Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001 [Reprint ed.] 9783110877021

Diese Festschrift ist dem Wissenschaftler und akademischen Lehrer gewidmet, der in Deutschland wie in zahlreichen andere

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Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001 [Reprint ed.]
 9783110877021

Table of contents :
Vorwort
I. Grundlagen des Strafrechts
Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft
Die Anziehungskraft vorgelagerter Gliederungselemente
Zur funktionalen Begründung des Verbrechenssystems
Über die Verknüpfungen von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (Ontologismus versus Normativismus?)
Rechtsnorm und Strafvorschrift
Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft - Überlegungen zu einer diskurstheoretischen Strafgesetzgebungslehre -
Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Lichte der Rechtsidee
Kann und soll der Allgemeine Teil bzw. das Verfassungsrecht mißglückte Regelungen des Besonderen Teils retten? - Die „Geldwäsche“ durch den Strafverteidiger -
II. Allgemeiner Teil des Strafrechts
Zum strafrechtlichen Handlungsbegriff von Claus Roxin
Die Sinndeutung der Handlung
„Sozialadäquanz“: eine überflüssige oder unverzichtbare Rechtsfigur? - Überlegungen anhand sozialüblicher Vorteilsgewährungen -
Faszinierendes, Berechtigtes und Problematisches der Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs
Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan
Die Zurechnung beim nachträglichen Fehlverhalten eines Dritten
Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung
Brauchen wir eine Risikoerhöhungstheorie?
Einige Bemerkungen über das Kausalitätsproblem und die Täterschaft im Falle rechtswidriger Kollegialentscheidungen
Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen
„Dolus generalis“ und „strafrechtliches Glück“
An der Grenze von Vorsatz und Fahrlässigkeit - Ein Modell multikriterieller computergestützter Entscheidungen -
Die Einwilligung in ihrer strafrechtlichen Bedeutung - Bemerkungen über Tatbestandsausschluss und Rechtfertigungsgründe
Zur materiellen Legitimation der mutmaßlichen Einwilligung
Der Rechtfertigungsgrund der Kollision von Rettungsinteressen - Rechte, Pflichten und Interessen als Elemente der rechtfertigenden „Pflichtenkollision“ -
Wieso ist eigentlich die „eingeschränkte Schuldtheorie" „eingeschränkt" ? - Abschied von einem Meinungsstreit -
Irrtum und Prävention
Mittelbare Täterschaft und Verbotsirrtum
Staatstheorie und Verbotsirrtum
Schuld, Schuldprinzip und strafwürdige Schuld
Gewissenstat, Gewissensfreiheit und Schuldausschluss
Täterschaft und Teilnahme im neuen spanischen Strafgesetzbuch von 1995
Tendenzen zur Einheitstäterschaft - Die verborgene Macht des Einheitstäterbegriffs
Objektive positive Tatbestimmung und Tatbestandsverwirklichung als Täterschaftsmerkmale
Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate im Rahmen „nichtrechtsgelöster“ Organisationen?
Zur Problematik der psychischen Beihilfe Zugleich ein Beitrag über die Kausalität der Beihilfe
Zur Dreiteilung der Unterlassungsdelikte
Unechte Unterlassung und Risikoerh
Die Beendigung des vollendeten Delikts
Zur „Vorstellung von der Tat“ im Tatbestand des Versuchs
Untauglicher Versuch und Tatstrafrecht
Untauglicher Versuch und statistische Gefährlichkeit im neuen spanischen Strafgesetzbuch
Der Versuch, die Straftat durch einen anderen zu begehen
Betrachtungen über den Strafbefreiungsgrund des Rücktritts vom Versuch
III. Besonderer Teil des Strafrechts
Materielle Vollendung bei Verletzungsdelikten gegen die Person - Zugleich ein Beitrag zur Verallgemeinerung des Besonderen Teils
Gedanken zur Problematik der objektiven Zurechnung im Besonderen Teil des Strafrechts
Zur Rechtzeitigkeit der Anzeige einer geplanten Straftat gemäß § 138 Abs. 1 StGB
Relativierung des rechtlichen Lebensschutzes?
Mord durch Unterlassen
Das Organhandelsverbot - Legitimität und Inhalt einer paternalistischen Strafrechtsnorm
Recht als Grenze der Gentechnologie
Zur objektiven Bestimmung der Nötigung
Die Endgültigkeit der Enteignung als Merkmal des Unterschlagungstatbestandes - Versuch einer dispositionellen Erklärung
Zur Reichweite der verwaltungsbehördlichen Erlaubnis im Umweltstrafrecht
Zum Vorteilsbegriff bei den Bestechungsdelikten
IV. Kriminalpolitik und Sanktionen
Die Legitimation des staatlichen Strafrechts zwischen Effizienz, Freiheitsverbürgung und Symbolik
Die besonderen Aufgaben des Strafrechts im System rechtsstaatlicher Verhaltenskontrolle
Kriminalpolitik in der Zeitenwende - Wandlungen der Kriminalpolitik seit der Großen Strafrechtsreform
Das Symbolische am symbolischen Strafrecht
Von Spuren keine Spur
Wege und Irrwege der Wiedergutmachung im Strafrecht
Überlegungen zum Täter-Opfer-Ausgleich und zur Schadenswiedergutmachung
Proportionale Strafen für Jugendliche - Welche Unterschiede gibt es im Vergleich zu Strafen für Erwachsene?
Welches Strafrecht für das neue Jahrtausend?
V. Vom Strafrecht zum Strafverfahren, seiner Dogmatik und Reform
Die Kollision von materiellem und prozessualem Strafrecht - Ein Grundlagenproblem des Strafrechtssystems -
Kriminalpolitik und Strafprozessrechtssystem
Zwickmühle des Verteidigers - Strafverteidigung und Strafvereitelung im demokratischen Rechtsstaat
Ständische Strafrechtspflege?
Inquisition oder Komposition?
Auf dem Weg zu einer Reform des Strafprozesses? - Unabdingbare Prinzipien und kriminalpolitische Wahlmöglichkeiten -
Fairness in Strafverfahren gegen Bekannt
Zum Streit über die Grundlagen der Lehre von den Beweisverwertungsverboten
Informelle Ausforschung
Überlegungen zu einer Reform des Rechts der Überwachung der Telekommunikation
Plädoyer für ein Einstellungserzwingungsverfahren
Rechtsschutz gegen befangene Ermittler
Abschaffung des § 357 StPO
VI. Europäisches und supranationales Strafrecht, Kriminologie
Die Europäisierung der Strafrechtswissenschaft
Zur Frage eines „internationalen“ Allgemeinen Teils
EG und EU als Rechtsquellen des Strafrechts
Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes“ für alle Tatbestände des Völkermordes
Der schwedische Verbrechensbegriff
Der Einfluss der Lehre von Claus Roxin auf die polnische Strafrechtswissenschaft
Die Strafbarkeit der „sexuellen Belästigung“ nach griechischem Recht (Zwischen „Sexualbeleidigung“ und „Sexual harassment“)
Das korrumpierte Strafrechtssystem - Eine nur italienische Geschichte? -
Die strafrechtliche Sanktionenpolitik in Italien: Kampf gegen die kurzfristige Freiheitsstrafe oder Flucht vor der Freiheitsstrafe?
Die neuere Entwicklung der Kriminalität und ihre Bekämpfung in Japan -
Der strafrechtliche „Fall“ in kriminologischer Sicht
VII. Verzeichnis der Schriften von Claus Roxin
VIII. Autorenverzeichnis

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Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag

Festschrift für CLAUS R O X I N zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001

herausgegeben von

Bernd Schünemann Hans Achenbach Wilfried Bottke Bernhard Haffke Hans-Joachim Rudolphi

w DE

2001

Walter de Gruyter • Berlin • New York

Die Deutsche Bibliothek

-

CIP-Einheitsaufnahme

Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001/ hrsg. von Bernd Schünemann ... - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 ISBN 3-11-016515-5

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin Druck: H. Heenemann G m b H & Co., D-12103 Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer-GmbH, D-10963 Berlin

Claus Roxin zum 15. Mai 2001

H A N S ACHENBACH

IL-SU KIM

KNUT AMELUNG

ARTHUR KREUZER

TERESA ARMENTA D E U

KRISTIAN K Ü H L

GUNTHER ARZT

LOTHAR KUHLEN

KAZUSHIGE ASADA

ERNST-JOACHIM LAMPE

ENRIQUE BACIGALUPO

KLAUS LÜDERSSEN

WERNER BEULKE

D I E G O - M A N U E L LUZÓN PEÑA

REINHARD BÖTTCHER

JULIO B . J . MAIER

WILFRIED BOTTKE

DIETER MEURER

ALVARO B U N S T E R

LUTZ MEYER-GOSSNER

ANDREA CASTALDO

SANTIAGO M I R P U I G

JOSE C E R E Z O M I R

K O I C H I MIYAZAWA

ARISTOTELES CHARALAMBAKIS

SERGIO M O C C I A

PETER CRAMER

MOISÉS M O R E N O HERNÁNDEZ

CHRISTOS DEDES

FRANCISCO M U Ñ O Z

M I G U E L DI'AZ Y G A R C I ' A C O N L L E D O

CHRISTOS MYLONOPOULOS

ENRIQUE GIMBERNAT O R D E I G

WOLFGANG NAUCKE

EMILIO DOLCINI

ULFRID NEUMANN

ALBIN ESER

HARRO

J O R G E DE F I G U E I R E D O D I A S WOLFGANG FRISCH BERNHARD HAFFKE WINFRIED HASSEMER ROLAND HEFENDEHL

CONDE

OTTO

H A N S - U L L R I C H PAEFFGEN LOTHAR PHILIPPS INGEBORG PUPPE RUDOLF RENGIER PETER RIESS

U W E HELLMANN

TERESA R O D R Í G U E Z M O N T A Ñ É S

ROLF DIETRICH HERZBERG

DIETER RÖSSNER

THOMAS HILLENKAMP

HANS-JOACHIM RUDOLPHI

A N D R E W VON H I R S C H

SEIJI S A I T O

H A N S JOACHIM H I R S C H

M A R C E L O A . SANCINETTI

JOACHIM HRUSCHKA

J E S U S - M A R I A SILVA S Á N C H E Z

YÜ-HSIU HSÜ

F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN

G Ü N T H E R JAKOBS

H E R O SCHALL

N I L S JAREBORG

HEINZ SCHÖCH

G Ü N T H E R KAISER

H A N S - L U D W I G SCHREIBER

WALTER KARGL

FRIEDRICH-CHRISTIAN

A R T H U R KAUFMANN

ULRICH SCHROTH

SCHROEDER

VI

Claus Roxin zum 15. Mai 2001

H O R S T SCHÜLER-SPRINGORUM

KLAUS VOLK

BERND SCHÜNEMANN

ANDRZEJ W4.SEK

U L R I C H SIEBER

THOMAS WEIGEND

DIONYSIOS SPINELLIS

JÜRGEN W O L T E R

KLAUS TIEDEMANN

K E I I C H I YAMANAKA

O T T O TRIFFTERER

N O B U Y U K I YOSHIDA

JAVIER D E VICENTE REMESAL

ANDRZEJ Z O L L

JOACHIM V O G E L

Inhalt Vorwort

XV I. Grundlagen des Strafrechts

BERND SCHÜNEMANN

Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft

1

FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER

Die Anziehungskraft vorgelagerter Gliederungselemente

33

ERNST-JOACHIM LAMPE

Zur funktionalen Begründung des Verbrechenssystems

45

MOISÉS M O R E N O HERNÄNDEZ

Über die Verknüpfungen von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (Ontologismus versus Normativismus?)

69

ANDRZEJ Z O L L

Rechtsnorm und Strafvorschrift

93

JOACHIM V O G E L

Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft - Überlegungen zu einer diskurstheoretischen Strafgesetzgebungslehre

105

IL-SU KIM

Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Lichte der Rechtsidee

119

ROLAND H E F E N D E H L

Kann und soll der Allgemeine Teil bzw. das Verfassungsrecht mißglückte Regelungen des Besonderen Teils retten? - Die „Geldwäsche" durch den Strafverteidiger

145

II. Allgemeiner Teil des Strafrechts ALVARO BUNSTER

Zum strafrechtlichen Handlungsbegriff von Claus Roxin

173

CHRISTOS DEDES

Die Sinndeutung der Handlung

187

A L B I N ESER

„Sozialadäquanz": eine überflüssige oder unverzichtbare Rechtsfigur? - Überlegungen anhand sozialüblicher Vorteilsgewährungen

199

VIII

Inhalt

WOLFGANG FRISCH

Faszinierendes, Berechtigtes und Problematisches der Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs

213

YÜ-HSIU H S Ü

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan

239

S E I J I SAITO

Die Zurechnung beim nachträglichen Fehlverhalten eines Dritten

. .

261

UWE HELLMANN

Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung . . . . INGEBORG PUPPE

Brauchen wir eine Risikoerhöhungstheorie?

271 289

TERESA RODRÍGUEZ MONTAÑÉS

Einige Bemerkungen über das Kausalitätsproblem und die Täterschaft im Falle rechtswidriger Kollegialentscheidungen

307

LOTHAR KUHLEN

Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen

331

M A R C E L O A . SANCINETTI

„Dolus generalis" und „strafrechtliches Glück"

349

LOTHAR PHILIPPS

An der Grenze von Vorsatz und Fahrlässigkeit - Ein Modell multikriterieller computergestützter Entscheidungen

365

JAVIER D E V I C E N T E R E M E S A L

Die Einwilligung in ihrer strafrechtlichen Bedeutung - Bemerkungen über Tatbestandsausschluss und Rechtfertigungsgründe

379

NOBUYUKI YOSHIDA

Zur materiellen Legitimation der mutmaßlichen Einwilligung

401

ULFRID NEUMANN

Der Rechtfertigungsgrund der Kollision von Rettungsinteressen Rechte, Pflichten und Interessen als Elemente der rechtfertigenden „Pflichtenkollision"

421

JOACHIM HRUSCHKA

Wieso ist eigentlich die „eingeschränkte Schuldtheorie" schränkt"? - Abschied von einem Meinungsstreit

„einge441

KLAUS LÜDERSSEN

Irrtum und Prävention

457

HARRO OTTO

Mittelbare Täterschaft und Verbotsirrtum

483

WOLFGANG NAUCKE

Staatstheorie und Verbotsirrtum

503

Inhalt

IX

KAZUSHIGE ASADA

Schuld, Schuldprinzip und strafwürdige Schuld

519

JORGE DE FIGUEIREDO DIAS

Gewissenstat, Gewissensfreiheit und Schuldausschluss

531

JOSÉ C E R E Z O M I R

Täterschaft und Teilnahme im neuen spanischen Strafgesetzbuch von 1995

549

KLAUS VOLK

Tendenzen zur Einheitstäterschaft - Die verborgene Macht des Einheitstäterbegriffs

563

D I E G O - M A N U E L LUZÓN PEÑA u n d M I G U E L D Í A Z Y GARCÍA CONLLEDO

Objektive positive Tatbestimmung und Tatbestandsverwirklichung als Täterschaftsmerkmale

575

FRANCISCO M U Ñ O Z C O N D E

Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate im Rahmen „nichtrechtsgelöster" Organisationen?

609

ARISTOTELES CHARALAMBAKIS

Zur Problematik der psychischen Beihilfe - Zugleich ein Beitrag über die Kausalität der Beihilfe

625

JESUS-MARIA SILVA SÁNCHEZ

Zur Dreiteilung der Unterlassungsdelikte

641

ENRIQUE GIMBERNAT O R D E I G

Unechte Unterlassung und Risikoerhöhung im Unternehmensstrafrecht

651

KRISTIAN K Ü H L

Die Beendigung des vollendeten Delikts

665

THOMAS HILLENKAMP

Zur „Vorstellung von der Tat" im Tatbestand des Versuchs

689

HANS JOACHIM HIRSCH

Untauglicher Versuch und Tatstrafrecht

711

SANTIAGO M I R PUIG

Untauglicher Versuch und statistische Gefährlichkeit im neuen spanischen Strafgesetzbuch

729

R O L F DIETRICH HERZBERG

Der Versuch, die Straftat durch einen anderen zu begehen

749

KEIICHI YAMANAKA

Betrachtungen über den Strafbefreiungsgrund des Rücktritts vom Versuch

773

X

Inhalt

III. Besonderer Teil des Strafrechts G Ü N T H E R JAKOBS

Materielle Vollendung bei Verletzungsdelikten gegen die Person Zugleich ein Beitrag zur Verallgemeinerung des Besonderen Teils . .

793

RUDOLF RENGIER

Gedanken zur Problematik der objektiven Zurechnung im Besonderen Teil des Strafrechts

811

HANS-JOACHIM RUDOLPHI

Zur Rechtzeitigkeit der Anzeige einer geplanten Straftat gemäß § 138 Abs. 1 StGB

827

A R T H U R KAUFMANN

Relativierung des rechtlichen Lebensschutzes?

841

GUNTHER ARZT

Mord durch Unterlassen

855

U L R I C H SCHROTH

Das Organhandelsverbot - Legitimität und Inhalt einer paternalistischen Strafrechtsnorm

869

HANS-LUDWIG SCHREIBER

Recht als Grenze der Gentechnologie

891

WALTER K A R G L

Zur objektiven Bestimmung der Nötigung

905

CHRISTOS MYLONOPOULOS

Die Endgültigkeit der Enteignung als Merkmal des Unterschlagungstatbestandes - Versuch einer dispositionellen Erklärung

917

H E R O SCHALL

Zur Reichweite der verwaltungsbehördlichen Erlaubnis im Umweltstrafrecht

927

PETER CRAMER

Zum Vorteilsbegriff bei den Bestechungsdelikten

945

IV. Kriminalpolitik und Sanktionen BERNHARD HAFFKE

Die Legitimation des staatlichen Strafrechts zwischen Effizienz, Freiheitsverbürgung und Symbolik

955

DIETER RÖSSNER

Die besonderen Aufgaben des Strafrechts im System rechtsstaatlicher Verhaltenskontrolle

977

Inhalt

XI

GÜNTHER KAISER

Kriminalpolitik in der Zeitenwende - Wandlungen der Kriminalpolitik seit der Großen Strafrechtsreform

989

WINFRIED HASSEMER

Das Symbolische am symbolischen Strafrecht

1001

H O R S T SCHÜLER-SPRINGORUM

Von Spuren keine Spur

1021

HEINZ SCHÖCH

Wege und Irrwege der Wiedergutmachung im Strafrecht

1045

FRIEDRICH SCHAFFSTEIN

Überlegungen zum Täter-Opfer-Ausgleich und zur Schadenswiedergutmachung 1065 ANDREW VON H I R S C H

Proportionale Strafen für Jugendliche - Welche Unterschiede gibt es im Vergleich zu Strafen für Erwachsene? 1077 ANDREA CASTALDO

Welches Strafrecht für das neue Jahrtausend?

1095

V. Vom Strafrecht zum Strafverfahren, seiner Dogmatik und Reform U L R I C H SIEBER

Die Kollision von materiellem und prozessualem Strafrecht - Ein Grundlagenproblem des Strafrechtssystems 1113 JÜRGEN WOLTER

Kriminalpolitik und Strafprozessrechtssystem

1141

WERNER BEULKE

Zwickmühle des Verteidigers - Strafverteidigung und Strafvereitelung im demokratischen Rechtsstaat 1173 H A N S ACHENBACH

Ständische Strafrechtspflege?

1195

JULIO B . J . M A I E R

Inquisition oder Komposition?

1215

TERESA ARMENTA D E U

Auf dem Weg zu einer Reform des Strafprozesses? - Unabdingbare Prinzipien und kriminalpolitische Wahlmöglichkeiten 1229 WILFRIED BOTTKE

Fairness in Strafverfahren gegen Bekannt

1243

KNUT AMELUNG

Zum Streit über die Grundlagen der Lehre von den Beweisverwertungsverboten 1259

XII

Inhalt

DIETER MEURER

Informelle Ausforschung

1281

H A N S - U L L R I C H PAEFFGEN

Überlegungen zu einer Reform des Rechts der Überwachung der Telekommunikation 1299 P E T E R RIESS

Plädoyer für ein Einstellungserzwingungsverfahren

1319

REINHARD BÖTTCHER

Rechtsschutz gegen befangene Ermittler

1333

LUTZ MEYER-GOSSNER

Abschaffung des § 357 StPO

1345

VI. Europäisches und supranationales Strafrecht, Kriminologie E N R I Q U E BACIGALUPO

Die Europäisierung der Strafrechtswissenschaft

1361

THOMAS W E I G E N D

Zur Frage eines „internationalen" Allgemeinen Teils

1375

KLAUS TIEDEMANN

E G und E U als Rechtsquellen des Strafrechts

1401

OTTO TRIFFTERER

Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes" für alle Tatbestände des Völkermordes 1415 N I L S JAREBORG

Der schwedische Verbrechensbegriff

1447

ANDRZEJ W ^ S E K

Der Einfluss der Lehre von Claus Roxin auf die polnische Strafrechtswissenschaft 1457 DIONYSIOS SPINELLIS

Die Strafbarkeit der „sexuellen Belästigung" nach griechischem Recht (zwischen „Sexualbeleidigung" und „Sexual harassment") 1467 SERGIO M O C C I A

Das korrumpierte schichte?)

Strafrechtssystem

(eine

nur italienische

Ge1487

EMILIO DOLCINI

Die strafrechtliche Sanktionenpolitik in Italien: Kampf gegen die kurzfristige Freiheitsstrafe oder Flucht von der Freiheitsstrafe? . . . . 1505

Inhalt

XIII

K O I C H I MIYAZAWA

Die neuere Entwicklung der Kriminalität und ihre Bekämpfung in Japan - unter besonderer Berücksichtigung der informellen Konfliktlösung „Jidan" 1525 ARTHUR KREUZER

Der strafrechtliche „Fall" in kriminologischer Sicht

1541

VII. Verzeichnis der Schriften von Claus Roxin

1553

VIII. Autorenverzeichnis

1577

Vorwort Am 15. Mai 2001 vollendet Claus Roxin das 70. Lebensjahr. Aus diesem Anlaß widmen ihm Freunde, Kollegen und Schüler die vorliegende Festschrift als Zeichen der Verbundenheit und Dankbarkeit. Seitdem der Jubilar vor rund vier Jahrzehnten mit einer Serie von Paukenschlägen (seiner 1959 veröffentlichten Dissertation über „Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale" sowie den bis heute grundlegend gebliebenen Abhandlungen über „Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten", „Zur Kritik der finalen Handlungslehre", über „Die provozierte Notwehrlage" und „Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate") und einem sie krönenden Donnerschlag (seiner 1963 veröffentlichten und inzwischen in 7. Auflage vorliegenden Habilitationsschrift über „Täterschaft und Tatherrschaft") die strafrechtswissenschaftliche Bühne betreten hat, hat er auf den Gebieten des Strafrechts, des Strafprozeßrechts und der Kriminalpolitik ein in dieser Fülle, Breite und Tiefe kaum je erreichtes, geschweige denn übertroffenes Lebenswerk geschaffen, welches hohe Inspiration mit enormer Gründlichkeit und Disziplin verbindet und, wenn man nach einem Vergleich außerhalb der Jurisprudenz sucht, naheliegenderweise im Hinblick auf die außergewöhnliche stilistische Meisterschaft und Virtuosität seiner juristischen Prosa im Bereich der Literatur, mit dem Œuvre von Thomas Mann verglichen werden kann (vielleicht, was die unverbrauchte Frische der dogmatischen Eingebung anbetrifft, versetzt mit einer Prise Karl May, die auch sonst das Leben des Jubilars in besonders liebenswerter Weise würzt). Von der auch mit der bevorstehenden Vollendung des monumentalen Lehrbuchs zum Allgemeinen Teil des Strafrechts nur eine weitere Etappe zurücklegenden Ausweitung seines heute schon gewaltigen wissenschaftlichen Werkes legt die am Ende dieser Festschrift abgedruckte Bibliographie beredtes Zeugnis ab. Im Gleichklang damit hat die Stellung Claus Roxins nicht nur in der deutschen, sondern auch in der internationalen Strafrechtswissenschaft schon seit vielen Jahren eine einzigartige Position erreicht, die sich nicht nur in der Ubersetzung praktisch jedes seiner Werke in eine oder mehrere fremde Sprachen niederschlägt, sondern ihn auch in zahlreichen Rechtskulturen zur unbestrittenen ersten Autorität in Strafrechtsfragen avancieren ließ und in der bis heute zehnfachen Ehrung durch Verleihung des Doktorgrades honoris causa ihren äußerlichen Ausdruck gefunden hat. Neben dem Wissenschaftler Claus Roxin steht mit gleicher Ausstrahlungskraft der große akademische Lehrer, in Deutschland wie in zahlreichen anderen Rechtskulturen, deren Dynamik und Fruchtbarkeit sich in den 33 Beiträgen zu dieser Festschrift manifestiert, die aus der Feder von ausländischen Freunden und Schülern Claus Roxins stammen. Hierbei lag seine Vorbildhaftigkeit ge-

XVI

Vorwort

rade nicht, wie es bei einer orthodoxen Schulenbildung zu beobachten ist, in der autoritativen Vermittlung einiger weniger, unbedingt zu übernehmender Axiome, einer vom Schüler zu internalisierenden esoterischen Terminologie oder dem Bekenntnis zu einem bestimmten großen Denker der Vergangenheit, sondern in der stetigen Anleitung zu eigenem Denken, vinkuliert durch eine einzigartige Verbindung von Einfallsreichtum und unbedingter Folgerichtigkeit, praktischer Vernunft und common sense bei größter sprachlicher Eleganz und gedanklicher Klarheit unter Vermeidung jeder dunkel raunenden Verschwommenheit. Heute, nachdem die deutsche Universität die 68er Generation und die Null-Bock-Generation erlebt und ihrer Transformation zu einem Dienstleistungsbetrieb in der Erlebnisgesellschaft wenig entgegenzusetzen hat, kann man sich nur noch schwer einen Begriff davon machen, welche Begeisterung und Hochgestimmtheit Claus Roxins unnachahmliche Art des juristischen Diskurses unter dem akademischen Nachwuchs ausgelöst hat, seit er als blutjunger Ordinarius das Göttinger Katheder neben seinem ihn dorthin berufenden Kollegen Friedrich Schaffstein betreten hat, doch zeugen davon die Festschriftbeiträge derer, die ihn schon im glückhaften Sommersemester 1963 hören durften: Hans-Joachim Rudolphi als sein erster wissenschaftlicher Assistent, Hans Achenbach, Knut Amelung, Bernhard Haffke, Hero Schall, Bernd Schünemann und Jürgen Wolter als seine damaligen Studenten. Die große Zahl der seither hinzugekommenen akademischen Schüler wie auch der Freunde und Kollegen, die sich zu Ehren Claus Roxins in diesem Bande zusammengefunden haben, hat an die Herstellung der Festschrift erhebliche Anforderungen gestellt. Als geschäftsführender Herausgeber trägt Bernd Schünemann die Verantwortung dafür, daß die Beiträge nicht in alphabetischer Reihenfolge abgedruckt sind, sondern in Anlehnung an das in Claus Roxins Lehrbuch entfaltete Strafrechtssystem, ebenso wie für die behutsame redaktionelle Anpassung der Übersetzungen von ursprünglich in einer anderen Sprache verfaßten Beiträgen. Ganz besonders danken wir Frau Petra Köpf für ihre unermüdliche und unentbehrliche Mitarbeit bei der gesamten redaktionellen Tätigkeit sowie Frau Dr. Dorothee Walther vom Verlag Walter de Gruyter, die die Entstehung dieser Festschrift vom Augenblick der Projektierung bis zum letzten Arbeitsgang mit außergewöhnlichem Engagement mitgetragen hat. In dem strafrechtswissenschaftlichen Diskurs, der so lange fortgesetzt werden wird, wie das Strafrecht selbst und die menschliche Kultur noch eine Zukunft haben, bedeutet auch eine Festschrift vom Umfang der vorliegenden nur einen kleinen Schritt. Wenn wir sie dem Jubilar als Zeichen unseres Dankes und unserer Verehrung „auf den Knien unseres Herzens" mit allen guten Wünschen für weitere fruchtbare Jahrzehnte darbringen, so geschieht dies in der Gewißheit, daß er der erste sein wird, der die in den nachfolgenden 86 Beiträgen enthaltenen Gedanken und Anregungen in konstruktiv-kritischer Weise aufgreifen und der deutschen wie der internationalen Strafrechtswissenschaft die weiteren Schritte weisen wird. Februar 2001

Die Herausgeber

I. Grundlagen des Strafrechts

Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft BERND

SCHÜNEMANN

A. Nationale oder internationale Strafrechtsdogmatik? 1. Die Beiträge zur Strafrechtsdogmatik, die Claus Roxin seit über vier Jahrzehnten erbracht hat, behandelten auf der „Oberflächenstruktur" fast durchweg das nationale, sprich: das deutsche Strafrecht,1 insoweit sie nämlich die Strafrechtsvergleichung, wie sie traditionell etwa in Freiburg gepflegt wird, 2 allenfalls beiläufig in den Blick nahmen. Und sie waren doch zugleich und in einer für einen Rechtsvergleicher quasi magischen Weise „international", insoweit sie in Japan, Korea und Taiwan, Skandinavien und Polen, Italien und Griechenland, Spanien und Portugal sowie in Lateinamerika und weit darüber hinaus unmittelbar als eine Antwort auf die eigenen strafrechtsdogmatischen Fragen verstanden und verwertet werden konnten. 3 Wenn also der überwältigend größte Teil von Claus Roxins dogmatischen Arbeiten dem deutschen Strafrecht gegolten hat und gilt und zugleich eine selbst den internationalen Einfluß Franz v. Liszts oder Hans Welzeis in den Schatten stellende internationale Prägewirkung entfaltet hat, und wenn dies in der jüngsten Epoche einer sich Schritt für Schritt herausbildenden gemeineuropäischen Strafrechtskultur nicht nachgelassen, sondern eher noch zugenommen hat, 4 so repräsentieren sein Werk und dessen Wirkung kat' exochen den internationalen Stellenwert der deutschen Strafrechtswissenschaft - der freilich heute in einem gegenüber früheren Zeiten durchaus neuartigen Umfeld steht, weil es über die traditionell thematisierten Fähigkeiten zum fruchtbaren Austausch und zur Ausstrahlung in andere Rechtskulturen hinein nunmehr um den Anteil geht, der dem deutschen Rechtsdenken nicht nur in der gegenwärtigen Renaissance einer gemeineuropäischen Rechtskultur allgemein, sondern auch direkt und speziell bei dem Ausbau der gemeineuropäischen Rechtsordnung mit Fug zugesprochen werden kann und deshalb auch eingeräumt werden S. das v o n Cortes Rosa/Heinrich/Köpf bearbeitete Schrifttumsverzeichnis, u. 1 5 5 3 ff. Zusammenfassend Eser mit Unterstützung durch Langneff FS f ü r Kaiser, 1998, 1 4 9 8 ff. 3 In diesem Band repräsentiert durch Beiträge 33 ausländischer A u t o r e n ; vgl. f e r n e r die Beiträge in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, C o i m b r a - S y m p o s i u m f ü r Claus Roxin, 1995; Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale D o g m a t i k der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995; Silva Sánchez (ed.), Política criminal y nuevo Derecho Penal, 1 9 9 7 . 1

2

4 Dies zeigen die in Fn. 3 nachgewiesenen S y m p o s i e n u n d Festschriften und v o r allem die regelmäßige U b e r s e t z u n g und Publikation v o n Roxins W e r k e n in den genannten Ländern.

Bernd Schünemann

2

sollte. Weil n u n aber die europäische Z u k u n f t a u c h die ( Ü b e r - ) L e b e n s f r a g e der deutschen Strafrechtswissenschaft repräsentieren d ü r f t e , 5 m ö c h t e ich versuchen, h i e r z u a u c h auf d e m im R a h m e n m e i n e r G e s a m t b e t r a c h t u n g ä u ß e r s t k n a p p b e m e s s e n e n R a u m wenigstens einige S t i c h w o r t e z u liefern. 2. H i e r b e i ist der A u s g a n g s p u n k t verhältnismäßig einfach, d e n n daß die Leistungen Rechtsstoffes

der

deutschen

Rechtswissenschaft

in der Systematisierung

des

weltweit führend sind, w i r d i n t e r n a t i o n a l als solches k a u m b e -

stritten, s o n d e r n allenfalls mit der skeptischen F r a g e n a c h d e m N u t z e n weit getriebener S y s t e m a t i s i e r u n g e n o d e r mit der T h e s e v o n der w e i t g e h e n d e n B e liebigkeit der S y s t e m a t i s i e r u n g s r i c h t u n g u n d -kriterien auf einer M e t a e b e n e kritisiert. 6 F ü r nicht m i n d e r wichtig halte ich ein zweites C h a r a k t e r i s t i k u m der d e u t s c h e n Rechtswissenschaft,

das i m U n t e r s c h i e d z u m

Systematisierungs-

d r a n g nicht s c h o n im 19. J a h r h u n d e r t , s o n d e r n erst in den letzten J a h r z e h n t e n z u r vollen E n t f a l t u n g gelangt ist u n d in seinen K o n s e q u e n z e n teils auf eine allerletzte Verfeinerung, teils aber a u c h s c h o n auf eine A u f l ö s u n g des S y s t e m denkens hinausläuft. I c h m ö c h t e es die „Überfeinerung

der

Rechtsdogmatik"

n e n n e n u n d d a r u n t e r folgende E i n z e l z ü g e z u s a m m e n f a s s e n : a) D a z u g e h ö r t z u m ersten eine m i n u t i ö s e E n t f a l t u n g der systematischen K a t e g o r i e n a m R e c h t s s t o f f bis hin z u den einzelnen L e b e n s t y p e n , also eine K o n k r e t i s i e r u n g i m Sinne Karl Engischs7

d u r c h eine schrittweise i m m e r weiter

5 Das betonen Arzt ZStW 111 (1999), 767, 769; Burkhardt in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, 111, 157, während Kühl noch in seinem Vortrag auf der Berliner Strafrechtslehrertagung 1997 die Abhängigkeit von der europäischen Entwicklung eher distanziert beurteilte, ZStW 109 (1997), 7 7 7 - 8 0 7 , insbesondere 7 8 0 - 7 8 5 . Vgl. im übrigen zur einschlägigen, in den letzten Jahren auf Touren gekommenen Diskussion Tiedemann in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, 133 ff; ders. GA 1998, 107 ff; ders. FS für Lenckner, 1998, 411 ff; ders. in diesem Band S. 1401; Weigend ZStW 105 (1993), 774 ff; Perron ZStW 109 (1997), 281 ff; ders. FS für Lenckner, 227 ff; Dannecker FS für Hirsch, 1999, 141 ff; Sieher J Z 1997, 369 ff; Neumann in: Prittwitz/Manuletakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende (Deutsch-Griechisches Symposium, Rostock 1999), 2000, 121, 127 ff. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß fast zeitgleich mit dem 70. Geburtstag von Claus Roxin auf der Passauer Strafrechtslehrertagung der mit einer merkwürdigen Prätention sog. Corpus Juris auf dem Prüfstein steht, vgl. dazu nur Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, dt. 1998; Hassemer KritV 1999, 133 ff; Huber (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines europäischen Strafrechts, 2000. 6 Vgl. dazu Hall Comment on Justification and Excuse, American Journal of Comparative Law, Vol. X X I V (1976), 638 ff; Greenawalt The Perplexing Borders of Justification and Excuse, Columbia Law Review 84 (1984), Heft 8, 1897-1927; auch in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung - Justification and Excuse, Bd. I, 1987, 2 6 4 - 3 1 3 ; W. Hassemer Rechtfertigung und Entschuldigung im Strafrecht, Thesen und Kommentare, Brigham Young University Law Review 1986, 573 ff; auch in: Eser/Fletcher (aaO), 175 ff. Zu dem rechtstheoretisch hinter der Systemidee stehenden Konzept der Kohärenz neuestens eingehend Pracker Kohärenz und juristische Interpretation, 2000.

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7 Engisch 1968.

Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit,

Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft

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vorangetriebene Entnormativierung der Rechtsbegriffe. Das geht, sprachanalytisch betrachtet, so vor sich, daß die reinen juristischen Kunstbegriffe der höchsten Abstraktionsstufe zunächst durch umgangssprachliche Begriffe definiert werden, die am Anfang einen relativ kleinen Bedeutungskern und einen relativ großen Bedeutungshof aufweisen, dessen Ausfüllung nur normativ, d. h. nach den Regeln der juristischen Methodenlehre erfolgt und dadurch manifestiert wird, daß in Subdefinition und Subsubdefinition immer konkretere umgangssprachliche Begriffe substituiert werden, die am Ende nur noch einen schmalen Bedeutungshof aufweisen und zuletzt mit der im sozialen Leben gebräuchlichen Bezeichnung der für die Subsumtion in Betracht kommenden Lebensverhältnisse identisch sind.8 Das nach wie vor unübertroffene Musterbeispiel für die Entfaltung eines normativen Prinzips bis hin zu den einzelnen Lebenstypen findet sich in der Ausarbeitung des Tatherrschaftsgedankens durch Claus Roxin,9 doch lassen sich auch noch viele weitere Beispiele dieses die deutsche Strafrechtsdogmatik insgesamt kennzeichnenden Vorgehens finden. So ist etwa zur Lösung der Gleichstellungsproblematik bei den unechten Unterlassungsdelikten der Kunstbegriff der Garantenstellung geprägt 10 und sodann über die Stufen beispielsweise der Herrschaft über den Grund des Erfolges, der Herrschaft über eine Gefahrenquelle oder über das schutzbedürftige Rechtsgutsobjekt, der Obhutsübernahme über Kleinkinder bis hin zum Lebenstyp des Kindermädchens konkretisiert worden, welches bei einem Spaziergang mit dem Kleinkind seelenruhig zuschaut, wie dieses in einen Fluß stürzt und ertrinkt. 11

Dazu näher Schünemann FS für Arthur Kaufmann, 1993, 299 ff, 303 ff. Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, '1963, 7 2000, 6 0 - 3 5 1 . Nimmt man die sogleich im Text angesprochene Entfaltung der „Herrschaft über den Grund des Erfolges" als Essenz der Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt und damit als Pendant zur „aktiven" Tatherrschaft bei den Begehungsdelikten dazu, so fehlt für eine lückenlose Entfaltung aller Täterschaftsprinzipien nur noch eine entsprechend detaillierte Ausarbeitung für die von mir sog. Garantensonderdelikte (dazu LK-Schünemann StGB, "1993, § 14 Rn. 17 u. ö.), deren Zusammenführung mit den Herrschaftsdelikten in einer übergreifenden Tätertheorie inzwischen auch Roxin Sympathien entgegenbringt (Täterschaft und Tatherrschaft, 7 2000, 697 f). 8

9

10 Grundlegend Nagler GS 111 (1938), 1, 59, dem zwar noch keine positive Bestimmung der notwendigen Voraussetzungen einer Garantenstellung gelungen ist, dessen unauslöschliches Verdienst aber darin besteht, sowohl den im strafrechtlichen Naturalismus wurzelnden, älteren Kausaltheorien als auch der diese ablösenden formellen Rechtspflichttheorie zwar nicht in der Praxis der Judikatur und Fachliteratur, aber auf der Ebene der theoretischen Reflexion den Garaus gemacht zu haben, letzteres mit der klassischen Formulierung: „Daß die Nichterfüllung bürgerlich-, disziplinar-, völkerrechtlicher oder sonstiger Verpflichtungen an sich bloß die von jenen Rechtsgebieten selbst dargebotenen Wirkungen auslösen kann, lehrt schon die einfachste Überlegung." (GS 111 [1938], 1, 23 ff und Forts. 122 ff; ebenso schon Schaffstein FS für Graf Gleispach, 1936, 70 ff; ders. DJZ 1936, 767 ff). 11 Eingehend dazu Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, 229 ff, 234 ff, 342 ff, 346; ders. ZStW 96 (1984), 287, 308. Während diese Aufgliederung in der formalen Form, in der sie von Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, 283 mehr beiläufig formuliert worden ist, heute weitgehend anerkannt ist (neuestens etwa Frisch in: Eser/Hassemer/Burkhardt [Fn. 5], 159, 174; die gleiche kategoriale Unterscheidung in freilich noch abstrakterem Gewände auch bei Jakobs' Trennung von Organisat i o n - und institutioneller Zuständigkeit, zuletzt in: 50 Jahre BGH - Festgabe aus der Wissen-

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Bernd Schünemann

Während wir in der modernen spanischen Strafrechtswissenschaft eine ganz ähnliche Tendenz der systematischen Entfaltung bis hin zum Lebenstypus antreffen,12 herrscht im englischen Strafrecht bis heute die aus der Tradition des Common Law herrührende kasuistische Methode und im französischen Strafrecht eine recht heterogene, systematisch nicht vernetzte Prinzipienlehre. Dementsprechend hat im Beispielsfall die englische Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte zwar die Rechtsprechung kritisiert, die die Gleichstellung des Unterlassens mit dem aktiven Tun von einer hierfür in Wahrheit unergiebigen grammatischen Auslegung abhängig zu machen versucht, aber zur eigenen Begründung entweder ohne weitere systematische Vermittlung auf rivalisierende sozialphilosophische Globalkonzepte wie den Individualismus oder den Ansatz der sozialen Verantwortlichkeit rekurriert oder aber auf das Kriterium der Rechtspflicht zum Tätigwerden verwiesen,13 welches ohne die systematisch grundlegende Unterscheidung zwischen strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Rechtspflichten ebenfalls nicht weiterhilft.14 Die französische Strafrechtswissenschaft wiederum sucht ihr Heil in einer Weiterverweisung auf den Fahrlässigkeitsbegriff,15 der aber in Wahrheit die Lösung des Gleichstellungsproblems nicht liefert, sondern voraussetzt. Natürlich wird man deshalb nicht gleich Franz v. Liszts schroffes Urteil unterschreiben, eine französische Strafrechtsdoktrin gebe es gar nicht, 16 oder dem Strafrechtsdenken des Common Law in den Worten Jeschecks „Theoriefeindlichkeit" oder eine kasuistische Denkweise ohne generell anwendbare Prinzipien unterstellen wollen.17 Aber auch bei größter Zurückhaltung in der Bewertung einer anderen Rechtskultur ist es in analytischer Hinsicht unbestreitbar, daß das die deutsche Rechtswissenschaft gegenwärtig kennzeichnende Programm, das rechtlich relevante gesellschaftliche Leben nach und nach lückenlos mit einem systematisch entwickelten rechtsdogmatischen Gespinst zu erfassen und zu überziehen, in anderen Schlüsselrechtsordnungen Europas nicht nur nicht angestrebt, sondern nicht einmal in Betracht gezogen wird. schaft, Bd. IV, 2000, 29 f), hat die h. L. den entscheidenden Schritt zur Anerkennung des Herrschaftsprinzips als der einheitsstiftenden Quelle aller Garantenstellungen bisher nicht getan und bietet deshalb an Stelle der Konkretisierung einer typologischen Gleichstellungsrichtlinie nur ein Garantensammelsurium, vgl. Schünemann in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Fn. 3), 49 ff. 12 Etwa für die unechten Unterlassungsdelikte greifbar bei Gimbernat Ordeig ZStW 111 (1999), 307 ff; Silva Sánchez in diesem Band 641 ff; für die Formen der Täterschaft Luzón Peña/Díaz y Garcia Conlledo in diesem Band 575 ff; Cerezo Mir in diesem Band 549 ff; Gracia Martín El actuar en lugar de otro en Derecho penal I und II, Zaragoza 1985/86. 1 3 Vgl. einerseits Ashworth Principies of criminal Law, Oxford 2 1995, 93 f; andererseits Smith/Hogan Criminal law, London 7 1992, 28 ff. 14 Denn sie führt nur zur formellen Rechtspflichttheorie zurück, dazu schon oben Fn. 10. 15 Desportes/LeGunehec Le nouveau droit pénal, Bd. 1 - Droit pénal général, Paris 1994, 317. 1 6 Berichtet von Merle/Vitu Traité de droit criminel, Bd. I, 7 1997, Nr. 379 (499 Fn. 5). 17 Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5 1996, 195 in Fn. 3 sowie Schmid Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten, 2 1993, 193, 201. Vgl. auch Ashworth ZStW 110 (1998), 461 ff.

Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft

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b) Aus diesem ersten Leistungsziel der den Rechtsstoff lückenlos umfassenden dogmatischen Entfaltung ergibt sich eine zweite, ebenfalls in den letzten Jahrzehnten zu einem gewissen Höhepunkt gekommene Ausprägung der rechtsdogmatischen Überfeinerung, nämlich die Rezensierbarkeit praktisch jeder gerichtlichen Entscheidung und als Folge davon das in Deutschland traditionelle, aber quantitativ immer noch gesteigerte Bestreben der Gerichte, die Richtigkeit ihrer Entscheidungen auf rechtswissenschaftlichem Niveau auszuweisen. Als Beispiel möchte ich die berühmte Lederspray-Entscheidung des Bundesgerichtshofes anführen, in der dieser eine strafrechtlich sanktionierte Rückrufpflicht des Herstellers auch bezüglich erst nachträglich als gefährlich erkennbarer Produkte bejahte 18 und über die bisher mehr als ein Dutzend kritischer Rezensionen erschienen ist, von den Analysen in Aufsätzen mit einer allgemeineren Thematik und in Monographien sowie in der äußerst zahlreichen Lehrbuch- und Kommentarliteratur gänzlich abgesehen. 19 Daß ein vergleichbarer Kontrolldruck auf englischen und französischen Gerichten nicht lastet, ergibt sich schon aus der fehlenden, wenn ich so sagen darf: Netzstruktur der dortigen Strafrechtsdogmatik, und darüber hinaus haben sich die Gerichte dort durch die völlig andersartige Begründungsstruktur ihrer Entscheidungen gegen eine rechtswissenschaftliche Kritik von vornherein weitgehend immunisiert. Der Common Sense, der bis in die höchsten Instanzen hinein die Jurisdiktion zum Common Law dominiert, ist gegenüber einem juristisch-artifiziellen Zugriff in eigenartiger Weise unempfindlich, weil dogmatische Ableitungen bekanntlich nicht lückenlos logisch stringent, sondern in der Regel an verschiedenen Punkten quasi freischwebend sind und deshalb durch eine rücksichtslose Auswechselung der maßgeblichen Topoi, die sich wegen der Kürze ihrer Argumentationskette nicht selbst auf systematische Folgerichtigkeit hin kontrollie-

BGHSt 37, 106 ff. Zur Problematik des Lederspray-Urteils namentlich Armbrüster J R 1993, 317; Beulke/ Bachmann JuS 1992, 737, 739; Bottke Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, 104f; Brammsen Jura 1991, 533 ff und ders. GA 1993, 97, 102 ff, 113 f; Braun KritV 1994, 179; Deutscher/Körner wistra 1996, 292 und 327 (Teil 2); Göhler wistra 1991, 207; Haeusermann/Ringelmann ZStW 109 (1997), 444; Hamm StV 1997, 159; Hassemer JuS 1991, 253; Heine Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, 110 f; ders. Z U R 1995, 63; Hilgendorf NStZ 1993, 10; ders. Pharma Recht 1994, 303, 561; ders. GA 1995, 515; Hoyer GA 1996, 160, 173; Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 419ff; Kaiafa-Gbandi KritV 1999, 613; Kienle NVwZ 1996, 871; Kuhlen NStZ 1990, 566, 569; ders. JZ 1994, 1142; ders. GA 1994, 347; Kurzawa VW 1991, 1079; Langkeit WiB 1995, 1016; Meier N J W 1992, 3193; Molitoris PHI 2000, 33; Neudecker Die strafrechtliche Verantwortung der Mitglieder von Kollegialorganen, 1995; Otto WiB 1995, 929; Puppe J R 1992, 30ff; dies. JZ 1994, 1147; dies. Jura 1997, 408; Ransiek ZGR 1999, 613; Rotsch wistra 1999, 321; Samson StV 1991, 182, 184; Schmid FS für Max Keller, 1989, 647; Schmidt-Salzer N J W 1990, 2966 ff; Schünemann in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Fn. 3), 68 f; ders. in: Breuer/Kloepfer u. a. (Hrsg.), Umweltschutz und technische Sicherheit im Unternehmen, 1993, 137ff; Schulz Z U R 1994, 26; ders. JA 1996, 185; Seelmann ZStW 108 (1996), 652; SK-StGB-Rudolphi (September 2000), § 13 Rn. 39 b; Vieweg/Schrenk Jura 1997, 561; Weimar GmbHR 1994, 82; Wohlers JuS 1995, 1019. Aus der Zeit vor dem LedersprayUrteil zur gleichen Problematik Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, 157ff sowie zuletzt ders. und Kuhlen 50 Jahre B G H (Fn. 11), 621, 623 ff, 647ff. 18

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ren läßt, bei dem dann nur noch stattfindenden, direkten Zusammenprall rivalisierender Topoi einen guten Teil ihrer nur innerhalb des Systems vermittelbaren Überzeugungskraft verlieren. U n d die französische Rechtsprechung hat sich in einer noch radikaleren Weise durch die apodiktische Prägnanz ihrer ohne hohen oder gar systematisch-konstruktiven Begründungsaufwand arbeitenden Entscheidungen und durch die Verweisung zahlreicher klarer Rechtsfragen in die D o m ä n e des Tatrichters 2 0 jeder engmaschig konzipierten Kontrolle durch die Rechtswissenschaft vollständig entzogen. 3. Zu weitgehend anderen Konsequenzen führt nun allerdings die dritte Entwicklungslinie der rechtsdogmatischen Uberfeinerung, die den soeben skizzierten Traum der dogmatischen Vollkommenheit in einen Alptraum zu verwandeln droht. Es handelt sich dabei um eine ebenfalls erst in den letzten Jahrzehnten vollständig ausgeprägte, nach meiner Einschätzung in der postmodernen Gesellschaft unvermeidbare permanente Infragestellung aller nicht schlechthin trivialen Prämissen der dogmatischen Konstruktionen oder, anders ausgedrückt, um einen unablässigen neuen Strom jenes Konglomerats von Wertsetzungen und Wertpräferenzen, begrifflichen Formalisierungen und Interpretationsmustern, das wir Juristen Theorien nennen. Natürlich ist das Ausmaß dieser permanenten Infragestellung und Neuproduktion von Problemfeld zu Problemfeld unterschiedlich und erreicht nur im Einzelfall jenes Maximum an Kontingenz, welches die Theorien zu den von mir eingangs angeführten unechten Unterlassungsdelikten auszeichnet und im Endeffekt die Kontrolle der Wissenschaft über die Tätigkeit der Rechtsprechung ganz entscheidend lockert. Wenn und weil es letztlich keine Position gibt, die nicht in der Wissenschaft irgendwo vertreten wird, so verwandelt sich die Dogmatik von einem Zuchtmeister in einen Gemischtwarenladen, in dem die Justiz in irgendeinem seiner endlosen Regale immer dasjenige findet, was zur Begründung des jeweils gewünschten Ergebnisses herhalten kann, wobei jedenfalls im Strafrecht die Methode der Rechtsprechung unverkennbar ist, immer nur ad hoc die vom Ergebnis her passenden Begründungstorsi zu übernehmen, nicht aber das sie erst gebärende systematische Gesamtkonzept, so daß sie beim nächsten Problem, gleich einem an keine logische Konsequenz gebundenen Schmetterling, auf das nächste dogmatische Gewächs hinüberflattern und sich damit dem ordnenden Zugriff der Rechtswissenschaft immer wieder entziehen kann. 2 1 Ein Beispiel bietet wiederum die erwähnte Entscheidung des B G H zur strafrechtlichen Rückrufpflicht des Herstellers bezüglich sich nachträglich als gefährlich herausstellender Produkte, in der der B G H , ohne es selbst mit der gebotenen Klarheit zu erkennen, einfach zur Begründung eine Garantenstellung aus jeglichem vorangegangenen gefährlichen Verhalten (d. h. ohne Rücksicht auf dessen Sorgfaltswidrigkeit) postulierte, die er seit langem verworfen hatte, die aber in

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Vogel G A 1998, 130. Schünemann G A 1995, 201, 223 f; noch kritischer Burkhardt (Fn. 5), 152 f, der den Vorwurf nicht an die Rechtsprechung, sondern an die Dogmatik adressiert. 21

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dem für die Fortexistenz aparter Lebensformen günstigen Biotop rechtswissenschaftlicher Theorien noch dahinvegetierte. 22 O b sich die Rechtsprechung in Spanien ähnlich verhält, vermag ich nicht zu beurteilen; daß sie es in England und Frankreich von vornherein nicht nötig hat, ergibt sich schon aus den zuvor angestellten Überlegungen. 4. Wenn man nunmehr den Blick von den nationalen europäischen Rechtskulturen auf die in der Europäischen Union im Entstehen begriffene und auf etlichen Feldern schon weithin ausgeprägte gemeineuropäische Rechtskultur richtet, so ist ihr nach der Natur der Sache naheliegender Kompromißcharakter unübersehbar, ebenso aber auch die sich dabei bemerkenswert gut behauptende Robustheit des französischen und englischen Rechtsdenkens. Das beginnt bei dem Gesetzgebungsstil, der mehr auf aufwendige lexikalische Definitionenkataloge als auf die innere Systematik vertraut. 23 Der Begründungsstil der Urteile entspricht weitestgehend französischem und kaum je deutschem Duktus, und die Inhalte sind durchweg mehr pragmatisch als systematisch. 24 Ich kann das im Detail hier nicht herausarbeiten und wage deshalb sogleich einen kühnen Sprung zu meiner Ausgangsfrage, ob sich daran nicht zeigt, daß die überfeinerte deutsche Rechtswissenschaft für einen aus unterschiedlichen Kulturen zusammenwachsenden Raum und damit für das heutige Europa keinen Modellcharakter haben kann, sondern von diesem Blickwinkel aus eine Art Sackgasse der Entwicklung darstellt, wie wir sie etwa in der natürlichen Evolution an vielen hochspezialisierten Arten beobachten können, für die es schließlich keine ökologische Nische mehr gab. Es geht mir hierbei nicht um die politische Durchsetzbarkeit der deutschen als Muster für eine europäische Rechtskultur, die aus mancherlei hier nicht zu behandelnden Gründen ohnehin außerhalb jeder Realität liegt. Vielmehr geht es mir um die Frage nach den spezifischen Leistungen, die nur ein Rechtsdenken von der Spezifität der deutschen Rechtsdogmatik in einer gemeineuropäischen Rechtskultur erbringen kann, und dementsprechend um die normative Frage der Wünschbarkeit einer wenigstens tendenziellen gemeineuropäischen Evolution in diese Richtung. Ist eine überfeinerte Rechtsdogmatik, so wie ich sie definiert habe, nützlich oder gar notwendig oder vielleicht umgekehrt nur eine Arabeske, die hohen ästhetischen Ansprüchen genügt, aber funktionslos bleibt? Ich muß, dem Eilgalopp meiner einführenden Überlegungen entsprechend, hierauf eine Antwort in wenigen Stichworten suchen. Die überfeinerte Rechts2 2 Denn in BGHSt 37, 106, 117ff verwechselt der B G H die objektive und die subjektive Sorgfaltswidrigkeit und verkennt dadurch die Diskrepanz zu seiner früheren Forderung einer pflichtwidrigen Vorhandlung (BGHSt 19, 152, 154; 23, 327; 25, 218, 221); zutreffende Kritik dagegen bei Kuhlen (Fn. 19); Puppe (Fn. 19); ferner Schünemann in: Gimbernat/Schünemann/ Wolter (Fn. 3), 69; ders. in: Breuer/Kloepfer (Fn. 19), 164 f. 2 3 Das wird überdeutlich durch jedes einzelne Amtsblatt demonstriert, vgl. nur exemplarisch die Produkthaftungs-Richtlinie, ABl. 1985, Nr. L 210, 29 ff i. d. F. ABl. 1994, Nr. L 1, 585. 2 4 Auch dies zeigt jedes einzelne Urteil des EuGH, vgl. wiederum nur exemplarisch das Produktsicherheitsurteil, EuGH Rs. C-539/92 v. 9. August 1994.

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dogmatik repräsentiert in ihren ersten beiden Ausprägungen, nämlich einem der Idee nach lückenlosen dogmatischen Netz und der engmaschigen rechtswissenschaftlichen Kontrolle der Judikatur, so etwas wie eine vierte Gewalt im Staat, die nur kontrolliert, aber nicht herrscht und die ein wichtiges, meiner Meinung nach sogar unerläßliches Korrelat zur Unabhängigkeit der dritten Gewalt bildet sowie eine einzigartige Antwort auf die intrikate Frage bereithält: „Quis custodiet ipsos custodientes?" Sie ist auch, anders als alle übrigen Gewalten, gegen jeden Mißbrauch gefeit, weil ihre Waffen ausschließlich diejenigen des Geistes sind, weshalb sie auch, wenn mir diese Paradoxie gestattet ist, als Gewalt en quelque façon nulle ist, aber dennoch wirksam bleibt. Freilich droht diese Wirksamkeit durch die dritte Ausprägung der Uberfeinerung, nämlich die Verwandlung der Rechtswissenschaft in einen Gemischtwarenladen, paralysiert zu werden, und es ist außerordentlich schwer, wenn nicht gar unmöglich, in der postmodernen Gesellschaft mit ihrer prinzipiellen Kontingenz aller moralischen Positionen ein zuverlässiges Heilmittel gegen diese Gefahr zu benennen.25 Denn man darf nicht übersehen, daß die Uberproduktion an juristischen Theorien ja gesamtgesellschaftlich den Nutzen bringt, gewissermaßen einen Überschuß an Mutationen zur Bewerkstelligung der sozialethischen Evolution einer Gesellschaft hervorzubringen, also keinesfalls blockiert werden darf. Als einziges nicht kontraproduktives Steuerungsmittel könnten also Selektionsmechanismen in Betracht gezogen werden, die einen möglichst hohen Mindeststandard der Teilnehmer des rechtswissenschaftlichen Diskurses garantieren, um die unablässige Herausforderung dogmatischer Glanzleistungen durch dogmatische Mißgeburten zu beschränken. Das heißt dann praktisch: Wer das Niveau der Rechtswissenschaft so gut es geht konservieren möchte, darf hochselektive Qualifikationsmechanismen wie etwa die Habilitation nicht preisgeben, widrigenfalls - wohin im Augenblick in Deutschland die Zeichen der Zeit hindeuten - auch in der Jurisprudenz wie in den anderen hermeneutischen, über kein externes Kontrollkriterium verfügenden Wissenschaften eine Verflachung nach Art der Ersetzung der spätantiken durch die frühmittelalterliche Gesellschaft zu erwarten ist. 5. Aber es geht mir in diesen einleitenden Betrachtungen nicht um Kassandrarufe. Ich wage statt dessen ein Fazit: Die Uberfeinerung der Rechtsdogmatik, wie sie uns in der Entwicklung des deutschen Rechtsdenkens paradigmatisch entgegentritt, erfüllt ungeachtet gewisser mit ihr verbundener Gefahren eine wichtige gesellschaftliche Funktion, nämlich die Kontrolle der im übrigen unabhängigen Rechtsprechung. Weil dieses Bedürfnis durch andersartige Dogmatikformen wie die französische und die englische nicht befriedigt werden kann, ist bei der Herausbildung der gemeineuropäischen Rechtskultur im Rahmen der unvermeidbaren Kompromißlösungen eine Übernahme von verfeiner2 5 Dazu ebenso eindringlich wie tiefschürfend die überaus kritische Analyse von Burkhardt (Fn. 5), 111, 129 ff; zur moralischen Kontingenz der postmodernen Gesellschaft Schünemann (Fn. 21), 201, 222.

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ten Dogmatikformen, wie sie etwa auch Spanien in seiner Strafrechtswissenschaft praktiziert, unerläßlich. Man sollte demgegenüber auch nicht der neuerdings anscheinend übermächtigen Versuchung erliegen, das Licht der deutschen Dogmatik unter den Scheffel zu stellen und in unangebrachter Übertragung des Historismus auf die dogmatische Rechtswissenschaft zu propagieren, daß alle in den verschiedenen Rechtskulturen vorzufindenden Strafrechtssysteme und -denkweisen „unmittelbar zu Gott sind", d. h. gleichermaßen vertretbar und nicht mit den Mitteln der deduktiven Logik als „Organon der Kritik" zu analysieren und zu kritisieren wären. Denn die historistische Perspektive ist natürlich unabweisbar, wenn man etwa das heutige Strafrecht mit demjenigen einer archaischen Hochkultur oder einer akephalen Gesellschaft vergleicht, 26 ist aber innerhalb einer im großen und ganzen einheitlichen Zivilisation deplaziert, was nun gerade für das Wirtschaftsstrafrecht als dem primären und dominierenden Feld der europäischen Harmonisierung gilt 27 und dann wegen der Einheitlichkeit der strafrechtlichen Zurechnungsregeln auf den gesamten Allgemeinen Teil zurückstrahlen muß. 28 Um das an der Unterscheidung von Unrecht und Schuld als dem - in den Worten Hans Welzels29 - „wichtigsten dogmatischen Fortschritt der letzten zwei bis drei Menschenalter" in Gegenüberstellung zu der französischen Unterscheidung zwischen élément légal, matériel, moral (théorie de l'infraction) und théorie du délinquant bzw. zu der Unterscheidung des Common Law zwischen actus reus, mens rea und defences 30 zu demonstrieren: Wie ich schon früher dargelegt habe, ist die Unterscheidung von Unrecht und Schuld in den Sprachformen aller entwickelten Gesellschaften (und nicht etwa erst der Industriegesellschaften!) fundamental angelegt und findet sich dementsprechend 2 6 Vgl. dazu den instruktiven Uberblick bei Wesel Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, 1985, passim. 2 7 Paradigmatisch der Sammelband von Schünemann/Suárez González (Hrsg.), Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1994, und dazu die Überlegungen in meinem Vorwort, Vff. 2 8 Wobei gerade die hierfür typische Unternehmenskriminalität permanent die elementaren Zurechnungsgrundsätze des Strafrechts reflektiert, vgl. zuletzt meinen Beitrag in: 50 Jahre B G H (Fn. 11), 621 ff. Es sind also primär die weitestgehend identischen normativen Strukturen der abendländischen, speziell der entwickelten Industrie-Gesellschaft mit Unrecht und Schuld als Basis des Strafrechts und erst darauf aufbauend, aber immerhin auch die ontologischen Strukturen, die eine „internationale Strafrechtsdogmatik" ermöglichen und verlangen (so wohl auch [„weniger"] Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 7 Rn. 84 Fn. 76 gegen H.J. Hirsch FS für Spendel, 1992, 43, 45 ff). 29 Welze! JuS 1966, 421; zur jeweiligen Zweistufigkeit s. meine Überlegungen in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 56. 3 0 Für das angloamerikanische Recht vgl. Kadisb/Scbulhofer Criminal Law and its processes, 5 1989, 187 ff; LaFave/Scott Criminal Law, 2 1986, 302 ff; Perkins/Boyce Criminal Law, 3 1982, 826 ff; Smith/Hogan Criminal Law (Fn. 13), 187 ff; Greenawalt Columbia Law Review (Fn. 6), 1897; Fletcher Rethinking Criminal Law, 1978, 856 ff; für das französische Recht namentlich Merle/Vitu (Fn. 16), Nr. 379, 435 u. passim; Robert Revue de sciences criminelle 1977, 269 ff; weitere Nachweise in der vorzüglich verdichteten Skizze bei Vogel (Fn. 20), 127, 128 ff; ferner Manacorda GA 1998, 124 ff.

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als kategoriale Unterscheidung von justification und excuse auch in der alltagssprachlichen Vorstrukturierung der angloamerikanischen Sprachgemeinschaft wieder, 31 wobei die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht die Essenz jeder denkbaren Rechtsordnung darstellt, während die Schuldidee wiederum in der elementarsten Kulturschicht mindestens des Abendlandes, nämlich den Sprachstrukturen jedenfalls der indoeuropäischen Sprachen verankert ist. 3 2 Daß nun die dogmatische Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld für viele Einzelfragen wie etwa die Verantwortlichkeit des Teilnehmers relevant wird, macht nicht einmal ihren entscheidenden Fortschritt aus, denn die daraus abgeleiteten Differenzierungen können (freilich nicht mit der gleichen Stringenz!) auch im französischen Strafrecht oder dem Common Law ausgebildet werden, 3 3 und außerdem besteht bei Deduktionen aus systematischen Basissätzen immer die Gefahr einer „Uberreizung" des Grundgedankens (was ich als „Hyp er- Üb erkragung" bezeichnet habe) 3 4 . Schlechthin unersetzlich ist dagegen die für das Strafrechtssystem wie für das materielle Recht gleichermaßen fundamentale Leistung in Gestalt der Ordnung der ja phänotypisch höchst unterschiedlichen einzelnen Voraussetzungen der qualifizierten individuellen Vermeidbarkeit unter dem einheitlichen Dach der Vorwerfl>arkeit, welches weder innerhalb der bunten französischen „Elementenlehre" noch bei der angloamerikanischen Aufspaltung in mens rea und defences als solches in den Blick kommt. Dementsprechend kann es nicht weiter überraschen, daß die zahlreichen Konstellationen einer Strafbarkeit ohne Schuld, die im angloamerikanischen wie im französischen Strafrecht teils aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung, teils in Gestalt einer Umkehr der Beweislast bei Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen existieren, von der jeweiligen Doktrin nicht einmal als Problem empfunden werden 3 5 - denn ohne ein systematisches Gesamtkonzept der Schuld kann natürlich auch kein Bruch im System erkannt werden. Mit aller Schärfe formuliert, ist es also die partielle Ignoranz gegenüber dem Schuldprinzip, die die tiefste Kluft der angloamerikanischen und französischen Strafrechtsdoktrin gegenüber dem deutschen (und auch südeuro-

31

Schünemann in: Schünemann/Figueiredo Dias (Fn. 3), 149, 156 ff. Schünemann (Fn. 29), 153, 163 ff; ders. in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, 147 ff. 3 3 Dazu m w N Vogel (Fn. 20), 127, 134 f, 143 f. 34 Schünemann in: Schünemann/Figueiredo Dias (Fn. 3), 161 f, 172. 3 5 Zu nennen sind für das angloamerikanische Strafrecht vor allem die strict liability, die vicarious liability, die strenge Haftung bei Volltrunkenheit und Geisteskrankheit, die status offences und die zahlreichen Konstellationen der Beweislastumkehr, für das französische Strafrecht die responsabilité du fait d'autrui, die infractions matérielles, die strenge Haftung bei Volltrunkenheit und die Beweislastumkehr beim Ausschluß der Verantwortlichkeit, ferner die echte Strafbarkeit juristischer Personen - um nur die wichtigsten zu nennen (dazu exemplarisch Leigh Strict and Vicarious Liability, 1983; Clarkson/Keating Criminal Law, 3 1994, 197 ff; Smith/Hogan [Fn. 13], 4 5 f f , 174ff, 210f, 225ff; Jones/Christie Criminal Law, 1992, 59f; LaFave/Scott [Fn. 30], 200 ff; Merle/Vitu [Fn. 16], N r n . 525 ff, 592 ff; Stefani/Levasseur/Bouloc Procédure pénale, 1 6 1996, Rn. 32 ff; dies. Droit pénal général, I 6 1997, Rn. 345 ff). 32

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päischen! 3 6 ) Strafrechtsdenken ausmacht. Und während ein unverbindlicher Eklektizismus nach Art von Hassemers These, daß die strafrechtssystematische Unterscheidung von Rechtfertigung und Entschuldigung nur dann sinnvoll sei, wenn die Strafrechtsordnung mit einem ausdifferenzierten begrifflichen System praktisch arbeite, was bei einem niedrigen Professionalisierungsgrad der Juristen und bei einer hohen gesellschaftlichen Autorität ihrer Entscheidungen nicht sinnvoll sei, 37 oder nach Art der geradezu hagiographischen Würdigung von Vogel, der das von ihm sogenannte „gemeinwesteuropäische Straftatsystem" mit seiner positivistisch-beliebigen Praxis schuldunabhängiger Bestrafung in methodischer Hinsicht als „offen und beweglich" qualifiziert, was „auch in der deutschen Straftatlehre als Desiderat angesehen" werde, 3 8 in der Vergangenheit als eine politisch korrekte Courtoisie hingehen mochte, muß von einer „Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft" heute auch aus politischen Gründen verlangt werden, daß sie das in Deutschland, aber beileibe nicht nur hier mühsam genug erreichte analytische Niveau auch für Europa einfordert und gegenüber Strafrechtssystemen verteidigt, die wie das englische noch im 18. Jahrhundert bzw. das französische noch im 19. Jahrhundert und damit in noch nicht von der restlosen Durchsetzung des Schuldprinzips geprägtem, vormodernen Gedankengut wurzeln. 3 9 Denn im Präventionsstrafrecht der postmodernen Gesellschaft kann allein ein kompromißlos durchgeführtes Schuldprinzip, das insbesondere auch nicht zu einem prozedural verstandenen Schulddialog postmodern verwässert wird, 4 0 als Magna Charta des Bürgers sicherstellen, daß im Strafrecht niemandem widerfährt, was seine Taten nicht wert sind, d. h. was er nicht voraussehen und vermeiden konnte. 4 1 Unter dieses Niveau darf eine 3 6 Vgl. für Italien Art. 27 Abs. 1 Costituzione italiana, in diesem Sinne C. cost. Nr. 364/ 1988 und 1085/1988; für Spanien Baágalupo Zapater Principios de derecho penal, PG, Madrid 4 1997, 1 3 3 f f , 2 9 8 f f ; Cerezo Mir Derecho Penal, PG (Lecciones) 2 6 - 4 0 , Madrid 2 2000, 1 3 f f ; Luzón Peña Curso de Derecho penal, PG, Bd. I, Madrid 1996, 50 ff; Mir Puig Derecho penal, PG, Barcelona 5 1998, l l O f f , 539 ff. Tiedemanns Gegenbeispiel der überstrengen deutschen Rspr. zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (FS für Lenckner, 1998, 419, 430) beweist in Wahrheit ebenfalls die Fruchtbarkeit der (dazu überaus kritischen!) deutschen Dogmatik. 37 Hassemer in: Eser/Fletcher (Fn. 6), 184 ff. 3 8 So Vogel (Fn. 20), 127, 147, nachdem er auf S. 1 3 1 - 1 4 5 zahllose Fälle der Mißachtung des Schuldprinzips im französischen und angloamerikanischen Strafrecht geschildert hat, ohne sie zusammenfassend auf den Begriff zu bringen. 3 9 Zur Verwurzelung der Straftatlehre des Common Law im 18. Jahrhundert siehe Hall General Principies of Criminal Law, 2 1960, 8 ff; zur Herausarbeitung der französischen „Elementenlehre" im 19. Jahrhundert J.-H. Robert Revue de science criminelle 1977, 269 ff. 4 0 Zur Kritik dieser Lehre, die etwa von Haft (Der Schulddialog, 1978) und Neumann (Zurechnung und Vorverschulden, 1985; ders. ZStW 99 [1987], 567 ff) vertreten wird, vgl. bereits Schünemann in: Hirsch/Weigend (Fn. 32), 147, 169 ff; Roxin AT I (Fn. 28), § 19 Rn. 59; ders. SchwZStr 104 (1987), 356. 4 1 In diesem zentralen Verständnis der Schuld als erster Stufe der strafrechtlichen Verantwortlichkeit glaube ich mit Claus Roxin einig zu sein, denn die Differenz zwischen meiner Bejahung der indeterministischen Prämisse und Roxins agnostischer Deutung der Schuld als einem Statut in bonam partem betrifft nur die theoretische Begründung des gleichermaßen für fundamental erklärten Prinzips der individuellen Vermeidbarkeit, vgl. Roxin AT I (Fn. 28), § 19 IV; ders. ZStW 96 (1984), 641, 652; ders. SchwZStr 104 (1987), 356, 369; ders. FS für

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zukünftige gemeineuropäische Strafrechtsdogmatik nicht zurücksinken, 42 und ich möchte sogar die Behauptung wagen, daß die von den deutschen Gesetzgebungsorganen durch Änderung von Art. 16 Abs. 2 G G ohne viel Federlesen eingeführte Möglichkeit, Deutsche zur strafrechtlichen Aburteilung in das europäische Ausland auszuliefern, 43 nur dann ohne Verletzung der „vorbehaltenen rechtsstaatlichen Grundsätze" realisiert werden kann, wenn man die Auslieferungsmöglichkeit unter die ausdrückliche Bedingung stellt, daß nach der Auslieferung keine das Schuldprinzip verletzende Bestrafung droht. 6. Zusammenfassend lassen sich damit zwei Grundzüge der heutigen deutschen Strafrechtsdogmatik, die in Claus Roxins Gesamtwerk kat' exochen ausgeprägt sind, als exemplarisch auch für jede andere auf dem Niveau unserer Zeit stehende sei es nationale, sei es internationale Strafrechtsdogmatik bezeichnen: ihre von mir sogenannte Netzstruktur als Voraussetzung für eine effektive Kontrolle der Rechtsprechung durch die Rechtswissenschaft und ihre analytische Kompromißlosigkeit nicht nur, aber vor allem bei der Durchführung des Schuldprinzips als Magna Charta des Bürgers. 44

B. Ontologisierende oder normativistische Strafrechtsdogmatik? Freilich handelt es sich bei den bisher formulierten Bedingungen für „Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft", nämlich ihrer Netzstruktur und ihrer analytischen Kompromißlosigkeit, nur um formale Qualitäten, nach deren Herausarbeitung ich naturgemäß noch die Beantwortung der Frage schuldig bin, in welcher Weise denn die Inhalte gefunden werden sollen. Die ebenso naheliegende wie triviale Antwort, daß diese in einem vom Nullum-crimen-Satz geprägten Strafrecht dem Gesetz zu entnehmen seien, führt in einen Zirkel hinein, denn die Aufgabe der Strafrechtsdogmatik besteht ja gerade darin, die beträchtlichen Interpretationsspielräume des Gesetzes in logisch konsistenter Form auszufüllen und womöglich auch Gesetzen, die mit den übergeordneten verfassungsrechtlichen Gewährleistungen kollidieren, die Gefolgschaft zu versagen. Und wegen der notorischen Lückenhaftigkeit insbesondere des Allgemeinen Teils, die nach traditioneller Auffassung mit dem Bestimmtheitsgrundsatz durchaus vereinbar ist, können die Regeln über die strafrechtliche Verantwortlichkeit nur in einem elaborierten Strafrechtssystem konsistent entwickelt werden, dessen Aufbau ja nun seit mehr als 200 Jahren das schlechthin zentrale Arthur Kaufmann, 1993, 519; ferner meine eigenen Überlegungen in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (Fn. 29), 163 ff; auch in: Hirsch/Weigend (Fn. 32), 147 ff. 4 2 Weshalb es zu begrüßen ist, daß der „Corpus Juris" (Fn. 5) vom Schuldprinzip nur ganz geringe Abstriche vornimmt, die freilich ebenfalls noch revisionsbedürftig sind, vgl. Neumann in: Huber (Fn. 5), 67, 76 ff. 4 3 Durch Art. 1 des Gesetzes vom 29. 11. 2000, BGBl. I 1633. 4 4 Auf die andere und dem Schuldprinzip sogar noch vorausliegende Magna Charta, nämlich das Rechtsgüterschutzprinzip, werde ich noch zu sprechen kommen, s. u. B III 3.

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T h e m a der deutschen Strafrechtswissenschaft darstellt. In einer früheren Betrachtung habe ich selbst die letzten 30 Jahre, nämlich die E p o c h e seit dem Erscheinen von Claus Roxins Studie „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem" im Jahre 1970, in das Zeichen des Zweckrationalismus oder Funktionalismus gestellt, 4 5 später jedoch eine „Versöhnung von normativem Denken und Sachlogik" propagiert 4 6 und damit eine strafrechtsdogmatische Auseinandersetzung in ein Gerüst zu bannen versucht, die durch die Entwicklung unterschiedlich radikaler Spielarten des Funktionalismus bei gleichzeitig anhaltender Verteidigung einer sachlogisch fundierten Strafrechtsdogmatik 4 7 gekennzeichnet ist. Diesen Faden möchte ich hier in der Weise aufnehmen, daß ich mich durch eine Kritik der Extrempositionen zu der von mir für richtig gehaltenen Synthese von ontologischem und funktionalem Denken vorarbeite.

I. Kritik des empiriefreien

Normativismus

von Jakobs

1. F ü r Jakobs wird das Individuum erst durch die Eigenschaft, Träger von Rollen zu sein, zur Person, und nur gegenüber einer Person könne die E r w a r tung bestehen, sie werde sich allein wegen ihres Person-Seins in einer bestimmten Lage in bestimmter Weise verhalten, also Adressat einer N o r m sein, und nur wenn N o r m e n gelten, finde Gesellschaft statt. 4 8 Diese fundamentalen D e finitionen von Jakobs lassen in ihrer einzigartigen Konzentration jenen A b grund erkennen, der Jakobs heute nicht nur v o m ontologischen Strafrechtsdenken Welzelscher Prägung, sondern auch von jenem kriminalpolitisch-teleologischen beziehungsweise zweckrationalen Funktionalismus trennt, wie er uns etwa bei Roxin seit seiner berühmten Kritik an der finalen Handlungslehre 4 9 Schünemann (Fn. 29), 45 ff. Schünemann (Fn. 21), 201, 203; ders. FS für Hirsch, 1999, 363 ff am Beispiel des Vorsatzbegriffs. 47 Zu den unterschiedlich radikalen Formen des Normativismus vgl. anschließend im Text sowie die feinsinnige Untersuchung von Keller ZStW 107 (1995), 457 ff. Die sachlogisch fundierte Strafrechtsdogmatik ist vor allem von Hirsch und seinem Schüler Küpper verteidigt worden (Hirsch ZStW 93 [1981], 831 ff; ders. ZStW 94 [1982], 239 ff; ders. FS zur 600 Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, 399 ff; ders. in: Hirsch/Weigend [Fn. 32], 65 ff; Küpper Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, passim). Ich selbst habe schon 1971 die Theorie der Garantenstellung bei den unechten Unterlassungsdelikten (Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte [Fn. 11], 217ff und passim) und später in ähnlicher Weise die Zurechnungsregeln im Bereich der Unternehmenskriminalität auf einer sachlogischen Grundlage entwickelt (Unternehmenskriminalität [Fn. 19], passim) sowie die gleiche Methode auch für die erste Stufe des strafrechtlichen Schuldbegriffs, nämlich das individuelle Andershandelnkönnen, in kritischer Auseinandersetzung mit rein normativistischen Konzepten für angebracht erklärt (vgl. die Nachweise in Fn. 41) - im Unterschied zur normativistischen Methode bei der Bestimmung der Zumutbarkeit als zweiter Stufe der Schuld oder bei der Entwicklung des Risikozusammenhanges und des Schutzzweckzusammenhanges als dritter und vierter Zurechnungsstufe (dazu bereits JA 1975, 582 ff, 647 ff, 715ff und zuletzt GA 1999, 207, 219 und passim). 45 46

48 Jakobs in: Neumann/Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral, ARSP-Beiheft 74, 2000, 57. 49 Roxin ZStW 74 (1962), 515 ff = Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, 72 ff.

