t a g m a t i k o t i t a s ton nomon), T h e Constitution (per. publ.) 1982, pp. 507ff, Manitakis, op. cit. (note 26), p. 15 (note 1). 52 T h e r e is no evidence whether the Greek evolution w a s directly influenced by the decision of 1803 of the US Supreme Court. See Vegleris, op. cit. (note 27), pp. 439 ff (448); Manitakis, op. cit. (note 26), p. 26. It is, however, pointed out that both in the USA and Greece the founding bases of the diffuse review a r e identical. See in particular A. Manitakis, op. cit. (note 26), Rfevue Internationale de Droit Compare,

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considered as being a fundamental element of the due process principle53. An obvious demonstration of this conception is that the Constitution of 1975 expressly imposed the obligation of the courts to deny application of the unconstitutional legislation. The history of modern Greece, troubled by successive wars and political or economic upheavals, can indeed give a good explanation of why this power of the courts, in their capacity as independent State organs, allowed Greek legal theory54 to consider them as the defenders of the Constitution against the Legislature. On the basis of the obligation of every function to stop the overstepping of power by the others, it is justly pointed out that the right of the courts to deny application of the unconstitutional legislation safeguardes the principle of separation of powers. Nevertheless, the gradual reinforcement of this judicial power, as a factor of neutralizing the Legislature, has during the last decades been a point of intense concern55. The practice 56 of the courts to actually act as makers of the law provoked the question, if and to what extent should the courts be allowed to intervene in order to decide upon, e.g., the problem of the "unequal law" and "correct" its inequity57. Also, the practice of the courts to deny the application of certain legislation acts in cases where the general principles of the Constitution are infringed and the tendency58 of the courts to "discover" constitutional principles, 1988, pp. 39-55. 53 See in particular the recent work by A. Manitakis, Due Process of Law and Judicial Review of Constitutionality (Κράτος δίκαιον και διχαστικός έλεγχος της συνταγματικότητας, Kratos dikaiou kai dikastikos elegchos tis syntagmatikotitas) I, Thessaloniki 1994, pp. 357-362 ; the same author, op. cit. (note 26), Rfivue Internationale de Droit ComparS 1988, pp. 39ff. See also the comment by Kynakopoulos, op. cit. (note 27), p. 119 in fin : "La Grece, ou la doctrine et la jurisprudence reconnaissent aux tribunaux le pouvoir et le devoir d' apprecier la constitutionnalitfe des lois invoqufees devant eux, vit veritablement sous un regime d' fitat de droit". 54 Manessis, op. cit. (note 26), p. 328. 55 See Vegleris, op. cit. (note 27), p. 459 ff; the same author, supra (note 38), p. 608 and mainly p. 655. See also the comparative discussion by M. Stathopoulos, "Review of the Constitutionality of Legislation" (Ο ελεγχος της συνταγματικότητας των νόμων, Ο elegchos tis syntagmatikotitas ton nomon), Legal Tribune (Νομικό Βήμα, Nomiko Vima)37 (1989), pp. 1 ff. 56 See the comments by Vegleris, in The Constitution (per. publ.) 1981, p. 453. 57 See the sharp critisism by Vegleris, regarding some rulings of Areios Pagos in The Constitution (per. publ) 1978, p. 202 (206). See, also, Manessis, op. cit. (note 46), in Constitutional Theory and Practice, p. 348 note 21; Dagtoglou, op.cit. (note 31) pp. 727-728. 58 For the gradual evolution of the judicial review of constitutionality in the

Judicial Review of Unconstitutional Legislation in Greece

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by using the process of a "liberal" interpretation, has caused justified objections59. In connection with the modern Constitutions where a variety of ideals must be reconciled, sometimes, this seems, indeed, a dangerous practice60. Finally, the recent tendancy of the Council of State to abandon its previously developed conception61 that all Constitutional provisions have an equally binding character, by proceeding to the evuluation of the public interest which they serve62, has provoqued some strong critical remarks 63 .

comparative context and the currently existing trends see M. Cappelletti, "Necessite et legitimitfe de la justice constitutionnelle", Rgvue Internationale de Droit Comparg 1981, pp. 625 ff; L. Favoreu, Actualitg et legitimitfe du contröle juridictionnel de lois en Europe occidentale, R6vue du droit public 1984, pp. 1147-1201. 59 Vegleris, op. cit. (note 53), p. 456. 60 Cf. M. Cappelletti, " T h e L a w - m a k i n g Power of the Judge and its Limits : A Comparative Analysis", Monash University Law Review 1981, v. 8, pp. 15 ff. 61 Decision 292/1984. For critical r e m a r k s Pr. Pavlopoulos, "Judicial Review of Unconstitutional Legislation or Judicial Review of the Legitimacy of the Constitution" ( Δ ι κ α σ τ ι κ ό ς ελεγχος της συνταγματικότητας των νομών η δικαστικός ελεγχος της νομιμότητας τον Συντάγματος, Dikastikos elegchos tis syntagmatik o t i t a s ton nomon e dikastikos elegchos tis nomimotitas tou S y n t a g m a t o s ) , Legal T r i b u n e (Νομικό Β η μ α , N o m i k o Vima) 36 (1988), pp. 13 ff (22-26). 62 See in particular Council of S t a t e 400/1986. 63 Pavlopoulos, op. cit. (note 61), pp. 26 ff. See, also, P. Dagtoglou, "Public Interest and Constitution" (Δημόσιο συμφέρον και Σύνταγμα, Dimosio sympheron kai S y n t a g m a ) , T h e Constitution (per publ.) 1986, pp. 425-433; the same author, op. cit. (note 31), pp. 725 ff. For a r a t h e r different approach see, however, Manitakis, op. cit. (note 26), pp. 55 ff; Stathopoulos, op. cit. (note 52), pp. 16-18.

Hideo Nakamura Seine wissenschaftliche Arbeit

von

Prof. Takeyoshi Uchida

Tokyo

Professor an der Waseda Universität

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I.

Hideo Nakamura feiert am 2. März 1995 seinen 70. Geburtstag und wird am 31. desselben Monats als Professor der Waseda Universität emeritiert. In Asien wird der siebzigste Geburtstag „Koki" genannt, und man feiert diesen Geburtstag besonders, da ihn früher nur wenige Menschen erreichen konnten. Zwar sind in Japan 70jährige Jubiiiare heutzutage keine Seltenheit mehr, doch angesichts der Tatsache, daß manche Wissenschaftler dieses hohe Lebensalter leider nicht erreichen können, muß der Geburtstag aufrichtig gefeiert werden! Der Jubiliar ist mit Gesundheit gesegnet und geht bis heute seinen Forschungen nach. Über all' die Jahrzehnte hat er mit großem Fleiß als Wissenschaftler und Lehrer gearbeitet. Nakamura ist berühmt als ein rarer japanischer Rechtswissenschaftler, der viele Abhandlungen in deutscher Sprache veröffentlicht und im Ausland das japanische Zivilprozeßrecht bekanntgemacht hat. Hier soll von seinen wissenschaftlichen Aktivitäten berichtet werden.

II. Hideo Nakamura ist am 2. 3. 1926 als Sohn des Professors Muneo Nakamura, der an der Waseda Universität tätig war und später zum Mitglied der japanischen Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender der wissenschaftlichen Vereinigung für Zivilprozeßrecht wurde, und seiner Frau Fumiko in Waseda Minami-cho Tokyo zur Welt gekommen. Als er in die Grundschule kam, ist seine Familie in den Stadtteil Nakano von Tokyo umgezogen. Dort lebt Nakamura noch heute. Nach der Grundschule ging Nakamura in die Waseda-Mittelschule und danach in die mit der Waseda Universität in Verbindung stehende Waseda-Kötögakuin-Oberschule und trat dann in die Waseda Universität ein, um Rechtswissenschaften zu studieren. Als er diese Fakultät absolvierte, blieb er als Lehrkraft an dieser Universität und ist dort seit 46 Jahren in Lehre und Wissenschaft tätig. Also ist Nakamura ein echter „Wase-

Hideo Nakamura

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danier". Es erscheint, daß er als Sohn eines berühmten Professors des Zivilprozeßrechts zu einem Zivilprozeßrechtswissenschaftler geboren wurde und alles in seinem Leben glatt verlief. Es gab für ihn aber auch schwere Zeiten. Als er Mittelschüler war, begann Japan den Krieg mit Nationalchina und kurze Zeit später tobte der Zweite Weltkrieg. Während des Krieges herrschte eine militärische Schulerziehung, es wurde der Einsatz aller Arbeitskräfte gefordert und es kam zu heftigen Luftangriffen. Im Laufe des Krieges wurde die Versorgungslage für lebensnotwendige Dinge immer schwieriger. Nakamura konnte diese harten Zeiten in Tokyo glücklicherweise heil überstehen. Als Nakamura im zweiten Semester des Jurastudiums stand, war der Krieg zu Ende. Nach dem Ende des Krieges wurden zahlreiche Gesetze neu gefaßt, bzw. grundlegend reformiert u.a. die Verfassung, das Gerichtsverfassungsgesetz, das IV. und V. Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches (Familien- und Erbrecht) und die StrafprozeßOrdnung. Diese Reformen inspirierten ihn, in die Wissenschaft zu gehen. Als Nakamura in die wissenschaftliche Laufbahn eintrat, wurde er außer von seinem Vater auch besonders von Professor Kinsaku Saitö beeinflußt, der damals den Lehrstuhl für Straf recht und Strafprozeß recht innehatte und zuvor ein Schüler von Muneo war. Nakamura kannte Saitö schon seit seiner Kindheit, da Saitö sich oft um ihn gekümmert hatte. Als Nakamura in die vierte Klasse der Mittelschule ging (nach dem alten System, Abschluß mit der fünften Klasse), empfahl Saitö ihm, noch vor Abschluß der Mittelschule, die Aufnahmeprüfung für die WasedaKötögakuin-Oberschule abzulegen. Als er die Prüfung bestanden hatte, begann Saitö, ihm die deutsche Sprache und deutsches Recht zu lehren. Auch hatte Nakamura kurz vor dem Abschluß seines Universitätsstudiums mit ihm darüber gesprochen, daß er gerne an der Universität bleiben und Wissenschaftler für Prozeßrecht werden möchte. Saitö verlangte von ihm, die juristische Staatsprüfung, die als schwierigste Prüfung in Japan gilt, abzulegen. Nakamura legte die juristische Staatsprüfung mit einer guten Zensur ab, und wurde 1950 als Assistent der juristischen Fakultät der Waseda Universität eingestellt. Das war der Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Auch ich habe damals angefangen, bei Professor Muneo Nakamura zu studieren und auf diese Zeit führt unsere lange Freundschaft zurück. Am Anfang seiner Laufbahn interessierte sich Nakamura für die Erforschung des Strafprozeßrechts, dessen System sich nach dem Krieg

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von der Inquisitionsmaxime zur Parteienmaxime gewendet hatte. Seine erste Monographie befaßte sich mit dem Thema „Zum Klagegrund im Strafprozeß" 1 . Das neue Strafprozeßrecht stand unter dem Einfluß des amerikanischen Rechts und schreibt den Begriff „Soin" (Klagegrund) vor, den die ehemalige StPO nicht kannte. Damals war sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung streitig, was unter diesem Begriff zu verstehen sei. Nakamura hatte als Anhaltspunkt für eine Lösung die Lehre vom Streitgegenstand aus dem Zivilprozeß herangezogen. Noch heute findet diese Abhandlung Erwähnung, wenn es um den Begriff des Klagegrundes geht. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß sie als eine Assistentenabhandlung hervorragend gelungen war. Nach der Forschung des Klagegrundes im Strafprozeß erschien es Nakamura sinnvoller, für die Erforschung des Strafprozeßrechts vermehrt Zivilprozeßrecht zu studieren. So verlagerte sich sein Interesse zunehmend vom Strafprozeßrecht hin zum Zivilprozeßrecht. 1952 wurde er Dozent und erhielt von der Fakultät den Auftrag, das Seminar für Zivilprozeßrecht zu leiten. Auch aus diesem Grund wurde er mehr zum Zivilprozeßrechtler. Seine nächste Abhandlung beschäftigte sich mit dem gerichtlichen Vergleich, die in der von der wissenschaftlichen Vereinigung für Zivilprozeßrecht herausgegebenen Studienserie veröffentlicht wurde2. Später stellte er eine umfassende Analyse Uber sämtliche gerichtliche Entscheidungen über den gerichtlichen Vergleichs auf, die in der Zeitschrift der wissenschaftlichen Vereinigung für Zivilprozeßrecht veröffentlicht wurde3. Er wurde durch diesen beiden Aufsätze als Spezialist für den gerichtlichen Vergleich anerkannt4. Diese beide Aufsätze sind heute noch ein Standardwerk über das Problem des gerichtlichen Vergleichs.