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über seine Studie „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem" 50 bis zur Darstellung in seinem Lehrbuch gegenübertritt. 51 Nicht nur in meiner Darstellung in der „Einführung in das strafrechtliche Systemdenken", 52 sondern auch anderswo sind das System von Jakobs und der kriminalpolitisch-teleologische Funktionalismus als zwei miteinander eng verwandte Spielarten des Normativismus angesehen und gemeinsam einer ontologisierenden Strafrechtsdogmatik gegenübergestellt worden, 53 wie sie uns ja vor Welzel schon in Gestalt des strafrechtlichen Naturalismus begegnet. 54 Heute halte ich eine grundsätzlich neue Einteilung der großen strafrechtsdogmatischen Betrachtungsweisen für geboten, denn der Normativismus der Jakobs-Schule hat sich mittlerweile von dem teleologisch-kriminalpolitischen Normativismus weit entfernt und statt dessen dem Neo-Idealismus E. A. Wolffs und Köhlers angenähert. Ich möchte deshalb die von Jakobs seit 1976 entwickelte, aber seit 1992 entscheidend radikalisierte Denkweise den empiriefreien Normativismus nennen, im Unterschied zum zweckrationalen Normativismus Roxinschcr Prägung. 2. Jakobs schlägt nämlich von seiner rechtsphilosophischen Basis aus, der von mir soeben zitierten Entstehung der menschlichen Gesellschaft durch die Geltung von Normen im Sinne von an Rollenträger adressierten Verhaltenserwartungen, eine direkte Brücke sowohl zur Begründung des Strafrechts als auch zur radikalen Ablehnung jeder auch nur partiell ontologisierenden Dogmatik, wobei ich mich nachfolgend auf die kompromißlose Fassung konzentriere, die er seinem Lehrgebäude seit 1992 gegeben hat. a) Während Jakobs noch 1991 in der 2. Auflage seines Lehrbuches die Strafe und das staatliche Strafrecht in einen zweckrationalen Kontext eingestellt hat, indem er ihm als Aufgabe die sogenannte positive Generalprävention durch Einübung in Normanerkennung zuerkannt und zum Beleg auf eindeutige Vertreter utilitaristischer Rechtfertigungsmodelle sowie auf psychologische Mechanismen wie die Sozialisation durch Norminternalisierung und sogar auf tiefenpsychologische Konzepte hingewiesen hat, 55 hat er diesen zweckrationalen Rahmen in seinen neueren Arbeiten hinter sich gelassen. Er stützt sich nunmehr ausdrücklich auf Hegels Straftheorie, 56 lehnt einen durch die Strafe zu verfolgenden Zweck der Einwirkung auf das Verhalten irgendwelcher Indivi-

Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970, 2 1973, passim. Roxin AT I (Fn. 28), § 7 Rn. 24 ff, 51 ff; zur Lehre von Schuld und Verantwortlichkeit ibid., § 19 I - I V . 52 Schünemann (Fn. 29), 45 ff. 5 3 Etwa von Hirsch und Küpper (Fn. 47). 5 4 Dazu die kritische Darstellung von Welzel Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935, hier zitiert aus: Strafrechtliche Abhandlungen, 1975, 29 ff; knappe Darstellung bei Schünemann (Fn. 29), 19 ff. 55 Jakobs Strafrecht, Allgemeiner Teil, '1983 und 2 1991, 1/15 mit Fn. 15 bzw. 16. 56 Jakobs Norm, Person, Gesellschaft - Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilosophie, 2 1999, 108. 50 51

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duen ausdrücklich ab 57 und legitimiert statt dessen die Strafe allein durch die Notwendigkeit, die in der Tat objektivierte Behauptung des Täters, die Norm gälte nicht, durch eine in der Strafe objektivierte Gegenbehauptung zu marginalisieren.58 Daß diese Straftheorie alles andere als neu und meines Erachtens nicht einmal in sich selbst folgerichtig ist, will ich nur ganz kurz anmerken, weil für das Thema des vorliegenden Beitrages die mit Jakobs' „anti-empirischer Kehre" verknüpften methodologischen Konsequenzen wichtiger sind. Deshalb sei nur kurz darauf hingewiesen, daß Jakobs sich damit von einer in einem zweckrational-utilitaristischen Kontext stehenden Theorie der Generalprävention endgültig verabschiedet und statt dessen vollständig auf Hegel zurückgezogen hat, womit er den Schulterschluß zum Neo-Idealismus E. A. W o l f f s , Köhlers und ihrer Schüler findet, die die Strafe in einer völlig identischen Weise zu rechtfertigen versuchen.59 Und ich will auch nur ebenso kurz auf den darin verborgenen und zwei Jahrhunderte lang kaum bemerkten logischen Fehler hinweisen, von einer Normverletzung als solcher, die ja bei jeder Rechtsnorm möglich ist und deshalb der Ebene der allgemeinen Rechtstheorie angehört, auf die spezifische Sanktion mit dem Mittel der Strafe zu schließen, obwohl schließlich die überwältigende Mehrzahl der Normverletzungen, beispielsweise alle zivilrechtlichen Vertragsverletzungen, straflos bleibt. Daß auch große Philosophen wie Kant und Hegel dieser Verwechselung erlegen sind, kann diesen Fehler nicht heilen, sondern beruht offenbar darauf, daß weder Kant noch Hegel Juristen waren. Jakobs hat dieses „Loch" in der Deduktion immerhin geahnt, denn er fügt in seinen Vorüberlegungen zur Rechtsphilosophie hinzu, daß der Normbrecher etwa bei einem Totschlag nicht nur behauptet habe, fremdes Leben sei nicht zu beachten, sondern das Leben vernichtet oder dazu angesetzt habe, weshalb auch die Reaktion auf die Tat eine endgültige Gestal57

Jakobs (Fn. 56), 106. Jakobs (Fn. 48), 59. Grundlegend E. A. Wolff ZStW 97 (1985), 786 ff; darauf aufbauend Köhler Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, 43; Zaczyk Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, 130 ff; ders. ARSPBeiheft 74 (Fn. 48), 103, 106 ff; Kahlo Das Problem des Pflichwidrigkeitszusammenhanges bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1990, 167 ff. - Die weitere Aporie in der kantianischen und demgemäß auch der neokantianischen Strafrechtsbegründung, die sich daraus ergibt, daß eine normverletzende und also den kategorischen Imperativ mißachtende Handlung niemals Kants „intelligiblem Ich", sondern nur dem Ich als Teil der „Welt der Erscheinungen" (zu dieser Unterscheidung Kant Kritik der reinen Vernunft, 2 1787, 56 ff) zugerechnet werden kann und deshalb per definitionem unfrei ist, folglich das Strafrecht gerade nicht auf die kantische Freiheitsphilosophie gegründet werden kann, müßte ohne die hier zu beachtende räumliche Begrenzung für eine methodologische Grundlegung der Strafrechtsdogmatik ebenfalls weiter ausgeführt werden, weil die Wolff-Köhler-Schule aus dem freiheitsphilosophischen Ansatz weitreichende Folgerungen für höchst spezielle Zurechnungsfiguren ableiten zu können prätendiert, beispielsweise für die verschiedenen Beteiligungsformen und die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme (vgl. Köhler aaO, 488 ff; mit dem gleichen Anspruch Zaczyk und Kahlo, aaO). Auf eine Auseinandersetzung mit dieser heute radikalsten Richtung einer deduktiv-axiomatischen Strafrechtsdogmatik muß hier aber leider aus Raumgründen verzichtet werden. 58

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tung in der äußeren Welt schaffen müsse.60 Aber das ist eine unzulängliche Ausrede, denn erstens kann sie an der Kategorienverwechselung von allgemeiner Rechtsnorm und Strafrechtsfolge schon prinzipiell nichts ändern, und zweitens ist sie kaum mehr als die zaghafte Andeutung des Talionsprinzips, das dann etwa beim Versuch einer Straftat auf die groteske Konsequenz hinauslaufen müßte, mit der Sanktion anzusetzen, aber dann sogleich wieder aufzuhören, also etwa den Verurteilten nur bis zu den Toren des Gefängnisses zu führen, dann aber laufen zu lassen. Diese Erneuerung der auf das Strafrecht bezogenen Aporien der deutschen idealistischen Philosophie sind für mein heutiges Thema jedoch nicht einmal der zentrale Einwand gegen die von Jakobs seinem Strafrechtsgebäude neuerdings verliehene Gestalt, denn ich frage ja nach dem methodischen Fundament der Strafrechtsdogmatik, und dieses Fundament besteht heute bei Jakobs nicht mehr in einer funktionalen oder zweckrationalen Analyse, sondern in einem bloßen circulus vitiosus, der hinter einer häufig esoterischen Terminologie für den Enthusiasten unkenntlich geworden ist. Ich werde das sogleich an konkreten Beispielen belegen, möchte aber ganz deutlich auf den bereits auf der fundamentalen Ebene zirkulären Charakter des gegenwärtigen Strafrechtssystems von Jakobs hinweisen. Wenn die Strafe, wie Jakobs nunmehr sagt, nicht einen Zweck hat, sondern selbst Zweckerreichung ist, 61 dann kann man auch nicht mehr kriminalpolitisch-teleologisch mit Hilfe der Methode der sogenannten Mittel-Zweck-Reduktion aus ihrem Zweck heraus auf konkretere strafrechtsdogmatische Sätze rückschließen. Die ganze Welt der konsequentialistischen Argumentation, die die Basis jeder funktionalistischen oder zweckrationalen Betrachtung bildet, wird damit endgültig preisgegeben. Und es wird damit auch jegliche Brücke etwa zur Konzeption Roxins in seiner Studie „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem" abgebrochen, denn für eine Kriminalpolitik im Sinne einer Bewährung und Kontrolle anhand empirisch überprüfbarer Zweckverfolgung ist in einer Strafrechtspflege, die ihren Zweck durch ihre bloße Existenz erreicht, kein Platz. b) Führt so schon die erste Ableitung, die Jakobs aus seinen rechtsphilosophischen Axiomen in Richtung auf die Straftheorie vornimmt, zu einer vollständigen Verbannung jeder auf konkrete Zwecke gerichteten und dadurch empirisch überprüfbaren Argumentation aus der Strafrechtsdogmatik, so wird diese Konsequenz durch die zweite Ableitung wiederholt und befestigt, in der es um das Verhältnis von Person und Individuum geht. „Die Trennung der Welt des Individuums von der Welt der Person" ist nämlich in den Augen von Jakobs ebenso tiefgreifend wie Immanuel Kants Unterscheidung zwischen dem Ich als Gegenstand der Erscheinungen und dem intelligiblen Ich oder - in heutigen Worten — zwischen dem empirischen Subjekt und dem transzendentalen Subjekt. 62 Der Ubergang vom Individuum zur Person ist in den Worten 60

Jakobs (Fn. 56), 105. (Fn. 56), 106. Kant (Fn. 59).

61Jakobs 62

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von Jakobs „der Übergang zu einer anderen Welt" und „bringt eine viel radikalere Neuerung, als es eine bloße Änderung innerhalb der Welt der Natur sein könnte; denn diese gibt hinfort kein Maß mehr vor ... und liegt nicht (mehr) im Blickwinkel der personellen Welt, die die Wahrheit (der Natur) trotz ihrer Ewigkeit deshalb nicht zur Kenntnis nimmt" 6 3 . Etwas schlichter, aber genauso radikal hat Jakobs es auch im Vorwort zur 1. Auflage seines Lehrbuchs ausgedrückt: „Ein Subjekt ist bei dieser Sicht nicht, wer ein Ereignis bewirken oder hindern kann, sondern wer dafür zuständig sein kann. Ebenso verlieren die Begriffe Kausalität, Können, Fähigkeit und andere ihren vorrechtlichen Inhalt und werden zu Begriffen für Stufen von Zuständigkeiten. Diese Begriffe geben dem Strafrecht keine Regelungsmodelle vor, sondern entstehen erst im Zusammenhang strafrechtlicher Regelungen." 64 Ahnliche Sätze las man zwar schon in Roxins Kritik an der finalen Handlungslehre, etwa in Gestalt der Behauptung, daß man mit Begriffen, die den rechtlichen Bedeutungsgehalten vorgelagert sind, um eben dieses Umstandes wegen keine rechtlichen Probleme bewältigen könne. 6 5 Aber die eigentliche Radikalität dieser Behauptung entsteht erst durch die Verbindung mit der Idee der Zweckerreichung der Strafe durch ihre bloße Verhängung, also mit dem Verzicht auf jegliche externe Präventionswirkung und mit der daraus folgenden Abweisung jeder zweckrationalen Betrachtung. Denn wenn die Begriffe des Rechtssystems ausschließlich im Rechtssystem selbst abgeleitet werden sollen, ohne die Wahrheiten der natürlichen Welt zur Kenntnis zu nehmen und ohne in einem funktionalen Zusammenhang mit konkreten gesellschaftlichen Zwecken zu stehen, dann können sie nur noch zirkulär gebildet werden. Selbst ein kruder Gesetzespositivismus könnte dann der Strafrechtsdogmatik nicht mehr aus diesem circulus vitiosus heraushelfen, weil der Gesetzgeber bekanntlich im Allgemeinen Teil des Strafrechts mehr Probleme offengelassen als gelöst hat. 3. Daß dementsprechend eine im Sinne von Jakobs rein normativistische, d. h. empiriefreie Begriffsbildung notgedrungen mit leeren Begriffen arbeiten muß, die das Rechtsproblem in Wahrheit nicht lösen, sondern nur paraphrasieren und anschließend rein dezisionistisch und deshalb letztlich beliebig mit Inhalt gefüllt werden, 66 möchte ich an seiner Reformulierung des Handlungsbegriffs und an dem für sein ganzes System zentralen Terminus der Zuständigkeit in aller Kürze exemplifizieren.

« Jakobs (Fn. 56), 4 4 - 4 6 . Jakobs (Fn. 55), Vorwort zur 1. Aufl., V f (auch in der 2. Aufl. auf S. VII). 65 Roxin Strafrechtliche Grundlagenprobleme (Fn. 49), 88. 6 6 Wenn Neumann in: Prittwitz/Manuletakis (Fn. 5), 122, meinen Vorwurf des Dezisionismus gegenüber Jakobs mit dem Argument zurückweist, daß der Strafzweck der positiven Generalprävention dem Schuldbegriff Inhalt gebe, so wird dabei außer Acht gelassen, daß der Begriff des Strafzweckes bei Jakobs heute überhaupt nicht mehr auf reale gesellschaftliche Effekte, sondern nur noch auf das Strafrechtssystem selbst bezogen und damit zirkulär ist. 64

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a) Der Handlungsbegriff ist von Jakobs schon im Lehrbuch aus den Bedürfnissen der strafrechtlichen Zurechnung abgeleitet w o r d e n , 6 7 aber das Resultat ist immerhin dann doch ein auf Wirklichkeit verweisender und also deskriptiver Begriff gewesen, nämlich „die individuell vermeidbare Erfolgsverurs a c h u n g " 6 8 . D i e vollständige N o r m a t i v i e r u n g im negativen Handlungsbegriff im Sinne der von Herzberg geprägten F o r m e l der „vermeidbaren Nichtvermeidung in Garantenstellung" 6 9 wurde im Lehrbuch noch als „terminologische Wirrnis" abqualifiziert. 7 0 N u r ein Jahr nach dem Erscheinen der 2. Auflage, nämlich in seiner „Kleinen Studie" über den strafrechtlichen Handlungsbegriff aus dem Jahr 1992, ist diese terminologische Wirrnis dann aber für Jakobs zur Methode avanciert, indem er für das aktive Tun wie für das Unterlassen gleichermaßen den jedes deskriptiven Kernes ermangelnden Handlungsbegriff „Sich-schuldhaft-zuständig-Machen für einen N o r m g e l t u n g s s c h a d e n " geprägt und zwei für das Tun wie für das Unterlassen gleichermaßen geltende Zurechnungsgründe propagiert hat, nämlich aus Organisationszuständigkeit oder aus institutioneller Zuständigkeit. 7 1 Fast möchte ich mich anheischig machen, das Lehrbuch von Jakobs mit den darin enthaltenen, zahlreichen und äußerst beachtlichen Restbeständen einer die Rechtswirklichkeit höchst kreativ berücksichtigenden D o g m a t i k gegen seinen mit dem Jahr 1992 einsetzenden normativistischen Radikalismus in Schutz zu nehmen. D e n n sein neuer Handlungsbegriff ist ein solcher A u s b u n d an Zirkularität, daß man ihn noch auf der Basis der im Lehrbuch vertretenen Positionen fast als das Zerrbild eines böswilligen Kritikers beargwöhnt hätte. Schauen wir uns die Glieder der Definition etwas genauer an: D i e Zuständigkeit ist ja nur ein anderer A u s d r u c k dafür, N o r m adressat zu sein, kann also den N o r m i n h a l t nicht erläutern, sondern verweist auf die N o r m zurück. D i e Schuld hat Jakobs schon 1976 in seiner vielbeachteten Studie auf Generalprävention z u r ü c k g e f ü h r t . 7 2 Meine daran vielfach geäußerte und hier nicht zu wiederholende inhaltliche K r i t i k 7 3 erfährt nunmehr aber eine entscheidende methodische Zuspitzung, seitdem Jakobs den Zweck der Strafe nicht mehr in einem außerhalb ihrer Z u f ü g u n g liegenden, empirisch feststellbaren Präventionseffekt, sondern im Sinne von Hegel in der schlichten N e g a t i o n der Tat erblickt, denn dadurch ist auch der Schuldbegriff endgültig zirkulär geworden. U n d nichts anderes trifft auch auf den Begriff des „ N o r m geltungsschadens" zu, da dieser für Jakobs mit der Normverletzung identisch ist. D i e H a n d l u n g wird also durch die N o r m v e r l e t z u n g definiert, und weil die

67

Jakobs (Fn. 55), 2. Aufl., 6/21 f. Jakobs (Fn. 55), 6/27. 69 Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantieprinzip, 1972, 172 ff. 70 Jakobs (Fn. 55), 6/33. 71 Jakobs Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, insbes. 32, 44. 72 Jakobs Schuld und Prävention, 1976. 73 Schünemann (Fn. 29), 48 ff, 54 ff, 168 ff, 195; ders. in: Hirsch/Weigend (Fn. 32), 150; ders. G A 1995, 341, 375 ff; zur Unterlassungskonzeption von Jakobs in: Gimbernat/Schünemann/ Wolter (Fn. 3), 49, 50 ff. 68

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Normverletzung eine Handlung voraussetzt, drehen wir uns im Kreise wie bei einer Tarantella. b) Die bereits festgestellte Zirkularität des für Jakobs heute zentralen Begriffs der Zuständigkeit wird durch die Subdefinitionen der Zuständigkeit qua Organisationskreis bzw. der institutionellen Zuständigkeit nicht beseitigt, weil es sich hier um Kunstausdrücke handelt, die nach der Intension wie nach der Extension völlig unbestimmt sind und deshalb nur als Etiketten dienen, die erst durch zusätzliche Dezisionen eine Bedeutung erlangen. Nach Jakobs wird „der Organisationskreis so definiert, daß er den Aufwand erfaßt, der nötig ist, um Schaden bei anderen zu vermeiden, (denn) wer Handlungsfreiheit so gebraucht, daß ohne Aufwand Schäden bei anderen nicht vermieden werden können, soll den Aufwand tragen" 74 . Das ist ersichtlich nichts anderes als die Definition einer völlig unlimitierten Ingerenz-Garantenstellung und eine reine Dezision, wie sie nun einmal zur Ausfüllung von inhaltsleeren und zirkulären Formeln allein noch übrigbleibt. Und nicht besser, sondern eher noch fragwürdiger ist, was Jakobs als Definition für die „institutionelle Zuständigkeit" anbietet, die durch einen Status des Täters im Verhältnis zum Rechtsgut bestimmt werden soll, der an vorgeformte und allenfalls in engen Grenzen disponible Regelungskontexte wie bei Eltern, Vormündern oder Beamten und also an Institutionen gebunden sei. 75 Soweit Jakobs damit an außerstrafrechtliche, namentlich zivilrechtliche Rechtsregeln anknüpft, setzt er sich einer doppelten, sowohl auf der methodologischen als auch auf der inhaltlichen Ebene durchgreifenden Kritik aus. Die Heranziehung zivilrechtlicher Regelungen über die Rechte und Pflichten von Eltern oder Vormündern zeigt deutlich, daß Jakobs sein Heil zur Ausfüllung seiner Leerformeln im Gesetzespositivismus suchen muß, wobei er, weil das Strafrecht die Antwort schuldig bleibt, auf andere Rechtsgebiete zurückzugreifen versucht. Inhaltlich ist dieser Rückgriff aber schon deshalb unschlüssig, weil, wie wir ja seit den schon zitierten Arbeiten von Schaffstein und Nagler76 aus den 30er Jahren wissen, zivilrechtliche Pflichten als solche keine strafrechtlichen Pflichten auslösen können - was Jakobs vielleicht deshalb nicht stört, weil er ja auch schon die Strafe ganz allgemein aus der bloßen Normverletzung ableiten zu können vermeint. Insoweit Jakobs mit der „institutionellen Zuständigkeit" an außerstrafrechtliche rechtliche Institutionen anknüpfen will, ist das also nur ein Rückschritt zu der obsoleten formellen Rechtspflichttheorie. Falls Jakobs aber auch soziale Institutionen ausreichen lassen will, wofür seine Bemerkungen über Institutionen von elementarem Gewicht wie bei einem besonderen Vertrauen sprechen könnten, 77 würde er erstens seinem eigenen normativistischen Ansatz untreu, weil er ja auf die Beziehung von Menschen als Individuen und nicht als „Personen" abheben würde, und müßte zweitens aus soziologischen und damit empirischen PrämisJakobs (Fn. 55), 2. Aufl., 28/14. Jakobs (Fn. 55), 2. Aufl., 7/70. 76 Nachweise o. in Fn. 10. 77 Jakobs (Fn. 55), 2. Aufl., 29/58. 74 75

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sen Rechtsfolgen ableiten, was auf den von ihm sonst so harsch gegeißelten naturalistischen Fehlschluß hinauslaufen würde. c) Abschließend möchte ich noch einige Bemerkungen zu den neuesten Ausführungen von Jakobs zum Vorsatzbegriff machen, den er in seinem Lehrbuch ebenfalls noch vergleichsweise naturalistisch definiert hat, 78 für den er inzwischen aber eine Gleichstellung von Vorsatz und der von ihm so genannten „gerichteten Fahrlässigkeit" verlangt, womit er die aus Gleichgültigkeit gegenüber der N o r m ausgebliebene Kenntnis der Tatbestandsverwirklichung meint. 79 Die dafür von Jakobs angeführte Begründung, der traditionelle, vom geltenden Recht wohl noch vorgegebene Vorsatzbegriff verfehle das eigentliche Unwertgefälle, weil der infolge von Gleichgültigkeit die Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung verkennende Täter für die Rechtsgüterordnung genauso gefährlich sei, 80 ist zwar in der Sache selbst nicht überzeugend, in methodologischer Hinsicht aber hochinteressant, weil sie einerseits einen Bruch in dem sonst von Jakobs neuerdings durchgehaltenen radikalen Normativismus darstellt und andererseits gerade dadurch verdeutlicht, wie die Struktur einer nicht-zirkulären normativistischen Argumentation aussehen muß. In der Sache selbst ist das Argument von Jakobs deshalb unrichtig, weil dem völlig gleichgültigen und deshalb die Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung verkennenden Täter die Steuerungskapazität und damit die Tatherrschaft abgeht, so daß seine Gefährlichkeit für die Rechtsgüterordnung nur eine zufällige und infolgedessen - so wie bei den anderen Fahrlässigkeitsdelikten - eine verminderte ist. Was freilich die methodologische Seite anbetrifft, so ist die Argumentation von Jakobs in ihrer Art eine strukturell richtige, nämlich mit Hilfe einer Zweck-MittelReduktion aus den konkreten gesellschaftlichen Zwecken des Strafrechts (im Licht des Rechtsgüterschutzes) abgeleitete Beweisführung. Und gerade dadurch wird die Unrichtigkeit des neuen, durch die Rückwende zu Hegel geprägten Strafrechtssystems von Jakobs deutlich, das mit der Eliminierung externer Zwecke außerhalb der Bestätigung der Normgeltung auf einen reinen circulus vitiosus zusammenschrumpft. 4. Ich fasse meine bisherigen Überlegungen dahin zusammen, daß die neueste Fassung des Strafrechtssystems von Jakobs nach meiner Meinung eine (hochartifizielle) Sackgasse der Strafrechtsdogmatik bildet. Und in Abwandlung des von Jakobs selbst über den Finalismus geprägten Verdikts 81 bedeutet das: Die radikal normativistische, empiriefreie Strafrechtsdogmatik zerbricht ebenso gründlich, wie sie bewußt etabliert worden ist.

78 „Vorsatz ist das Wissen, daß die Tatbestandsverwirklichung vom gewollten(!) Handlungsvollzug abhängt, mag sie auch nicht selbst gewollt sein; kurz: Vorsatz ist Wissen um die Handlung nebst ihren Folgen" (Fn. 55), 2. Aufl., 8/8. 79 Jakobs ZStW 101 (1989), 516, 530, 531 ff. 80 Jakobs (Fn. 79), 529 f. 81 Jakobs im Vorwort zur 1. Aufl. seines Lehrbuches (Fn. 55), V f.

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II. Grenzen und Defizite ontologisierender

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1. Freilich bedeutet dieses Zwischenergebnis natürlich keinesfalls, daß wir etwa zu einem Ontologismus im Sinne des zwischen 1870 und 1900 in Deutschland herrschenden strafrechtlichen Naturalismus zurückkehren sollten. Dessen Glaube, alle strafrechtlichen Zurechnungsprobleme durch den ontologischen Kausalbegriff lösen zu können, lief nicht nur auf einen kruden naturalistischen Fehlschluß hinaus, sondern hat auch eine ganze Reihe unsinniger Theorien zur Folge gehabt, die die deutsche Strafrechtswissenschaft auf viele Abwege geführt haben und teilweise noch heute schwer belasten. Denn weil der naturalistische Kausalbegriff zwangsläufig zur Aquivalenztheorie führte und damit jede Differenzierung zwischen wichtigen und weniger wichtigen Verursachungsbeiträgen scheinbar dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit preisgab, 82 machte die daraus folgende vollständige Verarmung des objektiven Tatbestandes scheinbar die Entwicklung subjektiver Theorien notwendig, die dann auch vor allem unter dem Einfluß v. Buris mit verhängnisvollen Folgen in der Rechtsprechung des Reichsgerichts etabliert wurden. Wenn ich mehr Raum zur Verfügung hätte, könnte ich den gerade wegen seiner Fehlerhaftigkeit lehrreichen, immer wieder gleich ablaufenden Vorgang im Detail beschreiben, wie für genuin objektive Zurechnungsfragen nach subjektiven Kriterien gesucht wurde, die in der Realität aber gar nicht existieren und dann schließlich fingiert wurden. Die subjektive Teilnahmetheorie mit den in Wahrheit bloße Fiktionen darstellenden, dogmatischen Monstren des animus auctoris und des animus socii 83 ist hierfür nicht einmal das traurigste Beispiel, welches von der fast schon tragikomischen Jagd nach der Kausalität bei den Unterlassungsdelikten gebildet wurde, die die einen in der Ingerenz 8 4 und die anderen in der innerseelischen Unterdrückung der zur Rettungshandlung drängenden Motive 85 erwischt zu haben glaubten. Auch die Strafbarkeit des absolut untauglichen Versuches, die international zu den umstrittensten Eigenheiten des deutschen Strafrechts zählt, 8 6 war ursprünglich eine Frucht der naturalistischen Doktrin, die die Unterscheidbarkeit von gefährlichen und ungefährlichen Ver82 Von Buri Uber Causalität und deren Verantwortung, 1873; ders. Die Causalität und ihre strafrechtlichen Beziehungen, 1885. 83 Dagegen durchschlagend Roxin (Fn. 9), 51 ff, 90 f; mein eigenes Verdikt über die Monstrosität der Animus-Theorie fällt fast noch krasser aus, vgl. Schünemann GA 1986, 328 ff. 84 Zur Erfindung der Ingerenztheorie aus reinen Kausalüberlegungen Krug Commentar zu dem Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen, 1855, 83; ders. Abhandlungen aus dem Strafrecht, Bd. II, 1855, 34 ff; Glaser Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, Bd. 1, 1858, 289, 303; Merkel Kriminalistische Abhandlungen, Bd. 1, 1867, 81. Zur Kritik hieran Schünemann GA 1974, 231, 232; ders. ZStW 96 (1984) 287, 290 sowie eingehend zur Dogmengeschichte Rudolphi Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, 154 ff. 85 In Gestalt der sog. Interferenztheorie, s. dazu v. Buri GS 21 (1869), 199 f; ders. GS 27 (1875), 26 ff; ders. GS 56 (1899), 445 ff; ders. ZStW 1 (1881), 400 ff; Hälschner Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd. 1, 1881, 241; Binding Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 2, 1. Hälfte, 2 1914, 556, 588. 86 Vgl. Jescheck/Weigend (Fn. 17), 527 f; Naka in: Hirsch/Weigend (Fn. 32), 93 ff.

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suchen auf dem Boden der Äquivalenztheorie leugnete und deshalb für den Strafgrund des Versuches notgedrungen eine subjektive Theorie entwickelte, die abermals v. Buri durchgesetzt hat. 87 An dieser Stelle trifft man dann freilich auf einen bemerkenswerten Schulterschluß zwischen dem strafrechtlichen Naturalismus und dem Finalismus, der infolge seiner Akzentuierung des Handlungsunwertes an der Strafbarkeit des absolut untauglichen Versuches mit nunmehr besserer Begründung festhielt. 88 Aber diese bloß äußerliche Kontinuität kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß zwischen dem letztlich auf einen plumpen naturalistischen Fehlschluß hinauslaufenden strafrechtlichen Naturalismus und dem Finalismus ein himmelweiter Unterschied besteht. Schon von der dogmenhistorischen Entwicklung her ist das fast selbstverständlich, denn der Naturalismus wurde zunächst von dem etwa drei Jahrzehnte herrschenden Neukantianismus abgelöst, der eine von mir hier nicht mehr darstellbare Variante des Normativismus repräsentierte. 89 Welzel entwickelte dann den Finalismus in kritischer Auseinandersetzung sowohl mit dem Naturalismus als auch mit dem Neukantianismus und hat nicht nur selbst seine Position als eine Synthese zwischen beiden aufgefaßt, 90 sondern hat auch von seinen Kritikern von Roxin bis Cancio durchaus attestiert bekommen, daß er in sein System namentlich in der Anfangsphase immer wieder auch normative Elemente integriert hat, deren spätere Verkümmerung erst die Gefahr eines partiellen Rückfalls in den Naturalismus ausgelöst hat. 91 2. Es wäre eine reizvolle, den mir vorgegebenen Rahmen aber bei weitem sprengende Aufgabe, das Mischungsverhältnis von ontologischen und normativistischen Argumenten im gemäßigten Finalismus, für den seit dem Tode Welzeis in erster Linie in Deutschland H. J. Hirsch und in Spanien Cerezo Mir sowie ihre Schüler stehen, sine ira et studio zu analysieren und etwa mit der Argumentationsstruktur im Lehrbuch von Claus Roxin zu vergleichen, in dessen kriminalpolitisch-teleologische Begründungen nach der Logik der ZweckMittel-Reduktion die außerhalb des Rechts existierende Realität notwendig Eingang und damit Beachtung finden muß und auch durchweg findet, so daß der Unterschied zwischen diesen beiden Denkweisen in der Theorie der Dogmatik essentiell, in der praktischen dogmatischen Arbeit aber nur graduell ist. Als einziges Beispiel kann ich hier nur noch die entscheidend von Roxin ausgearbeitete normative Theorie der objektiven Zurechnung anführen, die durch das ontologische Kriterium der Vorsatzreichweite entgegen der lange Zeit ver-

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Von Buri G S 19 (1867), 71 ff; ders. G S 20 (1868), 325 ff; ders. G S 32 (1880), 357 ff. Welzel Das Deutsche Strafrecht, " 1 9 6 9 , 192 f. 89 Meine eigene Beurteilung findet sich in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (Fn. 29), 27 ff. 90 Welzel (Fn. 54), passim. 91 Roxin (Fn. 49), 72 ff, 88, 99 (insbes. Fn. 66), 100 ff, 122, wo daraus gerade intrasystematische Widersprüche abgeleitet werden; Cancio Melid G A 1995, 179 ff. 88

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teidigten finalistischen Position gerade nicht ersetzt werden kann, 92 um mich nunmehr wenigstens skizzenhaft meiner eigenen Vorstellung vom Verhältnis zwischen Ontologismus und Normativismus zuzuwenden. III. Die gebotene

Synthese

1. Um den Schlüssel zur Bestimmung des Verhältnisses von Ontologismus und Normativismus in die Hand zu bekommen, müssen wir an den Ausgangspunkt der Strafrechtsdogmatik zurückkehren, und der lautet: In der Strafrechtsdogmatik geht es um Rechtsfindung, also um die Begründung von Sollenssätzen. Die übliche Methode der Rechtsfindung in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, deren Fundament die vom Gesetzgeber erlassenen Gesetze sind, ist die Interpretation der einzelnen Vorschriften durch Definition und Subdefinition der vom Gesetzgeber benutzten Ausdrücke (Termini). Weil die früher nur bruchstückhaft existierenden und auch heute noch stark lückenhaften Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafrechts vielfach mit hochgradig unbestimmten Rechtsbegriffen arbeiten, müssen hier, bevor die konventionelle Gesetzesauslegung zum Zuge kommt, zunächst verhältnismäßig wenige fundamentale Prinzipien in einer Weise, die ich sogleich noch näher betrachten werde, entfaltet und am Rechtsstoff, das heißt an den unterschiedlichen Konstellationen der Lebenswirklichkeit konkretisiert werden. Die Unterscheidung von Normen und Prinzipien, die übrigens schon der deutsche Zivilrechtler Josef Esser in den 50er Jahren ausgearbeitet hat, 93 für die aber erst Dworkin94 berühmt geworden ist und die sodann Alexy für die Grundrechtstheorie übernommen hat, 95 ist also in der Strafrechtsdogmatik - wenn ich so sagen darf fast ein alter Hut. Während nun die Grundrechtstheorie wegen der großen Zahl der hier miteinander rivalisierenden und häufig gegensätzlichen Prinzipien alles in allem nur begrenzte rein wissenschaftlich begründete Ergebnisse vorzuweisen hat, war die Ausgangssituation für die Strafrechtsdogmatik weitaus günstiger. Denn die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Rechtsfindung aus Prinzipien sind im Allgemeinen Teil des Strafrechts wegen ihrer hier geringen Zahl, ihrer fundamentalen Bedeutung, ihres von Antagonismen freien Verhältnisses zueinander und schließlich auch wegen ihrer langen und festen, weit über die moderne Verfassungsdiskussion hinaus zurückreichenden historischen Verankerung so reich und günstig wie nirgendwo sonst in der Rechtsordnung. 2. a) Der gesamte Allgemeine Teil des Strafrechts kann nämlich aus zwei den Begriff der Straftat bestimmenden Basisprinzipien entwickelt werden, dem 9 2 Das muß letzten Endes nunmehr auch Hirsch einräumen, in FS für Lenckner, 1998, 119, 123 ff, 141, und zwar entgegen seiner fortbestehenden verbalen Verwahrung, vgl. meine Analyse in GA 1999, 207, 227 ff. 93 Esser Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 49 ff, 73 ff, 219 ff, 336 f 94 Dworkin Taking Rights Seriously, 2 1978, 14 ff, 46 ff. 95 Alexy Theorie der Grundrechte, 1986, 71 ff.

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Prinzip der Sozialschädlichkeit und dem Schuldprinzip. Die geschichtliche Entwicklungslinie des Schuldprinzips, dem ich mich im Anschluß an die Hervorhebung seiner fundamentalen Bedeutung (oben unter A. 5.) zunächst zuwenden möchte, geht mindestens bis in das kanonische Recht des Mittelalters zurück. 9 6 Seine einzigartige und überragende Bedeutung für die heutige Zeit beruht aber nicht auf dieser historischen Tiefendimension als solcher, sondern auf dem Umstand, daß alle kulturellen Wandlungen der letzten 1000 Jahre die Richtigkeit und Wichtigkeit des Schuldprinzips immer deutlicher herausgestellt und immer stärker unterstrichen haben, so daß die Geschichte des Schuldprinzips die Geschichte seiner immer reineren Verwirklichung ist. Seine zentrale Funktion besteht präzise darin, die Zufügung des grausamen Strafübels gegenüber dem Betroffenen selbst zu legitimieren, und genau hierauf zielt übrigens auch die überzeugendste Stelle in Immanuel Kants Straftheorie, wenn er schreibt, daß der Verbrecher nicht nur als Mittel zur Erreichung anderweitiger Zwecke benutzt werden darf, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt. 97 Inhaber dieses Schutzanspruches ist übrigens, wenn ich mich einmal der Terminologie von Jakobs bediene, das Individuum und nicht die Person, d. h. der reale einzelne Mensch und nicht der generalisierte Rollenträger, denn auch das Strafübel wird nicht einer abstrakten Rolle, sondern einem realen Menschen aus Fleisch und Blut zugefügt. Die von Jakobs propagierte Ersetzung des Individuums durch die Person als bloßen Rollenträger im Strafrecht zerstört also gerade dessen Legitimation und muß auch aus diesem Grunde abgelehnt werden. Legitimieren gegenüber dem Betroffenen selbst läßt sich eine Ubelszufügung nur, wenn er sie vermeiden sollte und auch vermeiden konnte, wenn also die die Strafe auslösende Straftat für ihn vermeidbar war und wenn ihm die Vermeidung auch zumutbar war. Der seit 100 Jahren eingebürgerte sogenannte normative Schuldbegriff 98 setzt also zweierlei voraus, die individuelle Vermeidbarkeit der Tat und die Zumutbarkeit ihrer Vermeidung. 99 Und mit dieser Erkenntnis haben wir unversehens bereits ein Exempel für das Verhältnis von Normativismus und Ontologismus in der Strafrechtsdogmatik praktiziert. Denn während die Bestimmung der Schuld als Vorwerfbarkeit noch völlig im normativen Bereich, oder sagen wir besser: im Bereich der präskriptiven Spra9 6 Vgl. Kuttner Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX., 1935; Löffler Die Schuldformen des Strafrechts I, 1895, 136 ff; Engelmann Die Schuldlehre der Postglossatoren, 2 1965. 97 Kant Die Metaphysik der Sitten, 1797, 196. 9 8 Wobei der Startschuß für diese die Ersetzung des Naturalismus durch den Neukantianismus markierende Ablösung des psychologischen Schuldbegriffs durch den normativen durch einen eher beiläufigen Aufsatz von Frank gegeben wurde, vgl. Frank FS der juristischen Fakultät der Universität Gießen, 1907, 3 ff; Achenbach Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, 101 ff; Schünemann (Fn. 29), 2, 32. 9 9 Entsprechend der von Claus Roxin nach einer anfänglichen Verabsolutierung der Strafzweckbezogenheit anerkannten Zweistufigkeit der Kategorie der Verantwortlichkeit in Gestalt der individuellen Vermeidbarkeit als erster Stufe und eines präventiven Bedürfnisses als zweiter Stufe; Nachweise oben Fn. 41.

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che, verbleibt, haben wir daraus unter Anwendung des von Hans Albert sogenannten Brückenprinzips100 „Sollen setzt Können voraus" die dem Bereich der deskriptiven Sprache angehörende, von Haus aus empirische Prämisse der individuellen Vermeidbarkeit herausgearbeitet. b) Ich möchte diese Konkretisierung oder Entfaltung des Schuldprinzips noch etwas genauer betrachten, denn sie ist für mein Thema von exemplarischer Bedeutung. Die logische Operation, die von dem normativen Urteil der Vorwerfbarkeit zu der partiellen empirischen Voraussetzung der Vermeidbarkeit und der anderen, weiterhin normativen Voraussetzung der Zumutbarkeit führt, ist weder eine Deduktion noch eine Induktion und könnte deshalb als ein Abduktionsschluß im Sinne von Peirce bezeichnet werden, auf dessen logische Feinheiten ich mich hier aber nicht einzulassen brauche. 101 Der Ausgangspunkt ist eindeutig normativ und kann auch ohne einen naturalistischen Fehlschluß durch keine dem Recht vorausgelagerte, ontologische Struktur ersetzt werden. Eine Bewertung existiert aber niemals für sich allein, sondern immer nur in bezug auf einen bewerteten Sachverhalt, und die Aufgabe des Rechtswissenschaftlers besteht nun darin, die Sachverhalte herauszufinden, auf die die betreffende Bewertung paßt. Für die Analyse der dazu notwendigen Gedankenoperationen ist wiederum die analytische Sprachphilosophie von Nutzen, weil sich ja die gesamte rechtsdogmatische Arbeit im Medium der Sprache abspielt. Hierbei müssen zwei Aspekte auseinandergehalten werden, die in der Diskussion der letzten Jahrzehnte häufig miteinander vermengt worden sind, was zu viel überflüssiger Unklarheit geführt hat. Die Unterscheidung von normativistischer oder ontologistischer Betrachtungsweise läuft in sprachphilosophisch präziser Analyse auf die Unterscheidung zwischen Sätzen der präskriptiven Sprache und Sätzen der deskriptiven Sprache hinaus. Formallogisch gibt es keinen zwingenden Schluß von einer Sprache in die andere, denn dem bisher mehrfach angesprochenen naturalistischen Fehlschluß entspricht auf der anderen Seite der normativistische Fehlschluß, der in der Form zum Sprichwort geworden ist, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Es gibt jedoch die erwähnten Brückenprinzipien, die aus der impliziten Logik von Sollenssätzen resultieren und deren wichtigstes, nämlich daß Sollen ein Können voraussetzt, von mir schon genannt wurde. Ferner gibt es ein Phänomen, das ich die „umgangssprachliche Überlappung" nennen möchte und welches darin besteht, daß bei einem Werturteil häufig zahlreiche reale Fälle implizit mitgemeint sind, weil die Verwendungsregeln für ein bestimmtes Wertprädikat aufgrund der historischen Übung oder des Kontextes offensichtlich sind. Die analytisch klare Trennung zwischen präskriptiver und deskriptiver Sprache ist deshalb in der Umgangssprache, die ja auch das Medium des Rechts darstellt, höchst durchlässig, und mit Hilfe aller dieser Faktoren ist es bis zu einem gewissen Grade Vgl. Albert Traktat über kritische Vernunft, 3 1975, 76. Dazu ebenso subtil wie erschöpfend L. Schulz Das rechtliche Moment der pragmatischen Philosophie von Charles Sanders Peirce, 1988, 244 ff. 100 101

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möglich, Wertbegriffe ohne Willkür, und das heißt also: auf wissenschaftlichem Wege, auf empirische Begriffe zurückzuführen. Freilich sind auch die empirischen Begriffe häufig noch relativ unbestimmt, das heißt sie haben oftmals nur einen kleinen Bedeutungskern, aber einen großen Bedeutungshof. Die Präzisierung innerhalb dieses Bedeutungshofes kann dann wiederum nur mit teleologischen, im Strafrecht mit kriminalpolitisch-teleologischen Argumenten erreicht werden, weshalb wir uns in der Strafrechtsdogmatik angewöhnt haben, auch derartige an sich empirische, aber immer noch unbestimmte und deshalb auf eine juristisch-teleologische Präzisierung angewiesene Begriffe als normativ zu bezeichnen. Das gilt dann letztlich auch für solche Begriffe, die an sich in ihrer Intensión, also in ihrer Bedeutung präzise sind, aber bei ihrer Anwendung auf erhebliche empirische Feststellungsschwierigkeiten treffen und deshalb eine unklare Extension, also eine Unbestimmtheit bezüglich der unter sie zu subsumierenden realen Fälle aufweisen. 102 c) U m diese drei Begriffskategorien durch Beispiele zu erläutern: Der Begriff der Zumutbarkeit als Prämisse des Schuldvorwurfes ist noch ein rein normativer Begriff, der die unter ihn fallenden empirischen Sachverhalte zunächst nicht erkennen läßt. Der Begriff der individuellen Vermeidbarkeit als weiterer Prämisse des Schuldvorwurfes ist dagegen an sich ein rein empirischer Begriff, der auch seiner Bedeutung nach bestimmt ist, der aber in der Praxis auf erhebliche Anwendungsprobleme stößt, angefangen bei der Frage der Willensfreiheit bis hin zu den Diagnoseproblemen bei geistigen oder seelischen Erkrankungen. 103 Schließlich als Beispiel der Begriff des unmittelbaren Ansetzens zur Tat, der nach § 22 StGB den Beginn des strafbaren Versuches festlegt: Dies ist an sich ein empirischer Begriff, zugleich aber auch ein äußerst unbestimmter Begriff, dessen weitere Präzisierung nur mit kriminalpolitisch-teleologischen Methoden gelingen kann. 3. Als letzter und eindeutig normativer Ankerpunkt steht hierfür jenes zweite fundamentale normative Prinzip des Strafrechts zur Verfügung, das ich bei einer systematischen Betrachtung sogar an erster Stelle hätte nennen müssen, weil es nämlich nicht nur die Basis des Straftatbegriffs schlechthin, sondern auch die unerläßliche Voraussetzung für das Schuldurteil bildet: nämlich daß es sich bei der Straftat um ein sozialschädliches Verhalten handeln muß. Diese Grundvoraussetzung ist in der für unser modernes Strafrecht fundamentalen

102 Zu diesen grundlegenden Kategorien der Semantik vgl. Patzig (Hrsg.), Funktion, Begriff, Bedeutung, 4 1975; ders. Sprache und Logik, 1970, 77 ff; Carnap Bedeutung und Notwendigkeit, dt. 1972; Weingartner Wissenschaftstheorie I I / l , 1978, 104ff. 103 Zu den beträchtlichen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Problemen ansatzweise Schünemann in: Hirsch/Weigend (Fn. 32), 165 ff; am Beispiel der forensischen Praxis der Handhabung des § 20 StGB Verrell ZStW 106 (1994), 332; ders. Schuldfähigkeitsbegutachtung und Strafzumessung bei Tötungsdelikten, 1995; allg. Luthe Die zweifelhafte Schuldfähigkeit, 1996.

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Epoche der Aufklärung erarbeitet worden 1 0 4 und hat damit tiefere historische "Wurzeln als alle heutigen Staatsverfassungen, und sie hat in der Metamorphose zur Theorie des Rechtsgüterschutzes105 trotz mancherlei Anfechtungen und Marginalisierungen zwei Jahrhunderte überdauert. Als Angelpunkt f ü r alle teleologischen Argumentationen im Bereich des strafrechtlichen Unrechts ist das Sozialschadensprinzips oder das Prinzip des Rechtsgüterschutzes auch unentbehrlich, weshalb ich es geradezu als eine Katastrophe für die deutsche Strafrechtswissenschaft empfinde, daß es vom Bundesverfassungsgericht in dem Cannabis-Urteil BVerfGE 90, 145 mit einer mich teilweise fast frivol anmutenden Argumentation beiseite geschoben worden ist und daß das Schrifttum dieser De-facto-Abschaffung einer verfassungsrechtlichen Strafrechtsbegrenzung sogar zum großen Teil gefolgt ist. 106 Dabei versteht es sich von selbst, daß der Rechtsgutsbegriff erst nach einer langen und mit vielen Kontroversen gepflasterten dogmatischen Konkretisierungsarbeit extensional bestimmt werden kann, denn weil es sich hierbei um einen dogmatischen Fachausdruck ohne vorgängigen umgangssprachlichen Bedeutungskern handelt, gibt es keine außerhalb des Strafrechtssystems schon existierende und nur aufzufindende Bedeutung. U n d die Ergebnisse dieser Konkretisierungsarbeit hängen selbstverständlich auch vom technischen und kulturellen Niveau einer Gesellschaft ab, dazu zwei triviale und zwei brisante Beispiele: Die Beweiskraft von U r k u n d e n oder die Verfügungsmacht über EDV-gespeicherte Daten können in einer schrift- oder computerlosen Gesellschaft keine Rechtsgüter sein; die Intaktheit der Umwelt als eigentumsähnliches Rechtsgut künftiger Generationen 1 0 7 kann erst mit der Fähigkeit der Gesell104

Grundlegend die in kürzester Zeit zum Gemeingut aller Gebildeten in Europa avancierte Schrift von Beccaria Von Verbrechen und Strafen, 1764, zit. nach der dt. Ausgabe v. Alff, 1966, 53 f, 61 f, 65 ff, bes. 65 („nach dem der Gesellschaft zugefügten Schaden"); darauf aufbauend der „deutsche Beccaria" Hommel in der sog. Hommelischen Vorrede in: Des H e r r n Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, hrsg. v. Lekschas, 1966, 2 ff (Orig. 17/8); ders. Uber Belohnung und Strafe nach türkischen Gesetzen, Reprint von 1970, §§ 128, 133 (Orig. 1778). 105 Die bekanntlich auf zwei Aufsätze von Birnbaum Archiv des Criminalrechts Neue Folge 15 (1834), 149 ff; 17 (1836), 560 f, zurückgeht, deren im Anschluß an Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, 45 ff, üblich gewordene Bewertung als (jedenfalls von der Tendenz her) antiliberal die historischen Zusammenhänge insoweit überzeichnet, als die von Feuerbach im Anschluß an Kant vorgenommene Reduzierung des Verbrechensbegriffs auf die Rechtsverletzung eine gegenüber der (materiellen!) Sozialschadenslehre der Aufklärung spürbare formalistische Verengung bedeutet hatte, so daß Birnbaum zwar nicht dem Begriff, aber der Sache nach die Kontinuität zur Aufklärung wiederherstellte, vgl. etwa bezüglich seiner von Amelung (47) kritisierten Stellungnahme zur Religion als Rechtsgut des Volkes die gleiche Würdigung bei Beccaria (Fn. 104), 72. 106 Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, 64 ff, 130 ff, 247 ff, 455 ff; Vogel StV 1996, 110; Appel Verfassung und Strafe, 1998; Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, 508 f. 107 Auf die anhaltende Kontroverse über das Rechtsgut der Umweltdelikte kann ich hier nicht weiter eingehen. Meinen eigenen Standpunkt, daß der über den Generationenanteil hinausgehende Verzehr an ökologischen Ressourcen das Urgestein des Verbrechens darstellt und unsere gegenwärtige Gesellschaft deshalb im innersten Kern kriminell ist, wie die gegenwärtig anlaufende Klima-Apokalypse ad oculos demonstriert, habe ich in FS für Triffterer, 1996, 437,

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schaft zu dessen Zerstörung ins Bewußtsein treten; 1 0 8 und während in einer Kultur, die geschlechtliche Vorgänge in einen quasisakralen Intimbereich verweist, die Freiheit der Öffentlichkeit von sexuellen Vorgängen ein Rechtsgut darstellt und dementsprechend die Bestrafung der öffentlichen Erregung eines geschlechtlichen Ärgernisses in § 183 (a) StGB im 19. Jahrhundert durchaus legitim war, bedeutet das gleiche Verhalten im vollständig durchsexualisierten Alltag der Postmoderne nur noch eine je nach dem sozialen Kontext zu beurteilende Geschmacklosigkeit, die die Höhenmarke der Sozialschädlichkeit nicht erreicht und deren fortdauernde Kriminalisierung deshalb außerhalb des engeren Bereiches einer Beleidigung einzelner Personen oder eines bedrohlich wirkenden Exhibitionismus nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Dieses Erfordernis einer erst noch herzustellenden „normativen Verständigung" (Hassemer) macht den Rechtsgutsbegriff als zentralen Fluchtpunkt der dogmatischen Arbeit aber nicht etwa entbehrlich, denn erstens erfolgt diese Verständigung ja nicht nach Lust und Laune oder mit den Mitteln des politischen Aushandelns, sondern auf der Basis einer Analyse der vorhandenen Gesellschaftsstruktur und ihrer aufweisbaren Schutzbedürfnisse. Und zweitens besitzt die Notwendigkeit, ein Rechtsgut in faßbarer Weise zu beschreiben und abzugrenzen, für den dogmatischen Diskurs eine wichtige Kanalisierungs- und Disziplinierungsfunktion, wie gerade die Cannabis-Entscheidung des BVerfG drastisch vor Augen führt: Wenn die Kriminalisierung des Cannabisverkehrs an diesem (vom BVerfG offenbar gezielt nur am Rande erwähnten) 109 Maßstab geprüft wird, so ergibt sich auf der Stelle, daß das allein in Betracht kommende Rechtsgut der Volksgesundheit ja in Wahrheit kein Kollektivrechtsgut, sondern nur die durch einen Klassenbegriff zusammengefaßte Gesundheit der je einzelnen Bürger und damit ein Individualrechtsgut ist, das durch den freiverantwortlichen Cannabiskonsum des Individuums so wenig verletzt werden kann wie durch den Genuß fetten Schweinebratens oder durch Reiten als Freizeitbeschäftigung, so daß eine Kriminalisierung nur im Rahmen und unter den Notwendigkeiten des Jugendschutzes legitim sein könnte. Durch das geradezu raffinierte Manöver, das strenge Prüfungskriterium der „ultima ratio zum Rechtsgüterschutz", das noch in den Abtreibungsentscheidungen eine zentrale Rolle gespielt hat, 1 1 0 praktisch ohne Begründung fallen zu lassen, die verfassungsrechtliche Prüfung in zwei Portionen aufzuteilen und zunächst die bloße Verbotsnorm vor der schwachen Garantie des Art. 2 Abs. 1 G G zu rechtfertigen, um anschließend die hinzugefügte Strafandrohung nur an dem isoliert gesehen ebenfalls schwachen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen, 111 hat das BVerfG in der Cannabis-Entscheidung also den Schutz des Bürgers vor dem brutalen Eingriffs-

452 ff; GA 1995, 201, 205 ff; Buffalo Criminal Law Review 1 (1997), 175, 180 ff, 190 ff, entwikkelt. 108 Was allerdings schon in sehr frühen Epochen der Menschheitsgeschichte der Fall gewesen sein dürfte, vgl. nur Heine GA 1989, 116 ff. 1 0 9 BVerfGE 90, 145, 185-187, 195 (anders im Sondervotum 200ff!). 110 BVerfGE 39, 1, 47, 51; 88, 203, 257 f. 111 BVerfGE 90, 145, 171 ff.

Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft

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mittel „Strafrecht" auf ein voraufklärerisches Niveau zurückgeschraubt und mit dieser Demontage der jeder geschriebenen Verfassung seit 250 Jahren vorausliegenden und deshalb für eine verfassungspositivistische Betrachtungsweise jedenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grenzen des Strafrechts nicht etwa einen Aufschrei der Strafrechtswissenschaft, sondern überwiegend Beifall geerntet. 112 Lagodny hat in der seither umfangreichsten Monographie zu den verfassungsrechtlichen Grenzen des Strafrechts 113 daraus sogar die Folgerung gezogen, daß der Gesetzgeber eigentlich alles bestrafen dürfe, was er bestrafen wolle, mit Ausnahme des bloßen Erbenbesitzes etwa an Betäubungsmitteln 114 pariuntur montes, nascetur ridiculus mus! Demgegenüber ist mit allem Nachdruck darauf zu insistieren, daß das Rechtsgüterschutzprinzip (Sozialschadensprinzip) durch seine direkte Verankerung im Gesellschaftsvertrag als Basis jeder Verfassungstheorie nicht zugunsten jener schwachen Kautelen preisgegeben werden darf, die das BVerfG etwa aus Art. 2 Abs. 1 G G gegenüber staatlichen Eingriffspetitessen entwickelt hat, und daß die Schwierigkeiten seiner Abgrenzung erstens nicht das Prinzip als solches kompromittieren können und zweitens in erster Linie eine Folge der kleinmütigen und stiefmütterlichen Behandlung sind, die die Grenzen des Strafrechts bisher in der Judikatur des BVerfG erfahren haben 115 und die dazu geführt hat, daß die Kontrolldichte ausgerechnet im Bereich der destruktivsten Eingriffe des Staates in die bürgerliche Existenz weitaus geringer ist als etwa im Bereich des Steuer- oder Familienrechts. Und in methodologischer Hinsicht würde sich die Strafrechtsdogmatik als eigenständige Wissenschaft verabschieden, wenn sie das Rechtsgüterschutzprinzip (Sozialschadensprinzip) als ihr die gesetzgeberische Willkür limitierendes und deshalb auch bei der Interpretationsarbeit als oberste Richtlinie dienendes 116 - Fundament preisgeben würde. 117 Claus Roxin hat deshalb mit Recht in seinem Lehrbuch an der Formel der ultima ratio zum Rechtsgüterschutz als limitierendem Fundament des Strafrechts festgehalten, 118 und Hefendehl hat soeben überzeugend demonstriert, daß das jahrzehntelang über Allgemeinplätze nicht hinausgekommene Feld der kollektiven Rechtsgüter sehr wohl einer präzisen Analyse und damit auch einer hinreichend exakten Grenzziehung zugänglich ist. 1 1 9 112 Vgl. die Nachweise in Fn. 106, aber auch die durchschlagende Kritik an der CannabisEntscheidung von biestler in: Kreuzer (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, 1998, 732 ff. Während etwa Appel (Fn. 106) weitgehend in den Fußstapfen Lagodnys wandelt. Lagodny (Fn. 106), 318ff, inbes. 335. 1 1 5 Dazu die vorzügliche Ubersicht von Tiedemann in: 4 0 Jahre Grundgesetz, 1990, 155 ff. 1 1 6 Notabene unter Beachtung der Beschränkung des Rechtsgüterschutzgedankens durch die Ultima-ratio-Klausel, siehe Schünemann F S für Bockelmann, 117, 126 (Wortlautschranke), 129 (Rechtsgüterschutz). 1 1 7 Weshalb Kuhlen sogar jüngst der Strafrechtswissenschaft die Kompetenz zu einer Kritik des Gesetzgebers bestritten hat, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Fn. 5), 57, 73. 113

114

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Roxin AT I (Fn. 28), § 2 Rn. 38 ff.

Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2001, passim, wodurch m. E . auch die Bedenken von Stratenwerth FS für Lenckner, 1998, 3 7 7 ff entkräftet werden. 119

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Bernd Schünemann

4. Ich habe deutlich zu machen versucht, daß der Ausgangspunkt der dogmatischen Arbeit in normativen Prinzipien besteht, im Strafrecht in den beiden Fundamentalprinzipien der Sozialschädlichkeit und der Schuld, die für eine wissenschaftliche Entfaltung und Konkretisierung weitaus bessere Voraussetzungen liefern als etwa der bunte Grundrechtskatalog. Während dieser normative Ausgangspunkt nicht durch ontologische Aussagen ersetzt werden kann, spielen empirische Gegebenheiten bei der konkretisierenden Entfaltung der normativen Ausgangsprinzipien eine von Stufe zu Stufe zunehmend wichtigere Rolle. Das führt mich zu meinen beiden Abschlußthesen, die ich dann noch durch zwei Beispiele erläutern möchte: (1) Normativistische und ontologisierende Betrachtung stehen bei einer richtigen Handhabung der Strafrechtsdogmatik nicht in einem Ausschließlichkeits-, sondern in einem Ergänzungsverhältnis zueinander und greifen wie Zahnräder ineinander, weil der unzweifelhaft normative Ausgangspunkt zwar darüber entscheidet, welche Realitätsstrukturen rechtlich relevant sind, weil aber zugleich bei der weiteren Entfaltung und Konkretisierung der normativen Prinzipien auf die „Feinstruktur" der normativ für relevant erklärten Realitätsschicht Rücksicht genommen werden muß. (2) Hierbei kommt es häufig deshalb von vornherein zu keinen Konflikten oder Widersprüchen, weil normative Urteile immer schon auf Wirklichkeit bezogen sind und weil sie im Medium der Umgangssprache abgegeben werden, die sich nicht willkürlich bildet, sondern immer schon Realität abbildet. 5. a) Zur Erläuterung meiner These, daß die Realität quasi von selbst durch eine List der Vernunft vermöge des benutzten Zeichensystems in den normativen Diskurs Eingang findet, greife ich auf ein berühmtes Beispiel Wittgensteins zurück, das dieser für seine genau entgegengesetzte These einer völligen Willkürlichkeit der Sinnzuschreibung bei Zeichensystemen angeführt hat. Wittgenstein fragt, wieso ein Pfeil für unser intuitives Verständnis dorthin zeigt, wo sich seine Spitze befindet, und nicht in die entgegengesetzte Richtung. 1 2 0 Die Antwort scheint mir zugleich einfach und fundamental zu sein: Das Symbol des Pfeiles ist aus der Beobachtung der Wirklichkeit entnommen worden, daß ein Pfeil nur dann eine lange Strecke und mit Zielsicherheit fliegt, wenn ich ihn mit der Spitze voran von meinem Bogen schieße. Es ist also die physikalische Struktur der Realität und die in der Morgendämmerung der Menschheit gemachte Erfahrung, in welcher Weise man Pfeil und Bogen zur Jagd einsetzen muß, die die ontologische Grundlage für ein den Pfeil als Symbol benutzendes Zeichensystem bilden. 1 2 1

Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe I, 1989, Nr. 454. Diese ontologische Verankerung der Umgangssprache gibt also wegen der Umklammerung des Rechts durch die Umgangssprache die fundamentalste ontologische Basis des Rechts ab. Kein Strafrechtsdogmatiker kann ihr entfliehen, weil er auch bei noch so bewunderungswürdiger sprachlicher Artistik nur mit der Umgangssprache und mit keinem anderen Medium arbeiten kann. 120

121

Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft

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b) Die sozusagen darüber liegende Schicht der Relevanz empirischer Gegebenheiten für die Konkretisierung des rechtlichen Werturteils möchte ich an folgendem Beispiel erläutern: Zu den abstraktesten Prinzipien des Strafrechts überhaupt gehört die Definition des fahrlässigen Verhaltens durch die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, 122 zu deren Konkretisierung vielfach auf den besonnenen Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises verwiesen wird, 1 2 3 der aber nur eine Fiktion ist. Um den Sorgfaltsmaßstab näher zu bestimmen, kommt man deshalb nicht um einen komplizierten Abwägungsprozeß herum, in den der Nutzen der betreffenden Tätigkeit, ihr Risikograd, die Möglichkeit risikomindernder Maßnahmen und die Zumutbarkeit für Selbstschutzmaßnahmen des potentiellen Opfers Eingang finden, um nur einige der hierfür relevanten Parameter zu nennen. 124 Damit scheint die Struktur des Fahrlässigkeitsbegriffs auf den ersten Blick ein Beweis für die Lehre einer rein normativistischen Strafrechtsdogmatik zu sein. In Wahrheit läßt sich aber bei einer derartigen Suche nach dem richtigen Sorgfaltsmaßstab gar nicht isoliert von einer ontologischen oder einer normativistischen Ergebnisfindung sprechen, weil die Ermittlung der ontologischen Strukturen und deren normative Bewertung bei der Lösung des konkreten Rechtsproblems miteinander Hand in Hand gehen und zu einem Begründungsnetz verwoben werden müssen. Selbstverständlich muß immer ein nicht-deskriptiver Zweck vom Recht vorgegeben werden, etwa daß das Einund Aussteigen bei Verkehrsmitteln so vor sich gehen muß, daß Körperverletzungen der Passagiere weitestgehend vermieden werden. Sobald ich diese präskriptive Formel auf konkrete Sachverhalte anwende, muß ich aber deren ontologische Struktur mitberücksichtigen: Wenn man z. B. in einer Großstadt die üblicherweise überfüllten U-Bahnen besteigen möchte, muß man zunächst warten, bis die aussteigewilligen Passagiere den Waggon verlassen haben. Versetzen wir die Szenerie in das Amazonasbecken an den Landungsplatz eines die U-Bahn dort ersetzenden Passagierschiffes und stellen wir uns weiterhin vor, daß es wegen der ständigen Wasserstandschwankungen am Amazonas keinen festen Landungssteg gibt, sondern daß die Passagiere in den Fluß hineinwaten und danach das in genügender Tiefe beidrehende Schiff besteigen müssen. Wenn wir uns dann noch im Wasser des Flusses hungrige Piranhas vorstellen, so scheint mir völlig klar zu sein, daß man zunächst die im Wasser wartenden Passagiere an Bord nehmen und erst dann die aussteigenden Passagiere absetzen muß, einfach weil die bei dem dann auftretenden Gedrängel in Kauf zu nehmenden Rippenstöße per saldo weniger schwerwiegende Körperverletzungen bewirken als das Abknabbern der Unterschenkel durch die Piranhas. Die abstrakte Regel ist unverändert geblieben, das konkrete Sorgfaltsgebot hat sich aber genau umgekehrt, und der Grund dafür ist allein die ontologische Struktur des Verkehrsmittels, dem sich die Konkretisierung des Sorgfaltsmaßstabes anpassen muß.

122 Jescheck/Weigend (Fn. 17), 565 f, 577 ff; Schönke/Schröder/Cramer StGB, 2 5 1997, § 15 Rn. 116 ff; Kühl Strafrecht AT, 3 2000, § 17 Rn. 22 ff. 123 BGHSt 7, 307, 309 f; 16, 145, 161; 20, 315, 321; BGH NStZ 91, 30. 124 In diese Richtung gingen bereits meine Überlegungen in JA 1975, 435, 575 ff.

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B e r n d Schiinemann

C. Ergebnis Damit bin ich am Ende eines Beitrages angelangt, in dem die Antwort auf die Frage, welche Anforderungen an eine als Wissenschaft betriebene Strafrechtsdogmatik zu stellen sind, bewußt nicht durch eine vorherige Definition des Wissenschaftsbegriffs gesucht worden ist, die angesichts der hochkontroversen Wahrheitsfähigkeit rechtsdogmatischer Sätze 125 in eine zirkuläre Argumentation hineingeführt hätte, sondern durch eine den Formen und Gegenständen der Strafrechtsdogmatik zugewandte und in diesem Sinne gegenstandsund problemorientierte Analyse. Der Vergleich mit der französischen und angloamerikanischen Strafrechtsdoktrin hat zwei Anforderungen ergeben, nämlich die Netzstruktur und die analytische Kompromißlosigkeit. Die Orientierung zwischen den extremen Polen eines Naturalismus und eines empiriefreien Normativismus hat die Richtigkeit eines zweckrationalen Normativismus ergeben, bei dem normative und ontologische Argumente ständig ineinandergreifen und bei dem die Realitätsstrukturen nicht nur im Sinne der ewigen ontischen Gegebenheiten, sondern sogar im Sinne der in einer bestimmten historischen Situation existierenden gesellschaftlichen Strukturen eine unentbehrliche Rolle bei der Konkretisierung der in semantischer Hinsicht in der Regel mehr oder weniger unbestimmten normativen Ausgangsentscheidungen spielen. Diese Konkretisierung kann nur deshalb ohne naturalistische oder normativistische Fehlschlüsse vor sich gehen, weil man Brückenprinzipien zu Hilfe nehmen kann und weil bereits in der Umgangssprache eine vielfältige Uberbrückung der analytisch an sich klaren Trennung zwischen Deskriptivität und Präskriptivität stattfindet. Alle diese Anforderungen könnten jedoch letztlich nichts an der Kontingenz der Strafrechtsdogmatik ändern, wenn diese nicht jenseits eines bloßen Gesetzespositivismus in der Entfaltung der beiden fundamentalen Prinzipien des Rechtsgüterschutz- (Sozialschadens-) und des Schuldprinzips bestehen würde. Das strafrechtsdogmatische Œuvre Roxins hat alle diese Bedingungen, wie ich glaube, restlos erfüllt, und darin liegt auch das Geheimnis seiner eingangs angesprochenen weltweiten Wirkung. Nietzsche hat Richard Wagner im vierten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen gleich Demosthenes „den furchtbaren Ernst um die Sache" attestiert „und die Gewalt des Griffs, so daß er jedesmal die Sache faßt ... Er verbirgt wie jener seine Kunst ..., indem er zwingt, an die Sache zu denken; seine Kunst wirkt als hergestellte, wiedergefundene Natur". Wagner fragt zurück: „Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?" Bezogen auf Claus Roxin, kann die Antwort nicht nur derjenige leicht geben, der wie ich die juristische Karriere vor 34 Jahren als seine wissenschaftliche Hilfskraft begonnen hat, sondern jeder, der seine Werke studiert.

125 Vgl n u r jüngst Patterson Recht und Wahrheit, 1999; zur Wissenschaftstheorie der Strafrechtswissenschaft Hruschka J Z 1985, 1 ff.

Die Anziehungskraft vorgelagerter Gliederungselemente FRIEDRICH-CHRISTIAN

SCHROEDER

Die Strafrechtswissenschaft hat in dem zu Ende gehenden Jahrhundert eine stürmische Entwicklung genommen, an welcher der Jubilar maßgeblich beteiligt war. Die dadurch bedingten Veränderungen können an dieser Stelle nicht umfassend dargestellt werden. 1 Hier soll nur die Aufmerksamkeit auf ein bemerkenswertes Phänomen gelenkt werden: Während die Systeme grundsätzlich erhalten blieben, ging die Entwicklung dahin, daß durchgängig Probleme auf vorgelagerte Gliederungselemente vorgezogen wurden. Dieses Phänomen betrifft sowohl den Allgemeinen als auch den Besonderen Teil des Strafrechts als auch schließlich das Strafprozeßrecht.

I. Allgemeiner Teil Nehmen wir zum Ausgangspunkt das sogenannte „klassische" Verbrechenssystem, das Franz v. Liszt und Ernst Beling um die letzte Jahrhundertwende entwickelten. Dieses System gliederte die Straftat in vier Merkmale, nämlich die Handlung, deren Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. 2 Die „Schuld" umfaßte dabei alle subjektiven Merkmale der Straftat, beschränkte sich aber auch auf diese. Dazu traten noch die Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe. Die Erosion dieses Systems setzte zunächst bei der Fahrlässigkeit ein. Schon 1910 erklärte Franz Exner, daß wer tue, was der Verkehr erfordere, von jeder Verantwortung frei sei. Es handele sich damit um ein Problem der Rechtswidrigkeit. Allerdings meinte er noch, daß hier Rechtswidrigkeit und Schuld „untrennbar verknüpft" seien. 3 1915 legte August Hegler dar, daß für ein teleologisches Strafrechtssystem der Sinn der Strafdrohung nicht in der formellen Rechtswidrigkeit, sondern in der Verletzung öffentlicher, staatlicher Interessen, in der Gesellschaftsschäd1 Uberblicke bei Schünemann in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 1 ff; Schroeder Hokkaigakuen Law Journal, 1988, 196 ff. 2 Verblüffend identische Vorgänger waren Wächter und Laden (Schroeder [Fn. 1], 192, 190). Infolge vielfältiger beiderseitiger Einschränkungen ist das Verbrechenssystem von v. Liszt/ Beling niemals als System ausgeführt worden (näher Schroeder [Fn. 1], 186 f). 3 Exner Das Wesen der Fahrlässigkeit, 192 f.

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Friedrich-Christian Schroeder

lichkeit liege. Interesseverletzend sei aber nicht immer nur ein äußeres Verhalten, sondern es gebe Delikte mit überschießender Innentendenz. Dieses überschießende Innerliche gehöre nicht zur Schuld, sondern zur Rechtswidrigkeit. 4 Das gleiche behauptete zur gleichen Zeit M. E. Mayer, wobei er den Begriff „teleologisch" auf die Zwecke des Täters bezog. 5 Schon vier Jahre zuvor war H. A. Fischer aufgrund einer Analyse des positiven Zivilrechts zu dem gleichen Ergebnis gekommen, 6 und zwar unter ausdrücklicher Ablehnung der materiellen Rechtswidrigkeit und der Interessenwidrigkeit. 7 1929 forderte H. v. Weber unter Berufung auf sprachlogische Erwägungen eine Einbeziehung auch des Vorsatzes in die Rechtswidrigkeit und in den Tatbestand. 8 1936 folgte Alexander Graf zu Dohna, freilich ohne nähere Begründung. 9 Die durchschlagende Begründung für die Vorziehung des Vorsatzes in Tatbestand und Rechtswidrigkeit brachte dann 1939 Hans Welzel mit der These von der finalen Struktur der Handlung und deren Maßgeblichkeit für Gesetzgebung und Dogmatik. 10 Andere folgten diesem Schritt mit anderer Begründung: Wesen der Rechtswidrigkeit als Verhaltenssteuerung, 11 Prägung der Handlung durch den jeweiligen Verwirklichungswillen und zulängliche Kennzeichnung des strafrechtlich bedeutsamen Unrechts, 12 Funktion der Norm, 1 3 wesentliche Mitbestimmung des tatbestandlichen Deliktstypus durch den Vorsatz, 14 Handlung als individuell vermeidbare Erfolgsverursachung, 15 rechtsstaatliches Bestimmtheitserfordernis. 16 v. Weber überwand auch die Scheu Exners und zog nunmehr das „normative Element" der Fahrlässigkeit, nämlich die Beachtung der erforderlichen Sorgfalt, vorbehaltlos in die Rechtswidrigkeit. 17 Ein Jahr später verlagerte Karl Engisch sie in den Tatbestand. 18 Hierin sind ihm inzwischen fast alle gefolgt. 19 Der Lehre von der objektiven Zurechnung genügte auch die Einbeziehung des Vorsatzes in Tatbestand und Rechtswidrigkeit nicht mehr. Sie löste die Pro4 Hegler ZStW 36 (1915), 19 ff. 5 M. E. Mayer Der Allg. Teil des Deutschen Strafrechts, 1915, 13, 186 f. 6 Fischer Die Rechtswidrigkeit mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, 1 9 1 1 , 1 3 6 ff. 7 Fischer (Fn. 6), l l l f . 8 Von Weher Grundriß des tschechoslowakischen Strafrechts, 1929, 16; ders. Zum Aufbau des Strafrechtssystems, 1935, 8 ff. 9 Graf zu Dohna Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1936, V, 14 ff. 10 Welzel ZStW 58 (1938), 491 ff. 11 ]escheck Strafrecht AT, 1969, 164 f. 12 Stratenwerth Strafrecht AT 1, 1971, Rn. 241 ff. 13 Bockelmann Strafrecht AT, 1973, 31 ff. 14 Roxin Strafrecht AT I, 1992 (jetzt 3 1997), § 10 Rn. 9. 15 Jakobs Strafrecht AT, 1983, 2 1991, 6/68. 16 Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970, 21. 17 Von Weber (Fn. 8), 16. 18 Engisch Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, 278, 344 ff. 19 Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5 1996, 576 f; Lackner/Kühl StGB, 23 1 999, § 15 Rn. 36, 38; Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht AT 2, 7 1989, § 43 Rn. 19; Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 24 Rn. 6 f ; Schönke/Schröder/Cramer StGB, 2 5 1997, § 15 Rn. 120 f; SK-StGB-Sattwo« (Sept. 1999), Anh. zu § 16 Rn. 6; Wessels/Beulke Strafrecht AT, 2 9 1999, Rn. 664. Anders (Frage der Rechtswidrigkeit) z. B. Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 1 0 1995, § 22 Rn. 18, 22.

D i e Anziehungskraft vorgelagerter Gliederungselemente

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blematik der inadäquaten Kausalverläufe und der Abweichung des Kausalverlaufs auch noch aus der Vorsatzproblematik 20 und ordnete sie in die dieser vorgelagerte, im Rahmen des objektiven Tatbestandes angesiedelte, objektive Zurechnung ein. 21 Aber damit war der Marsch des Erbonkels durch die Institutionen des Allgemeinen Teils noch nicht beendet. Hirsch, der noch 1988 nachdrücklich für die Verneinung des Vorsatzes plädiert hatte, 22 verneint inzwischen die objektive Seite der Handlung. 23 Noch weitergehend versucht seit längerem Herzberg, die Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewußter Fahrlässigkeit in den objektiven Tatbestand „vorzuverlagern". 24 Diese Lehre wird inzwischen von seinem Schüler Schlehofer unterstützt. 25 Wegen der Einbeziehung der Handlungsfähigkeit in den Tatbestand beim Unterlassungsdelikt einerseits, des Problems überdurchschnittlicher Sonderfähigkeiten andererseits zog Stratenwertb erstmals 1971 auch die individuelle Sorgfaltspflicht bei der Fahrlässigkeit zum Tatbestand. 26 Auch ihm ist inzwischen eine Reihe von Autoren gefolgt. 27 Das erlaubte Risiko, ursprünglich mit der Fahrlässigkeit in die Schuld eingeordnet, wurde zunehmend in die Rechtswidrigkeit 28 und schließlich von Welzel29 mit der Sozialadäquanz in den Tatbestand eingeordnet. Dort loziert es auch die Lehre von der objektiven Zurechnung. 30 Noch weitergehend will es Wolter - zusammen mit der gesamten Sozialadäquanz - vor den Unrechtstatbestand verlagern und hierfür „Strafrechtsausschlußgründe vor der 1. Deliktsstufe" schaffen. 31 2 0 Für sie hinsichtlich der inadäquaten Kausalverläufe Frank StGB, 18 1931, § 5 9 I X 2; v. Liszt/Schmidt Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 26 1932, 254; Mezger Strafrecht, 3 1949, 127, 339; L K - M e z g e r StGB, »1958, § 59 II 19 a; Kohlrausch-Lange StGB, 4 3 1 961, § 59 III 1 a; Welzel Das Deutsche Strafrecht, 11 1969, 66. Für Problem der Adäquanz und damit der Kausalität allerdings schon Traeger Der Kausalbegriff in Straf- und Zivilrecht, 1904, 172; v. Hippel V D A III, 524 Fn. 5, 572; Engisch (Fn. 18), 24 f, 150 ff. Für Problem der Täterschaft Schroeder Der Täter hinter dem Täter, 1964, 90 ff, 129 f. 21 Roxin FS für Honig, 1970, 133, 135, 137, 148. 22 Hirsch FS der Rechtswiss. Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, 399, 405. 23 Hirsch FS für Lenckner, 1998, 120, 135. Ebenso Wolter Coimbra-Symposium, 1995, 21,

28. 24 Herzberg JuS 1986, 249; 1987, 777; ders. N J W 1987, 1461, 2283; den. J Z 1988, 573, 635; 1989, 470. 25 Schlehofer N J W 1989, 2017. Hiergegen Roxin (Fn. 19), § 12 Rn. 62 f; Küpper ZStW 100 (1988), 758, 776 ff; Küpper G A 1987, 479; Brammsen J Z 1989, 71; LK-Schroeder StGB, n 1 9 9 4 , § 16 Rn. 75. 26 Stratenwerth (Fn. 12), Rn. 1164 ff. 27 Jakobs Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, 64 ff; jetzt Strafrecht AT, 2 1991, 9/6; Otto JuS 1974, 707; S K - S t G B - W s c m (Fn. 19), Anh. zu § 16 Rn. 13; Castaldo G A 1994, 495. 2 8 Näher Preuß Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974, 34 ff. 29 Welzel (Fn. 10), 516 f. 30 Roxin (Fn. 19), § 11 R n . 5 9 f f . 31 Wolter (Fn. 23), 3, 19, 23 ff; ders. G A 1996, 207, 208 ff; ders. in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, 1, 2.

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Friedrich-Christian Schroeder

1962 leitete Hirsch aus Schröders These, daß eine indizierte und kunstgerechte Amputation gegen den Willen des Patienten eine Körperverletzung bleibe, da eine Spaltung zwischen Körper und Willen unmöglich sei, 32 mittels eines Umkehrschlusses die These her, daß die Einwilligung bei der Körperverletzung als Tatbestandsproblem anzusehen sei. 33 Da die Körperintegrität der Verfügung des einzelnen unterliege und nur zu seinen Gunsten geschützt werde, sei ein Eingriff in sie erst dann von Interesse, wenn der einzelne nicht mit ihm einverstanden sei. D a die Einwilligung sich nicht in das Prinzip der Rechtfertigungsgründe, die Wahrung eines höherwertigen Interesses, einordnen lasse, und außerdem die Würdigung einer Sachentsorgung im Auftrag des Eigentümers als grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise gerechtfertigt „den sachlichen Gegebenheiten nicht gerecht" werde, weitete er die These von der Zugehörigkeit der Einwilligung zum Tatbestand auf alle Delikte aus. 3 4 1970 erfolgte dann auf breiter Front eine Verschiebung der Einwilligung in den Tatbestand. Als Begründungen wurden angeführt: die Willensbezogenheit des Rechtsguts, 3 5 die Herausnahme des Rechtsguts aus dem Schutzkreis der N o r m , 3 6 die N a t u r der Rechtfertigungsgründe als Instrumente des Ausgleichs zwischen sozialer Notwendigkeit und individueller Freiheit, 3 7 schließlich auch einfach die Sinnwidrigkeit der unterschiedlichen Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung und des - allgemein anerkannten - tatbestandsausschließenden Einverständnisses. 38 Trotz der vielen und immer mehr zunehmenden Anhänger ist diese Auffassung freilich bisher nicht herrschend; auch Hirsch, ihr Anreger, unterstützt inzwischen wieder die These von der rechtfertigenden Kraft der Einwilligung und macht nur mit der Bezeichnung „Differenzierungslösung" noch eine Konzession an die Lehre von der Tatbestandsausschließung. 39 Die Lehre von der objektiven Zurechnung hat darüber hinaus eine Reihe von Problemen, die nur bei Fahrlässigkeitstaten relevant werden, nämlich die von ihr sogenannten Fälle der fehlenden Verwirklichung des unerlaubten Risikos (insbesondere die Erfolgsverursachung infolge einer länger zurückliegenden Geschwindigkeitsüberschreitung), die Fälle der fehlenden Verletzung des Schutzzwecks der Sorgfaltsnorm (insbesondere die berühmten beiden unbeleuchteten Radfahrer) und die Fälle des rechtmäßigen Alternativverhaltens in die allgemeine Lehre von der objektiven Zurechnung vorgezogen. 4 0 32

Schröder N J W 1961, 951 ff, 954. Hirsch ZStW 74 (1962), 78 ff, 102 ff. 34 Hirsch (Fn. 33), 103 f. 35 Schmidhäuser Strafrecht AT, 1970, 211, 214; Kientzy Der Mangel am Straftatbestand infolge Einwilligung des Rechtsgutsträgers, 1970, 66 ff. 36 Zipf Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970, 29. "Roxin (Fn. 16), 24 f. 38 Kientzy (Fn. 35), 1 ff; Kühne JZ 1979, 242. - Hier hatte Geerds (Einwilligung und Einverständnis des Verletzten, Diss. Kiel 1953, und GA 1954, 262 ff) mit seiner Institutionalisierung der schon vorher anerkannten Fälle tatbestandsausschließender Einwilligung zum „Einverständnis" eine wichtige Vorarbeit geleistet. 39 LK-Hirsch StGB, "1994, Vor § 32 Rn. 96 ff. 40 Roxin (Fn. 19), § 11 Rn. 67 ff. 33

Die A n z i e h u n g s k r a f t vorgelagerter Gliederungselemente

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1948 gliederte Maurach den entschuldigenden Notstand und den Notwehrexzeß aus der Schuld aus und verlegte sie in eine der Schuld vorgelagerte neue Deliktsstufe der „Tatverantwortung" als „Grundlage", als „Vorstufe" der Schuld.41 Diese Auffassung wurde nach Maurachs Tod von seinem Schüler Zipf weitergeführt. 42 Diese systematische Stellung hat allerdings bisher keine weiteren Anhänger gefunden, obwohl die Eigenständigkeit der „Tatverantwortung" zunehmend anerkannt wird. 43 Lange Zeit als Strafausschließungsgründe angesehene Bestimmungen werden seit einiger Zeit als Verantwortlichkeitsausschließungsgründe (§§ 139 Abs. 3 S. 1, 173 Abs. 3, 258 Abs. 5 und 6 StGB) 44 oder gar als Rechtfertigungsgründe (§§ 37, 139 Abs. 3 S. 2 StGB) 45 angesehen. Roxin bringt die in diesem Beitrag herausgestellte Gesamttendenz treffend zum Ausdruck, wenn er darauf hinweist, daß bei § 139 Abs. 3 S. 2 StGB „teilweise auch schon ein Tatbestandsausschluß bejaht wird" 46 . Der Rücktritt vom Versuch galt seit v. Liszt als persönlicher Strafaufhebungsgrund. Unter Berufung auf Franks Bestimmung der Schuld als Vorwerfbarkeit 47 erklärte ihn 1911 Dahlmann zu einem Schuldausschließungsgrund.48 Ihm folgte Sauer in seinen „Grundlagen des Strafrechts" von 1921.49 1929 untermauerte diese Auffassung Herbert Kemsies mit seiner Arbeit „Tätige Reue als Schuldaufhebungsgrund". 50 Im neueren Schrifttum folgten ihnen Schröder51 und Welze!52. Nachdrücklich hat sich 1970 auch Claus Roxin für die Zugehörigkeit des Rücktritts vom Versuch zur Schuld eingesetzt.53 Es gehe nicht um eine Strafaufhebung, sondern um die Frage, ob eine Strafe überhaupt erst verhängt werden solle. Inzwischen hat diese Lehre weitere Anhänger gefunden. 54 Seit Mitte der sechziger Jahre wird schließlich die Zugehörigkeit des Rücktritts vom Versuch zum Unrechtstatbestand behauptet. 55 Da unterhalb der Strafaufhebungsgründe im materiellen Recht nichts zu holen ist, wird auf das Strafprozeßrecht zurückgegriffen. So will Wolter den nachhaltigen Lockspitzel-Einsatz als „verfassungsrechtlichen Strafausschließungs41

Maurach Schuld und Verantwortung im Strafrecht, 36 ff; ders. Strafrecht AT, 1954, 320 ff. Maurach/Zipf Strafrecht AT 1, 8 1992, 432 ff. 43 Nach Roxin (Fn. 19), § 19 Rn. 56, steht sie der Strafbarkeit nicht ferner, sondern näher als die Schuld und ist daher systematisch ihr nachzuordnen. 44 Roxin (Fn. 19), § 23 Rn. 15, 16. 45 Roxin (Fn. 19), § 23 Rn. 14 f. 46 Roxin (Fn. 19), § 23 Rn. 15 Fn. 16. 47 Frank Über den Aufbau des Schuldbegriffs, 1907, 11. 48 Dabimann Der freiwillige Rücktritt vom Versuch, Diss. Kiel 1911, 99 ff. "Sauer Grundlagen des Strafrechts, 1921, 637, 643. 5 ° Kemsies Tätige Reue als Schuldaufhebungsgrund, Strafe Abh., H. 259, 1929, 27 ff. 51 Schönke/Sc/;röcfer StGB, 8 1957, § 46 Anm. I 1. 52 Welzel Das Deutsche Strafrecht, 5 1956, 161. « Roxin (Fn. 16), 35 ff. 54 Rudolphi ZStW 85 (1973), 104 ff, 121; Ulsenbeimer Grundfragen des Rücktritts vom Versuch in Theorie und Praxis, 1976, 90; Streng ZStW 101 (1989), 273 ff, 322. 55 Von Hippel Untersuchungen über den Rücktritt vom Versuch, 1966, 58 ff; v. Scheurl Rücktritt vom Versuch und Tatbeteiligung mehrerer, 1972, 28 ff. 42

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grund" und die überlange Untersuchungshaft als „verfassungsrechtlichen Strafaufhebungsgrund" ansehen. 56 Naucke will die Prozeß Voraussetzungen und die Einstellungsmöglichkeiten wegen Geringfügigkeit nach den §§ 153, 153 a StPO zusammen mit den objektiven Bedingungen der Strafbarkeit und den Strafausschließungs- und -aufhebungsgründen den „Strafbefreiungsgründen" zuordnen. 57 Zahllose Bestrafungsvoraussetzungen sind somit seit der Schaffung des v. Liszt-Belingschen Systems auf vorgelagerte Deliktsstufen 58 vorgeschoben worden. Mehrere von ihnen wurden sukzessive immer weiter vorgeschoben, bis sie auf der ersten Stufe (oder neuerdings sogar noch davor!) angekommen waren. Auf der Gegenseite gibt es keine einzige Bestrafungsvoraussetzung, die seitdem auf eine nachgelagerte Deliktsstufe zurückgestellt worden wäre.

II. Besonderer Teil Im Besonderen Teil hat sich seit dem 16. Jahrhundert die Einteilung in Delikte gegen den einzelnen und gegen die Gesamtheit entwickelt. 59 Dabei hat sich die Rangordnung der beiden Gruppen in der neueren Zeit radikal verändert. Noch unser geltendes StGB stellt im Einklang mit seinen Vorgängern die Straftaten gegen die Gesamtheit und insbesondere gegen den Staat an die Spitze. In der Wissenschaft hat sich dagegen seit langem die umgekehrte Reihenfolge durchgesetzt. Während Binding60, v. Liszt61 und Meyer/Allfeld62 hierfür keine Begründung gaben, stellte nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates vor allem Maurach den Wertbezug der neuen Systematik heraus: Anerkennung und Schutzwürdigkeit des Gemeinschaftsschutzes setzten die Achtung vor der Persönlichkeit unabdingbar voraus. 63 Sobald diese Systematik eingeführt worden war, setzte der Prozeß der Anhebung von bisher als Straftaten gegen die Gesamtheit gewerteten Delikten zu solchen gegen den einzelnen ein. Hatte v. Liszt anfänglich die Straftaten gegen den religiösen Frieden und gegen Personenstand und Ehe noch zu den Straftaten gegen den Staat gerechnet 64 und aus den „Straftaten gegen die Sittlichkeit" nur diejenigen gegen die „geschlechtliche Freiheit" in die strafbaren Wolter GA 1996, 201, 216f, 219f; ders. in: Wolter/Freund (Fn. 31), 5, 24f. Naucke FS für Maurach, 1972, 197 ff; ders. Grundlinien einer rechtsstaatlich-praktischen allgemeinen Straftatlehre, 1979, 38. 5 8 Der Jubilar lehnt den Begriff „Deliktsstufen" ab, da er zu einer Zerlegung der Straftat und zum „Schubladendenken" verleite (Fn. 19, § 7 Rn. 77, § 10 Rn. 25). Auch er ordnet die von ihm sog. „Deliktskategorien" aber in der traditionellen Reihenfolge. 59 Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht BT 1, 8 1995, Einl. Rn. 9 ff. 60 Binding Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts BT 1, 2 1902, 6f. 61 Von Liszt Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 2 1884, 290. 62 Meyer/Allfeld Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 8 1922, 101. 63 Maurach Deutsches Straf recht BT, 1952, 7. „Früher oder später ist der kriminelle Staat die Folge der Entpersönlichung der ihn Tragenden". 64 Von Liszt (Fn. 61), 519 ff. 57

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Handlungen gegen Rechtsgüter des einzelnen eingeordnet, 65 so fanden sich schon in der 3. Aufl. von 1888 die genannten Deliktsgruppen und sämtliche Straftaten gegen die Sittlichkeit unter den Straftaten gegen Rechtsgüter des einzelnen. 66 Der Straftatbestand der Verkehrsunfallflucht wurde 1940 in die „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung" eingefügt; ihr Rechtsgut wurde zunächst in der Sicherheit des Straßenverkehrs und der Rechtspflege gesehen. 67 1 95 7 verlagerte Dünnebier das Rechtsgut in die zivilrechtlichen Ansprüche aus einem Verkehrsunfall. 68 Diese Auffassung gewann bald an Boden, 69 und mit dem 13. StAG vom 13. 6. 1975 folgte ihr der Gesetzgeber. 70 Obwohl § 316 a StGB 1953 gegenüber dem brutalen nationalsozialistischen Vorgänger von 1939 rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechend neu gefaßt wurde, wurde er wiederum in die „Gemeingefährlichen Verbrechen und Vergehen" eingeordnet, und sein Zweck im „Schutz des gesamten Straßenverkehrs" gesehen. 71 Frühzeitig vertrat insbesondere Maurach die Auffassung, es handle sich um eine bloße Qualifizierung des schweren Raubes 7 2 und damit um eine Straftat gegen den einzelnen. Einer zunehmenden Aufsaugung durch die Straftaten gegen den einzelnen verfiel der Abschnitt des Strafgesetzbuchs über die „Straftaten im Amt". Hierbei wurde vornehmlich der Gesetzgeber tätig. Die Freiheitsberaubung und der Hausfriedensbruch im Amt (§§ 341, 342 StGB) wurden durch das EGStGB 1974 aufgehoben und - teilweise unter Anhebung der Strafrahmen - als bloße Qualifikationen in die entsprechenden Strafvorschriften zum Schutze des einzelnen verwiesen. 73 Das gleiche gilt für die Amtsunterschlagung der §§ 350, 351 StGB. 74 § 353 b StGB wurde teilweise in den §203 Abs. 2 StGB verlagert, 75 § 353 d Abs. 1 in § 201 Abs. 3 StGB eingestellt. 76 § 354 StGB, der durch das EGStGB 1974 den § 355 a. F. in sich aufgenommen hatte, 77 wurde durch das Begleitgesetz zum Telekommunikationsgesetz vom 17. 12. 1997 infolge der Privatisierung der Bundespost als § 206 StGB in die Straftaten gegen den einzelnen eingestellt. 65

Von Liszt (Fn. 61), 537 ff, 530 ff. Von Liszt (Fn. 61), 31888, 349, 371 ff, 378. 67 Scbönke StGB, 1942, § 139a Anm. I; Maurach Deutsches Strafrecht BT, 51969, 713; Welzel Das deutsche Strafrecht in seinen Grundzügen, 21949, 245. 68 Dünnebier JA 1957, 33. 69 Nachweise bei Maurach (Fn. 67). 70 BTDrucks 7/2434, 5, 7; 3503, 3. Näher Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 59), § 46 Rn. 5, § 49 Rn. 6. 7 < Welzel Das Deutsche Strafrecht, "1969, 467; BGHSt 6, 82, 83. 72 Maurach Deutsches Strafrecht BT, 31956, 221, 230. Jetzt Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 59), § 35 Rn. 2, 45 (Sonderdelikt des Raubes und der räuberischen Erpressung). 73 Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB), BTDrucks 7/550, 277. 74 AaO, 281. 75 AaO, 235, 282. 76 AaO, 236, 282. 77 AaO, 284 ff. 66

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Bei dem durch das EGStGB 1974 eingefügten § 355 StGB (Verletzung des Steuergeheimnisses) war von Anfang an unbestritten, daß er mindestens auch die Interessen des einzelnen schützt. Nach herrschender Lehre soll er daneben auch Interessen der Allgemeinheit, nämlich das Vertrauen in die Verschwiegenheit bestimmter Amtsträger, schützen. 78 Da sich mit dem Vertrauen in den Rechtsschutz aber letztlich jedes Rechtsgut zum Rechtsgut der Allgemeinheit hochstilisieren läßt, erscheint diese Argumentation nicht überzeugend. 7 9 Dementsprechend haben Maiwald und ich den § 355 StGB aus den Straftaten gegen die Allgemeinheit herausgenommen und behandeln ihn im Rahmen der Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs. 80 Auch weitere Verlagerungen von Straftaten aus den Straftaten gegen die Gesamtheit in diejenigen gegen den einzelnen beruhen auf Eingriffen des Gesetzgebers. U m auch gezielte Angriffe auf Einzelpersonen mit den Straßenverkehrsdelikten erfassen zu können, wurden diese durch das 2. Straßenverkehrssicherungsgesetz von 1964 von der „Herbeiführung einer Gemeingefahr" auf die „Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert" umgestellt. Danach schützen die genannten Tatbestände diese Rechtsgüter und zeichnen sich gegenüber den Vorschriften zum unmittelbaren Schutz von Leib, Leben und fremden Sachen nur noch dadurch aus, daß sie diesen Schutz zusammenfassen; sie sind damit „allgemeine Gefährdungsstraftaten" 81 . Die „Straftaten gegen die Sittlichkeit" waren schon längere Zeit mindestens teilweise als Straftaten gegen den einzelnen angesehen worden (s. o.). Das 4. StrRG von 1973 hat die Vorschriften völlig auf einen Schutz des einzelnen umgestellt und die Uberschrift daher folgerichtig in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" geändert. 82 Eine Teilverlagerung von Vorschriften aus den Straftaten gegen die Gesamtheit in diejenigen gegen den einzelnen trat auch dadurch ein, daß das Rechtsgut zahlreicher Vorschriften zum Schutz der Gesamtheit zunehmend in dem flankierenden Schutz aller anderen Rechtsgüter gesehen wurde. Diese Auffassung wurde zunächst für die §§ 111, 129, 138, 257 und 258 StGB entwickelt. 83 Ich habe diese Überlegungen weitergeführt und die neue Gruppe der „Straftaten gegen die Durchsetzung des Strafrechts" gebildet, die neben den genannten Strafvorschriften auch die §§ 130a, 131, 140, 145a, 145c, 145d, 164, 323a, 323 b und 357 StGB umfaßt. 8 4 Da diese Vorschriften allerdings neben Rechts78

Schönke/Schröder/Lenckner StGB, "1997, § 355 Rn. 2. Zu der ähnlichen Diskussion bei den §§ 264, 264 a, 265 b StGB Maitrach/Schroeder/Maiwald (Fn. 59), § 41 Rn. 165. 80 Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 59), § 29 Rn. 85. 81 Maurach/Schroeder Strafrecht BT 2, 6 1981, 4f; jetzt Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht BT 2, 8 1999, § 51 Rn. 3. 82 Schroeder ZRP 1971, 14ff; ders. FS für Welzel, 1974, 859ff. 83 Nachweise bei Schroeder Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, 11 f. 84 Schroeder (Fn. 83); jetzt Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 81), §§ 92 ff. 79

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gütern des einzelnen auch solche der Gesamtheit schützen, gehören sie nur teilweise zu den Straftaten gegen die ersteren und können sinnvollerweise nur am Ende des Systems stehen.

III. Strafprozeßrecht Im Strafprozeßrecht werden in den meisten Darstellungen so viele Probleme aus dem eigentlichen Gegenstand des Strafverfahrensrechts, dem Ablauf des Strafverfahrens, herausgezogen und vorweg behandelt, daß für diesen selbst nur noch eine kurze Darstellung übrigbleibt. Insbesondere hat die Jagd nach „Grundsätzen des Strafverfahrensrechts" dazu geführt, zahlreiche erst für den weiteren Ablauf des Strafverfahrens maßgebliche Regelungen, z. B. das Erfordernis einer Anklage für den Übergang vom Ermittlungs- zum Gerichtsverfahren, die Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und die freie Beweiswürdigung, aus dem Ablauf des Verfahrens herauszuziehen und vorweg als „Grundsätze des Strafverfahrensrechts" darzustellen. Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluß und eine überlange Verfahrensdauer werden — zusammen mit anderen „Prozeßvoraussetzungen" - vorweg in weitem Abstand vor ihrer Relevanz im Strafverfahren dargestellt. Erklärungen des Beschuldigten werden mit richterlichen Entscheidungen unter dem Begriff der Prozeßhandlungen zusammengepfercht und systematisch durchanalysiert, obwohl für beide Gruppen weitestgehend unterschiedliche Regeln gelten. Auch der Prozeßgegenstand wird erläutert, ehe der Prozeß überhaupt begonnen hat. 85

IV. Die Folgen Die Folgen der geschilderten Entwicklungen sind immer mehr angewachsene Tatbestandsmäßigkeiten und abgemagerte nachfolgende Deliktselemente, ein immer größerer Umfang der Straftaten gegen den einzelnen zu Lasten derjenigen gegen die Gesamtheit und schließlich im Strafprozeßrecht immer umfangreichere Kapitel vor dem Ablauf des Verfahrens, also dem eigentlichen Strafprozeß selbst. Die Ubiquität der Vorverlagerung auf allen Stufen führt zwar dazu, daß die ausgeplünderten Gliederungselemente teilweise von unten her wieder aufgefüllt werden (die Schuld durch den Rücktritt vom Versuch, die Strafausschließungsgründe durch Bestandteile des Prozeßrechts), aber dies vermag den Druck nach vorn nicht auszugleichen. Die Systeme werden zunehmend kopflastig. 85 In meinem Kurzlehrbuch „Strafprozeßrecht", 1993, 2 1997, habe ich versucht, diese Ausgliederung von Institutionen des Strafprozeßrechts so weit wie möglich wieder rückgängig zu machen und ein prozeßgerechtes System des Strafprozeßrechts zu schaffen. Volk Strafprozeßrecht, 1999, ist diesem Konzept teilweise gefolgt.

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Die zunehmende Vorverlagerung von Elementen der Straftat führt ferner dazu, daß diese ihre Filterfunktion zu früh ausüben. So haben die Verlagerung der generellen Erkennbarkeit und Sorgfaltsverletzung bei der Fahrlässigkeit und des inadäquaten Kausalverlaufs in die Tatbestandsmäßigkeit dazu geführt, daß Täter mit einschlägigem Sonderwissen bzw. einschlägigen Sonderfähigkeiten aus der weiteren Prüfung ausscheiden. Hier muß das System durch die zusätzliche Konstruktion korrigiert werden, daß Sonderfähigkeiten in die objektive Erkennbarkeit 8 6 und in das Adäquanzurteil 8 7 einbezogen werden. 88 Die immer umfangreicheren vorgelagerten Gliederungselemente verlangen, um ihre Übersichtlichkeit zu behalten, eine immer stärkere Untergliederung. Die Einbeziehung des Vorsatzes in den Tatbestand verlangte dessen Untergliederung in den objektiven und den subjektiven Tatbestand. 89 Aber insbesondere die Lehre von der objektiven Zurechnung muß weitere Untergliederungen der Tatbestandsmäßigkeit vornehmen. Es erscheint nur als eine Frage der Zeit, wie lange die Tatbestandsmäßigkeit diese Aufladung als einheitliches Deliktselement noch aushalten kann, ehe sie auseinanderbricht. Im Strafprozeßrecht ist eine Systematisierung der aus dem Verfahrensablauf ausgegliederten Teile bisher nicht gelungen; sie werden in zahlreichen Paragraphen, zum Teil wenigstens zusammengefaßt in Kapitel, dargestellt.

V. Die Ursache Die vorhergehenden Darlegungen haben eine fortgesetzte Verlagerung von Problemen in vorgelagerte Gliederungselemente ergeben. Spricht man vom „Verbrechensaufbau" 90 und seinen „Stufen", so bildet die Tatbestandsmäßigkeit die unterste Stufe, und man könnte an eine Art Schwerkraft denken, die die Probleme auf die unterste Stufe absinken läßt. Indessen handelt es sich bei dem „Verbrechensaufbau" nur um eine Metapher. Logisch gesehen und in der Darstellungsweise ist die Tatbestandsmäßigkeit das erste Gliederungselement, und die folgenden Elemente stehen „weiter unten". Die Hereinnahme in die logisch vorrangigen Gliederungselemente stellt sich also als „Vorziehen", als „Vorverlagerung" dar. Erst recht gilt dies für den Besonderen Teil und das Strafprozeßrecht. Für diesen Vorgang des fortgesetzten Vorziehens von Problemen auf vorgelagerte Gliederungselemente gibt es nur zwei mögliche Erklärungen. Die 86

Jescheck/Weigend (Fn. 19), 579; Roxin (Fn. 19), § 24 Rn. 54; Wolter GA 1977, 269. Roxin (Fn. 19), § 11 Rn. 35, 50. 88 Die Nichtberücksichtigung von Sonderfähigkeiten dient jedoch dem Gleichheitssatz und stimuliert den Erwerb solcher Fähigkeiten, LK-Schroeder StGB, 111994, § 16 Rn. 147 f. 89 Allerdings existierte der Begriff des subjektiven Tatbestandes schon vor der Hereinnahme des Vorsatzes in den Tatbestand, und zwar als Relikt des älteren umfassenden Tatbestandsbegriffs. Hiergegen verständlicherweise Beling Die Lehre vom Verbrechen, 1906, 2, 178; M. E. Mayer Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 2 1923, 8. 90 Zimmerl Aufbau des Strafrechtssystems, 1930; Maurach/ZipfStrdrechx AT 1, 81992, § 14. 87

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eine besteht darin, d a ß die A u s g a n g s s y s t e m e voreilig u n d falsch o d e r j e d e n f a l l s z e i t g e b u n d e n w a r e n u n d v o n d e r W i s s e n s c h a f t nach u n d n a c h in e i n e m f o r t g e s e t z t e n K o r r e k t u r p r o z e ß berichtigt o d e r m o d e r n i s i e r t w e r d e n . Sicher ist dies in vieler H i n s i c h t d e r Fall. G e g e n die v o l l s t ä n d i g e E r k l ä r b a r k e i t m i t d i e s e r H y p o t h e s e s p r e c h e n a b e r d a s A u s m a ß dieses V o r g e h e n s u n d die T a t s a c h e , d a ß es sich u m eine gänzlich einseitige b z w . in einer R i c h t u n g e r f o l g e n d e K o r r e k t u r nach „ v o r n " h a n d e l t , schließlich, d a ß sich d a s P h ä n o m e n in allen drei v o n u n s e r ö r t e r t e n B e r e i c h e n d e r S t r a f r e c h t s w i s s e n s c h a f t findet. D a n a c h bleibt n u r die E r k l ä r u n g , d a ß es ein w i s s e n s c h a f t s p s y c h o l o g i s c h e s P h ä n o m e n ist, d a ß die P r o b l e m e i m L a u f e d e r E n t w i c k l u n g in d e n S y s t e m e n nach v o r n d r ä n g e n . A u c h , d a ß m e h r e r e P r o b l e m e in m e h r e r e n S c h ü b e n n a c h v o r n verlagert u n d d a ß die S t r a f a u s s c h l i e ß u n g s g r ü n d e u n d d a s P r o z e ß r e c h t erst s o s p ä t in die V o r v e r l a g e r u n g e i n b e z o g e n w u r d e n , deutet d a r a u f hin, d a ß dies nicht z u l e t z t d e s h a l b e r f o l g t e , weil a n d e r w ä r t s nichts m e h r z u h o l e n war. W o rauf dieses P h ä n o m e n b e r u h t , m ü ß t e n o c h näher untersucht w e r d e n . W i r h a b e n hier die V e r l a g e r u n g v o n P r o b l e m e n aus d e m B e s o n d e r e n in d e n A l l g e m e i n e n Teil, f ü r die es e b e n f a l l s zahlreiche, z u m Teil l e b h a f t u m s t r i t t e n e , F ä l l e g i b t , 9 1 m i t B e d a c h t außen v o r gelassen. D e n n die G e n e r a l i s i e r u n g , die E r h e b u n g v o n E i n z e l p h ä n o m e n e n z u a l l g e m e i n e n R e g e l n , ist ein a n e r k a n n t e r G r u n d s a t z w i s senschaftlicher M e t h o d e . W o r a u f b e r u h t a b e r d a s P h ä n o m e n d e r s t ä n d i g e n V o r v e r l a g e r u n g v o n P r o b l e m e n i n n e r h a l b v o n G l i e d e r u n g s s y s t e m e n ? I s t es d a s E m p f i n d e n einer h ö h e r e n W e r t i g k e i t d e r f r ü h e r e n S y s t e m e l e m e n t e , d e r E h r geiz, P r o b l e m e i m S y s t e m eher als die K o n k u r r e n t e n z u p r ä s e n t i e r e n , d a s E r l i e g e n g e g e n ü b e r d e n a n s t ü r m e n d e n P r o b l e m e n o d e r einfach eine U n g e d u l d d e r beteiligten W i s s e n s c h a f t l e r ? A u c h die A r g u m e n t e , die f ü r d i e V o r v e r l a g e r u n g a n g e f ü h r t w e r d e n , erscheinen bei d i e s e r B e t r a c h t u n g s w e i s e in e i n e m n e u e n Licht. J e d e n f a l l s teilweise erscheinen sie als b l o ß e V o r w ä n d e , hinter d e n e n sich n u r der p s y c h o l o g i s c h e D r a n g nach v o r n versteckt. D i e V i e l f a l t d e r A r g u m e n t e f ü r die V o r v e r l a g e r u n g der gleichen S y s t e m b e s t a n d t e i l e u n t e r s t ü t z t d i e s e ernüchternde Erkenntnis. M i t dieser s k e p t i s c h e n G e s a m t b e t r a c h t u n g soll nicht in A b r e d e gestellt w e r d e n , daß die m o d e r n e E n t w i c k l u n g , an der Claus Roxin s o m a ß g e b l i c h beteiligt war, z u wesentlichen V e r b e s s e r u n g e n d e r strafrechtlichen S y s t e m e g e f ü h r t hat.

9 1 Siehe z. B. die Kontroverse zwischen Roxin (Fn. 19), § 11 Rn. 47, 49, und Armin Kaufmann FS für Jescheck, Bd. I, 1985, 251, 254 f. Dagegen wiederum Roxin G S für Armin Kaufmann, 1989, 237, 244. Roxin hat ferner den U m f a n g der einzelnen Straftatbestände als „Reichweite des Tatbestandes" im Rahmen der „Zurechnung zum objektiven Tatbestand" in den Allgemeinen Teil gezogen (Fn. 19, § 11 Rn. 90 ff).

Zur funktionalen Begründung des Verbrechenssystems ERNST-JOACHIM LAMPE

I.

A n die Stelle der Konditionalen' bzw. ,kausalen' Argumentation 1 , die lange Zeit die strafrechtsdogmatische Systembildung beherrschte, sind in jüngster Zeit Bestrebungen getreten, mittels einer ,zweckrationalen' bzw. funktionalen' Argumentation die Systembegriffe der allgemeinen Verbrechenslehre zu entwickeln. Ihren Ausgang nahmen diese Bestrebungen von einer Schrift des verehrten Jubilars aus dem Jahre 1970, 2 worin er das Systemdenken und damit gleichzeitig die strafrechtliche Verbrechenslehre aus einer „Krise" herauszuführen trachtete, „in die sie in den letzten Jahren hineingeraten" seien. 3 Als G r u n d jener „Krise" benannte er „Fehlansätze" in der dogmatischen Entwicklung des Systemgedankens; den Systemgedanken selbst hielt er für unverzichtbar. 4 Die „Fehlansätze" führte er darauf zurück, daß nicht erkannt worden sei, „daß unbeschadet der uneingeschränkt aufrechtzuerhaltenden rechtsstaatlichen Erfordernisse - kriminalpolitische Probleme den eigentlichen Inhalt auch der allgemeinen Verbrechenslehre ausmachen". 5 Daher gelte es nunmehr, „die kriminalpolitischen Wertentscheidungen in das System des Strafrechts eingehen zu lassen", und zwar in der Weise, „daß ihre gesetzliche Fundierung, ihre Klarheit und Berechenbarkeit, ihr widerspruchsfreies Zusammenspiel und ihre Auswirkungen im Detail hinter den Leistungen des [bisherigen] formal-posi-

1 Der Unterschied liegt darin, ob die Argumentation mehr logisch oder mehr ontologisch getönt ist. Im folgenden wird der Unterschied vernachlässigt. 2 Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2 1973. Roxin faßt dort seine „methodologischen und dogmatischen Grundauffassungen zu einer ... systematischen Gesamtkonzeption zusammen" (S. 1). Der Vortrag ist zwar aus der Endzeitstimmung der späten 60er Jahre heraus zu verstehen, worin allenthalben nach neuen Anfängen gesucht wurde. Er spricht jedoch ein Problem an, das einesteils älter ist und andernteils bis heute seine Bedeutung behalten hat. Nach Schünemann Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 1 (46 Fn. 98), ist der Vortrag sogar der Beginn einer „neuen Systemepoche", nach Roxin selbst (Die kriminalpolitische Fundierung des Strafrechtssystems, FS für Kaiser, 1998, 885 [886]) leitet er „eine geradezu kopernikanische Wende" ein.

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Roxin (Fn. 2), 5. Roxin (Fn. 2), 6 f. Roxin (Fn. 2), 8.

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Ernst-Joachim Lampe

tivistischen Systems ... nicht zurückstehen". 6 Wie sollte das geschehen? Roxin blieb insofern Traditionalist, als er sich strikt am überkommenen dreistufigen Systemaufbau der Verbrechenslehre orientierte. Neu war, daß er sämtliche Systemstufen nunmehr kriminalpolitisch 7 zu interpretieren versuchte: daß er dem Tatbestand' die Funktion zuwies, das Gebot des Nullum-crimen-sinelege-Satzes zu erfüllen, der ,Rechtswidrigkeit' die Funktion, den Widerstreit von Interessen und Gegeninteressen zu regulieren, der ,Schuld' zu entscheiden, „ob und inwieweit ein grundsätzlich mit Strafe bedrohtes Verhalten bei irregulären Persönlichkeits- oder situationsbedingten Umständen noch der Strafsanktion bedarf". 8 Von den Folgerungen aus diesem Neuansatz seien einige beispielhaft angeführt: Die Funktion des Tatbestandes, den Nullum-crimen-sinelege-Satz umzusetzen, muß durch eine materiell-objektive Tatherrschaftslehre gelöst werden. 9 Die Funktion der Rechtswidrigkeit, Interessenkonflikte auszugleichen, muß sich in einer begrenzten Zahl von materialen Ordnungsprinzipien niederschlagen, welche sowohl die kriminalpolitisch überzeugende Lösung schwieriger Problemfälle (wie etwa der provozierten Notwehr) als auch deren systematische Rechtfertigung ermöglichen. 10 Die Funktion der Schuld schließlich, die kriminalpolitische Sanktionsbedürftigkeit des Täters zum Ausdruck zu bringen, muß sich, statt auf das Andershandeln des Täters, auf generalpräventive Erfordernisse beziehen, weshalb etwa im Notstand derjenige nicht mit Entschuldigung rechnen darf, der von Amts wegen den Notstand gerade zu beseitigen hat (vgl. in diesem Sinne § 35 Abs. 1 S. 2 StGB). 1 1 Seither ist die Neuorientierung der systembildenden Elemente an kriminalpolitischen Aufgaben sowohl vom Jubilar selbst als auch von seinen Schülern Schünemann12, Amelung13 und Wolter14, aber auch vom Welzel-Schüler Jakobs15 weitergeführt und entscheidend gefördert worden. Zwischen ihnen Roxin (Fn. 2), 10. Die Kriminalpolitik umfaßt sowohl den gezielten Einsatz der staatlichen Strafe nach einem Verbrechen als auch die gezielte Vorbeugung vor (weiteren) Verbrechen durch Androhung und Verhängung von Strafen, ferner praktische Maßnahmen zur Verbrechensverhinderung und Verbrechensverfolgung. Einen Überblick über die vielfältigen Definitionen gibt Zipf Kriminalpolitik, 2 1980, 3 ff. Roxin schließt sich an v. Liszt an, der Kriminalpolitik bestimmt als „den systematischen Inbegriff der ... Grundsätze, nach welchen der Staat mittels der Strafe und der ihr verwandten Einrichtungen den Kampf gegen das Verbrechen zu führen hat" (Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. I, 1905, 292). 6 7

Roxin (Fn. 2), 15. Roxin (Fn. 2), 20f. Im einzelnen dazu Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 7 1999, 107ff. 10 Roxin (Fn. 2), 26 f. Im einzelnen dazu Roxin Verwerflichkeit und Sittenwidrigkeit im Strafrecht, JuS 1964, 373 ff. 11 Roxin (Fn. 2), 33 f. 12 Schünemann (Fn. 2), 1, 45 ff; ders. Strafrechtssystem und Kriminalpolitik, FS für Schmitt, 1992, 119 ff. 13 Amelung Zur Kritik des kriminalpolitischen Strafrechtssystems von Roxin, JZ 1982, 617 ff. 14 Wolter (a) Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, bes. 132 ff; (b) Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit in einem neuen Strafrechtssystem, 140 Jahre Goltdammer's Archiv, 1993, 269 ff. 15 Jakobs Strafrecht AT, 2 1992, Abschn. 1; 2; 17. 8

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herrscht im Negativen Übereinstimmung, „daß die strafrechtliche Systembildung nicht an ontische Vorgegebenheiten (Handlung, Kausalität, sachlogische Strukturen u. a.) anknüpfen" dürfe, im Positiven, daß sie „ausschließlich von strafrechtlichen Zielsetzungen geleitet werden" müsse. 16 Wenig Ubereinstimmung besteht dagegen, welche „strafrechtlichen Zielsetzungen" eine Rolle spielen sollen und wie sie mit den traditionellen Aufbauelementen Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld zu verknüpfen sind. Ich selbst habe dem Ansinnen, die strafrechtliche Systembildung ausschließlich an „leitenden Zielsetzungen ... kriminalpolitischer Art" zu orientieren, 17 an anderer Stelle18 bereits ausdrücklich widersprochen. Daher wird man von mir nicht erwarten, daß ich die dargestellte Diskussion hier bruchlos fortführe. Dennoch greife ich das Thema nicht etwa in polemischer Absicht auf, sondern weil mir eine kriminalpolitisch orientierte Systembildung ergänzend zur sozial- und personalontologisch orientierten nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll erscheint. Allerdings dürfen primär nicht J^r'immzlpolitische Wertentscheidungen" die Ergänzung liefern; ihnen vorgegeben sind vielmehr die positiven Funktionen der Strafe im sozialen Leben, die es kriminal wissenschaftlich zu erforschen gilt. 19 Die kriminalpolitischen Wertentscheidungen sind auf den danach noch offenen Raum beschränkt.

II. Zur funktionalen Begründung des Verbrechenssystems setze ich nicht bei den (im Vordersatz der Gesetzesnormen benannten) Sanktionsvoraussetzungen (z. B. „wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht"), sondern bei den (im Nachsatz angeordneten) Verbrechensfolgen („wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft") an. Denn die kriminalpolitischen Wertentscheidungen, von denen aus Roxin und andere das Ver16 Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 7 Rn. 24. Ähnlich Schünemann (Fn. 12), 126: Ausgangspunkt der Systembildung seien die „kriminalpolitischen Grundentscheidungen". 17 Roxin (Fn. 16), § 7 Rn. 53. Dort heißt es allerdings auch: „Die Menschenrechte und die Grundsätze des Rechts- und Sozialstaats gehen in die kriminalpolitischen Wertungen ein." Falls diese Äußerung normativ zu interpretieren ist, die kriminalpolitischen Zwecksetzungen also ihrerseits an vor aller ,Setzung' vorhandene ,Werte' gebunden sind, dann besteht im Grundsätzlichen weitgehend Einigkeit zwischen Roxin und mir. Allerdings wird dann das Strafrechtssystem nicht mehr nur kriminalpolitisch, sondern auch sozial- und personalethisch — und, da Werte stets ein fundamentum in re haben, auch sozial- und personalontologisch — begründet (vgl. unten IV). Vgl. auch Kant über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen (WW, Hg. Weischedel, Bd. IV, 635 ff), 642: „Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden." 18

Lampe Zur ontologischen Begründung strafbaren Unrechts, FS für H.J. Hirsch, 1999,

83 ff. 19 Hierauf rekurriert auch v. Liszt (Fn. 7), 162, wenn er „die rechtsgüterschützende, verbrechensverhütende Wirkung der Strafe mit wissenschaftlicher Bestimmtheit" feststellen und zum Ausgangspunkt des Strafrechtsdenkens machen will.

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brechenssystem begründen wollen, betreffen nicht die Begehung, sondern die Verfolgung von Verbrechen. Die These geht also dahin, daß die Funktionen der Verbrechensfolgen Auswirkungen auch auf die Wahl und die Interpretation der Sanktionsvoraussetzungen (der Verbrechensmerkmale) haben. Ich werde im Folgenden versuchen, die Konsequenzen dieser These systematisch zu entwickeln. Dabei muß ich mich aus Raumgründen teilweise auf Stichworte beschränken. Hauptunrechtsfolgen des Strafrechts sind - neben den Maßregeln der Besserung und Sicherung - die staatlichen Rechtsstrafen. Sie bestehen aus drei Elementen - Staat, Recht und Strafe - , die sich zumindest analytisch voneinander trennen lassen. Genauer lautet die These also: daß die Verbrechensmerkmale sowohl durch die Funktionen der Strafe (vulgo Straf-,zwecke') als auch des rechtlichen Ordnungssystems als auch des staatlichen Verfolgungsapparates mitbegründet werden. Worin bestehen diese Funktionen? 1. Von den Funktionen des Rechts interessieren im Zusammenhang mit der staatlichen Strafe (a) die Gewährleistung von sozialem Frieden, d. h. von Rechtssicherheit, und (b) die Gewährleistung von sozialer Ausgeglichenheit, d. h. von Gerechtigkeit. a) Auf die Sicherungsfunktion des Rechts hatte Roxin in seinem einleitend zitierten Vortrag das verfassungsrechtliche Gebot zurückgeführt, innerhalb der Systemkategorie des Tatbestands Verbrechen .bestimmt' zu erfassen. Das war zwar richtig, aber zu eng. Inzwischen erkennt Roxin an, daß Deliktstatbestände nicht nur um der Rechtssicherheit der Täter vor willkürlicher Verfolgung und Verurteilung (als „magna charta des Verbrechers"), sondern auch und vor allem um des kriminalpolitischen Bedürfnisses willen, die potentiellen Opfer präventiv vor Straftaten zu schützen,,bestimmt' konzipiert werden müssen. 20 Es sind folglich die Funktionen der rechtsstaatlichen Strafe insgesamt, welche für ihn heute die Bestimmtheitsforderung begründen. Ich stimme dem zu. b) Von der zweiten Funktion des Rechts aus, der sozialen Gerechtigkeit, begründete Roxin ursprünglich die Systemkategorie der Rechtswidrigkeit21: Es gehe dort um die gerechte Lösung sozialer Konflikte. Heute erkennt er auch dieser Stufe eine spezifisch kriminalpolitische Relevanz zu, meines Erachtens allerdings ohne sie überzeugend als Plus gegenüber der allgemeinen rechtspolitischen Relevanz zu begründen. 2 2 Klarer, allerdings zum Teil auch abweichend, 20

Roxin (Fn. 16), § 7 Rn. 55. Kritik gegen die ursprüngliche Auffassung von Roxin bei Amelung (Fn. 13), 617 ff; Moccia Die systematische Funktion der Kriminalpolitik, in: Schünemann/Figueiredo (Hrsg.), Bausteine eines europäischen Strafrechts, 1995, 45 (61 ff); Schünemann Die Funktion der Abgrenzung von Unrecht und Schuld, ebd., 149 (163). 21 Heute spricht Roxin (Fn. 16, § 7 Rn. 58) von „Unrecht". 22 Vgl. Roxin (Fn. 16), § 7 Rn. 63. Er erkennt dort ausdrücklich an, daß die auf dieser Systemstufe herzustellende „normative Balance" zwischen den widerstreitenden Interessen „gewiß nicht nur ins Strafrecht gehört, sondern durch verfassungs- und verwaltungsrechtliche Vorgaben mitbestimmt" wird. Welchen Beitrag das Strafrecht zu leisten hat, bleibt allerdings im Dunkeln.

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hat Schünemann herausgearbeitet, 23 daß die sozialen Konflikte auf dieser Ebene nicht nur unter dem generellen Aspekt des sozialen Ausgleichsbedürfnisses, sondern auch unter dem speziellen des Strafbedürfnisses beurteilt werden müssen und daß deshalb abermals präventive Gesichtspunkte in das Verbrechenssystem einfließen. 2. Die präventiven Gesichtspunkte ergeben sich aus der Funktion des Staatsapparates, die Bürger vor strafbaren Handlungen zu schützen (,Kontrollvorsorge'). Zu dieser Sdwizfunktion gehört nicht nur (a) die bisher genannte Generalprävention mittels Strafandrohung, sondern auch (b) die Spezialprävention mittels Strafvollstreckung, damit Personen, die sich von der Strafandrohung nicht haben schrecken lassen, befähigt werden, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen" (§ 2 S. 1 StVollzG). Mit Recht vertritt Roxin insoweit die Ansicht, daß die Spezialprävention durch Strafvollstrekkung sich auf die Systemkategorie der Schuld auswirken müsse; denn hier gehe es darum, „ob der individuelle Täter ... Strafe verdient", und das hänge unter anderem von seiner Präventionsbedürftigkeit ab. 2 4 Die vollständige Reduzierung der strafrechtlichen Schuld auf die Präventionsbedürftigkeit des Täters hat Roxin inzwischen aufgegeben. Hiergegen war mit Recht eingewandt worden, daß das Strafgesetz in § 46 Abs. 1 S. 1 der individuellen Schuld des Täters eine eigenständige, ja sogar vorrangige Bedeutung gegenüber der Prävention zuweise, daß man jedoch auch schuldlose Täter bestrafen könne, bände man die Schuld allein an deren Präventionsbedürftigkeit.25

Allerdings entzieht Roxin in seinen neueren Schriften die Schuld einer funktionalen Deutung, indem er sie als Systemkategorie durch die ,Verantwortung' ersetzt. Innerhalb der Kategorie ,Verantwortung' soll dann die Schuld als Kondition der Strafe neben der Spezialprävention als Funktion der Strafe eine Rolle spielen. 26 Das erscheint mir zum einen inkonsequent; denn die funktionale Begründung der Verbrechensmerkmale darf vor dem wichtigen Schuldbegriff nicht haltmachen. Und es erscheint mir zum anderen unnötig; denn der Schuldbegriff ermöglicht durchaus auch ein funktionales Verständnis, ja er legt es sogar nahe, weil er ursprünglich das ,als Folge einer Missetat Gesollte' bedeutete und die Bedeutung bis heute behalten hat: 2 7 Er umfaßt mit anderen Worten nicht nur die ,culpa' als ,causa' des Verbrechens, sondern auch das dem 23

Schünemann (Fn. 12), 127. Roxin Das Schuldprinzip im Wandel, FS für Arthur Kaufmann, 1993, 519 (527). 25 Vgl. zur Kritik insbesondere Schöneborn Schuldprinzip und generalpräventiver Aspekt, ZStW 88 (1976), 349 ff; Burkhardt Das Zweckmoment im Schuldbegriff, GA 76, 321 (335 ff); Stratenwerth Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977, 21 ff; Seelmann Neue Entwicklungen beim strafrechtsdogmatischen Schuldbegriff, Jura 1980, 505 (509 ff); Griffel Prävention und Schuldstrafe, ZStW 98 (1986), 28 ff; H.J. Hirsch Das Schuldprinzip und seine Funktion im Strafrecht, ZStW 106 (1994), 746 (749 ff). 26 Roxin (Fn. 16), § 19 Rn. 9. 2 7 Diese Bedeutung hat sich als Verpflichtung zum Schadensersatz in § 823 BGB erhalten. Vgl. dazu allerdings auch Roxin „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als Systemkategorien, FS für Henkel, 1974, 171 (181). 24

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Verbrechen folgende ,debitum' - darunter die Schuldigkeit zur Prävention, zur eigenen Besserung28. 3. Der Schuldbegriff umfaßt ferner ganz allgemein die ,obligatio ad poenam patiendam', die Straferduldungspflicht bzw. (genauer) die Verpflichtung zur Erfüllung sämtlicher Funktionen der Strafe. Ob darin ein Mehr gegenüber der Prävention liegt, ist allerdings umstritten. Roxin hält bis heute daran fest, „daß der Zweck der Strafe nur präventiver Art sein kann". 29 Seine Begründung, Strafnormen seien lediglich dann gerechtfertigt, wenn sie dem Schutz der individuellen wie der gesellschaftlichen Freiheit dienen, zeigt freilich, daß er speziell die staatliche, genauer die in staatlichen Rechtsnormen angedrohte und auf ihrer Grundlage verhängte und vollstreckte Strafe meint. Daß die Strafe als solche weitere Funktionen haben kann, beispielsweise die der Selbstbesinnung und der sittlichen Läuterung, 30 leugnet er nicht. Und in der Tat lassen sich der Strafe solche weiteren Funktionen nicht absprechen - nicht einmal im Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Hier nämlich sind es die Funktionen der Rache, die sie ausfüllt. Von ihr, der Rache, rührte die Strafe ehemals her,31 und von ihr erbte sie auch die Funktionen. 32 Noch heute würde die Rache um sich greifen, gäbe es keine staatliche Strafgewalt.33 Denn die Rache befriedigte ein im Menschen tief eingewurzeltes Bedürfnis: das Bedürfnis nach Ichwiederherstellung.34 Sie verschaffte dem Rächer Genugtuung und hob sein Selbstgefühl. Um die Rache zu delegitimieren, muß mithin heute die Strafe ebenfalls dem

2 8 Der Staat muß dem Straftäter zwar helfen, „sich in das Leben in Freiheit einzugliedern" (§ 3 Abs. 3 StVollzG), doch der Straftäter seinerseits „wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugszieles mit" (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVollzG). In § 4 Abs. 1 StVollzG wird die Mitwirkung gleichwohl nicht als Mitwirkungs/;/7zc&i ausgestaltet, wohl aus der Einsicht heraus, daß eine Behandlung des Straftäters ohne dessen eigene freiwillige Bemühungen erfolglos bleibt. Obschon danach die Mitwirkung nicht erzwungen werden kann, steht nichts entgegen, sie als eine (sanktionslose) Rechtspflicht zu konstituieren.

Roxin (Fn. 16), § 3 Rn. 37. Vgl. dazu etwa Foerster Jugendlehre, 1918, Anhang: Bemerkungen über die Bestrafung der Kinder, 697 ff (bes. 698). 3 1 Dazu Makarewicz Einführung in die Philosophie des Strafrechts auf entwicklungsgeschichtlicher Grundlage, 1906, 214 ff. 3 2 Dies entspricht dem natürlichen Gang der Dinge', wonach Neuerungen sowohl in der biotischen als auch in der psychischen Entwicklung eingeführt werden durch Umgestaltung des vorhandenen Materials. 3 3 Vgl. etwa Kaiser Kriminologie, 3 1996, § 32 Rn. 34, § 50 Rn. 7, 19. 3 4 Dem Bedürfnis nach Selbstbehauptung dient bereits die Notwehr; sie bewahrt das Selbst oder die eigene Machtsphäre vor der Verletzung durch rechtswidrige Angriffe. Dem Bedürfnis nach Ichwiederherstellung dient dagegen erst die Rache; sie erst beseitigt die nach dem erlebten Angriff verbliebene Verletzung des Selbst- und Machtgefühls und stellt das Selbstvertrauen wieder her. Doch während die Notwehr durch Maßlosigkeit nur in äußersten Fällen ihre rechtfertigende Wirkung verliert, nimmt Maßlosigkeit der Rache auf Anhieb jedes Recht - wie, obschon erst auf der Ebene der Schuld, die Regelung des § 33 StGB zeigt: Nur der intensive, nicht der extensive Notwehrexzeß entlastet (vgl. dazu auch Roxin Uber den Notwehrexzeß, FS für Schaffstein, 1975, 105, 111 ff). 29

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Verletzten Genugtuung gewähren und sein Selbstgefühl heben - „weil kein Machtverlust stattfinden, befürchtet oder vermeint werden kann ohne damit einhergehendem Verlust an Selbstvertrauen".35 Anders als die Rache darf die Strafe dies allerdings nur aufgrund eines doppelten Maßstabs tun: daß sie die zuvor erlittene Kränkung ausgleicht, ohne ihr eine neue hinzuzufügen, und daß sie gemeinschaftsverträglich ist, indem sie spätestens mit Abschluß der Reaktion den ursprünglichen sozialen Friedenszustand wiederherstellt. Die Beachtung dieses doppelten Maßstabs läutert sie sittlich und sozialisiert sie. Sie erhebt sie auf eine sozialethisch höhere Stufe als die Rache. 4. Faßt man nunmehr die Funktionen der staatlichen Rechtsstrafe zu einer Einheit zusammen, so erhält man jene ,Dreieinigkeit', welche die staatliche Gesetzgebung weder übergehen noch ausschalten kann: die Genugtuungs- und Friedensfunktion der Strafe als solcher, die Präventionsfunktion der staatlichen Strafe und die Ausgleichsfunktion der Rechtsstrafe. Strittig kann danach nur noch sein, ob sich diese Funktionen ohne die Konsequenz von Antinomien vereinigen' lassen und, wenn ja, ob innerhalb einer solchen Bereinigung' der einen oder anderen Funktion die Prävalenz vor den übrigen sozial zukommt oder sozialpolitisch zukommen soll. Die Vereinbarkeit der genannten Funktionen ergibt sich juristisch bereits aus der unangefochtenen Existenz eines staatlichen Strafrechts. Sie ergibt sich darüber hinaus sozialanthropologisch daraus, daß die Funktionen keinen Gegensatz zueinander bilden, sondern sich im Gegenteil weitgehend ergänzen. Ich habe das an anderer Stelle dargelegt36 und verweise hierauf umso leichteren Herzens, als ich zur Ansicht Roxins insoweit keine tiefgreifenden Differenzen erkenne. Anders verhält es sich mit der Frage nach der Prävalenz einer der vereinigten Funktionen. Wie erwähnt, entscheidet sich Roxin insoweit kriminalpolitisch zugunsten der Prävention. Das Schuldprinzip will er lediglich zur Begrenzung der Präventionsdauer (Strafhöhe) heranziehen - zum einen, weil es „unabhängig von jeder Vergeltung eine liberale Funktion" habe, zum anderen, weil das allgemeine Rechtsbewußtsein verlange, „daß niemand härter bestraft werden darf, als er es verdient".37 Ich folge dieser Entscheidung nicht. Meines Erachtens unterstellt sie die Strafe der Herrschaft einer Funktion, die, wie Schünemann sagt,38 „zwar die zweckrationale Nützlichkeit, nicht aber die wertrationale Vertretbarkeit der Strafe" begründet. Ihre absolute Prävalenz gegenüber den übrigen Funktionen läßt sich daher nicht rechtfertigen - und im übrigen auch sozial nicht durchsetzen.39 Ferner halte ich Roxins Gründe nicht für überKlages Die Grundlagen der Charakterkunde, 7/8 1936, 206. Lampe Strafphilosophie, 1999, 55 ff. 37 Roxin (Fn. 16), § 3 Rn. 8. 38 Schiinemann Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: ders. (Fn. 2), 153 (171). 3 9 Siehe ausführlicher dazu Lampe (Fn. 36), 4 ff. 35 36

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zeugend, aus denen er seine Entscheidung anschließend einschränkt. Zum einen hat eine „liberale Funktion" evidentermaßen jedes Prinzip, das die Strafe begrenzt; deshalb bleibt unbegründet, warum die Wahl ausgerechnet auf das Schuldprinzip fallen soll. Und zum anderen ist zwar ebenfalls evident, „daß niemand härter bestraft werden darf, als er es verdient"; gleichwohl wird nicht deutlich, warum als Maßstab für das Strafe-Verdienen wiederum das Schuldprinzip herhalten soll (zumal auch die Prävention vielfach aus dem Strafe-Verdienen hergeleitet wird). Vielmehr erscheint es mir richtig, keiner der genannten Funktionen einen normativen Vorrang einzuräumen, sondern es der Abwägung des Gesetzgebers und (vor allem) des Richters zu überlassen, wie man die Positivität aller Funktionen nutzt, um durch ihre Kombination ein sozial optimales Ergebnis zu erreichen. Der hier vertretenen Ansicht läßt sich allerdings ein Argument entgegensetzen, das Roxin speziell der „vergeltenden Vereinigungstheorie" entgegengesetzt hat: daß sie „zu einem standpunktlosen Hin- und Herschwanken zwischen verschiedenen Strafzielen führt, das eine einheitliche Konzeption der Strafe als eines Mittels sozialer Befriedung unmöglich macht". 40 Dagegen ist zu replizieren, daß das Argument sich grundsätzlich gegen jede Vereinigungstheorie, auch die von Roxin vertretene „präventive Vereinigungstheorie", verwenden läßt. Denn die Festsetzung des Primats einer Straffunktion, gleichgültig welcher, führt keineswegs eo ipso zu einer einheitlichen Konzeption der Strafe; es bedarf vielmehr zusätzlich einer einheitsstiftenden Methode. Roxin selbst bringt die spezial- und generalpräventiven Gesichtspunkte daher „in ein sorgfältig ausgewogenes System, das erst in der Verschränkung seiner Elemente der staatlichen Bestrafung ein theoretisches Fundament gibt". 41 Und nichts steht entgegen, die übrigen (nicht-präventiven) Funktionen ebenfalls in das ,System' einzubeziehen und sie durch eine ,Optimierungsstrategie' zu verbinden.42 Ohne eine solche einheitsstiftende Methode käme es lediglich dann zu keinem „standpunktlosen Hin- und Herschwanken", wenn die von Roxin hervorgehobenen Präventivfunktionen (einzeln oder gemeinsam) die Sanktionierung ,von N a t u r aus' sicher leiten würden. D o c h insofern ist Skepsis angebracht. Mit Recht hat Stratenwerth43

gegen den absoluten Pri-

mat der Prävention (welcher Spielart auch immer) geltend gemacht, daß wir über die positiven Wirkungen der Strafe nur sehr wenig wissen. 4 4 Deshalb sei zu fragen, wie sich die Begrenztheit und Unsicherheit unseres Wissens mit der Stringenz der Folgerungen vereinbaren läßt, welche die Befürworter eines funktionalen Strafrechtsverständnisses aus den Präventivwirkungen der Strafe ziehen. Hierauf finde er in ihren ambitionierten Darlegungen keine Antwort. Was gleichwohl an Folgerungen vorgetragen werde, seien lediglich Behauptungen, die, „so unerwiesen sie auch sind, einigermaßen einleuchten, aber eben nur, weil sie an exakt diejenigen

40 41 42 43 44

Roxin (Fn. 16), § 3 Rn. 35. Roxin (Fn. 16), § 3 Rn. 43. Ich habe diese Strategie genauer umrissen in Lampe (Fn. 36), 2 1 5 ff. Stratenwerth Was leistet die Lehre von den Straf zwecken?, 1995. Übereinstimmend auch Schünemann (Fn. 12), 172 f Fn. 37 u. 38.

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Wertüberzeugungen appellieren, die sie ihrerseits begründen sollen". 45 Das gelte sowohl für die Unrechtsvoraussetzungen als auch für die Sanktionen. Was beispielsweise die „Verteidigung der Rechtsordnung" (§§ 47, 56 Abs. 3, 59 Abs. 1 StGB) an kriminalpolitischem Stehvermögen erfordert, um die Folgen spezialpräventiver Rücksichtnahme auf die „Wirkungen, die für das zukünftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind" (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB), zu begrenzen, sei ungewiß, solange man nicht in die Auffassung der Gesellschaft das hineinliest, was man anschließend aus ihr wieder herauslesen möchte. Und für den Bereich der Strafzumessung gelte Horns nüchternes Fazit, daß die Vorstellung, „es sei möglich, eine bestimmte Strafzeit (-dauer, -höhe) an Gesichtspunkten der Prävention - welcher Provenienz auch immer auszurichten", „gänzlich unbegründet" ist. 46 Soweit sich allerdings die Argumentation Stratenwerths gleichzeitig gegen die Möglichkeit eines funktionalen Strafrechtsverständnisses wendet, erscheint sie mir unzutreffend. Zweierlei steht ihr entgegen: Zum einen wird eine normativ-funktionale Betrachtungsweise in bezug auf Strafunrecht und Strafschuld nicht dadurch ausgeschlossen, daß wir über die positiven Funktionen der staatlichen Strafe nur wenig wissen. Denn die Frage, welche Funktionen eine Strafe erfüllen soll, ist von ihrer /st-Funktion nur bedingt abhängig. Seine Gestaltungsfreiheit erlaubt vielmehr dem Staat, der Strafe normativ Funktionen zu geben, von denen unsicher ist, ob sie real erreicht werden können, ja sogar solche, die bis zu einem gewissen Grade von ihren positiven Funktionen abweichen. 47 Die strikte Grenze für solche ,Umfunktionierung' markiert theoretisch erst der Grundsatz ,Sollen impliziert Können' und praktisch folglich erst die Ohnmacht der staatlichen Organe. Daß bis zu dieser Grenze der Staat durch Strafnormen gezielt Realfolgen herbeiführen kann und daß die staatlichen Organe sie gezielt durchsetzen sollen, läßt sich ernstlich nicht leugnen. Kriminologische Forschungen jedenfalls geben zu radikaler Skepsis keinen Anlaß. Und der Gesetzgeber selbst geht denn auch allenthalben von der Folgenwirksamkeit seiner Regelungen aus (Beispiel: Betäubungsmittelrecht). - Zum anderen wird ein funktionales Strafrechtsverständnis seit langem auf verschiedenen Ebenen praktiziert, ohne daß sich daraus ernsthafte Probleme ergeben hätten. Zwei Beispiele: (1) Durch Amnestie oder Begnadigung kann eine Strafe unter anderem 48 dann erlassen werden, wenn sie ihre Funktionen nicht erfüllt oder gar verfehlt - sei es, daß sie ihre befriedende Wirkung nicht erreicht, 49 daß sie dem Betroffenen gegenüber eine nicht zu rechtfertigende Härte darstellt 50 oder daß ausnahmsweise die Straffreiheit auch im Interesse der Rechtsgeltung als die höherwertige Alternative erscheint, also „Gnade vor Recht" gehen muß. 51 (2) Durch Einstellung kann ein Strafverfahren unter anderem dann abgeschlossen werden, wenn die staatliche Bestrafung des Beschuldigten ihre Funktionen nicht erfüllen würde bzw. - in den Worten des Gesetzes (§§ 153 ff StPO) - wenn es infolge „geringer Schuld" an einem „öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung" fehlt. Anerkannt ist, daß diese prozessuale Lösung einem zumindest teilweise materiellrechtlichen Problem gilt 52 und daß sowohl die Schuldbemessung als auch das „öffent-

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Stratenwerth (Fn. 43), 16. Wenig wahrscheinlich ist, daß Strafen, die sonst lediglich eine präventive Nebenwirkung haben, diese in der Hand des Staates plötzlich vorrangig besitzen. 46 Stratenwerth (Fn. 43), 18 f unter Hinweis auf SK-StGB-Horw (Juli 1994), § 46 Rn. 26. 47 Vgl. in diesem Sinne auch Roxin (Fn. 16), § 7 Rn. 24 Fn. 31. 48 Merten Rechtsstaatlichkeit und Gnade, 1978, 68 ff, listet einen Großteil der Gründe auf. 49 In Friedensverträgen waren daher früher regelmäßig Amnestie-Klauseln enthalten, die „einen Schlußstrich unter Gewalttaten und begangenes Unrecht setzen und den Weg zur Versöhnung der vormaligen Gegner öffnen" sollten (Grewe Friede durch Recht?, 1985, 8). Für die Begnadigung ähnlich Köhler Strafgesetz, Gnade und Politik nach Rechtsbegriffen, in: Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 1990, 57 (71 ff). 50 Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 51996, § 88 Rn. 2. 51 Vgl. dazu auch Stammler Die Lehre vom richtigen Rechte, 1926, 100 ff; Radbruch Rechtsphilosophie, 31932, § 24; Schätzler Gnade vor Recht, NJW 1975, 1249 ff. 52 Vgl. insbesondere Kunz Das strafrechtliche Bagatellprinzip, 1984, 21: „Die Ausgrenzung der Bagatelldelikte aus dem bisherigen Vergehensbereich ist ein materiellrechtliches Problem,

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liehe Interesse an der Strafverfolgung" auf die präventive Funktion der Strafe verweisen.53 Für die Schuld ergibt sich das daraus, daß ihr Maß nicht anders als durch Bezug auf die Strafzumessungsgründe des § 46 Abs. 2 StGB festgestellt werden kann, die weitgehend präventiven Charakter tragen. Und für das öffentliche Interesse können ebenfalls nur präventive Gründe maßgeblich sein, da der Staat im Rahmen seiner Schutzfunktion Strafpolitik nur zwecks Kontrolle über das soziale Leben betreiben darf.54 Die Notwendigkeit

eines funktionalen Strafrechtsverständnisses sei abschlie-

ßend anhand der Auslegungsmethode für Strafrechtsnormen demonstriert. Ein strafgesetzlicher Tatbestand ist vom Richter einschränkend auszulegen, wenn die kriminalpolitischen Implikationen seiner Rechtsfolge für den vom Wortlaut (mit-)umfaßten Randbereich unangemessen erscheinen. Eine erweiternde Auslegung bis zur Grenze der Analogie ist dagegen am Platze, wenn die kriminalpolitischen Zielvorstellungen des Gesetzgebers sie erfordern. 5 5 Im Rahmen des danach verbleibenden semantischen Spielraums' ist diejenige Auslegung zu wählen, welche den im Gesetz (wenigstens andeutungsweise) zum Ausdruck gekommenen kriminalpolitischen Grundentscheidungen des Gesetzgebers am besten entspricht. Die Legitimation für eine derart ,folgenorientierte Ausleg u n g ' 5 6 liefert die Vorgehensweise des Gesetzgebers, der nicht nur die Rechtsfolgen selbst, sondern auch die Tatbestände seiner N o r m e n im Hinblick auf die realen Funktionen formuliert, welche den Rechtsfolgen im sozialen Leben voraussichtlich zukommen werden. In diesen rechtspolitischen Rahmen hat auch der Richter seine Normenkonkretisierung einzubinden. Fazit: Die gesamte strafrechtliche Systematik ist „auf die Tatsache ausgerichtet, daß die .Rechtsfolge, um die es geht, die Strafe ist (und nicht etwa eine zivilrechtliche Schadensersatzleistung o. d g l . ) " 5 7 und daß diese als

Realiolge

durch ihre Androhung, erst recht durch ihre Verhängung und Vollstreckung einen erheblichen Einfluß auf das gesellschaftliche Leben ausübt.

das nach einer materiellrechtlichen Lösung verlangt." Wolter (Fn. 14 b), 273: „§ 153 StPO ist nichts anderes als ein Verantwortungsausschließungsgrund im strafprozessualen Gewände." Roxin (Fn. 16), § 23 Rn. 59: „Die Fälle des Opportunitätsprinzips gehören ins Prozeßrecht nur deswegen, weil der Gesetzgeber die Entscheidung über die Verhängung einer Strafe ... dem Ermessen von Staatsanwaltschaft und Gericht überantworten wollte." Weitere Nachweise bei Lampe Ein neues Konzept für die Kleinkriminalität: Das Verfehlungsverfahren zwischen Bußgeld- und Strafverfahren, in: ders., Deutsche Wiedervereinigung, Bd. I: Vorschläge zur prozessualen Behandlung der Kleinkriminalität, 1993, 55 (72). 53 Lampe (Fn. 52), 79. 5 4 Vgl. die Beispiele für die Subsumtion unter den Begriff des öffentlichen Interesses bei Boxdorfer Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung trotz geringer Schuld des Täters, NJW 1976, 317 (319 f). 55 Dazu im einzelnen Roxin (Fn. 16), § 7 Rn. 71 ff. 5 6 Vgl. dazu Hassemer Uber die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze, FS für Coing, Bd. I, 1982, 493 (516 ff); ferner allgemein Decken Die folgenorientierte Auslegung, JuS 1995, 480 ff. "Schmidbauer Strafrecht AT, 21970, Kap. 6/2.

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III. Sobald wir dem funktionalen Verständnis des Strafrechtssystems umfassend Raum geben, stellt sich uns allerdings die Frage, wie dies zu geschehen habe, wie wir insbesondere die leitenden Kategorien des Verbrechenssystems auf die Funktionen seiner Sanktionen ausrichten sollen. Insoweit ist zunächst wichtig Schünemanns Kritik an der Auffassung Roxins, die noch von der klassischen Dreiteilung des Verbrechenssystems in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld ausgeht. Schünemann ersetzt sie durch eine Zweiteilung in Unrecht und Schuld. 58 Das erscheint mir deshalb überzeugend, 59 weil die Tatbestandsmäßigkeit keine Bewertungs-, sondern lediglich eine Bewertungssicherungsebene innerhalb des gesetzlichen Konditionalprogramms ist. Sie hat deshalb für ein funktionales Strafrechtsverständnis, das von den Sanktionsfolgen aus Unrecht und Schuld ins Visier nimmt, keine eigenständige Bedeutung. Kritisch zu bewerten ist dagegen Schünemanns weiterer Vorschlag, innerhalb der verbleibenden Bewertungskategorien Unrecht und Schuld jeweils zwei Bewertungsstufen zu unterscheiden: innerhalb der Bewertungskategorie ,Unrecht' die Bewertungsstufen „überhaupt verboten" und „in qualifizierter Form unerwünscht", innerhalb der Bewertungskategorie ,Schuld' die Bewertungsstufen „überhaupt vorwerfbar" und „infolge der Tatmotivation qualifiziert unwertig". 60 Der Vorschlag weist zwar in die richtige Richtung. Er ist jedoch ungenau, weil er zweierlei nicht berücksichtigt: Zum einen, daß ein funktionales Verständnis auf jeder Ebene noch eine dritte Stufe, nämlich die der staatlichen Eingriffsnotwendigkeit mittels Strafe, berücksichtigen muß; zum anderen, daß sämtliche Stufen konsequent auf die Realfolgen kriminellen Tuns, nämlich auf Strafverfolgung, Strafverhängung und Strafvollstreckung, hinführen müssen. Dazu im einzelnen: 1. Im Rahmen der Unrechtswertung ist Schünemann beizupflichten, daß auf einer ersten Stufe der Bedarf nach einer Verrechtlichung des sozialen Konflikts zu prüfen ist. Genauer geht es unter funktionalem Aspekt aber nicht um die Frage des Verbotenseins, sondern der rechtlichen Regulationsbedürftigkeit: ob sich an einen Sachverhalt eine Rechtsfolge anschließen soll mit der Funktion, die gestörte rechtliche Ordnung, das sind Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, wiederherzustellen. Eine positive Antwort hierauf geben zwar bereits die Rechtsgesetze - so auch die Strafgesetze, indem sie die typischerweise regulationsbedürftigen Tatbestände nennen und ihnen exemplarisch wichtige Rechtfertigungsgründe als Ausnahmen gegenüberstellen. 61 Vorpositiv ist hierfür jedoch eine rechtspolitische Entscheidung erforderlich, welcher Bedarf im Gemeinwesen hinsichtlich Rechtssicherheit und (sozialer) Gerechtigkeit besteht. Auf der Gesetzgebungsebene führt sie unter Umständen zu entsprechenden 58 59

60 61

Schünemann (Fn. 12), 126, 131 f; den. (Fn. 15), 174 ff. In diesem Sinne schon Lampe Der vorgetäuschte Einbruch, JuS 1967, 564 (569). Schünemann (Fn. 2), 56. Daneben können Rechtfertigungsgründe sämtlichen Rechtsgebieten entnommen werden.

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Normierungen (Beispiel: Geldwäschegesetz), auf der Rechtsprechungsebene unter Umständen zu Rechtsneuschöpfungen (Beispiel: „übergesetzlicher Notstand", jetzt § 34 StGB), sei es in Analogie zu vorhandenen Regelungen, sei es in richterlich freier, d. h. nur an der Rechtsidee orientierter, Eigenwertung. Kommt man auf der ersten Stufe zum Ergebnis, daß ein vorliegender Sachverhalt regulationsbedürftig ist, so hat man, wie Schünemann richtig sieht, auf einer zweiten Bewertungsstufe zu fragen, ob die Regulation Straf- (oder Maßregel-Charakter haben soll oder ob eine zivil- oder verwaltungsrechtliche Rechtsfolge ausreicht. 62 Positiv hat die Frage wiederum der Gesetzgeber beantwortet, indem er an die Erfüllung gewisser von ihm normierter Tatbestände ausdrücklich strafrechtliche Sanktionen als Rechtsfolge geknüpft hat (Beispiel: Strafdrohung gegen Geldwäsche, § 261 StGB). Vorpositiv bedurfte es dafür indessen kriminalpolitischer Entscheidungen. Soweit sie bejahend ausfielen und zu strafgesetzlichen Tatbeständen geführt haben, sind diese auf der Richterebene im Hinblick auf den Einzelfall zu konkretisieren. Dabei kann es geschehen, daß in ihrem Randbereich Konstellationen auftauchen, die vom kriminalpolitischen Willen des Gesetzgebers nicht oder jedenfalls nicht eindeutig erfaßt sind und deshalb erst durch richterliche Entscheidung einbezogen oder ausgeschieden werden müssen. In diesen Fällen hat sich der Richter so zu verhalten wie der Gesetzgeber, wenn ihm der Fall bewußt gewesen wäre: 63 Er hat sich zu fragen, ob über den generellen rechtlichen Regulationsbedarf hinaus ein spezieller Straf- (oder Maßregel-)bedarf besteht, und er hat die Frage zu bejahen, wenn er ein legitimes Genugtuungsbedürfnis des in seinen Rechten Verletzten erkennt, dessen Befriedigung durch die harten Mittel des Strafrechts dem inneren Frieden dient. Darüber hinaus kann der Gesetzgeber dem Richter die Vollendung des Normprogramms auch bewußt überlassen, ihn also bewußt zur kriminalpolitischen Entscheidung auffordern, ob und in welchem Ausmaß ein nur umrißartig angedeuteter Sachverhalt strafbedürftig ist. Dies geschieht heute mehr und mehr im Rahmen der sogenannten Regelfälle (Beispiel: § 243 Abs. 1 S. 2 StGB), worin der Gesetzgeber nur Beispiele für eine im übrigen unabgeschlossene Regelung nennt. Sofern auch die zweite Bewertungsstufe genommen ist, muß schließlich auf einer dritten Stufe noch geprüft werden, ob es staatlichen Eingreifens bedarf, um die Unrechtsbegehung mit strafrechtlichen Mitteln zu regulieren. Daß Schünemann diese Prüfung nicht zusätzlich anstellen will, hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß sie vielfach als ausschließlich prozessuales Problem angesehen wird, weil sich ihr Ergebnis zumeist aus dem Legalitätsprinzip, d. h. dem gesetzlichen Zwang zu staatlicher Strafverfolgung (§ 152 Abs. 2 StPO), ergibt. Indessen wird das Legalitätsprinzip durch das Opportunitätsprinzip durchbrochen (§§ 153 ff StPO), und dieses macht das staatliche Eingreifen vom Vorliegen eines materiell-rechtlichen „öffentlichen Interesses" abhängig. Ein 62 Hier hat also das von Schünemann seinen systematischen Ort. 63 In diesem Sinne schon Aristoteles

(Fn. 12, 126 ff) hervorgehobene Nikomachische Ethik, V 14.

Ultima-ratio-Prinzip

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solches Interesse aber kann nicht anders als kriminalpolitisch durch den Hinweis auf einen Verfolgungs- und Aburteilungsbedarf definiert werden, den der Staat befriedigen muß, sofern berechtigte Sorge um die Zukunft des Gemeinwohls es erheischt.64 Den Bedarf bejaht das Gesetz grundsätzlich bei materiell schweren Straftaten. Bei leichten Straftaten dagegen verlangt es eine Einzelprüfung und -entscheidung der Verfolgungsbehörden.65 Teilweise bezieht es auch den Verletzten in den Entscheidungsprozeß ein, indem es für die Strafverfolgung seinen Antrag voraussetzt. 2. Was die Schuldbewertung anbelangt, erscheint mir Schünemanns Unterscheidung zwischen den beiden Subwertungen „überhaupt vorwerfbar" und „infolge der Tatmotivation qualifiziert vorwerfbar" schon im Ansatz falsch. Aus funktionaler Sicht ist Charakteristikum der Schuld nicht die Vorwerfbarkeit der Unrechtsbegehung, sondern die Zumutung einer Rechtsfolge hierfür.66 Insoweit ist dann freilich zu unterscheiden zwischen verschiedenen Stufen der Zumutung: daß dem Beschuldigten überhaupt eine rechtliche Folge (z. B. Schmerzensgeld) auferlegt wird, daß die rechtliche Folge die Härte einer Strafe besitzt und daß sie vom Staat verhängt und vollstreckt wird. Auf der ersten Stufe geht es also um die allgemeine personelle Zuständigkeit für die Rechtsfolgen einer Tat: ob das Recht jemanden als eine für die Tat verantwortliche ,Person' ansieht, gegen die sich Rechtsfolgen richten können. Das ist nicht der Fall, wenn der Urheber der Tat das vom Gesetz für die Verantwortlichkeit vorausgesetzte Mindestalter (§ 828 Abs. 1 BGB) noch nicht erreicht hat oder wenn er aus Gründen mangelnder Einsicht nicht persönlich zur Verantwortung gezogen werden kann (§§ 827, 828 Abs. 2 BGB). Er gilt dann als .unzurechnungsfähig'67. Auf der zweiten Stufe schließt sich die Prüfung an, ob eine rechtlich verantwortliche ,Person' auch für die spezifische Rechtsfolge der Strafe (oder Maßregel) zuständig ist. Voraussetzung dafür ist ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit - an der es fehlt, wenn sie das straffähige Alter (§19 StGB) noch nicht erreicht hat oder aus Gründen mangelnder Einsicht von der Strafe nicht getroffen werden kann, etwa weil sie unfähig ist einzusehen, daß sie für die Folgen ihrer Tat persönlich einstehen muß, insbesondere dem Opfer hierfür

Ubereinstimmend Amelung (Fn. 13), 618 f. Daß sie hierbei außer an materiell-rechtliche Vorgaben noch stärker als bisher an prozeßrechtliche Kontrollen gebunden werden sollten, habe ich anderen Ortes dargelegt, vgl. Lampe (Fn. 52), 87 ff, 126 ff. 6 6 Richtig Jakobs (Fn. 14), 17/21: „Zur Bestimmung der Schuld ist auszuhandeln, wie viele soziale Zwänge dem von der Schuldzuweisung betroffenen Täter aufgebürdet werden können und wie viele störende Eigenheiten des Täters vom Staat und von der Gesellschaft akzeptiert oder von Dritten — auch vom Opfer selbst - getragen werden müssen." 67 Das Zivilrecht unterscheidet deutlich zwischen dem Verschulden an der Schadenszufügung (§ 276 BGB) und der Zurechenbarkeit der hieraus resultierenden Ersatzansprüche an den Schädiger (vgl. BGH in LM § 828 BGB Nr. 1). 64

65

58

Ernst-Joachim Lampe

Genugtuung schuldet. 68 Darüber hinaus kann es sein, daß ihr trotz genereller Schuldfähigkeit die Erfüllung einer speziellen Strafschuld unzumutbar ist (vgl. §§ 56 b Abs. 1 S. 2 und 56 c Abs. 1 S. 2 StGB), weil damit ein unverhältnismäßig einschneidender Eingriff in ihre Lebensführung verbunden wäre. 69 Selbst bei zumutbaren Strafleistungen sind „die Wirkungen, die von der Strafe für künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind" (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB), in die Abwägung von Art und Höhe der Straf leistungen einzubeziehen. Auf der dritten Stufe ist schließlich zu prüfen, ob ein „öffentliches Interesse" dem Staat Anlaß gibt, den Schuldigen zu verfolgen und zu bestrafen oder zu maßregeln. Am staatlichen Strafverfolgungsbedürfnis fehlt es grundsätzlich bei leichten Vergehen, wenn die Schuld des Täters gering ist (vgl. § 153 StPO). Das Bedürfnis kann wegfallen, wenn der Täter die Funktionen der Strafe freiwillig weitgehend erfüllt, etwa den angerichteten Schaden wiedergutgemacht, beim Verletzten Abbitte geleistet oder sich therapeutischen Maßnahmen unterzogen hat (vgl. § 153 a StPO). 7 0

IV. Eine Strafe oder Maßregel kann niemals ausschließlich funktional, d. h. aus den günstigen Wirkungen legitimiert werden, die ihre Funktionen hervorbringen: aus der Bewährung der rechtlichen Ordnung, aus der Genugtuung für den Geschädigten und der Wiederherstellung des sozialen Friedens, aus der staatlichen Sorge um das gemeine Wohl. Stets bedarf sie zusätzlich konditionaler Legitimation durch die Wahrnehmung eines strafwürdigen Unrechts und die Ermittlung eines dafür schuldigen Täters. 1. Daß das funktionale Strafrechtsverständnis durch ein konditionales zu ergänzen ist, wird von Roxin und seinen Schülern mittelbar anerkannt - trotz ihrem Ansatz bei den „kriminalpolitischen Grundentscheidungen des Gesetz6 8 Im Gegensatz zum Zivilrecht unterscheidet das Strafrecht nicht zwischen der Verschuldensfähigkeit des Täters und der Zurechenbarkeit des dadurch begründeten Strafanspruchs. Nur die Verschuldensfähigkeit regeln die §§ 20, 21 StGB, die Zurechenbarkeit wird allenfalls prozessual im Rahmen der Verhandlungsfähigkeit geprüft. Materiell unterscheidet die Lehre dann zwar zwischen ,Strafempfänglichkeit' und ,Strafempfindlichkeit'; sie versteht unter ,Strafempfänglichkeit' jedoch die Bereitschaft des Straffälligen, „die Strafe in ihrer Sinn- und Zwecksetzung auf sich einwirken zu lassen" ( H e n k e l Strafempfindlichkeit und Strafempfänglichkeit des Angeklagten als Strafzumessungsgründe, FS für Lange, 1970, 179 ff, 180). Folgt man meinem Vorschlag, für diesen Sachverhalt den Begriff ,Strafbereitschaft' zu verwenden (Lampe [Fn. 36], 261), dann kann man den Begriff ,Strafempfänglichkeit' statt dessen, seinem Wortsinn entsprechend, zur Bezeichnung der Fähigkeit verwenden, Sinn und Zweck einer Bestrafung zu erkennen und sich davon beeinflussen zu lassen. In diesem Sinne Klee Die Zurechnungsfähigkeit als Strafempfänglichkeit, DStr 1943, 65 ff mwN. 6 9 Vgl. im einzelnen L K - G r i b b o h m StGB, "1993, § 56c Rn. 2; ferner BGH StV 1998, 658 mwN. 7 0 Siehe dazu auch Lampe (Fn. 36), 180 ff.