1 Hideo Nakamura, Zum Klagegrund im Strafprozeß (in japanischer Sprache), Waseda Högaku (The Waseda Law Review), Bd. 26 Heft 2-3 (1951), S. 55-92. 2 H. Nakamura, Gerichtlicher Vergleich (in japanischer Sprache), in : Minji-Soshöhö Gakkai (Wissenschaftliche Vereinigung für Zivilprozeßrecht) (Hrsg.), Minji -Soshöhö Köza (Kompendium des Zivilprozeßrechts) Bd. 3, Yühikaku, Tokyo 1955, S. 819-842. 3 H. Nakamura, Studien zu Entscheidungen über den gerichtlichen Vergleich (in japanischer Sprache), Minji-Soshö Zasshi (Zeitschrift für Zivilprozeßrecht), Nr. 7 (1961), S. 177-243. 4 Nakamura schrieb später noch einen anderen Aufsatz über den Prozeßvergleich, „Gerichtlicher Vergleich im familienrechtlichen Prozeß" (in japanischer Sprache), in Jitsumu-Minji-Soshö-Köza (Kompendium für Zivilprozeßpraxis) Bd. 6, Nihon-Hyöron-sha, Tokyo 1971, S. 231-252.

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Sein Vater Muneo hatte ihn gelegentlich gelehrt, das Prozeßrechtswesen sei das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung und nur wenn man die Geschichte richtig verstehe, erschließe sich ein richtiges Bild des heutigen Prozeßrechts. Das japanische Zivilprozeßrecht hatte sich die deutsche Zivilprozeßordnung von 1877 zum Vorbild genommen. Daher sei die Kenntnis der deutschen Zivilprozeßrechtsgeschichte von großer Bedeutung. Vater Muneo hatte über die Streitgegenstandslehre, die Rechtskraftlehre und die Interventionslehre im deutschen Zivilprozeßrecht detaillierte historische Forschungen betrieben. Auch Hideo Nakamura investierte viel Kraft und Energie in die Erforschung der Rechtsgeschichte des deutschen Zivilprozesses. Der historische Forschungsansatz ist die charakteristische Gemeinsamkeit der Arbeiten von Vater und Sohn Nakamura. Nakamura hatte neben der Erforschung des gerichtlichen Vergleichs eine Untersuchung Uber den Streitgegenstand im Zivilprozeß durchgeführt, weil er die Streitgegenstandlehre beim Studium Uber den „Klagegrund im Strafprozeß" offengelassen hatte. Er verfolgte die Geschichte des Begriffes des Streitgegenstandes vom Gemeinrecht bis zum römischen Actio-System und dem alten germanischen Recht zurück. Diese große Abhandlung wurde 1955 im Waseda Law Review veröffentlicht 5 . Nach dieser Forschung stieß sein Interesse auf den Mehrparteienprozeß. Er untersuchte die Geschichte der Streitgenossenschaft, besonders den Verlauf der Kontroverse über die einheitliche Feststellung in der notwendigen Streitgenossenschaft 6 . Auf der Basis seiner geschichtlichen Forschungen, versuchte er weiter, die Lehre von der Streitgenossenschaft neu zu strukturieren 7 . Auf gleiche Weise hatte er später die Geschichte der Klageänderung erforscht und ebenfalls einen neuen Ansatz in der Lehre vertreten 8 . 5 H. Nakamura, Der Streitgegenstand — Werdegang dieses Begriffes (in japanischer Sprache), Waseda Högaku, Bd. 31 Heft 1-2 (1955), S. 47-88. Zusammengefaßt veröffentlicht in deutscher Sprache in: The Japan Annual of Law and Politics, No. 5 (1957), S. 92-94. 6 Η. Nakamura, Die einheitliche Feststellung in der notwendigen Streitgenossenschaft (in japanischer Sprache), Waseda Högaku, Bd. 40, Heft 1 (1964), S. 223-257. 7 H. Nakamura, Die Neustrukturierung der besonderen Streitgenossenschaftslehre (in japanischer Sprache), in: Festschrift für Muneo Nakamura zum 70. Geburtstag, Keibundö, Tokyo 1965, S. 187-218. 8 H. Nakamura, Die erneute Prüfung der Klageänderungslehre (in japanischer Sprache), in: Festschrift für Jun'ichi Nakata zum 60. Geburtstag, Band 1, Yühikaku, Tokyo 1969, S. 153-195.

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Durch diese Forschungen ist es Nakamura aufgefallen, daß es bei der Zivilprozeßrechtslehre die zwei großen Ströme, einmal den römischrechtlichen und zum anderen den germanisch-rechtlichen Strom gibt, und daß die heutige Zivilprozeßrechtslehre auf diesen beiden Strömen basiert. Er kam zu dem Gedanken, daß der Streit um das Wesen des Zivilprozesses auf die Gegensätzlichkeit der Standpunkte je nach Rechtskreis zurückgeht. 1977, als er einen Sammelband seiner zivilprozessualen Abhandlungen veröffentlicht hatte, konkretisierte er obigen Gedanken in einer Abhandlung, die den Anfang dieses Buchs schmückt 9 . Ihm wurde für diese Arbeit der Doktor juris der Waseda Universität verliehen. Der Gegenstand der Forschung von Nakamura war zuerst die Gegensätzlichkeit der römisch-rechtlichen und germanisch-rechtlichen Lehre im deutschen Zivilprozeß. Als er anglo-amerikanisches Recht eingehend studiert hatte, hatte er deutlich gemerkt, daß die gleiche Gegensätzlichkeit zwischen dem kontinental-europäischen Recht, das zum römischrechtlichen Kreis gehört, und dem anglo-amerikanischen Recht, das zum germanisch-rechtlichen Kreis gehört, vorhanden ist. Er hat angefangen, das Zivilprozeß auf dem Standpunkt der vergleichenden Betrachtung vom kontinental-europäischen Recht und anglo-amerikanischen Recht zu untersuchen. Es folgte 1981 eine große Abhandlung auf japanisch10. Im gleichen Jahr referierte er zu diesem Thema zusammenfassend auf dem Kongreß zum Verfahrensrecht in Regensburg und auch auf einer Vortragsveranstaltung der Universität Freiburg. Es folgte eine Veröffentlichung in deutscher Sprache11. Nakamura ist zu folgender Theorie gelangt: Im Zivilprozeß gibt es zwei Elemente von Tatsache und Norm, und die Zivilprozesse, die zum römisch-rechtlichen Kreis gehören, gehen von der Norm aus und die Zivilprozesse, die zum germanisch-rechtlichen Kreis gehören, gehen von den Tatsachen aus, mit denen sich im Prozeß befaßt wird. Nakamura hat dieser Theorie weiter vertieft und noch einige Aufsätze vom gleichen Standpunkt aus veröffentlicht. Als das Institut für Rechtsvergleichung 9 H. Nakamura, Die römischen und germanischen Rechtsprinzipien im Zivilprozeß (in japanischer Sprache), in: derselbe, Minji-Soshö-Ronshü (Sammelband der zivilprozessualen Abhandlungen) Bd. 1, Seibundö, Tokyo 1977, S. 1-63. 10 H. Nakamura, Die Überlegungen zur Institution und Dogmatik des Zivilprozesses — eine Betrachtung vom Standpunkt der Rechtskreise aus (in japanischer Sprache), Minshöhö Zasshi, Bd. 84, Heft 6 (1981), S. 797-831, u. Bd. 85 Heft 1 (1981), S. 1-49. 11 H. Nakamura, Die Institution und Dogmatik des Zivilprozesses — eine Betrachtung vom Standpunkt der Rechtskreise aus —, ZZP Bd. 99 Heft 1 (1986), S. 1-33.

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der Waseda Universität 1988 sein 30jähriges Jubiläum beging, hat Nakamura, seit 1984 Direktor dieses Instituts, dafür in japanischer und deutscher Sprache eine Abhandlung „zwei Typen des Zivilprozesses" veröffentlicht12. 1989 zeigte er in einem Beitrag für die Festschrift für Prof. Habscheid die Unterschiede der Aufgaben der Gerichte in dem von der Norm ausgehenden Rechtskreis verglichen mit dem von den Tatsachen ausgehenden Rechtskreis auf13. 1993 beschäftigte er sich in seinem Aufsatz für die Gedächtnisschrift für Prof. Arens, den zu seinen Lebzeiten eine enge Freundschaft mit dem Hause Nakamura verband. Der Aufsatz befaßte sich mit dem Einfluß des amerikanischen Rechts auf den japanischen Zivilprozeß14. Außerdem muß eine in jüngster Zeit (1994) entstandene Abhandlung in japanischer Sprache über den Zweck des Zivilprozesses Erwähnung finden15. Vor dem Zweiten Weltkrieg war es herrschende Meinung, daß der Zweck des Zivilprozesses in dem Rechtsschutz für die Parteien läge. Seit den 50er Jahren wurde unter dem Einfluß des amerikanischen Rechts stärker der Gedanke vertreten, daß der Zweck vielmehr in der Lösung des Konflikts zwischen den Parteien zu sehen sei. Nakamura ist im Gegensatz zu dieser herrschenden Meinung der Ansicht, daß der Zweck im Rechtsschutz der Parteien erblickt werden müße, da das japanische Zivilprozeßrecht zum kontinentalen Rechtskreis gehöre. Nakamura hatte 1985 ein systematisches Lehrbuch zum Zivilprozeßrecht in drei Bänden herausgegeben, das später zusammengefaßt wurde16. Dieses Lehrbuch ist als ein Standardwerk, das das Zivilprozeßrecht vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklung betrachtet, hoch geschätzt. 12 H. Nakamura, Die zwei Typen des Zivilprozesses — der Zivilprozeß im kontinentalen und anglo-amerikanischen Rechtskreis ; Veröffentlichung in japanischer Sprache, Hikaku Högaku, Bd. 22, Heft 1 (1988), S. 1-33.; Veröffentlichung in deutscher Sprache in: Recht in Ost und West, — Festschrift zum 30jährigen Jubiläum des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda Universität, Tokyo 1988, S. 299-322. 13 H. Nakamura, Die Aufgabe des Gerichts — eine rechtsvergleichende Betrachtung über die Aufgabe des Gerichts im kontinentalen und im anglo-amerikanischen Rechtskreis, in : Festschrift für Walther J. Habscheid zum 65. Geburtstag, Bielefeld 1989, S. 205-215. 14 H. Nakamura, Der Einfluß des amerikanischen Rechts auf den japanischen Zivilprozeß, in: Gedächtnisschrift für Peter Arens, München 1993, S. 309-322. 15 H. Nakamura, Zum Zweck des Zivilprozesses (in japanischer Sprache), in : Festschrift für Toichirö Kigawa zum 70. Geburtstag, Bd. 1. Hanrei Taimuzu-sha, Tokyo 1994, S. 1-28. 16 H. Nakamura, Zivilprozeßrecht (in japanischer Sprache), Seibundö, Tokyo 1987.

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Man kann wohl sagen, daß seine Lehre, die die Institution und Dogmatik des Zivilprozeßrechts vom Standpunkt der Rechtskreise aus betrachtet, viel zum Fortschritt der japanischen Zivilprozeßrechtswissenschaft beigetragen hat.

III.

Nakamura hat bis heute zahlreiche Aufsätze in deutscher Sprache veröffentlicht und häufig an wissenschaftlichen Kongressen im Ausland teilgenommen und seine Standpunkte zum japanischen Recht vertreten. Diese Aktivitäten werden von seinen Kollegen sehr hoch geschätzt. Das japanische Recht hat sich zum großen Teil das deutsche Recht zum Vorbild genommen. Deshalb ist es für die japanische Rechtswissenschaft zum Verständnis des eigenen Rechts noch heute von großer Bedeutung, deutsches Recht zu studieren. Jeder japanischer Rechtswissenschaftler studiert auch ausländisches Recht. Meiner Ansicht nach ist die Forschung des ausländischen Rechts in Japan mit Sicherheit intensiver als die in anderen Ländern, insbesondere in Europa. Da japanisches Recht nur selten von ausländischen Rechtswissenschaftlern studiert wird, ist Japan in diesem Sinne — insbesondere von Europa — isoliert. Nakamura hat nicht nur deutsches Recht studiert, sondern hat sich auch sehr bemüht, das Verständnis für japanisches Recht auf internationaler Ebene zu verbessern. Das ist eine große Leistung. Warum Nakamura in dieser Richtung intensiv gearbeitet hat, wissen wir nicht genau. Die Antwort könnten wir aber in seiner Umgebung finden. Sein Vater hatte es bereits nach dem Zweiten Weltkrieg für wichtig und nötig gehalten, dem Ausland das japanische Recht näherzubringen. Er gab zu diesem Zweck zwei Zeitschriften heraus : „The Japan Science Review Law and Politics"17, — herausgegeben von der „Union of Japanese Societies of Law and Politics", bei der er Vorsitzender war, und „Japan Annual of Law and Politics"18, — herausgegeben von der zweiten Abteilung des „Science Council of Japan", bei der er ebenfalls als Vorsitzender tätig war. Dort wurden die Aufsätze in westlichen 17 Union of Japanese Societies of Law and Politics (Edit.), The Japan Science Review Law and Politics, No. 1, Tokyo 1950. 18 Second Division Science Council of Japan (Edit.), The Japan Annual of Law and Politics, No. 1, Tokyo 1952.