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gebers". Denn Roxins traditionelles Schuldverständnis bindet die konditionale Unrechtsbegründung zwangsläufig ins System ein, und von Roxins Schülern betont insbesondere Schünemann ständig „die Notwendigkeit eines mit rechtswissenschaftlichen Mitteln zu bestimmenden Rechtssystems", wozu er auch die Berücksichtigung von Unrechts- und schuldbegründenden Strukturen zählt. 7 1 Scheinbar ganz abgelehnt wird ein konditionales Strafrechtsverständnis dagegen von Jakobs, der sowohl seine Unrechts- als auch seine Schuldlehre strikt unter das Leitprinzip normativer „Zurechnung" stellt und die Legitimation hierfür ausschließlich aus dem ,Output' des Strafrechts, aus den Funktionen seiner Rechtsfolgen ableitet. Strafe sei, so sagt er, staatliche „Demonstration von Normgeltung auf Kosten eines Zuständigen". 7 2 Die Geltung der staatlichen N o r m e n bedürfe dieser Demonstration, damit das soziale Leben weiterhin verläßlich abläuft. Androhung und Verhängung der Strafe hätten daher lediglich die Bedeutung kenntlich zu machen, daß die Normgeltung auch nach einem N o r m b r u c h noch gesichert sei - der Bürger brauche sein Normvertrauen „im Fall der Enttäuschung nicht preiszugeben". 7 3 Daß ihm eine generalpräventive Legitimation des Strafrechts in Wahrheit nicht gelingt, zeigen die Zusatzannahmen, zu denen sich Jakobs bei der Durchführung seines funktionalen Ansatzes gezwungen sieht. 7 4 Innerhalb seiner Unrechtslehre setzt er z. B. voraus, daß die gegen Enttäuschung gesicherten Rechtsnormen nicht nur existent, sondern auch sozial nützlich sind und daß ihre Verletzung folglich einen Sozialschaden verursacht, 7 5 der nicht nur im Vertrauen auf ihre Gültigkeit besteht. 7 6 Ferner will er die Strafe nicht an jeden sozialschädlichen N o r m b r u c h anschließen, sondern nur an den Bruch von sozial besonders wichtigen Normen, „durch welche die Identität einer Gesellschaft, eines Staats oder eines Menschen (mit-)definiert w i r d " . 7 7 U n d schließlich soll der Staat die identitätsstiftenden N o r m e n nicht etwa nur deshalb mittels Strafe schützen, weil er ihr Urheber ist, sondern weil sie für die Sicherheit des sozialen Zusammenlebens innerhalb des staatlich kontrollierten Raums unverzichtbar sind. 7 8 All dies setzt Bewertungen voraus, die nicht auf den Funktionen, sondern auf dem Warum, auf den Konditionen staatlichen Strafens beruhen. Ein ebenfalls nur scheinbar rein funktionales Strafrechtsverständnis liegt Jakobs Schuldlehre zugrunde. Darin geht es an sich nur um die Frage, wer für 71

275. 72

Schünemann

(Fn. 12), 118 u. ö.; ders. (Fn. 15), 157. Siehe auch Wolter (Fn. 14b), 270f,

Jakobs (Fn. 15), 1/3. Jakobs (Fn. 15), 2/2. Ferner ders. Schuld und Prävention, 1976, 32: Generalprävention bedeutet „Bestätigung der Richtigkeit des Vertrauens in die Richtigkeit einer N o r m " . 7 4 Nur hierauf bezieht sich im folgenden meine Kritik. Ahnlich wie hier de Albuquerque Ein unausrottbares Mißverständnis, ZStW 110 (1998), 640 (652 ff mN). 75 Vgl Jakobs (Fn. 15), 2/7 ff, 15, 25. 7 6 Es geht deshalb bei der Strafe - entgegen Jakobs (Fn. 15), 1/2 — nicht nur „um eine Reaktion auf einen Normbruch", sondern auch um eine Reaktion auf die mit ihr verbundene soziale Schädigung bzw. auf ein (materiales) Unrecht oder eine im Rechtssinne „schlechte Tat". 77 Jakobs (Fn. 15), 3/1, auch 3/10. 78 Jakobs (Fn. 15), 1/4 ff. 73

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den Normbruch zuständig ist und wen deshalb die staatliche Strafe treffen soll. Doch Jakobs behauptet zusätzlich: „Die vom Schuldbegriff zu erbringende Leistung besteht in der Kennzeichnung der nicht rechtlichen Motivierung des Täters [im Zeitpunkt der Tat] als Grund des Konflikts." 79 Das widerspricht funktionaler Betrachtung, die statt dessen auf ein Sanktionsbedürfnis gegenüber dem Beschuldigten (im Zeitpunkt der Aburteilung) abstellen muß. Ein solches Bedürfnis wird sich sozialpsychologisch zwar meistens darauf stützen, daß der prozessual Beschuldigte als Urheber der Straftat identifiziert wird; es kann sich aber auch gegen ihn als Sündenbock anstelle eines nicht identifizierten oder eines zwar identifizierten, aber nicht verfolgbaren Urhebers richten.80 Jakobs macht somit zwar gesellschaftliche Bedürfnisse für die Bestrafung des Täters namhaft; er bindet die Zuständigkeit des Beschuldigten für deren Befriedigung aber daran, ob „er zur Zeit der Tat [!] ein Subjekt mit der Kompetenz ist, die Normgeltung in Abrede zu stellen"81 - woran es bei genereller Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder bei Unzumutbarkeit des Normgehorsams fehlen soll. 82 Abermals tritt somit zur funktionalen eine konditionale Begründung hinzu. Der Staat schließlich soll laut Jakobs die Initiative zur Bestrafung des Täters einzig darum ergreifen, damit das allgemeine Normvertrauen restabilisiert wird; 83 doch wieso dies die wirkliche Bestrafung des Täters statt einer nur in Szene gesetzten erfordert, wenn dadurch derselbe Effekt erreicht wird, bleibt unklar; Jakobs setzt es, offenbar aus Gründen des Verschuldens bei der Tatbegehung, voraus. Daher liegt in Wahrheit auch dem Unrechts- und Schuldverständnis von Jakobs ein kombiniertes System aus konditionalen (die Strafwürdigkeit begründenden) und funktionalen (die Strafbedürftigkeit begründenden) Elementen zugrunde. Daß Jakobs es nicht sichtbar macht, liegt meines Erachtens an einem Fehler in seinem Ansatz: Er fragt gegenüber den traditionellen Lehren mit Recht, ob Unrecht und Schuld wirklich „zweckfrei" zu verstehen seien; er zieht jedoch aus der richtigen Verneinung der Frage den falschen Schluß, daß sie nur zweckhaft verstanden werden dürften.84 Logisch korrekt setzt der Schluß ein ,tertium non datur' voraus, und an dieser Prämisse mangelt es -

Jakobs (Fn. 15), 17/18. Deshalb ist nicht ganz richtig, wenn Roxin (Fn. 16, § 19 Rn. 34) behauptet, daß die Schuldlehre von Jakobs „die strafbarkeitseinschränkende Funktion des Schuldprinzips ... preisgibt". Jakobs ist insoweit keineswegs konsequent, sondern setzt ein „Manko an Rechtstreue" beim Beschuldigten als Grund für die Tat voraus (vgl. 17/20). 81 Jakobs (Fn. 15), 17/48. 82 Jakobs (Fn. 15), 17/48 ff, 17/53 ff. Auch insoweit stellt Jakobs also auf den Tatzeitpunkt ab, obwohl er in 17/21 Fn. 46 erklärt: „Schuldzuschreibung heißt nicht, eine vor der Zurechnung schon irgendwo vorhandene Schuld werde verteilt ..., sondern daß durch die Zuschreibung Schuld zur Entstehung gebracht wird." Vgl. dazu auch Engisch Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 2 1965, 58; Schöneborn (Fn. 25), 351 ff; Burkhardt (Fn. 25), 637. 83 Jakobs (Fn. 15), 17/31. 84 Jakobs (Fn. 73), 14: „Nur der Zweck gibt dem Schuldbegriff Inhalt." 79

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wie ein Blick auf Roxins Strafrechtssystem lehrt, das beide Aspekte, den funktionalen wie den konditionalen, miteinander vereinigt. Deshalb wollen wir uns ihm jetzt wieder zuwenden, um noch kurz das Wie des Zusammenspiels von funktionalen und konditionalen Aspekten zu betrachten. 2. Ausgangspunkt auf der Ebene des Unrechts ist für Roxin die Frage „nach der inhaltlichen Qualität strafbaren Handelns". Die Antwort hierauf gebe, so behauptet er, dem Gesetzgeber einen „kriminalpolitischen Maßstab" vor, „was er bestrafen darf und was er straflos lassen soll". 8 5 Das ist zumindest mißverständlich formuliert. Ein Maßstab, der dem Gesetzgeber vorgegeben ist, ist kein „kriminalpolitischer Maßstab", sondern ein ,Maßstab für die Kriminalpolitik'. Roxin will - so scheint es mir jedenfalls - sagen, daß der Gesetzgeber seine Kriminalpolitik nicht nach freiem Ermessen, sondern so betreiben soll, daß er den sozial vorhandenen (und damit vorgegebenen) Rechtsgütern 8 6 den ihnen zukommenden 8 7 strafrechtlichen Schutz gewährt. Damit jedoch bezieht Roxin - in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Auffassung - den konditionalen Aspekt des Unrechts in sein Strafverständnis ein. U n d es kommt daher auch für ihn darauf an, wie sich das Zusammenspiel zwischen beiden Betrachtungsweisen, der funktionalen und der konditionalen, gestaltet. Auszugehen ist dabei von der durch funktionale Betrachtung gewonnenen Dreistufigkeit der Unrechtsbewertung. Auf der ersten Bewertungsstufe setzt die Zurechnung von Rechtsfolgen konditional voraus, daß eine Tat als ,Unrecht' bewertet und damit rechtserheblich ist. Infolge der sozialen Friedensfunktion des Rechts ist sie es dann, wenn daraus ein sozialer Konflikt entsteht. Da das soziale Leben sowohl durch ,soziale Prozesse', d. h. durch Prozesse sozialer Annäherung oder Abwendung, als auch durch ,soziale Erwartungen', d. h. durch Erwartungen sozialer Annäherung oder Abwendung, gestaltet wird, kann entweder ein Prozeß sozialer Abwendung oder die Enttäuschung einer sozialen Annäherungserwartung einen solchen Konflikt hervorbringen. 88 In beiden Fällen besteht dann die Funktion der Rechtsordnung darin, den Konflikt zu lösen und ihn in einen sozialen Friedenszustand zu überführen. Wir gelangen auf dieser Stufe folglich zu einem einheitlichen - teils konditional, teils funktional begründeten - Verständnis von Rechtswidrigkeit im Sinne eines ,folgebedürftigen Unrechts'. Bisher war es schwer, wenn nicht gar unmöglich, innerhalb des Strafrechtssystems einen einheitlichen Rechtswidrigkeitsbegriff zu entwickeln. Auf der einen Seite verlangt nämlich die Notwehrbestimmung (§ 32 StGB) einen „rechtswidrigen Angriff", d. h. daß aus ,objektiver' Sicht eine Rechtsgutsbeeinträchtigung droht. Auf der anderen Seite erfordert die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs, daß der Täter rechtswidrig handelt, obwohl eine Rechtsgutsbedrohung gerade nicht,objektiv', sondern nur,subjektiv' von ihm ausgeht. Der dafür notwen85

Roxin (Fn. 16), § 2 Rn. 1. Roxin (Fn. 16), § 2 Rn. 9: „kriminalpolitisch verbindlicher Rechtsgutsbegriff" (= für die Kriminalpolitik verbindlicher Rechtsgutsbegriff). 87 Roxin (Fn. 16), § 2 Rn. 36 f. 88 Dazu näher Lampe (Fn. 17), 96 ff Siehe ferner unten V a. E. 86

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dige Perspektivenwechsel ist auf der Stufe strafbaren Unrechts unmöglich, da dort stets ein subjektives Unrechtselement (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) vorausgesetzt wird (,personaler' Unrechtsbegriff). Auf der Stufe der allgemeinen Rechtswidrigkeit dagegen besteht die Möglichkeit eines solchen Perspektivenwechsels, weil hier die soziale Sicht einen Maßstab setzt, der weder allein auf die objektive Notsituation des Angegriffenen noch allein auf die subjektive Sicht des Angreifers abstellt.89

Auf der zweiten Bewertungsstufe setzt die Zurechnung einer Strafe konditional voraus, daß der rechtswidrige Sozialprozeß, der den Konflikt verursacht hat, 90 strafwürdig ist. Welche Sozialprozesse strafwürdig sind, entscheidet zwar letzthin der Gesetzgeber („nulluni crimen sine lege"). Seine Entscheidung aber ergeht auf einer überpositiven Grundlage: 91 auf der Grundlage des materialen Strafunrechts, das anschließend auch für die Auslegung der Gesetzesnormen leitend ist. Welche Merkmale es notwendig zu umfassen hat, bestimmt die strafrechtliche Dogmatik, die ihrerseits sozial- und personal-ontologische Erkenntnisse berücksichtigt. Einzuordnen sind hier unter anderem die Begriffe ,Person', ,Handlung', ,Kausalität' und ,Rechtsgut'. Welche Merkmale hinreichend sind, um Strafunrecht zu begründen, darüber entscheiden kulturelle Anschauung sowie gewisse formelle Kriterien wie die innere Konsistenz der Rechtsordnung, ihre hinreichende Komplexität u. ä., letzthin aber der Wille des Gesetzgebers bzw. die Rechtsüberzeugung des Richters. Funktion der Strafe ist es dann, das aufgrund der Strafwürdigkeit entstandene soziale Strafbedürfnis zu befriedigen. Fehlt es an hinreichenden Merkmalen, ist die Strafwürdigkeit einer Tat zu verneinen. Das gilt sowohl für den zur Entscheidung aufgerufenen Richter, wenn er eine Tat zwar dem Wortlaut eines Straftatbestands subsumieren kann, ihr Unrechtsgehalt jedoch nicht die für eine Bestrafung erforderliche Höhenmarke erreicht, als auch dann, wenn Tatsachen vorliegen, die einer Rechtfertigung nahekommen, aber von keinem Rechtfertigungsgrund erfaßt werden man denke an die .notstandsähnliche Lage', welche zwar die allgemeine Rechtswidrigkeit der Tat bestehen, es jedoch als unangemessen erscheinen läßt, die Tat mit Strafe zu ahnden.92

Auf der dritten Bewertungsstufe des Unrechts geht es um die staatliche Aufgabe der ,Kontrollvorsorge' mittels Strafverfolgung. Sie wird konditional dadurch legitimiert, daß ein strafwürdiges Unrecht ein .öffentliches Interesse' an staatlicher Strafverfolgung erzeugt. 93 Der Gesetzgeber hat hierzu lediglich sporadisch Stellung genommen, beispielsweise in einigen der sogenannten ,ob-

8 9 Genauer zur Problematik H. J. Hirsch Die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs, FS für Dreher, 1977, 211 ff; Schönke/Schröder/Lenckner StGB, "1997, § 32 Rn. 1, 1 a, 19 ff. 9 0 Gleiches gilt für die rechtswidrige Enttäuschung einer sozialen Erwartung. 91 Vgl. dazu Lampe Gedanken zum materiellen Straftatbegriff, FS für Schmitt, 1992, 77 (80 ff); ders. (Fn. 35), 157 ff. 9 2 Vgl. Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, 326 ff; dagegen allerdings Roxin Die notstandsähnliche Lage - ein Strafunrechtsausschließungsgrund?, FS für Oehler, 1985, 181 ff. 93 Bloy Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, 239 ff.

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jektiven Strafbarkeitsbedingungen'. 9 4 Im übrigen obliegt es den Strafverfolgungsbehörden, die Strafverfolgungswürdigkeit einer Straftat zu prüfen, wofür Kriterien einesteils die Schwere des begangenen Unrechts, andernteils die öffentlichen Bedeutung des Konflikts sind. 9 5 Bei schweren Delikten ist die Strafverfolgungswürdigkeit grundsätzlich zu bejahen (§ 152 Abs. 2 StPO). Bei Bagatelltaten dagegen kann sie fehlen, weil das verletzte Rechtsgut zu geringwertig ist, um staatliches Eingreifen zu begründen. Wird sie bejaht, können dennoch aus funktionaler Sicht Art oder Umstände der Rechtsgutsverletzung kein staatliches Strafverfolgungsbedürfnis aufkommen lassen und damit die Strafverfolgung ausschließen. 3. Wie das Unrecht, erfordert auch die Schuld aus funktionaler Sicht eine dreistufige Bewertung Sie gilt indessen nicht nur der Strafbedürftigkeit, sondern auch der Strafwürdigkeit des Täters. Auf der ersten Stufe steht, was die herrschende Lehre als Grund sowohl für den Schuldvorwurf als auch für die Zurechnung von Rechtsfolgen betrachtet und was sie als ,Anders-handeln-können' bezeichnet: 96 die Willensfreiheit des Täters im Zeitpunkt seiner Tat. 97 Ferner sind hier unter konditionalem Aspekt die gesetzlichen Schuldausschließungsgründe sowie allgemein die Frage zu prüfen, ob es dem Täter von Rechts wegen zugemutet werden konnte, von seiner Willensfreiheit im Interesse des Rechtsgüterschutzes Gebrauch zu machen - was wiederum Voraussetzung für die weitere funktionale Prüfung ist, ob dem Täter die im Gesetz vorgesehene Rechtsfolge zugerechnet werden kann. Parallel zur Unrechtswertung gelangen wir also auf dieser ersten Stufe zu einem einheitlichen, nämlich sowohl für das private als auch für das öffentliche Recht geltenden, Verschuldens- und Zurechnungsbegriff. Auf der zweiten Bewertungsstufe ist zu prüfen, ob das Verschulden des Täters außer seiner generellen rechtlichen Verantwortlichkeit auch speziell seine Bestrafung begründet. Konditionale Voraussetzung dafür ist, daß der Täter im Zeitpunkt der Tat strafschuldfähig war, d. h. einsehen konnte, daß er ein Strafunrecht begeht, und daß es ihm bei Strafe zumutbar war, dies zu vermeiden. Daran fehlt es unter anderem beim Vorliegen speziell strafrechtlicher Entschuldigungsgründe (§§ 33, 35 StGB). Funktionale Voraussetzung ist, daß der Beschuldigte im Zeitpunkt seiner Verurteilung zurechnungsfähig ist, d. h. einsehen kann, daß er eine Strafe auf sich nehmen muß, und daß es ihm zumutbar ist, eine Strafleistung zu erbringen. 9 4 Diese sind daher - entgegen der landläufigen Auffassung - nicht einer besonderen Strafbegründungskategorie neben Unrecht und Schuld, schon gar nicht dem Prozeßrecht, sondern teils dem Unrecht, teils der Schuld im Rahmen der Verfolgbarkeitsprüfung zuzurechnen. Eingehend und noch genauer differenzierend Roxin (Fn. 16), § 23. 9 5 Mit Recht weist Jakobs (Fn. 15), 1/8, ausdrücklich hierauf hin. 9 6 Was richtiger allerdings als ,Nicht-so-handeln-müssen' bezeichnet werden sollte. 9 7 Was gegen diese Auffassung von Roxin (Fn. 16, § 19 Rn. 20 f) an Argumenten vorgebracht wird, muß hier dahinstehen. Die herrschende Lehre sieht m. E. mit Recht keine Möglichkeit, anders als auf der Grundlage der Willensfreiheit zu einem Schuldvorwurf gegenüber dem Täter zu gelangen. Vgl. etwa LK-Jescheck StGB, " 1 9 9 3 , vor § 13 Rn. 73 mN.

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Auf einer dritten Bewertungsstufe endlich ist festzustellen, ob Gründe des öffentlichen Interesses' die Bestrafung des Beschuldigten durch den Staat bzw. (neben der Strafe oder an deren Stelle) staatliche Maßregeln der Besserung (§ 61 StGB) legitimieren. 98 Konditionale Voraussetzung dafür ist, daß der Beschuldigte im Zeitpunkt seiner Tat staatlicher Verfolgungsmacht unterlag. Daran fehlt es objektiv im Fall seiner Indemnität (§§ 36 f StGB), subjektiv dann, wenn er sich trotz seiner Tat als staatstreuer Bürger verhalten, insbesondere seiner Informationspflicht hinsichtlich der staatlichen Verbotsnormen genügt h a t . " Bei schwerwiegenden eigenen Rechtsverstößen verliert unter Umständen der Staat die Legitimation, den Strafanspruch gegen den Täter geltend zu machen. 100 Funktional bedarf es darüber hinaus eines staatliches Verfolgungsbedürfnisses gegenüber dem Beschuldigten, woran es bei geringer Strafschuld grundsätzlich fehlt.

V. Ich rekapituliere: Die Zweiteilung der Strafrechtsnormen in Unrechtstat und Straffolge bedingt die zweifache Prüfung, - ob die Tat rechtswidrig, strafwürdig und von Staats wegen verfolgungswürdig ist, - ob sie allgemein einer Rechtsfolge, speziell einer Strafe und darüber hinaus staatlicher Verfolgung bedarf. Die Zweiteilung der personalen Beschuldigung in Schuldvorwurf und Strafzumutung (Bestrafungsfolge) bedingt die zweifache Prüfung, - ob der Täter im Zeitpunkt der Tat verantwortlich und strafwürdig handelte und ob er deswegen von Staats wegen verfolgt werden darf; - ob ihm im Zeitpunkt der Aburteilung eine Rechtsfolge und speziell eine Strafleistung auferlegt und ob die Erfüllung der Strafleistung darüber hinaus vom Staat vollstreckt werden soll. Die jeweils doppelte Prüfung erfordert die Beachtung einer spezifischen Prüfungsmethode, welche die Relevanz nicht nur des der Aburteilung vorausgehenden, sondern auch des der Aburteilung nachfolgenden Geschehens in Betracht zieht. Derzeit scheint diese Methode ihren klarsten dogmatischen A u s d r u c k in der Lehre von der objektiven

Zurechnung z u finden. Roxin jeden-

Schönke/Schröder/Stree StGB, 2 5 1997, vor § 61 Rn. 2 mN. Siehe zur Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums aufgrund der Erkundigungspflicht Roxin (Fn. 16), § 21 Rn. 37 ff. Vgl. auch § 113 Abs. 4 S. 2 StGB. 100 Vgl dazu I. Roxin Die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße in der Strafrechtspflege, 1988, 106 ff; C. Roxin Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Strafverfahrensrecht. Ein Rückblick auf 40 Jahre, in: Jauernig/Roxin, 40 Jahre Bundesgerichtshof, 1991, 66 (84 ff). 98 99

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falls nimmt diese Lehre, die auch sonst weitgehend Anklang gefunden hat, ausdrücklich als „Kernstück" für ein funktionales Strafrechtssystem in Anspruch. 101 Dieser Einschätzung kann ich nicht folgen. Gemäß ihrer knappen Darstellung im Lehrbuch von Beulke geht es der Lehre von der objektiven Zurechnung um die Frage, „ob ein sozialschädlicher Erfolg dem Täter unter Berücksichtigung des menschlichen Leistungsvermögens als ,sein Werk' zugerechnet werden darf". 1 0 2 Der Fragestellung, so heißt es weiter, liege die Einsicht zugrunde, „daß für das Strafrecht mit seinen einschneidenden Sanktionen [!] nicht allein das Verhältnis von Ursache und Wirkung ... wesentlich ist", sondern daß ein Erfolg erst dann einer Person zugerechnet werden kann, wenn sie „eine rechtlich relevante Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert". 103 Das alles scheint Roxins Meinung zu bestätigen, daß die Lehre Konsequenz eines funktionalen Strafrechtsverständnisses ist. Denn zumindest auf der zweiten Stufe der Unrechtsprüfung hat der Rechtsanwender die Frage nach der Zurechenbarkeit des sozialschädlichen Erfolges im Hinblick auf „das Strafrecht mit seinen einschneidenden Sanktionen" zu beantworten. Zweifel an der Richtigkeit dieser Einschätzung ergeben sich jedoch daraus, daß der Rechtsanwender anschließend die „einschneidenden Sanktionen" wohl oder übel auf den „dem Täter ... als sein ,Werk'" zugerechneten sozialschädlichen Erfolg gründen muß. Tatzurechnung und Strafzumessung liefern sich danach wechselseitig die Gründe. Die Lehre von der objektiven Zurechnung propagiert, so gesehen, eine zirkuläre Methode, die wissenschaftlich unzulässig ist, weil sie das Ergebnis dem Rechtsempfinden des Gesetzesanwenders anheimstellt. Dennoch ist die Lehre von der objektiven Zurechnung deshalb nicht zu verwerfen. In einem anderen methodischen Zusammenhang läßt sie sich vielmehr aufrechterhalten - allerdings gerade nicht als kriminalpolitisch begründete Lehre, sondern als Lehre von den sozialontologischen Vorgegebenheiten, an die jede strafrechtliche Systembildung (ebenfalls) anknüpfen muß. Der methodische Zusammenhang, in den die Lehre zu stellen ist, ist der aus Verbrechen und Strafe gebildete soziale Regelkreis. Was allgemein ein Regelkreis ist und wie er funktioniert, läßt sich am Beispiel der Temperaturregelung mittels Raumthermostats gut demonstrieren. Vorgegeben sind dort ein bestimmter ,Soll'-Wert, nämlich die Raumtemperatur, und eine Regelungseinrichtung, nämlich der Thermostat. Das Regelungssystem besteht darin, daß die Regelungseinrichtung den ,Ist'-Wert, die Temperatur im Raum, darauf kontrolliert, ob sie dem ,Soll'-Wert entspricht, und daß sie, wenn das nicht der Fall ist, eine Heizquelle ein- oder ausschaltet. Was speziell ein sozialer Regelkreis ist und wie er funktioniert, läßt sich schwieriger darstellen. Ich begnüge mich hier mit einer vereinfachenden Analogie zum physikalischen Modell. 104 Danach müssen ein bestimmter sozialer ,Soll'-Wert und eine soziale ,Regelungseinrichtung'

Roxin (Fn. 16), § 7 Rn. 25 f. Wessels/Beulke Strafrecht AT, " 1 9 9 9 , Rn. 176. Ähnlich Roxin (Fn. 16), § 10 Rn. 55. 103 Wessels/Beulke (Fn. 102), Rn. 179. Ebenso Roxin (Fn. 16), § 11 Rn. 43. 1 0 4 Die Analogie ist zu einfach. An anderer Stelle habe ich mich um eine Verbesserung bemüht, vgl. Lampe (Fn. 36), 56 ff, 62 ff. 101 102

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Ernst-Joachim L a m p e

vorgegeben sein. Den ,Soll'-Wert kann man in Anlehnung an das gebrachte Beispiel als das vom Staat kontrollierte ,soziale Klima' bezeichnen, das im Interesse des gemeinen Wohls aufrechterhalten werden muß. Da gewisse Unrechtstaten das ,soziale Klima' in unerträglicher Weise vergiften, muß der Staat durch Einschaltung einer ,Regelungseinrichtung', nämlich der Strafrechtsordnung, Abhilfe schaffen. Der Staat erklärt daher die Taten zu ,Verbrechen' und ahndet sie mit dem Maß an ,Strafe', das erforderlich ist, um das dem Gemeinwohl entsprechende ,soziale Klima' wiederherzustellen.

Bereits das vereinfachte Modell des sozialen Regelkreises verdeutlicht, woran es der Lehre von der objektiven Zurechnung in der ihr von Beulke gegebenen Fassung fehlt: am Bezug auf einen vorgegebenen sozialen ,Soll'Wert, anhand dessen sowohl der Gesetzgeber als auch der Richter ermessen können, was strafbares Unrecht ist und welche Strafe ihm folgen muß. Diesen ,Soll'-Wert habe ich an anderer Stelle im Anschluß an Stammler als „soziale Harmonie" bezeichnet. 105 Von ihm als Bezugspunkt aus hat der Gesetzgeber die notwendigen und der Richter die hinreichenden Bedingungen sowohl für das sozialmoralisch strafbare Unrecht als auch für die kriminalpolitisch unrechtsadäquate Strafe zu bestimmen. Was die Lehre von der objektiven Zurechnung dabei als Hilfestellung anbietet, sind Kriterien für die mögliche Einordnung eines sozialen Prozesses in das sozialmoralisch strafbare Unrecht. Die Kriterien haben - entgegen der Auffassung von Roxin - mit Kriminalpolitik und folgeweise auch mit funktionalem Strafrechtsverständnis nichts zu tun. Denn als „Verwirklichung einer vom Täter geschaffenen, nicht durch ein erlaubtes Risiko gedeckten Gefahr innerhalb der Reichweite des Tatbestandes" 106 umreißen sie den durch die soziale Schwäche des Menschen hervorgerufenen, kriminalpolitisch zu lösenden Sozialkonflikt, nicht dagegen den Weg zu dessen Lösung. Sie konkretisieren lediglich den ,Prozeß sozialer Abwendung', von dem oben die Rede war, nicht aber die Strafe, die ihm folgen muß. Ihre dogmatische Anerkennung als Voraussetzung allen strafbaren Unrechts ist somit nur der unumgängliche Tribut, den ein funktionales Strafrechtsverständnis einer sozialontologisch begründeten Unrechtslehre zollen muß, um die ,zweckrationale Strafe' rechtfertigen zu können. Deshalb wird die kriminalpolitisch bzw. ,zweckrational' richtige Strafe dadurch auch noch nicht bestimmt. Dies zu leisten ist vielmehr erst Aufgabe einer sozialanthropologisch und letzthin philosophisch fundierten Strafbemessungsund Strafzumessungslehre 107 und, soweit diese die Entscheidung offenläßt, einer in die Zukunft vorausweisenden Strafpolitik. An welchen ,zweckrationalen' Kriterien beide sich zu orientieren haben, muß hier aus Raumgründen offenbleiben. Die strafrechtliche Systembildung wird davon über das bereits benannte Maß hinaus meines Erachtens nicht berührt.

105

Lampe Gemeines Wohl und menschliche Würde, A R S P 1988, 283 (302). Roxin (Fn. 16), § 11 Rn. 44. 1 0 7 Für eine Verlängerung des Strafrechtssystems in das Strafzumessungssystem hinein auch Wolter (Fn. 14 b), 273. 106

Zur funktionalen Begründung des Verbrechenssystems

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VI. Ich versuche ein abschließendes Fazit: Das Verbrechenssystem wird vom Gesetzgeber nicht nur im Hinblick auf die Konditionen strafbaren Verhaltens, sondern auch im Hinblick auf die Funktionen der Strafen und Maßregeln gestaltet. Diese Funktionen sind teils sozialanthropologisch programmiert und insoweit jeder Rechtssetzung vorgegeben, teils steht ihre Ausgestaltung (einschließlich ihres Verhältnisses zueinander) der sozialethischen und kriminalpolitischen Entscheidung offen. Dabei ist es eine Frage der (teilweise verfassungsrechtlich gebundenen) Abwägung, inwieweit eine sozialethische und kriminalpolitische Entscheidung vom Gesetzgeber selbst getroffen oder an den Richter delegiert werden soll. Wie auch sonst k o m m t es der Einzelfallgerechtigkeit zugute, wenn der Richter die Entscheidung trifft; dagegen fördert es die Rechtssicherheit, wenn der Richter an gesetzgeberische Vorgaben gebunden wird. D e r deutsche Gesetzgeber hat in § 46 S t G B meines Erachtens keine klare Kompetenzverteilung getroffen, auf jeden Fall aber dem Richter ein weites E r messen zugebilligt. Die teils vorgegebenen, teils zweckhaft vorgesetzten Funktionen der Strafen und Maßregeln wirken auf das Strafrechtssystem in der Weise ein, daß V e r brechen' nur ist, was unter funktionalem Aspekt als (1) rechtlich sanktionsbedürftig, (2) strafbedürftig und (3) staatlich verfolgungsbedürftig erscheint. Eine ,Schuld' wird demgemäß unter funktionalem Aspekt nur dann begründet, wenn einer Person (1) eine rechtliche Sanktion (2) in F o r m einer Strafe zugemutet werden kann, welche (3) vom Staat verhängt und vollstreckt wird. Das Strafrechtssystem kann jedoch nicht ausschließlich funktional begründet werden; in jüngster Zeit unternommene Versuche müssen als gescheitert gelten. Zusätzliche Voraussetzung ist vielmehr, daß gewisse Konditionen für die Annahme vorhanden sind, daß ein strafbares ,Unrecht' vorliegt und daß eine Person strafbar ,schuldig' geworden ist. ,Unrecht' als Voraussetzung für Strafe verlangt danach (1) die rechtliche Verbots- oder Gebotswidrigkeit einer Tat, (2) ihre Strafwürdigkeit sowie (3) ein legitimes Verfolgungsinteresse des Staates.,Schuld' als Voraussetzung für eine Bestrafung ist dementsprechend die vergeblich gebliebene Zumutung an eine Person, im Zeitpunkt der Tat (1) sich normgemäß zu verhalten, (2) die Strafwürdigkeit ihres normwidrigen Verhaltens zu erkennen und (3) dem normsetzenden Staat gegenüber die Treue zu bewahren. Die doppelte - sowohl funktionale als auch konditionale — Begründung des Strafrechtssystems wirkt sich nicht nur auf das Verständnis der Systemkategorien, sondern auch auf die Interpretation der wesentlichen Straftatmerkmale aus. Die Lehre von der objektiven Zurechnung weist ihr allerdings nicht den richtigen Weg, da sie entweder, funktional verstanden, in einen Zirkelschluß mündet oder aber, konditional verstanden, gar keine Zurechnungslehre ist, sondern die sozialontologischen Konditionen strafbaren Verhaltens benennt. Statt dessen hat die Interpretation die Merkmale von ,Unrecht' und ,Strafe',,Schuld' und ,Bestrafung' als Bestandteile eines staatlich gewährleisteten Regelungskrei-

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Ernst-Joachim Lampe

ses zu begreifen, dessen G r u n d die soziale Schwäche des Menschen und dessen Funktion die Aufrechterhaltung eines unumgänglichen Maßes an sozialer H a r monie ist. Mit diesem an Kritik nicht sparenden, für das Anliegen aber grundsätzliche Z u s t i m m u n g bekundenden Fazit beschließe ich meinen Beitrag, der Claus Roxin z u m 70. Geburtstag mit herzlichen Glückwünschen in alter Verbundenheit und Verehrung dargebracht sei.

Über die Verknüpfungen von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (Ontologismus versus N o r m a t i v i s m u s ? )

MOISÉS MORENO HERNÁNDEZ

A. Problematik und E i n f ü h r u n g ins T h e m a I. Der aktuelle

Diskussionshintergrund

1. Mit großer Regelmäßigkeit ist darauf hingewiesen worden, daß zwischen der Strafrechtsdogmatik und der Kriminalpolitik praktisch keine enge Verknüpfung bestanden hat, sondern daß beide sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Hierbei ist besonders hervorzuheben, daß die Strafrechtsdogmatik sich weit von der Realität entfernt gehalten hat. Aus diesem Grund wird in letzter Zeit versucht, diese Verknüpfung zwischen Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik 1 herzustellen und die jeweiligen Anwendungsbereiche und Charakteristiken zu präzisieren, wobei gleichzeitig die maßgeblichen Kriterien erörtert werden. Unter den dogmatischen Kriterien, die zur Straftat und den Elementen, aus denen sich diese zusammensetzt, entwickelt wurden, ragen jene heraus, die durch bekannte Systeme dargestellt werden: kausalistisch, finalistisch und funktionalistisch. Auf der anderen Seite wird bestätigt, daß aufgrund der Ablehnung des Finalismus und seiner Methodologie in letzter Zeit der Funktionalismus einen beträchtlichen Aufschwung genommen hat; und dies, obwohl dieses theoretische Konzept in seiner Entwicklung zwei verschiedene Richtungen eingeschlagen hat: Eine dieser zwei Richtungen beruht auf der Lehre von Roxin, der das Strafrecht an der Kriminalpolitik orientiert und sich von der deduktiv-axiomatischen Methode des Finalismus distanziert, welche wegen ihrer Behandlung rechtlicher Probleme als grundsätzlich logisch-abstrakter 2 Probleme kritisiert 1 Wie von Silva Sdnchez bestätigt wird, scheinen in der heutigen Zeit „wenige bereit zu sein, die Zweckmäßigkeit der Integration von kriminalpolitischen Überlegungen in die Konstruktion des Strafsystems und die Tatsache, daß seinen Kategorien Inhalte gegeben werden müssen, zurückzuweisen"; siehe Silva Sdnchez (Hrsg.), Politica criminal y nuevo Derecho penal (Buch zu Ehren Claus Roxins), Barcelona 1997, 18. 2 Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, '1971; Übersetzung ins Spanische von Munoz Conde: Politica Criminal y Sistema del Derecho Penal, Barcelona 1972.

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Moisés Moreno Hernández

wird. Die zweite Richtung beruht vorwiegend auf der Lehre von Jakobs, der sich in seiner Kritik am Finalismus auf dessen ontologische Methode bezieht, da diese den Gesetzgeber - und die eigentliche Wissenschaft des Strafrechts mit den logisch-objektiven Strukturen in Verbindung sieht, wobei Jakobs nahezu triumphierend betont, daß wir Zeugen des Niedergangs der Dogmatik seien, die sich auf die Ontologie beruft.3 Beide, Roxin und Jakobs, sind Vertreter des Funktionalismus und folgen zweifellos in ihren systematischen Konstruktionen einem klaren hegelianischen Einfluss, wobei jedoch auch neukantianisches Gedankengut der Philosophie der Werte zu finden ist, so daß beide gleichzeitig, und zwar aufgrund der Ablehnung des Finalismus, dem normativen oder teleologischen Aspekt der verschiedenen Begriffe, namentlich des Begriffs der Straftat und des Strafgrundes den Vorrang geben. Vor diesem Hintergrund wird versucht, für diese Anschauungsweise, die als eine neue Phase in der Entwicklung der Strafrechtsdogmatik angesehen wird, das teleologische (funktionale) System des Strafrechts, das seinen Anfang in dem sogenannten „neoklassischen (oder „teleologischen") System" des Neukantianismus hat, zum Höhepunkt zu führen und die Kategorien des Systems zu erarbeiten, indem man sie an den kriminalpolitischen Zielsetzungen des Strafrechts orientiert, damit dem Juristen flexible Konzepte zur Verfügung stehen.4 Abgesehen von den grundlegenden Übereinstimmungen oder den stark miteinander verwandten Elementen der beiden Denkweisen können jedoch auch einige wichtige Unterschiede zwischen ihnen herausgestellt werden. Diese haben ihren Ursprung nicht so sehr in der Methode an sich, sondern vielmehr in den politisch-kriminologischen Prämissen, auf die sie sich beziehen.5 Man kann also sagen, daß der Unterschied zwischen den Denkweisen von Roxin und Jakobs auf dem folgenden beruht: Ersterer geht von der Notwendigkeit aus, die Dogmatik an der Kriminalpolitik zu orientieren, und integriert die politisch-kriminologischen Absichten auf eine umfangreichere Weise, da er sein System nicht nur am Zweck der Strafe, sondern generell an den Absichten des Strafrechts orientiert, welche zweifellos weiter reichen als der Zweck der Strafe. Dagegen akzeptiert Jakobs, der von der Notwendigkeit einer Renormativierung ausgeht, ohne größere Einschränkungen die Funktion der PräventionsNeubegründung Integration, welche die Strafe als Grundlage der normativen der Kategorien und Begriffe sieht. Als ein weiterer Unterschied kann angeführt werden, daß das normativistische Konzept von Roxin, im Gegensatz zu dem Konzept von Jakobs, gewisse äußere Beschränkungen, wie zum Beispiel Inhalte materiellen Charakters, eingesteht.

Vgl .Jakobs Strafrecht AT, 1983, Vorwort S. V. Siehe ]escheck Lehrbuch des Strafrechts, 4. Aufl. 1988, 184; Scbünemann El sistema moderno del derecho penal: cuestiones fundamentales, (Studien zu Ehren von Claus Roxin anläßlich seines 50. Geburtstags), Madrid 1991, 77 ff; Silva Sánchez El sistema moderno del derecho penal: cuestiones fundamentales, ibid., 20. 5 Vgl. Silva Sánchez (Fn. 4), 20. 3 4

Über die Verknüpfungen von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik

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2. Es ist für mich eine große Ehre, die Möglichkeit zu haben, mich an diesem äußerst wichtigen Werk zu Ehren eines der hervorragendsten Strafrechtler unserer Zeit, nämlich Claus Roxin, aktiv zu beteiligen. Diese Gelegenheit möchte ich nutzen, um einige Aspekte dieses interessanten Themas anzusprechen und speziell unter dem Blickwinkel der von einem demokratischen Rechtsstaat an das Strafrecht gestellten Anforderungen zu diskutieren. II. Einige Ansatzpunkte,

auf denen die Auffassung

von Roxin basiert

1. Claus Roxin stellt seine Ideen zur Neustrukturierung der grundlegenden Kategorien des Strafrechts unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten zum ersten Mal und auf eine klare Art und Weise im Jahre 1970 in seiner bekannten monographischen Studie „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem"6 dar. Diese Ideen werden im Laufe der Zeit in verschiedenen seiner Werke konsolidiert, bis es schließlich zur Veröffentlichung seines „Strafrecht AT" (1991) 7 und seines Artikels „Zur kriminalpolitischen Fundierung des Strafrechtssystems" (1998) 8 kommt. Schon in seiner Veröffentlichung aus dem Jahre 1970 stellt Roxin folgendes fest: „Die kriminalpolitischen Probleme sind Teil des eigentlichen Inhalts der allgemeinen Verbrechenstheorie". Vor diesem Hintergrund müssen die traditionellen Kategorien bezüglich der Deliktsstruktur, nämlich Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, von Anfang an unter dem Aspekt ihrer kriminalpolitischen Funktion systematisiert, entwickelt und betrachtet werden. Daraus läßt sich eindeutig folgern, daß die Idee Roxins darin besteht, „in einer Synthese die systematische und die problemorientierte Denkweise" 9 zusammenzubringen, d. h., die systematische Denkweise an die Realität anzunähern. 2. Um diese Behauptungen aufzustellen, hebt Roxin die Krise hervor, die der systematische Ansatz im allgemeinen und die Deliktstheorie im besonderen durchläuft. So gibt er sogar denen Recht, die nicht mehr „an die Resultate glauben, die von höhereren systematischen Konzepten abgeleitet werden", und die, analog dazu, der Meinung sind, daß „solche Kategorien von wenig praktischem Nutzen sind". Ein Beispiel dafür wäre der Handlungsbegriff10, über welchen im Rahmen des Kausalismus und Finalismus ausgiebig diskutiert worden ist. Laut Roxin hat diese Diskussion jedoch nicht deutlich genug die Gegensätzlichkeit zwischen dem Bleibenden und dem Vergänglichen herausstellen können, und das, obwohl Welzel die Existenz der sachlogischen Strukturen als „permanente Strukturen" dargestellt hat, an die sogar der Gesetzgeber gebunSiehe Fn. 2. Roxin Strafrecht AT I, 1991; Ubersetzung ins Spanische von Luzón Peña u. a.: Derecho Penal Parte General, t. I, Fundamentos. La estructura de la teoría del delito, Madrid 1997. 8 Die Ubersetzung ins Spanische durch Abanto Vázquez ist in dem Buch: Dogmática Penal y Política Criminal, Lima 1998, erschienen, 23 ff. 9 Muñoz Conde (Fn. 2), Prolog. 10 Roxin Política Criminal y sistema (Fn. 2), 23. 6

7

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Moisés Moreno Hernández

den sei und die er nicht abändern könne. Das rührt daher, daß Roxin der Position von Welzel entgegengetreten ist, da er die Ansicht vertritt, daß „der Gesetzgeber in seinen Begriffsbildungen und Regelungen völlig frei sei" und deshalb die Behauptung ablehnt, daß eine „vorgegebene Finalstruktur" 11 bestehen könne. Obwohl Roxin die oben erwähnte Krise erkennt, entschließt er sich jedoch nicht dazu, das System aufzugeben, da er davon ausgeht, daß die Einwände, die gegen das System vorgebracht werden, nicht auf den eigentlichen systematischen Ansatz zurückgeführt werden können, sondern vielmehr auf „die falsche Durchführung seiner dogmatischen Entwicklung" 12 , der er eine tiefe Verwurzelung in der positivistischen Denkweise zuschreibt, wie sie mit großer Deutlichkeit in den Denkansätzen von Liszt und anderen zu finden ist, bei denen es sich außerdem um ein geschlossenes System handelt. Laut Roxin „versperrt ein geschlossenes System den Weg zur Lösung unseres Problems: auf der einen Seite entfernt es die Dogmatik von den wertenden kriminalpolitischen Entscheidungen, und auf der anderen Seite unterbricht es die Kommunikation zur sozialen Realität, anstatt den Weg zu ihr offen zu halten". 13 3. In gleicher Weise schreibt Roxin, daß, um den Bezugspunkt zu bestimmen, in dessen Richtung der Inhalt und die Entwicklung der substantivischen Kategorien gelenkt werden sollen, die Aufgabe des Gesetzes, und insbesondere des Strafgesetzes, sich nicht in der Funktion des Rechtsstaates erschöpfe. Es müsse anerkannt werden, daß im Strafrecht „die kriminalpolitischen Probleme auch den eigentlichen Inhalt der Deliktstheorie darstellen. Das Prinzip nulluni crimen muß jetzt schon zu Verhaltensregeln führen und außerdem seine liberale Schutzfunktion erfüllen. Auf diese Weise verwandelt es sich in ein sehr bedeutungsvolles soziales Gestaltungsinstrument." 14 Dann führt er aus, daß „der richtige Weg nur darin bestehen kann, die wertenden kriminalpolitischen Entscheidungen in das Strafrechtssystem mit einfließen zu lassen, damit sein legales Fundament, seine Eindeutigkeit und Legitimität, seine widerspruchslose Kombination und seine Auswirkungen den Beiträgen des formalen positivistischen Systems von Liszt in nichts nachstehen". Deshalb „können die Verknüpfung mit dem Recht und der kriminalpolitische Nutzen nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern müssen in einer Synthese zusammenkommen, genauso wie der Rechtsstaat und der Sozialstaat keine wirklich unvereinbaren Kontraste bilden, sondern vielmehr eine dialektische Einheit." 1 5 4. Auf der anderen Seite ergibt sich, laut Roxin, die Notwendigkeit, die ontologische (logisch deduktive) Methode, die dem Finalismus eigen ist, aufzugeben, um „dazu überzugehen, das Deliktssystem von der Seite der funktiona-

11 12 13 14 15

Roxin Roxin Roxin Roxin Roxin

Zur Kritik der finalen Handlungslehre, ZStW 74 (1962), 515 ff. Politica Criminal y sistema (Fn. 2), 24 ff. Politica Criminal y sistema (Fn. 2), 35. Politica Criminal y sistema (Fn. 2), 27. Politica Criminal y sistema (Fn. 2), 33.

Über die Verknüpfungen von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik

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len und teleologischen Perspektiven aufzustellen".16 Die teleologische Lösung, die die Einführung von wertenden kriminalpolitischen Elementen in die Hierarchie des Delikts impliziert - was der Einführung von kriminalpolitischen Zwecken in die dogmatische Arbeit gleichkommt - , wird jetzt als die Lösung präsentiert, die die Findung von weniger irrigen und weniger intolerablen Lösungen ermöglicht. Roxin zieht die Schlußfolgerung, daß die „Loslösung der dogmatischen Konstruktion von der kriminalpolitischen Exaktheit von vornherein unmöglich ist",17 und warnt davor, daß „ein solcher Einfluß der Kriminalpolitik auf den Bereich des Strafrechts der Strafrechtswissenschaft auch nicht zu einer Relativierung des systematischen Denkens führt, dessen Errungenschaften bezüglich der juristischen Eindeutigkeit und Sicherheit unbestreitbar sind": ganz im Gegenteil werden „die internen Relationen im rechtlichen Sektor, die nur im Normativen verwurzelt sein können, durch ein teleologisches System noch deutlicher hervorgehoben als durch eines, das von Abstraktionen oder Axiomen abgeleitet wird." 18 5. Wie es auch bei den anderen Systemen der Deliktsanalyse der Fall war, ist auch das System von Roxin nicht der Kritik entkommen, die sowohl aus dem Lager seiner Gegner kommt wie auch aus dem Kreise seiner Schüler; damit werden wir uns allerdings bei anderer Gelegenheit19 beschäftigen. Lediglich wenn die hier behandelten Aspekte in Verbindung dazu stehen, werden wir auf einige dieser Kritikpunkte zurückgreifen. III. Reichweite

unserer Analyse

Meine Ausführungen bezüglich der Fragestellungen, die sich auf die Verknüpfung zwischen der Strafrechtsdogmatik und der Kriminalpolitik beziehen, sind auf sehr allgemeine Aspekte beschränkt, und zwar vor allen Dingen auf jene, die sich mit der Kriminalpolitik beschäftigen, die sich auf die Erfordernisse des demokratischen Rechtsstaates beziehen, nach dem sich die Strafrechtsdogmatik richten muß. Gleichermaßen werden wir sehen, welche Form einer Strafrechtsdogmatik sich am besten mit einer bestimmten Kriminalpolitik vereinen läßt oder, mit anderen Worten, welches Deliktssystem die beste Lösung für die kriminalpolitischen Ziele des Strafrechts in einem demokratischen Rechtsstaat bietet, was zweifellos in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Staaten angestrebt wird. Bei diesem Punkt muß überprüft werden, ob die Methode und die Kriterien, von denen der Finalismus ausgeht, tatsächlich in ihrer Dogmatik keinen Vgl. Schünemann (Fn. 4), 23. Roxin Politica Criminal y sistema (Fn. 2), 77. 18 Roxin Politica Criminal y sistema (Fn. 2), 77 f. 1 9 Siehe etwa die kritischen Stellungnahmen von: Rudolphi und Amelung, u. a. in: Schünemann (Hrsg.), El sistema moderno del derecho penal (Fn. 4), S. 78 ff, 81 ff, 96 ff; siehe auch Silva Sdnchez (Fn. 1), 22. 16 17

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Moisés M o r e n o H e r n á n d e z

R a u m für die kriminalpolitischen Zielsetzungen lassen, d. h. o b die finalistische D o g m a t i k auf G r u n d der ontologischen M e t h o d e , die sie verfolgt, nicht die Möglichkeit hat, eine enge Verknüpfung mit den kriminalpolitischen U b e r legungen aufrecht zu erhalten. U n d schließlich wird die Frage erörtert, o b es wirklich sinnvoll ist, vom Ontologismus versus Normativismus zu sprechen o b sich also die Existenz eines N o r m a t i v i s m u s ohne reale Grundlage halten lassen kann.

IV. Uber die Verknüpfung zwischen Srafrecbtsdogmatik und Kriminalpolitik 1. In der G e g e n w a r t 2 0 wird von der Notwendigkeit einer Kriminalpolitik (und demzufolge auch eines Strafsystems und eines Strafrechts) ausgegangen, das in enger Ü b e r e i n s t i m m u n g mit den F o r d e r u n g e n eines Rechtsstaates oder genauer, eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates, steht, der im weiten U m f a n g die Menschenrechte respektiert. D a s bedeutet, daß sie sich an die R e gelungen und Richtlinien hält, die einerseits von den politischen Grundgesetzen jener Staatsformen und andererseits von den internationalen Instrumenten, die in diesem Bereich bis zur heutigen Zeit von der Mehrheit der Staaten der Welt akzeptiert wurden, vorgegeben werden. Aus diesem G r u n d e wird man sich, wenn von der Notwendigkeit der Verknüpfung zwischen der Kriminalpolitik und der Strafrechtsdogmatik gesprochen wird, auf eine solche Kriminalpolitik beziehen müssen, die mit einer bestimmten Ideologie, einer philosophischen K o n z e p t i o n und einer präzisen politischen Orientierung verschachtelt ist: und zwar in bezug auf den Menschen, den Staat, das Strafrecht und die F u n k t i o n e n und Ziele, die sich darauf beziehen. 2. A u f die gleiche Weise, wie also verschiedene F o r m e n von Kriminalpolitik unterschieden werden können, kann man ebenfalls verschiedene Typen von D o g m a t i k (und D o g m a t i k e r n ) unterscheiden: E s gibt jene, die sich in einem bestimmten E x t r e m ansiedeln und versuchen, autoritäre oder totalitäre Strafrechtssysteme zu rechtfertigen oder zu legitimieren, indem sie die theoretischen und wissenschaftlichen Grundlagen dafür erarbeiten, wie es zum Beispiel bei der bekannten Kieler Schule im nationalsozialistischen Deutschland der 30er J a h r e der Fall war. Ihre Hauptvertreter, nämlich Dahm und Schaff stein,21 entschieden sich für ein autoritäres Strafrecht anstelle eines liberalen Strafrechts und legten die dogmatischen Grundlagen für dieses Strafrecht. I m anderen E x trem befindet sich hingegen eine Strafrechtsdogmatik in F o r m einer Ideologie, die wir als liberal und demokratisch bezeichnen k ö n n e n und die sich für eine Kriminalpolitik und ein Strafrechtssystem einsetzt, welche die Menschenrechte

20

Vor allem in Mexiko und in den übrigen lateinamerikanischen Staaten. Die folgenden Werke sind gemeinsam von Dahm und Schaffstein verfaßt worden: Liberales oder autoritäres Strafrecht?, 1933; dies. Grundfragen der neuen Strafrechtswissenschaft, 1935. 21

Ü b e r die V e r k n ü p f u n g e n v o n S t r a f r e c h t s d o g m a t i k u n d K r i m i n a l p o l i t i k

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respektieren und den Menschen als Person ansehen, als ein Ziel an sich, als ein zur Freiheit fähiges Wesen, das aus diesem Grunde den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit jeglichen staatlichen Tuns darstellt oder darstellen sollte. 22 Aus diesem Grunde sollten der Gesetzgeber auf der einen Seite und der Urteilende auf der anderen Seite mit Vorsicht die Dogmatik auswählen, die sie als Grundlage für die Anwendung des im puniendi anwenden, welches ihnen für die Ausübung ihrer entsprechenden Funktionen zukommt, damit die kriminalpolitischen Maßnahmen, die sich aus dieser Ausübung ergeben, den Forderungen des Rechtsstaates angemessen sind.

B. Finalismus oder Funktionalismus als Grundlage der Kriminalpolitik? (Ontologismus

oder Normativismus

f)

I. Für eine Strafrechtsdogmatik, die auf die kriminalpolitischen eines demokratischen Rechtsstaates reagiert

Ziele

1. Wenn wir von der Voraussetzung ausgehen, daß die Strafrechtsdogmatik eine wichtige Funktion zu erfüllen hat, die darin besteht, den Bürgern Gewißheit und Rechtssicherheit im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaates bezüglich der kriminalpolitischen Effekte zu gewährleisten, kommt nun die Frage auf, welcher der beiden systematischen Ansätze, die gegenwärtig einander gegenübergestellt werden, nämlich Finalismus und Funktionalismus, den Bürgern die größte Rechtssicherheit bieten kann und es außerdem möglich macht, daß das Strafrecht auf bestmögliche Weise seine Aufgabe des Schutzes der Rechtsgüter erfüllt. Dabei werden wir insbesondere die Methoden, auf denen sie basieren, berücksichtigen. Gemäß den in den vorhergehenden Abschnitten angesprochenen Punkten ist verdeutlicht worden, daß zur Bestimmung der kriminalpolitischen Voraussetzungen, die als Referenzpunkte für die Orientierung der Strafrechtsdogmatik in dieser Verknüpfung dienen, die Form der in dieser Entwicklung zu verfolgenden Kriminalpolitik diejenige ist, die den Forderungen eines demokratischen Rechtsstaates entspricht, der dementsprechend auf einer Serie von fundamentalen Prinzipien basiert, die die Funktion haben, die strafrechtliche Macht des Staates zu limitieren und, als Folge dessen, die Rechte der Bürger gegenüber der Ausübung dieser Macht zu garantieren. Dies ist zweifellos Roxins Hauptziel gewesen, da dieser zu jeder Zeit seine große liberale Tendenz offenbart hat, indem er die Notwendigkeit der Beachtung bestimmter fundamentaler Prinzipien hervorhob.

2 2 Diese Orientierung kann heute bei der Mehrheit der modernen Strafrechtler beobachtet werden, unabhängig von der Korrektheit ihrer dogmatischen Konstruktionen. Die Denkweise Roxins ist zweifellos innerhalb dieser Tendenz anzusiedeln, wie sich aus seinen vielen Werken ersehen läßt.

76

Moisés Moreno Hernández

2. In den letzten Jahren hat man üblicherweise hören können, daß Roxin der erste gewesen sei, der mit ziemlicher Deutlichkeit nicht nur die Notwendigkeit dargelegt hat, die Strafrechtsdogmatik an der Kriminalpolitik zu orientieren, was bedeutet, daß systematische Konstruktionen eine bestimmte Funktion in Hinblick auf die kriminalpolitischen Effekte, unter Berücksichtigung der Zielsetzungen, die dem hauptsächlichen Studiengegenstand der Strafrechtsdogmatik zugeordnet werden, zu erfüllen haben, sondern außerdem, daß er diesen Ansatz zu seiner größten Entwicklung 23 geführt hat, indem er dafür die teleologische Methode der Neukantianer 24 neu aufgenommen hat — eine Behauptung, die ohne Zweifel nicht zu widerlegen ist. Indem wir jedoch dem zuvor Gesagten zustimmen, stellt sich sofort die Frage, ob denn die präroxinische Dogmatik vollkommen von den kriminalpolitischen Überlegungen abgesehen hat oder auch, ob die Thesen, von denen sie ausgegangen ist, nicht angemessen genug gewesen sind, um die kriminalpolitischen Zielsetzungen zu verwirklichen, die dem Strafrecht zugeordnet werden. Darum drehen sich auch die vergleichenden Aussagen von Muñoz Conde, dem Ubersetzer von Roxin, der seit 1972, nachdem er die Tugenden des Systems von Roxin herausstellt, die Frage stellt: „Wenn dies jedoch der Fall ist, dürften sich mehrere die Frage stellen: Ist denn jetzt all das, was die deutsche Strafrechtsdogmatik in den letzten 70 Jahren gemacht hat, als untauglich anzusehen? Sind ihre Verfechter nicht scharfsinnig genug gewesen, um das zu erkennen, was Roxin heute mit so großer Deutlichkeit darstellt?" 25 Ich denke, es wäre ungerecht, wenn wir kategorisch behaupten wollten, daß Männer wie Liszt, Binding, Mezger oder Welzel und andere mehr sich bei der Erarbeitung ihrer Theorien von jeglichen kriminalpolitischen Überlegungen ferngehalten haben oder daß die von ihnen vorgeschlagenen Konzepte allesamt verfehlt oder dysfunktional gewesen sind. Ganz im Gegenteil kann man mit Sicherheit behaupten, daß sie einen Großteil ihrer wissenschaftlichen Bemühungen dafür eingesetzt haben, daß ihre Konstruktionen einen Beitrag zur Realität, d. h. zur Lösung konkreter Probleme, 26 leisten könnten, wobei dies natürlich aus ihren jeweiligen Perspektiven geschehen ist, mit denen wir einverstanden sein können oder auch nicht. Erinnern wir uns nur daran, daß Liszt nicht nur die Grundsätze des modernen Strafrechts aufgestellt hat, sondern auch die der modernen Kriminalpolitik. So spricht er zum Beispiel in seinem berühmten „Marburger Programm" von dem Zweckgedanken im Strafrecht27, eines Zweckes, der kein anderer ist als der kriminalpolitische; und wenn auch einige Aussagen von Liszt hervorgehoben wurden, wie zum Beispiel „Das Ohne das zu vernachlässigen, was von Jakobs dazu beigetragen wurde. Vgl. Schiinemann Introducción al razonamiento sistemático en Derecho penal, in: ders. (Fn. 4), 63 ff. 25 Muñoz Conde (Fn. 2), Einführung, 9. 2 6 Oder, wie Muñoz Conde sagt, „Aufgaben von praktischer Effizienz"; vgl. Muñoz Conde (Fn. 2), Einführung, 9. 2 7 Siehe von Liszt Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1882), 1 ff, und ders. Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, I, 1905, 126 ff. 23 24

Ü b e r die Verknüpfungen von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik

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oder daß „das Strafrecht ist die unüberwindliche Grenze der Kriminalpolitik"29 Strafgesetzbuch die Charta Magna des Straftäters"29 ist, und andere mehr, so dürfen doch diese Aussagen nicht isoliert betrachtet werden, um auf dieser Grundlage zu behaupten, daß „die Aufgabe der systematischen Arbeit des Strafrechts von der kriminalpolitischen Zielsetzung entfernt oder ihr sogar entgegengesetzt sei". 3 0 Das gleiche kann von Welzel, dem wichtigsten Schöpfer und Verfechter des Finalismus, behauptet werden, der, obgleich er sich hauptsächlich dem Entwurf und der Entwicklung eines neuen Strafrechtssystem gewidmet hat, doch die kriminalpolitischen Aspekte nicht vernachlässigt hat. Ganz im Gegenteil hat er sehr klar ausgedrückt, welches die Funktion der Strafrechtsdogmatik in Beziehung zu den kriminalpolitischen Zielsetzungen ist, indem er über die Strafrechtswissenschaft aussagt: „Als systematische Wissenschaft legt sie den Grund zu einer gleichmäßigen und gerechten Rechtspflege, da nur die Einsicht in die inneren Zusammenhänge des Rechts die Rechtsanwendung über Zufall und Willkür hinaushebt" 31 - eine Aussage, die er noch in seinen letzten Abhandlungen aufrechterhalten hat. II. Welzelsc^e oder Roxinsehe Dogmatik? (Ontologismus versus Normativismus?) 1. Einer der grundlegenden Aspekte, die den Finalismus vom Funktionalismus trennen und differenzieren, ist, wie es sowohl von den Hauptakteuren wie auch von den übrigen Diskussionsteilnehmern betont wird, die Methode, von der jedes einzelne System ausgeht: dem ersteren wird die Anwendung der ontologischen32 Methode zugeschrieben und dem zweiten die normative oder teleologische Methode, wobei bestätigt wird, daß es sich um prinzipiell unvereinbare Methoden handelt. a) Bei der Welzelschen (finalistischen) Konzeption muß die Rechtswissenschaft und damit die Strafrechtswissenschaft im Rechtsstoff jene Strukturen herausarbeiten, die auch dem Gesetzgeber vorgegeben sind und die dieser vorliegen haben sollte, um das Recht zu schaffen. 33 Die Rechtswissenschaft zielt 2 8 Dagegen behauptet Roxin, daß „die Kriminalpolitik der Ursprung der systematischen und konzeptuellen Strafrechtskonstruktion ist" (Política Criminal y Estructura del Delito, 46). Das Strafrecht ist sicherlich der Ausdruck der Kriminalpolitik; jedoch kann das, was Liszt sagt, auch auf andere Art und Weise verstanden werden, nämlich daß aufgrund der regelmäßigen Uberschreitungen der Grenzen in der Kriminalpolitik die staatliche Macht ihre Grenzen im Strafrecht haben muß, vorausgesetzt, daß dieses die politisch-kriminologischen Prinzipien und Kriterien miteinschließt, die die Funktion der Machtbegrenzung haben.

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Von Liszt Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge (Fn. 27), 80. Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem (Fn. 2), 10; ders. Política Criminal y Sistema (Fn. 2), 17. 31 Welzel Das Deutsche Strafrecht, "1969, 1. 3 2 Außer der anthropologischen u. a. 3 3 Vgl. Welzel Derecho natural y positivismo jurídico, in: Más allá del derecho natural y del positivismo jurídico, Universidad Nacional de Córdoba, Argentina 1962, 38 f. 30

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darauf ab, diese Strukturen zu analysieren und zu definieren, damit sich der Gesetzgeber bei der Regulierung des menschlichen Handelns nicht in Widersprüchlichkeiten verwickelt und damit er über ein sicheres Kriterium für die wertende Anordnung des Lebens in Gemeinschaft verfügt. 34 Auf Grund seines ontologischen Ausgangspunktes ist gesagt worden, daß der Welzelsche Finalismus nur wenige Ergebnisse für die kriminalpolitischen Effekte erzielt hat. b) Die Roxinsche (funktionalistische) Konzeption dagegen sieht vor, daß sich die Strafrechtsdogmatik an den kriminalpolitischen Zielen orientiert, damit der Jurist flexible Konzepte zur Verfügung stehen hat. Das trifft nur bei normativen Konzepten zu, da diese nicht die Unterordnung des Dogmatischen erfordern, wie es beim Ontologischen der Fall ist, und da ihr Inhalt auf die Ziele des Strafrechts eingeht. Bei dieser Sichtweise wird das Verbrechenssystem ausgehend von der funktionalen oder teleologischen Perspektive gestaltet; 35 das bedeutet, daß der Ausgangspunkt darin liegt, „die Lösungen der materiellen und systematischen Probleme in einem an Zielen und Werten orientierten Argumentationsprinzip zu suchen" und voreilige theoretische Ansätze, welche die normativen Aspekte 3 6 vernachlässigen, zu vermeiden. Lediglich auf diese Weise kann ernsthaft über die Vorteile der systematischen Erarbeitung der Rechtsmaterie diskutiert werden, 37 wenn nicht nur die „wunderschöne Klarheit und Eindeutigkeit" der Lösung eines rechtlichen Problems in Betracht gezogen wird, sondern vielmehr die Tatsache, daß sie vom kriminalpolitischen Gesichtspunkt her nicht verfehlt ist. Inwiefern verfügt aber jetzt der Welzelsche Ansatz, der von der ontologischen Sichtweise ausgeht, wirklich nur über wenige Resultate im Hinblick auf die kriminalpolitischen Effekte? Und inwieweit führt uns der teleologische oder normativistische Ansatz von Roxin und Jakobs wirklich zu einem produktiveren System? Zweifellos hat es über den ersten Punkt ausreichend Kommentare, und zwar insbesondere von den Verfechtern des Funktionalismus, darüber gegeben, daß der Ansatz auf ontologischer Basis nur bescheidene Ergebnisse für die besagten Effekte liefert, wobei sie die Vorteile des normativistischen Ansatzes hervorheben. Auch wenn ich in dieser Abhandlung nicht näher auf das Werk von Jakobs38 eingehen möchte, der sich - wie er es selbst ausdrückt - von der „alten Substanz" des Welz eischen Systems entfernt (oder zumindest sich entfernen

3 4 Vgl. Welzel Derecho natural y justicia material, Madrid 1957, 260; siehe auch Garzón Valdéz „Hans Welzel", in: Más allá del derecho natural y del positivismo jurídico, Universidad Nacional de Córdoba, Argentina 1962, 114. 35 Schünemann (Fn. 4), 23. 36 Schünemann (Fn. 4), 77. 37 Roxin Política criminal y sistema (Fn. 2), 19. 3 8 Seine Analyse müßte noch weiter ausgeführt werden. Hier beschränke ich mich jedoch darauf, die Auffassung von Claus Roxin darzustellen. Einige der Punkte sind jedoch für beide anwendbar.

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möchte), 39 so will ich doch vorwegnehmen, daß das in der Tat so ist; dafür nimmt Jakobs jedoch andere, vielleicht noch ältere „Substanzen" an, bezüglich derer Welzel und andere wichtige Strafrechtler verschiedener Epochen sich schon damit beschäftigt haben, nicht nur deren systematische Dysfunktionalität, sondern auch ihren Mangel an praktischen Ergebnissen herauszustellen. 40 Das bedeutet, daß der Jakobssche Teleologismus auf gewisse Weise Ideen wieder aufgeweckt hat, die von anderen schon als abgeschlossen bezeichnet worden sind, und zwar genau wegen der praktischen Effekte, zu denen sie führen. Indem diese wieder aufgenommen und neu belebt werden, wird auch die Möglichkeit ihrer negativen Auswirkungen wieder hervorgeholt. Die oben genannten Aspekte lassen uns denn auch mit Schünemann41, Amelung42 und anderen 43 darin übereinstimmen, daß die Erarbeitung eines teleologischen Systems überhaupt nichts völlig Neues ist und ihren Ursprung auch nicht bei Roxin hat, sondern vielmehr die Weiterführung „alten Strebens" der neukantianischen Strafrechtler der ersten 25 Jahre des letzten Jahrhunderts 44 darstellt. Dabei handelt es sich um ein System, das, wie behauptet wird, 45 in seinem ersten Versuch keinen Durchbruch geschafft hat, und das eben wegen der kritischen Überlegungen, die die Welzelsche Entwicklung einer Dogmatik mit Orientierung an den sachlogischen Strukturen mit sich gebracht hat. Das bedeutet, daß das frühere teleologische System schon von dem aufkommenden finalistischen System Welzeis angezweifelt wurde, dessen philosophische Denkweisen nicht nur auf Einflüsse von Aristoteles, Thomas Hobbes, Duns Scotus und Kant, sondern auch auf die Neukantianer der Süddeutschen Schule (Philosophie der Werte), wie zum Beispiel auf Windelband, Rickert und andere mehr, 46 zurückgreifen. Heute, im Ubergang zum einundzwanzigsten Jahrhundert, stellt sich dem Welzelschen Ansatz das teleologische System Roxins (und Jakobs und anderer) wie ein systematischer Direktionswechsel entgegen, vor allem, wenn wir berücksichtigen, daß Welzel seinerseits auch wieder eine Entgegnung zu den gegen seine Theorie vorgebrachten Einwände gemacht hat. 2. Welches waren also die Gründe dafür, daß Welzel seiner Sichtweise eine ontologische Kehrtwendung gegeben hat? Als Welzel seine finale Handlungslehre entwickelte, war einer der grundlegenden Aspekte, mit denen er sich beschäftigte, die von den autoritären Systemen geerbte Rechtspraxis, wie es 3 9 Obwohl Jakobs ausdrückt, daß „die ontologische Strafrechtsdogmatik zerbricht" ([Fn. 3], V - V I ; 2 1991, VII), ist es fraglich, ob eine totale Abgrenzung vom Ontologischen möglich ist. 4 0 Vgl. Welzel Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935. 41 Schünemann (Fn. 4), 23. 42 Amelung Contribución a la crítica del sistema jurídico-penal de orientación políticocriminal de Roxin, in: Schünemann (Fn. 4), 94. 4 3 Wie z. B.Jescheck (Fn. 4), 184; Silva Sánchez (Fn. 4), 19. 44 Von Frank, Goldschmidt, Mayer, Hegler, Freudenthal, Eh. Schmidt, Mezger u. a. 45 Schünemann (Fn. 4), 23. 4 6 Vgl. Welzel Strafrecht und Philosophie, 1930; den. Kausalität und Handlung, ZStW 51 (1930); ders. Naturalismus und Wertphilosophie (Fn. 40); ders. Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1938); ders. Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 1940.

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beim Nationalsozialismus der Fall war, der „sich mit äußerster Gewandtheit traditionelle Konzepte zu eigen machte, sie verdrehte und zu seinem eigenen Vorteil ausnutzte". 47 Welzel charakterisierte das nationalsozialistische Strafrechtssystem als „extrem utilitaristisch und naturalistisch", da es die Sicherheiten des Rechtsstaates, ausgehend von den folgenden Grundprinzipien, aufhob: „Das Rechte ist das, was dem Volk nützlich ist" und „Die Bestrafung ist ein Mittel zur biologischen Reinigung des Volkes". Diese Tendenz konnte schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtet werden, als der Schuldbegriff durch den ethisch gleichgültigen der Gefährlichkeit ersetzt wurde und die Strafe zu einem reinen finalistischen Mittel zur sozialen Verteidigung48 herabgestuft wurde - ein Konzept, das von den Nationalsozialisten lediglich übernommen und intensiviert worden ist. Von daher rührt die Notwendigkeit, all das neu zu überprüfen, was mit den „Grenzen" zu tun hat, und genauer: den Grenzen des utilitaristischen Denkens. Als Gegenpart zu dieser verzerrten Denkweise hat Welzel die Behauptung aufgestellt, daß die zentrale Aufgabe des Strafrechts ethisch-sozialer Natur ist und nicht präventiven Charakters, so daß der Staat, indem er die wirklich gegen die Grundsatznormen des „Treuegefühls gegenüber dem Recht" begangenen Übertretungen zurückweist und bestraft, die „unverletzliche Gültigkeit dieser wirklichen Normen des menschlichen Handelns" herausstellt, „die ethisch-soziale Urteilskraft der Bürger formt und ihr permanentes Rechtsgefühl stärkt". Aus diesem Grunde „darf die Strafe nur bei aus dem ethischsozialen Gesichtspunkt verwerflichen Handlungen angewandt werden und nicht um der Erreichung politischer Ziele willen mißbraucht werden. Die Strafvoraussetzung darf lediglich die Schuld und nicht die ethisch-neutrale Gefährlichkeit des Täters sein. Die Strafe darf lediglich die an der Größe der Schuld gemessene Vergeltung sein und nicht eine finalistische präventive Maßnahme, die auf Grund der Gefährlichkeitsdauer des Täters bestimmt wird." 49 Ausgehend von diesen Ideen, die auf rationale Weise versuchen, die Forderungen des Rechtsstaates in das Strafrecht zu integrieren, hat Welzel sich daran begeben, die dogmatischen Konsequenzen auszuarbeiten und die Strukturierung der finalen Handlungslehre zu entwickeln. Auf der anderen Seite hat Welzel sich entschieden gegen den Rechtspositivismus ausgesprochen, da es sich dabei um „eine Lehre von der rechtlichen Omnipotenz des Gesetzgebers" handele, und betont, daß die reale positive Ordnung „nicht jeden beliebigen willkürlichen Inhalt haben kann".50 Wenn es also beim Rechtspositivismus keine anderen Grenzen für die Allmacht des irdischen Gesetzgebers gibt als allein die physische Möglichkeit, versucht Wel-

47 Welzel und Eduardo 9 ff. 4« Welzel 49 Welzel 50 Welzel

La Teoría de la Acción Finalista, Übersetzung ins Spanische von Fontán Balestra Friker (Hrsg.), Uber verschiedene Arbeiten von Hans Welzel, Buenos Aires 1951, (Fn. 47), 10 ff. (Fn. 47), 12 ff. Naturrecht und Rechtspositivismus, FS für Hans Niedermeyer, 1953, 289.

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zel dies aufzuhalten, da, seiner Ansicht nach, der Gesetzgeber in Wahrheit stets an bestimmte immanente Grenzen des positiven Rechts gebunden ist. Von daher nimmt Welzel auf der Suche nach dem Bleibenden, abgestützt auf die theoretischen Denkansätze der Vergangenheit,51 zuerst die Position ein, daß das Recht positiv und konkret sein muß. Die Positivität stellt einen entscheidenden Aspekt des Rechts dar, auch wenn sie dessen Konzept nicht in seiner Gesamtheit bestimmt, wie es der Positivismus beabsichtigt; 52 im übrigen lehnt er die Existenz von allgemein gültigen und von jeder historischen Bedingtheit unabhängigen Werten ab, was jedoch nicht bedeutet, daß das positive Recht absolut jeder innerlichen Limitation entbehrt und daß die Rechtswissenschaft ohne weiteres jegliche Rechtsordnung akzeptieren müßte. Ganz im Gegenteil existiert, laut Welzel, eine Reihe von sachlogischen Strukturen, die dem Gesetzgeber von vornherein vorgegeben sind und die die Grenzen seiner freien Schaffungsaktivität festlegen. Diese sachlogischen Strukturen, die sich im Bereich des Seins des Rechts - und nicht des juristischen Sein-Sollens - befinden, sind in jeglicher Rechtsordnung zu finden. Sie sind objektiv und real, da sie, sobald sie einmal bekannt sind, unabhängig von jeglicher nachfolgenden Akzeptanz oder Ablehnung existieren, und logisch, da ihre Nichtbeachtung einen internen Widerspruch und fehlende Einheit in der Rechtsordnung zur Folge hat. Ein Gesetzgeber, der diese sachlogischen Strukturen nicht respektiert, erläßt eine falsche und lückenhafte, also ineffiziente Gesetzgebung. 53 Obwohl die vorher aufgestellten Behauptungen, mit denen Welzel die Existenz sachlogischer Strukturen als „bleibende Strukturen" herausstellte, an die auch der Gesetzgeber gebunden sei und die von ihm nicht beliebig abgeändert werden könnten, eine weitreichendere Entwicklung aufwiesen und sich in der Analyse der substantivischen Kategorien widerspiegelten, die, vor allem in bezug auf die Begriffe der Handlung und der Schuld, mit der Verbrechensstruktur zu tun haben, hat Roxin seit dem Jahre 1963 verfochten, daß in der zwischen dem Kausalismus und dem Finalismus geführten dogmatischen Diskussion der „Antagonismus", der seit den Anfängen der finalen Handlungslehre zwischen dem Bleibenden und dem Vergänglichen existiert hat, nie richtig deutlich hervorgetreten sei. Gleichermaßen hat Roxin seit dieser Zeit jene ontologische Position Welzeis abgelehnt, um dagegenzusetzen, daß „der Gesetzgeber in seinen Begriffsbildungen und Regelungen völlig frei sei", wobei er ablehnt, daß eine „vorgegebene Finalstruktur" existieren könnte; „was final ist, hängt allein von den Zwecksetzungen der Rechtsordnung ab". So behauptet er,

51 Bezüglich der oben zitierten Denker müssen die Gedanken des Philosophen R. Hönigswald, der Psychologen S. Mühler, T. Erismamm, E. Jaensch, W. Peters und der Phänomenologen P. F. Linke, A. Pfander, Husserl, N. Hartmann u. a. erwähnt werden. 52 Vgl. Welzel Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4 1962, 243 ff; ders. Naturrecht (Fn. 50), 279 ff. 53 Vgl. Welzel Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, 4 1962, 197; es existiert eine Ubersetzung ins Spanische von González Vicen Derecho natural y justicia material, 257; Welzel Um die finale Handlungslehre, 1949, 9 ff.

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„anstelle kategorialer Seinsstrukturen fülle der Tatbestand, als Produkt und schöpferische Gestaltung des Gesetzgebers, den Finalitätsbegriff aus". 54 Auch wenn Welzel seinerzeit eine Antwort auf jene Kritik gegeben hat, 55 so war diese doch auch weiterhin in den späteren Aufsätzen Roxins sowie anderer Strafrechtler anzutreffen. Es ist die Kritik, mit der er anfänglich seine Ablehnung der sogenannten ontologischen Strukturen ausgedrückt hat, welche heute einen der grundlegenden Punkte bei der Differenzierung des Finalismus vom Normativismus oder Funktionalismus darstellt. 3. Wenn wir uns spezifisch auf die Roxinsc\\e Theorie beziehen, sehen wir, daß er in Verfolgung der Idee der „auf die Zwecke und Werte des Neukantianismus bezogenen Methode" versucht, das Ziel „der Einführung wertender Entscheidungen kriminalpolitischer Natur in das Strafrechtssystem zu erreichen, wobei er den traditionellen Verbrechenskategorien (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld) kriminalpolitische Funktionen zuordnet. Demzufolge sind es die kriminalpolitischen Funktionen, die den Einsatz und Anwendungsbereich jener Kategorien bedingen sollten." 56 Auf diese Weise ist es zum Beispiel die Aufgabe des Tatbestandes, die Forderungen, die das Prinzip nullum crimen sine lege an das Strafrecht richtet, in die Tat umzusetzen. Der Nachweis der Schuld, in Hinsicht auf ihre straf limitierende Funktion, trägt dagegen zur Antwort auf die Frage bei, ob ein mit einer Strafe belegtes Verhalten auch in auf Grund der Persönlichkeit oder Situation irregulären Umständen eine Strafe benötigt. 57 Es besteht kein Zweifel, daß das von Roxin verfolgte methodologische Prinzip als korrekt und von unbestreitbarem Nutzen angesehen werden muß, insofern es festlegt, daß „die kriminalpolitischen Funktionen den Einsatz und Anwendungsbereich bestimmter Kategorien, wie zum Beispiel jene, die mit der Verbrechensstruktur zu tun haben, bedingen sollten". Es kann als vollkommen empfehlenswert bezeichnet werden, vor allem, wenn wir berücksichtigen, daß in dem Gedanken Roxins eine liberale und garantiebezogene Konzeption vorherrscht, welche zur Entwicklung einer wertenden Kriminalpolitik führt, in der nicht nur die empirischen Konsequenzen, sondern auch die formalen und materiellen Garantien des Strafrechts von Bedeutung sind. 58 Es ist jedoch fraglich, ob die Bestimmung der materiellen Inhalte dieser Kategorien ausgehend von kriminalpolitischen Betrachtungen vorgenommen werden muß, da dies vor allem von kriminalpolitischen Entscheidungen der Staatsorgane abhängen würde. Und da es vorkommt, daß wir nicht in allen Fällen von angemessenen Vgl. Roxin Zur Kritik der finalen Handlungslehre, ZStW 74 (1962), 515 ff. Vgl. Welzel Vom Bleibenden und vom Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft, 1972; es existiert eine Ubersetzung ins Spanische von Moisés Moreno Hernández Lo permanente y lo transitorio en la ciencia del derecho penal, in: Revista Mexicana de Ciencias Penales, No. 1 (Jan.-Juni), Mexiko 1978, 203 ff. 56 Vgl. Roxin Política Criminal y Sistema (Fn. 2), 40; siehe auch Amelung (Fn. 42), 95. 57 Roxin Política Criminal y Sistema (Fn. 2), 40 ff. 58 Vgl. Roxin Strafrecht AT I, 2 1993, § 7 V Rn. 51; siehe auch Silva Sánchez (Fn. 1), 23. 54 55

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kriminalpolitischen Entscheidungen reden können, besteht überhaupt keine Sicherheit, daß, wenn diese Entscheidungen in den Gesetzen ausgedrückt sind, jene diese Kategorien auch wirklich in geeigneter Form enthalten. Von daher kommentiert Amelung unter Bezugnahme auf die Lehre des Straftatbestandes, daß diese „eine Lücke in bezug auf die kriminalpolitische Bestimmung ihres Inhalts aufweist". 59 Wenn auch die Existenz des Straftatbestandes den Forderungen des Nullum-crimen-Satzes entspricht, bei welchem es sich um ein grundlegendes und im Strafrechtssystem eines Rechtsstaates zu beachtendes Prinzip handelt, leitet sich sein Inhalt vor allem von der Betrachtung des Verbotsgegenstandes oder des Befehlsgegenstandes ab, welche wiederum einen bestimmten Inhalt besitzen, abgesehen von den Realitätsdaten, die in derselben Beschreibung vorkommen, die der Gesetzgeber hinsichtlich jedes einzelnen Straftatmusters erstellt. Der Straftatbestand beschreibt in der Tat das, was, nach dem Urteilsvermögen des Gesetzgebers, der Regelungsgegenstand der Strafnorm sein sollte, d. h. das, was die N o r m verbietet oder vorschreibt und was nichts anderes sein kann als das menschliche Verhalten, so wie es sich in der Realität darstellt. Das Verbot oder die Vorschrift werden auf Grund der Rechtsgüter erstellt, welche durch die Strafnorm geschützt werden müssen, wie es die kriminalpolitische Aufgabe des Strafrechts bestimmt. 60 Die Forderungen des Nullum-crimen-Satzes zu erfüllen, bedeutet demzufolge, daß der Straftatbestand klar und „präzise" und nicht „unbestimmt" sein muß und daß er „komplett" den Gegenstand des Verbots oder der Vorschrift beschreibt, damit daraus und aus den Daten, die in seinen Inhalt miteingeschlossen werden, die Rechtssicherheit des einzelnen abgeleitet werden kann. Der materielle Inhalt des Regelungsgegenstandes kann jedoch nicht unter Rücksichtnahme auf die kriminalpolitischen Forderungen bestimmt werden, da diese Forderungen, um welche auch immer es sich handeln mag, nicht das abzuändern vermögen, was von Natur aus zu den Sachen gehört, wie es bei der menschlichen Handlung der Fall ist. Dieser Inhalt ist im Gegenteil im vorhinein denen vorgegeben, die kriminalpolitische Entscheidungen fällen, und muß auf jeden Fall so für die kriminalpolitischen Effekte angenommen werden. Zu der Argumentationsweise, daß diese Überlegung die Konsequenz mit sich bringe, daß die kriminalpolitischen Entscheidungen eingeschränkt würden, da sie in Verbindung mit dem Gesetzgeber (und dem Richter) steht, läßt sich sagen, daß dies zweifellos vorteilhafter ist als wenn - im Gegensatz dazu - die Implementation von flexibleren kriminalpolitischen

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„Der Zweck des Tatbestandes ist, das strafbare Unrecht zu entdecken ..." (das, was Strafe verdient und benötigt) (Amelung [Fn. 42], 96); siehe auch Schünemann (Fn. 49), 78. 60 Es muß jedoch überdacht werden, was die wirkliche kriminalpolitische Motivation des Gesetzgebers gewesen ist, als er einen bestimmten Inhalt oder eine bestimmte Forderung für die Anwendung oder Nichtanwendung einer Strafe festgelegt hat. Das bedeutet, daß in jeder Rechtsnorm ein politischer Inhalt existiert, der mit ihrer Funktion zu tun hat und der vom Gesetzgeber geschaffen wird. Es handelt sich also nicht um einen rein formalen Aspekt, sondern um einen, der auch einen materiellen Inhalt hat, welcher ihm den Sinn gibt.

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M a ß n a h m e n verfolgt wird, w e l c h e die v o l l k o m m e n freie u n d willkürliche A u s ü b u n g staatlicher M a c h t z u m N a c h t e i l der R e c h t e des einzelnen e r m ö g l i c h t e . 6 1 4. D a s o b e n G e s a g t e bedeutet, daß die d o g m a t i s c h e n K a t e g o r i e n sich in der T a t hauptsächlich v o n kriminalpolitischen E r w ä g u n g e n ableiten, welche die Reichweite des Studiengegenstandes der D o g m a t i k b e s t i m m t . J e n e r

Gegen-

stand baut sich j e d o c h natürlich nicht n u r aus der Strafe auf, s o n d e r n aus d e m g e s a m t e n Strafrecht, s o daß die Ü b e r l e g u n g e n ebenfalls nicht n u r auf die Zwecke

der Strafe

b e s c h r ä n k t w e r d e n k ö n n e n , 6 2 s o n d e r n sich v i e l m e h r auf das

g e s a m t e Strafrecht beziehen müssen. I m R a h m e n dieser Ü b e r l e g u n g n e h m e n die Voraussetzungen,

die der Strafe z u g e o r d n e t w e r d e n , einen h e r a u s r a g e n d e n

P l a t z ein. D i e s e h a b e n den Z w e c k , das staatliche ius puniendi

einzuschränken.

W e n n j e t z t auch hinsichtlich der kriminalpolitischen Z w e c k e des Strafrechts auf t h e o r e t i s c h e r E b e n e gewisse Ü b e r e i n s t i m m u n g e n bestehen, u n d z w a r in b e z u g auf den S c h u t z der Rechtsgüter,

gibt es dieses Einverständnis j e d o c h

nicht in b e z u g auf die A r t u n d Weise, wie das z u e r r e i c h e n wäre, nämlich o b n u r vergeltend

o d e r vorbeugend

o d e r auch d u r c h eine M i s c h u n g der beiden

F o r m e n . V o n d a h e r r ü h r t die Verschiedenheit der K r i t e r i e n für diesen speziellen P u n k t , w o b e i b e t o n t w e r d e n sollte, daß die Strafe diese Z w e c k e nicht u n b e dingt a u t o m a t i s c h in sich b e s i t z t , 6 3 s o n d e r n daß sie v o n den kriminalpolitischen E n t s c h e i d u n g e n a b h ä n g e n . 6 4 D i e V o r a u s s e t z u n g e n der Strafe sind eben61 In Mexiko haben wir regelmäßige und mehr als ausreichende Erfahrungen mit kriminalpolitischen Entscheidungen, die versuchen, die rechtlichen Forderungen zu flexibilisieren, um eine effizientere Aktion der Staatsorgane zu erzielen. Siehe darüber Moreno Hernández Política Criminal y Reforma Penal, Mexico-City 1999, 219 ff. 6 2 Wie Radbruch und später Roxin es ausdrückten. 6 3 Außer dem, der ihr von Natur aus angehört, welcher die Vergeltung oder Sühne ist, auch wenn neuerlich viele nicht mehr davon reden wollen. Es wird auch angedeutet, daß das Konzept der Vergeltung auf einer „wissenschaftlich nicht beweisbaren" Hypothese basiert, wodurch es seine kriminalpolitische Bedeutung verloren hätte; vgl. Roxin Reflexiones políticocriminales sobre el principio de culpabilidad, in: Roxin, Culpabilidad y prevención en derecho penal, Madrid 1981, 54 ff. 6 4 Einer der wichtigen Punkte ist dementsprechend, sich über den Zweck der Strafe einig zu werden, um zu sehen, ob dieser lediglich präventiv (generell oder speziell) oder auch retributiv ist. Siehe darüber auch Pérez Manzano Aportaciones de la prevención general positiva a la resolución de las antinomias de los fines de la pena, in: Silva Sánchez (Fn. 1), 73 ff. Laut Roxin ist einer der Zwecke der Strafe die Integrationsgeneralprävention, die den Zweck hat, den Rechtsfrieden wiederherzustellen, insofern sie den Bürgern das Vertrauen auf den Schutz ihrer Sicherheit gibt. Bezüglich dieser Behauptung gibt es jedoch Unklarheiten und Fragestellungen: Wie kann hinsichtlich zukünftiger Geschehnisse dieses Vertrauen gegeben werden, wenn es immer wieder Störungen gegeben hat, obwohl eine Strafe dafür besteht? Wer bestimmt die präventive Notwendigkeit der Strafe? Oder, da für ihn die Verantwortung das gleiche ist wie die Schuld plus Generalprävention: Wie kann der Zweck einer Strafe eine systematische Komponente (oder eine dogmatische Kategorie) sein? Oder: Warum nimmt man an, daß die Notwendigkeit der Generalprävention ausgeschlossen wird, wenn in einem konkreten Fall ein Ausschlußgrund einer der Voraussetzungen der Strafe zum Zuge kommt, wenn doch die kriminalpolitische Funktion dieses Grundes ist, eine Strafe auszuschließen, wenn eine der Vorbedingungen fehlt, dies jedoch unabhängig von der Notwendigkeit der generellen (und sogar der speziellen) Prävention geschieht? Die Existenz der Notwendigkeit der Strafe kommt sogar vor

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falls nicht von vornherein gegeben, wenn der Gesetzgeber sie in einem Gesetz festlegt, sondern hängen, wie schon gesagt wurde, von kriminalpolitischen Betrachtungen ab, welche wiederum von der Grundeinstellung und den kriminalpolitischen Kriterien abhängen, die angewandt werden.

C. Schlußfolgerung 1. Ohne daß wir dieses Thema weiter vertieft hätten, bin ich der Meinung, daß es unumgänglich ist, zuvor die Reichweite und die Charakteristiken der verschiedenen Bereiche, die in Verbindung gebracht werden sollen, zu präzisieren, d. h., auf welches Vorbild der Kriminalpolitik und der Strafrechtsdogmatik wir uns beziehen, da eine große Vielfalt von kriminalpolitischen Kriterien und dogmatischen Ansätzen existiert, um dann eine Bewertung über die Relation, die zwischen der Strafrechtsdogmatik und der Kriminalpolitik bestehen sollte, abzugeben. Davon ausgehend kann bestimmt werden, ob die kriminalpolitischen Zielsetzungen des Strafrechts am besten erreicht werden können durch die Kriterien, welche durch die bekanntesten Straftatsysteme entwickelt wurden: Kausalismus (Naturalismus oder Normativismus), Finalismus oder Funktionalismus. Je nach der Perspektive jedes dieser Systeme würde man dann auch die Reichweite kennen, die der Kriminalpolitik (und dem Strafrecht) zukämen, und das vor allem in Beziehung auf die Menschenrechte und die Sicherheit des einzelnen. Wenn jedoch mit so großer Sicherheit behauptet wird, daß die ontologischen Überlegungen in den systematischen Ansätzen im Strafrecht vollkommen außer acht gelassen werden sollen und daß alles aus der streng normativen (oder teleologischen) Perspektive gesehen werden muß, so scheint dies nicht ganz überzeugend. Es existieren nämlich verschiedene Aspekte, die den Gedanken aufkommen lassen, daß es nicht so absurd wäre, wenn die dogmatischen Kategorien ein ontologisches Fundament hätten. Wenn zum Beispiel eine strafrechtliche Norm analysiert wird, welche Gegenstand verschiedener dogmatischer Abhandlungen ist, kann beobachtet werden, daß sie selbst ihre eigene Struktur, ihre eigene Essenz, besitzt, welche ihr nicht von dem Gesetzgeber gegeben wird, d. h., die nicht von seinem Willen abhängt;65 dieser gibt ihr nämlich nur die Form, da er bezüglich des Inhalts nur das auswählt, was vorher schon in der Realität gegeben war. Das ist auch der Fall beim Regelungsgegender Formulierung des Strafrechts, was auch der Grund dafür ist, daß der Gesetzgeber auf sie zurückgreift. Vgl. Roxin AT I (Fn. 58), § 3 Rn. 27 und 47; ders. Política Criminal y Sistema (Fn. 2), 67 ff; siehe auch Schünemann (Fn. 4), 65 ff. 6 5 „Es gehört zum Wesen des Rechts, wirklich zu sein. Im Recht gehört die existentia zur essentia: die Existenz zum Wesensbegriff. Im Recht ist darum das Tatsächliche unlöslich mit dem Normativen verbunden" und umgekehrt. Also hat „alles Recht eine wirkliche, positive Ordnung", was aber „keineswegs bedeutet, daß diese wirkliche Ordnung jeden beliebigen Inhalt haben kann", Welzel (Fn. 34), 34; ders. (Fn. 50), 289. Siehe auch López Calera La estructura lógico real de la norma jurídica, Madrid 1969.

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stand der Strafnorm, nämlich des menschlichen Verhaltens, dessen ontologische Struktur von Welzel, Hartmann66 und anderen herausgestellt wurde, da die Konsequenzen bekannt waren, die davon für die systematische Konstruktion des Verbrechensbegriffs sowie die Polemik zwischen Kausalismus und Finalismus67 abgeleitet wurden. Welzel hat entschieden sowohl die philosophische Grundlage als auch die wissenschaftliche Grundlage des von ihm vorgefundenen Systems abgelehnt, da er die Notwendigkeit gesehen hat, Kriterien zu suchen, die auf die eine oder andere Art und Weise zur Begrenzung der Macht des Staates beitragen konnten und dafür von anderen philosophischen Grundlagen (bezüglich des Menschen, des Staates und des Strafrechts) sowie politischen und wissenschaftlichen Konzeptionen ausgehen mußten, wobei er als eines der Kriterien zur Begrenzung des staatlichen ius puniendi (und das in einer Epoche, in der das politische System in Deutschland äußerst autoritär geprägt war) die realen und sachlogischen Strukturen festgelegt hat, die sich, wie schon erwähnt wurde, in dem eigentlichen Regelungsgegenstand der Strafrechtsnormen befinden, auch wenn er anerkennt, daß diese Begrenzung nur relativ ist, 68 wobei natürlich die Zwecke des Strafrechts nicht vergessen werden dürfen. Von daher ist es falsch zu behaupten, daß mit den Begriffen, die auf Grundlage einer sachlogischen Struktur (ontologische Begriffe) entwickelt wurden, keine Beziehung zu den kriminalpolitischen Zielsetzungen des Strafrechts hergestellt werden könne. Aus diesem Grunde sehe ich es ebenfalls als nicht korrekt an, daß mit diesen Konzepten nicht auf die normativen Aspekte eingegangen werden könne und daß man die Dogmatiker zur Beachtung dieser konzeptuellen Inhalte zwingen möchte. Ganz im Gegenteil ist der Ausgangspunkt das positive Recht, und von dort ausgehend wird die reale Basis gesucht. Zudem ist es das Staatsorgan, das man zur Einhaltung dieser Inhalte zwingen will, um die Willkürlichkeit bei der Ausübung seiner strafenden Macht zu vermeiden und damit das Strafrecht als kriminalpolitisches Instrument des Staatsor-

Dieser Philosoph ist sogar als Garant des Finalsystems bezeichnet worden. Wenn heute die Diskussion über den „finalen" Handlungsbegriff in Deutschland, wo sie in den 50er Jahren zu den stärksten Polemiken führte, auch nur auf wenig Interesse stößt, so bedeutet das keineswegs, daß diese Kategorie überwunden und aufgegeben worden wäre, weil sich vielleicht ihre praktische Nutzlosigkeit gezeigt hätte, oder daß sie durch eine andere funktionalere Kategorie ersetzt worden wäre. Der praktische Nutzen des „finalen" Handlungsbegriffs ist offensichtlich: Das Prinzip nullum crimen sine conducta drückt das z. B. aus, ebenso wie in gewisser Weise die Lehre des Unrechts. Vgl. Armin Kaufmann La función del concepto de la acción en la teoría del delito, Übersetzung ins Spanische von Cerezo Mir, in: Revista Jurídica Veracruzana, 1 - 2 (Jan. - Juni) 1974, 51 ff. 66

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6 8 D. h., wenn man sich vor Augen führt, inwiefern diese ontologischen Kategorien und Strukturen wirklich von denen beachtet werden, die die Macht innehaben, vor allem vom Gesetzgeber, wenn er die Regelungen erstellt (damit jene nicht falsch, unlogisch oder widersprüchlich sind), erkennt sogar Welzel an, daß diese sachlogischen Strukturen den Gesetzgeber nicht absolut zwingen; und deswegen existieren einige Gesetzesinhalte, die gewissen kriminalpolitischen Forderungen nicht entsprechen, so daß Welzel auch andere Kriterien vorschlägt, die zur Begrenzung des ius puniendi beitragen können, wie es bei der Geltung des Rechts der Fall ist. Vgl. Welzel Macht und Recht, 1959 (span. Übersetzung 1961).

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gans sich nicht in ein Instrument zur Unterwerfung des Menschen verwandelt, sondern in eines, das dem Menschen dient. Die kriminalpolitischen Zwecke des Strafrechts sind also sehr deutlich im We/ze/schen Finalismus zu erkennen. Hier muß hervorgehoben werden, daß selbst Claus Roxin anerkannt hat, daß „die finale Handlungslehre mit ihrer Kehrtwendung zu den ontischen Strukturen und zur sozialen Wirklichkeit nicht ohne Erfolg versucht hat, die Beziehung der Strafrechtsdogmatik zur Realität wiederherzustellen, indem sie vor allem zur Handlungstheorie und der des Tatbestandes zur Plastizität einer reinen Vorgangsbeschreibung zurückgekehrt ist". 6 9 Deswegen muß man sich fragen, ob die Autoren wirklich Recht haben, die behaupten, daß es den Ideen, Konzepten und Kategorien, denen man präjuristischen Charakter geben möchte, an Fruchtbarkeit für die Strafrechtsdogmatik fehlt, wenn das, was sie anstreben, eben genau die Erreichung fester Grundlagen ist, um ausgehend von den eigentlichen Inhalten des Gesetzes die Rechtssicherheit und eine gerechtere und rationalere Interpretation und Anwendung des Strafrechts zu garantieren. Ausgehend von diesen Prämissen also sollte man sich eingestehen, daß man mehr an die geeigneten Resultate glauben sollte, die aus den höheren systematischen Konzepten abgeleitet werden, und mehr dem praktischen Nutzen dieser präjuristischen Kategorien vertrauen sollte. Nur auf diese Weise können die dogmatischen Konstruktionen überwunden werden, um bessere praktische Ergebnisse zu erzielen. Von daher bin ich der Meinung, daß kein Theoretiker der Kriminalpolitik oder der Strafrechtsdogmatik, der sich selbst als rational und Befürworter eines die Sicherheiten der Menschen garantierenden Strafrechts einschätzt, die praktische oder kriminalpolitische Bedeutsamkeit des finalen Handlungsbegriffs ablehnen könnte, dessen ontische Struktur auf gewisse Art und Weise die staatliche Strafgewalt einschränkt, und zwar als Regelungsgegenstand der Strafrechtsnormen und Grundlage der Verbrechensstruktur. Und trotz der großen Macht, die dem Gesetzgeber zur Strukturierung der Straftatbestände oder zur Bestimmung der Strafbarkeitsvoraussetzungen zuerkannt wird, kann dieser also nicht auf logische und begründete Weise behaupten, daß der Inhalt gewisser Kategorien nichts mit dem zu tun habe, was aus der ontologischen Struktur des Regelungsobjekts abgeleitet wird, da ja der kriminalpolitische und der dogmatische Effekt offensichtlich sind. 2. Daß heute eine Ablehnung des Ontologismus als eine der Grundlagen der dogmatischen Konstruktion zu beobachten ist, läßt sich mit dem vergleichen, was zwischen den Juristen des späten 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts passiert ist, die sich nämlich auf das positive Recht beschränkten und jegliches Naturrecht ablehnten, was auf die Vorherrschaft der neukantianischen Rechtsphilosophie zurückzuführen war; oder auch damit, was am Anfang der nationalsozialistischen Periode geschehen ist, als die Rechtspraxis

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Roxin Politica criminal y Sistema (Fn. 2), 37.

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die Garantien des Rechtsstaates annullierte, wogegen sich Welzel70 ganz entschieden ausgesprochen hat, der warnte, daß wir nicht vergessen dürfen, „daß in solchen Lehren ausgebildet die deutschen Juristen ,ins Dritte Reich' zogen", das den Rechtspositivismus absolut beim Wort genommen und bis in seine letzte Konsequenz verfolgt hatte, welche besagt, daß der Staat „jeden beliebigen Rechtsinha.lt - auch den absolut unsittlichen - setzen kann".71 So kann beobachtet werden, daß einer der großen Denker der nationalsozialistischen Epoche, Gustav Radbruch, dem Rechtspositivismus jener Zeit in seinem Werk Weihe gegeben hat, 72 als er geschrieben hat: „Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist. Für den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was Rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei." 7 3 Hier muß jedoch hervorgehoben werden, daß nach der starken Erfahrung, die der Nationalsozialismus - vor allem in Deutschland - mit sich brachte, Radbruch nunmehr selbst schrieb, die Rechtswissenschaft müsse sich wieder auf die jahrtausendealte Weisheit besinnen, daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, „an dem gemessen Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form eines Gesetzes gegossen ist". 7 4 Als Schlußfolgerung aus dieser Überlegung sollte man zu der Aussage kommen, daß, auch wenn jedes Recht eine wirkliche, positive Ordnung sein muß, das keineswegs zugleich bedeutet, daß diese wirkliche Ordnung jeden „beliebigen Inhalt" haben kann; nur beim Rechtspositivismus, der die Lehre von der rechtlichen Omnipotenz des Gesetzgebers ist, „kann die Rechtsgewalt (Gesetzgeber) jeglichen Rechtsinhalt festlegen".75 Diese Sichtweise wird hier natürlich kategorisch abgelehnt, wobei wir das Welzelsche Kriterium gutheißen, daß der Gesetzgeber stets an bestimmte immanente Grenzen des positiven Rechts gebunden ist, wobei eine dieser Grenzen in den sachlogischen Strukturen zu finden ist, die den ganzen Rechtsstoff punktförmig durchsetzen und ihm eine bestimmtgeartete Regelung vorzeichnen. 76 Und genauso, wie gesagt werden kann, daß der ganze Rechtspositivismus des 19. und 20. Jahrhunderts in Wahrheit auf einer breiten naturrechtlichen Basis beruhte und daß er von einer un7 0 Vgl. Welzel Más allá del Derecho Natural (Fn. 33), 11 ff; ders. Naturrecht und Rechtspositivismus, 1953, 279. 71 Welzel Más allá del Derecho Natural (Fn. 33), 12 ff; ders. Naturrecht und Rechtspositivismus (Fn. 70), 279 f. 72 Radbruch Filosofía del Derecho, 3 1932, sagt: „Die Gerechtigkeit ist nur die sekundäre Aufgabe des Rechts, die Rechtssicherheit ist die primäre." Vgl. Welzel Naturrecht (Fn. 70), 1. 73 Vgl. Welzel Naturrecht (Fn. 70), 1. 74 Radbruch Die Erneuerung des Rechts, in: Die Wandlung, II, Jg. 1947, 19; siehe auch Welzel Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (Fn. 52), 219 ff. 75 Welzel Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (Fn. 52), 289 f: „Die Lehre von der rechtlichen Allmacht des Gesetzgebers ist der eigentliche Sündenfall des Rechtspositivismus. Ihn zu überwinden, ist die entscheidende Aufgabe der Zukunft" (290). 76 Welzel Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (Fn. 52), 290; ders. Más allá del Derecho Natural (Fn. 33), 35 ff.

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verbrauchten sittlichen Substanz zehrte, die nun plötzlich weggezogen wurde, 7 7 so kann auch behauptet werden, daß hinter dem aktuellen Normativismus eine ontologische Basis zu finden ist, auch wenn das Gegenteil behauptet werden sollte und man sich ihrer gerne plötzlich entledigen würde. Genau wie bei Radbruch kann es auch zu einem plötzlichen Sinneswechsel kommen. Wenn man also bei Roxin feststellen kann, daß er in seiner Auffassung eine wertende Kriminalpolitik akzeptiert, die sowohl formale als auch materielle Garantien des Strafrechts einschließt, 78 kann man, besonders wegen dieser letztgenannten 79 , nur darauf schließen, daß er die ontologischen Grundlagen anerkennt. 8 0 3. Aus diesem Grunde gehe ich davon aus, daß die zukünftige Aufgabe der Strafrechtsdogmatik darin bestehen wird, den vom Normativismus implizierten puren „Formalismus" zu überwinden, wobei ein möglicher Weg der ist, Uberlegungen 8 1 über jene „ontologischen Strukturen" anzustellen, die dem Regelungsgegenstand der Strafrechtsnormen und dem Studiengegenstand der Strafrechtsdogmatik eigen (und bei jeder staatlichen Intervention vorgegeben) sind. Diese Suche und Analyse der ontologischen Inhalte der diversen Strafrechtsinstitutionen, die den rückfälligen und ungebremsten Ausübungsformen der strafrechtlichen Staatsgewalt Grenzen setzen können, sollte einer der Hauptzwecke sein, die die Aufgabe der zukünftigen Strafrechtsdogmatik bezeichnet, falls es wirklich gewünscht wird, daß sie die hohen Aufgaben erfüllt, die Rechtssicherheit zu garantieren sowie die geeigneten theoretischen Grundlagen für eine angemessene Kriminalpolitik zu schaffen. Das vorher Erwähnte bedeutet jedoch, daß die Anerkennung der ontologischen Strukturen in keiner Weise als ein Ausweg angesehen werden darf, um die Realisierung kriminalpolitischer Ziele zu behindern, die dem Strafrecht zugeordnet sind; ganz im Gegenteil, sie bildet einen der vielen Mechanismen, um die Erreichung dieser kriminalpolitischen Zwecke — von denen gesetzt, die politische Entscheidungen dieser Art fällen können - auf rationale Weise zu verfolgen. Bei der Aufgabe der Erarbeitung systematischer Strukturen und der Bestimmung der begrifflichen Inhalte gewisser materieller Strafrechtskategorien sollte man daran denken, daß diese dazu dienen, die Struktur des Verbrechensbegriffs und die Strafvoraussetzungen zu stützen, und daß die Strafrechtssysteme und die Kriminalpolitik, als Ausdrucksformen der Staatsgewalt, nicht einheitlich sind. Es gibt solche, die 77

Welzel Más allá del Derecho Natural (Fn. 33), 13. Womit das Strafrecht in diesem Falle auch - wie Liszt es ausdrückt - zur „unüberwindlichen Grenze der Kriminalpolitik wird". 7 9 Nach Welzel sind die materiellen Inhalte die „empirischen Elemente des Rechts und der Ethik"; im Recht „entspricht die Existenz der Essentia". Deshalb ist „die Faktibilität untrennbar mit dem Normativen verbunden" und umgekehrt. {Welzel Más allá del Derecho Natural [Fn. 33], 30 ff). 8 0 Das gleiche kann von Schünemann gesagt werden. Vgl. Schünemann Kritische Anmerkungen zur geistigen Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, G A 1995, 203. 81 Wenn nicht in den kriminalpolitischen Entscheidungen des Gesetzgebers, so doch zumindest in den systematischen Konstruktionen. 78

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stärkere und präziser abgrenzende Kriterien des ius puniendiS2 benötigen als andere, wenn es so ist, daß sie sich an die Forderungen der demokratischen Rechtsstaaten anpassen wollen. Dementsprechend können die grundlegenden Prinzipien oder Kriterien, sowohl formaler als auch materieller Art, die die Funktion haben, den Regierungsgewalten Grenzen zu setzen und die Rechte des einzelnen vor der Ausübung dieser Gewalt zu garantieren, nur vernünftig festgelegt werden, wenn von den Überlegungen dieser sachlogischen Strukturen ausgegangen wird. Dabei muß man sich jedoch bewußt sein, daß diese grenzziehende Funktion lediglich relativ83 ist und daß sie alleine nicht ohne weiteres eine gerechte Regelung oder eine gerechte Lösung der konkreten Probleme garantieren können, so daß deshalb andere Mechanismen nötig sind, 84 auf die auch zurückgegriffen werden muß. Wenn sich auch die durch den Welzelschen Ontologismus vorgezeigten Wege sich starken Einwänden ausgesetzt sehen können, weil sie uns nicht zu einer breiten Uberwindung der bestehenden Krise in der Strafrechtsdogmatik 85 geführt haben und immer noch eine breitere Einflußnahme der Ideen vonnöten ist, so bestehen doch ebenfalls Zweifel, ob diese Krise durch die Kehrtwendung zum Normativismus (oder zur Renormativierung) hin überwunden werden konnte. Ich denke sogar, daß diese Kehrtwendung zum Normativismus, vor allem in ihrer extremen Form, welche in gewissem Maße nichts anderes als eine Kehrtwendung zum rechtlichen Positivismus bedeutet, letztlich der Rückkehr zu der Idee gleichkommt, laut derer „der verantwortungsbewußte Gesetzgeber das Gerechte anordnet" und die Rechtswissenschaft ohne weiteres jegliche Rechtsordnung ohne Rücksicht auf ihren Inhalt akzeptieren muß. Das sollte uns die Notwendigkeit überdenken lassen, ob es nicht besser ist, zu den Kriterien zurückzukehren, die der schöpferischen Freiheit des Gesetzgebers und der Entscheidungsfreiheit des Richters präzise Grenzen setzen können. 8 6 Denn 82

Wie die des lateinamerikanischen Bereichs, u. a. Mexiko. Schon Wolf und Würtenberger haben mit Recht auf den Wert dieser Strukturen hingewiesen; vgl. Würtenberger El derecho natural y la filosofía actual, in: Zeitschrift der Universidad Nacional de Córdoba, 2 a serie (Mai-Aug.) 1960, 487ff; Stratenwerth Das rechtstheoretische Problem der Natur der Sache, 1957, 8 ff. 84 Welzel schlägt vor, daß die ethische Autonomie des Menschen als Kriterium genommen wird, da es ein Prinzip ist, das er als allgemein gültig und permanent ansieht. Die „ethische Autonomie ist das, was das Individuum in eine Person verwandelt; und es ist der Mensch als Person, an den sich das Recht richtet, indem es die Ehrfurcht als befehlende Macht einfordert." (Vgl. Derecho natural y justicia material, 257; Vom irrenden Gewissen, 27; Derecho natural y positivismo jurídico, 43). 85 Auch auf philosophischer Ebene ist die alte Diskussion zwischen den extremen Positionen des Rechtsnaturalismus (Naturrecht) und des Rechtspositivismus (positives Recht) nicht überwunden. Vgl. Márquez Pinero La fundamentación básica del Derecho penal, in: Criminalia, Año LXV, No. 2 (Mai-Aug.) 1999, 3 ff. 86 Die Begrenzungen, die die sachlogischen Strukturen voraussetzen, „geben dem Juristen die Möglichkeit vor, das Handeln des Gesetzgebers zu präzisieren, und gehen von der positiven Rechtsordnung aus. Diese Präzision bezieht sich nicht nur auf den Gesetzgeber, sondern auch auf den Richter, der mit der Anwendung des Gesetzes beauftragt ist". Vgl. Garzón Valdéz (Fn. 34), S. 124. 83

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genau das ist nötig, damit der Bürger nicht ohne weiteres der „Willkür" des Gesetzgebers oder gegebenenfalls des Richters ausgesetzt wird. So wird die Suche also weitergehen, wobei sie in eine Richtung gelenkt werden sollte, wo sie etwas zu finden hat, was über den Rechtspositivismus und den Rechtsnaturalismus hinausgeht oder, um es mit anderen Worten auszudrücken, die das Unvereinbare zwischen dem Ontologismus und dem Normativismus überwindet; also etwas, das, ohne von der Auffassung abzuweichen, welche den Menschen stets als Person behandelt, also als „Selbstzweck" oder als „ethischer Selbstzweck" und nicht als „Mittel zu irgendeinem Ziel", und damit das Prinzip der Freiheit des Menschen anerkennt, die Entwicklung einer rationaleren Kriminalpolitik und eines rationaleren Strafrechtssystems ermöglichen kann.

Rechtsnorm und Strafvorschrift ANDRZEJ Z O L L

I. Auffallend ist, daß die polnische Strafrechtsdoktrin dem Problem der Rechtsnorm deutlich mehr Aufmerksamkeit schenkt, als es noch vor einigen Jahren der Fall war. 1 Man wurde darauf aufmerksam, daß nach der Lösung vieler typisch strafrechtlicher Probleme in der richtigen Auffassung und dem richtigen Verständnis der Rechtsnorm zu suchen ist. Für die Untersuchungen über den Verbrechensaufbau ist die Normentheorie sogar von absolut grundlegender Bedeutung. Ich widme diese Bemerkungen, die sich im Grunde genommen auf die Relation zwischen der Struktur der Rechtsnorm und dem Verbrechensaufbau beziehen, unserem verehrten Jubilar Claus Roxin und möchte bei dieser Gelegenheit dankbar auf seinen Aufsatz 2 in der Gedächtnisschrift für Radbruch hinweisen, der mich in vielfacher Hinsicht zu Untersuchungen über den Verbrechensaufbau inspiriert hat.

II. Was vielen Vertretern der polnischen Strafrechtslehre in erster Linie vorgeworfen werden kann, ist die Tatsache, daß die Norm des Strafrechts mit der jeweiligen Strafvorschrift identifiziert wird. Unter der „Strafvorschrift" ist eine Einheit des Gesetzestextes zu verstehen. 3 Unter dem Begriff der Rechtsnorm versteht man das in der Rechtsaussage (Rechtsvorschrift) ausgedrückte Gebot (Sollen) eines bestimmten Verhaltens. 4 Eine Strafvorschrift ist ohne Zweifel die in Art. 148 § 1 des polnischen Strafgesetzbuches 5 enthaltene Aussage: „Wer einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter acht Jahren, mit fünfundzwanzig Jahren Freiheitsstrafe oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." Diese Aussage darf nicht mit 1 Siehe insbes. Wröbel Normative Struktur der Strafvorschrift (poln.), in: Ruch Prawniczy (Hrsg.), Ekonomiczny i Socjologiczny 3, 1993, 9 3 - 1 0 3 . 2 Roxin Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Rechtsidee und Rechtsstoff in der Systematik unseres Strafrechts, GS für Radbruch, 1968, 2 6 0 - 2 6 7 . 3 Vgl. Ziembinski Hauptprobleme der Rechtswissenschaft (poln.), 1980, 156. 4 Ziembinski (Fn. 3), 131. 5 Das StGB wurde am 6. Juni 1997 verabschiedet und trat am 1. September 1998 in Kraft.

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der Strafrechtsnorm, die dem Schutz des menschlichen Lebens dienen soll, identifiziert werden. Darin ist zwar das Sollen, das Gebot eines bestimmten Verhaltens enthalten, in diesem Fall jedoch geht es um eine andere Norm als diejenige, deren Schutzgegenstand das Menschenleben ist. Art. 148 § 1 poln. StGB drückt das Sollen „Den Menschen nicht töten" nicht direkt aus, sondern lediglich, daß gegen denjenigen, der einen Menschen getötet hat, die in dieser Vorschrift bestimmte Strafe verhängt werden soll. Die Strafvorschrift drückt also direkt nur die Norm aus, die das in dieser Vorschrift bezeichnete Verhalten sanktioniert, und nur diese Norm kann als Strafrechtsnorm angesehen werden. Entgegen der vorherrschenden Meinung verletzt derjenige, der einen Menschen tötet, nicht die Normen des Strafrechts, vielmehr schafft er mit seinem Verhalten die Voraussetzungen für die Aktualisierung des Sollens als Wesensgehalt dieser Norm. Wer einen Menschen tötet, verletzt die Norm „Nicht den Menschen töten", 6 aber es ist nicht mehr die Norm des Strafrechts im engen Sinne dieses Wortes. Die im Strafgesetz vorgesehene Sanktion ist kein Bestandteil dieser Norm. Die Norm, „Den Menschen nicht töten", nenne ich deshalb die sanktionierte Norm. Auf die sanktionierte Norm kann aus der Strafvorschrift geschlossen werden, sie kann aber auch aus den Bestimmungen anderer Rechtszweige abgeleitet werden. Wenn die Strafvorschrift eine Norm einführt, die die Verletzung einer anderen Norm sanktioniert, so muß diese andere (sanktionierte) Norm logischerweise der Strafvorschrift vorausgehen, sie muß eine Voraussetzung für den Erlaß der Strafvorschrift durch den Gesetzgeber sein. 7 Daß die sanktionierte Norm in logischer Hinsicht der die sanktionierende Norm direkt ausdrückenden Strafvorschrift vorausgeht, hat freilich nicht zu bedeuten, daß dieses Vorausgehen auch temporal zu verstehen wäre. Am häufigsten wird es so sein, daß die sanktionierte Norm durch die Verabschiedung der Strafvorschrift festgelegt wird und aus dieser Vorschrift auf die Geltung dieser Norm geschlossen wird. Dem ist aber nicht immer so. Die sanktionierte Norm kann unabhängig von der Strafvorschrift gelten, sie kann nämlich auf Grund der Vorschriften anderer Rechtszweige abgeleitet werden. Die Strafvorschrift „findet" dann die bereits geltende sanktionierte Norm „vor" und führt lediglich ihre Strafbarkeit ein. Die Verletzung der Rechtsnorm muß nicht strafbar sein. Eine solche Verletzung kann entweder überhaupt sanktionsfrei (lex imperfecta) oder auch mit den z. B. im Zivil- bzw. Verwaltungsrecht vorgesehen Folgen bedroht sein. Selbst wenn die Normverletzung auch strafrechtliche Folgen nach sich zieht, wird es meistens so sein, daß nur einige normverletzende Verhaltensarten strafbar sein werden, während sonstige Formen der Normverletzung aus strafrechtlicher Sicht irrelevant bleiben.

6 Dies war die Voraussetzung der Konzeption der Rechtsnorm bereits bei Binding Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 4 1922, 4, 6 f. 7 Binding stellt fest: „Die Norm geht begrifflich dem Strafgesetz voraus, denn dieses bedroht eine Normübertretung mit einer Straffolge oder erklärt sie für straffrei", aaO (Fn. 6), 45.

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III. Das hier dargestellte Verhältnis zwischen dem Bereich der durch Sollensnormen und dem Bereich der durch Strafvorschriften erfaßten Verhaltensweisen weist deutlich auf die Funktion des Strafrechts hin, welche diese Rechtsdisziplin im Vergleich zu anderen Rechtszweigen zu erfüllen hat. D e m Strafrecht fällt eine subsidiäre Funktion zu. Es schreitet mit seinen sanktionierenden N o r m e n erst dann ein, wenn sich die in anderen Rechtszweigen vorgesehenen Mittel zur Sicherung der Beachtung von N o r m e n , die zu einem bestimmten Verhalten anhalten, als unzureichend erweisen. Das Strafrecht erscheint hier als ultima ratio. Im Unterschied zu anderen Rechtszweigen besteht seine Aufgabe nicht darin, daß es die Rechtsordnung organisiert, und die Dekodierung der sanktionierten Verhaltensnorm aus der Strafvorschrift ist für das Strafrecht auf jeden Fall nicht konstitutiv. D a s Strafrecht soll die Rechtsordnung sichern. Die oben dargestellten Voraussetzungen erlauben eine Bestimmung der spezifischen Funktion des Strafrechts. Es lassen sich folgende Funktionen dieser Vorschriften nennen: • Strafvorschriften legen fest, welche N o r m e n überhaupt strafrechtlich geschützt werden. Dies geschieht durch die Bestimmung, welche normverletzenden Verhaltensweisen strafbar sind. Es können (in Ausnahmefällen) alle Verhaltensweisen sein, die eine konkrete N o r m verletzen oder (was die Regel ist) nur einige davon. Die Strafvorschrift gibt also keine Antwort auf die Frage, welche Verhaltensweisen normwidrig sind, sondern lediglich, welche normwidrigen Verhaltensweisen strafbar sind. Die Strafvorschrift bestimmt also nicht das Feld der Rechtswidrigkeit des Verhaltens, sondern nur das Feld der Strafbarkeit rechtswidriger Verhaltensweisen. • Strafvorschriften legen neben der Begehung einer tatbestandsmäßigen Tat auch weitere Voraussetzungen der Strafbarkeit fest. Es geht hier also darum, daß in den Strafvorschriften Bedingungen für die Aktualisierung der sanktionierenden N o r m - der Strafrechtsnorm im engen Sinne dieses Wortes präzisiert werden. • Strafvorschriften bestimmen die Strafe, die bei Verletzung der sanktionierten N o r m zu verhängen ist. • Strafvorschriften begründen letztendlich die Schlußfolgerung über die Geltung der sanktionierten N o r m in der Rechtsordnung.

IV. Ich werde mich nun näher mit der letztgenannten Funktion der Strafvorschrift befassen. Wichtig für die weiteren Erwägungen ist die Antwort auf die Frage, ob jeder Strafvorschrift eine und nur eine sanktionierte N o r m entspricht oder ob diese Relation weitaus komplizierter ist. Für die einschlägige Antwort ist es von Bedeutung, wie allgemein die sanktionierte N o r m ausgedrückt

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wird. 8 Relevant ist beim Konstruieren der Tatbestände im Strafgesetz auch die Legislativtechnik. 1. Aus zwei verschiedenen Strafvorschriften können sich ohne Zweifel zwei verschiedene sanktionierte Normen ergeben. Aus Art. 148 § 1 poln. StGB ist auf die Geltung der Norm „Nicht den Menschen töten", aus Art. 288 § 1 poln. StGB dagegen auf die Geltung der Norm „Fremde bewegliche Sache nicht zerstören oder gebrauchsunfähig machen" zu schließen. 9 Jeder der beiden Strafvorschriften entspricht eine andere sanktionierte Norm. Es ist theoretisch aber auch möglich, daß die Strafvorschrift auf eine solche Art und Weise den Straftatbestand bestimmen wird, daß ihm zwei verschiedene sanktionierte Normen zugrunde liegen können. Dies kann insbesondere bei Strafvorschriften über erfolgsqualifizierte Delikte der Fall sein, oder auch wenn die Typusbeschreibung alternativ aufgefaßt wird und jedes Glied dieser Alternative sich auf ein anderes Rechtsgut bezieht. 2. Wir wollen nun versuchen, die Frage zu beantworten, ob sich aus mehreren Strafvorschriften immer mehrere sanktionierte Normen ergeben oder ob auch aus mehreren Strafvorschriften auf ein und dieselbe Norm geschlossen werden kann. Und genauer, ob den in Art. 148 § 1 und Art. 150 § 1 poln. S t G B 1 0 enthaltenen Strafbestimmungen zwei verschiedene sanktionierte Normen zugrunde liegen oder ob wir es hier mit einer einzigen Norm zu tun haben. Auf diese Frage kann es - der Warnung von Bindingn Folge leistend - nur eine Antwort geben: Beiden Vorschriften liegt dieselbe Norm zugrunde - „Den Menschen nicht töten". Wollte man eine gesonderte sanktionierte Norm als Grundlage für die Bestimmung des Art. 150 § 1 poln. StGB konstruieren, so wäre dies eine völlig künstliche Vorgehensweise. Wird allerdings gefragt, ob dem Art. 148 § 1 und dem Art. 155 poln. S t G B 1 2 eine gemeinsame Norm zugrunde liegt, so wird die Antwort auf diese Frage grundsätzlicher Entscheidungen im Rahmen der Normenstruktur bedürfen. Notwendig wird nämlich die Feststellung sein, ob der Tötungsvorsatz ein Merkmal ist, das über die Verletzung der dem Art. 148 § 1 poln. StGB zugrundeliegenden sanktionierten Norm entscheidet, oder ob es bereits ein Element der sanktionierenden Norm ist, das eine der vielen Verhaltensweisen beschreibt, die eine sanktionierte Norm verletzen, und das über die Strafbarkeit und Strafhöhe entscheidet. 8 Binding warnte vor einer allzu weit gehenden Generalisierung von Normen sowie vor der Festlegung von allzu vielen, zu eng aufgefaßten Verhaltensnormen, aaO (Fn. 6), 48 ff. 9 Art. 288 § 1 poln. StGB lautet: „Wer eine fremde Sache zerstört, beschädigt oder gebrauchsunfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft." (Siehe: Das polnische Strafgesetzbuch. Kodeks Karny, in der Übersetzung von E. Weigend, 1998.) 10 Art. 150 § 1 poln. StGB lautet: „Wer einen Menschen auf dessen Verlangen und aus Mitleid mit ihm tötet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft" (Fn. 9). 11 Siehe Fn. 8. 12 Art. 155 poln. StGB lautet: „Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft" (Fn. 9).

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Ebenso unmöglich ist es, ohne vorherige Analyse des Inhalts der sanktionierten Norm auf die Frage zu antworten, ob den Vorschriften über die Rechtsgutsverletzung und den Vorschriften über die Rechtsgutsgefährdung eine gemeinsame sanktionierte Norm zugrunde liegt. In demselben Kontext wird man die Frage beantworten müssen, ob eine gemeinsame Norm die Vorschriften über die Begehung der verbotenen Tat mit den Vorschriften über den Versuch verbindet, sowie ob der Täterschaft einerseits und der Anstiftung und Beihilfe andererseits ebenfalls eine gemeinsame Norm zugrunde liegt. 3. Die oben gestellten Fragen lassen sich ohne eine vorherige Analyse des Inhalts der sanktionierten Norm nicht beantworten. Ich habe oben festgestellt, daß die Norm ein sich aus der Strafvorschrift ergebendes Sollen, also das Gebot eines bestimmten Verhaltens ist. Der Begriff des „Sollens" als Wesensgehalt der Norm ist aber alles andere als eindeutig. Das „Sollen" kann nämlich zum einen lediglich den Willen des Gesetzgebers ausdrücken, daß sich der Normadressat in der durch die Norm gebotenen Art und Weise verhält. Aus der Aussage über das Vorhandensein der so verstandenen Norm in der Rechtsordnung erfahren wir lediglich, daß der Gesetzgeber die Rechtsgenossen zu einem bestimmten Verhalten angehalten hat. Das Gebot des Gesetzgebers soll den Motivationsprozeß des Normadressaten dahingehend determinieren, daß er von normwidrigen Verhaltensweisen absieht. Das „Sollen" kann aber zum anderen auch als Ausdruck des Werturteils über das Verhalten verstanden werden, das Gegenstand der Norm ist. In diesem Sinne hätte das Sollen als Inhalt der dem Art. 148 § 1 poln. StGB zugrundeliegenden Norm die folgende Gestalt „Man soll nicht töten". Das Sollen in diesem Sinne bedeutet, daß entsprechend dem angenommenen Wertesystem der Gesetzgeber das gegebene Verhalten als tadelnswürdig bezeichnet. Die Rechtsnorm darf nicht nur als ein Werturteil verstanden werden. Der Gesetzgeber legt Rechtsnormen nicht fest, weil er lediglich sein Urteil über konkrete Handlungen abgeben will, sondern um menschliche Handlungen in der von ihm als positiv bewerteten Richtung zu motivieren. Der Inhalt der Rechtsnorm kann also in zweierlei Hinsicht verstanden werden. Entweder drückt sie nur den Willen des Gesetzgebers aus, daß die Normadressaten in bestimmter Weise handeln, oder sie drückt sowohl das Werturteil über ein konkretes Verhalten sowie das Gebot (Sollen) eines bestimmten, der angenommenen Wertung entsprechenden Verhaltens aus. Die Wahl der einen oder der anderen Auffassung der Rechtsnorm ist von grundlegender Bedeutung für die Konzeption des Strafrechts selbst.

V. 1. Wird die Rechtsnorm wie im ersteren Fall verstanden, so läßt sich der Wesensgehalt der Normverletzung auf die mangelnde Befolgung des gesetzgeberischen Willens zurückführen. Tadelnswürdig, normwidrig ist eine solche

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Tat, die sich dem Willen des Gesetzgebers entgegensetzt. Die Beachtung dieses Willens wird zum Hauptkriterium der Tatbewertung. Aus offensichtlichen Gründen entspricht ein solches Verständnis der N o r m aller autoritären und totalitären Systeme. Das Verbrechen erscheint dann als eine Pflichtverletzung. Die Konsequenzen dieser Annahme sind in der Strafgesetzgebung deutlich sichtbar. U m auf einige für eine solche Auffassung charakteristische Merkmale beispielhaft hinzuweisen: In einem System, in dem die Normverletzung in einem viel weiteren U m fang, als es in den auf das andere Verständnis der N o r m gestützten Systemen der Fall ist, auf die Verletzung der Gehorsamspflicht zurückgeführt wird, führt man die Strafbarkeit von Taten ein, die ein Rechtsgut abstrakt gefährden. Konsequenterweise werden auch in einem gleich weiten Umfang die Vorbereitungshandlungen bestraft. Die Verantwortlichkeit für den Versuch hat denselben Umfang wie die Verantwortlichkeit für die Tatbegehung. Es werden auch Klauseln zur Anwendung gebracht, die die Strafbarkeit oder strengere Strafbarkeit einer Verletzung der Rechtsordnung als solcher ermöglichen. 1 3 Die Folgen dieser Annahme sind besonders deutlich im Bereich der Kriminalpolitik sichtbar. D e r Strafzweck liegt darin, die Befolgung der Rechtsnorm zu erzwingen. Unwichtig ist dagegen die Einwirkung in Richtung auf die Überzeugung von der Richtigkeit der N o r m . Die Strafzumessung gründet sich auf die Generalprävention (im Sinne der negativen Prävention), und die Strafe soll lediglich der Abschreckung dienen. In der Strafvollstreckung wird die H e bung der Disziplin bei dem Verurteilten angestrebt, während auf seine Erziehung im Sinne der Annahme des allgemein anerkannten Wertesystems kaum oder gar kein Gewicht gelegt wird. 2. Ganz anders ist es um die Konzeption des Strafrechts und insbesondere um den Verbrechensbegriff bestellt, wenn die Rechtsnorm als ein Sollen verstanden wird, das zwei Aspekte ausdrückt: den axiologischen und den thetischen. Der Wesensgehalt des Verbrechens beruht nicht auf der mangelnden Befolgung des gesetzgeberischen Willens, in den Vordergrund tritt die Schädlichkeit des eine Rechtsnorm verletzenden Verhaltens, vom Standpunkt des vom Gesetzgeber angenommenen Wertesystems aus. Eine solche Auffassung ist in den rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsätzen fest verankert. Der Gesetzgeber muß die Schädlichkeit einer bestimmten Kategorie von Taten nachweisen, um das Verbot, sie zu begehen, einführen zu können. Diese Ermächtigung des Gesetzgebers ist der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterstellt. 1 4 Grundlage für die negative Bewertung des Verhaltens ist eine andere Bewertung, deren Gegenstand bestimmte Ereignisse, Sachen, Ideen, soziale Verhält-

13 Ein typisches Beispiel für eine solche Grundlage der Strafverantwortlichkeit in den ehemaligen kommunistischen Ländern waren die Vorschriften für die Bestrafung des Hooliganismus. 1 4 Näher dazu Zoll Der Verbrechensbegriff im Lichte des Entwurfs des polnischen Strafgesetzbuches, ZStW 107 (1995), 424.

R e c h t s n o r m u n d Strafvorschrift

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nisse sind. Gelangt der Gesetzgeber zu der Einsicht, daß sie von den axiologischen Voraussetzungen her für das richtige Funktionieren der Gesellschaft wichtig, ja unentbehrlich sind, so wird er sie als Rechtsgüter betrachten. 1 5 Alle diese Rechtsgüter verletzenden oder gefährdenden Verhaltensweisen müssen im Hinblick auf den Wert dieser Rechtsgüter als schädlich angesehen werden.

VI. Nicht jedes Ereignis aber, das zu einer Zerstörung oder Gefährdung des Rechtsguts führt, muß Gegenstand der Rechtsnorm sein. Objekt der rechtlichen Reglementierung können nämlich nur solche Ereignisse oder Kausalverläufe sein, über die der Mensch die Herrschaft haben kann. Naturgesetze vermag der Gesetzgeber nicht zu ändern. N u r das Verhalten eines Menschen, das ihm als Person zugeschrieben werden kann, 1 6 wird zum Gegenstand der als Norminhalt begriffenen Wertung. 1 7 Notwendig ist ferner eine weitere Einschränkung. Die Rechtsgüter sind am gesellschaftlichen Verkehr beteiligt und haben daher gesellschaftlichen Wert. Diese Beteiligung setzt sie einer gewissen Bedrohung aus oder kann sogar zu ihrer Zerstörung führen. Deshalb muß die gesellschaftliche Toleranz für bestimmte, Rechtsgüter gefährdende Verhaltensweisen berücksichtigt werden. D a die Beteiligung am gesellschaftlichen Verkehr notwendig ist, können diejenigen Verhaltensweisen, die das gegebene Rechtsgut über das übliche Maß hinaus gefährden, als negativ bewertet werden. 1 8 Bei der Bewertung des Verhaltens im Kontext der Rechtsnorm müssen also die Regeln des Umgangs mit diesem Rechtsgut berücksichtigt werden. Diese Regeln ergeben sich aus den Naturgesetzen, der menschlichen Erfahrung und der Kenntnis der Natur des gegebenen Rechtsguts. In bestimmten Fällen können sie Rechtscharakter besitzen (z. B. Verkehrsregeln). Die Umgangsregeln können drei Bereiche betreffen: die Qualifizierung des Subjekts, das mit dem Rechtsgut in Kontakt steht, des zur Herstellung dieses Kontakts verwendeten Werkzeugs und der Art, in der der Kontakt mit dem Rechtsgut verläuft. Genügt die Tat den Umgangsregeln, so kann sie selbst dann, wenn sie eine Gefährdung für das Rechtsgut oder gar dessen Zerstörung herbeigeführt hat, nicht negativ bewertet werden, da sie die Grenzen der gesellschaftlichen Toleranz nicht überschritten hat. In einem solchen Fall liegt keine Verletzung der

1 5 Es ist hier nicht der Platz für eine genaue Besprechung des Rechtsgutsbegriffs und insbesondere, ob er einen objektiven Charakter hat, d. h. ob etwas ein Rechtsgut ist unabhängig von dem Standpunkt des Gesetzgebers oder auch ob dieses Etwas erst infolge der gesetzgeberischen Bewertung zu einem Rechtsgut wird. Siehe dazu Hassemer Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, 19 ff.

Vgl. Roxin (Fn. 2), 262. Ich lasse hier N o r m e n , deren Adressat das kollektive Subjekt ist, außer acht. Im polnischen Strafrechtssystem stellen solche N o r m e n keine Grundlage für die Strafvorschrift dar. 18 Vgl. Welzel Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939), 515 ff. 16

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Rechtsnorm vor. D i e negative Bewertung kann die angenommenen U m g a n g s regeln betreffen und zu ihrer Ä n d e r u n g führen. Gegenstand des negativen, in der Rechtsnorm enthaltenen Werturteils ist eine Tat, die das normgeschützte Rechtsgut gefährdet und den durch Wissen und Erfahrung ausgestalteten Regeln des U m g a n g s mit diesem Rechtsgut widerspricht. D i e Q u e l l e der negativen Bewertung ist folglich sowohl im faktischen Sachverhalt als Resultat des menschlichen Verhaltens als auch in dem Verhalten selbst zu suchen. Diese zwei Elemente sind für die in der N o r m enthaltene negative Bewertung konstitutiv, und ihr gemeinsames Auftreten bedingt die A n n a h m e der N o r m w i d r i g k e i t des Verhaltens. A n dieser Stelle stimmt die präsentierte K o n z e p t i o n mit dem personalen Unrechtsbegriff nur scheinbar überein. 1 9 Der personale Unrechtsbegriff setzt ebenfalls voraus, daß für die negative Bewertung des Verhaltens der Erfolgsunwert und der Handlungsunwert entscheidend sind. 2 0 Der Unterschied betrifft die Kriterien des Handlungsunwerts selbst. Während die Anhänger des personalen Unrechtsbegriffs den H a n d lungsunwert mit der Einstellung des Subjekts, mit seinen Absichten in Verbindung bringen, geht die in der vorliegenden Arbeit präsentierte A u f f a s s u n g des Handlungsunwerts von der Verletzung der Umgangsregeln mit dem Rechtsgut aus. D i e Einstellung des Subjekts, seine Haltung dem Rechtsgut gegenüber hat also keinen Einfluß darauf, daß das Verhalten als normwidrig und folglich auch rechtswidrig angesehen wird. D i e subjektive Einstellung des Täters wird bei der Feststellung der Strafbarkeit des Verhaltens von Bedeutung sein, als Element der Typisierung der unter A n d r o h u n g von Strafe verbotenen Tat, also im Rahmen der für die Aktualisierung der sanktionierenden N o r m entscheidenden Voraussetzungen.

VII. 1. D a s oben Gesagte erlaubt nun eine A n t w o r t auf die erste Frage. D e r Strafvorschrift über vorsätzliche T ö t u n g (Art. 148 § 1 poln. S t G B ) und der Strafvorschrift über fahrlässige T ö t u n g (Art. 155 poln. S t G B ) liegt ein und dieselbe Rechtsnorm zugrunde. 2. Ich versuche nun die zweite Frage zu beantworten, und zwar ob die Tatbestände, deren Merkmal die Zerstörung eines Rechtsguts ist, mit den Tatbeständen, deren Merkmal die abstrakte bzw. konkrete Rechtsgutsgefährdung ist, eine gemeinsame sanktionierte N o r m haben. V o m Standpunkt des Rechtsguts selbst besteht freilich zwischen der Zerstörung und der Gefährdung des Rechtsguts ein qualitativer Unterschied. Dieser Unterschied aber wird nicht mehr so groß sein oder kann überhaupt nicht 19

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Vgl. Welzel Das Deutsche Strafrecht, "1969, 62. Welzel (Fn. 19), 136.

Rechtsnorm und Strafvorschrift

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auftreten, wenn man den Handlungsunwert selbst in Betracht zieht, der sich in der Verletzung der Umgangsregeln in einer Situation äußert, wenn es zu einer konkreten Rechtsgutsgefährdung kommt. Anders wird sich dieser Aspekt bei der abstrakten Gefährdung darstellen. Der in der Norm enthaltene axiologische Aspekt spricht für die Annahme einer gemeinsamen, sowohl der Strafvorschrift über die Rechtsgutsverletzung als auch der Strafvorschrift über die konkrete Rechtsgutsgefährdung zugrundeliegenden sanktionierten Norm. Der Strafvorschrift über die abstrakte Rechtsgutsgefährdung liegt aber schon eine andere sanktionierte Norm zugrunde. 3. Diese Annahme ist auch für die Antwort auf die Frage von Bedeutung, ob das einen Tatbestand in der Begehungsform verwirklichende Verhalten dieselbe sanktionierte Norm verletzt wie das Verhalten in der Versuchsphase. Aus objektiver Sicht besteht der Versuch darin, daß das Rechtsgut einer konkreten Gefahr ausgesetzt wird. Die Rechtswidrigkeit der Tat ergibt sich also aus der Verletzung derselben sanktionierten Norm wie bei der Begehung (Verletzung oder konkrete Gefährdung des Rechtsguts), aber nicht im Hinblick auf das im Versuch enthaltene subjektive Element, sondern wegen des objektiven Charakters des Versuchs - konkreter Gefährdung des Rechtsguts. Das subjektive Element des Versuchs ist also kein Merkmal der Normverletzung, sondern ein für die Strafbarkeit der Tat relevantes Element. Aus dem oben Gesagten ergibt sich eine praktische Schlußfolgerung: Sieht das Gesetz die Straffreiheit wegen tätiger Reue (Art. 15 § 1 poln. StGB) vor, so darf der Täter trotz Verwirklichung von Merkmalen eines bestimmten Tatbestandes nicht zur Strafverantwortlichkeit gezogen werden. 4. Die Antwort auf die Frage, ob der Täter, der Anstifter und der Gehilfe ein und dieselbe oder verschiedene Normen verletzen, ist mit der Konzeption der Verantwortlichkeit für die Mitwirkung bei der Begehung einer Straftat verbunden, die sich im polnischen Strafrecht von der im deutschen Recht angenommenen Theorie wesentlich unterscheidet. 21 Das polnische Strafgesetzbuch unterscheidet in Art. 18 § 1 vier Täterschaftsformen: Einzeltäterschaft, Mittäterschaft, leitende Täterschaft und die AnhalteTäterschaft. 22 Die Verantwortlichkeit der in Art. 18 § 1 poln. StGB bezeichneten Personen stützt sich auf die Einheitstäterschaftslehre. Jede Person ist für die Täterschaft dieser Straftat verantwortlich, deren Merkmale der die verbotene Tat „eigenhändig" ausführende Täter verwirklichte. Wurde die Straftat auf Anhalten einer Person unter Mißbrauch der Abhängigkeit des unmittelba2 1 Siehe Zoll Alleinhandeln und Zusammenwirken aus polnischer Sicht, in: Eser/Huber/ Cornils (Hrsg.), Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, 1998, 57 ff. 2 2 Art. 18 § 1 poln. StGB legt fest: „Wegen Täterschaft ist nicht nur strafbar, wer die verbotene Tat allein oder gemeinsam und nach Verabredung mit einer anderen Person begeht, sondern auch, wer die Ausführung der Tat durch eine andere Person leitet oder wer unter Mißbrauch der Abhängigkeit einer anderen Person diese dazu anhält, die Tat zu begehen" (Fn. 9).

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ren Täters begangen, so hat sich die zu der Straftat anhaltende Person für deren Begehung etwa aus Art. 148 § 1 poln. StGB zu verantworten. Art. 18 § 1 poln. StGB erweitert z. B. im Tötungsfall die Grundlage der objektiven Erfolgszurechnung in Form des Todes eines Menschen um Handlungen, die andere Täterschaftsformen darstellen als Einzeltäterschaft. Bei täterschaftlicher Mitwirkung haben wir es mit der Verwirklichung verschiedener Varianten ein und desselben Straftatbestandes zu tun. Es besteht auch kein Zweifel daran, daß diesen Varianten ein und dieselbe Rechtsnorm zugrunde liegt. Etwas schwieriger wird es im Zusammenhang mit der Anstiftung und Beihilfe. Gemäß dem polnischen Strafgesetzbuch wird die Strafverantwortlichkeit für Anstiftung und Beihilfe nicht von der Begehung der Straftat durch den unmittelbaren Täter abhängig gemacht. Der Anstifter und der Gehilfe begehen jeweils ihre eigene Straftat zum Zeitpunkt der Verwirklichung von Merkmalen dieser Täterschaftsformen, d. h. wenn sie mit der Absicht, daß eine andere Person die verbotene Tat begeht, diese hierzu verleiten (Anstiftung) oder einer anderen Person die Begehung der Straftat ermöglichen. Für die Strafverantwortlichkeit des Anstifters und des Gehilfen ist nicht einmal der Versuch der Straftatbegehung durch den Angestifteten bzw. denjenigen notwendig, dem der Gehilfe die Begehung einer Straftat erleichtern wollte. Die Strafe für Anstiftung und Beihilfe ist in der Strafvorschrift bestimmt, die den Straftatbestand enthält, zu deren Begehung angestiftet bzw. Hilfe geleistet wurde. Anstiftung und Beihilfe sind immer Begehungsdelikte, selbst dann, wenn die verbotene Tat, zu deren Begehung der Anstifter angehalten und der Gehilfe Hilfe geleistet hat, ein Erfolgsdelikt ist. 23 Bei einer solchen Konstruktion ist anzunehmen, daß den Vorschriften, die den Typus der Anstiftung oder der Beihilfe bestimmen, andere sanktionierte Normen zugrunde liegen als diejenige, die die Grundlage der Vorschrift ist, mit der der Straftattypus bestimmt wird, zu dessen Begehung angestiftet bzw. Hilfe geleistet wurde.

VIII. Zum Schluß möchte ich noch einmal auf die Voraussetzungen des Handlungsunwerts als Bedingung für die Verletzung der sanktionierten Norm kommen. Wie ich bereits festgestellt habe, sind es mindestens die Gefährdung des Rechtsguts und die Verletzung der entsprechenden Umgangsregeln. Da die Verletzung der sanktionierten Norm die Aktualisierung der sanktionierenden Norm begründet, stellen die zwei genannten Voraussetzungen auch obligatorische Merkmale der Strafbarkeit der Tat dar. Greift die Tat das Rechtsgut nicht an, so kann sie nicht als eine unter Androhung von Strafe verbotene Tat ange-

2 3 D e n Typus der Anstiftung zur T ö t u n g sollte man auf der Grundlage des Art. 18 §2 poln. S t G B und Art. 148 § 1 poln. S t G B wie folgt bestimmen: „Wer will, daß eine andere Person einen Menschen tötet und diese hierzu anhält". Dementsprechend wird auch der Beihilfetypus konstruiert.

R e c h t s n o r m u n d Strafvorschrift

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sehen werden, selbst dann nicht, wenn sie sämtliche in der Strafvorschrift bestimmten Tatbestandsmerkmale verwirklicht. Es besteht keine Notwendigkeit, sich auf das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes zu berufen. In einem solchen Fall erscheint die Tat als ursprünglich legal. Dies gilt selbstverständlich auch für die Umgangsregeln. Eine Tat, die die Regeln des Umgangs mit dem Rechtsgut nicht verletzt hat, ist keine rechtswidrige Tat und darf nicht als eine strafbare Tat angesehen werden, und dies nicht erst, weil ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, sondern wegen ihrer ursprünglichen Legalität. 24

24 Siehe Zoll Die allgemeine Lehre von den Konträrtypen in der polnischen Strafrechtsdogmatik, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, 1987, 474 ff.

Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft - Überlegungen zu einer diskurstheoretischen Strafgesetzgebungslehre -

JOACHIM V O G E L

I. So wenig Demokratie die Herrschaft der Wissenden über die Unwissenden ist, so wenig liegt Strafgesetzgebung in den Händen der Strafrechtswissenschaft. Vielmehr ist es Sache des parlamentarischen Gesetzgebers als des unmittelbar demokratisch legitimierten Repräsentanten des Volkes, Strafgesetze zu erlassen. Uberhaupt mag - im Anschluß an ein geflügeltes Wort des großen Pandektisten Windscheid1 - bezweifelt werden, daß Strafgesetzgebung „Sache des Strafjuristen als solchen" sei. Der hier gemeinte „Strafjurist als solcher" ist der Strafrechtsanwender und Strafrechtsdogmatiker im Unterschied zum Strafrechtsetzer und Kriminalpolitiker. Jener befaßt sich mit der Systematisierung, Dogmatisierung und teleologischen Durchdringung des geltenden Strafrechts, an das er sich gebunden hält und das er anwendet, ohne gesetzesunabhängige politisch-ethische, pragmatische, moralische oder empirische Erwägungen anzustellen. Das kommende Strafrecht, also Strafrechtsreform und Kriminalpolitik, sowie die Strafgesetzgebung als solche sind seine Sache nicht. Er mag sogar in Frage stellen, ob sie überhaupt Gegenstand strafrechtswissenschaftlicher Behandlung sein können. 2 Es ist leicht zu sehen, daß die soeben skizzierte Antinomie dem Wissenschafts- und Methodenverständnis der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts entspringt, das mit Recht als überwunden gilt. Kein anderer als Claus Roxin hat dies mit aller Deutlichkeit und Tiefgründigkeit ausgeführt: 3 Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik sind keine antagonistischen Gegensätze, sondern es müssen rechtliche Gebundenheit und kriminalpolitische Zweckmäßigkeit zu einer Synthese gebracht werden, indem die Kriminalpolitik in die juristischen 1

Windscheid Gesaramelte Reden und Abhandlungen, 1904, 111. Kriminalpolitische — und allgemeiner: rechtspolitische — wissenschaftliche Äußerungen werfen in besonderer Weise das Werturteilsproblem auf; klärend hierzu Noll FS für Schelsky, 1978, 353 ff. 3 Grundlegend Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2 1973, besonders lOff; zusammenfassend nunmehr Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 7, besonders Rn. 69 ff. 2

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Bereiche der Strafrechtswissenschaft eindringt und das Strafrechtssystem nicht bloß logisch-begrifflich, sondern teleologisch-kriminalpolitisch gebildet wird. D i e Strafrechtsfindung ist „wesentlich mehr als die in logischen Schlußverfahren subsumierende Anwendung eines schon im Detail bestimmten Gesetzes. Sie ist vielmehr die Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens, und in der schöpferischen Ausarbeitung (d. h. Entwicklung und Systematisierung) der gesetzgeberischen Zielvorstellungen selbst Kriminalpolitik im Gewände der Dogmatik".4 D a m i t sind freilich zunächst nur in der einen Richtung Strafrechtsdogmatik und Strafrechtswissenschaft gegenüber der Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung geöffnet. E s erhebt sich die Frage, o b nicht auch das U m g e k e h r t e gelten muß: Müssen sich nicht auch Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung gegenüber der Strafrechtsdogmatik und Strafrechtswissenschaft öffnen? O d e r praktischer und im Anschluß an das Generalthema der Strafrechtslehrertagung 1999 in H a l l e 5 gefragt: D a r f es eine Strafgesetzgebung ohne Strafrechtswissenschaft geben? D i e Frage entbehrte lange Zeit einer scharfen praktischen Spitze. D e n n es ist eine gute und im Vergleich mit dem Ausland besondere Tradition deutscher Strafgesetzgebung, die Strafrechtswissenschaft eng einzubinden. Erinnert sei nur an die 1906 vom Reichsjustizamt angeregte „Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts - Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform"; an die Arbeiten der 1954 eingesetzten G r o ß e n Strafrechtskommission; sowie an diejenigen der 1973 berufenen Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Selbst in der nationalsozialistischen Zeit gehörten der Amtlichen Strafrechtskommission zahlreiche bedeutende Strafrechtsprofessoren an, und ihrem „mäßigenden . . . E i n f l u ß ist es zu verdanken, daß der . . . , E n t w u r f eines Deutschen Strafgesetzbuchs' von 1936 nicht die Billigung der damaligen Machthaber f a n d " . 6 E s scheint freilich, daß der Gesetzgeber zunehmend bereit ist, mit dieser Tradition zu brechen. A k tueller Stein des A n s t o ß e s ist namentlich das im D e z e m b e r 1997 verabschiedete Sechste Gesetz zur R e f o r m des Strafrechts. 7 O b w o h l dieses G e s e t z den B e s o n deren Teil des S t G B erheblich verändert hat, erschöpfte sich die Einbindung der Strafrechtswissenschaft in das Gesetzgebungsverfahren darin, daß der R e f e rentenentwurf vom J u l i 1996 im H e r b s t jenen Jahres dem Sekretariat der StrafRoxin AT I (Fn. 3), § 7 Rn. 70. Mit Referaten von Arzt, Küpper, Lilie, Streng und Hans-Jörg Albrecht sowie einem Diskussionsbericht von Julius, abgedruckt in ZStW 111 (1999), 757ff, 785 ff, 807ff, 827ff und 863 ff sowie 889 ff - Thematisch noch einschlägiger sind freilich die Referate von Amelung, Noll, Schubarth, Baratta und Schöch auf der Bonner Strafrechtslehrertagung 1979, abgedruckt in ZStW 92 (1980), 19ff, 73 ff, 90ff, 107ff und 173 ff - Siehe weiterhin die Überlegungen von Maiwald in: Behrends/Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik, 1989, 120 ff. 6 Roxin AT I (Fn. 3), § 4 Rn. 12. 7 Hierzu Dencker/Struensee/Nelles/Stein Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998, 1998; Hörnle Jura 1998, 169ff; Kreß NJW 1998, 633 ff; Kudlich JuS 1998, 468ff; Lesch JA 1998, 474 ff; Sander/Hohmann NStZ 1998, 468 ff; Schlüchter (Hrsg.), Bochumer Erläuterungen zum 6. StRG, 1998; Stächelin StV 1998, 98 ff; Wolters JZ 1998, 397 ff. 4

5

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rechtslehrer zugänglich gemacht wurde und daß im Juni 1997 eine öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestags stattfand, zu der neben neun Praktikern ein Kriminologieprofessor eingeladen war. 8 Selbst so besonnene Autoren wie Lackner/Kühl9 kritisieren diesen Gesetzgebungsakt als „problematisch" und meinen, das Gesetz habe „gründlicherer Vorbereitung" bedurft und sei auf einer „offensichtlich noch viel zu schmalen Materialgrundlage" beschlossen worden. 10 Derartige Kritik entspringt nicht verletzter Eitelkeit. Vielmehr handelt sich eine Strafgesetzgebung ohne Strafrechtswissenschaft wirkliche Legitimationsprobleme ein. Zur Begründung dieser These sei zunächst ein Blick auf vorfindliche theoretische Ansätze zur Notwendigkeit einer „wissenschaftlich beratenen Kriminalpolitik" geworfen (II.). Weiterführend möchte ich das von Jürgen Habermas entwickelte „Prozeßmodell der vernünftigen politischen Willensbildung" mitsamt seinem Hintergrund, der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats, vorstellen und in strafrechtliche Kategorien übersetzen (III.). Dabei wird sich zeigen, daß mangelnde Diskursivität von Gesetzgebungsverfahren und insbesondere die mangelnde Einbindung der Strafrechtswissenschaft 11 nahezu zwangsläufig zu Problemen auf allen Ebenen der Legitimation von Strafgesetzen führen, nämlich den Ebenen des Verfassungsrechts, der Kriminalpolitik und der Strafrechtsdogmatik (IV.).

II. Die Frage, welchen Beitrag die Strafrechtswissenschaft zur Strafgesetzgebung leisten kann, gehört zu einer Disziplin, die innerhalb der Strafrechtswissenschaft bislang bestenfalls als randständig gelten kann: der Strafgesetzgebungslehre. Sie darf nicht ohne weiteres mit der durchaus anerkannten Disziplin der wissenschaftlichen Kriminalpolitik gleichgesetzt werden. Diese behandelt in erster Linie die materiale Frage, wie Strafgesetze inhaltlich auszugestalten seien. Demgegenüber ist die Fragestellung der Strafgesetzgebungslehre eher formaler Natur, betrifft nämlich das Gesetzgebungsverfahren und die Gesetzesform. Genauer und in Anlehnung an eine Unterscheidung der all8

Näher zur Entstehungsgeschichte Kreß NJW 1998, 633 (f). Lackner/Kühl StGB, 23 1999, Vor § 38 Rn. 16. 10 Der Umstand, daß das Sechste Strafrechtsreformgesetz an den Regierungsentwurf 1962 und damit auch an die Vorarbeiten anknüpft, die in der Großen Strafrechtskommission geleistet worden waren, ändert an diesem Urteil nichts (ebenso Lackner/Kühl [Fn. 9]): Seitdem ist die strafrechtswissenschaftliche Entwicklung stark fortgeschritten; außerdem war der Regierungsentwurf 1962 bereits damals vielfach als überholt eingeschätzt worden und hatte Anlaß für die Alternativentwürfe aus der Strafrechtswissenschaft gegeben, die aber - soweit ersichtlich - im Gesetzgebungsverfahren für das Sechste Strafrechtsreformgesetz keine Rolle spielten. 11 Im Sinne der „gesamten Strafrechtswissenschaft" unter Einschluß insbesondere der Kriminologie; zum Verhältnis von Strafgesetzgebung und Kriminologie Eisenberg Kriminologie, 5 20 00, § 2 Rn. 13 ff; speziell zum Verhältnis Sanktionengesetzgebung und Kriminologie Schöch (Fn. 5). 9

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gemeinen Gesetzgebungslehre gesagt: In Rede stehen einerseits das „innere" Verfahren der Strafgesetzgebung (jenseits des „äußeren" Gesetzgebungsverfahrens der Art. 76 ff GG), also die Gesetzgebungsmethodik, und andererseits die zweckentsprechende Fassung des Strafgesetzes, also die Gesetzestechnik. 12 Eine Strafgesetzgebungslehre in diesem Sinne ist bislang nur in Ansätzen vorhanden. Dabei sei keineswegs verkannt, daß es der Strafrechtslehrer Noll war, der den Grundstein der neueren allgemeinen Gesetzgebungslehre gelegt hat. 13 Seitdem hat sich vor allem im Rahmen des Verfassungsrechts eine wissenschaftliche Gesetzgebungslehre etabliert. 14 Trotz vielfältiger Einzelansätze ist ein vergleichbar konsolidierter Stand in der Strafrechtswissenschaft bislang noch nicht erreicht worden. Hervorheben möchte ich allerdings zum einen die verbreitete Forderung nach einer „wissenschaftlich beratenen Kriminalpolitik", zum anderen zwei neuere und grundsätzlich angelegte Arbeiten zur Strafgesetzgebungslehre. 1. Das Postulat einer „wissenschaftlich beratenen Kriminalpolitik", wie es unter anderen Amelung, Hettinger, Jäger, Lüderssen, Maihofer und SchiilerSpringorum aufgestellt haben, 15 zielt auf ein Mehr an Rationalität der Kriminalpolitik: Strafgesetze sollen rational begründet werden, und die Begründung soll rational nachprüfbar und nachvollziehbar sein. Rationalität soll dabei zum einen hinsichtlich der empirischen Annahmen verbürgt werden, die dem Strafgesetz zugrunde liegen. Dazu zählen insbesondere die Sozialschäden, die durch das bei Strafe verbotene Verhalten bewirkt werden, aber auch die Geeignetheit des Einsatzes von Strafrecht als Mittel der Sozialkontrolle sowie mögliche unerwünschte Nebenfolgen einer Pönalisierung. Zum anderen soll eine normative Evaluation von Strafgesetzgebungsvorhaben nach wissenschaftlich-rationalen Maßstäben vonnöten sein. Dabei werden üblicherweise anerkannte Grundsätze der Kriminalpolitik wie das Prinzip des Rechtsgüterschutzes, das Subsidiaritäts- und das Ultima-ratio-Prinzip in den Vordergrund gestellt. Soweit diese Grundsätze zugleich verfassungsrechtliche Dignität genießen, muß zudem das Verfassungsrecht als ein den Gesetzgeber bindender Maßstab normativer Evaluierung herangezogen werden. Schließlich ist die Strafrechtsdogmatik selbst ein Evaluationsmaßstab. Der Entwurf eines Strafgesetzes muß sich auch daran messen lassen, inwieweit er der Forderung nach systematischer und dogmatischer Stimmigkeit gerecht wird und sich „kohärent" in das System des gelten-

12

Vertiefend Hill Jura 1986, 57, 60 ff; Höhn Praktische Methodik der Gesetzesauslegung, 1993, 11 ff. 13 Noll Gesetzgebungslehre, 1973. 14 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien erwähnt: Hill Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982; Karpen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, 1989, 13 ff; Hans Schneider Gesetzgebung, 21991; Schulze-Fielitz Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988. 15 Amelung (Fn. 5), 67 ff; Hettinger GA 1995, 399, 428; Jäger FS für Schüler-Springorum, 1993, 229 ff; Lüderssen Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen, 1981, 206 ff; Schüler-Springorum Kriminalpolitik für Menschen, 1991, 264 ff.

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den Strafrechts einfügen läßt. Im übrigen zielt das Konzept einer „wissenschaftlich beratenen Kriminalpolitik" darauf, eben diese Beratung stärker als bislang zu institutionalisieren. An der bisherigen Praxis, Experten und Strafrechtswissenschaftler in Strafgesetzgebungsverfahren ad hoc anzuhören, wird kritisiert, so könne kein nachhaltiger Einfluß erzielt werden. Des weiteren handele es sich bei wissenschaftlicher Kriminalpolitikberatung nicht selten um affirmative Auftragsforschung, bei der kritische Stimmen ignoriert würden. 16 Als Vorbild einer gelungenen Institutionalisierung wird demgegenüber die 1967 etablierte ständige Dreier-Kommission zur Strafrechtsreform genannt; sie war je mit einem Vertreter der Regierung, des Parlaments und der sogenannten Alternativ-Professoren besetzt. 17 2. Den Versuch, derartige eher punktuelle und eher pragmatische Forderungen in einen weiter gespannten Theorierahmen zu stellen, haben in neuerer Zeit namentlich Voß und Stächelin unternommen. Nach Voß dient die Einbeziehung der Strafrechtswissenschaft ins Gesetzgebungsverfahren dazu, die Möglichkeit eines rationalen Diskurses bei der Gesetzesvorbereitung abzusichern. 18 Dem liegt zugrunde, daß Voß Gesetzgebung als „verständigungsorientierten Akt" verstehen will: „Rechtsnormen existieren ... in kommunikativer Vermittlung. Sie ... (sc. sind) Sinnermittler im Rahmen eines normativen Kommunikationsraums ..., in dem Handeln und Einstellungen der Gesellschaftsmitglieder koordiniert werden. Gesetze sind ... nicht lediglich technische Mittel zur Verwirklichung bestimmter Zwecke, sie sind vielmehr sinnhafte Äußerungen im sozialen Zusammenleben." 19 Die Rationalität von Gesetzgebungsakten stellt sich für Voß also als „kommunikative Rationalität" dar. Sie werde durch Diskurse verbürgt, an denen idealiter alle vom Gesetz potentiell Betroffenen teilnehmen müßten - was freilich um der Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers willen unmöglich sei (und übrigens auch dem Repräsentationsgedanken widerstreitet). Deshalb fordert Voß die Einsetzung von „Sachwaltern" oder „Advokaten" der Interessen der Betroffenen, nämlich von Strafrechtswissenschaftlern: „Die Qualität des Diskurses zu verbessern, läuft ... auf eine Beteiligung der Wissenschaft hinaus, die den Politikern als Sachwalter des öffentlichen Interesses ratend beiseite steht, indem sie nicht nur zur Informationsverbesserung ... beiträgt, sondern darüber hinaus auch das Gesetzgebungsverfahren für einen moralisch-praktischen Diskurs mehr zu öffnen versucht". 20 16 17

Hierzu Stächelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, 282, 284 f mwN. Hierzu Maihof er in: ders. (Hrsg.), Theorie und Methoden der Gesetzgebung, 1983, 9,

13 ff. 18 19 20

Voß Symbolische Gesetzgebung, 1989, 214 ff mwN. Voß (Fn. 18), 210. Voß (Fn. 18), 216.

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In ähnlicher Weise plädiert Stächelin auf der Grundlage seiner einerseits verfassungsrechtlichen, andererseits empirisch-praktischen Analyse von Strafgesetzgebungsverfahren für eine „verfahrensbezogene Strategie der Verbesserung der Strafgesetzgebung".21 Diese Strategie müsse vier „Zwischenziele" erreichen: die Verbreiterung der Wissensbasis; die Rationalisierung; die Transparenz; und die Stetigkeit. Den Beitrag der Strafrechtswissenschaft siedelt Stächelin bei der Verbreiterung der Wissensbasis und bei der Rationalisierung an. Bei ihr gehe es um die „Stärkung diskursiver Momente", um die Vermehrung der Begründungspflichten und um einen Gesetzgebungswettbewerb, vor allem um die Einbeziehung der wissenschaftlichen Strafrechtsvergleichung in den Strafrechtsreformprozeß.22 III. Die soeben skizzierten Ansätze verdienen grundsätzlich Zustimmung, sind freilich noch stärkerer Fundierung bedürftig und auch fähig. Denn sie lassen sich zwanglos in eine breite Strömung der neueren Rechtsphilosophie und Rechtstheorie einfügen, welche die Legitimität des Rechts nicht länger in einer materialen Natur-, Vernunfts-, Freiheits-, Willens- oder Wertemetaphysik fundieren, sondern eine prozedurale Legitimation durch Verständigung in den Vordergrund stellen will. Hintergrund hiervon ist die Hinwendung der neueren Philosophie zur Sprache: Vernunft und Rationalität werden nicht länger als apriorische Kategorien verstanden, sondern als durch Sprache und ihren Gebrauch vermittelte Kategorien, als „kommunikative" Vernunft oder „kommunikative" Rationalität. Der jüngste und, so meine ich, gewichtigste Versuch, auf dieser Grundlage eine Demokratie- und Rechtstheorie auszuarbeiten, ist Jürgen Habermas zu danken. In seinem opus magnum „Faktizität und Geltung" 23 hat er nicht nur, wie es im Untertitel heißt, „Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats" vorgelegt, sondern eine veritable Rechtsphilosophie. Daß Habermas diesen Begriff bewußt vermeidet, liegt nicht nur an der Scheu vor dem //ege/schen Werk, das - so Habermas „für uns unerreichbare Maßstäbe gesetzt hat". 24 Vielmehr hält Habermas dafür, daß die philosophischen Begriffe heute keine eigene Sprache, jedenfalls kein System mehr bilden, das sich alles anverwandelt. Erforderlich sei vielmehr ein methodenpluralistisches Vorgehen aus den Perspektiven der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte, der Moral- und Gesellschaftstheorie, und (Rechts-)Philosophie erweise sich als „rekonstruierende Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse". 25 Eben diesem methodenpluralistischen und Stächelin (Fn. 16), 317 ff. Stächelin (Fn. 16), 331 ff. 23 Habermas Faktizität und Geltung, 4 1994. Hierzu die Beiträge von Blanke, Kupka und Klaus Günther in KritJ 1994, 439 ff, 461 ff und 470 ff sowie die zahlreichen Beiträge in Rechtstheorie 27 (1996), 271 ff. 24 Habermas (Fn. 23), 9. 25 Habermas aaO. 21 22

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„Prozeßmodell der verrekonstruierenden Vorgehen ist das Habermassche nünftigen politischen Willensbildung" verpflichtet, das als Grundlage einer adäquaten (Straf-)Gesetzgebungslehre dienen kann. 1. Hintergrund dieses Modelles ist die Diskurstheorie in der Gestalt, die ihr Habermas gegeben hat und die keineswegs unbestritten ist, weshalb sie in aller Kürze dargestellt und insbesondere mit Blick auf ihre Adäquanz für eine Rechts- und Gesetzgebungstheorie verteidigt werden soll. 2 6 Diskurse sind auf intersubjektive Anerkennung und potentiellen Konsens zielende Verfahren, in denen Geltungsansprüche erhoben, argumentativ begründet und so eingelöst werden. In ihnen werden - nur - prozedurale Regeln vorausgesetzt, insbesondere die Bedingungen der „idealen Sprechsituation", wonach jeder Sprachfähige teilnehmen, Gründe vorbringen und hieran nicht durch Zwang gehindert werden darf. Demokratie und Recht ihrem normativen Sinn nach so zu rekonstruieren, ist das Anliegen der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats. Deren Adäquanz ist nun vielfach mit dem Argument bezweifelt worden, sie sei zu formal, zu prozedural und entbehre zu sehr der normativ-inhaltlichen Vorgaben, um die es bei Recht und Gerechtigkeit in erster Linie gehe. 2 7 Aber im posttraditionalen, postkonventionalen und postmetaphysischen Zeitalter können normative Geltungsansprüche nicht länger material durch Tradition, Konvention oder Seins- bzw. Bewußtseinsmetaphysik begründet werden. Andererseits hat die Diskurstheorie gegenüber ihrer großen Konkurrentin, der Systemtheorie, den Vorteil, daß sie Demokratie und Recht nicht mit dem verfremdenden Blick des soziologischen Beobachters als Prozeß funktional-lerntheoretisch verstandener Legitimation durch Verfahren wahrnimmt. Sie bringt vielmehr den in die Sprache eingeschriebenen Sinn von Normativität in der Teilnehmerperspektive zum Ausdruck. U n d selbst wenn der Einwand der Formalität und Inhaltsleere berechtigt wäre: Die Tauglichkeit der Diskurstheorie für eine Demokratie- und Gesetzgebungstheorie stellt er nicht von vornherein in Frage, weil diese selbst formaler Natur und verfahrensorientiert ist. Insoweit erhebt sich freilich der weitere Einwand, die Diskurstheorie enthalte kontrafaktische Idealisierungen und präsupponiere eben eine „ideale Sprechsituation", welche auch in demokratisch-rechtsstaatlichen Gesetzgebungsverfahren keineswegs gegeben sei. 2 8 In der Tat ist Gesetzgebung weithin strategisches Handeln zwecks Interessendurchsetzung, und in der Tat müssen Gesetze - mag auch ihre Mehrzahl einstimmig beschlossen werden - durchaus nicht auf Verständigung und Konsens beruhen, sondern können mit dem Machtspruch der Parlamentsmehrheit durchgesetzt werden. Eben diese Umstände in die Diskurstheo2 6 Die erkenntnistheoretische Kritik am diskurstheoretischen „Konsensusmodell der Wahrheit" muß ich freilich ausklammern, weil sie den Gegenstand dieses Beitrages sprengt; siehe hierzu zusammenfassend Münch Die Struktur der Moderne, 1992, 82 ff m w N . 2 7 Statt aller Arthur Kaufmann FS für Maihofer, 1989, 11, 34 ff m w N . 2 8 Strukturell gleich dem Einwand, eine diskurstheoretische Rekonstruktion von gerichtlichen Entscheidungsverfahren sei wegen der dort fehlenden „idealen Sprechsituation" zum Scheitern verurteilt; statt aller Neumann Rechtstheorie 27 (1996), 415 ff mwN.

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rie des demokratischen Rechtsstaats zu integrieren, ist eines der zentralen Anliegen von „Faktizität und Geltung". Aus dem Diskursprinzip, wonach gültig nur Handlungsnormen sind, denen alle Betroffenen in rationalen Diskursen zustimmen könnten, differenzieren sich gleichursprünglich - hier bricht Habermas mit Kant - das Moralprinzip sowie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip aus. 29 Beide haben zwar dieselbe Wurzel, aber nicht dieselbe Struktur. In der Moral geht es um Universalisierbarkeit und um den Menschen oder die Menschheit überhaupt. Demgegenüber geht es in Demokratie und Recht hier knüpft Habermas an Rousseau und in gewissem Sinne auch an Hegel an zudem um den Status des Bürgers in einer staatlichen Gemeinschaft, um die Gewährleistung seiner Autonomie und um die Gestaltung unseres Lebens in einer Welt und Gesellschaft konkreter und vorfindlicher, wenn auch sich verändernder und veränderbarer Gestalt unter zeitlichen, sozialen und sachlichen Beschränkungen. Das zwingt einerseits zu - freilich selbst diskursiv begründbaren — Einschränkungen der Diskursivität von Rechtsetzungsverfahren und andererseits zu gegenständlichen Erweiterungen von Rechtsetzungsdiskursen. 2. Im demokratischen Rechtsstaat ist Gesetzgebung zunächst ein den Gesetzgebungsorganen zugewiesenes und seinem äußeren Ablauf nach in der Verfassung geregeltes Verfahren. Weiterhin enthält die Verfassung in Gestalt von Kompetenzvorschriften, Grundrechten und geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassungsrechtsprinzipien inhaltliche Vorgaben für mögliche Gegenstände verfassungskonformer Gesetzgebung. Nicht explizit verhält sich die Verfassung zu der inneren Struktur von Gesetzgebungsverfahren. Hier setzt das „Prozeßmodell der vernünftigen politischen Willensbildung" an, 30 das zugleich ein Modell vernünftiger Gesetzgebung ist, da politische Willensbildung im modernen Rechts- und Gesetzgebungsstaat wesentlich auf Gesetzgebung zielt und sich in ihr vollzieht. Nach Habermas können politische Willensbildung und Gesetzgebung weder ausschließlich als interessenorientiertes strategisches noch ausschließlich als verständigungsorientiertes kommunikatives Handeln begriffen werden; vielmehr stellt sich politische Willensbildung als ein „Netz" von interessenorientierten Verhandlungen und verständigungsorientierten Diskursen dar, und beide sind in das äußere Willensbildungs- und Gesetzgebungsverfahren „eingebettet". 31 Und eben weil sich das Verfassungsrecht insoweit expliziter normativer Vorgaben enthält, gewährleistet es sowohl die Möglichkeit von Verhandlungen als auch von Diskursen über zu erlassende Gesetze. In Verhandlungen geht es nicht darum zu überzeugen, sondern darum, konfligierende Interessen in erträglicher Weise auszugleichen und Kompromisse zu erzielen, mit denen die Beteiligten leben können. Deswegen sind Verhandlungen aber auch nicht vollständig vom Diskursprinzip in Gestalt des Fairness29 30 31

Habermas (Fn. 23), 135 ff. Habermas (Fn. 23), 187 ff. Habermas (Fn. 23), 206 f.