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Sprachen veröffentlicht und fanden so Zugang zum Ausland. Muneo Nakamura hatte auch viel Energie in den japanisch-deutschen Wissenschaftleraustausch eingesetzt. Er war Wegbereiter für Reisen japanischer Vertreter aus dem Wissenschaftskongreß nach Deutschland, wobei Überseereisen zu der Zeit noch recht schwierig waren. Muneo Nakamura reiste auch selbst viel ins Ausland und berichtete dann über seine Forschungsergebnisse 19 . Auch der verstorbene Professor Kinsaku Saitö war aktiv im Bekanntmachen des japanischen Rechts: Er stellte das japanische Strafrecht in deutscher Sprache vor20, und übersetzte den vorläufigen Entwurf für die Änderung des japanischen Strafrechts ins Deutsche21. Sicher waren die Aktivitäten seiner Lehrer Inspiration für Nakamura, an der Bekanntmachung japanischen Rechts im Ausland zu arbeiten. 1955 hatte Nakamura eine Gelegenheit in Freiburg i. Br. seine Forschung zu betreiben. Während dieser Zeit verfaßte Nakamura neben seiner Forschungsarbeit auch einen Aufsatz auf Deutsch über den Theorien zum Streitgegenstand im japanischen Strafprozeß 22 . Er begann seiner Zeit auch, das japanische Strafprozeßgesetz ins Deutsche zu übersetzen — zur Veröffentlichung kam es dann 19701968 hatte Nakamura wieder Gelegenheit, als Humboldtstipendiat für ein Jahr in Deutschland seine Forschung zu betreiben. Inzwischen hatte er auf Anregung von Professor Heldrich, Vorträge über das Thema: „Die Rezeption des deutschen Rechts in Japan" an den Universitäten Münster und München gehalten. Später wurde der Vortrag in einem Aufsatz zusammengefaßt 23 . Auch in dieser Zeit hat Nakamura mit Hilfe von Frau Dr. Huber die noch nicht zur Druckreife gekommene deutsche Übersetzung der japanischen StPO fertiggestellt 24 . Nach der Beendigung dieser Arbeit hat Nakamura mit Frau Dr. Huber begonnen, die japani19 Muneo Nakamura hat viele Aufsätze in europäischen Sprache veröffentlicht. Vgl. Fn. 35 u. 36. 20 K. Saitö, Das japanische Strafrecht, in: Mezger u. a. (Herg.), Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, I. Bd. Berlin 1955, S. 209-368. 21 Kusano/Saitö, Vorläufiger Entwurf des japanischen Strafgesetzbuches, Besonderer Teil, Tokyo 1940. 22 H. Nakamura, Der Streitgegenstand im japanischen Strafprozeß, ZStrW Bd. 69, Heft 4 (1957) S. 662-674. 23 H. Nakamura, Die Rezeption des deutschen Rechts in Japan — insbesondere auf dem Gebiet des Zivilprozeßrechts, ZZP Bd. 84, Heft 1 (1971), S. 74-90. 24 H. Nakamura, Die japanische Strafprozeßordnung, Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, Bd. 91, Walter de Gruyter & Co., Berlin 1970.

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sehe ZPO ins Deutsche zu übersetzen. Diese Arbeit ist erst nach zehn Jahren, 1978 veröffentlicht worden25. Diese hervorragende Übersetzung ist allen deutschen Rechtswissenschaftlern bekannt, die sich mit japanischem Zivilprozeßrecht beschäftigen. Auf diese Weise wurde der Name Nakamura in Deutschland allmählich bekannter. 1981 wurde er von Professor Habscheid, Leiter des internationalen Kongresses für Prozeßrecht 1983 in Würzburg beauftragt, bei dem Kongreß einen Generalbericht Uber das Thema Familiengerichtsbarkeit zu erstatten. Nakamura bearbeitete diese Aufgabe intensiv. Er beauftragte die Wissenschaftler der 24 Staaten, jeweils einen Landesbericht einzureichen, die er dann in einem Generalbericht zusammenfaßte. Der Generalbericht ist zuerst in einer Veröffentlichung des Kongresses zusammen mit anderen Generalberichten über verschiedene Themen erschienen26. Nakamura hat später seine Generalbericht und gesammelte Landesberichte in einem Band gesammelt und als Veröffentlichung Nr. 13 des von ihm leitenden Instituts für vergleichendes Zivilrecht veröffentlicht 27 . Als dieser internationale Kongreß in Würzburg veranstaltet wurde, hatte Nakamura ein Freisemester und hielt sich für ein halbes Jahr in Deutschland auf. Nakamura nutzte den Aufenthalt, um auch an der Universität Würzburg einen Vortrag zum Thema : „Familienrecht und Familiengerichtsbarkeit in Japan" zu halten28. 1989 in Passau veranstaltete die wissenschaftliche Vereinigung für Prozeßrecht ein Symposium zu dem Thema : „Die deutsche ZPO und ihr Einfluß auf andere Staaten". Nakamura erläuterte dort den Einfluß der deutschen ZPO auf das japanische Zivilprozeßgesetz 29 . 1991 hat das Deutsche Institut für Japanstudien der Philipp-Franz-von25 Nakamura/Huber, Die japanische ZPO in deutscher Sprache, mit einer Einführung in das japanische Zivilprozeßrecht von Nakamura (Baumgärtel u. a. Hrsg.: Japanisches Recht, Bd. 4), Carl Heymanns Verlag, Köln 1978. 26 H. Nakamura, Die Familiengerichtsbarkeit — Die Aufgabe des Gerichts in familienrechtlichen Konflikten, in: Habscheid (Hrsg.), Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung, Bielefeld 1983, S. 467-509. 27 H. Nakamura (Hrsg.), Familiengerichtsbarkeit — Die Nationalberichte und der Generalbericht zum VII. Internationalen Kongreß für Prozeßrecht, Würzburg 1983, Hikaku-Minjihö-Kenkyüsho (Institut für Vergleichendes Zivilrecht) Veröffentlichung Nr. 13, Tokyo 1984. 28 H. Nakamura, Familienrecht und Familiengerichtsbarkeit in Japan, Waseda Bulletin of Comparative Law, Vol. 4 (1985), S. 1-12. 29 H. Nakamura, Japan und das deutsche Zivilprozeßrecht, in: Habscheid (Hrsg.) Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Bielefeld 1991, S. 415-447.