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prinzips entkoppelt: Auf Akzeptanz rechnen können nur im Mindestmaß faire Kompromisse. Insbesondere sind Verhandlungen selbst verfahrensreguliert und können namentlich dem Mehrheitsprinzip unterstellt werden, das faute de mieux immerhin einen für die Mehrheit akzeptablen Kompromiß gewährleistet. Allein hierauf kann aber demokratische Legitimation nicht gestützt werden. Gesetze, die allein der Partikularinteressendurchsetzung dienen und nicht auch mit Gemeinwohlbelangen begründet werden können, stoßen nicht nur an Grenzen der Legitimität im Weberschen Sinne empirischer Akzeptanz. Sie sind auch, wie etwa Lerche32 gezeigt hat, verfassungsrechtlich bedenklich: Fehlt für ein gesetzgeberisches Vorhaben jedes öffentliche oder Gemeinwohl-Interesse, so ist es willkürlich. Mit anderen "Worten müssen Gesetze in einer Weise begründet werden, welche die Allgemeinheit überzeugen kann. Genau dies geschieht durch in Gesetzgebungsverfahren „eingebettete" Diskurse. Gegenstand dieser Diskurse ist freilich nicht nur, wie in der Moral, die Frage nach der Gerechtigkeit - eine Frage, die allerdings auch in bezug auf das Recht gestellt werden kann und um seiner Legitimität, äußerstenfalls auch um seiner Geltung willen gestellt werden muß. Weil es im demokratischen Rechtsstaat zudem um die Gestaltung unseres Lebens und unserer Gesellschaft durch das Recht geht, bedarf es für eine vollständige Legitimation von Gesetzen auch politisch-ethischer, pragmatischer und im engeren Sinne juristischer Diskurse. 33 Gegenstand politisch-ethischer Diskurse ist die Frage, was „gut für uns" ist und welche „kollektiven Ziele" verfolgt werden sollen. Diese Orientierung am Telos des meinigen oder unsrigen guten Lebens in einer Welt und Gesellschaft vorfindlicher, wenn auch sich verändernder und veränderbarer Gestalt unterscheidet politisch-ethische Diskurse von moralischen Diskursen, welche von jeder Egooder Ethnozentrik losgelöst sind und Geltung für alle vernunftbegabten Wesen beanspruchen. Pragmatische Diskurse behandeln die Frage, mit welchen Mitteln diese Ziele erreicht werden können und sollen, also die Frage der ZweckMittel-Relation. In juristischen Diskursen schließlich geht es darum, wie das Gesetz „kohärent" in das System des Rechts eingefügt werden kann, insbesondere um die Frage der Verfassungsmäßigkeit oder gegebenenfalls des Erfordernisses einer Verfassungsänderung, aber auch um die Frage einer einfach-rechtlichen und dogmatischen Stimmigkeit. Dieses Modell hat - hier bewährt sich der methodenpluralistische Ansatz wesentliche Gemeinsamkeiten mit der in der allgemeinen Gesetzgebungslehre entwickelten Theorie des „inneren" Gesetzgebungsverfahrens als eines Entscheidungs- oder Problemlösungsverfahrens, in dem, ausgehend von einem „Problemimpuls", Ziele ermittelt und Maßnahmen zur Zielerreichung gesucht sowie nach Zweck- und Rechtmäßigkeit bewertet werden. 34 Zudem läßt sich das Habermassche Modell aus Sicht der Strafgesetzgebungslehre durchaus zwanglos in strafrechtliche Kategorien übersetzen: Der politisch-ethischen Frage nach 32 33 34

Lerche Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, 224. Habermas (Fn. 23), 197 ff. Näher Karpen (Fn. 14), 34 ff; Hans Schneider (Fn. 14), 55 ff, 77 ff.

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den verfolgten „kollektiven Zielen" entspricht die Frage nach den zu schützenden Rechtsgütern. Der pragmatischen Frage nach der Zweck-Mittel-Relation entspricht die Frage nach der Subsidiarität des Strafrechts als einer ultima ratio. U n d der im engeren Sinne juristischen Frage nach der „Kohärenz" entspricht die Frage nach der verfassungsrechtlichen Haltbarkeit und der kriminalpolitischen sowie strafrechtsdogmatischen Stimmmigkeit des Gesetzgebungsvorschlags. N u n liegt der Einwand auf der Hand, hiermit werde nur alter Wein in begrifflich neue Schläuche gefüllt. D e m möchte ich entgegenhalten, daß in diskurstheoretischer Perspektive die tradierten Kategorien prozedural uminterpretiert werden müssen. Die Konsequenzen sprengen das Thema dieses Beitrages und seien nur angedeutet: Rechtsgüter erweisen sich als etwas diskursiv und relativ zu einer Welt und Gesellschaft vorfindlicher, wenn auch sich verändernder und veränderbarer Gestalt Hergestelltes, nicht als etwas ontologisch (Vor-)Gegebenes. Gleiches gilt für den Ultima-ratio-Charakter des Strafrechts und vor allem für die „Kohärenz" des Strafrechtssystems, die herzustellen vornehmste Aufgabe strafrechtswissenschaftlicher Diskurse ist. 3. Akteure der in Gesetzgebungsverfahren „eingebetteten" Verhandlungen und Diskurse sind nicht nur die verfassungsrechtlich zur Mitwirkung berufenen Organe, zu denen neben den Parlamenten maßgeblich und vieldiskutiertermaßen die initiativberechtigte Regierungsexekutive einschließlich der Ministerialbürokratie zählt. Vielmehr sind im „informellen Gesetzgebungsverfahren" auch Interessengruppen, Lobbies und „pressure groups" beteiligt, die im Verhandlungswege strategischen und auf Interessendurchsetzung zielenden Einfluß ausüben. Weiterhin ist Gesetzgebung ein weder geheimer noch selbstgenügsamer Prozeß, sondern wird in der politischen Öffentlichkeit, unter anderem in politischen Parteien, diskutiert und durch die dort stattfindenden politisch-ethischen, pragmatischen und moralischen Diskurse gespeist und beeinflußt. 3 5 D a s läuft für das Strafrecht nicht selten auf den vielkritisierten „Ruf nach Strafe" hinaus, 3 6 kann aber fallweise auch Entkriminalisierungstendenzen wie beim Schwangerschaftsabbruch oder beim Betäubungsmittelkonsum befördern. Schließlich sind an Gesetzgebungsverfahren Experten und - insoweit ist Windscheids Wort erneut zu relativieren - „Juristen als solche" beteiligt, und zwar insbesondere auf der Stufe der erforderlichen juristischen Diskurse. Die legitime Einflußnahme der Strafrechtswissenschaft auf die Strafgesetzgebung läßt sich eben bei diesen Diskursen verorten, deren Gegenstand die verfassungsrechtliche, kriminalpolitische und strafrechtsdogmatische Kohärenz und Stimmigkeit eines Strafgesetzgebungsvorschlages ist. Auf der Stufe der pragmatischen Diskurse ist zudem die Kriminologie aufgerufen, Kriminalisierungsfolgen und -nebenfolgen zu prognostizieren und zu evaluieren. 37

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Näher Habermas (Fn. 23), 435 ff. Kritisch hierzu Arzt Der Ruf nach Recht und Ordnung, 1976. Siehe bereits oben Fn. 11.

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Auch jenseits dieser eher kategorialen Einordnung läßt sich mit H i l f e des Habermasschen Modelles die legitimationssichernde F u n k t i o n der Beteiligung von Experten, im Falle der Strafgesetzgebung insbesondere von Strafrechtswissenschaftlern, explizieren. M o d e r n e Gesetzgebung, im Strafrecht beispielsweise Wirtschaftsstrafgesetzgebung, bezieht sich häufig auf in h o h e m M a ß e komplexe und in h o h e m M a ß e vermachtete systemische Zusammenhänge. D e s halb sind Gesetzgeber und politische Öffentlichkeit häufig in der Sache überfordert und massiver strategischer und manipulativer E i n f l u ß n a h m e der pressure groups ausgesetzt, wie etwa der lange Zeit erfolgreiche Widerstand der Bauwirtschaft gegen die Inkriminierung von Submissionsabsprachen b e l e g t . 3 8 Andererseits k ö n n e n „politisch-publizistische Verstärkerkreisläufe" 3 9 einen „Ruf nach Strafe" auslösen, der auf nicht mehr Legitimierbares zielt, beispielsweise bei der von Volk40 kritisierten F o r d e r u n g nach einem „ R u n d u m s c h u t z gegen K o r r u p t i o n " . In derartigen Zusammenhängen bringen Expertendiskurse wenigstens die kommunikative Vernunft der E x p e r t e n zur Geltung. D i e s e beschränkt sich nicht auf empirisches oder theoretisches Wissen; solches W i s s e n läßt sich von seinen politisch-ethischen, pragmatischen und moralischen B e z ü gen gar nicht isolieren. U n d so gewiß E x p e r t e n in strategischer Weise als D i e ner von Interessen instrumentalisiert werden können, so gewiß riskiert ein E x perte, der sich zum Interessenvertreter machen läßt, seinen Expertenstatus und schließt sich so selbst aus dem Expertendiskurs und aus der wissenschaftlichen Diskussion aus.

IV. Mangelnde Diskursivität von Gesetzgebungsverfahren bringt für G e s e t z e Legitimationsprobleme mit sich, weil der formelle Geltungsanspruch des G e setzes materiell leidet, wenn er nicht diskursiv begründet und eingelöst wird. Empirische Folge ist ein „law in the b o o k s " , das weder in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird und daher k a u m handlungsleitende F u n k t i o n hat noch beim Rechtsstab auf A k z e p t a n z stößt. In der Rechtstheorie, Soziologie und im Strafrecht wird dies unter dem Stichwort „symbolische G e s e t z g e b u n g " diskutiert. 4 1 H i e r z u hat freilich RoxinA1 eine verfassungs- und strafrechtliche Aufarbeitung angemahnt. Sie kann auch hier nicht geleistet werden, soweit die P r o b l e m e des symbolischen Strafgesetzes in Rede stehen, das in der Praxis wirkungslos bleibt und die Sachprobleme nicht löst. W o h l aber k ö n n e n verfassungs- und strafrechtliche P r o b l e m e einer Strafgesetzgebung angedeutet werden, der es an Diskursivität mangelt und die deshalb riskiert, symbolisch zu bleiben. 38

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Näher Tiedemann Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, 1976, 117. Scheerer KrimJ 1978, 223 ff.

Volk Verhandlungen des 61. DJT, 1996, L 35 ff.

Hierzu monographisch Voß (Fn. 18), passim, und - mit einer hilfreich differenzierten Begriffsanalyse - Prittwitz Strafrecht und Risiko, 1993, 234 ff mwN. 41

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Roxin AT I (Fn. 3), § 2 Rn. 23.

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1. Zumindest in Ansätzen wird die Diskursivität von Gesetzgebungsverfahren auch von Verfassungs wegen gewährleistet, und mangelnde Diskursivität kann nach einer vordringenden Auffassung als solche verfassungsrechtliche Bedenken begründen. So stößt eine „Geheimgesetzgebung", die maßgeblich in den grundsätzlich nichtöffentlich tagenden Parlamentsausschüssen erarbeitet wird, auf die verfassungsrechtliche Grenze des Art. 76 Abs. 1 G G : Ausschüsse als nicht initiativberechtigte Organe dürfen nach überwiegender Auffassung nur solche Ergänzungen eines Gesetzentwurfs beschließen, die noch in einem Sach- und Regelungszusammenhang mit der Initiative stehen. 43 Weitergehend und anknüpfend an die Öffentlichkeit der Verhandlungen des Bundestags (Art. 42 Abs. 1 G G ) hat Bryde44 neuerdings ein allgemeines Verfassungsgebot der „Transparenz" von Gesetzgebungsverfahren postuliert. Vor allem aber hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, daß Gesetze „schon in ihrem Zustandekommen bestimmten prozeduralen Anforderungen" jenseits von Art. 76 ff G G „genügen müssen"; der Gesetzgeber sei verpflichtet, sich über die „Grundlagen seiner Abwägung aufgrund verläßlicher Quellen ein eigenes Bild zu verschaffen" und „die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen auszuschöpfen, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelungen so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können". 4 5 Deshalb ist die Anhörung von Sachverständigen, im Strafrecht insbesondere von Strafrechtswissenschaftlern und Kriminologen, kein bloßes nobile officium des Gesetzgebers. N u n sei nicht verkannt, daß nach der Verfassungsrechtsprechung Verfahrensfehler nur dann zur Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes führen, wenn sie evident sind oder zu Unvereinbarkeit des Gesetzes mit materiellem Verfassungsrecht führen. 4 6 Hervorzuheben ist weiterhin, daß der Gesetzgeber eben nur das Gesetz, nicht aber auch eine Begründung schuldet. Und selbstverständlich ist nur der Gesetzgeber, nicht die Wissenschaft, demokratisch legitimiert. Zur Strafgesetzgebung hat das Gallwas auf den Punkt gebracht: „Es hieße, die Rolle des Strafgesetzgebers in unserem Verfassungssystem zu verkennen, wollte man seine Tätigkeit auf die Verkündung kriminologischer Forschungsergebnisse in Gesetzesform reduzieren. Nicht Transformation, sondern Dezision ist seine Aufgabe. Mit der Entscheidung, daß ein bestimmtes Verhalten strafbar sein soll, fällt der Strafgesetzgeber ... eigenständig und verbindlich wertend das Urteil, daß dieses Verhalten strafwürdig ist." 4 7 Aber es bleibt zu bedenken, daß Defizite an sachverständiger und wissenschaftlicher Beratung verfassungsrechtlich relevant werden, wenn sie evident N d s S t G H E 2 (1978/79), 136ff; vertiefend Bryde J Z 1998, 115, 116f rawN. Bryde J Z 1998, 115, 118 f. 4 5 B V e r f G E 50, 290, 334; 86, 90, 108 (für den Sonderfall eines Gebietsreformgesetzes); vertiefend Stächelin (Fn. 16), 173 m w N . 4 6 Statt aller B V e r f G E 91, 148, 175 m w N . 47 Gallwas M D R 1969, 892, 895. 43

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sind oder wenn materiell-verfassungsrechtliche Aspekte verkannt werden. Insbesondere ist das wertende Urteil des Strafgesetzgebers über die Strafwürdigkeit nur im Rahmen des Verfassungsrechts verbindlich. Zumindest konsentierte strafrechtswissenschaftliche und kriminologische Erkenntnisse können diesem Urteil auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Boden entziehen: Wäre es beispielsweise konsentiert, daß die Entkriminalisierung des ungenehmigten Besitzes geringer, zum Eigenverbrauch bestimmter Mengen von „weichen" Betäubungsmitteln zu einer in hohem Maße wünschenswerten Trennung der Drogenmärkte für „weiche" und „harte" Betäubungsmittel führte, so bestünden, wie das Bundesverfassungsgericht angedeutet hat, durchaus verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit der umfassenden Inkriminierung ungenehmigten Betäubungsmittelbesitzes.48 2. Zudem führen mangelnde Diskursivität und mangelnde sachverständige Beratung durch die Strafrechtswissenschaft zu Problemen auf der Ebene der Kriminalpolitik und der Strafrechtsdogmatik. Je weniger die kriminalpolitischen Ziele des Strafgesetzgebers, insbesondere die geschützten Rechtsgüter, im Gesetzgebungsverfahren sachverständig und unter Beteiligung der Strafrechtswissenschaft erörtert und geklärt werden; und je weniger die Fassung des Strafgesetzes auf diese Ziele abgestimmt wird, desto konkreter wird die Gefahr, daß die Ziele der Gesetzgebung verfehlt werden oder die Strafrechtsanwendung eigene Wege geht, nämlich das Strafgesetz nach eigener Einsicht teleologisch ergänzt oder korrigiert und damit - um das eingangs zitierte Wort von Roxin in kritischer Absicht aufzugreifen - „Kriminalpolitik im Gewände der Dogmatik" betreibt. Auch in der Theorie ist zu bedenken, daß ein Strafrechtssystem tragend teleologisch-kriminalpolitisch gebildet werden muß und „Krone" der Auslegungsmethoden die teleologische Auslegung ist. Dann aber erschweren unzureichende teleologisch-kriminalpolitische Vorgaben durch den Gesetzgeber die Auslegung und Systembildung im Strafrecht und damit die Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit. Gewiß geht Strafgesetzgebung häufig von konkreten Problemlagen, von augenfälligen und als sozialschädlich und verwerflich bewerteten Vorgehensweisen, von Fällen und Beispielen aus. Vor diesem Hintergrund ist in der allgemeinen Gesetzgebungslehre sogar vorgeschlagen worden, Gesetzgebung als „umgekehrte Subsumtion" von Beispielen unter den Gesetzgebungsvorschlag zu verstehen, der sich dann durch ergänzende und Gegen-Beispiele fortentwickelt.49 Solche Beispiele sind freilich nicht selten zufällig, merkwürdig oder lebensfremd.50 Vor allem aber können sie 4 8 BVerfGE 90, 145, 183; siehe bereits 50, 205, 212 f (Strafbarkeit des Diebstahls geringwertiger Sachen) und in ähnlicher Richtung BVerfGE 45, 187, 237 f (lebenslange Freiheitsstrafe). - Tendenziell wohl noch weitergehend will Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, 521 ff, die Abwägungsfehlerlehre als verfassungsrechtlichen Beurteilungsmaßstab fruchtbar machen; hierzu bereits Schwerdtfeger FS für Ipsen, 1977, 173 ff. 49 Bydlinski Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2 1991, 641 mwN.; siehe bereits Noll (Fn. 13), 18, 290. 5 0 Hierzu treffend Tiedemann Strafrechtspolitik und Dogmatik in den Entwürfen zu einem Dritten Strafrechtsreformgesetz, 1970, 6 f.

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schlechterdings nicht vollständig sein, und das induktive Beispielsdenken muß durch deduktiv-systematisches Denken ergänzt und abgesichert werden. 51 Nur so können Inkohärenzen, Lücken und Widersprüche eines Gesetzgebungsvorschlages umfassend und zuverlässig aufgedeckt werden. Genau dies ist das ureigenste Feld der Strafrechtswissenschaft, und insbesondere an dieser Stelle erscheint es unumgänglich, den strafrechtswissenschaftlichen Sachverstand in das Strafgesetzgebungsverfahren mit einzubeziehen.

51 Für eine Synthese aus deduktiv-systematischem Begriffsdenken und induktivem Problemdenken spricht sich auch Roxin AT I (Fn. 3), § 7 Rn. 80 ff, besonders 84 aus.

Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Lichte der Rechtsidee IL-SU KIM

I. Einleitung Das von Claus Roxin konzipierte und weitergeführte „zweckrationale" bzw. „funktionale" Strafrechtssystem geht von einem teleologisch-kriminalpolitischen Systementwurf aus.1 Das auf einem wertungsorientierten System fundierte neoklassische Verbrechenssystem ist in der Lage, dadurch in eine inhaltlich neue Richtung weiterzuführen. Das kriminalpolitische Telos der modernen Strafzwecklehre fungiert anstelle der neukantianischen Ansätze des Wertrelativismus hier als ein strafrechtlich funktionstüchtiger Systematisierungsmaßstab. Die Grundannahme, die diesem zweckrationalen (funktionalen) System zugrunde liegt, drückt sich so aus, dass die strafrechtliche Systembildung ausschließlich von kriminalpolitischen Zwecksetzungen geleitet sein dürfe. 2 Die Quintessenz dieser Konzeption liegt jedoch darin, dass die das Strafrechtssystem konstituierenden kriminalpolitischen Leitgesichtspunkte unmissverständlich allein dem Zweck der Begrenzung der staatlichen Strafgewalt dienen. Die weder begrenzte noch dadurch gerechtfertigte Strafgewalt ist nichts anderes als Tyrannei, der zu gehorchen also niemand verpflichtet ist. Die Geschichte, wenngleich auch die jüngste Vergangenheit, lehrt uns, dass die Träger der Staatsgewalt allzu oft in die Versuchung eines Machtmissbrauchs geraten können. Heute noch erfahren wir nicht selten den Gegensatz zwischen Rechtsstaat und Machtstaat. Um solcher Gefahr Herr zu werden, bedarf die Strafgewalt in jeder Art und Weise ihrer Funktion und Zwecksetzung zwingend einer begründeten Begrenzung. Die Ausübung der Strafgewalt kann nicht allein durch ihre rechtliche Begründung, sondern zuallererst durch ihre rechtliche Begrenzung gerechtfertigt werden. Wenn es bei dem zweckrationalen (funktionalen) System um kriminalpolitische Wertungen geht, müssen die Grundsätze des Rechtsstaates in diese Zweckmäßigkeitserwägung eingehen.3 Denn „nicht alles, was zweckmäßig erscheint, ist auch gerecht" 4 . Für Zweckrationalität und Funktionalität der kriminalpolitischen Wertungen gelten gewisse rechtsstaatliche Grenzen. 5 Denn es Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 7 III Rn. 51. Roxin (Fn. 1), § 7 III Rn. 24. 3 Roxin (Fn. 1), § 7 V Rn. 53. 4 Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5 1996, 22. 5 Welzel FS für Heinitz, 1972, 31. 1

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bleibt bei jedem Wertungsakt trotz aller praktischen Vernunft immer ein Rest Ungewissheit. Bei bestem Willen und Wissen macht man unausweichlich Fehler. Das teleologisch-kriminalpolitische Strafrechtssystem selbst wäre nicht ganz frei von solchen Fehlern. Die Minimalisierung von kontingenten Fehlern kann erst dann gesichert werden, wenn sich die funktionale Verflechtung zwischen Kriminalpolitik und Strafrechtssystem an den leitenden Rechtsstaatsprinzipien orientieren muss. „Ein Staat, der keine subjektiven Rechte verbürgt und keine Gewaltenteilung kennt, kann keinen Anspruch auf eine Verfassung erheben" (Art. 16 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte). Im Rechtsstaat steht die Würde des Menschen im Zentrum. Um deretwillen hat der Rechtsstaat innere Grenzen seiner Macht. 6 Die Trias der leitenden Rechtsstaatsprinzipien für die Begrenzung der Strafgewalt besteht aus den Grundsätzen von Schuld, Gesetzlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Diese Grundsätze gehen einerseits in die Strafrechtsverwirklichung mitsamt Strafandrohung, Strafverhängung und Strafvollziehung ein und beziehen sich andererseits auf höhere Werte der Rechtsidee. Dadurch können die strafrechtlichen Grundsätze ihre Bedeutung in der „Bewahrung des Strafrechts als Recht" finden. 7 Lohnt es sich hier, über strafrechtliche Grundsätze hinaus die Rechtsidee einmal zu thematisieren? Das Strafrecht sollte einmal unter Rückgriff auf die ihm zugrunde liegende geistige und kulturelle Rechtsidee beleuchtet werden. Die Rechtsidee wird heutzutage nicht allein wegen der Radbruchschen Formel im Mauerschützenfall zum aktuellen Thema. Soweit der Mensch im Rechtsleben über das richtige Recht nachdenkt, ist die Rechtsidee immer aktuell. 8 Im Hinblick auf die Rechtsidee ist das Gesetzlichkeitsprinzip mit rechtsphilosophischen Kontroversen der Gegenwart enger verknüpft als das Schuldprinzip oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieser Grundsatz hat Verfassungsrang. Trotzdem werden immer wieder seine praktischen Auswirkungen, nämlich das Bestimmtheitsgebot, das Analogieverbot, das Rückwirkungsverbot und das Verbot strafbegründenden und -verschärfenden Gewohnheitsrechts, in Frage gestellt, einerseits durch übermäßiges Vertrauen auf die Normalisierung staatlicher Macht, andererseits durch die Entwicklung der spezifisch von Juristen geschaffenen Rechtskultur. In einer Zeit des Umbruchs des Denkens und des Systems tauchen die neuen Unüberschaubarkeiten hier und dort auf. Das Festhalten an Prinzipien verliert allmählich seine Überzeugungskraft. Befindet sich das Strafrecht wirklich in einem beklagenswerten Zustand? Worüber sollten wir dann nachdenken? - In diesem Beitrag zu der Festschrift für Claus Roxin, meinen sehr verehrten Jubilar, möchte ich mich mit diesen Problemen auseinandersetzen. 6 Vgl. Diederichsen ARSP-Beiheft 65 (1996), 130; Wolter in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, 4; Il-Su Kim Die Bedeutung der Menschenwürde im Strafrecht, insbes. für Rechtfertigung und Begrenzung der staatlichen Strafe, Diss. München 1983, 174 ff. 7 Mangakis ZStW 81 (1969), 1000. 8 Ahnlich dazu Arthur Kaufmann Grundprobleme der Rechtsphilosophie, 1994, 140.

Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Lichte der Rechtsidee

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II. Welchen Sinn hat der Gesetzlichkeitsgrundsatz eigentlich? Der Gesetzlichkeitsgrundsatz „Kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz" ist ein grundlegendes Instrumentarium des Rechtsstaates. Er garantiert die persönliche Freiheit und Sicherheit des Bürgers gegen die staatliche "Willkür. Er gewährt auch Rechtssicherheit und schützt Vertrauen, so dass der Bürger sein Verhalten in Eigenverantwortung normgemäß einrichten und Strafbarkeit vermeiden kann. 9 Dieser Grundsatz ist in §§ 1, 2 Abs. 1 StGB und in Art. 103 Abs. 2 GG sowie in Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK niedergelegt. Die Idee dieses Grundsatzes geht auf das Denken der liberalen und rationalen Aufklärung zurück. Dieser Grundsatz hat damit viele geistesgeschichtliche Hintergründe: den politischen Liberalismus, den Rechtsstaatsgedanken, den Generalpräventionsgedanken, das Schuldprinzip usw. 10 Die Herrschaft des Gesetzes statt des Menschen gehört zur Errungenschaft des politischen Liberalismus und des demokratischen Rechtsstaates, die das Bürgertum in der mühsamen Auseinandersetzung mit der absoluten Monarchie herstellen konnte. Dieses Konzept beruht eigentlich auf einem Misstrauen gegenüber staatlicher Gewalt. Selbstherrschaft durch die gewählte Volksvertretung, check and balance durch die Gewaltenteilung und die Idee der limitierten Regierung waren Metaphern der frühliberalen Staatsauffassung des Konstitutionalismus. In der Zwecksetzung des Staates haben dementsprechend die Freiheit und die pursuit of happiness des Einzelnen Vorrang. Jede Ausübung von Staatsgewalt ist im Verhältnis zum Bürger durch die strikte Bindung an das Gesetz zu beschränken. All das, was hier erwähnt ist, wird man im heutigen common sense der Rechtsstaatsauffassung wieder konstatieren. Der Rechtsstaat ist der in allen seinen Gewalten materiell wie formell durch das richtige Recht und den Gesetzesvorbehalt begrenzte und damit begründete Staat. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Strafrecht dient in erster Linie zur Begrenzung der staatlichen Strafgewalt. Er gewährleistet die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts und schützt damit das Vertrauen des Bürgers auf Rechtssicherheit. Bis heute finden wir nirgendwo anders ein so eindrucksvolles Bild von der Rechtsstaatlichkeit dieses Grundsatzes wie im Text F. v. Liszts.11 „Strafrecht ist die rechtlich begrenzte Strafgewalt des Staates. Rechtlich begrenzt nach Voraussetzung und Inhalt; rechtlich begrenzt im Interesse der individuellen Freiheit. Nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege. Diese beiden Sätze sind das Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der staatlichen All9

Zielinski FS für Grünwald, 1999, 814. Schünemann Nulla poena sine lege?, 1978, 9 f f ; Roxin (Fn. 1), § 5 IV Rn. 1 8 f f . Ob sich diese sog. geistesgeschichtlichen Wurzeln in die staatsrechtlichen und die strafrechtlichen Komponenten aufspalten lassen, wird nicht ganz übereinstimmend beurteilt. Richtig wäre es jedoch, dass der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Strafrecht zuerst von dem staatsrechtlichen Ansatz aus auf dem Weg zu seiner Konkretisierung mit den strafrechtlichen Gedanken verbunden wird. So auch Schreiber Gesetz und Richter, 1976, 3 8 f f , 5 0 f f , l l O f , 1 6 9 f f , 2 0 9 f , 2 1 3 f , 2 2 0 f ; Köhler Strafrecht AT, 1997, 76. 10

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Ehret Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip, 1996, 78 ff.

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gewa.lv. Sie schützen den Einzelnen gegen die rücksichtslose Macht der Mehrheit, gegen den Leviathan. So paradox es klingt: Das Strafgesetzbuch ist die magna charta des Verbrechers. Es verbrieft ihm das Recht, nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen und innerhalb der gesetzlichen Grenzen gestraft zu werden." 1 2 Ganz in diesem Sinne nennen Rechtswissenschaftler heutzutage den Gesetzlichkeitsgrundsatz sowohl ein essentielles Fundament des demokratischen Rechtsstaats 1 3 als auch einen elementaren Zentralbegriff des modernen Strafrechts 1 4 . Nach ganz herrschender Meinung hat der Gesetzlichkeitsgrundsatz nun die folgenden vier Auswirkungen: das Verbot allzu unbestimmter Strafgesetze (Gebot der lex certa), das Verbot strafbegründender bzw. -verschärfender Rückwirkung von Gesetzen (Gebot der lex praevia), das Verbot strafbegründenden und -verschärfenden Gewohnheitsrechts ( G e b o t der lex scripta) und das Verbot strafbegründender und -verschärfender Analogie (Gebot der lex stricta). Es ist wenig umstritten, dass sich von den vier Einzelprinzipien unseres Grundsatzes die ersten beiden als rechtsstaatliche Grenze der Strafgesetzgebung, die letzten beiden hauptsächlich als rechtsstaatliche Grenze der Strafgesetzesanwendung auswirken. 1 5 Das Bestimmtheitsgebot wirkt sich dadurch aus, dass die Voraussetzung und Rechtsfolge der Strafbarkeit vor der Tat „gesetzlich bestimmt" sein müssen. Der strafende Staat hat also in der Gesetzgebung die N o r m e n und die ihrer Beeinträchtigung zukommenden Sanktionen „öffentlich, schriftlich, vorgängig und präzise" anzukündigen. 1 6 D e m Bestimmtheitsgebot könnte nun auf zweierlei Weise durch den Rechtsanwender bzw. Normadressaten Rechnung getragen werden. Zum einen könnte er sich in der Gesetzesanwendung genau an diese Ankündigung halten. Die vom Gesetzgeber gesetzte Strafrechtsnorm hat immerhin durch ihren Tatbestand und ihre Rechtsfolgenbestimmung eine Orientierungsfunktion gegenüber dem Rechtsanwender auszuüben, wenn auch dem Rechtsanwendungsorgan ein gewisser Entscheidungsspielraum durch Einräumung eines Ermessens gegeben werden mag. Nach dieser Leitfunktion vermag der Rechtsanwender einen vorliegenden Sachverhalt strafrechtlich in diesem oder jenem Sinne zu beurteilen, und der Normadressat kann dann auch mit diesen oder jenen Rechtsfolgen rechnen. Zum anderen könnte der Bürger im Voraus, wenn auch nach seinem Laienverstand, zur Kenntnis nehmen, welches Verhalten verboten ist, was rechtlich unerlaubt ist. Hier geht es um die Appellfunktion der Strafrechtsnorm. Nach dieser Steuerungsfunktion vermag der Rechtsunterworfene sein Verhalten in

12 Von Liszt Die deterministischen Gegner der Zweckgedanken, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, 60 (Hervorhebung nicht im Original). 13 Schulz ARSP-Beiheft 65 (1996), 173 ff, 175. 14 Mangakis (Fn. 7), 998. 15 Roxin (Fn. 1), § 5 II Rn. 7. 16 A K - S t G B - H a s s e m e r (1990), § 1 Rn. 10.

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bestimmte Bahnen zu lenken oder davon abzusehen, bestimmte Wege zu beschreiten. Auch geistesgeschichtlich gesehen gehört das Gesetzesbestimmtheitsgebot zu einer der fortschrittlichsten Errungenschaften der liberalen Rechtsstaatskonzeption seit der Aufklärung. Man kann schon bei Hobbes den Gedanken der Gesetzesbestimmtheit finden: „Die Freiheit hängt von dem Stillschweigen der Gesetze ab. Das, was durch die Gesetze nicht bestimmt ist, kann jeder Bürger tun oder unterlassen." 17 Nach Hobbes muss jedes Gesetz ein „gerechtes" wie „gutes" Gesetz und darüber hinaus „zum Wohle des Volkes nötig und dabei deutlich abgefasst" sein. 18 Davon geht auch Voltaire aus: „Freisein heißt von nichts anderem als dem Gesetz abhängen." 19 Bei Feuerbach gebührt der Gesetzgebung gegenüber der richterlichen Macht Vorrang, so dass das Gesetz als Mittel zur Beseitigung aller Willkür und Unsicherheit der Strafrechtspflege fungieren kann. Feuerbach hält ein die Gerechtigkeit abbildendes Gesetz für heilig und ordnet den Richter als „Diener und Interpret des Gesetzes" dem Gesetzgeber unter.20 Ein unbestimmter und unklarer Straftatbestand und eine völlig unbestimmte Rechtsfolge verstoßen also gegen das Gesetzlichkeitsprinzip und werden damit unwirksam. Strafgesetze müssen in ihren Tatbeständen sowie ihren Rechtsfolgen ein Mindestmaß an Bestimmtheit aufweisen, und zwar nicht nur um den Bürger vor Willkür zu schützen und den Richter nicht durch einen gesetzesähnlichen Richterspruch in den Bereich der Legislative übergreifen zu lassen, sondern auch um der Generalpräventionswirkung und des Schuldprinzips willen. 21 Das Rückwirkungsverbot besagt für den Strafgesetzgeber, dass eine Tat, die zur Zeit ihrer Begehung nicht oder nur milder strafbar war, keineswegs zulasten des Täters rückwirkend unter Strafe gestellt bzw. mit höherer Strafe belegt werden darf. In der Politik zur Aufarbeitung des Systemunrechts kann der Gesetzgeber allzu leicht dazu neigen, besonders aufsehenerregende Taten rückwirkend unter Strafe zu stellen, nachträglich eine schwerere Strafe einzuführen oder die Strafdrohung im Rahmen derselben Strafart zu verschärfen. Dies geschieht nicht nur bei einem revolutionären Machtwechsel, sondern auch in der alltäglichen Politik, und zwar zu dem Zweck, „eine politisch unerwünschte Unruhe und Erregung zu beschwichtigen." 22 Nach einer Maxime des liberalen Rechtsstaates steht Strafrecht grundsätzlich in Distanz zur Politik. Der Sinn des Rückwirkungsverbotes im rechtsstaat17 Hobbes Leviathan, Ausgabe I, 1966, 250; vgl. den Hinweis, dass sich der Hobbessche Gesetzesbegriff noch wesentlich von dem der späteren Aufklärung unterscheidet, von Schreiber (Fn. 10), 40 Anm. 16; s. auch zu einer Interpretation des Hobbesschen Gesetzbegriffs, „dass es den Schutz der Bürger mehrt und nicht im Gegenteil stört und zerstört", Maihofer Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, 124. 18 Hobbes (Fn. 17), 351. 19 Zitiert nach Schreiber (Fn. 10), 53 Anm. 53. 20 Cattaneo Aufklärung und Strafrecht, 1998, 280; Ehret (Fn. 11), 49. 21 Roxin (Fn. 1), § 5 VIII Rn. 67; Krey Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, 137f. 22 Roxin (Fn. 1), § 5 VII Rn. 51.

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liehen Strafrecht liegt darin, dass es nicht einfach der Politik ausgeliefert wird, die mittels des Strafrechts nach der Entmachtung der politisch Herrschenden Rache an den vorigen Machthabern nehmen will. 23 Daher dient das Rückwirkungsverbot als eine scharfe Begrenzung politischer Machtausübung dem Schutz des einzelnen Bürgers vor gesetzgeberischer Willkür ex post. 2 4 Es ist ein zentrales Element der freiheitsgewährleistenden Rechtssicherheit. 25 Im Hinblick auf die Bewältigung von NS-Verbrechen sowie DDR-Systemunrecht mehren sich die Stimmen, eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots zu legitimieren. Die Argumentation für die Rückwirkung bei sogenannten natürlichen Verbrechen, vorab durch den Rekurs auf den naturrechtlichen bzw. vorpositiven Rechtsgrundsatz, 26 wird aber, bei Lichte besehen, der „konstitutiven Bedeutung der Strafgesetze" nicht gerecht. 27 Somit bleibt es dabei: Das Rückwirkungsverbot als ein grundlegendes Menschenrecht (Art. 7 Abs. 1 E M R K ) erfüllt seine Garantiefunktion gegen gesetzgeberische Willkür ex post durch objektive Begrenzung der zeitlichen Geltung der Strafgesetze. Dieses Verbot steht grundsätzlich für Rechtssicherheit und gilt damit auch dann, wenn rückwirkende Gesetze gerechter als der frühere Rechtszustand erscheinen. 28 Das Rückwirkungsverbot gilt für alle Voraussetzungen der materiellrechtlichen Strafbarkeit. Immerhin fragwürdig erscheint jedoch der Geltungsbereich dieses Verbots für Maßregeln, Verjährung und Rechtsprechung. Das Verbot strafbegründenden und strafschärfenden Gewohnheitsrechts ist eine selbständige Folge des Gesetzesbestimmtheitsgebots. Denn wenn dem Gewohnheitsrecht eine selbständige Rechtsquelle neben dem geschriebenen Recht gebühren würde, wie es im Zivilrecht der Fall ist, müsste der Anspruch auf die Bindung des Gesetzgebers an das Bestimmtheitsprinzip zu einer Verwässerung führen. Nur geschriebenes Recht kann den Anforderungen Genüge leisten, dass die Strafbarkeit vor der Tat gesetzlich bestimmt werden muss. Unter dem Einfluss der historischen Rechtsschule wurde nicht allein das Verbot strafbegründenden und strafverschärfenden Gewohnheitsrechts, sondern auch das Gesetzlichkeitsprinzip als solches einmal in seinen Grundmauern erschüttert: 29 Was die Rechtsquelle angeht, so galt das Gesetz nicht mehr als die alleinige Erscheinungsform des Rechts. Köstlin, der von der Pucbtaschen Rechtsquellenlehre ausging, kam zu der Konsequenz, dass ein Strafrecht ohne 23 Arnold in: Institut für Kriminalwissenschaften (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, 290. 24 Schreiber ZStW 80 (1968), 348; Krey (Fn. 21), 133. 25 Schmidt-Assmann in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Kommentar zum GG, 8. Lfg. 1992, Art. 103 Abs. 2 Rn. 236; SK-StGB-Rudolphi (Juni 1997), § 1 Rn. 2; LK-Tröndle StGB, 10 1985, § 1 Rn. 28. 2 6 Zu noch ausführlicheren Literaturangaben vgl. Krey (Fn. 21), 67 ff; Schulz (Fn. 13), 175; Arnold, Frisch, Schünemann und Zielinski FS für Grünwald, 1999, 31 ff, 133 ff, 439, 657 ff, 811 ff. 27 Krey (Fn. 21), 132. 28 Krey (Fn. 21), 136; Arnold (Fn. 26), 43. 2 9 Dazu vgl. Schreiher (Fn. 10), 124 ff.

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förmlich geschriebenes Gesetz ausgeübt werden könne. Denn das Gewohnheitsrecht habe prinzipiell ebenso dieselbe rechtliche Lebenskraft wie das förmliche Gesetz. 3 0 Die größere Freiheit gegenüber dem Gesetz ging weiter dahin, dass Gewohnheitsrecht, Analogie und Rückwirkung grundsätzlich nicht mehr für generell unzulässig gehalten wurden. 31 Trotzdem war die überwiegende Meinung von damals außerhalb der historischen Schule gegen die unbeschränkte Zulassung des Gewohnheitsrechts und erkannte damit dem Gesetzlichkeitsprinzip als Grundsatz der Gesetzgebungspolitik eine bedeutende Funktion zur Beschränkung der staatlichen Strafgewalt zu. 3 2 Das Gewohnheitsrechtsverbot, nach dem ein ungeschriebenes Gewohnheitsrecht zulasten des Täters im Strafrecht verboten ist, wird heute praktisch allgemein anerkannt. Der Ausschluss täterbelastenden Gewohnheitsrechts ist im B T fast einhellig und im AT ganz überwiegend durchgesetzt worden. 33 Dieses Verbot findet seinen eigentlichen Sinn im Dienst der Rechtssicherheit. Es folgt zwingend ebenso aus der rechtsstaatlich-liberalen Garantie wie aus dem der Gewaltenteilung entwachsenen Gesetzesvorbehalt. Dazu wäre auch der Gesichtspunkt der Generalprävention hinzuzufügen. 34 Was nun das Analogieverbot anbelangt, so muss man sich über verfassungstheoretische Aspekte hinaus mit juristischen Methodenkontroversen auseinandersetzen. Analogie ist „die Übertragung einer rechtlichen Regel auf einen im Gesetz nicht geregelten anderen Fall auf dem Wege eines Ähnlichkeitsschlusses." 35 Wenn auch juristische Analogie als methodisches Hilfsmittel der Lückenausfüllung im Zivilrecht sehr wohl fungiert und daher als „eine systemeigene Technik" oder „eine Kunstregel" methodengerechter Verarbeitung von Rechtsinformationen gewürdigt wird, 36 so schließt das Analogieverbot im Strafrecht jede analoge Gewinnung normativer Entscheidungsprämissen im Einzelfall in malam partem aus. Das Analogieverbot hat eng mit dem Gesetzesbestimmtheitsgebot zu tun. Denn das Analogieverbot stellt gerade für das Bestimmtheitsgebot dessen zwingende Verlängerung in die Praxis der Gesetzesanwendung dar. Wenn dem Strafrichter eine analoge Anwendung zulasten des Täters erlaubt würde, liefe das Bestimmtheitsgebot leer. 37 Und das Gesetzlichkeitsprinzip als Ganzes würde damit erheblich erschüttert. Eine Gesetzesanwendung per analogiam betrifft denjenigen Fall, der sich nicht mit dem Gesetzeswortlaut deckt und daher sogar nach natürlichem Sprachempfinden der Gesetzesregelung nicht entspricht. Hier handelt es sich nicht um die Rechtsfindung intra legem, sondern nur um die Rechtsfindung praeter legem, d. h. die gesetzesergänzende Lückenfüllung. Es geht also bei 30 31 32 33 34 35 36 37

Köstlin System des deutschen Strafrechts, 1855, 49 (zitiert nach Schreiber [Fn. 10], 131). Schreiber (Fn. 10), 154. Schreiber (Fn. 10), 163 f. Krey (Fn. 21), 111; Roxin (Fn. 1), § 5 VI Rn. 45 ff. Schünemann (Fn. 10), 23; Krey (Fn. 21), 130 f. So die Definition der Analogie bei Roxin (Fn. 1), § 5 II Rn. 8. Chanos Begriff und Geltungsgrundlagen der Rechtsanalogie, 1994, 112 ff. AK-StGR-Hassemer (Fn. 16), § 1 Rn. 705; BVerfGE 71, 108, 115.

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einem solchen Analogieschluss nicht um eine Norminterpretation, sondern um eine Normproduktion. Wenn man den Unterschied zwischen Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung nicht für obsolet hält, fällt Analogie in die Kategorie der Rechtsfortbildung. Die Rechtsfortbildung lässt sich dadurch charakterisieren, dass sie sich im Prozess der Rechtsfindung nicht scheut, die Grenze des möglichen Wortsinnes des Gesetzes, d. h. die äußerste Grenze zulässiger Gesetzesauslegung, durch den Strafrichter zu überschreiten. Im Strafrecht ist die analoge Rechtsanwendung zulasten des Täters unzulässig. Denn eine solche Rechtsfortbildung ginge weiter als das, was dem Rechtsanwender gemäß Art. 103 Abs. 1 G G und § 1 StGB erlaubt worden ist. Der Analogieschluss im Strafrecht verstößt darum gegen den eigentlichen Sinn des Gesetzesbestimmtheitsgebots. Dem Analogieverbot sind in diesem Zusammenhang die Aeloi Rechtssicherheit, Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür, 38 Vertrauensschutz 39 und Sicherung der generalpräventiven Wirkung des Gesetzes 40 zuzuschreiben. Eben deshalb ist nicht nur die täterbelastende Rechtsfindung praeter legem, sondern auch die Rechtsfindung contra legem, sogar die Rechtsfindung contra legem in bonam partem verboten. 41 Das Analogieverbot setzt ferner die Gesetzesbindung der richterlichen Tätigkeit voraus. Sie besagt nach herrschender Meinung die Bindung der Rechtsprechung an den Wortlaut des Gesetzes. Anders als zur Zeit der Aufklärung behauptet heutzutage niemand, dass die Richter nur „la bouche de la loi" seien und somit zu „Subsumtionsautomaten" degradiert würden. 4 2 Nach dem eigentlichen Sinn des Gesetzlichkeitsprinzips kann der Richter innerhalb des durch den Wortlaut vorgesehenen Regelungsrahmens in einer Weise der Restriktion oder Extension teleologisch N o r m e n konkretisieren. 43 U m so notwendiger ist dies besonders dann, wenn der Gesetzgeber für unumgängliche Fälle zu unbestimmten Rechtsbegriffen, wertausfüllungsbedürftigen Begriffen oder zu Generalklauseln greift. 44 Dies bedeutet aber nicht etwa, dass gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung bzw. gesetzeswidrige Umdeutung in solchen Fällen von vornherein zulässig wäre. Denn es kann dabei nur eine rechtspolitische Forderung in Betracht kommen, die der Gesetzesanwender durch Appell an den Gesetzgeber artikulieren sollte. 45 Sonst wäre es eine Machtusurpierung des Richters gegenüber dem Gesetzgeber, die auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstoßen würde. Wegen des Verbots der analogen Sinnerweiterung von Strafnormsätzen muss jede Auslegung des Strafgesetzes mit dem Wortlaut beginnen und kann 3

*Krey (Fn. 21), 135. Schönke/Schröder/Eser StGB, 24 1 991, § 1 Rn. 55. 40 Schünemann FS für Bockelmann, 1979, 126; Roxin (Fn. 1), § 5 V Rn. 30. 41 Krey ZStW 101 (1989), 852; Heinrich Die gefährliche Körperverletzung, 1993, 478. 42 Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4 1979, 307. 43 BaumanniWeber Strafrecht AT, '1985, § 13 I Rn. 3; Wank Die Auslegung von Gesetzen, 1996, 53 ff. 44 So auch Schönke/Schröder/£$er (Fn. 39), § 1 Rn. 55. 45 Roxin (Fn. 1), § 7 V Rn. 74. 39

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mit dem teleologischen Nachdenken und Weiterdenken über Vorgeschriebenes mehr oder weniger weitergehen, aber muss wiederum an der Wortlautgrenze enden. 46 So gesehen handelt es sich bei dem Verbot strafbegründender und -schärfender Analogie um die Grenze zwischen (zulässiger) Auslegung und (verbotener) Analogie. Und die Wortlautgrenze fungiert als Kriterium der Abgrenzung von Auslegung und Analogie, nämlich „über-extensiver Auslegung" 47 , wenn auch die Grenzziehung im konkreten Fall nicht immer leicht zu bestimmen sein mag. 48

III. Wie weit ist die Rechtskultur der Gegenwart vom Sinn des Gesetzlichkeitsgrundsatzes abgewichen? Der Gesetzlichkeitsgrundsatz scheint heutzutage ein unentbehrliches rechtskulturelles Kapital des demokratischen Rechtsstaates zu sein. Ohne Zweifel ist er seit langem anerkannt. Heute ist der Gesetzlichkeitsgrundsatz schon in der Verfassung, im Strafgesetzbuch und sogar in internationalen Menschenrechtskonventionen fest verankert. Man hat das nicht nur als eine unabänderliche Entwicklung des Rechtsstaats hingenommen, die Theoretiker haben dieser Entwicklung auch ihren Segen gegeben. Gleichwohl wird dieser Grundsatz, bei Lichte besehen, heute noch auf die Probe gestellt. Man pflegt davon auszugehen, dass die Machtausübung in der heutigen repräsentativen Demokratie schon durch Wahlergebnisse gerechtfertigt wird. Deswegen wird wenig ernst genommen, wie weit sich die Funktionen der Legislative und der Judikative vom eigentlichen Sinn dieses Grundsatzes entfernt haben. Ein Teil der Theoretiker scheint stattdessen der Forderung nach strikter Beibehaltung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes zu misstrauen. Tatsächlich gibt es im Recht sicher etwas Unverfügbares 49 , Unverzichtbares. Aber es ist wohl kaum fragwürdig, dass es im Recht kein vorgegebenes Prinzip gibt, von dem aus die absolute Geltung logisch abgeleitet werden könnte. So wird z. B. die Verfassungsgarantie der Menschenwürde zwar als „die letzte Grundnorm innerhalb des Normenkontextes unseres Rechtssystems überhaupt" 50 angesehen und als ein bestehendes oder feststehendes Prinzip dargestellt. Ihr Charakter erschließt sich aber erst im Prozess der offenen Dynamik im Sinne einer Realisierungsaufgabe. 51 Wenn dem so ist, ist es wohl selbstverständlich, dass Flexibilität und Relativität einem Rechtsgrundsatz schon eigentümlich sind. Keine Regel ohne Ausnahme! Selbst wenn ein Schlagwort wie Dekonstruktivismus zu einer Mode wird, so darf man in der Strafrechtstheorie 46 47 48 49 50 51

Larenz (Fn. 42), 307. Baumann/Weber (Fn. 43), § 13 I Rn. 3. So auch Schönke/Schröder/£ifr (Fn. 39), § 1 Rn. 55. Vgl. Arthur Kaufmann (Fn. 8), 335. Maihofer (Fn. 17), 43, 103. Il-Su Kim (Fn. 6), 143 f.

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doch nicht zulassen, dass die Ausnahme zur Regel wird. Als ein plausibles Beispiel dafür kann man sicher an erster Stelle das Gebot der Gesetzesbestimmtheit anführen. Welzel hat die Gefahr einer Erosionstendenz des Gesetzlichkeitsgrundsatzes vorausgesehen, als er sagte: „Die eigentliche Gefahr droht dem Grundsatz nulla poena sine lege nicht von der Analogie, sondern von unbestimmten Strafgesetzen!" 52 Eine neue Tendenz wäre: Misstrauen gegen die überpräzise Formulierung des Gesetzgebers statt Misstrauen gegen die unpräzise Formulierung des Gesetzestexts. Nicht nur Henkel hat diesem Misstrauen argumentativ Ausdruck verliehen. 53 Ausgehend davon, dass die von Rechtsnormen zu regelnden Lebensverhältnisse „sich in einem Wandel befinden" und damit „der in der Sprache liegende Unsicherheitsfaktor bereits dem Bestimmtheitserfordernis Grenzen setzt", zieht Henkel ein Zwischenergebnis: N u r „flexible Tatbestände mit unbestimmten Begriffen können die notwendige Anpassungsfähigkeit garantieren." 54 Auch Hassemer, einer der Vertreter der „Frankfurter Schule", der eigentlich gegen die Hypertrophisierungstendenz des präventiven Strafrechts und für die essentiellen rechtsstaatlichen Garantien eingetreten sowie in vielen Hinsichten ein Antipode des Gefährdungsstrafrechts ist, 55 hat bereits der Verwässerung des Bestimmtheitsgebots Vorschub geleistet, wenn er das Analogieverbot innerhalb des hermeneutischen Verfahrens in die Ecke getrieben hat. 56 Ebenso wie Arthur Kaufmann hält er für richtig, jede Auslegung als Analogiebildung zu interpretieren, sich über § 2 StGB und Art. 103 Abs. 2 G G in diesem Prozess hinwegzusetzen und die Grenze der richtigen Auslegung „nur hermeneutisch zu reflektieren" 57 . Diese Ausbleichung des Analogieverbotes macht den Boden für den Analogieschluss bereit und hat damit die Schrumpfung des Bestimmtheitsgebotes zur Folge. Hassemer stellt sich vor, man misstraue heutzutage dem starren Gesetzesstaat und sehe das Heil der Rechtsentwicklung in der flexiblen Rechtsprechung. Das Bestimmtheitsgebot fordere nicht zur Präzision um jeden Preis auf, sondern zu einer Verbindung von Präzision und Flexibilität. „Bedarf an Vagheit" im Strafrechtssystem sei also rechtspolitisch empfehlenswert. 58 Merkwürdiger kann man eine solche Fusion der Horizonte auch bei Krey wahrnehmen, der eigentlich an dem Sinngehalt des Gesetzlichkeitsgrundsatzes festzuhalten versucht. Vorausgesetzt, dass „nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt ... den Bereich des Strafbaren festsetzen" 59 , kommt Krey zu dem Ergebnis: „Was strafbar ist, bestimmen also Gesetzgebung und Rechtspre52

Welzel Das Deutsche Strafrecht, "1969, § 5 II 3. Henkel Einführung in die Rechtsphilosophie, 2 1977, 435 ff. 54 Henkel (Fn. 53), 440. " Hassemer NStZ 1989, 553; StrV 1990, 328; ZRP 1991, 329; ZRP 1992, 381. 56 Hassemer Tatbestand und Typus, 1968, 165. 57 Arthur Kaufmann Analogie und Natur der Sache, 2 1982, 41; Hassemer (Fn. 56), 163. 58 AK-StGB-Hassemer (Fn. 16), § 1 Rn. 17 ff. 59 Krey Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 103. 53

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chung in arbeitsteiligem Zusammenwirken."60 Er stellt dann das Bestimmtheitsgebot auf den Kopf, indem er es „als Konkretisierungsgebot an die Judikative" bezeichnet, wenngleich er sich darum bemüht, mögliche Missverständnisse in folgender Weise zu beseitigen: „Dann erscheint es sinnvoll, auch die Judikatur auf das Bestimmtheitsprinzip zu verpflichten und ihr aufzuerlegen, Strafgesetzen durch Auslegung schärfere Konturen und damit mehr Bestimmtheit zu verleihen!"61 Selbst wenn dem so wäre, wäre der eigentliche Sinn des Gesetzesbestimmtheitsgebotes schon aus den Angeln gehoben. Auch die viel beklagte Gesetzesflut schürt die Auflockerung des Bestimmtheitsgebotes. Die Explosion der Gesetze wird durch viele Faktoren bewirkt, die meistens eine Missachtung des Bestimmtheitsgebots verlangen: die Gewohnheit des Gesetzgebers, sofort zu reagieren, die fortschreitende Instrumentalisierung des Strafrechts mit einer Tendenz zu seiner Entformalisierung, die Tendenz zu einer Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes, Funktionsverluste der Individual- und Sozialmoral, Strafrecht als Superinstrument der Sozialund Wirtschaftspolitik, Strafrecht als Mittel der Politik, die sich an den Interessen der Wähler oder einer Lobbyklientel orientiert, usw.62 In dieser geistigen Situation missachten nicht nur Parlament und Rechtsprechung das Bestimmtheitsgebot. Gleiches gilt für die Rechtstheorie, deren Auslegungslehre zur Unbedachtsamkeit des Gesetzgebers beiträgt, indem sie das Versagen des Parlaments gegen das Bestimmtheitsgebot getrost in der Schwebe bleiben und damit den Richter als Quasi-Gesetzgeber fungieren lässt.63 Es soll danach schon eine „Bestimmbarkeit" im Sinne einer „interpretatorischen Bestimmtheit", nicht aber erst einer legislatorischen Bestimmtheit des Gesetzes genügen.64 Feststellbar ist somit die Akzentverschiebung, und zwar vom Vorrang des Gesetzes zum Vorrang des Richters. Im Zweifel also für den richterlichen Entscheidungsspielraum. Misstrauen gegen die richterliche Willkür ist hinweggefallen, stattdessen tritt nun Vertrauen in die richterliche Rechtsfortbildungsmacht hervor. Das Gesetzesbestimmtheitsgebot geht wegen der theoretischen Relativierung aus technischen Gründen und wegen der faktischen Ignorierung aus praktischen Gründen65 derzeit einen Weg der starken Erosion. In diesem Sinne hat Schünemann schon längst konstatiert, „dass das Analogieverbot weitge-

6°Krey

(Fn. 21), 127. Krey (Fn. 21), 127. 62 So auch Diederichsen (Fn. 6), 133. 63 Süß in: Institut für Kriminalwissenschaften (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, 217, 222. 64 Süß (Fn. 63), 280; des weiteren Jakobs Strafrecht AT, 2 1993, 6/14. 65 In der Nachkriegszeit ist kaum eine Strafvorschrift wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot für nichtig erklärt worden, ausgenommen von BVerfG NStZ 1989, 229 (Roxin [Fn. 1], § 5 VIII Rn. 68); im Vergleich hierzu ist die Lage in Korea ganz anders, und zwar deswegen, weil der Verfassungsgerichtshof von Korea in den 19 Jahren seit Aufnahme seiner Tätigkeit in etwa zehn Fällen unbestimmte Gesetze wegen Verfassungswidrigkeit für total bzw. teilweise ungültig erklärt hat, ein Beleg für die Liberalisierung durch die Normenkontrolle des Verfassungsgerichtshofs. 61

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hend und das Bestimmtheitsgebot weitestgehend preisgegeben ... i s t . " 6 6 Solche Erosionstendenzen scheinen jedoch dann zu weit gegangen, zumal wenn sie dadurch die rechtsstaatliche Limitationsfunktion dieses G e b o t s zu B o d e n sinken lassen. N i c h t nur das Bestimmtheitsgebot, sondern auch das Analogieverbot wird allmählich einer Denkmaschinerie von Flexibilisierung und D y n a m i s i e r u n g der Rechtsanwendung überantwortet. D i e Hauptursache liegt in der N a t u r der Sprache schlechthin, die schon Unsicherheitsfaktoren in sich trägt. I m Strafrecht kann also aus gesetzgebungstechnischen

G r ü n d e n auf unbestimmte,

wertausfüllungsbedürftige Begriffe nicht gänzlich verzichtet werden. E s ist auch so, dass die Gesetzessprache, sei sie Umgangssprache oder Fachsprache, naturgemäß mehrdeutig sein kann. I m übrigen sind sogar L ü c k e n bzw. W i d e r sprüche in den gesetzlichen Regelungen nicht selten evident. D e m Analogieverbot obliegt die Aufgabe, die erlaubte

gesetzesadäquate

Auslegung von der unerlaubten rechtsfortbildenden Analogie a b z u g r e n z e n . 6 7 M a ß g e b e n d ist dabei nur der Wortlaut des Gesetzes, mit dessen G r e n z e der Gesetzgeber

einen Regelungsspielraum

für den Gesetzesanwender

schafft.

Spektralfarben des Wortes „Wortlautgrenze" sind wie folgt zu nuancieren: „natürliche Wortbedeutung, Wortzusammenhangsbedeutung und Satzbedeut u n g " 6 8 , „möglicher W o r t s i n n " 6 9 , „die äußerste G r e n z e des Umgangssprachg e b r a u c h s " 7 0 , „realer Sprachgebrauch" im Sinne der „faktischen" oder „natürlichen" W o r t b e d e u t u n g , 7 1 „möglicher umgangssprachlicher W o r t s i n n " 7 2 oder „der W o r t s i n n , aus der Sicht der Allgemeinheit der Bürger zu b e s t i m m e n " 7 3 . Bei allen Varianten der Wortlautgrenzbeschreibung sind sich die Anhänger des Analogieverbots darin einig, dass jede Auslegung nicht weiter gehen darf, als der Wortlaut zulässt. Einige Autoren, die zum einen die sogenannte hermeneutische Wende mitgestalten, 7 4 z u m anderen teleologisch 7 5 oder systemtheoretisch (funktional) 7 6 konzipieren, sind gegen das strikte Verbot der Analogie. Sie sind der Auffassung, dass kein qualitativer oder quantitativer Unterschied zwischen Auslegung und Analogie besteht. J e d e Auslegung gesetzlicher Begriffe sei Analogie; Aus-

Schünemann (Fn. 10), 8. Roxin (Fn. 1), § 5 V Rn. 26. 68 Baumann/Weber (Fn. 43), § 13 I Rn. 3. 69 Jescheck Strafrecht AT, 41988, § 17 IV Rn. 5; SK-StGB-Rudolphi (5. Aufl.), § 1 Rn. 35; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 39), § 1 Rn. 37; Krey ZStW 101(1989), 843. 70 Schünemann (Fn. 40), 126. 7< AK-StGB-Hassemer (Fn. 16), § 1 Rn. 80. 72 Roxin (Fn. 1), § 5 V Rn. 26. 73 Dreher/Tröndle StGB, 461 993, § 1 Rn. 10 a. 74 Arthur Kaufmann (Fn. 57), 37ff, 60ff; Hassemer (Fn. 56), 96ff, 118 ff, 160 ff. 75 Sax Das strafrechtliche „Analogieverbot", 1953, 148; ders. Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettmann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III, 2. Hbd., 1959, 1002; Schmidhäuser Strafrecht AT, 21975, 5/42; Stratenwerth Strafrecht AT, 31981, Rn. 98 ff. 76 Jakobs (Fn. 64), 4/35 ff. 66 67

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legung und Analogie seien strukturgleich. 77 Sie sind alle skeptisch gegenüber der Wortlautgrenze, da der Wortlaut wegen der Mehrdeutigkeit der Sprache keine brauchbare Abgrenzung ermögliche. 78 Einige andere Autoren, die meistens der sogenannten sprachphilosophischen Wende folgen, üben Kritik an der Wortlautgrenze und damit am Analogieverbot. Während die an der neuen Hermeneutik orientierte Rechtstheorie den Punkt der Gesetzesbindung in der Auslegung schon in Richtung auf eine offene Teleologie verlassen hat, stellt die sprachphilosophisch orientierte Rechtstheorie, sei sie logische Semantik oder analytische Rechtstheorie, dieses Problem noch ins Zentrum der Diskussion. Wenn es auch verschiedene Konzeptionen dabei gibt, wie etwa Kommunikationstheorie, Semiotik, Rhetorik, linguistische Pragmatik, Argumentationstheorie, strukturierende Rechtslehre usw., 79 sind sie meistens in dem Punkt einig: Die Wortlautgrenze sei keine logische Grenze, die man vor der Argumentation bestimmen könne. Und die herkömmliche Wortlautgrenze sei juristische Illusion. Dies mag so sein. Die Symbolik der Wortlautgrenze aber liegt eigentlich nicht in der hermeneutischen, linguistischen, logischen oder soziologischen Rechtsgewinnungsmethodologie, sondern befindet sich allein in den „davon unabhängigen staats- und strafrechtlichen Prämissen." 80 Der Analogieschluss ist in den Stadien von Rechtsetzung und Rechtsvollstreckung eigentlich wenig problematisch. Anders liegt der Fall bei der Rechtsanwendung, besonders unter dem Blickwinkel der rechtsstaatlichen Schranke des Analogieverbots. Der Richter kann die Regelformulierung durch die einzelnen Entscheidungen leisten, aber eine Selbstermächtigung des Richters zur Rechtsetzung ist überhaupt nicht gestattet, besonders dann nicht, wenn er über die Wortlautgrenze der in einer Sprachgemeinschaft verwendeten normalen Sprache mit ihren alltagssprachlichen Wortbedeutungen hinaus durch einen gesetzesähnlichen Richterspruch eine andere Gesetzesnorm gestaltet. 81 Ein häufiges Argument für die Unhaltbarkeit der Wortlautgrenze ist kaum negierbar. Denn es ist logisch korrekt, dass jede Auslegung aus einem Ahnlichkeitsvergleich besteht, Auslegung und Analogie also strukturgleich sind. 82 Das ergibt sich vor allem aus der Vagheit und Porosität der Sprache und der Dynamik und Prozedur juristischer Entscheidungen. 83 Wenn sich aber eindeutige, präzise Kriterien der Wortlautgrenze aus der Natur der Sprache nicht leicht entwickeln lassen, ist das Mißlingen einer Präzisierung der Wortlautgrenze 77

AK-StGB-Äissemer (Fn. 16), § 1 Rn. 95, 98. Grundlegend Sax (Fn. 75), 94 ff; Arthur Kaufmann (Fn. 57), 3 ff; Jakobs (Fn. 64), 4/35. 79 Busse Juristische Semantik, 1993, 99 ff; Müller/Christensen/Sokolowski Rechtstext und Textarbeit, 1997, 15 ff. 80 Roxin (Fn. 1), § 5 V Rn. 36; Krey (Fn. 59), 141; Schönke/Schröder/£jer (Fn. 39), § 1 Rn. 55; Schünemann (Fn. 10), 20; Charalambakis Der Unterschlagungstatbestand de lege lata und de lege ferenda, Diss. München 1982, 100; Heinrich (Fn. 41), 453. 81 Vgl. auch Busse (Fn. 79), 281 f. 82 Roxin (Fn. 1), § 5 V Rn. 36. 83 Schünemann FS für Klug, 1983, 176; Heinrich (Fn. 41), 454 f. 78

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nicht ohne weiteres auf ein höheres Beweismittel für die Antipoden des Analogieverbots zurückzuführen. Denn ebenso ist die gleiche Beweislast hinsichtlich der Präzisierung auch den Analogieanhängern auferlegt, besonders dort, wo die Analogie sich mit „Gleichheit" bzw. „Ähnlichkeit" im Fall oder einem Typenvergleich beschäftigen muss. Fernerhin ist es aber politisch inkorrekt und deswegen unannehmbar. Die Autoren, die die Wortlautgrenze verwerfen, neigen dazu, im konkreten Fall der Rechtsfindung tendenziell weiter zu gehen als die Anhänger der Wortlautgrenze: Überschreitungen des Gesetzeswortsinns seien auch zuungunsten des Täters zulässig.84 Ihr Verweis auf die von der ratio legis gestützte Rechtsfindung oder ihr Rekurs auf den Grundsatz In dubio pro übertäte/85 kann also das Unbehagen nicht zur Ruhe bringen. Denn die analoge Gesetzesanwendung zuungunsten des Täters würde unter Umständen den Richter dem Gesetzgeber gleichstellen und damit gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstoßen.86 Die verfassungsgemäßen Rollenverteilungen zwischen Legislative und Judikative in Bezug auf die Strafrechtsverwirklichung können dem Täter wenigstens einen Zeitgewinn garantieren, und zwar im praktischen Interesse des Täters: Wenn der Richter an der Wortlautgrenze festhält, den Täter anstelle einer analogen Anwendung freispricht und sich damit auf Empfehlungen einer Gesetzesvorlage hinsichtlich der lex ferenda beschränkt, dann gewinnt der Täter in diesem Vorgang eine bedeutende Zeit. Diese Zeit bedeutet hier zuallererst Freiheit. Diesen Zeitgewinn des Täters kann selbst In dubio pro libertate, besonders wegen des höheren Abstraktionsniveaus nicht genügend gewährleisten, es sei denn, dass das Analogieverbot im Auge des Richters behalten wird. Bereits dort, wo eine Unterscheidung von Auslegung und Analogie völlig abgelehnt wird, kann eine solche Ausgangsvermutung auch zugunsten der Freiheitsgewährung wenig hilfreich sein. Bei der Erörterung der Wortlautgrenze geht es also im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip nicht darum, ob eine Überschreitung dieser Grenze argumentativ wohl begründet ist, sondern vielmehr darum, ob die analoge Gesetzesanwendung durch eine solche Fusion der Gewaltenteilung noch mit dem eigentlichen Sinn des Gesetzlichkeitsgrundsatzes übereinstimmen kann. 87 Dem Anhänger der Wortlautgrenze ist es selbstverständlich, dass das gesprochene oder geschriebene Wort des Gesetzes auf den Horizont eines Sprachverstehens geworfen ist und innerhalb dieses Horizonts die ratio legis oder sogar die dogmatische Kriminalpolitik eine wichtige Rolle spielen kann. 88 Aber das Überschreiten dieses Horizonts durch den Analogieschluss zulasten des Täters kann Krey (Fn. 59), 52. Maihofer (Fn. 17), 127; Yi Wortlautgrenze, Intersubjektivität und Kontexteinbettung, 1993, 300, versucht, eine Unterscheidung von Auslegung und Analogie abzulehnen und dadurch zwischen verbotener und erlaubter Analogie zu unterscheiden, dass der Richter In dubio pro libertate! entscheiden soll. 86 Roxin (Fn. 1), § 7 V Rn. 71. 8 7 Verneint ausdrücklich Hirsch JR 1966, 339. 88 Roxin (Fn. 1), § 7 V Rn. 70 f. 84 85

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keinesfalls akzeptiert werden. Solch eine Fusion des Horizonts stiftet in Wahrheit keine Fusion mit positiven Folgen, sondern bedeutet nur Konfusion. Das Rückwirkungsverbot kann man als ein Barometer der Rechtssicherheit betrachten, umso mehr in Zeiten des Umbruchs. Als Schünemann in seiner Antrittsvorlesung sagte, dass von den Einzelprinzipien des Gesetzlichkeitsgrundsatzes „das Rückwirkungs- und Gewohnheitsrechtsverbot trotz starker Erosionen noch die stärkste Geltung besitzen", 89 ahnte er wahrscheinlich gar nicht, wie das Rückwirkungsverbot ins Schwanken geraten würde. Die Auflockerung und Umgehung des Rückwirkungsverbots treten im Hinblick auf die Verfolgung der NS-Verbrechen und die Aufarbeitung des DDR-Systemunrechts eindringlich hervor. Der Hauptgrund dieser Symptome ist zuerst auf die sich an diesem Gebot entfaltenden vielfältigen Konflikte zurückzuführen, und zwar auf die Konflikte zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit, auf den Konflikt zwischen Justizgrundrechten eines mutmaßlichen Täters und Justizgewährungspflicht des Staates, auf den Widerstreit zwischen Geltungsanspruch des Rechts und sozialer Staatspraxis angesichts extremen Unrechts, auf den Gegensatz von Wahrheitserforschung und Betroffenenschutz sowie auf den Interessenkonflikt zwischen Täter und Opfer. 90 Es gab schon gewisse Tendenzen zu einer Auflockerung dieses Verbots in Bezug auf die Verfolgung der NS-Gewalttäter. Gerade nach dem Untergang der NS-Zeit wurden die rückwirkenden Strafvorschriften des KRG Nr. 10 in Kraft gesetzt, um die NS-Verbrechen zu ahnden. Das, was das KRG Nr. 10 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe stellt, war sicherlich eine Gräueltat, deren Strafbarkeit aber vor der Tat nicht gesetzlich fixiert war. Die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots sei, so wird gesagt, aus folgenden Gründen zu rechtfertigen: Die Rückwirkung des KRG Nr. 10 sei zunächst positivrechtlich wirksam, stehe ferner nicht in Widerspruch zu „rechtlichen Grundüberzeugungen aller zivilisierten Völker" und sei auch gerecht. 91 Es ist bemerkenswert, dass die Autoren, die die Rückwirkung befürworteten, 92 die Ausnahmesituation betont haben. Trotzdem hat die Hinfälligkeit des Rückwirkungsverbots schon angefangen, als Graveson festgestellt hat, dass das Rückwirkungsverbot nicht „Gemeingut aller zivilisierten Völker" sei, 93 und Wimmer hinzugefügt hat, dass es durch verfassungsänderndes Gesetz außer Kraft gesetzt werden könne. 94 Radbruch hat diesbezüglich eine naturrechtliche Argumentation ans Licht gebracht, die unter der Bezeichnung „Radbruchsche Formel" heute wiederbelebt worden ist: In Wirklichkeit sei keine Rückwirkung gegeben, da der „Inhalt des angeblich zurückwirkenden Rechts" schon

Schünemann (Fn. 10), 8. Zielinski (Fn. 9), 831; Schulz (Fn. 13), 187; Arnold (Fn. 23), 295. 9> Krey (Fn. 21), 67. 92 Graveson, Kiessei, Range, Radbruch, Limmer usw. « Graveson MDR 1947, 278 ff. 94 Wimmer SJZ 1947, 123. 89 90

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vorher, wenn auch in „nicht positiv gefasster Form", als Naturrecht gegolten habe. 95 Dieser Tenor setzt sich bis zum Eichmann-Urteil fort. Baumann führt in seiner Besprechung zu diesem Urteil aus: Für die Beteiligung an der „Endlösung der Judenfrage" sei die Bestrafung aus einem rückwirkenden Strafgesetz legitim. Denn: „Die Verletzung des Rechtsgefühls durch eine nicht oder nicht sachgerecht erfolgende Bestrafung wäre schlimmer als die hier zu verschmerzende Einbuße an Rechtssicherheit." 96 Für die Aufarbeitung der NS-Gewalttaten hat der deutsche Gesetzgeber die Verjährungsfristen für Mord zunächst verlängert und danach schließlich aufgehoben. 97 Da das Rückwirkungsverbot nur für das materielle Strafrecht gilt, 98 gilt es grundsätzlich nicht für das Verfahrensrecht. Auch für die Verjährungsregel als ein Prozesshindernis gilt das Rückwirkungsverbot im Prinzip nicht, geschweige denn für eine Verlängerung oder Aufhebung noch nicht abgelaufener Verjährungsfristen. 99 Eine einmal eingetretene Verjährung aber kann nicht rückwirkend zum Nachteil der Betroffenen aufgehoben werden. Wenn es sich so verhält, wären selbst die Straftaten, die auf Veranlassung oder mit Billigung der ehemaligen Machthaber der D D R verübt worden sind und mangels Verfolgung verjährten, faktisch straflos geworden. Dies hätte das Rechtsgefühl der Bevölkerung in der früheren D D R aber nicht befriedigen können. In diesem Zusammenhang versuchen deshalb Politik und Macht vor Recht zu gehen, nämlich das Strafrecht als politisches Mittel für ihre Ziele einzusetzen. 100 Der staatlichen Macht wurde sogar empfohlen, auf die Strafjustiz zur Bewältigung der DDR-Vergangenheit Einfluss zu nehmen. 101 Seit dem Inkrafttreten des Art. 315 a EGStGB wurde die echte Rückwirkung „durch das Problem des Ruhens der Verjährung in eine unechte Rückwirkung umzudeuten versucht." Nunmehr verstärkt die Politik „ihre Anstrengungen, eine gesetzliche Regelung zu erreichen." 102 Die Bilanz der gesamten Rechtslage, die man vor allem dem Vorgang der sogenannten „Mauerschützen-Prozesse" entnehmen kann, veranlasst uns darüber nachzudenken, wie schwer selbst das Rückwirkungsverbot angesichts eines derartigen angeblichen Ausnahmefalls am eigentlichen Sinn des GesetzRadbruch SJZ 1947, 135 f. Baumann JZ 1963, 118. 9 7 Dazu vgl. zunächst das sog. Berechnungsgesetz vom 13. 4. 1965, dann das 9. StAG vom 4. 8. 1969 (Verlängerung von 20 auf 30 Jahre) und schließlich das 16. StÄG vom 16. 7. 1979 (generelle Aufhebung); in Korea ist das Sondergesetz zur Verjährungsregel für Straftaten des Verfassungsbruchs am 21. 12. 1995 in Kraft gesetzt worden. Hier geht es um die Aufhebung der Verjährung von Hochverrat, Landesverrat, Massenmord usw.; vgl. dazu Cho Vergangenheitsbewältigung in Südkorea aus strafrechtlicher Perspektive, in: Internationales Asienforum 29 (1998), 239 ff. 95 96

« BGHSt 20, 27. Roxin (Fn. 1), § 5 VII Rn. 60; Krey (Fn. 21), 120; krit. Schünemann JR 1979, 177 ff. 1 0 0 So auch Arnold (Fn. 23), 286 f. 1 0 1 Vgl. Empfehlungen des Berichts der Enquete-Kommission zur strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, BTDrucks 12/7820 vom 31. 05. 1994. 102 Arnold (Fn. 23), 297. 9

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lichkeitsgrundsatzes festhalten kann. Eine Strömung im Schrifttum, die rechtsstaatliche Bedenken und Einwände gegen Verjährungsgesetzgebung bzw. Strafverfolgerung der „Mauerschützen" äußert, 1 0 3 wird dennoch von namhaften Autoren, B G H und BVerfG wenig beachtet. 1 0 4 Im Hinblick auf die Mauerschützenproblematik hat die Rechtsprechung die Begrenzungsfunktion des Rückwirkungsverbots hinter das Vergeltungsbedürfnis gestellt; 105 die Autoren haben meistens versucht, mithilfe des Verbotsirrtums eine sanftere Lösung zu finden. 1 0 6 Trotz allem ist hier festzustellen, dass das strikte Rückwirkungsverbot dadurch zurückgedrängt wurde. H e u t e wird dennoch die Verfolgung von NS-Tätern durch eine Einschränkung dieses Rückwirkungsverbots überwiegend missbilligt. 107 Die Frage, wann auch die strafrechtliche Bewältigung der D D R - T a t e n aufgrund rückwirkender Gesetze u n d / o d e r rückwirkender Anwendung von Strafgesetzen f ü r überholt gehalten werden kann, bleibt hier dahingestellt. Was das Gewohnheitsrechtsverbot angeht, so könnte man heute noch der Diagnose Schünemanns Recht geben, nach der auch diesem Verbot im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 G G die stärkste Geltung z u k o m m t . 1 0 8

IV. Was bleibt heute vom Gesetzlichkeitsgrundsatz im Strafrecht übrig? Der bisherige Uberblick über die rechtliche und faktische Situation des Gesetzlichkeitsgrundsatzes ermöglicht uns, die Konsequenz zu ziehen, dass die Auswirkungen dieses Grundsatzes ihren Weg von dem strikten G e b o t zu einem flexibleren Prinzip gehen. 1 0 9 Man kann also wirklich nichts ungeschehen machen, was schon geschehen ist, aber vermeiden helfen, dass sich so etwas o p p o r t u n wiederholt. Vielleicht hätte man besser auf das Kind aufpassen sollen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Was bleibt von dem Gesetzlichkeitsgrundsatz im Strafrecht übrig? Das scheint eine notwendige Frage zu sein, wenn wir heute die Rechtslage unseres demokratischen Rechtsstaats reflektieren und damit die weitgehende D e r o gation der Instrumente vom Rechtsstaat beizeiten konterkarieren wollen. Im Lichte der Rechtsidee besehen, die hier in Rede steht, liegt die Frage nahe, 103 Statt vieler Jakobs NStZ 1994, 332 f; Lüderssen ZStW 104 (1992), 735 ff; Grünwald StV 1992, 333 ff; Bottke in: Lampe (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. II, 1993, 203 ff; Eser/ Arnold NJ 1993, 245 ff; Frisch (Fn. 26), 136 ff; Zielinski (Fn. 9), 814 ff. 104 Vgl. dazu Arthur Kaufmann N J W 1995, 81 ff; Dreier Mauerschützen, 1993; Saliger Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995; Roxin (Fn. 1), § 5 VII Rn. 54 mwN; Buchholz-Schuster Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, 1988; Seidel Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen"-Prozesse, 1999. 1°5 Vgl. Schünemann FS für Grünwald, 1999, 657 ff; Gropp NJ 50 (1996), 396 f. 106 Statt aller Roxin (Fn. 1), § 21 VI Rn. 67. 107 So auch Schulz (Fn. 13), 180; Krey (Fn. 21), 120. 108 Schünemann (Fn. 10), 8. 109 So auch festgestellt von Bahlmann Rechts- oder kriminalpolitische Argumente innerhalb der Strafgesetzesauslegung und -anwendung, 1999, 140 f.