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Siebold Stiftung ein Symposium über „Das Japanische im japanischen Recht" veranstaltet. Nakamura hat über „Das Japanische im japanischen Zivilprozeßrecht" berichtet 30 . Seitdem Nakamura 1977 am ersten internationalen Kongreß für Prozeßrecht in Gent teilgenommen hatte, war er oft zu wissenschaftlichen Veranstaltungen ins Ausland gereist und konnte dort viele internationale Kontakte herstellen, die zu zahlreichen Einladungen für Gastvorträge im Ausland führten. Er erhielt so die Gelegenheit, in vielen Ländern das japanische Zivilprozeßrecht und das hohe Niveau der japanischen ZivilprozeßWissenschaft bekanntzumachen 31 . In der letzten Zeit widmete er sich sehr dem wissenschaftlichen Austausch mit Griechenland. 1992 hatte er Prof. Beys von der Universität Athen nach Japan eingeladen und eine Arbeitsgemeinschaft veranstaltet. 1993 hat Nakamura im Gegenzug an der Universität Athen einen Vortrag Uber japanisches Zivilprozeßrecht gehalten. 1994 veranstaltete er zusammen mit Prof. Beys ein prozeßrechtliches Symposium über „Prozesse mit mehreren Prozeßparteien" 32 . 1995 hat er an einem von Prof. Beys veranstalteten Symposium über „Grundrechtsverletzungen bei der Zwangsvollstreckung" in Griechenland teilgenommen und für das gleiche Jahr Prof. Beys nach Japan eingeladen. Es besteht dank Nakamura und Prof. Beys zur Zeit eine sehr rege Zusammenarbeit japanischer und griechischer Prozeßrechtswissenschaftler. In Anerkennung dieser Leistungen ist Nakamura im Novenber 1995 der Ehrentitel des Doktor h.c. der Universität Athen verliehen worden.

IV. Soweit der kurze Überblick über die Hauptforschungstätigkeiten von Nakamura. Ein Stützpunkt seiner Aktivitäten ist das von seinem Vater gegründete Institut für vergleichendes Zivilrecht. Das Institut befindet sich am früheren Wohnsitz der Nakamuras, Waseda Minami cho, nur 30 H. Nakamura, Das Japanische im japanischen Zivilprozeß, in : Menkhaus (Hrsg.) Das Japanische im japanischen Recht, München 1994, S. 489-499. 31 Wien, Freiburg in 1981 ; -Lodz in 1987 ; Taipei in 1990 ; Würzburg, Hamburg in 1991 ; Athen in 1993. 32 Dike-International 1996.

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wenige Minuten von der Universität entfernt. Sein Vater hatte dort bis zu seinem Tode gearbeitet und eine große und wertvolle Bibliothek mit internationalen Veröffentlichungen angelegt. Sein Sohn führt nun die Studien fort und ergänzt die Bibliothek ständig. Ihm ist es gelungen, das kleine Institut über die langen Jahre erfolgreich zu führen und Veröffentlichungen herauszugeben. Dies ist eine große, bewundernswerte Leistung. Nakamura hat seinem Vater auch nach seinem Tode immer seine große Dankbarkeit erwiesen. Er hat zum Beispiel Aufsätze seines Vaters in verschiedenen Sammelwerken herausgegeben: „Wissenschaftliche Methodik und Prozeßrechtslehre" 33 (in japanischer Sprache), und „Studium der Rechtsprechung zum Zivilprozeß, Bd. 2"34 (in japanischer Sprache) ferner als Schriftenreihe von seinem Institut: „Sammelband der zivilprozessualen Abhandlungen" 35 und „Collected Works on Civil Procedure" 36 . In dieser Arbeit kommt seine Verehrung für seinen Vater zum Ausdruck. 1955 wurde Nakamura Assistenzprofessor und 1960 ordentlicher Professor an der Waseda Universität. Bis zu seiner Altersgrenze arbeitete an der Waseda und hat im Laufe der Jahre viele juristishe Praktiker und Wissenschaftler ausgebildet. Von 1962 bis 1964 war er stellvertretender Dekan der juristischen Fakultät, als Prof. Kinsaku Saitö Dekan der juristischen Fakultät war. Er war von 1980 bis 1982 Vorsitzender des Forschungs-kursus der Rechtswissenschaft der Waseda Universität, von 1984 bis 1988 Direktor des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda Universität und von 1990 bis 1994 Präsident der juristischen Vereinigung der Waseda Universität. Während dieser Zeit hat er für die Forschung und Ausbildung der Universität sehr viel beigetragen. In Bezug auf den internationalen Austausch der Wissenschaft soll besondere Erwähnung finden, daß er als Direktor des Instituts für Rechtsvergleichung eine Institution für ausländische Gastwissenschaftler begründet und als Präsident der juristischen Vereinigung einen Fonds für die Einladung von ausländischen 33 M. Nakamura, Gakumon no Höhö to Soshö-Riron, Seibundö, Tokyo 1976. 34 M. Nakamura, Hanrei Minji-Soshöhö Kenkyü, Dai 2 Kan, Seibundö, Tokyo 1981. 35 M. Nakamura, Sammelband der zivilprozessualen Abhandlungen, Hikaku Minjihö Kenkyüsho (Institut für vergleichendes Zivilrecht) Veröffentlichung Nr. 15. Tokyo 1991. 36 M. Nakamura, Collected Works on Civil Procedure, Hikaku Minjihö Kenkyüsho, Publication No. 16. Tokyo 1991.

Hideo N a k a m u r a

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Gastwissenschaftler eingerichtet hat. Neben seinen Aktivitäten an der Universität war er sehr lange Zeit (1962-1980) ein Mitglied des Vorstandes der wissenschaftlichen Vereinigung für Zivilprozeßrecht und ab 1978 war er ein Mitglied des Rates der wissenschaftlichen Vereinigung für notarielles Recht. Er hat mit seiner Arbeit zur Weiterentwicklung dieser Gesellschaften viel beigetragen. Von 1984 bis 1987 war er ein Mitglied der Disziplinarkommission der japanischen Vereinigung für Rechtsanwälte. Von 1989 bis heute ist er Mitglied des Rates der Waseda Oberschule. Im Laufe der Jahre hat er auch an verschiedenen anderen Universitäten als Lehrbeauftragter gearbeitet: der Kokushikan Universität, der Rikkyo Universität, der Chüö Universität, der Nihon Universität und der Hitotsubashi Universität in Tokyo, der Aichigakuin Universität in Nagoya, der Yamanashi Universität in Köfu und der Shimane Universität in Matsue. Es ist sehr schade, daß Nakamura nun die Altersgrenze erreicht hat und als Professor von der Waseda Universität emeritiert, doch er wird als Gastprofessor weiterhin an der Kokushikan Universität aktiv sein und auch seine Forschungstätigkeit an seinem Institut für vergleichendes Zivilrecht wie bisher fortsetzen. Ich hoffe, daß er weiter so gesund und aktiv wertvolle Beiträge der Wissenschaft und jungen Juristen durch seine lange Erfahrung Wertvolles auf ihren Lebensweg geben wird.

Verzeichnis der Schriften von Hideo Nakamura

Verzeichnis der Schriften von Hideo Nakamura

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I. Bücher 1 . Zivilprozeßrecht für Jedermann • S n / s ä i ^ l f · K V I I f K ä (Kögo

Roppö-zensho,

Minji-soshö-hö)

(mit Prof. Someno u. Kigawa) Jiyü-Kokuminsha, Tokyo 1963. 2 . Die japanische Strafprozeßordnung Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Ubersetzung, Bd. 91 Walter de Gruyter & Co., Berlin 1970. 3.

(Hrsg.) ft^jlSSISM?

Zivilprozeßrecht

, Yühikaku, Tokyo 1988, S. 132-133. 74. Die zwei Typen des Zivilprozesses — Der Zivilprozeß im kontinentalen und im anglo-amerikanischen Rechtskreis soshö ni okeru futatsu no Kata — Tairiku-hökei Minji-soshö to Eibei-hökei Minji-soshö) Hikaku Högaku, Bd. 22, Heft 1 (1988), S. 1-33. 75. Die zwei Typen des Zivilorozesses — Der Zivilprozeß im kontinentalen und im anglo-amerikanischen Rechtskreis (Deutschsprachige Fassung von Nr. 74) in: Recht in Ost und West, Festschrift zum 30-jährigen Jubiläum des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda Universität, Tokyo 1988, S. 299-322. 76. Inleiding in het Jaapanse Recht (Einführung in das japanische Recht) in: D. Kokkini-Iatridou e.a., EEn Inleiding tot het Rechtsvergelijkende Onderzoek, Amsterdam 1988, S. 937-950. 77. Die Aufgabe des Gerichts — Eine Rechtsvergleichende Betrachtung über die Aufgabe des Gerichts im kontinentalen und im anglo-amerikanischen Rechtskreis in: Festschrift für Walther J. Habscheid zum 65. Geburtstag, Bielefeld 1989, S. 205-215. 78. Uberblick über den japanischen Zivilprozeß Acta Universitatis Lodziensis Folia Juridica, Vol. 42 (1990), S. 3-15.

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79. Klage- und Parteiänderung nach dem Eintritt der Rechtshängigkeit in der japanischen Zivilprozeßordnung in: Festschrift für Gottfried Baumgärtel zum 70. Geburtstag, Köln 1990, S. 389-402. 80. Der Zivilprozeß in Japan — Seine gegenwärtige Lage und Probleme Waseda Bulletin of Comparative Law, Vol. 10 (1990), S. 3-16. 81. Japan und das deutsche Zivilprozessrecht in: Habscheid (Hrsg.), Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Bielefeld 1991, S. 415-447. 82. II processo civile in Giappone (italienische Übersetzung von Nr. 80) in : Rivista Trimestrale di Diritto e Procedura Civile, Vol. 46, No. 3 (1992), S. 937-950. 83. Probleme im japanischen Zivilprozeß Mitteilungen der Deutsch-Japanischen Juristenvereinigung, Nr. 7 (1992), S. 3-9. 84.

Η αναγκαστική εκτέλεση στην Ιαπωνία (Zwangsvollstreckung in Japan) DIKE, Bd. 24, Heft 8 (1993), S. 883-885.

85. Der Einfluß des amerikanischen Rechts auf den japanischen Zivilprozeß in: Gedächtnisschrift für Peter Arens, München 1993, S. 309-322. 86. Επισκόπηση της ιαπωνικής πολιτικής δίκης (Überblick über den Japanischen Zivilprozeß) DIKE Bd. 24, Heft. 10 (1993), S. 913-925. 87. Der Zivilprozeß im kontinentalen und im anglo-amerikanischen Rechtskreis λ Ι ^ ί έ ^ Κ ^ Ι ί 12 b hökei

(Tairiku-hökei Minji-soshö

to Eibei-

Minji-soshö)

in: Nakamura (Hrsg.), Minji-soshö-hö Enshü (Zivilprozeßrechtseminar), Seibundö, T o k y o 1994, S. 1-10. 88. Die Miteigentumsverhältnisse und die Streitgenossenschaft t

(Kyödö-shoyü-kankei

in : Nakamura (Hrsg.), Minji-soshö-hö Enshü

to

Kyödö-soshö)

(Zivilprozeßrechtseminar),

Seibundö, T o k y o 1994, S. 88-97. 89. Zum Zweck der Institution des Zivilprozesses Ri-§fl£r|j1Jftcc7) § Wt^^T

(Minji-soshö

Seido no Mokuteki ni tsuite)

Verzeichnis der Schriften von Hideo Nakamura

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in: Festschrift für Töichiro Kigawa zum 70. Geburtstag, I. Teil, HanreiTaimuzusha, Tokyo 1994, S. 1-28. 90. Das Japanische im japanischen Zivilprozeß in: Menkhaus (Hrsg.), Das Japanische im japanischen Recht, München 1994, S. 489-499. 91. Γενική εισαγωγή στις δίκες με περισσότερους διαδίκους καια τον ιαπωνικό κώδικα πολιτικής δικονομίας (Überblick über den Prozeß mit mehreren Parteien in der japanischen ZPO) DIKE, Bd. 27 Heft 1 (1996), S. 1217. 92. Η αναγκαστική ομοδικία στην ιαπωνική Πολιτική Δικονομία (Die notwendige Streitgenossenschaft) DIKE, Bd. 27 Heft 1 (1996), S. 18-23.