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warum wir zuerst den Grund zu sehen und die Sache auf den Begriff zu bringen haben. Uberholt ist die Rechtsidee also nicht. Trotzdem hat die Rechtswirklichkeit sie seit langem aus dem Blick verloren. Wenn die Rechtsidee in Recht und Gesetz aus dem Blick gerät, ist eine Tendenz der Selbstverdinglichung des Rechts unausweichlich. Um das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, muss der rechtsphilosophische Sinngehalt der Rechtsidee erst wieder erarbeitet werden. Die Rechtsideen setzen „als Wertideen der Rechtsgestaltung ein Ziel und damit eine Aufgabe, die im Akt der Rechtsetzung und Rechtsanwendung erfüllt werden soll." 1 1 0 „Die Rechtsidee bezeichnet ... das Leitprinzip, an dem das positive und zu positivierende Recht auszurichten ist." 1 1 1 „Die Funktion der Rechtsidee" ist es, „als .Unruhe' die Verbesserung des positiven Rechts im Rahmen des Möglichen anzutreiben. Sie erwächst damit, über das kritische Wertungsprinzip hinaus, zum Gestaltungsprinzip für neues oder zu erneuerndes Recht." 1 1 2 Was hier nur kurzum gesagt worden ist, gilt genauso für das Strafrecht. Radbruchs Trias der Rechtsidee, nämlich Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit setzt sich von Generation zu Generation fort. 1 1 3 Eine Modifizierung dieser Trias in Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckrationalität wurde erst jüngst vorgeschlagen. 114 Hier spielt die Rationalität eine bedeutende Rolle, und zwar in der Weise, Gerechtigkeit in materiale Rationalität, Rechtssicherheit in formale Rationalität umzugestalten. 115 Es ist eine Binsenweisheit, dass den kriminalpolitischen Wertungen der Grundsatz von Rationalität und Humanität zugrunde liegt. 116 Die Rationalität hat einen Sinnzusammenhang mit den kriminalpolitischen und rechtsstaatlichen Sachgehalten und bedeutet damit die Eliminierung aller transzendentalen Forderungen aus dem Bereich der Kriminalpolitik und die Orientierung einer Kriminalpolitik an der pluralistischen Sozialethik. 117 In diesem Zusammenhang sind Rechtswerte wie Rationalität und Humanität sehr wohl der Kategorie der Rechtsidee hinzuzufügen. Radbruch erfasst jedoch unter Zweckmäßigkeit den „Zweck des Rechts"; die Zweckrationalität in einer Figur der Rechtsidee sei als „Folgenorientierung" zu 110

Henkel (Fn. 53), 389. Henkel (Fn. 53), 390. 112 Henkel (Fn. 53), 390. 1 1 3 Dies kann man vor allem bei Henkel und Arthur Kaufmann feststellen, des weiteren bei Dreier FS für Arthur Kaufmann, 1993, 57 ff; Simon N J 1998, 2 ff. 1 1 4 In Anlehnung an Brugger hat Seelmann anstelle der Zweckmäßigkeit die Zweckrationalität zur Diskussion gestellt, deren Ursprung auf Max Weber zurückzuführen sein sollte. D a z u vgl. Seelmann in: Silier/Keller (Hrsg.), Rechtsphilosophische Kontroversen der Gegenwart, 1999, 109 ff. 1 1 5 Die bekannte Unterscheidung Max Webers zwischen formaler Rationalität sowie von Zweckrationalität und Wertrationalität ist in dem Rationalitätsgedanken von Maihofer (Fn. 17), 130, transformiert worden. 1 1 6 Vgl. Jescheck/Weigend (Fn. 4), 27; Arthur Kaufmann Über Gerechtigkeit, 1993, 307 ff. 117 Zipf Kriminalpolitik, 2 1980, 54. 111

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übersetzen. 118 Ob nun die Zweckrationalität ganz und gar nicht auf den Bereich der „Zweckmäßigkeit des Rechts" zurückzuführen ist, ist eine Frage für sich, der hier nicht nachgegangen werden kann. Radbruch hält Gerechtigkeit für das Gebot der Gleichbehandlung des Gleichen. Ihm zufolge sei die Gerechtigkeit absolut, aber formal. 119 Radbruch verzichtet eigentlich auf die Erläuterung einer materialen Gerechtigkeit.120 Erst in der Lehre vom „übergesetzlichen Recht" in seiner Nachkriegsrechtsphilosophie unternimmt Radbruch den Versuch, materiale Inhalte der Gerechtigkeit, wie etwa Menschenrechte, als absolut zu postulieren. 121 Er fasst die Maßstäbe dafür unter die Zweckmäßigkeit. Radbruch stellt den letzten Zweck des Rechts als ethischen Wert des Guten dar.122 Henkel misst weiterhin der Zweckmäßigkeitsidee auch den Vertrauensschutz als einen Rechtszweck bei. 123 Rechtsicherheit ist das Durchsetzungsmittel des besten und gerechtesten Rechtszwecks, deswegen müsse der Staat sogar mit Zwangsmitteln diese vor der Beeinträchtigung bewahren und dann beizeiten wiederherstellen, wenn sie einmal verletzt werden würde. Allerdings geht es bei der Rechtssicherheit nicht nur um die Realisierungssicherheit im Sinne der Durchsetzbarkeit des Rechts, sondern auch um die Einheitlichkeit und Kontinuierlichkeit des Rechts.124 Wie wohl bekannt, lässt sich Radbruchs Dreiklang der Rechtsidee eigentlich in drei Aspekten voneinander unterscheiden: als Form (Gerechtigkeit), Inhalt (Zweckmäßigkeit) und Geltung (Rechtssicherheit).125 Später hat Radbruch die Rangordnung der Wertideen in seiner Lehre von der Rechtsidee umstrukturiert, indem er die Gerechtigkeit (im weitesten Sinne) als „die höhere Einheit der Rechtsidee"126 fungieren lässt, an die sich Gleichheit (Gerechtigkeit in engeren Sinne), Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit als differenzierte Artbegriffe anschließen.127 Bei der Gleichheit handelt es sich um die Form der Gerechtigkeit, bei der Zweckmäßigkeit um den Inhalt der Gerechtigkeit und bei der Rechtssicherheit um die Funktion der Gerechtigkeit. Hat Arthur Kaufmann dazu noch gesagt, dass diese Einteilung „keine Unterscheidung des Wesens der Gerechtigkeit, als vielmehr eine unterschiedliche Akzentsetzung" 128 bedeute, so sei ihm darin zuzustimmen. Die drei Perspektiven der Rechtsidee dürfen nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Und damit darf man auch ihren Anwendungsbereich auf verschiedene Rechtsstoffe nicht derart verteilen, um hier der Gerechtigkeit, dort der Zweckmäßigkeit oder der RechtsSeelmann (Fn. 114), 109. Radbruch Vorschule der Rechtsphilosophie, 5 1965, 143 f. i 2 0 So auch Seidel (Fn. 104), 79. Vgl. Arthur Kaufmann NJW 48 (1995), 85 ff. 122 Radbruch Rechtsphilosophie, 5 1956, 147. 123 Henkel (Fn. 53), 433. 124 Henkel (Fn. 53), 441 ff. >2S Radbruch (Fn. 122), 172. 12* Henkel (Fn. 53), 39. 127 Radbruch (Fn. 119), 32 f. 128 Arthur Kaufmann Grundprobleme der Rechtsphilosophie, 1994, 141. 118 1,9

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Sicherheit Dominanz zu geben. Hieraus ist für strafrechtliche Grundsätze im Rechtsstaat die Folgerung zu ziehen, dass die Rechtssicherheit wesensmäßig für und durch das Gesetzlichkeitsprinzip, die Gerechtigkeit überwiegend für und durch das Schuldprinzip sowie die Zweckmäßigkeit hauptsächlich für und durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip bestimmt sind. 129 Wenn auch unerwünscht, so kommen oft Kollisionsfälle der Rechtsideen untereinander vor, nämlich in der Antinomie zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit oder Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit. Welche dieser Rechtsideen sollte man, wie etwa im Spannungsfeld von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit als wichtigster Antinomie der Rechtsidee, 130 den Vorrang beimessen? Aus welcher materialen Maßgabe könnte man dies bestimmen? Selbst wenn sich in der Frage über Kontinuität und Diskontinuität zwischen der Vor- und der Nachkriegs-Rechtsphilosophie Radbruchs hinsichtlich der Rangordnung der drei Rechtswerte die Fronten heute verhärtet haben, so ist es heute für jedermann ersichtlich, dass sich in Radbruchs Nachdenken über die Funktionsbestimmung der Rechtsidee eine Änderung vollzogen hat. Während in Radbruchs Vorkriegs-Rechtsphilosophie die drei Elemente der Rechtsidee einander gleichwertig waren und auch ihre Funktion nur als formal konstitutives Prinzip für das positive Recht gegolten hat, gehen sie in seiner Nachkriegs-Rechtsphilosophie dahin: Innerhalb der drei Rechtswerte sei die Zweckmäßigkeit des Rechts an die letzte Stelle zu stellen, und der Akzent sei mehr auf materiale Gerechtigkeit als auf Rechtssicherheit zu setzen. Radbruch deutet den Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit als „Konflikt der Gerechtigkeit mit sich selbst", als „Konflikt zwischen scheinbarer und wirklicher Gerechtigkeit." 131 In diesem Zusammenhang kommt er zu dem Ergebnis, dass die Rechtsidee das material konstitutive Prinzip sei, „um geltendes Recht von nicht geltendem gesetzlichem Unrecht abzugrenzen." 1 3 2 Anhand „übergesetzlichen Rechts" sei eine Grenze zwischen „trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen" und dem „gesetzlichen Unrecht" zu ziehen. 133 Wenn man eine solche Modifizierung Radbruchs auch „naturrechtliche Bekehrung" 1 3 4 nennen mag, so darf man daraus nicht irrig folgern, dass es überpositives Recht gebe. Denn der Gerechtigkeitsinhalt übergesetzlichen Rechts bei Radbruch, worauf Arthur Kaufmann mit Recht hinweist, bedeutet nur noch Menschenrechte im Sinne des richtigen Rechts. 135 Zurückzukommen sei jetzt wiederum auf die oben gestellte Vorrangfrage. Diese Frage kann nicht einfach durch eine generelle Antwort erledigt werden. 129

Vgl. Radbruch FS für Laun, 1948, 163. So auch Saliger (Fn. 104), 8. 131 Radbruch Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 f. 132 Ausführlich dazu jetzt auch Seidel (Fn. 104), 166, 187 f. 133 Radbruch SJZ 1946, 106 f. 134 WeinkauffN]W 1970, 56. 135 Arthur Kaufmann NJW 1995, 86. 130

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Wie Radbruchs Wort von der „Stoffbestimmtheit der Rechtsidee"136 deutlich macht, muss man sich vorerst mit dem konkreten Rechtsstoff beschäftigen. Denn die abstrakte Rechtsidee, die in der Verfassung bzw. im Gesetz nur zum Teil auftaucht, enthält ihrerseits keine in Einzelheiten eindeutig bestimmten normativen Gehalte; sie bedarf der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz gehört zu diesen sachlichen Gegebenheiten; dabei müssen freilich fundamentale Elemente der Rechtsidee im Ganzen gewahrt bleiben. Diesbezüglich hat vor allem Krey festgestellt, dass die vier Einzelprinzipien des Gesetzlichkeitsgrundsatzes allesamt eben die Rechtssicherheit zur fundamentalen Grundlage der Rechtsstaatsidee haben. 137 Im Hinblick auf die Natur geschriebenen Rechts dient zunächst das Gewohnheitsrechtsverbot der Rechtssicherheit. Auch das Rückwirkungsverbot dient der Rechtssicherheit ohne weiteres, wenn auch zeitweise die Gefahr der Missachtung bestanden hat, zumal dadurch, dass die Durchbrechung dieses Verbots ihre Legitimation unter dem Blickwinkel des „natürlichen Verbrechens" und dem Rekurs auf das Naturrecht sucht, wie sich bei den jüngsten Mauerschützen-Prozessen gezeigt hat. Die naturrechtliche Argumentation anhand der sogenannten Radbruchschen Formel springt manchmal über die dogmatische Strenge und neigt allzu leicht zu politischer Abwägung. Sie mag zeitweilig so richtig sein, besonders auf der Ebene der sogenannten Makro-Kriminalität; man darf aber nicht vergessen, dass eine derartige, unter dem Deckmantel einer menschenfreundlichen Rechtsanwendung betriebene Naturrechtsjustiz nicht mehr mit der individuellen Freiheits- und Sicherheitsgarantie des Nulla-poena-Satzes vereinbar ist und langfristig für die Normalität des demokratischen Rechtsstaates mehr Schaden als Nutzen hervorbringt.138 Das Analogieverbot ist auch nicht weit entfernt von diesem Zusammenhang. Denn es dient durch die Bindung des Strafrichters an den gesetzten Normtext ausschließlich der Rechtssicherheit. Die Normsetzungsprärogative der ersten Gewalt, die den Richter nicht zum „König des Rechts", sondern zum „Diener der gültigen Gesetze" macht,139 stellt letzten Endes auf die Rechtssicherheit ab. Es war die eigentliche Auffassung Radbruchs-. „Der Richter ist nicht Diener der Gerechtigkeit, sondern Diener der Rechtssicherheit."140 Auch das Bestimmtheitsgebot dient der Rechtssicherheit, und zwar im Sinne einer objektiven Qualität des Rechts ebenso wie einer Orientierungsgewissheit für den Bürger. Das Gebot der Tatbestandsbestimmtheit verbindet sich mit der Orientierungssicherheit. Das politische Hauptziel der Aufklärungsepoche war 136 Radbruch FS für Frank, Bd. I, 1930, 158; Roxin GS für Radbruch, 1968, 260 ff; ders. (Fn. 1), § 7 V R n . 81. i " Krey (Fn. 21), 130 ff. 1 3 8 So auch Schulz (Fn. 13), 197; des weiteren scheint dieser Gesichtspunkt in der FS für Grünwald (1999) tonangebend, insbes. in den Beiträgen von Frisch (133 ff), Schünemann (657 ff) und Zielinski (811 ff). 1 3 9 So nachdrücklich Hirsch JR 1966, 339. 140 Radbruch (Fn. 122), 182; Henkel (Fn. 53), 450.

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die Überwindung der Unsicherheit und Schutzlosigkeit des Bürgers gegenüber der Macht des Staates. Die Idee der Rechtssicherheit wurde in den Vordergrund gerückt, bis die antipositivistische Bewegung im Recht, in der die sogenannten Freirechtsbewegungen eine führende Rolle spielten, mit dem Bekenntnis zur Gerechtigkeit zum „Kampf des Rechts gegen die Gesetze" aufrief. 141 Aber trotz der konsequenten Schlussfolgerung für die Rechtssicherheit mangelt es bei einer schabionisierten Argumentation an einem gewichtigen Gesichtspunkt: den Normalanforderungen eines von Siegerideologie losgelösten Rechtsstaates. 142 Nicht nur in der neueren Rechtsprechung des B G H zur Strafbarkeit der Mauerschützen, sondern auch in Bezug auf die Ahndung der NSTaten werden die Vernachlässigung und Durchbrechung der Einzelpostulate des Gesetzlichkeitsprinzips mit der Argumentation vom Vorrang der Gerechtigkeit vor der Rechtssicherheit oder von der menschenrechtsfreundlichen Auslegung begründet. 1 4 3 Hier lässt sich die Frage aufwerfen, ob nur durch die Gleichsetzung der materialen Gehalte der Gerechtigkeit mit den Menschenrechten die Garantie der individuellen Freiheit und Sicherheit ausgearbeitet werden kann. Denn selbst die menschenrechtlich geläuterte Naturrechtsjustiz könnte sich sehr wohl zur Siegerjustiz mit einer ideologischen Prägung der Hypermoralisierung des Rechts verwirken und dem Einzelnen den Schutz des Gesetzlichkeitsprinzips nehmen. 1 4 4 Ist es nun nicht nötig, einen Schritt weiter, zu einer tieferen Dimension dieses Grundsatzes zu gehen? Können wir ferner über die Menschenrechte hinaus die Bedeutung der Menschenwürde, die für uns zum „Kernbestand der Rechtsstaatsidee" gehört, 1 4 5 nicht als ein Heilmittel zur Herstellung der Normalität des demokratischen Rechtsstaats ansehen? Ist es nicht nötig, justice for some aufgrund der Menschenwürde statt justice for all aufgrund des Menschenrechts ins Auge zu fassen? U m der Bewahrung der Menschenwürde des Einzelnen willen sollte der generellen Radbruchschen These „Vorrang der Gerechtigkeit vor der Rechtssicherheit" die konkrete Antithese „Vorrang der Rechtssicherheit vor der Gerechtigkeit" gegenüberzustellen und vorzuziehen sein. Wenn wir die Neubestimmung der Funktion der Rechtsidee zu unternehmen versuchen, haben wir wenigstens hinsichtlich des eigentlichen Sinnes des Gesetzlichkeitsgrundsatzes zum Vorrang der Rechtssicherheit zurückzukehren. Denn der Mindestgehalt der Gerechtigkeit liegt nicht in dem Schutz der abstrakten Menschenrechte, sondern in dem Schutz der sozial Schwächeren als konkrete Menschen. 146 Der Gesetzlichkeitsgrundsatz als ein Rechtsstoff bestimmt die Rechtsidee ebenso in dieser Richtung. Denn der konkrete Täter, sei er NS-Verbrecher oder Machthaber des Systemunrechts, ist im Prozess der Strafverfolgung nichts anderes als der politisch Schwächere. 141 142 143 144 145 146

Henkel (Fn. 53), 448. Dazu vgl. Haney FS für Klenner, 1996, 332 ff. H i e r z u vgl. Arnold (Fn. 26), 31 ff. Vgl. Herdegen A R S P - B e i h e f t 65 (1996), 22. Herdegen (Fn. 144), 118. Vgl. Lecheler Unrecht in Gesetzesform?, 1994, 28.

Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Lichte der Rechtsidee

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Im Hinblick auf die individualschützende Seite des Gesetzlichkeitsprinzips ist der Vorrang der Rechtssicherheit vor der Gerechtigkeit nicht nur rechtlich, sondern auch politisch korrekt. Die Radbrucbsche Formel ist also allein dann akzeptabel, wenn sie sich nur als negatives Prinzip zugunsten des Täters auswirkt. Wenn sie sich als positives Prinzip zulasten des Täters auswirken will, muss sie eine noch größere Argumentationslast als die These vom Vorrang der Rechtssicherheit tragen. Im Lichte der Rechtsidee geht der Nullum-crimenGrundsatz seit seiner Genese bis jetzt in diese Richtung. Der Ausnahmefall taucht freilich nicht selten auf. Aber im Ausnahmefall wird nicht der Stellenwert der Gerechtigkeit anstelle der Rechtssicherheit in den Vordergrund gestellt, sondern dient durch die Akzentverschiebung, besser formuliert durch die Konkretisierung einer Rechtsidee im konkreten Rechtsstoff gerade der Verwirklichung der Rechtssicherheit. Wenn die Rechtssicherheit im Rahmen der Auswirkung des Gesetzlichkeitsprinzips an dem Zentrum festhält, dann vermag auch die Begrenzungsfunktion des Gesetzlichkeitsgrundsatzes im vollen Sinne erfüllt zu werden. Durch das Festhalten an diesem Grundsatz können Vorwürfe wie etwa Ad-hoc-Justiz, „Rechtsimperialismus"147 oder Menschenrechtsimperialismus in einer Zeit des Umbruchs beiseite gelegt werden. Erst dann könnte die positive Generalprävention im Lot sein. Man darf einstweilen nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei jedem System immer um Macht und Politik handelt. Strafrechtssystem und Strafjustizsystem sind davon nicht auszunehmen. Um den Missbrauch der Macht unter Kontrolle zu bringen, ist die Gesetzlichkeit bzw. Gesetzmäßigkeit der Machtausübung strikt zu beachten. Der Rechtsstaat muss also zunächst ein Sicherheitsstaat werden in dem Sinne, dass jede Machtausübung an das Gesetz gebunden und durch das Gesetz limitiert wird. Daraufhin muss der Rechtsstaat in dieser gesetzlichen Grenze die materiale Gerechtigkeit verwirklichen. Die materiale Gerechtigkeit, über die ich hier in Anlehnung an Welzel nachdenke, bedeutet die Wahrung der Menschenwürde.148 Die Menschenwürde in diesem Sinne bedeutet keinesfalls ein Begründungsmittel für die Freiheitsbeschränkung des Einzelnen, sondern allein das Begrenzungsmittel der Staatsgewalt zugunsten der individuellen Freiheits- und Sicherheitsgewährung.149 Die Gerechtigkeit in diesem Sinne darf also nicht allein als ein Mittel der Verfolgung und Ahndung von vergangenen Übeltaten, sondern muss als das Mittel der Rechtsverwirklichung für die Zukunft in dem entsprechend begrenzten Maße fungieren. „Keine Gerechtigkeit jenseits des Gesetzes", keine bessere Gerechtigkeit außerhalb der strikten Postulate des Gesetzlichkeitsgrundsatzes. 1 5 0 147 Frisch (Fn. 26), 140; zu einer Tendenz, Gerechtigkeit insgesamt auf Aspekte der Rechtssicherheit zu reduzieren vgl. Seelmann Rechtsphilosophie, 1994, 132. 148 Welzel Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4 1962, 196 ff; ders. Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, 241 ff. 149 Maihofer (Fn. 17), 127. 1 5 0 So auch Zielinski (Fn. 9), 833.

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Il-Su Kim V. Schlussbemerkung

Die ein bisschen provokativ tönende These, die vom Vorrang der Rechtssicherheit vor der Gerechtigkeit, vom Vorrang des Gesetzes vor der Macht und vom Vorrang des Gesetzgebers vor dem Richter ausgeht, hat unausweichlich eine Achillesferse. Kann es denn in Zeiten einer Unüberschaubarkeit so ein Gesetz geben, das einen gordischen Knoten auf einmal zu zerhauen vermag? Woher kommt dann so ein Gesetz? Das ist eine gewichtige Frage, auf die ich zum Schluss nur kurz hinweisen möchte. Wie vielfach bemerkt worden ist, ist die Rechtsordnung der Gegenwart noch komplizierter geworden. Politische Parteien sowie Interessengruppen üben oft Einfluss auf Rechtsetzung und Rechtsanwendung aus. Im Namen des Volkes stellen sie ihr eigenes Wohl über das Gemeinwohl. Noch unübersichtlicher geworden ist die Lage angesichts der Differenz zwischen der früheren und der heutigen Auffassung von Gerechtigkeit. Es ist heutzutage kaum dementierbar: Die Spannungen zwischen Norm und Rechtswirklichkeit werden immer häufiger; Mängel an Klarheit, Beständigkeit und Berechenbarkeit des Rechts tauchen ebenso oft auf. Um dieser Lage Herr zu werden, sind die Aufgaben unter verschiedenen Organen vernünftig zu verteilen. Dies gilt zunächst für die Gesetzgeber. Die Gesetzgeber müssen sich darum bemühen, ein gutes, richtiges, klares Recht von vornherein in Kraft zu setzen. Zu diesem Zweck ist die Tür der Gesetzgebung offen zu lassen, besonders für die Teilnahme von Bürgern und Experten. In der partizipativen Demokratie wird die Rolle der Bürgerinitiativen im Gesetzgebungsprozess mehr und mehr geschätzt insoweit, als sie den Wählern die politische List wahrzunehmen helfen, dass bereits der Erlass eines neuen Gesetzes ein Problem löse. In der Rechtsauffassung der Gegenwart erscheint der Begriff des absoluten Naturrechts bzw. überpositiven Rechts nicht mehr anpassungsfähig. Das richtige Gesetz wäre dasjenige, das einen Mindestgehalt an materialer Gerechtigkeit hat, die wiederum auf die Verfassungsordnung zurückzuführen ist, in der die Garantie der Würde jedes Menschen in den Vordergrund gestellt ist. 151 Die Positivität ist unabdingbares Element des Rechts. Nicht gesetztes Recht gilt nicht. Jedes gesetzte Recht gilt so lange, wie die Vermutung seiner Verfassungsmäßigkeit noch wirkt, aber die Richtigkeit und Gerechtigkeit seines Inhalts sind immer nachprüfbar zu machen. Bis zu diesem Punkt und unter der Voraussetzung einer bloßen Handhabung zugunsten des Täters könnte vielleicht Radbruchs Unterscheidung zwischen gesetzlichem Unrecht und übergesetzlichem Recht oder Alexys Modifizierung zwischen extremem und evidentem Unrecht berücksichtigt werden. 152 Des weiteren gilt es für Rechtsanwender. Sie müssen an das Gesetz gebunden werden. „Die institutionelle Freiheitssicherung" 153 durch die Aufteilung 15! Lecheler (Fn. 146), 20 ff. in Alexy Mauerschützen, 1993, 22 ff. ™Krey JZ 1978, 466.

Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Lichte der Rechtsidee

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der Staatsgewalt kann nur dann funktionsfähig sein, wenn Legislative und Judikative voneinander abgegrenzt und gegeneinander ausbalanciert worden sind. Wenn dem Richter eine analoge Gesetzesanwendung gestattet wird, dann verliert diese institutionelle Sicherung der individuellen Freiheit jeden Sinn. Es muss strikt verboten bleiben: die täterbelastende Rechtsfindung praeter legem ebenso wie die Rechtsfindung contra legem. Denn es geht hier um die Garantie der individuellen Freiheit und Sicherheit. Was die Rechtstheoretiker, insbesondere die Strafrechtstheoretiker angeht, so ist eine spezifische Methodenlehre für die Strafrechtsgewinnung zu erarbeiten. Wenn auch die Gebiete des Strafrechts und des Zivilrechts in der Gegenwart aufeinander bezogen sind, so gibt es heute noch einen unüberwindlichen Zaun. Wenn dem so ist, muss immer nachgeprüft werden, wie die Analogie je nach dem Rechtsbereich ausdifferenziert angewendet werden soll. Um die Instrumentalisierung des Strafrechts als ein bloßes Unterdrückungsmittel in die Dimension der Formalisierung und Normalisierung des Strafrechts als Recht zu bringen, müsste auch in der Strafrechtswissenschaft mehr Gewicht auf die „Strafbegrenzungswissenschaft" 154 als auf die Strafbegründungswissenschaft gelegt werden. 155 Erst dann könnte die ultima ratio oder der fragmentarische Charakter des Strafrechts wahrhaftig in Rede stehen. Sonst wäre ein Wort wie Rechtsstaat bzw. rechtsstaatliches Strafrecht nicht mehr als Schönrednerei.

154 155

Vormbaum ZStW 107 (1995), 746 mit Verweis auf Naucke. Roxin JuS 1969, 377ff; ders. ZStW 81 (1969), 613 ff; Il-Su Kim (Fn. 6), 351 ff.

Kann und soll der Allgemeine Teil bzw. das Verfassungsrecht mißglückte Regelungen des Besonderen Teils retten? - Die „Geldwäsche" durch den Strafverteidiger-

ROLAND H E F E N D E H L

I. Vorbemerkung Der Allgemeine wie der Besondere Teil des Strafrechts bleiben je für sich blutleer. Das zeigt sich ganz praktisch an einer Vorlesung zum Strafrecht Allgemeiner Teil. Wie soll man den subjektiven Tatbestand, wie die Rechtswidrigkeit, wie Täterschaft und Teilnahme erklären, wenn nicht am Beispiel von ganz konkreten Sachverhalten, die unter ebenso konkrete Straftatbestände zu subsumieren sind? Hier dient der Besondere Teil als Vehikel, um die Lehren des Allgemeinen Teils vermitteln zu können. Daß dieses Vehikel durchaus austauschbar sein kann, zeigt Roxin plastisch, wenn er den Allgemeinen Teil an Fällen nicht aus dem regelmäßig herangezogenen Bereich der Tötungsdelikte, sondern aus demjenigen des Betruges zu erklären pflegt. Umgekehrt gibt es Konstellationen, in denen der Besondere Teil im Vordergrund steht, aber auch hier immer z. B. Fragen des subjektiven Tatbestandes mit zu erörtern sind. Schließlich existieren Problemfelder, in denen Strukturen des Besonderen Teils auf Fragen des Allgemeinen Teils einwirken - man denke etwa an Täterschaft und Teilnahme bei Pflichtdelikten - , oder solche, in denen der Besondere Teil fast auf die Hilfe des Allgemeinen Teils angewiesen zu sein scheint. Dies ist beispielsweise beim ärztlichen Heileingriff der Fall, unabhängig davon, ob man hier eine Tatbestandslösung oder eine solche auf der Ebene der Rechtswidrigkeit bevorzugt. Die Strafverteidigung liefert für dieses Problemfeld weiteres reiches Anschauungsmaterial, so bei der Frage, inwieweit sich ein Strafverteidiger einer Strafvereitelung strafbar machen kann. Roxin ist auch dieser Frage im Rahmen seiner Kommentierung der sogenannten Beihilfe durch neutrales Verhalten1 im 1 Die erste präzise Analyse der vielfach vom Ergebnis her konstruierten Lösungsvorschläge stammt von Niedermair ZStW 107 (1995), 507 ff. S. auch die umfassenden Nachweise bei Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, '1999, 28. Problem: „Ist die Unterstützung des Haupttäters durch neutrales Alltagsverhalten als Beihilfe strafbar?", 224 ff; ferner jüngst Wohlers NStZ 2000, 169 ff sowie den Überblick bei Ambos JA 2000, 721 ff.

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Roland Hefendehl

Leipziger Kommentar in unverwechselbarer Art und Weise nachgegangen. 2 Wie so oft schon hat sich der B G H in seiner jüngsten Grundsatzentscheidung hierzu maßgeblich von dem differenzierenden Vorschlag Roxins inspirieren lassen. 3 Seit nicht allzu langer Zeit stehen die Strafverteidiger ein weiteres Mal im Blickpunkt kriminalpolitischen Interesses: Nachdem Rolle und Möglichkeiten der Strafverteidigung im Hinblick auf § 258 S t G B weitgehend geklärt zu sein scheinen, 4 stellt sich nunmehr die Frage, ob der schon oftmals kritisierte Straftatbestand der Geldwäsche (§ 261 S t G B ) auch dann eingreift, wenn der Mandant seinen Wahlverteidiger mit „schmutzigem" Geld entlohnt. Die Heftigkeit der Debatte ist ein zuverlässiger Indikator für die kriminalpolitische Brisanz des Themas: Hier geht es nicht um ein dogmatisches Luxusproblem, sondern um ein solches, das unmittelbare praktische Auswirkung auf die Arbeit der Strafverteidiger haben kann. Die größeren Gefahren scheinen dabei von Ermittlungsaktivitäten der Staatsanwaltschaft auszugehen, die an den Verdacht einer Geldwäsche des Strafverteidigers anknüpfen. Berichte über Staatsanwälte, die das Damoklesschwert des § 261 S t G B funktional einsetzen, machen deutlich, wie sehr das Verhältnis von Mandant, Verteidiger, Staatsanwaltschaft und Gericht durch den Straftatbestand der Geldwäsche durcheinandergewirbelt werden könnte. Der Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 6. Januar 2000 5 hat trotz einer nach seiner Begründung sogar verfassungsrechtlich gebotenen tatbestandlichen Reduktion des § 261 Abs. 2 Nr. 1 S t G B keinen Schlußstrich unter die bisherigen Diskussionen setzen können. Hier ging es um die Frage, ob sich ein Strafverteidiger durch die Übernahme eines Mandats für eine Drogenkurierin und die Entgegennahme eines aus einer Betäubungsmittelstraftat herrührenden Vorschusses einer Geldwäsche schuldig macht. Es wird zu prüfen sein, ob die anhaltende heftige Diskussion mit der erst langsam zurückgehenden Skepsis an einer verfassungsrechtlichen Kontrolle des Strafrechts zusammenhängt, die einigermaßen kurios erscheint. Warum soll das Verfassungsrecht das Familien-, das Steuer- und sogar das Zivilrecht teilweise sehr präzise lenken können, nicht aber das Strafrecht als den intensivsten Eingriff in die Freiheitsrechte der Person? Im folgenden soll zweigestuft vorgegangen werden: Zunächst ist die Frage zu klären, ob in der Entgegennahme von Honorar aus den genannten Quellen strafwürdiges Unrecht liegt, sodann diejenige, wie die dabei erzielte Lösung mit dem Tatbestand der Geldwäsche in Einklang zu bringen ist.

LK-Roxin StGB, "1993, § 27 Rn. 16 ff. BGH wistra 2000, 340, 342 m. Anm. Jäger wistra 2000, 344; s. auch BGH EWiR § 370 1/ 2000, 895 (Jahn). 4 Vgl. etwa Beulke Strafprozeßrecht, 4 2000, Rn. 174 ff; Roxin Strafverfahrensrecht, 251 998, §19 Rn. 59 f. 5 NJW 2000, 673. 2

3

Die Geldwäsche im Spannungsfeld v o n Auslegung und Verfassung

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II. Entgegennahme von Honorar als strafwürdiges Unrecht? 1. Kriterien einer Konkretisierung a) Das Hanseatische Oberlandesgericht hat die bisherigen Lösungsmodelle präzise geordnet und dargestellt. 6 So verweist eine nicht unerhebliche Gruppe auf eine bereits im objektiven Tatbestand zu suchende Lösung, indem sie ein ungeschriebenes Merkmal der „üblichen Geschäftstätigkeit" einführt oder auf die Straflosigkeit sozialadäquaten Verhaltens verweist. 7 Hier decken sich die Lösungsvorschläge mit denen für die sogenannte Beihilfe durch neutrales Verhalten weitgehend, was vor dem Hintergrund des heute als maßgeblich erkannten Strafgrundes der Teilnahme, der allein aus dem Unrecht der Haupttat folgt, 8 nicht weiter verwundert. Auch ist § 261 Abs. 2 StGB strukturell ähnlich einer Beihilfe ausgestaltet: Der den Gegenstand Übernehmende verschafft dem Vortäter die Möglichkeit und damit eine beihilfetypische Hilfestellung, seine Verbrechensgewinne in den Wirtschaftskreislauf einzuschleusen. Gerade dies soll nach den Gesetzesmaterialien durch die Schaffung des § 261 Abs. 2 StGB auch verhindert werden. 9 b) Die hieran vom Hanseatischen Oberlandesgericht geübte Kritik, die Begriffe der „üblichen Geschäftstätigkeit" wie des sozialadäquaten Verhaltens seien (zu) unscharf, 10 berücksichtigt nicht die zahlreichen in letzter Zeit hierzu gemachten Präzisierungen: (Auch) Bei der sogenannten Beihilfe durch neutrales Verhalten geht es letztlich um die Abgrenzung und Abwägung von Handlungssphären, 11 nämlich des Freiheitsraums des potentiellen Gehilfen von demjenigen des geschützten Rechtsgutsträgers. In einem rechtsgüterschützenden Strafrecht ist diese Abgrenzung allein nach ihrem spezifischen Risikogehalt für das in Frage stehende Rechtsgut vorzunehmen, wobei das Gewicht der in Frage stehenden Straftat ebenso ein Parameter sein muß wie die Intensität der Beschränkung der Handlungsfreiheit des potentiellen Teilnehmers. Je höher der Unwert der drohenden Straftat ist, desto erheblicher darf die Einschränkung Siehe zu diesen noch einmal im einzelnen Hetzer wistra 2000, 281 ff. Siehe die Nachweise bei HansOLG Hamburg N J W 2000, 673, 674 ff. Daneben finden sich gewichtige Stimmen, die über den subjektiven Tatbestand differenzieren wollen: vgl. Amelung FS für Grünwald, 1999, 9, 22 ff; Forthauser Geldwäscherei de lege lata et ferenda, 1992, 78 ff. 8 Roxin FS für Stree/Wessels, 1993, 365 ff. 9 BTDrucks 12/989, 27, 12/3533, 11. 1 0 Interessanterweise möchte das HansOLG Hamburg die Reduktion des Tatbestandes nur für die Annahme von bemakelten Gegenständen in Höhe eines „angemessenen" Honorars erlauben. Eher diese Differenzierung schafft begriffliche Unklarheit und kann zu einem unkontrollierbaren Einfallstor für staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren werden; vgl. Anm. Reichert NStZ 2000, 316, 317. 6

7

1 1 So auch Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, 311, 313; vgl. bereits Hefendehl Jura 1992, 374, 376 f; zuletzt wieder Wohlers ZStR 1 1 7 (1999), 425, 436 ff; ders. (Fn. 1), 173 f; s. auch Otto FS für Lenckner, 1998, 193, 222 ff; dens. Z K r e d W 1994, 775, 780; Ransiek wistra 1997, 41, 42 ff.

148

Roland Hefendehl

des Tätigkeitsspielraums sein; 12 und umgekehrt: Je geringer der Unwert der in Frage stehenden Haupttat ist, desto größer muß der eigenständige Unwert der als strafbare Beihilfe zu wertenden Vorhandlung sein. Ein Handeln, dem für sich allein noch keinerlei rechtsgutsgefährdende Tendenz innewohnt und welches also erst wegen der Absicht des Haupttäters, die an sich unverfänglichen Vorhandlungen zu deliktischem Tun zu mißbrauchen, die Sphäre der grundgesetzlich geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit verlassen würde, überschreitet die Schwelle zur Sozialschädlichkeit erst bei Kollusion mit dem Täter oder wenn der Unterstützende im Hinblick auf das zu schützende Rechtsgut besondere Sorgfaltspflichten verletzt 13 oder wenn es schließlich um den Schutz überragender Rechtsgüter geht, in deren Interesse der Täter von jedem normalen sozialen Kontakt abgeschnitten und somit jeglicher Handlungsfreiheit beraubt sein soll. Bezüglich des hier einschlägigen letzten Punktes bietet sich ein Rückgriff auf die „gesetzlichen Vor-Wertungen" 14 der §§ 138, 323 c StGB an. So werden durch die Statuierung einer Anzeigepflicht bei bestimmten besonders wichtigen Straftaten wie durch die Hilfspflicht bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr Handlungsspielräume beschnitten. 15 c) Der BGH hat in der oben erwähnten Grundsatzentscheidung wie folgt argumentiert: 16 Ziele das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf ab, eine strafbare Handlung zu begehen, und wisse dies der Hilfeleistende, so sei sein Tatbeitrag als Beihilfehandlung zu werten. Wisse der Hilfeleistende dagegen nicht, wie der von ihm geleistete Beitrag vom Haupttäter verwendet werde, halte er es lediglich für möglich, daß sein Tun zur Begehung einer Straftat genutzt werde, so sei sein Handeln regelmäßig noch nicht als strafbare Beihilfehandlung zu beurteilen, es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten sei derart hoch, daß er sich mit seiner Hilfeleistung „die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein" lasse. Während sich der hier propagierte (Teil-)Aspekt der Kollusion in diesem Ansatz durchaus wiederfinden läßt, verharrt er im übrigen im subjektiven Bereich, der nicht deutlich genug zum Ausdruck bringt, daß es tatsächlich um die 12 Vgl. auch Frisch (Fn. 11), 313 mit dem Hinweis auf allgemeine rechtliche Erwägungen über die Abgrenzung der Güter- und Interessensphären in Konfliktfällen. 13 Beispiel: Abgabe von Arzneimitteln ohne die vorgeschriebene Rezeptierung. 14 So der Terminus von Frisch (Fn. 11), 313. 1 5 Vgl. auch Frisch (Fn. 11), 313 f. § 138 StGB liegt als Vergleichsmaßstab auch deswegen nahe, da bei ihm richtigerweise der Gedanke im Vordergrund steht, die durch die genannten Straftaten angegriffenen Rechtsgüter zu schützen ( S K - S t G T S - R u d o l p h i (Sept. 1998), § 138 Rn. 2). Auch bei der Frage des strafprozessualen Verfolgungszwangs gilt es zu untersuchen, wie der Freiheitsraum der Privatsphäre des Staatsanwalts oder der Polizisten im Hinblick auf das Legalitätsprinzip einzuschränken ist. Eine Pflicht zum Einschreiten wird dabei zumeist bei schweren Straftaten bejaht, die nach Art und Umfang die Belange der Öffentlichkeit in besonderem Maße berühren (BGHSt 5, 225, 229; 12, 277, 280 f). BGH wistra 2000, 340, 342; so bereits BGH NStZ 2000, 34.

D i e Geldwäsche im Spannungsfeld von A u s l e g u n g und Verfassung

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Grenzen rechtlich erlaubten Verhaltens zwischen zwei verschiedenen Freiheitssphären gehen muß. 17 d) Natürlich ist dem hier vertretenen letztlich pragmatischen Lösungsvorschlag vorzuhalten, daß die Zusammenstellung der Katalogtaten der gesetzlichen Vor-Wertungen ihrerseits erheblicher Kritik ausgesetzt ist. 18 Allerdings ist es bislang noch niemandem gelungen, eine zufriedenstellende Hierarchie der Rechtsgüter aufzustellen, 19 bei der in der vorliegenden Konstellation zudem die Notwendigkeit bestünde, die Grenze festzulegen, jenseits derer des Schutzes überragender Rechtsgüter willen der Täter von jedem sozialen Kontakt abgeschnitten und damit jeglicher Handlungsfreiheit beraubt sein soll. Gerade bei Roxin wird man auf Nachsicht im Hinblick auf eine fehlende absolute Trennschärfe hoffen können. Denn er hat in all seinen wegweisenden Abhandlungen, die Dogmatik und Kriminalpolitik zusammenführen, 20 stets zu erkennen gegeben, nie ein problemlos handhabbares System mit problematischen Lösungen kreieren zu wollen. Kriterien wie eben der deliktische Sinnbezug 21 oder die Planverwirklichung22 mögen hierfür als Beispiel dienen. 23 2. Anwendung

des Abgrenzungsmodells

auf die

Geldwäsche

a) Doch was bedeutet das Abgrenzungsmodell nun für das hier im Mittelpunkt stehende Problemfeld einer möglichen Geldwäsche durch den Strafverteidiger? Diese Frage hängt untrennbar mit derjenigen nach dem geschützten Rechtsgut bzw. den geschützten Rechtsgütern zusammen. Dabei erscheint es möglich, sich auf den (besonders umstrittenen) § 261 Abs. 2 StGB zu beschränken, weil die in § 261 Abs. 1 StGB umschriebenen Tathandlungen (Verbergen, Verschleiern der Herkunft, Vereitelung oder Gefährdung) eine andere Qualität als die bloße Entgegennahme des Verteidigerhonorars haben, stammt dieses auch aus einer der in § 261 Abs. 1 S. 2 StGB genannten Vortat. Denn das Ver17 So auch Wohlers (Fn. 1), 170 mit weiterer dezidierter Kritik an der subjektiven Lösung (so auch ders. ZStR (Fn. 11), 428); auch Amelung (Fn. 7), 21 ff, dessen Lösung ebenfalls auf die Einschränkung des subjektiven Tatbestandes abzielt, macht im Ergebnis nichts anderes. 18 Niedermair (Fn. 1), 515 ff. 19 Siehe Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2001, § 6 II 2. 20 Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2 1973; zusammenfassend ders. Strafrecht AT I, 3 1997, § 7 Rn. 69 ff. 2 1 L K - R o x i n (Fn. 2), § 27 Rn. 17. 22 Roxin AT I (Fn. 20), § 12 Rn. 144 f, 154 f, 165 f. 2 3 Das im Begriff der „problematischen Lösung" seinerseits liegende Vorverständnis sei dabei an dieser Stelle einmal ausgeklammert. Der zweite Kritikpunkt des Hanseatischen Oberlandesgerichts läßt sich gleichfalls mit dem Modell der Abgrenzung von Freiheitssphären zufriedenstellend in den Griff bekommen: Danach soll sich der Unrechtsgehalt einer Handlung nicht allein durch den objektiven Vorgang beschreiben lassen, sondern seinen sozialen Sinngehalt erst durch die begleitende Vorstellung des Handelnden erhalten. Das Abgrenzungsmodell sieht es aber gerade als irrelevant an, welches Wissen der Agierende hat, sofern es um Rechtsgüter unterhalb der Erheblichkeitsschwelle geht; er ist - um einen Terminus von Jakobs zu verwenden — in keinem Fall zuständig.

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bergen oder Verschleiern bedeutet eine kollusive Vorgehensweise, die mit Sicherheit den Bereich legitimer Handlungsfreiheiten verlassen h a t . 2 4 Anders liegt es aber bei der bloßen A n n a h m e eines Verteidigerhonorars, w o z u der Verteidiger sogar verpflichtet ist. 2 5 aa) H e r k ö m m l i c h wird für § 261 Abs. 2 S t G B ein multiples Rechtsgut genannt: Geschützt werde einmal die „Aufgabe der inländischen staatlichen Rechtspflege, die W i r k u n g e n von Straftaten zu beseitigen" 2 6 . D a n a c h würde § 261 S t G B insbesondere den Schutz der Konfiskation (Einziehung, Verfall, Sicherstellung) illegaler Vermögensgegenstände bezwecken. Als weiteres kollektives Rechtsgut wird teilweise das Vertrauen in die Solidität und Sauberkeit des legalen F i n a n z - und Wirtschaftssystems oder die innere Sicherheit des Staates angeführt. 2 7 D a n e b e n trete - wie bei der Begünstigung - der Schutz der durch die Vortat verletzten Interessen. 2 8 Schließlich wird der Z w e c k der V o r schrift allein darin gesehen, den Ermittlungsbehörden so viele Ermittlungsansätze wie nur möglich zur Verfügung zu stellen. 2 9 D u r c h Schaffung des erforderlichen Tatverdachts solle § 261 S t G B den materiellen Ansatzpunkt bilden, an dem die prozessualen H e b e l etwa der Durchsuchung oder der Telefonüberwachung ansetzen können, die wiederum die I n f o r m a t i o n e n über die H i n t e r männer und die Zentren der Organisation geben sollen. 3 0 bb) E s stellt nun keine Besonderheit dar, daß ein Straftatbestand dem Schutz verschiedener Rechtsgüter dient. 3 1 Bei einer Anhäufung verschiedener Rechtsgüter ist allerdings stets sorgfältig zu prüfen, o b sich nicht hier so bezeichnete Scheinrechtsgüter unter ihnen befinden, die jedenfalls nicht für die A b g r e n z u n g der oben beschriebenen Freiheitssphären herangezogen werden können. b) aa) Ein K r i t i k p u n k t 3 2 steht bei der propagierten H i n z u n a h m e des Rechtsguts der Vortat bei § 261 Abs. 2 S t G B außer Streit: In keinem Fall kann ein derartiges kumulatives (Individual-)Rechtsgut geschützt sein, sofern die V o r t a t ein Nichtvermögensgut verletzt. H i e r vermag das Waschen von G e w i n nen, etwa denjenigen für einen Auftragsmord, den spezifischen Schaden der Siehe die eine der oben genannten drei Ausnahmekonstellationen. Vgl. Bernsmann StV 2000, 40, 41. 2 6 BTDrucks 12/989, 27. 27 Lampe J Z 1994, 123, 125; Schittenhelm FS für Lenckner, 1998, 519, 528; Vogel ZStW 109 (1997), 350 ff. 28 Lackner/Kühl StGB, 23 1999, § 261 Rn. 1 mwN. 29 Bernsmann (Fn. 25), 42; Leip Der Straftatbestand der Geldwäsche, 1995, 51 ff; vgl. auch Tröndle/Fischer StGB, 5O2001 § 261 Rn. 2 a: Der Ursprung der Vorschrift sei eher prozessualer Natur. 24

25

30

Vgl. Barton StV 1993, 156, 159 f.

Vgl. beispielsweise die Begünstigung (§ 257 StGB) oder die Falsche Verdächtigung (§ 164 StGB). 32 Siehe auch Otto Grundkurs Strafrecht BT, 5 1998, § 96 Rn. 28. Letztere Argumentation scheint dabei allerdings von vornherein die Bedeutung einer Rechtsgutskonstruktion zu überschätzen, der keine unmittelbare kriminalpolitische Bedeutung zukommen kann. 31

D i e Geldwäsche im Spannungsfeld von Auslegung und Verfassung

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Tötungsdelikte nicht zu vertiefen. Sofern hingegen Vermögensgüter betroffen sind, soll § 261 S t G B Strafbarkeitslücken schließen, die bei der Anwendung der §§ 257ff S t G B auf Geldwäschevorgänge entstehen. 33 So sind die Ersatzhehlerei und in der Regel auch die Ersatzbegünstigung nicht strafbar, ferner setzen die §§ 257 ff S t G B jeweils einen qualifizierten subjektiven Tatbestand voraus. Auch hierin ist aber nicht in jedem Falle ein zusätzlicher Schutz etwa des Rechtsgutes „Eigentum" zu sehen: Der Geldwäschetatbestand erfaßt auch Gegenstände, an denen etwa gutgläubig Eigentum erworben wurde, 3 4 und macht sie zu tauglichen Tatobjekten. Würde es um den Schutz des Eigentums gehen, so wären die zivilrechtlichen Vorgaben gerade zu respektieren. 3 5 Hieraus folgt, daß der absichernde Schutz der durch die Vortat geschützten Rechtsgüter den Geldwäschetatbestand nicht zu tragen vermag. bb) Das Vertrauen in die Solidität und Sauberkeit des legalen Finanz- und Wirtschaftssystems ist nicht schon deshalb rechtsgutsuntauglich, weil es das Vertrauen beinhaltet. Wenn Vertrauen ein rechtsgutskonstitutiver Bestandteil sein soll, 3 6 dann muß der Vertrauensgegenstand aber Verhaltensoptionen (hier) für die Allgemeinheit schaffen, wie dies bei der Sicherheit des Geldes, nicht aber bei der Solidität und Sauberkeit des Finanz- und Wirtschaftssystems der Fall ist. Zudem bliebe unklar, warum die N u t z u n g illegalen Vermögens im legalen Finanzsystem das Vertrauen in dieses erschüttern sollte. 3 7 cc) Wie sieht es nun aber mit der Aufgabe der Rechtspflege, die Wirkungen von Straftaten zu beseitigen, als angeblichem Rechtsgut aus? Die Begründung greift zu kurz: Der entscheidende Grund für die Schaffung des Geldwäschetatbestandes ist nicht in der Sicherung des aufgrund bestimmter Vortaten bestehenden staatlichen Verfallsanspruchs zu suchen. Denn dieses Ziel erreicht man bereits mit Hilfe der §§ 73 ff StGB. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Abschöpfung der Gewinne aus organisiert begangenen Straftaten, sondern darin, die Gewinne erst einmal ausfindig zu machen. Auch der Hehler behindert den Verfall, wodurch die Hehlerei richtigerweise aber nicht ihren Charakter als Vermögensdelikt verliert. D a s Unrecht der Geldwäsche und damit das geschützte Rechtsgut zeigt sich erst im Zusammenhang mit der besonderen Bewertung der Vortaten bzw. der Vortäter. 3 8 N a c h der Idee des Gesetzgebers müssen die Strafverfolgungsbehörden in den Kernbereich der kriminellen O r ganisationen eindringen, um so deren kriminelle Aktivitäten präventiv wesentlich stören zu können. 3 9 Die in § 261 StGB umschriebenen Tathandlungen beziehen ihren Unrechtsgehalt also erst aus der vermuteten und in Zukunft eintretenden Wirkung der Tat. 4 0 Vgl. Rengier Strafrecht B T I, 4 2000, § 23 Rn. 3. Siehe aber die Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 261 Abs. 2 StGB in Absatz 6. 35 Barton (Fn. 30), 160 Fn. 55. 3 6 Nicht das rechtsgutsirrelevante Vertrauen in die Geltung der Rechtsordnung. 37 Vogel (Fn. 27), 351. 38 Knorz Der Unrechtsgehalt des § 261 StGB, 1996, 126 ff, ferner 88 ff. 3 9 BTDrucks 12/989, 1,21. Knorz (¥n. 38), 128 f. 33 34

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dd) Barton hat demgegenüber das folgende hervorgehoben: § 261 Abs. 2 StGB stehe ganz unter dem Vorzeichen eines vorverlagerten Rechtsgutsschutzes, der den Gefahren einer Unterwanderung der Gesellschaft durch Organisierte Kriminalität begegnen solle. Geschützt würden demgemäß nicht die jeweils durch die Vortat betroffenen Rechtsgüter, sondern die durch ein Anwachsen mafioser Strukturen und ungebundenen Kapitals potentiell gefährdeten Rechtsgüter in der Zukunft. 41 Rechtsgut des § 261 StGB sei die innere Sicherheit als Universalrechtsgut in ihrer Funktion, Rechtsfrieden zu stiften. Die Norm wolle nicht jede Beeinträchtigung der inneren Sicherheit verhindern, sondern ziele primär auf solche Verhaltensweisen, die durch organisiertes, arbeitsteiliges und auf Gewinn ausgerichtetes Wirken die Strukturen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, des liberalen Rechts- und Sozialstaates beeinträchtigen könnten. 4 2 Obwohl Barton zu Recht derjenige war, der für die hier im Zentrum stehende Fragestellung eine präzise Analyse der geschützten Rechtsgüter angemahnt hat, 43 bleiben seine Ausführungen im entscheidenden Punkt jedoch hoch spekulativ. Schon das Bedrohungsszenario durch die sogenannte Organisierte Kriminalität läßt sich kaum operationalisieren. Nach hier vertretener Ansicht weisen die Schlagworte des vorverlagerten Rechtsgutsschutzes, der inneren Sicherheit und des Rechtsfriedens gerade nicht auf den Schutz von kollektiven, sondern von individuellen Rechtsgütern. 44 c) Vielleicht bleibt damit als einziger Zweck der auf den ersten Blick besonders obskure, nämlich den Ermittlungsbehörden so viele Ermittlungsansätze wie nur möglich zur Verfügung zu stellen, sofern der Verdacht einer Katalogtat zunächst nur schwer begründet werden kann. 4 5 Ohne Umschweife schreibt Fischer: „Daneben steht der präventive Charakter der Vorschrift im Vordergrund; es handelt sich um einen typischen „Bekämpfungs"-tatbestand, der eher auf sekundäre Effekte als auf Verfolgung klar bestimmbaren Unrechts abzielt." 4 6 aa) Würde man diesen Ansatz ernst nehmen, wäre der Topos vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz, 47 den auch Roxin verficht, 48 ad absurdum geführt. Sicher gibt es etliche Zweifelsfälle bei Straftatbeständen, bei denen ein Rechtsgut nur schwer auszumachen ist, 4 9 und vermutlich gibt es auch eine Gruppe von hier so bezeichneten rechtsgutslosen Verhaltensdelikten 50 . Dieses ProblemVgl. auch Vogel (Fn. 27), 350 Fn. 70. Barton (Fn. 30), 160. 43 Barton (Fn. 30), 159. 4 4 Siehe im einzelnen Hefendehl (Fn. 19), § 2 IV 5 b u. § 7 IV. 45 Bernsmann (Fn. 25), 42; vgl. auch Tröndle/Fischer (Fn. 29), § 261 Rn. 2 a. 46 Tröndle/Fischer StGB, 4 9 1999, §261 Rn. 3 c; leicht abschwächend Tröndle/Fischer (Fn. 29), § 261 Rn. 2 a. 4 7 Hierzu Hefendehl (Fn. 19), § 2 III. 48 Roxin AT I (Fn. 20), § 2 Rn. 1 u. 2. 4 9 So auch Stratenwerth Strafrecht AT I, 4 2000, § 2 Rn. 9. 5 0 Hierzu Stratenwerth ZStW 105 (1993), 679, 694; den. (Fn. 49), § 2 Rn. 8 u. 9; Hefendehl (Fn. 19), § 3 II 3. 41 42

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feld steht vorliegend aber nicht in Rede: Es geht um einen streng funktional ausgerichteten Straftatbestand, bei dem es nur um den Schutz von Rechtsgütern gehen kann und darf. Dabei sind in einem ersten Schritt kollektive und scheinbare kollektive Rechtsgutskonstruktionen eliminiert worden. Übrig bleibt ein (extrem) vorverlagerter Individualrechtsgüterschutz nach dem Muster der §§ 129, 129 a StGB. Der maßgebliche Unterschied zu § 261 Abs. 2 StGB liegt nun in folgendem: Bei der Bildung einer kriminellen Vereinigung ist kein legitimes Neben-Betätigungsfeld erkennbar, so daß sich lediglich die Frage stellt, inwieweit sich die Vorverlagerung rechtfertigen läßt. Bei § 261 Abs. 2 StGB wiederum ist die strafrechtliche Verhaltensnorm nicht allein an das eigentliche Zielobjekt, nämlich die Mitglieder der Organisierten Kriminalität, sondern an deren Helfer 51 gerichtet. Bildlich läßt sich dies so umschreiben: Es wird im Trüben in einem potentiell geeigneten Moment gefischt, im Trüben deshalb, weil man nicht genau weiß, was die Organisierte Kriminalität ist und wer deren Träger sind, in einem potentiell geeigneten Moment deshalb, weil sich nach dem „Waschen" die Spur des schmutzigen Geldes weiter verflüchtigen würde. Über diese tatbestandliche Konstruktion wird es gerade unabdingbar, auch solche Konstellationen zu erfassen, bei denen auf der Adressatenseite des Gegenstandes (in der Regel Geld) doppelfunktionale Maßnahmen vorliegen: eine mindestens leichtfertige Förderung einer Geldwäsche sowie eine intendierte Kompensation eigener Leistungen, seien es nun solche eines Rechtsanwalts, seien es solche beispielsweise eines Arztes. bb) Der zu fordernde Rechtsgutsbezug ist also nur ein sehr vermittelter: Für die Täter der rechtswidrigen Vortaten sollen sich diese nicht lohnen, sie sollen vielmehr mit ihren Gewinnen isoliert werden. Zugleich soll der Verdacht einer Straftat nach § 261 Abs. 2 StGB dazu genutzt werden, Strukturen der Organisierten Kriminalität aufzuhellen bzw. zu zerschlagen und auf diese Weise weitere für die Organisierte Kriminalität typische Straftaten zu unterbinden. Wenn man Scbünemanns Begriff der kollektiven Schaltstation heranzieht, bei dem ein effizientes Strafrecht zur Anwendung kommen müßte, 52 dann läge in den in § 261 Abs. 2 StGB pönalisierten Tathandlungen zwar eine solche. Es würde aber an einem zu fordernden Automatismus in dem Sinne fehlen, daß gravierende Straftaten die unabänderliche Folge wären. 53 Das Abwägungsmodell der zu harmonisierenden Freiheitssphären legt es demzufolge nahe, in der Entgegennahme des Verteidigerhonorars keine Handlung zu sehen, die strafwürdiges Unrecht begründen kann. In einem weiteren Schritt ist nunmehr die Frage zu stellen, inwieweit hierin (lediglich) kriminalpolitische Kritik, ein unter Umständen über einen Rechtfertigungsgrund zu erzielendes (zwingendes) dogmatisches Ergebnis oder sogar eine verfassungsrechtlich relevante Vorgabe liegt. 5 1 Die natürlich auch unmittelbar der sogenannten Organisierten Kriminalität zuzurechnen sein können. 52 Schünemann G A 1995, 201, 213. 5 3 Eine derartige kollektive Schaltstation existiert etwa beim Kapitalanlagebetrug.

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III. Auf der Suche nach einem neuen Rechtfertigungsgrund 1. a) Bernsmann war derjenige, der mit einem überraschenden Vorschlag einen neuen, gleichwohl schon existenten, sich aus dem Verteidigungsverhältnis und der Unschuldsvermutung ergebenden Rechtfertigungsgrund eingefordert hat, mit dem das eben für sachgerecht beschriebene Ergebnis erreicht wäre.54 Sein Gedankengang ist der folgende: In allen Fällen prozessualer Eingriffsbefugnisse rechtfertige nicht die materielle Rechtslage, sondern maßgeblich der (bloße) Verdacht. Dann dränge sich aber die Frage auf, ob nicht die „Gegenseite" zur Ermöglichung bzw. Bewahrung der Voraussetzung einer effizienten Verteidigung ein vergleichbarer, vorläufiger, ausschließlich verdachtsgestützter Rechtfertigungsbonus zu gewähren sei: hier Verfahrenssicherung auf der Basis einer Schuldvermutung ( = Verdacht), dort Absicherung der Verteidigung durch die Unschuldsvermutung55. Die Unschuldsvermutung sichere damit die Fairneß, d. h. eine Kräfteverteilung, die vor allem prinzipielle Offenheit des Verfahrensausgangs gewährleiste. Im prozessualen Kontext mit der Verteidigung müsse der Beschuldigte so lange als unschuldig behandelt werden, wie er umgekehrt zur Verfahrenssicherung prognostisch schuldig behandelt werde.56 b) Bernsmann selbst verkennt dabei nicht, daß ein derartiger Sonderrechtfertigungsgrund für Strafverteidiger erst etabliert werden müßte, obwohl er mit den Prinzipien der Rechtfertigung durchaus vereinbar sei. Hier sieht er offensichtlich die Grundkonstellation des Interessenwiderstreites von Rechtsgütern für einschlägig an, 57 wenn er darauf verweist, daß das Interesse an der Aufrechterhaltung eines rechtsstaatlich ausgewogenen Strafprozesses das Interesse an einer ansonsten möglichen Bestrafung einzelner überwiege. 2. a) Roxin hat zutreffend darauf hingewiesen, sämtliche derartigen Prinzipien würden sich darin gleichen, daß konkrete Ergebnisse aus ihnen nicht ableitbar seien. Was im Einzelfall das rechte Mittel zum rechten Zweck sei, wel54 Bernsmann (Fn. 25), 43 ff. Die bisherigen Kommentare hierzu beschränken sich auf überraschte Sympathie; s. Hamm NJW 2000, 636, 637; Anm. Lüderssen StV 2000, 205, 206 f; Hetzer (Fn. 6), 287 f. 5 5 Zu dieser Stuckenberg Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998; ders. ZStW 111 (1999), 422 ff. 5 6 Die Rechtfertigungslösung ist mit der Argumentation des HansOLG Hamburg vereinbar und als vorzugswürdig angesehen worden. In Wahrheit bewege sich das Hanseatische Oberlandesgericht gar nicht auf der Tatbestands-, sondern auf der Rechtswidrigkeitsebene. Die gebotene verfassungskonforme teleologische Reduktion betreffe nicht die gesetzliche Beschreibung des objektiven Tatbestandes, sondern eine rechtliche Gegenkraft gegen die indizielle Wirkung der Tatbestandsmäßigkeit für die Rechtswidrigkeit (so Hamm NJW 2000, 636, 637). 5 7 Zu den beiden Konstellationen, auf die sich Rechtfertigungsgründe zurückführen lassen, s. etwa Schönke/Schröder/Lenckner StGB, 25 1997, Vor §§32 ff Rn. 7. Beispiel für die erste Fallgruppe wäre der Notstand, für die zweite die Einwilligung, bei der das Interesse am Schutz des verletzten Rechtsguts deshalb entfällt, weil für das Recht kein Anlaß besteht, ein Gut gegen einen bestimmten Eingriff zu schützen, wenn es sein Inhaber gegen diese Verletzung in der konkreten Situation nicht geschützt wissen will.

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ches Verhalten mehr Nutzen als Schaden bringe, welcher Wert der höhere, welches Interesse das überwiegende und welcher Gutsanspruch der vorrangige sei, lasse sich nicht aus den Formeln monistischer und pluralistischer Theorien ableiten.58 Die Ordnungsprinzipien, die bei den Rechtfertigungsgründen in unterschiedlicher Zahl und Kombination auftreten, verweisen vielmehr auf nichts anderes, als daß es sich bei einem Rechtfertigungsgrund ebenso wie beispielsweise beim Vorsatz um einen Typusbegriff handelt, der seine Uberzeugungskraft aus der Anzahl oder dem Grad der Ausprägung einzelner Ordnungsprinzipien erhält.59 Roxin nennt insoweit das Schutzprinzip, das Rechtsbewährungsprinzip, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Güterabwägungsprinzip und das Autonomieprinzip.60 Wegen der Vielgestaltigkeit und der Wandlungen des sozialen Lebens sei freilich ein numerus clausus der maßgebenden Regelungsprinzipien ebensowenig möglich wie eine abschließende Systematisierung der Rechtfertigungsgründe.61 b) Aus diesen Gründen bleibt nicht mehr, als den von Bernsmann vorgeschlagenen Rechtfertigungsgrund auf seine Plausibilität hin zu überprüfen. Was er für sich verbuchen könnte, wäre zunächst einmal eine gewisse ästhetische Spiegelbildlichkeit: Verfahrenssicherung auf der Basis der Schuldvermutung, Absicherung der Verteidigung auf der Basis der Unschuldsvermutung. Die Frage, die sich indes daran unweigerlich knüpft, ist diejenige, ob es sich um zufällig spiegelbildliche oder aber zusammengehörige Strukturen handelt.62 Der von Bernsmann herangezogene Gedanke der Fairneß 63 deutet ebenfalls darauf hin, daß Verfahrenssicherung und Verteidigung aufeinander bezogen werden müßten. 3. a) Die von Bernsmann in seine spiegelbildliche Gleichung aufgenommenen Komponenten werfen fast sämtlich Fragen auf: Bei der Schuldvermutung geht man zunächst unwillkürlich von den bei Tatverdacht bestehenden prozessualen Möglichkeiten wie der Überwachung der Telekommunikation nach § 100 a StPO oder der Durchsuchung nach § 102 StPO aus.64 Daneben findet sich in Bernsmanns Ausführungen aber auch die Formulierung, das staatliche Roxin AT I (Fn. 20), § 14 Rn. 40. Zum Typusbegriff Schünemann in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, Coimbra-Symposium für Claus Roxin, 1995, 149, 167; vgl. ferner die Nachweise bei Hefendehl (Fn. 19), § 3 V. 60 Roxin AT I (Fn. 20), § 14 Rn. 41. 61 Roxin AT I (Fn. 20), § 14 Rn. 42. 62 Lüderssen (Fn. 54), 206 sieht die Schwierigkeit einer gleichsam spiegelbildlichen Konstruktion von Rechtfertigungsgründen für den Verteidiger darin, daß seine Tätigkeit nicht in Rechte einzelner eingreife, sondern sich gegen den Strafanspruch des Staates richte. Die Rechtsgüter, deren Verletzung jeweils gerechtfertigt werden solle, seien also verschieden. 6 3 Wohl - es wird nicht ausgeführt! — im Sinne einer „Waffengleichheit" oder allgemeiner der Gerechtigkeit; hierzu insbes .John Rawls Gerechtigkeit als Fairneß (hrsg. von Höffe), 1977. 6 4 Gerade diese werden von Bernsmann (Fn. 25), 43 f auch umfassend erläutert. 58

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Interesse der Verfahrenssicherung legitimiere es, daß das Vorliegen eines Verdachts ausreiche, um die Erfüllung des Tatbestandes eines Strafgesetzes zu rechtfertigen. 65 Damit wäre die oben problematisierte Deliktsform des Geldwäschetatbestandes angesprochen, der eine weit vorverlagerte Strafbarkeit etabliert. Selbst bei der Unschuldsvermutung sind zwei Lesarten möglich: Zum einen kann es unmittelbar um die Unschuld des Verteidigers gehen, zum anderen aber auch um diejenige des Mandanten. Bernsmann tendiert letztlich zu der zweiten Variante, wenn er schreibt: „Weil der Verteidiger um der Abwehr aller staatlicher Eingriffe in das Verteidigungsverhältnis willen von der Unschuld des Mandanten ausgehen kann, würde allein das Vorliegen eines Verteidigungsauftrages die Entgegennahme eines Honorars rechtfertigen und den auf dem Geld lastenden Verdacht der Kontaminierung durch eine Vortat neutralisieren." 6 6 Die erwähnten zwei Aspekte auf der einen Seite der „Gleichung" lassen sich nun wie folgt zusammenführen: § 261 Abs. 2 StGB schafft die Möglichkeit, wieder auf die Spur der Vortäter zu gelangen (was offenkundig nicht unmittelbar gelungen ist). Hierzu dienen auch die strafprozessualen Zwangsmittel, die einen Tatverdacht im Hinblick auf die rechtswidrigen Vortaten voraussetzen. b) Insgesamt sind also drei Parteien beteiligt, deren Unfairneß und mögliche Kompensationsmechanismen ins Auge zu fassen sind: der Vortäter, der Verteidiger und der Staat. aa) Der Vortäter verhält sich durch die Beauftragung eines Verteidigers selbst dann nicht unfair, 67 wenn er über kein „sauberes" Geld verfügt: Aus Art. 2 Abs. 1 G G i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip folgt sein Recht auf den Beistand eines (Wahl-)Verteidigers. 68 Wer über keine finanziellen Mittel verfügt, muß zwar grundsätzlich mit dem Institut der Pflichtverteidigung vorliebnehmen, eine Offenbarungspflicht hinsichtlich der Herkunft des von ihm bezahlten Honorars besteht aber auch deshalb nicht, weil der Mandant selbst für sich einschätzen darf, welche Informationen er an seinen Verteidiger weitergeben möchte. Der Verteidiger wiederum ist hinreichend gegenüber dem potentiellen Mandanten geschützt: Er kann die ihm angetragene Verteidigung ablehnen. Liegt die dubiose Herkunft des erhaltenen Honorars nicht auf der Hand, bleibt er in jedem Falle straflos. bb) Man könnte es nun auch als unfair bezeichnen, daß der Verteidiger bei Wahrnehmung seiner Aufgaben einem Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt ist. Nur Bemsmann (Fn. 25), 44 rechte Spalte. Bernsmann (Fn. 25), 44 rechte Spalte. 6 7 Die Unfairneß des Vortäters in Gestalt der Begehung einer sozialschädlichen Tat spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Reaktion hierauf ist über das Straf- und das Strafprozeßrecht institutionalisiert. 68 Bernsmann (Fn. 25), 40 mwN in Fn. 1; BVerfGE 39, 156, 163; 39, 238, 243; 66, 313, 318 f; 68, 237, 255. 65

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würde es sich hierbei allein um eine Frage der sachgerechten Ausgestaltung des Tatbestandes handeln. Hier einen Rechtfertigungsgrund schaffen zu wollen, käme gerade einer oben abgelehnten Gesetzeskorrektur gleich. Was auf Tatbestandsebene nicht möglich ist, kann nicht über den Umweg der Rechtfertigungsgründe durchgesetzt werden. Ein permanenter oder struktureller Widerstreit von Interessen ist kein legitimer Gegenstand der Rechtswidrigkeitsebene. cc) Näher liegt es, ein unfaires Verhalten des Staates darin zu erblicken, daß er auf der einen Seite durch Schaffung des § 261 Abs. 2 StGB und die an den Verdacht anknüpfenden prozessualen Zwangsmaßnahmen den Druck auf den Vortäter erhöht und ihn auf der anderen Seite gerade dadurch von einer optimalen Verteidigung abschneidet, weil der von ihm gewählte Verteidiger sich einer Geldwäsche schuldig machen kann und dieser damit möglicherweise von einer Wahlverteidigung absieht. Für diese Konstellation aber einen Rechtfertigungsgrund nicht für den Beschuldigten, sondern für den Verteidiger oder zumindest zu seinen Gunsten zu konstruieren, erscheint nicht möglich. 4. Damit führt auch das Rechtfertigungsmodell nicht zu einem anderen Ergebnis als die Lösungsvorschläge auf der Tatbestandsebene, was vor dem Hintergrund einer Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand69 ohnehin überraschend gewesen wäre. Auch für Roxin, der eine eingeschränkte Sonderstellung der Tatbestandsmäßigkeit reklamiert, wären unterschiedliche Ergebnisse nicht begründbar. So verweist er darauf, daß der Tatbestand nach Art abstrakter, zur Kenntnis für jedermann aufgestellter Verbotstafeln die Bilder generell verpönter Verhaltensweisen umschreibe, das Unrechtsurteil hingegen die konkrete Sozialschädlichkeit des einmaligen Geschehens betreffe. 70 Die von Bernsmann beschriebene Ausnahmestellung des Verteidigers ließe sich in den Tatbestand integrieren und hätte nichts mit einem konkreten, singulären Geschehen zu tun. Schließlich bliebe ungeklärt, warum man ein Verteidigerprivileg statuieren, „Geschäfte zur Deckung des notwendigen Lebensbedarfs" 71 hingegen nicht privilegieren sollte.

IV. Verfassung und Strafrecht 1. Bedeutung

der Verfassung für das

Strafrecht

Die Suche nach einer Antwort, welche Bedeutung dem Verfassungsrecht für das Strafrecht zukommt, ist in vollem Gange. Nachdem dieses Thema viele Jahre mit dem Hinweis auf eine weite Einschätzungsprärogative des (Straf-) Gesetzgebers nahezu ausgespart worden ist, während die Verfassung im Straf69 70 71

Hierzu etwa Schünemann (Fn. 59), 149, 174 ff; den. GA 1985, 341, 347 ff. Roxin AT I (Fn. 20), § 10 Rn. 20 f. Rengier (Fn. 33), § 23 Rn. 16 f.

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prozeß- und im Strafvollzugsrecht sowie in vielen anderen Rechtsgebieten eine immer wichtigere Rolle zu spielen begann,72 ist die Diskussion für das materielle Strafrecht nunmehr entbrannt — zunächst in der Wissenschaft und durch das Urteil des HansOLG Hamburg auch in der Praxis. Dabei war es keinesfalls so, daß in der Strafrechtswissenschaft der Boden für eine das Strafrecht begrenzende Funktion der Verfassung geebnet worden war. Zwar hat Roxin darauf hingewiesen, die einzige dem Strafgesetzgeber vorgegebene Beschränkung liege in den Prinzipien der Verfassung. Ein kriminalpolitisch verbindlicher Rechtsgutsbegriff könne sich also nur aus den im Grundgesetz niedergelegten Aufgaben des auf die Freiheit des einzelnen gegründeten Rechtsstaates ergeben, durch die der staatlichen Strafgewalt ihre Grenzen zugewiesen würden. Rechtsgüter seien Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst nützlich seien.73 Gerade in Bereichen harter kriminalpolitischer Diskussion, so bei den abstrakten Gefährdungsdelikten zum Schutz sogenannter kollektiver Rechtsgüter, hat sich indes das nur beschränkte Kritikpotential selbst eines verfassungsrechtlichen Rechtsgutsbegriffs herausgestellt.74 Dieses eher ernüchternde Ergebnis ist anzuerkennen: Nicht einmal die Notwendigkeit eines Rechtsguts selbst läßt sich aus der Verfassung ableiten, wohl aber der Charakter des Strafrechts als Schutzrecht.75 2. Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips

für das Strafrecht

Auch das HansOLG Hamburg hat (demzufolge) einen anderen Weg beschritten, nämlich denjenigen des Rekurses auf das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip76. Dieses ist nun allerdings vor nicht allzu langer Zeit umfassend im Hinblick auf seine Tauglichkeit als restriktives Interpretationsinstrument von Strafrechtsnormen, insbesondere der erwähnten abstrakten Gefährdungsdelikte, überprüft und wie der Begriff des Rechtsguts als zu leicht befunden worden.77 a) Lagodny sieht es dabei aus der Sicht des Verfassungsrechts78 als notwendig an, Verhaltens- und Sanktionsvorschrift getrennt zu beurteilen.79 Die Siehe die Nachweise bei Hefendehl (Fn. 19), § 3 I. Roxin AT I (Fn. 20), § 2 Rn. 9. 7 4 So auch Stratenwerth (Fn. 49), § 2 Rn. 17; Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts - zur Dogmatik „moderner" Gefährdungsdelikte, 2000, 241 ff. 7 5 Siehe die Nachweise bei Vogel StV 1996, 110, 111. 7 6 HansOLG Hamburg NJW 2000, 673, 678 ff; auch Stratenwerth (Fn. 49), § 2 Rn. 19 sieht hierin einen „kritischen Maßstab". 7 7 Siehe Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, passim. 7 8 So wirft Lagodny (Fn. 77), 50 „weiten Teilen der strafrechtlichen Literatur" vor, einen „im Verfassungsrecht inzwischen gesicherten Stand an ausgefeilter Grundrechtsdogmatik" weder zu verarbeiten noch zur Kenntnis zu nehmen. 79 Lagodny (Fn. 77), 137. 72 73

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Rechtsgutsdiskussion stehe grundrechtsdogmatisch vor einem Dilemma: Sie versuche, zwei Fragen gleichzeitig zu beantworten, die strikt auseinandergehalten werden müßten: Welche Rechtsgüter oder Zwecke könnten Verhaltensvorschriften legitimieren? Und: Welche legitimierbaren Verhaltensvorschriften dürften gerade mit Kriminalstrafe sanktioniert werden? Das Bemühen der Strafrechtslehre um einen positiv bestimmten Rechtsgutsbegriff sei aus heutiger Sicht sinnlos, soweit es um die verfassungsrechtliche Legitimation von Verhaltensvorschriften gehe. 80 Lagodny nimmt im Anschluß an dieses Zwischenergebnis auf die Verhaltens- und Sanktionsvorschriften bezogen eine verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung der Gemeinwohlinteressen vor und kommt dabei regelmäßig zu dem Ergebnis, ein Verfassungsverstoß liege nicht vor. Dies bedarf hier nicht im einzelnen der Uberprüfung, wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Frage, welcher Wert der Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnorm für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit zukommt. Die Konsequenzen einer heute weitgehend konsentierten 81 Differenzierung zwischen Norm und Strafgesetz sind zunächst einmal analytischer und begriffslogischer Natur. 82 Würde man schon auf der Ebene des Verhaltensnormverstoßes zur Verfassungswidrigkeit bestimmter Normen gelangen, so wäre mit der genau verorteten Prüfung nicht lediglich ein analytischer Gewinn erzielt. Es ließe sich vielmehr zeigen, daß beispielsweise das Polizeirecht ebensowenig wie das Ordnungswidrigkeitenrecht diese Verhaltensnorm in ihre Regelungsmaterie integrieren könnte. Tatsächlich gelangt Lagodny hier jedoch regelmäßig zu dem Ergebnis, daß die verfassungsrechtliche Prüfung ein „weitmaschiges Sieb" 8 3 sei, das zumindest die Verhaltensnormen de lege lata keiner verfassungsrechtlichen Kritik aussetze. Ein derartiges Ergebnis ist nicht eo ipso bedenklich, wenn es auch im Einzelfall der kritischen Uberprüfung bedarf, stellt aber einen möglichen Gewinn der Differenzierung zwischen Verhaltensund Sanktionsnorm in Frage. Im Rahmen der bei Lagodny zu findenden Uberprüfung der grundrechtlichen Legitimation von Sanktionsvorschriften 84 geht es nach traditioneller Interpretation um die Fragestellung, ob zum Schutze des jeweiligen Rechtsguts bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden dürfen und ob Art und Höhe der angedrohten Strafe der Verfassung standhalten. 85 Die analytische Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnorm wird hier also zu Recht

Lagodny (Fn. 77), 146 f. Siehe Lagodny (Fn. 77), 81; zuletzt wieder dezidiert Appel Verfassung und Strafrecht, 1998, 433 ff. 8 2 Nur eine klare Vorstellung von dem, was eigentlich der Inhalt der Verhaltensnorm ist, erlaubt die saubere und trennscharfe Differenzierung von Argumenten, die teils für und gegen die Normwidrigkeit, teils für und gegen die Strafbarkeit eines Verhaltens vorgebracht werden; s. Haffee in: Schünemann/Figueiredo Dias (Fn. 59), 89, 95 f. 8 3 So Lagodny (Fn. 77), 178 zur Geeignetheitsprüfung. 84 Lagodny (Fn. 77), 275 ff. 8 5 So die Formulierung bei BVerfGE 90, 145, 199, 200 (abw. Meinung Graßhof). 80

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aufgehoben. Es macht keinen Sinn, eine Sanktionsnorm ohne Blick auf die ihr zugrundeliegende Verhaltensnorm zu untersuchen. Für das Strafrecht als ultima ratio zum Rechtsgüterschutz ist die einheitliche Betrachtung von Verhaltens- und Sanktionsnorm vielmehr unabdingbar. Genau diese Kombination ist der Ausgangspunkt der strafrechtlichen Analyse von Rechtsgütern. 86 Andernfalls „geraten [...] die spezifisch strafrechtlichen Probleme aus dem Blickfeld" 8 7 . Das von Lagodny ausgemachte und betonte „Dilemma" 88 , wonach die Rechtsgutsdiskussion nicht zugleich die Verhaltens- wie die Sanktionsebene betreffen könne, scheint demnach nicht in dieser Schärfe zu bestehen. 89 Warum die die Verhaltensnorm betreffende erste und logisch vorrangige Prüfungsstufe keine vom Umfang her bedeutsame Funktion entfaltet, liegt daran, daß Verhaltensnormen des Strafrechts gerade im Hinblick auf die scharfe Strafsanktion formuliert werden und daher nur elementare Gebots- oder Verbotsnormen enthalten. Wäre Prüfungsgegenstand also nicht das Strafrecht als die ultima ratio zum Rechtsgüterschutz, sondern eine Regelungsmaterie mit weniger intensivem Zwangscharakter, läge es zugleich näher, daß sich das Schwergewicht der Prüfung auf die Verbotsnorm verlagert. In diesem Fall würde auch die isolierte verfassungsrechtliche Kontrolle der Verbotsnorm an Relevanz gewinnen. 90 Damit ergibt sich das folgende Zwischenergebnis-. Bei Straftatbeständen kann es bei der auch vom Bundesverfassungsgericht und vom HansOLG Hamburg praktizierten einstufigen verfassungsrechtlichen Überprüfung bleiben. b) Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist allerdings gleichfalls ernüchternd, ohne daß in ihr die soeben erörterte Auffäcberung der Fragestellung erfolgt. 91 So sieht das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die erste Stufe der Eignung die Schwelle der Verfassungswidrigkeit erst bei evident ungeeigneten und somit vollkommen wirkungslosen Gesetzen als überschritten an. Nur „selten und in ganz besonders gelagerten Fällen" sei daher die objektive Zweckuntauglichkeit eines Gesetzes festzustellen. 92 Darin kommt zum einen die besondere Schwierigkeit einer zutreffenden Vorhersage bei gesetzgeberischen Maßnahmen zum Ausdruck, zum anderen aber auch der Respekt vor dem Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. 93 Das Bundesverfassungsgericht verwirft demzufolge eine Geeignetheitsprognose nur Stächelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, 164. So dezidiert Stächelin (Fn. 86), 50 f. 88 Lagodny (Fn. 77), 147, 425. 8 9 So auch Stächelin (Fn. 86), 164: Bei Lagodny fehle die gedankliche Zusammenführung dessen, was er analytisch getrennt habe; s. auch dens. aaO, 51 Fn. 139. 9 0 Vgl. auch Appel (Fn. 81), 434: Das Ge- oder Verbot, das die Verhaltensnorm zum Ausdruck bringe, sei jedenfalls in den klassischen Fallkonstellationen, in denen sich die Frage einer Strafbewehrung stelle, im Vergleich zur strafrechtlichen Sanktionsregelung vergleichsweise leicht zu rechtfertigen. 91 Vogel (Fn. 75), 113 ff; Appel (Fn. 81), 171 ff. 9 2 BVerfGE 30, 250, 263 f; 39, 210, 230 f. 93 Hirschberg Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, 52. 86

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dann als nicht „sachgerecht und vertretbar", „wenn die Maßnahme bei Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes eindeutig als zweckuntauglich festgestellt werden könnte" 9 4 . Was die Geeignetheit von Straftatbeständen im besonderen anbelangt, 9 5 verweist das Bundesverfassungsgericht (auch in der Cannabis-Entscheidung) zusätzlich auf die generalpräventive Funktion des Strafrechts, 96 die auch die abstrakten Gefährdungsdelikte zu legitimieren vermöge. Die zweite Stufe der Erforderlichkeit wiederum eröffnet nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts einen Beurteilungsspielraum und eine Einschätzungsprärogative für den Gesetzgeber, wann dieser die Maßnahmen und Maßregeln außerstrafrechtlicher Regelungsmaterien als gleich wirksam und weniger belastend als die Strafandrohung ansieht. 97 Eine Prämisse dahingehend, Strafrecht dürfe als ultima ratio erst dann zur Anwendung kommen, wenn Maßnahmen und Maßregeln des übrigen Rechts versagten, 98 steht jedenfalls nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu seiner Rechtsprechung „in offenkundigem Widerspruch" 9 9 . Schließlich setze auch das Übermaßverbot dem Gesetzgeber zumindest im Tatbestandsbereich kaum Grenzen. Die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung hat in den Worten des Bundesverfassungsgerichts „gerade den Sinn, die als geeignet und erforderlich erkannten Maßnahmen einer gegenläufigen Kontrolle im Blick darauf zu unterwerfen, ob die eingesetzten Mittel unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichten Rechtsgüterschutz stehen." 1 0 0 Wenn aber der Zuwachs an Rechtsgüterschutz über die Mechanismen der General- und Spezialprävention vermittelt wird und etwa im Bereich der Betäubungsmittelstrafbarkeit selbst fernliegende Risiken für Gemeinschaftsgüter als strafbarkeitslegitimierend angesehen werden, 1 0 1 wird deutlich, daß auch dieser Prüfungsparameter rechtstatsächlich nur ein sehr vager ist. 3. Verfassungsrechtliche Argumentation des HansOLG und Kritik hieran

Hamburg

a) Das HansOLG Hamburg argumentiert nun wie folgt: 1 0 2 Das Verbot der Annahme bemakelter Honorargelder greife in das Recht des Anwalts auf freie Berufsausübung sowie in das Recht des Beschuldigten ein, sich in jeder Lage BVerfGE 39, 210, 230. Siehe insoweit auch BVerfGE 47, 109, 1 1 7 ff (Vorführung pornographischer Filme); 50, 142, 163 (Verletzung der Unterhaltspflicht); 61, 291, 313 f (Tierpräparatoren); 71, 206, 215 f (Berichterstattung aus Strafverfahren). 9 6 BVerfGE 39, 1, 57; 90, 145, 184. 9 7 BVerfGE 80, 182, 186. 9 8 So das L G Duisburg in seinem Vorlagebeschluß; s. das Zitat in BVerfGE 80, 182, 185. " B V e r f G E 80, 182, 185. >°° BVerfGE 90, 145, 185. 1 0 ) BVerfGE 90, 145, 185 ff. 1 0 2 HansOLG Hamburg N J W 2000, 673, 677 ff. 94

95

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Roland Hefendehl

des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers zu bedienen. Dieses strafbewehrte Verbot sei wie ein sonstiger Grundrechtseingriff an den Maßstäben der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu messen. Dabei sei besonderes Augenmerk auf die Qualität des geschützten Rechtsguts, die Effizienz des vom Geldwäscheverbot geleisteten Rechtsgüterschutzes einerseits und die Eingriffstiefe andererseits zu richten. Die weitere Argumentation erscheint einigermaßen verwirrend: So führt das Hanseatische Oberlandesgericht aus, daß die Tathandlung des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB häufig keinen konkreten und unmittelbaren Bezug zur Vortat in dem Sinne aufweise, daß sie diese fördern oder ihre Verfolgung erschweren müßte. Vielmehr solle der Straftäter einer Katalogtat mit seinem Tatgewinn wirtschaftlich isoliert werden. Im Anschluß wird die besondere, auch verfassungsrechtliche Bedeutung der Wahlverteidigung allgemein und im Vergleich zur Pflichtverteidigung herausgearbeitet. Bei Honorarerfüllungsfällen ohne täterbegünstigende oder opferschädigende Innentendenz sei der Tatbestand verfassungskonform zu reduzieren. Würde das Verbot aus § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB regelmäßig Verteidigerhonorare erfassen, hätte dies eine grundlegende Umstrukturierung des bisherigen Strafverfahrens zur Folge. Dies sei auch deshalb unverhältnismäßig, weil § 261 Abs. 2 StGB Rechtsgüterschutz auf einer der wirklichen Rechtsgutsverletzung weit vorverlagerten Ebene anstrebe. Transaktionen bemakelter Mittel seien im konkreten Fall häufig gerade nicht dazu geeignet, die Entstehung oder Fortsetzung Organisierter Kriminalität zu fördern. Üblicherweise würden gewinnbringende Straftaten auch nicht deshalb verübt, um mit einem Strafverfahren überzogen zu werden und dann einen Verteidiger bezahlen zu können. b) Dieser Argumentation ist entgegengesetzt worden, sie habe die Grenzen noch zulässiger Auslegung überschritten. 103 Eine verfassungskonforme Auslegung finde ihre Grenze immer am eindeutigen Wortlaut und Sinn eines Gesetzes. Denn ansonsten würde ein unzulässiger Akt der Rechtssetzung vorgenommen, der nur dem Gesetzgeber gebühre. Gelange der Senat aufgrund der herkömmlichen Auslegungsmethoden zu dem Ergebnis der uneingeschränkten Anwendung des Geldwäschetatbestandes und halte er dieses für verfassungswidrig, dann hätte er nach Art. 100 GG die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen müssen. 104 Überdies liege kein Verfassungsverstoß vor: Einschlägiges Grundrecht sei lediglich dasjenige aus Art. 2 Abs. 1 GG, weil § 261 Abs. 2 StGB keine berufsregelnde Tendenz zukomme. Ein unverhältnismäßiger Eingriff in diese Handlungsfreiheit liege nicht vor, der Senat habe unzulässigerweise eine eigene Güterabwägung an die Stelle der gesetzgeberischen gestellt. Nichts anderes gelte für einen Eingriff in die Grundrechte des Mandanten, so in das Rechtsstaatsprinzip und den Grundsatz des fairen Verfahrens, insbesondere wenn man berücksichtige, daß der einzelne Eingriff in das Grundrecht auf ein faires Ver-

103 104

Schaefer/Wittig Burger/Pegku

NJW 2000, 1387 ff. wistra 2000, 161.