III. Ubersetzungen 93. Schwab, Die Reform der Zivilgerichtsbarkeit Jsj^Üffi^l^iStip

(Minji-Saibanken

no

Kaikaku)

Shihö-kenshüsho Kenshü-sösho, Nr. 54 (1968), S. 19-31. 94. Das neue Rechtspflegergesetz vom 27. 6· 1970 K-f

(Doitsu

Shin

Shihö-hojokan-hö)

Zenkoku-Shokyö-Kaihö Nr. 34 (1971), S. 19-27. 95. Heldrich, Möglichkeiten und Grenzen der Sozialgestaltung durch gesetzgeberische Maßnahmen ÄiSisili'

i

Kanösei

to

ättziff^Ji;«?)"BJtb'141

(Rippösochi

ni yoru

Shakaikeisei

no

Genkai)

Hikaku Högaku, Bd. 9, Heft 1 (1974), S. 159-168. 96. Simson, Einführung in das schwedische Prozeßrecht X^i—r*>ifflSffli-Ki,

(Sweden

Soshö-hö

Josetsu)

Kokushikan Högaku (Kokushikan Law Review), Vol. 7 (1975), S. 161-188. 97. Blomeyer, Das neue deutsche Reisevertragsrecht SfL^ ni

f-M

(Atarashii

Doitsu

no

Ryokö-keiyaku-hö

tsuite)

Hikaku Högaku, Bd. 16, Heft 1 (1982), S. 139 152. 98. Baur, Neuere Probleme der privaten Schiedsgerichtsbarkeit Κ^Φ^ΌΪΙ^ίΟΡρΙΙΙ

(Minji-chüsai

no Saikin

no

Mondai)

744

Hikaku Högaku, Bd. 17, Heft 1 (1983), S. 167-186 (mit LL.M. Sakamoto). 99. Habscheid, Schweizerisches Zivilprozessrecht Χ Α XCDKifjüpISä; (Swiss no Minji-soshö-hö) Waseda Högaku, Bd. 58, Heft 3 (1983), S. 347-364 (mit LL.M. Komatsu). 100. Fasching, Deutsches und österreichisches Zivilprozeßrecht Κ 4 "/ t —X h ') TiOjJc^fffKife (Doitsu to Austria no Minji-soshö-hö) Waseda Högaku, Bd. 58, Heft 3 (1983), S. 365-377 (mit LL.M. Nakayama). 101. Püschel, Das neue Zivilrecht und Zivilprozeßrecht der Deutsche Demokratischen Republik und die Ausbildung der Studenten auf diesem Gebiet (Doitsu-minshu-kyöwakoku ni okeru atarashii Minpö to Minji-soshö-hö, oyobi kono Hö-bun'ya ni tsuite no Gakusei no Kyöiku) Hikaku Högaku, Bd. 18, Heft 1 (1984), S. 151-162. 102. Schlosser, Der aktuelle Stand der deutschen Wissenschaft vom Zivilprozeß Κλ (Doitsu Minji-soshö-högaku no Genkyö) Hikaku Högaku, Bd. 19, Heft 2 (1986), S. 125-143. 103. Arens, Aktuelle Tendenzen in der deutschen Rechtsprechung — die Verlagerung von Aufgaben der politischen Instanzen und Verwaltung auf die Gerichte ^ί^ΐκ (Gendai Doitsu ni okeru Saiban no Süsei — Rippö-kikan oyobi Gyösei no Kadai no Saibansho eno Iten) Hikaku Högaku, Bd. 21, Heft 1 (1987), S. 131-157-

IV. Entscheidung» Rezensionen 104. Rez. zum Urteil des OGH (Oberster Gerichtshof, Saikö-saibansho) vom 12. 5. 1959, Hanrei Hyöron, Nr. 20 (1959), S. 13-15. 105. Rez. zum Urteil des RG (Reichsgericht, Daishin'in) vom 7. 8. 1931, Zoku Hanrei-Hyakusen , 1960, S. 48-49. 106. Rez. zum Urteil des OGH vom 13. 7. 1962, Minshoho Zasshi, Bd. 48, Heft 4 (1963), S. 593-603. 107. Rez. zum Urteil des OGH vom 21. 2. 1963, Minshöhö Zasshi, Bd. 49, Heft 4 (1964), S. 561-570. 108. Rez. zum Urteil des OGH vom 15.11. 1963, Hanrei Hyöron, Nr. 69 (1964),

Verzeichnis der Schriften von Hideo N a k a m u r a

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S. 34-36. 109. Rez. zum Urteil des OGH vom 13. 7.1962, Minji-soshö-hö Hanrei-Hyakusen (Bessatsu Jurist, No. 5> (1965), S. 32-33 ; Rez. zum Urteil des RG vom 25. 4. 1933, a.a.O. S. 86-87; Rez. zum Urteil des OGH vom 9. 6. 1960, a.a.O. S. 196-197. 110. Rez. zum Urteil des OGH vom 22. 4. 1965, Minshöhö Zasshi, Bd. 53, Heft 6 (1966), S. 953-958. 111. Rez. zum Beschluß des OLG (Oberlandes Gericht, Kötö-saibansho)

Tokyo

vom 11. 10. 1965, Hanrei Hyöron, Nr. 93 (1966), S. 143-146. 112. Rez. zum Urteil des OGH vom 21. 1. 1966, Minshöhö Zasshi, Bd. 55, Heft 2 (1966), S. 332-342. 113. Rez. zum Urteil des OGH vom 12. 4. 1966, Minshöhö Zasshi, Bd. 55, Heft 5 (1967), S. 794-803. 114. Rez. zum Urteil des OGH vom 30. 9. 1966, Hanrei Hyöron, Nr. 100 (1967), S. 89-92. 115. Rez. zum Urteil des OGH vom 22.11.1966, Jurist, Nr. 373 (1967), S. 306-308. 116. Rez. zum Urteil des OGH vom 23. 2. 1967, Minshöhö Zasshi, Bd. 57, Heft 2 (1967), S. 306-313. 117. Rez. zum Urteil des OLG Tokyo vom 19. 6. 1967, Hanrei Hyöron, Nr. 110 (1968), S. 116-119. 118. Rez. zum Urteil des OGH vom 22. 5. 1970, Minshöhö Zasshi, Bd. 64, Heft 1 (1971), S. 108-118. 119. Rez. zum Urteil des OGH vom 12. 3. 1963, Zoku Minji-soshö-hö HanreiHyakusen