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163

fahren durch ein entsprechendes Verhalten von Beschuldigtem und Verteidiger minimiert werden könne. 105 Zwei zu unterscheidende verfassungsrechtliche Fragen sind demnach im folgenden zu untersuchen: diejenige der Prüfungskompetenz und diejenige des materiellen Verfassungsrechts. 4. Teleologische

oder verfassungskonforme

Tatbestandsreduktion?

a) Das HansOLG Hamburg verweist auf zwei methodische Möglichkeiten: die telelogische Tatbestandsreduktion und die verfassungskonforme Auslegung. Da sich der Gesetzgeber in Kenntnis sowohl des Sozialadäquanzproblems als auch des Problems der Wahlverteidigung für eine weite, diese beiden Problemfelder mitergreifende Gesetzesfassung entschieden habe, sei einer Tatbestandsreduktion weitgehend der Boden entzogen. 106 b) Auch wenn das O L G nun im weiteren von „verfassungskonformer" Auslegung spricht, 107 handelt es sich in Wahrheit doch um einen methodischen „Zwitter", nämlich eine verfassungskonforme Reduktion. Eine „bloße" verfassungskonforme Auslegung hätte nämlich mit ähnlichen Problemen wie die teleologische Reduktion zu kämpfen, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für diese Auslegung dort eine Grenze besteht, „wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde" 108 . Insoweit gilt für das hier in Frage stehende Problemfeld folgendes: Jedenfalls bei einem jungen Gesetz109 sollte ein klar erkennbarer Willen des Gesetzgebers maßgeblich sein, sofern er sich innerhalb des Bedeutungshofs eines Tatbestandsmerkmals hält. Das Demokratieprinzip und die Gewaltenteilung streiten für eine solche subjektive Theorie, wenn deren vermeintliche Schwachstelle, der zumeist nicht exakt zu ermittelnde gesetzgeberische Wille, nicht existiert. 110 Hier war im ursprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrates in einem Absatz 3 eine Ausnahme für solche Handlungen vorgesehen, die kraft Gesetzes geschuldet werden oder mit denen „eine Gegenleistung für Sachen oder Dienstleistungen des täglichen Bedarfs" bewirkt wird. 111 Auch in der Anhörung im Rechtsausschuß des Bundestages wurde von Vertretern des DAV das 105 Vgl. Burger/Peglau (Fn. 104), 164: Der Verteidiger könne auf einen Honorarvorschuß verzichten oder eine Pflichtverteidigerbestellung beantragen. Durch eine Uberweisung im Giroverkehr könne der Verdacht der „Bemakelung" des Honorars außerdem erheblich minimiert werden. 1 0 6 Siehe aber Härtung AnwBl 1994, 440, 443, der davon ausgeht, der Gesetzgeber habe Selbstverständlichkeiten nicht ausdrücklich in das Gesetz aufnehmen wollen. 107 Siehe aber auch ausdrücklich die Formulierung der verfassungskonformen Tatbestandsreduzierung: HansOLG Hamburg NJW 2000, 673, 680 rechte Spalte. los BVerfGE 18, 97, 111; 67, 382, 390; 71, 81, 105. 109 Siehe auch den Hinweis bei Bernsmann (Fn. 25), 42 Fn. 26. 110 Hefendehl (Fn. 11), 378 mwN. 111 BTDrucks 11/7663, 7.

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Szenario beschrieben, das in dem hier zu beurteilenden Sachverhalt Wirklichkeit wurde. 1 1 2 Wenn nun einerseits die Bundesregierung darauf verwiesen hat, auch die im ehemaligen Absatz 3 umschriebenen Tathandlungen stellten strafwürdiges Unrecht dar, ferner trage Absatz 6 dem Schutz des allgemeinen Rechtsverkehrs Rechnung, 113 und andererseits die Ausnahmeregelung gestrichen wurde, erscheint die These wenig plausibel, der Gesetzgeber habe darin eine Selbstverständlichkeit gesehen und den Gesetzestext damit nicht befrachten wollen. 1 1 4 Angesichts dieser Vorgeschichte hätte es einer ausdrücklichen Begründung bedurft, daß mit der Streichung der Ausnahmeregelung keine Erweiterung des Feldes der Strafbarkeit intendiert gewesen sei. c) Für eine verfassungskonforme Reduktion, also eine Rechtsfortbildung, soll es nach dem Bundesverfassungsgericht darauf ankommen, „in den Grenzen der Verfassung das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat" 1 1 5 . Maßstab ist also nicht, wie in der Regel, der Sinn und Zweck der betreffenden Regelung, sondern das Gebot der Verfassungskonformität in Verbindung mit dem Bestreben, von der Norm so viel aufrechtzuerhalten, als es dieses Gebot erlaubt. 116 Vor diesem Hintergrund erscheint die Vorgehensweise des HansOLG Hamburg nicht mehr so abwegig, wie sie in der Literatur beschrieben worden ist, 1 1 7 auch wenn damit gerade die soeben beschriebenen Vorzüge der subjektiven Theorie konterkariert werden. 118 Diesen Widerspruch gilt es über die Formel des Bundesverfassungsgerichts aufzulösen bzw. abzuschwächen, wonach die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers aufrechterhalten werden müsse. 1 1 9 Einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz darf nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden. 120 Alles andere wäre ein unzulässiger Akt der Rechtssetzung, der nur dem Gesetzgeber zukommt. Selbst bei dieser Lösung ist allerdings nicht zu verkennen, daß das Gericht sogar stärker in die Befugnisse des Gesetzgebers eingreifen würde, als dies bei einer Nichtigerklärung der Fall wäre, weil er selbst positiv inhaltlich

1 1 2 Stellungnahme des DAV (Salditt) Anlage zum Protokoll der 31. Sitzung des Rechtsausschusses am 21. Januar 1992, 206. 1 1 3 BTDrucks 11/7633, 50. 1 1 4 So aber Salditt StraFo 1992, 121, 122; Härtung (Fn. 106), 443. BVerfGE 86, 288, 320. 116 Larenz/Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3 1995, 161. 117 Burger/Peglau (Fn. 104), 161 f; Anm. Reichert (Fn. 10), 317; Schaefer/Wittig (Fn. 103), 1388; vgl. aber Bogs Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, 1966, 33: Der Fallrichter habe nur dann die Pflicht zu einer Normenkontrollvorlage, wenn er meine, eine verfassungskonforme Auslegung würde den Sinn der Vorschrift in einem wesentlichen Punkt verändern. u «Bogs (Fn. 117), 88 f. " ' B V e r f G E 86, 288, 320. 1 2 0 BVerfGE 71, 81, 195; s. auch Brandenburg Die teleologische Reduktion, 1983, 71 ff.

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gestaltet, während die neue Gestaltung bei der Nichtigerklärung Sache des G e setzgebers bleibt. 1 2 1 d) Für die Beurteilung des Grades der Modifizierung des Gesetzes kann auf die oben angestellten Rechtsgutserwägungen zurückgegriffen werden. Die Honorierung von Verteidigern als einen die Idee der Isolierung des Vortäters durchbrechenden (wesentlichen) Mechanismus anzusehen, erscheint dabei nicht besonders plausibel. Denn das Geld fließt ja, von möglichen Mißbrauchsfällen abgesehen, tatsächlich an den Verteidiger ab. 1 2 2 Vor diesem Hintergrund bliebe die prinzipielle Zielsetzung selbst dann gewahrt, wenn man die Pönalisierung des Verteidigers als verfassungswidrig eliminieren und insoweit den Tatbestand verfassungsrechtlich reduzieren würde. Gerade die Frage der Verfassungswidrigkeit ist dabei in einem nächsten Schritt zu untersuchen. 5. UnVerhältnismäßigkeit

von § 261 Abs. 2 StGB?

a) Bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der N o r m ist der Kritik im Hinblick auf Art. 12 G G als Prüfungsmaßstab Recht zu geben. 1 2 3 Wäre im übrigen Art. 12 G G Prüfungsmaßstab, so käme eine verfassungsmäßige Reduktion auch von vornherein nicht in Betracht. Es ginge dann nämlich um eine prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers. Das H a n s O L G Hamburg verhält sich somit unter Berücksichtigung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes selbstwidersprüchlich. b) Die weiteren verfassungsrechtlichen Ausführungen des H a n s O L G H a m burg leiden unter den bereits formulierten Bedenken, daß eigene - wenngleich plausible - Abwägungen von Handlungsfreiheiten angestellt und für verfassungsrechtlich verbindlich erklärt werden. Gerade dies würde aber mit Sicherheit den Bereich zulässiger verfassungsrechtlicher Uberprüfung verlassen. 1 2 4 aa) Während die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Regelung des § 261 Abs. 2 StGB unter Berücksichtigung der verfestigten verfassungsrechtlichen Grundsätze kaum Anhaltspunkte bieten, 1 2 5 um deren Verfassungsmäßigkeit in Zweifel zu ziehen, bedarf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der näheren Uberprüfung. Hierbei handelt es sich um ein dem Schutzgedanken wider121 Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2 0 1 9 9 9 , § 2 Rn. 83; krit. daher auch Koch/Rüßmann Juristische Begründungslehre, 1982, 267 f. 1 2 2 H a n s O L G Hamburg N J W 2000, 673, 681; vgl. aber Schaefer/Wittig (Fn. 103), 1388, die das Risiko sehen, Strafverteidiger könnten als legale Geldwäscheinstitution mißbraucht werden. 1 2 3 Siehe BVerfGE 13, 181, 185 f; 55, 7, 25 f; 70, 191, 214; BVerwG N V w Z 1989, 1175: Objektiv müsse eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennbar sein. 1 2 4 Umgekehrt sind die Abwägungsgesichtspunkte von Burger/Peglau (Fn. 104), 163 geradezu abenteuerlich: D e r Gesetzgeber verfolge mit der Regelung eine Bekämpfung der O r g a nisierten Kriminalität, welche eng verknüpft sei mit der Betäubungsmittelkriminalität, die jährlich Hunderte von Konsumenten das Leben koste. 125

Siehe Burger/Peglau

(Fn. 104), 162.

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streitendes Prinzip. Würde man es bei diesem belassen, käme grundsätzlich sogar die Pönalisierung gefährlicher Gedanken in Betracht. 1 2 6 J e weiter das Strafrecht in das Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung hineinreicht, desto akuter wird die Fragestellung, inwieweit noch eine Proportionalität zwischen dem angestrebten Zweck des Straftatbestandes und der Beeinträchtigung der Freiheitssphäre des Betroffenen besteht. Insofern ist nach der oben angestellten Rechtsgutsanalyse der Geldwäschetatbestand ganz besonders „gefährdet". Die bisherigen Untersuchungen zum strafrechtlichen Vorfeldschutz greifen den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz indes regelmäßig nicht auf, sondern leiten aus allgemeinen Grundsätzen einen strafrechtsfreien internen Bereich her 1 2 7 bzw. sprechen unspezifisch von legitimen Gründen für die Schaffung von Gefährdungstatbeständen. 1 2 8 Nicht weiter hinterfragt wird dabei, ob die Legitimität verfassungsrechtlich oder kriminalpolitisch fundiert ist. bb) Lediglich Lagodny hat die Frage näher untersucht, ob ein durch den Strafgesetzgeber zu respektierender Bereich des Internums existiert, und dafür im wesentlichen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den „tagebuchähnlichen N o t i z e n " 1 2 9 rekurriert. N a c h der Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts 1 3 0 umfaßt die erste Stufe soziale Kontakte wie Geschäftsgespräche, die keinen besonderen Schutz genießen. Bei der zweiten Sphäre, der sogenannten schlichten Privatsphäre (Beispiel: privates Gespräch während eines Spaziergangs), ist das Strafverfolgungsinteresse gegen den Privatschutz abzuwägen, während auf der dritten Stufe das Grundgesetz dem einzelnen Bürger einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung gewährt, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist. Uber Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 G G wird also eine staatsfreie Intimsphäre garantiert, bei der eine Güterabwägung mit dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse nicht stattfindet. c) Für die hier im Zentrum stehende Fragestellung, ob eine Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes gegebenenfalls unverhältnismäßig sein kann, ergibt sich aufgrund dieser strafprozessualen Vorüberlegungen folgendes: Eine Grenze staatlichen Zugriffs ist beim Gedanken als Internum zu ziehen. 1 3 1 Dies gilt für das Prozeßrecht wie das materielle Recht in gleicher Weise. Die Begrenzung Jakobs ZStW 97 (1985), 751, 753; Vormbaum ZStW 107 (1995), 734, 752. Jakobs (Fn. 126), 753 ff. Die Frage der verfassungsrechtlichen Relevanz wird dabei nicht ausdrücklich beantwortet; s. die Stellungnahme von Jakobs bei Gropp ZStW 97 (1985), 919, 929: Er hoffe auf eine Entwicklung des Verfassungsrechts, wonach die Bestrafung privaten Verhaltens verfassungsrechtlich unmöglich werde, halte auch heute schon eine entsprechende Verfassungsinterpretation für zulässig, behaupte aber nicht, diese Interpretation sei heute die einzig vertretbare. 128 Weber in: Jescheck (Hrsg.), D i e Vorverlegung des Strafrechtsschutzes durch Gefährdungs- und Unternehmensdelikte, Beiheft zur Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1987, 1, 22 ff. 1 29 BVerfGE 80, 367. 1 3 0 BVerfGE 32, 373, 378 ff; 34, 238, 245 ff. 1 3 1 So auch Lagodny (Fn. 77), 230 f. 127

D i e Geldwäsche im Spannungsfeld von A u s l e g u n g und Verfassung

167

der Strafbarkeit des Versuchs der Beteiligung nach § 30 StGB, wonach mindestens zwei Personen involviert sein müssen, 132 orientiert sich hieran. Uber diese gesetzlich vorgesehene Sonderkonstellation hinausgehend, sind alle Straftatbestände daraufhin zu untersuchen, ob unabhängig vom Internum des Täters - hierzu gehören beispielsweise seine Absichten - sozial indifferentes oder auffälliges Verhalten umschrieben wird. Denn auch im Fall sozial indifferenten Verhaltens läge nicht mehr als die Pönalisierung von Gedanken vor. Es macht keinen Unterschied, ob allein an ein Internum angeknüpft wird oder an ein solches in Verbindung mit einem äußeren Verhalten, das für sich genommen kein Anknüpfungspunkt für einen strafrechtlichen Vorwurf sein kann. Derartige Fälle werden im StGB indes die Ausnahme darstellen. 133 Zumindest bringen Merkmale wie „unbefugt" oder „widerrechtlich" den sozialen Unwertgehalt zum Ausdruck, 1 3 4 die dann nicht zur Ebene der Rechtswidrigkeit, sondern zu derjenigen des Tatbestandes zu zählen sind. Ansonsten führt die verfassungsrechtliche Uberprüfung nun aber nicht stets zu dem Ergebnis, daß von Verfassungs wegen nichts zu erinnern ist. Wie bei der Frage der strafprozessualen Verwertbarkeit ist auf einer zweiten Stufe eine Abwägung (in diesem Fall) zwischen Gesichtspunkten effektiven Rechtsgüterschutzes und berechtigter Freiheitsansprüche des Betroffenen vorzunehmen. Auch an dieser Stelle sind nicht an das Verfassungsrecht delegierbare Grenzfragen auszuklammern. In den Fällen aber, in denen eine Vorverlagerung der Strafbarkeit keinen effizienteren Rechtsgüterschutz für den Rechtsgutsträger zu bewirken vermag, wird der Einsatz von Strafrecht unverhältnismäßig im engeren Sinne, und zwar auch dann, wenn keine berechtigten Freiheitsansprüche des Betroffenen 135 an dem in Frage stehenden Verhalten erkennbar sind. Denn die Frage nach der Berechtigung kann in diesem Zusammenhang ohne den Blick auf das Rechtsgut bzw. den Rechtsgutsträger schlechthin nicht beantwortet werden. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne hält also im Ergebnis zwei konkrete Bedingungen für die Verfassungsmäßigkeit eines Straftatbestandes bereit: Erstens kann mit einem sozial indifferenten Verhalten kein tatbestandsmäßiges Verhalten umschrieben werden. Und zweitens muß mit einer Vorverlagerung des Rechtsgüterschutzes dieser effizienter ausgestaltet werden, als er ohne eine derartige Vorverlagerung wäre. Dies ist schon eine erhebliche Präzisierung gegenüber der oben dargestellten herkömmlichen Herangehensweise an diese Komponente der Verhältnismäßigkeit. Ob sie vorliegend für eine Verfassungswidrigkeit des § 261 Abs. 2 StGB streiten würde, gilt es nachfolgend zu untersuchen. aa) Um mit der zweiten Ausprägung zu beginnen: Daß der vorverlagerte Rechtsgutsschutz eine höhere Effizienz bei der Bekämpfung der wie auch im132 133

Daneben muß Gegenstand der Tathandlung ein Verbrechen sein. Zu einem Beispiel aus den Staatsschutzdelikten (§ 100 S t G B ) s. Hefendehl

III 2. 134 135

Siehe etwa das Beispiel der Amtsanmaßung (§ 132 StGB). Zu diesem Terminus vgl. Schünemann (Fn. 52), 213.

(Fn. 19), § 9

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mer zu konkretisierenden Organisierten Kriminalität zu erzielen vermag, erscheint deshalb naheliegend, weil es sich bei der Entgegennahme „schmutzigen" Geldes um eine der beschriebenen Schaltstationen effektiven Rechtsgüterschutzes handelt. Nicht anders als bei einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung bedarf es für diese Prognose lediglich eines empirisch abgesicherten Erfahrungswissens, das sich nicht zu realisieren braucht. Eine derartige Vereinigung kann jegliche kriminellen Zielsetzungen aufgeben, die Organisationsstrukturen der Kriminalität können sich wieder auflösen. Zugleich wird hieran offenbar, was das kriminalpolitisch Unbefriedigende an der Vorgehensweise des Gesetzgebers ist. Die sogenannte Organisierte Kriminalität und der Vorfeldschutz werden als Vehikel für eine zumindest verfassungsrechtlich kaum angreifbare Kriminalpolitik herangezogen. bb) Das Zusammenspiel zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand ergibt nun, daß anders als in den Fällen, in denen sich der Täter vorbehält, einen deliktischen Plan zu verwirklichen, hier eine doppelfunktionale, keine zeitlich gestreckte Maßnahme vorliegt: Sie ist in jedem Falle sozialadäquat, soweit sie die Entgegennahme eines vertraglich vereinbarten Honorars betrifft, kann aber unter den Voraussetzungen des § 261 StGB auch sozialschädlich sein. Hier sprechen zwar die oben vorgenommen Abwägungsgesichtspunkte zwischen den beiden Handlungssphären gegen eine Pönalisierung der in § 261 Abs. 2 StGB normierten Regelung. Auf der anderen Seite ist die Formel des Bundesverfassungsgerichts, daß die eingesetzten Mittel unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichten Rechtsgüterschutz stehen müssen,136 denkbar weit. Auch wenn die beim Verteidiger durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ebenso eingeschränkt ist wie das verfassungsrechtlich abgesicherte Recht des Beschuldigten auf einen bestimmten (Wahl-)Verteidiger, ist dagegen verfassungsrechtlich nichts zu erinnern. Die auch vom HansOLG Hamburg angestellte plausible Abwägung der Handlungsfreiheiten hätte nur bei Schaffung des Geldwäschetatbestandes durch den Gesetzgeber berücksichtigt werden können. Die von der ganz einhelligen Kritik verlangte Vorlage nach Art. 100 GG an das Bundesverfassungsgericht würde also ebensowenig wie die genannten Auslegungsgesichtspunkte dazu führen, eine mißglückte gesetzgeberische Vorschrift zu retten.

V. Resümee Damit läßt sich das folgende Resümee ziehen: Der Allgemeine Teil - so die Lehre von der Sozialadäquanz, der objektiven Zurechnung oder auch die Rechtfertigungsgründe - und das Verfassungsrecht - insbesondere der Grund136

BVerfGE 90, 145, 185.

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satz der Verhältnismäßigkeit - haben die Aufgabe, die jeweiligen Ausprägungen des gesetzlichen Unrechtstatbestandes weiter zu präzisieren und in gewissem Umfang auch zu korrigieren. Manchmal schafft der Gesetzgeber nun die in der Überschrift erwähnten mißglückten Regelungen, wobei freilich eine derartige Einschätzung je nach kriminalpolitischer Positionierung unterschiedlich ausfallen dürfte. Hier kann man weder auf generell-abstrakte Weise, etwa durch die Kreierung eines neuen Rechtfertigungsgrundes, noch auf verfassungsrechtlicher Ebene durch neue - vom Gesetzgeber eindeutig differierende - Abwägungen von Handlungsfreiheiten korrigierend eingreifen. Kriminalpolitische Kritik muß sich mit weniger begnügen: der beharrlichen Geißelung der Konsequenzen verfassungsrechtlich im Einzelfall unangreifbarer Straftatbestände.

II. Allgemeiner Teil des Strafrechts

Zum strafrechtlichen Handlungsbegriff von Claus Roxin ALVARO BUNSTER

I. Die Beschäftigung von Claus Roxin - dem eminenten Strafrechtslehrer, an dessen akademischem Jubiläum wir uns mit diesem Beitrag gerne beteiligen möchten - mit Begriff und Aufgabe der strafrechtlichen Handlung scheint insbesondere auf seinen Aufsatz aus dem Jahr 1962 „Zur Kritik der finalen Handlungslehre" zurückzugehen. Darin hält er diejenigen strafrechtlichen Handlungsbegriffe für außerhalb des Strafrechts unverwendbar, die wie der „naturalistische", der „kausale" und der „soziale" Handlungsbegriff aus dem positiven Recht abgeleitet werden und höchstens eine Rolle bei der Zusammenfassung der für sämtliche Erscheinungsformen deliktischen Verhaltens gleichermaßen gültigen Merkmale beanspruchen können. Aber auch im Bereich des Strafrechts habe der Handlungsbegriff keine praktische und auch nur geringe theoretische Bedeutung. Sein Wert als Systemoberbegriff bestehe nur in seinem architektonisch-ästhetischen Charakter. 1 Andererseits dürfte es wohl bekannt sein, dass, in Bezug auf den von der finalen Handlungslehre kreierten ontologischen Handlungsbegriff, eine zentrale These der zitierten Abhandlung — wie Roxin selbst später meinte - in der „Unergiebigkeit des finalen Handlungsbegriffs (wie überhaupt jedes Handlungsbegriffs) für Fragen nach dem O b und Wie der Strafbarkeit" bestand. 2 Sechs Jahre danach, in seinem Beitrag zur Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, hat Roxin einen Handlungsbegriff vorgeschlagen, wonach „alles, was sich einem Menschen als Person, d. h., als geistiges Aktionszentrum zuordnen läßt, sei es, daß er es willentlich getan oder gelassen hat, sei es, daß er es wenigstens hätte tun oder lassen sollen", als Handlung gelten kann. 3 Es ist fraglich, ob Roxin der Handlung schon damals eine systematische Stellung innerhalb der Verbrechenslehre eingeräumt hat. 4 Sicher aber ist, dass jener Handlungsbegriff, wie Roxin selbst zugesteht, fast wortwörtlich denjenigen wiedergibt, den er als „funktionsgerechten" Handlungsbegriff in seinem 1991 erstmals erschienen Lehrbuch (das nun in dritter Auf1 2 3 4

Roxin ZStW 74 (1962), 515, 520. Roxin Strafrecht AT I, '1991, § 8 Rn. 24. Roxin GS für Radbruch, 1968, 262. Marinucci II reato como „azione", 1971, 6 Fn. 14.

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läge vorliegt) darlegt. Danach wird Handlung als „Persönlichkeitsäußerung" verstanden, d. h., Handlung ist „zunächst einmal alles, was sich einem Menschen als seelisch-geistiges Aktionszentrum zuordnen läßt." 5 Dieser Handlungsbegriff darf nunmehr als bestätigt angesehen werden, da unser Autor, nach unzähligen Abhandlungen zu den verschiedensten Inhalten der Verbrechenslehre, die Darstellung des Strafrechtssystems am Rande von gegebenen ontologischen Realitäten, aber von Zwecken geleitet, in seinem Gesamtwerk abgeschlossen hat. Es handelt sich um einen spezifisch strafrechtlichen Gesichtspunkt, der sich auf die kriminalpolitischen Grundlagen der modernen Lehre von den Strafzwecken stützt. Und dadurch, dass sich nach dieser Auffassung die Voraussetzungen der Strafbarkeit an den Zwecken des Strafrechts und der Strafe orientieren sollen, stellen sich die Grundkategorien des Verbrechens (Handlung, Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld) als Instrumente kriminalpolitischer Wertung dar und sind als solche für ein teleologisches System unverzichtbar. 6 Gleichzeitig verschwindet der Negativismus früherer Schriften bezüglich des Handlungsbegriffs. Und obwohl Roxin noch 1997 behauptet, dass kein Handlungsbegriff imstande sei, konkrete Fragen nach dem Ob und Wie der Strafbarkeit zu lösen, 7 lässt sich die Handlung in Wahrheit derart in der Dogmatik nieder, als sei diese wieder geneigt, ihr die Bedeutung eines Oberbegriffs mit den überkommenen Aufgaben zuzuerkennen. Damit läuft die Handlung nicht mehr Gefahr, an den Fundamenten der Verbrechenslehre durch ihr Aufgehen im Tatbestand ersetzt zu werden. Im folgenden versuche ich, einige Betrachtungen zu bestimmten allgemeinen Merkmalen dieser begrifflichen und systematischen Konstruktion zu entwikkeln.

II. Roxin versucht, den genannten Handlungsbegriff mit größter Sorgfalt und Präzision zu definieren. Ausgangspunkt ist für ihn der meistverbreitete Handlungsbegriff. Danach ist Handlung ein bedeutsames, in der Außenwelt stattfindendes menschliches Verhalten, das durch den Willen beherrscht oder zumindest beherrschbar ist. 8 Roxin wendet sich nicht vom Willen ab. Er erwähnt ihn sogar gelegentlich im Zusammenhang mit der Handlung und dem Bewusstsein. 9 Zwei grundlegende Aussagen legen Zeugnis von seiner eigenen Auffassung ab: Nach der ersten Aussage handelt ein Mensch immer, wenn gewisse Wirkungen, die von ihm ausgehen oder auch nicht, ihm als Person, d. h. als seelisch-geistigem Aktionszentrum, zugerechnet werden, so dass von einem 5

Roxin Roxin 7 Roxin 8 Roxin 9 Roxin 6

Strafrecht AT I, 31997, § 8 Rn. 44. (Fn. 5), § 7 Rn. 53. (Fn. 5), § 8 Rn. 25. (Fn. 5), § 7 Rn. 5. (Fn. 5), § 8 Rn. 44.

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„Tun" oder einem „Unterlassen" und damit von einer Persönlichkeitsäußerung gesprochen werden kann; 10 nach der zweiten Aussage ist eine Handlung als Persönlichkeitsäußerung alles, was sich einem Menschen als seelisch-geistigem Aktionszentrum zuordnen lässt.11 Zu beiden Aussagen kommt die Vorstellung einer Projektion in die Außenwelt hinzu. Die allgemeine Darstellung der Handlung im positiven Sinne, d. h. als Persönlichkeitsäußerung, ergibt sich daraus, dass alles, was nach allgemeinem Konsens nicht als Handlung erscheint, ausgegrenzt wird. 12 Das bedeutet: alles, was auf dieser geistig-seelischen Ebene entsteht, ohne Projektion in die Außenwelt zu erlangen, und alles, was vom Subjekt äußerlich ausgeht und nicht seinen Ursprung in dieser Ebene hat. Um die Reichweite der positiven Aussagen zu klären - anhand von negativen Zuständen wäre eine solche Klärung weit schwieriger - , spart unser Autor an verschiedenen Stellen seiner Darstellung nicht mit erschöpfenden Hinweisen auf Fälle, die seiner Meinung nach durch das Fehlen einer Handlung gekennzeichnet sind: a) das Wirken des Körpers nur als mechanische Masse; b) Reflexbewegungen, Automatismen, Krampfanfälle; c) Wirkungen, die von Tieren ausgehen; d) Akte juristischer Personen; und schließlich e) bloße Gedanken, Gemütszustände und andere Einstellungen und Affekte, die in der Innensphäre bleiben.

III. Offensichtlich erlauben Roxins Aussagen die Unterscheidung zwischen einer Ebene, die das geistig-seelische Zentrum des Subjekts bildet, und einer Äußerung oder Projektion in die Außenwelt, die in jener Ebene gründet. Auf erstere beziehen sich unmittelbar Ausdrücke wie das „Ich", die „seelischgeistige Steuerungsinstanz des Menschen", das „Zentrum", die „Schicht", die „Instanz" oder die „seelisch-geistige Sphäre" der Handlung, wo diese als ein in der Außenwelt bedeutsames Verhalten entsteht und durch Bewusstsein und Willen beherrscht oder beherrschbar ist. Andererseits wird die Projektion in die Außenwelt nicht durch solche Synonymenvielfalt umschrieben. Das scheint davon herzurühren, dass Roxin möglichst vermeiden möchte, eine solche Projektion durch Ausdrücke wie „körperliche Bewegung" oder andere, die dem Zusammenhang gleich fremd oder noch fremder sind, konkret werden zu lassen. Er benutzt ausnahmsweise Ausdrücke wie „Handlung" und „Verhalten". Dagegen bevorzugt er offenbar Ausdrücke wie „Geschehen" und „Wirkungen". Es scheint uns, dass all das in der Absicht geschieht, jeden terminologischen Kompromiss zu vermeiden, der den „personalen" Handlungsbegriff unbrauchbar machen oder auf dessen Unterlassungsform unanwendbar sein könnte. Dabei wird noch nicht beachtet, dass in diesem Aussagengeflecht, das 10 11 12

Roxin (Fn. 5), § 7 Rn. 54. Roxin (Fn. 5), § 8 Rn. 44. Roxin (Fn. 5), § 8 Rn. 46.

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schlechthin als normativ gesehen wird, kein Interesse oder kein Hinweis auf irgendein Substrat enthalten ist. Wird diese Zäsur zwischen geistig-seelischem Zentrum und Außenwelterscheinung anerkannt, kann die Frage gestellt werden: Was ist das eine, und was ist die andere? Zunächst das geistig-seelische Zentrum. In diesem Bereich besitzt Roxins Auffassung große Bedeutung und höchste Relevanz. Dort werden die Handlung selbst und deren Konnotation als Persönlichkeitsäußerung aufeinander bezogen. Dieses geistig-seelische Zentrum erhebt sich über die bloße „körperliche (somatische) Sphäre" des Menschen, über den stofflichen, den vitalen und den animalischen Seinsbereich, in dem Sinne, dass Wirkungen, die nur diesem Bereich entstammen, nicht als Handlungen gelten können. Es ist in jenem Zentrum und nicht in der körperlichen Sphäre des Menschen, wo die Handlung als durch den Willen beherrschtes oder zumindest beherrschbares Phänomen erzeugt wird. Alles, was aus der körperlichen (somatischen) Sphäre des Menschen in Richtung auf die Außenweltgeschehnisse hervorgeht, verdient dagegen den Namen „Handlung" nicht. Die Handlung eines Subjekts erscheint als die Seine, eine Vorstellung die nicht weit entfernt ist von der Hegeischen Zurechnung als das, was von einem Agenten in einem Verhalten als eigen anerkannt werden kann, 13 und auch nicht von dem Belingschen Handlungsbegriff als Lebensereignis, wo der Mensch als Herr seines Körpers erscheint.14 Jedoch kann man schwerlich von etwas als jemandem gehörend reden, besonders da es nicht um eine Sache, sondern um eine dynamische Erscheinung geht, wenn wir nicht den Willen als deren Steuerungskraft und als deren psychologische Grundlage begreifen könnten. Und der Wille, den Roxin, wie gesagt, möglichst zu erwähnen vermeidet, gründet auf das „Ich" als geistig-seelische Steuerungsinstanz des Menschen, falls wir nicht beide überhaupt miteinander gleichsetzen sollten. Hätte der Autor die Absicht, hier eine feine Unterscheidung zu machen, dann könnte ein solcher Unterschied die Chancen des Handlungsbegriffs erhöhen, mit Erfolg die großen Hindernisse zu überwinden, die ihm, aus der Perspektive des Willens, inter alia zumindest die fahrlässigen Taten, die Unterlassungstaten und die Taten aus Vergessen in den Weg legen. Und was kann über die Handlung selbst gesagt werden, die aus dem Bereich hervorgeht, wo der Wille beherbergt ist? Wahrlich wenig. Unser Autor hat einen gewaltigen Versuch unternommen, seinen Handlungsbegriff von jeder „Körperlichkeit" freizuhalten. Das zeigt sich zunächst an den Ausdrücken, die die Handlung umschreiben: „Geschehnisse", „Wirkungen", „das, was aus (etwas) hervorgeht ...". Gewiß, dabei wird eine klare und unterscheidbare Bezeichnung vermieden. Es bleibt seltsamerweise wieder nur die Vorstellung einer Äußerung oder Projektion in die „Geschehnisse" der Außenwelt, d. h., die bloße Idee einer Äußerung. Damit können wir überhaupt nicht wissen, was in dieser Äußerung verkörpert ist oder worin sie besteht. Wir hatten oben ange13 14

Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 3. Aufl., Zusatz zum § 115. Beling Lehre vom Verbrechen, 1930, 14.

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deutet, dass die Verwendung einer ausweichenden Sprache, fast einer NichtSprache, uns jedes Kriteriums entzieht, an dem wir die Handlung wiedererkennen könnten. Das erweckt bei uns den Gedanken, dass solche Ausdrücke vermieden werden sollen, deren spätere Anwendung auf die Unterlassungstaten unmöglich sein könnte. Der beharrliche Hinweis auf das „Persönliche" in der Handlung könnte uns hier bei der Analyse dieser Frage weiterhelfen.

IV. Wir glauben, unserem Autor beim Zusammenbau eines Gefüges gefolgt zu sein, das er sicherlich immer für sehr fest gehalten hat und dessen begriffliche Stücke bisher die folgenden sind: das geistig-seelische Zentrum, wo wir den Sitz des Willens zu sehen dachten, und seine Äußerung auf die Prozesse der Außenwelt, wo wir versuchen, eine Handlung festzumachen, die uns aber aus dem Wege geht und die sich wie ein fast nicht greifbares Wesen auflöst. Wie und warum wird diese Handlungsstruktur, deren Umrisse eindeutig schienen, von der Persönlichkeitsäußerung umgeben, damit sie ihre richtige und eindeutige juristische Bedeutung erlangt? Die Handlung wurde schon als ein Ergebnis des Bewusstseins und des Willens dargestellt. Als solches geht sie aus dem geistig-seelischen Zentrum des Menschen hervor und wird auf die Außenwelt projiziert. Wird die Handlung nicht nur als Persönlichkeitsäußerung gekennzeichnet, sondern wird ihr ferner eine normative Modulation zuerkannt, müssen wir noch ergründen, worin diese besteht. Danach müssen wir erforschen, ob im vorgeschlagenen Handlungsbegriff nicht schon genug Normativität enthalten ist, um noch einen weiteren Nutzen aus der Normativität der „Persönlichkeitsäußerung" ziehen zu können. Anhand der der Handlung gewidmeten Seiten des Lehrbuchs wird die Persönlichkeitsäußerung in verschiedenartigen Episoden gegenwärtig (Handlungen in Affektzuständen, Unterlassungen, Taten aus Vergessen, Fahrlässigkeitsdelikte und andere). Weder dort noch in dem der Handlungslehre gewidmeten Text wird diese Implikation des Personalen differenziert oder anders begründet als durch ihren Ursprung in der Steuerungsinstanz des „Ich". Auch werden keine Elemente geliefert, die es erlauben würden, in dieser „geäußerten" Persönlichkeit etwas anderes zu sehen als Individualität, Ursprung der Handlung in der Intimsphäre eines jeden und, in diesem Sinne, Authentizität und Echtheit. Freilich gab es in der deutschen Strafrechtswissenschaft vor Roxin mehr als Anzeichen eines „personalen" Handlungsbegriffs. In seinem Lehrbuch15 erinnert Roxin selbst an die „Personale Handlungslehre", die Arthur Kaufmann16 noch vor dem Beitrag Roxins zur Gedächtnisschrift für Radbruch veröffentlichte. Roxin folgt nicht Kaufmanns ontologischem Begriff, den er für „zu eng" 15 16

Roxin (Fn. 5), § 8 Rn. 46, 47. Arthur Kaufmann FS für H. Mayer, 1966, 79 ff, 101.

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hält, da Kaufmann den Begriff der „personalen" Handlung sehr eng mit der „Freiheit" 17 verknüpft hat. Jedoch sei in Wahrheit gesagt, dass Kaufmanns Versuch zunächst den Wert hat, eine Intuition des „Personalen" in der Handlung anzuregen, die etwa in Aussagen wie die folgende mündet: „Personhaftigkeit heißt Fähigkeit zum geistigen Selbstbewusstsein und der daraus resultierenden Selbstverfügung - wohlgemerkt: Fähigkeit, Potenz, latente Anlage zur geistigen Selbstverfügung, nicht notwendig das tatsächliche Vorhandensein; auch das unmündige Kind und der Geisteskranke sind Person." 18 Bis hierhin bleibt eine solche Aussage sehr annehmbar innerhalb des Begriffsbereichs der Handlung und der Sicht derselben als „personal". Jedoch schließt sie sich gleich einer etwas längeren Aussage an, die entschlossen in einen anderen Bereich vordringt, in den der Verantwortung. Für Kaufmann könnte dieses Gleiten niemals eine Entgleisung sein, da er an derselben Stelle die Handlung im Wesentlichen als „verantwortliche, sinnhafte Gestaltung der Wirklichkeit mit vom Willen beherrschbaren (dem Handeln zurechenbaren) kausalen Folgen (im weitesten Sinne)" definiert. 19 Dagegen ist das für Roxin, wie gesagt, ein Grund für heftigen Widerspruch, aufgrund seiner Sorge - vermuten wir - , in den Begriff der menschlichen Handlung könnten Geschehnisse aufgenommen werden, die sich „unterhalb" des Willens zu befinden scheinen. Nicht im Aufsatz, der dem Gedächtnis Radbruchs gewidmet ist, sondern dreizehn Jahre später, in seinem Lehrbuch, nennt Roxin Rudolphi unter jenen, die eine Auffassung vertreten, die seiner eigenen Meinung nahe ist. Bei der Behandlung des menschlichen Handelns „als Gegenstand strafrechtlicher Normen" behauptet Rudolphi, dass, wenn das Strafrecht nur durch Verbot oder Gebot menschlicher Handlungen das ihm gesetzte Ziel, sozialschädliche Erfolge zu vermeiden, erfüllen kann, Gegenstand strafrechtlicher Gebots- oder Verbotsnormen stets die Vornahme bzw. das Unterlassen menschlicher Handlungen sei. Infolgedessen setze ein Delikt entweder die Vornahme oder das Unterlassen einer sozialschädlichen Handlung voraus: Handeln und Unterlassen seien die zwei Grundmöglichkeiten strafbaren Verhaltens. Gewiß, wie es Radbruch gezeigt hat - fährt Rudolphi fort - , in der ontischen Ebene wiesen Handeln und Unterlassen keine Gemeinsamkeiten auf; sie stünden sich als a und non-a gegenüber und ließen sich bei ontologischer Betrachtung nicht unter einem gemeinsamen Oberbegriff vereinen. Jedoch könnten sie unter einem Gesichtspunkt wertender Art auf einen solchen Oberbegriff zurückgeführt werden, wenn man bedenke, dass Gegenstand einer Norm nur sein könne, etwas zu unterlassen oder zu realisieren, Gegenstand von strafrechtlichen Verboten und Geboten also stets nur das Menschenmögliche sei. „Unter diesem Aspekt betrachtet setzt jedes Verbrechen, sei es nun Begehungs- oder Unterlassungsverbrechen, zuallererst voraus, daß es von einem Menschen in der konkreten Situation beherrschbar gedacht werden kann. Anders formuliert besagt dies,

17 18 19

Arthur Kaufmann (Fn. 16), aaO. Arthur Kaufmann (Fn. 16), 116. Zit. bei Roxin (Fn. 5), § 8 Rn. 46.

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daß jedes Verbrechen ein personal zurechenbares Verhalten voraussetzt, sich also sowohl menschliches Handeln als auch menschliches Unterlassen unter dem Begriff des personal zurechenbaren Verhaltens zusammenfassen lassen." 20 Im Prinzip würde Roxin der wörtlich wiedergegebenen Textstelle kaum widersprechen, da hier eine kohärente und klare Begründung der als „personal" verstandenen Handlung dargelegt wird, die seinem Denken viel näher steht als Arthur Kaufmanns Handlungsbegriff. Das bedeutet aber nicht, dass Rudolphi und Roxin ganz einer Meinung sind bezüglich der umfassenden Problematik der strafrechtlichen Handlung. Während für Kaufmann der Begriff der „personalen" Handlung ontologisch verstanden werden muss und die Idee der Freiheit mit sich bringt und für Rudolphi jedes Verbrechen ein Verhalten voraussetzt, das im Begriff der personalen Zurechenbarkeit besteht, der nicht auf den Menschen in seiner jeweiligen Individualität, sondern allein seiner allgemeinen Natur nach als zur Selbstbestimmung und Beherrschung des Kausalgeschehens fähiges, vernünftiges "Wesen verweist, wird Roxins Handlungsbegriff entschlossen als normativ dargestellt. Seiner Meinung nach besteht eine solche Normativität weder per se im seelisch-geistigen Zentrum, aus dem sie stammt, noch in der Handlung selbst, sondern in der von ihm so bezeichneten „Persönlichkeitsäußerung". Roxin hat diesen Begriff der „Persönlichkeitsäußerung" nicht in seiner soweit wir wissen - ersten systematischen Betrachtung zum strafrechtlichen Handlungsbegriff geprägt, sondern in seinen Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Rechtsidee und Rechtsstoff, mit denen er Radbruchs Gedächtnis ehrt. Mittels eines feinen akademischen Spiels nimmt er die elegante methodologische Frage auf, die der Rechtsphilosoph und Strafrechtler in unübertrefflicher Weise aufgeworfen hatte: „Wie die künstlerische Idee sich dem Material bequemt, eine andere ist, wenn sie in Bronce, eine andere, wenn sie in Marmor sich verkörpern will, so ist es jeder Idee eingeboren, materialgerecht zu sein. Wir nennen dies Verhältnis die Stoffbestimmtheit der Idee, indem wir uns den Doppelsinn dieser Bezeichnung - durch den Stoff bestimmt, weil für den Stoff bestimmt - bewusst zu eigen machen, und wir bezeichnen die Idee, insofern wir sie vor aller und unabhängig von aller Stoffbestimmtheit zu denken suchen, die reine Form der Idee."21 Roxin hat den Rahmen dieser dialektischen Spannung gewählt, um uns zum ersten Mal seine Sicht der Handlung als „personal", vom Gesichtspunkt der personalen Zurechenbarkeit verstanden, vorzuführen. Die Persönlichkeitsäußerung wird dabei noch nicht erwähnt; höchstens wird die Person als ideales Kriterium gesehen, um die Handlung so zu begreifen, wie sie in der gleich gelieferten Definition auftritt: „alles was sich einem Menschen als Person ..." Der Gegenstand dieses Urteils, zusammen mit seinem wertenden Prädikat, das nach Roxin personal zurechenbares Verhalten genannt werden kann, könnte daher je nach Material sehr verschiedenartig sein, z. B. SK-StGB-Rudolphi (August 1999), Vor § 1 Rn. 17, 18. Radbruch Rechtsidee und Rechtsstoff, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1923/1924, 343. 20 21

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im Fall einer vorsätzlichen Tat gegenüber einem fahrlässig unbewussten Unterlassen. „Die Einheit dessen, was wir im Strafrecht eine ,Handlung' nennen, läge nicht im Material (der ,Willkürlichkeit', der ,Kausalität' oder worin immer), sondern im Normativen, im geistigen Band." 22

V. Versuchen wir jetzt, den Sinn der „Persönlichkeitsäußerung" anhand des von Roxin selbst gelieferten begrifflichen Materials zu erläutern. Erstens: Seine besondere Empfindsamkeit gegenüber der „Normativierungstendenz" der Begriffe - eine der modernen Dogmatik eigentümliche Eigenschaft - bewegt ihn dazu, in seinem Lehrbuch die Persönlichkeitsäußerung als Kern des Handlungsbegriffs anzusehen. Jener wird normativer Charakter zuerkannt, da sie - seiner Meinung nach - von vornherein den entscheidenden Wertungsaspekt darstellt, um den es bei der Analyse der Handlung geht.23 Zweitens: Er definiert die Einheit der Handlung nicht als etwas empirisch vorhandenes (sei es die Kausalität, das willkürliche Verhalten oder die Finalität), das die Grundlage jeglicher Äußerung strafbaren Verhaltens bildet, sondern aufgrund der Identität des Wertungsaspekts, der darin besteht, dass die Handlung letztlich „Persönlichkeitsäußerung" ist, da die Wirkungen des Handelns oder Unterlassens dem Subjekt selbst als Person, als geistig-seelischem Zentrum, zugerechnet werden.24 Drittens verzichtet Roxin darauf, in jeglichen Äußerungen deliktischen Verhaltens eine begriffliche Gemeinsamkeit, etwa in der Einheit des materialen Substrats (Willkür, Körperlichkeit, Finalität, NichtVermeidung u. ä.) zu suchen.25 Da die Persönlichkeitsäußerung in sehr verschiedenen Formen auftreten kann, finden diese ihre Gemeinsamkeit darin, dass sie der seelisch-geistigen Sphäre eines Menschen, seiner Persönlichkeit, zugerechnet werden können.26 Viertens weist der Autor darauf hin, dass die Persönlichkeitsäußerung noch keine Definition zu liefern vermag, aus der logisch hervorginge, was im konkreten Fall die Handlung sei, noch sei es eine Sammelbezeichnung für heterogene Sachverhalte, sondern ein Begriff, der alle „Objektivierungen der Persönlichkeit" meine und der allein in der Vielfalt seiner Erscheinungen das Phänomen der „Handlung" wiedererkennen lasse.27 An dem vorhin Gesagten lässt sich die Reichweite, im logischen Sinne, abmessen, die Roxin seinem Begriff der Persönlichkeitsäußerung zuerkennt. Bisher hatte dieser Begriff wahrlich keine andere Bedeutung vorzuweisen, die nicht als Synonym der Wesensmerkmale der Handlung als solche gelten könnte. Aber wir dürfen Roxins Gedankengang nicht aus den Augen verlieren. 22 23 24 25 26 27

Roxin Roxin Roxin Roxin Roxin Roxin

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

3), 5), 5), 5), 5), 5),

262. § 8 Rn. § 7 Rn. § 8 Rn. § 8 Rn. § 8 Rn.

73. 54. 74. 74. 50.

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Um den strafrechtlichen Handlungsbegriff präzise zu umschreiben, hat er nicht auf kausal-naturalistische, finale oder soziale Gesichtspunkte zurückgegriffen, sondern nur auf die von ihm genannten „personalen" Kriterien. Diese erscheinen in der jüngsten Entwicklungsphase seines Denkens zu diesem Thema unter der Bezeichnung „Persönlichkeitsäußerung". Roxin strebt danach, diesen im Wesentlichen normativen Gesichtspunkt sich über das materiale Substrat erheben zu sehen, auf dem er notwendigerweise beruht, und ihn eine solche Höhe erreichen zu sehen, dass er nicht mehr darauf angewiesen ist und sich vollkommen vom Substrat loslösen kann. Diese Sichtweise scheint vom Radbruchschen Widerspruch zwischen Idee und Stoff angeregt worden zu sein, ein Widerspruch, den Roxin dadurch zu lösen versucht, dass er die Idee über den Stoff, die Wertung über das Substrat, die „Persönlichkeitsäußerung" über die Tatsachen, Lagen und Zustände setzt, die, sagen wir, das Existentielle bilden.

VI. Mit der von ihm unternommenen Wertung, die aus seiner Sicht ihren höchsten und synthetischsten Ausdruck in der „Persönlichkeitsäußerung" findet, beabsichtigt unser Autor nicht die Verneinung der Existenz eines Substrats, auf das sie sich stützt. Er hat vielmehr behauptet, dass die Einheit der Handlung nicht durch etwas empirisch Vorhandenes definiert wird, sondern durch die Identität des Wertungsaspekts. Jedoch in einigen wichtigen Fällen von Nicht handlungen, von ihm selbst als solche gekennzeichnet, wird das Substrat eingehend analysiert und, wie später zu sehen ist, letztlich die Handlung als solche für nicht denkbar gehalten. In anderen Fällen, könnte man vermuten, wird die Existenz des Substrats zugegeben, aber nicht besonders in Bezug auf die Persönlichkeitsäußerung hervorgehoben, wie auch später gezeigt werden soll. Weder dem einen noch dem anderen entsprechen zwei Fälle von Nichthandlungen, die Roxin als solche diskutiert und die, unserer Meinung nach, nicht im Rahmen der Handlungslehre behandelt werden sollten, sondern bei der Theorie des Täters: die Handlungen von Tieren und die Akte juristischer Personen. Erstere sind lange nicht mehr Gegenstand eines Strafprozesses gewesen. Letztere ringen in Deutschland um Einlaß in den Bereich des Strafrechts, entgegen der absolut herrschenden Meinung von Rechtsprechung und Lehre. Sie würden nur als Delikte anerkannt werden, wenn es akzeptiert würde, dass neben den einem geistig-seelischen Zentrum entspringenden menschlichen Handlungen andere, aus dem Kollektivwesen hervorgehende Handlungen und als solche möglicher Gegenstand streng normativer Zurechenbarkeit die Schwellen der strafrechtlichen Handlungslehre überschreiten könnten, um folglich Gegenstand jener Diskussion zu werden, ob sich die jeweilige Wertung auf ein bestimmtes Substrat gründen soll. Wie gesagt, manchmal gelangt Roxin nach einer sorgfältigen Analyse zu einer bestimmten Wertung. Das geschieht bezüglich zweier wichtiger Gruppen von Nichthandlungen. Die erste Gruppe umfasst das menschliche Verhalten

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aus inneren Phänomenen wie Reflexbewegungen, Automatismen, Krampfanfällen. Die zweite Gruppe besteht in Wirkungen des Körpers als bloße mechanische Masse, welche durch Impulse oder Kräfte, manchmal ganz äußerer Natur, bewirkt werden, ohne dass Geist und Psyche in irgendeiner Weise beteiligt sind oder in das Geschehen einzugreifen Gelegenheit haben. Diese Dichotomie allein bedeutet schon ein Werturteil, zu dem unser Autor gelangt ist, angeregt von der Beobachtung einer weitreichenden Faktenvielfalt, wenn man bedenkt, dass in den Fällen von Nichthandlung der ersten Gruppe Reflexe, Automatismen, Taten in hochgradigem Affekt oder in sinnloser Trunkenheit einbezogen sind und in den Fällen der zweiten Gruppe Narkose, Bewegungen in hochgradigem Delirium, in tiefen Ohnmachtszuständen, epileptische Krampfanfälle, Blutungen und andere, nicht unterdrückbare physiologische Ergüsse und vis absoluta vorkommen. Letztlich gehen all diese Fälle auf ein faktisches Material zurück, das primär auf einer sehr vielfältigen und unüberschaubaren Kasuistik beruht. Der Ausgangspunkt des Autors ist eine sorgfältige Analyse dieser Kasuistik. Er stellt Betrachtungen vielfältiger Art an, bis er zu einer Wertung gelangt, wonach solche Geschehnisse keine Handlungen sind, sondern eine bloße Nachahmung, weil sie nicht vom „seelisch-geistigen Aktionszentrum" ausgehen; und damit ist es nicht geboten, dass das Recht sie als Regelungsgegenstand nimmt, da sie überhaupt keine Aufgabe erfüllen. Es ist also offenbar, dass sich Roxin nicht immer ganz vom Substrat abwendet, obwohl er ständig darauf besteht, es in eine untergeordnete Ebene bei der Bewertung eines Geschehens als Handlung oder Nichthandlung zurückzudrängen. Und es ist auch offensichtlich, dass man auch zum gleichen Schluss kommt, ohne auf die Persönlichkeitsäußerung zurückgreifen zu müssen, weil sie in diesem Zusammenhang eine überschießende Bedeutung besitzt. Das Substrat wird auch beim einzigen Fall von Nichthandlung nicht erwähnt, der noch zu behandeln ist unter den fünf Fallgruppen, die oben in Abschnitt II dieses Aufsatzes genannt werden, nämlich die Impulse oder Gedanken deliktischer Natur, die in der Innensphäre bleiben, ohne sich zu objektivieren oder zu äußern, und die in dem Satz cogitationis poenam nemo patitur einbezogen sein können. Im Zusammenhang der Nichthandlungsfälle erscheint die Erwähnung von bloßen inneren Inhalten des menschlichen Geistes als vollkommen überflüssig, da die Ausschließungsfunktion des strafrechtlichen Handlungsbegriffs sich gerade auf äußere menschliche Geschehnisse bezieht, die jedoch nicht als Handlungen bewertet werden können, und nicht auf ein Nichtgeschehen, das keine äußere Gestalt annimmt. Dies, ohne die schwierigen Probleme auszulassen, die die Reichweite dieses Satzes im Bereich der Unterlassungstaten bereitet.

VII. Aber nicht nur in Bezug auf die Nichthandlung ist es angebracht, über die Persönlichkeitsäußerung nachzudenken. Die Persönlichkeitsäußerung bezieht sich auf den ganzen Problemkreis der Handlung, da unser Autor entschlossen

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die Tendenz teilt, sie als Oberbegriff anzusehen, mit den Aufgaben, die ihr die heute herrschende Dogmatik zuerkennt. Deshalb ist seine Auffassung auf die Handlung im strengen Sinne als auch auf die Unterlassung gleich anwendbar, auf den vorsätzlichen wie auch auf den fahrlässigen Tatbestand, ein paar Binome, die Roxin in diesem Zusammenhang, einer weiteren Analyse nicht wert zu sein scheinen. Auch die unbewusst fahrlässige Unterlassung ist eine Persönlichkeitsäußerung, die dem Subjekt wegen, verbotswidrigen Normverstoßes als „sein Werk" zugerechnet werden kann. Könnte man es nicht, so ließe sich ihre Rechtswidrigkeit oder gar ihre Strafbarkeit nicht begründen. Auch wenn sich ein Umterlassungstäter durch schuldlose Unkenntnis der Norm in einem unüberwindlichen Verbotsirrtum befinden sollte, iist seine Unterlassung für Roxin eine Persönlichkeitsäußerung, obwohl sie strafrechtlich nicht vorwerfbar ist. 28 Sollten wir uns noch mit Substraten befassen, können diese bezüglich der Gegenüberstellung von Handlung und Unterlassung nicht einer gemeinsamen Gattung; angehören, weil es unmöglich ist, sie auf eine Einheitsklasse zurückzuführen. Es ist die Unterlassung, die diese Aufgabe unmöglich macht, obwohl hier nicht der Ort und die Gelegenheit ist, um eine Diskussion um ein Substrat für die Unterlassung zu eröffnen, das freilich mehr ist als eine einem bloßen Nichtstun gleichzeitige cogitatio. Eine solche geistige Übung hat vielfach zu keinem anderen Ergebnis geführt als zu der Aussage, dass sich die Unterlassung nicht auf eine bloße cogitatio reduzieren lässt. Roxin behandelt nicht den Unterlassungsbegriff und sein mögliches Substrat, wo er auch nicht hingehört. Jedoch erinnert er daran in verschleierter und indirekter Weise, wenn er in seinem Lehrbuch die Handlung (die Unterlassung einbezogen) als Verbindungselement diskutiert und zu folgendem Schluß kommt: „B'ei Begehungshandlungen braucht man weder auf die Kategorie des Sozialen noch auf die des Rechtlichen zurückzugreifen, um festzustellen, ob überhaupt eine Persönlichkeitsäußerung vorliegt; bei den meisten Unterlassungen ergibt sich dies immerhin schon aus der Einbeziehung der sozialen Sphäre; bei anderen aber ist sogar das rechtliche Gebot notwendige Bedingung für die Möglichkeit einer Persönlichkeitsäußerung."29 Was schließlich das Binom Vorsatz-Fahrlässigkeit'angeht, wurde schon beobachtet, dass unser Autor jegliche Aussage bezüglich der diskutierten Zurückführung des zweiten Gliedes auf den Willen vermeidet.

VIII. In diesem weiten, nicht näher definierten Bereich wird jeglicher Bezug oder jegliche Anspielung auf das Substrat, auf das sich die Wertung üblicherweise gründet, auf die Seite geschoben, und dem empirisch Vorhandenen wird ein Ort zugunsten der Identität des Wertungsaspekts abgesprochen. Das empirisch 28 29

Roxin (Fn. 5), § 8 Rn. 74. Roxin (Fn. 5), § 8 Rn. 55.

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Vorhandene - Roxin selbst behauptet es das gleichermaßen im strafbaren Verhalten vorkommt - die Kausalität, das willkürliche Verhalten, die Finalität - , ist jedoch nicht das, was die Handlung definiert. Die Handlung wird aber durch das gemeinsame Element der verschiedenen Handlungen definiert: dass sie alle der geistig-seelischen Sphäre des Menschen, seiner Persönlichkeit, zugerechnet werden, und wir vermuten, dass hier die Identität des Wertungsaspekts wiedererkannt werden soll. Es ist durchaus verständlich, dass die Persönlichkeitsäußerung nicht eine Definition dessen ist, was im konkreten Fall logischerweise als Handlung vorkommt, und dass diese Bezeichnung nicht ein Sammelbegriff ist für eine Vielfalt heterogener Begriffe. Was in Wahrheit damit gemeint sein soll, ist, nach Roxin, die Persönlichkeitsäußerung, die er - in einer Terminologie, die offensichtlich der von Kaufmann und Rudolphi analog ist - als einen Begriff kennzeichnet, der, „indem er alle ,Objektivationen der Persönlichkeit' bezeichnet, einen Maßstab liefert, der an der Wirklichkeit konkretisierend zu entfalten ist und der erst in der Fülle seiner Ausprägungen das Phänomen .Handlung' erkennen läßt." 30 Roxin hat sich um einen „personalen" Begriff der strafrechtlichen Handlung bemüht, der ohne Grenzen die Aufgaben erfüllt, die nach seinen Vorstellungen über das Strafrecht und die Strafe von einem solchen Begriff zu erwarten sein sollen. Er ist erfolgreich bei der Begründung seiner Funktionsfähigkeit als Ausgrenzungselement im Rahmen der Verbrechenslehre (andere Funktionen werden in diesem Aufsatz nicht behandelt). Dabei schreibt er dieser Funktionsfähigkeit denselben Sinn zu, der auch den wertenden Prädikaten der Handlung zuerkannt wird: Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Damit trägt er auch zur rationalen Festigung des strafrechtlichen Garantiensystems bei, das alles ausschließt, was keine Handlung ist. Gleichwohl gebührt ihm Zustimmung auf begrifflich-konstruktiver Ebene, dass er nicht von einem vorrechtlichen, sondern von einem normativen Handlungsbegriff ausgegangen ist, mit den damit zusammengehörenden Wertungen. Die Überlegungen, zu denen uns Roxins Handlungsbegriff als Ganzes anregt und von denen wir hier Zeugnis abgelegt haben, verleiten uns aber nicht zu der Überzeugung, dass die Herstellung eines adäquaten Instruments zur Lösung vieler Probleme, die ein solcher Begriff der Verbrechenslehre stellt, schon eine abgeschlossene Aufgabe wäre. Der Anfangsimpuls seiner Auffassung bezieht sich zunächst auf ein „in der Außenwelt bedeutsames menschliches Verhalten, das vom Willen beherrscht oder doch wenigstens beherrschbar ist." 31 Das bedeutet schlicht und einfach die Aufnahme des Willens mit den daraus folgenden Problemen zumindest im Bereich der Unterlassungstaten und der Fahrlässigkeit. Danach kommt die Sorge, die Unterlassung nicht aus dem Oberbegriff der Handlung auszuschließen, wahrscheinlich wegen des Unmerklichen und Unantastbaren an der Unterlassungsform einer Tat. Andererseits führt die lobenswerte Bemühung, jenen Oberbegriff in positiver Form darzu30 31

Roxin (Fn. 5), § 8 Rn. 74. Roxin (Fn. 5), § 7 Rn. 5.

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stellen, unfreiwillig dazu, glauben wir, ihn verschwimmen zu lassen und ihn als „Geschehen" oder „Wirkung" zu umschreiben, was nicht sehr angemessen zu sein scheint. Das ist aber nicht alles. Die Darstellung der Handlung in Roxins System entfaltet neben seiner Bemühung, einen positiv geladenen Begriff zu liefern, eine Vielzahl von Fällen von „Nichthandlung", deren heterogene Grundlage schon ein Grund für unsere Vorbehalte gewesen ist. Danach scheint die Tendenz unseres Autors, sich hinter einer Normativität zu verschanzen, die am Rande vom Fehlen eines Substrats entlanggeht, keine andere Erklärung zu haben als die Zurückführung dieser vielfältigen Tatbestände auf ein einziges Fundament. Damit wäre eine symmetrische Grundlage geschaffen, auf die sich ein Handlungsbegriff stützen könnte, der mit systematischer Fülle ausgestattet ist und der nicht von der Starrheit des Konkreten gehindert wird, wobei der triumphierende Einzug des Normativen in Gestalt der Identität des Wertungsaspekts nötig gemacht und ausgelöst wird. Im Dienste dieser Identität wird der Begriff der Persönlichkeitsäußerung geprägt. Trotz der von Roxin gelieferten Begriffsbestimmung können wir diesen Begriff nicht an dem Sinngehalt erkennen, den er ihm zuschreibt. Dagegen erkennen wir an diesem Begriff den eigentlichen und echten Ursprung der Handlung einer Person, indem sie in der bloßen Reichweite ihrer Individualität verstanden wird.

Die Sinndeutung der Handlung CHRISTOS DEDES

I. Einleitung Der Handlungsbegriff ist für das Strafrecht von grundlegender Bedeutung, nicht nur aus systematischen Gründen, 1 sondern, und hauptsächlich, weil Strafe Schuld-Verantwortung bzw. Zurechnung 2 voraussetzt. Schuld-Verantwortung setzen wiederum ein handelndes Subjekt 3 voraus. Wie nun der Handlungsbegriff definiert werden kann, ist bekanntlich ein Feld von heftigen Diskussionen, in denen sich nicht nur strafrechtliche, sondern auch philosophische, politische, soziologische etc. Auffassungen streiten. 4 Die Auseinandersetzung hält immer noch an, ohne daß ein bevorstehendes Ende sichtbar gemacht werden kann. Man kann nur eine gewisse Tendenz feststellen: Zur Uberwindung von monistischen oder sonst absoluten Positionen versucht man Auffassungen und Gedanken aufzustellen, die entweder abstrakt oder elastisch 5 sind oder als eine Synthese bezeichnet werden können, so daß die Lösung der Probleme nicht einzig oder zwingend zu sein braucht. 6

II. Die gesellschaftliche D e u t u n g d u r c h

Jakobs

1. Der Handlungsbegriff der finalen Handlungslehre stützt sich hauptsächlich auf den individuell-anthropologischen Teil des Geschehens, weil der Sinnausdruck auf den Sinn des handelnden Subjekts gegründet wird. Die finale Handlungslehre setzt individuell-psychisches Faktum und sozialen Sinn in eins. 7 Diese Ausgangsposition kann heute nicht mehr befriedigen, sagt Jakobs.8 „Stellungnahmen und Sinnausdrücke sind nur als kommunikative Vorgänge

Vgl. Armin Kaufmann FS für Wekel, 1974, 393 ff. Vgl, ¡Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 19, über die Begriffe der Persönlichkeitsäußerung und VerantworAichkeit. 3 Über die ¡Unterscheidung Subjekt und Person, Jakobs ZStW 107 (1995), 859 ff. 4 Roxin (Fn. 2), § 8. 5 Roxin (Bn. 2), § 8 II, III: „Die Hanllungsbegriffe zeigen ein gemeinsames ... sie sind normativ." Vgl. auch Jakobs Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, 12, 29 f, 42. 6 Ü b e r die Vorzüge und Gefahren des Systemdenkeiis Roxin (Fn. 2), § 7 Rn. 31 ff. "Jakob* (I-n. 5), 36. 8 Jakobs (Fn. 5), 27. 1

2

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Christos Dedes

begreifbar, bei denen es nicht nur auf den Horizont des Ausdrückenden, sondern auch auf denjenigen des Empfängers ankommt". Der Handlungsbegriff der finalen Handlungslehre vernachlässige also die gesellschaftliche Deutung des Vorgangs.9 Welzel hat diese Probleme erkannt und mit der Einbeziehung der Nebenfolgen diese Fälle mit dem Verhalten des Handelnden zu vereinigen versucht. Die Inanspruchnahme der „sozialen Adäquanz" und die „kybernetische Betrachtungsweise" zeigen deutlich sein Bestreben, von der engen Konturengrenze der individuellen Finalität, der Finalität des handelnden Subjekts, auf weitere und breitere Stützpunkte überzugehen. Seine Ausgangsposition über die ontologische Struktur des Handlungsbegriffs hat ihm diesen Weg jedoch letztlich verbaut. Gesellschaftliche Deutung als objektive oder äußere oder rollenverknüpfende Deutung bringt andererseits die Gefahr mit sich, eine ganz fremde oder autoritäre Deutung zu geben. Die Mehrheit oder der Machtinhaber kann die objektivierende Äußerung des Verhaltens nach Belieben interpretieren. Diese Gefahr wird nicht ausgeräumt, wenn man sagt, daß die funktionale Sicht auf kein bestimmtes Modell festgelegt sei,10 oder wenn man zugesteht, daß der objektive Maßstab den Sinn einer inneren Einstellung gibt. Denn wenn man das Verhalten nach dem mutmaßlichen subjektiven Sinn interpretiert, weil die Subjektivität eines Menschen ... einem anderen nie direkt zugänglich ist und isoliert genommen jedes Verhalten mehrdeutig ist, dann bildet der mutmaßliche subjektive Sinn keine Größe oder Garantie für die richtige Interpretation des Verhaltens. Wenn man ein aktuelles Verhalten eines anderen ... nach dem mutmaßlichen subjektiven Sinn interpretieren will,11 dann sollen die Akteure und alle anderen Beteiligten nicht als Person, d. h. als das, was sie rechtlich zu sein haben,12 sondern als Individuen mit höchst unterschiedlichen Intentionen und Präferenzen genommen werden. Daß es sich stets nur um die Vermutung der subjektiven Seite handelt, darf nicht zum Ergebnis führen, daß eine rechtlich garantierte Erwartung nicht durch ein individuelles, sondern nur durch ein objektives Fehlverhalten enttäuscht werden könne.13 Die Vermutung des subjektiven Sinnesausdrucks wird dann lediglich durch die Vermutung eines rechtlich fehlerhaften Sinnesausdrucks ersetzt.14

9 Vgl- Jakobs (Fn. 3), 843 ff, 852. Charakteristisch ist die Anlehnung an die Auffassung von Lubmann: „Subjektivität ist nicht nur Voraussetzung für, sondern auch Folge von Gesellschaftlichkeit." Der Satz „Ohne verbindliche objektive Welt gibt es keine Subjektivität und umgekehrt" geht mir zu weit. So auch der Satz „Ohne kommunikativen Prozeß entstehen keine freien Subjekte" (851) und „Ohne funktionierende Gesellschaft fehlt es an den empirischen Bedingungen von Subjektivität" (aaO). 10 Jakobs (Fn. 3), 853. 11 Jakobs (Fn. 3), 860. 12 Jakobs (Fn. 3), 860. 13 Jakobs (Fn. 3), 861. 14 Jakobs (Fn. 3), 864.

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2. Handeln heißt, individuell vermeidbar maßgeblicher Grund eines Erfolges werden, sagt Jakobs.15 Die Definition braucht weitere Erläuterungen, die man bei den weiteren Ausführungen über die Begriffe „individuell" und „vermeidbar" finden kann.

a) Was den Begriff des „individuellen" betrifft, findet man folgendes: Die Erwartung zur Normbefolgung richte sich nicht auf das Verhalten eines Menschen „wie er wirklich ist", sondern „wie er sein soll". Der Mensch wird „als perfekter Bürger" angesehen 16 . b) Was den Begriff der „Vermeidbarkeit" betrifft, solle man sich folgendes vor Augen halten: „Im Ansatz ist die Vermeidbarkeit überhaupt nicht individuell, sondern objektiv". Man versteht ihn als das, „was er als perfekter Bürger" vermeiden 17 würde 1 8 .

III. Die weiteren Konsequenzen 1. Ubertragen auf die vorsätzlichen und fahrlässigen Delikte, führen diese Gedanken zu folgenden Ergebnissen: Vorsatz und individuelle Fahrlässigkeit sind ... das in die Wirklichkeit des Individuellen verlängerte objektive, nach dem Maßstab des guten Bürgers bestimmte Defizit an Normbefolgungsmotivation. Vorsatz und Fahrlässigkeit begründen das Unrecht nicht als individualpsychische Fakten, sondern als am Individuum erscheinender Ausdruck eines objektiv 1 9 bestimmten Fehlers. Das Subjektiv-Individuelle, der Vorsatz als psychisches Faktum, begründe also kein Unrecht, sondern indiziere nur einen objektiv bestimmten Mangel an Normbefolgungsmotivation. 2 0 Die ganze Handlungssteuerung habe überhaupt nur indizielle Bedeutung. Unrechtsträger sei dieses objektiv bestimmte Defizit. 2 1 2. Die Abstraktion von den realen Komponenten der subjektiven Seite des Verhaltens soll die gesellschaftliche Deutung des Vorgangs erleichtern, indem man keine feste Bindung, sondern nur eine Indizwirkung an die individuelle Sinndeutung anknüpft. Dies soll aber nicht bis zur Eliminierung jeder Wirkung dieser Elemente führen. 2 2 Diese Elemente, die nach älteren Lehren das Unrecht

15

Jakobs (Fn. 5), 33. Es kommt danach also nicht auf das Verhalten des Handelnden an, sondern auf das Verhalten eines Rollenträgers „perfekter Bürger" und auf den Maßstab des guten Bürgers. 17 Jakobs (Fn. 5), 39. 1 8 So wird auch das erlaubte Risiko bestimmt, siehe Jakobs Strafrecht AT, 2 1991, 7/47. 1 9 Uber die Objektivierung Jakobs (Fn. 5), 35 ff. 20 Jakobs (Fn. 5), 39. 21 Jakobs (Fn. 5), 39; ders. (Fn. 3), 884 ff. 2 2 So daß man sagen könnte, diese Elemente könnten als psychische Fakten kein Unrecht begründen. Vgl .Jakobs (Fn. 18), 6/24. Uber die Beziehung beider Teile Jakobs (aaO), 6/68. 16

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ausmachten und heute das Unrecht indizieren, sind - wenn sie nicht den endgültigen Sinn angeben - Material und Bestandteile des U n r e c h t s , 2 3 unabhängig davon, ob sie das Unrecht begründen oder indizieren. 2 4 D i e Soziologie sieht den Menschen als Rollenträger an. Seine subjektive Seite wird durch die Figur des Rollenträgers erfüllt bzw. ersetzt. Die gesellschaftliche Sinndeutung bezweifelt zwar die primäre Stellung der subjektiven Deutung, indem sie auch die des Empfängers und der Gesellschaft berücksichtigt, 2 5 kann aber die B e rücksichtigung der physischen oder psychischen Faktoren, die Individuen und Gesellschaft ausmachen, nicht ausschließen. 2 6 Insoweit können ontologische und vorgesellschaftliche Strukturen 2 7 des ganzen Vorgangs vom Unrechtsurteil nicht völlig ausgeklammert werden, 2 8 insbesondere wenn man die Handlung als Sinnausdruck eines Subjekts betrachtet und der Standard die Institute der objektiven Zurechnung neben und nicht statt der Individualisierung 2 9 bestimmt 3 0 . 3. Das Nichtanerkennen der Normgeltung, das das Unrecht ausmacht, verlange oder setze eine Objektivierung voraus, 3 1 und dies werde durch ein Verhalten manifestiert. Das Verhalten sei ein psychophysisches Ereignis, das objektiv zurechenbar, vermeidbar und schuldhaft sein soll, 3 2 um strafrechtliche F o l g e n 3 3 nach sich ziehen zu können. D a n n kann der Sinn des gesellschaftlichen Geschehens, die sogenannte gesellschaftliche Deutung vom Verhalten aber nicht als etwas ganz Gesondertes, Unabhängiges betrachtet werden. Wenn Verhalten ein psychophysisches Ereignis ist, 3 4 kann sein Sinn von seinen Ele-

23 So Roxin (Fn. 2), § 7 und § 8 Rn. 50 ff; Sckünemann in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, Coimbra-Symposium, 1995, 166 ff. 24 Dazu die Unterscheidung von Unrecht und Rechtswidrigkeit. 2 5 Sie wird als objektives gesellschaftliches Deutlingsschema bezeichnet, siehe Jakobs (Fn. 5), Vorwort. 2 6 Als Problem bleibt immer noch, wie die Verbindung der verschiedenen Sinndeutungen zu geschehen hat, siehe Jakobs (Fn. 18), 6/24-25. 27 Die gesellschaftliche Sinndeutung — die zwar primär objektiv ist - kann die subjektive Sinndeutung nicht völlig ignorieren. Denn die Bewertung eines Verhaltens - um den Sinn zu finden - ist Bewertung eines Verhaltens, vgl. Jakobs (Fn. 18), 6/24. 2 8 Natürliche oder vorrechtliche, siehe Jakobs FS für Welzel, 1974, 307 Anm. 10, sowie ders. (Fn. 5), 12: „Der Handlungsbegriff wird danach nicht vor der Gesellschaft gesucht, sondern in der Gesellschaft. Gesellschaft und Individuen haben und sind Seiende. In der Gesellschaft kann also nicht außer der Natur, der Onto.logie, der Gesellschaft heißen." 29 Jakobs (Fn. 5), 33, wenn die Beu rteilung den Beurteilungsgegenstand nicht konstituieren kann. Siehe ders. FS für Welkel (F n. 2&'), 309, und ders. (Fn. 18), 6/68, sowie ders. (Fn. 3), 843, über die Unterscheidung sozialer und | psychischer Systeme. 30 Uber die Differenzierung zwische 'n der Person als Rollenträger und Subjektivität Jakobs (Fn. 3), 859. 31 Jakobs (Fn. 5), 34f und ders. (Fn. i'8), 6/25.

32

Jakobs (Fn. 5), 45.

Denn strafrechtlich sei Handlung in imer nur und allenfalls etwas Sozialadäquates, Jakobs (Fn. 5), 45. 34 Vgl. Jakobs (Fn. 5), 41 über das U r teil und S. 45 über die Materialität des Handlungsbegriffs. 33

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menten oder Faktoren nicht ganz unabhängig betrachtet werden. Physis, Gesellschaft und Psyche35 sind Faktoren des Lebens, Faktoren der Vorgänge und deswegen Elemente der gesellschaftlichen Deutung. Die Bewertung eines Verhaltens soll alle diese Faktoren inkorporieren. 36 Die erbrachte oder nicht erbrachte Handlungssteuerung bildet das reale Substrat der Bewertung des Unrechts. Sie kann als Steuerung des Täters 37 oder eines perfekten Bürgers 38 betrachtet werden. Die Deutung der Steuerung39 ändert nichts an der Tatsache, daß es sich um eine Steuerung handelt, die ein psychophysisches Ereignis 40 darstellt.41

IV. Die Individualisierung des Unrechtsurteils 1. Um zum Handlungsbegriff zurückzukommen: „Die individuell vermeidbare Erfolgsverursachung ist der Oberbegriff für vorsätzliches und fahrlässiges Handeln. Die Erkenntnis des Verhaltensvollzugs und gegebenenfalls seiner Folgen (bei Vorsatz) oder die individuelle Erkennbarkeit (bei Fahrlässigkeit)42 gehören als Bedingungen der Vermeidung zur Handlung und damit zum Unrecht", sagt Jakobs.43 Dieser Handlungsbegriff sieht die individuelle Erkennbarkeit als Bedingung der Vermeidbarkeit und deswegen als Bedingung der Handlung an. „Individuell" bezeichnet aber, wenn man den Menschen als Person ansieht, nicht das Verhalten eines Menschen, „wie er wirklich ist", sondern „wie er sein soll". Die Vermeidbarkeit wird wiederum objektiv bestimmt, 44 aber die objektive

35 Es gibt aber Fälle, in denen ein psychisches Substrat fehlt, Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 35. Vgl. Roxin (Fn. 2), § 7 Rn. 21, und ders. GS für Armin Kaufmann, 1989, 250. 36 Der Standard bestimmt Institute der objektiven Zurechnung neben und nicht statt der Individualisierung Jakobs (Fn. 18), 6/24. 37 Jakobs (Fn. 18), 6/25. 38 Jakobs (Fn. 5), 39 und ders. (Fn. 18), 6/25. 39 Denn es kommt nicht auf das Faktum der Kybernetik, sondern auf die Bedeutung der Steuerung an, Jakobs (Fn. 5), 25. Vgl. Jakobs (aaO), 33 Anm. 34: „die Handlungsfähigkeit ist die Basis, dem Handelnden einen Erfolg zuzurechnen, worauf Armin Kaufmann hingewiesen hat." 40 Man soll reales und gebotenes Handeln gegenüberstellen, Stratenwerth Strafrecht AT I, 3 1981, Rn. 148. Vgl. Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 26, nach dem der Mangel an Handlungssteuerung das Unrecht mitkonstituiert. 41 Vgl. Jakobs (Fn. 18), 6/25: „Die Handlungssteuerung ist durchgehend nach den individuellen Fähigkeiten des Täters zu bestimmen." Ferner Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 39: Die soziale Relevanz ist eine Eigenschaft, die eine Handlung haben oder nicht haben kann. Fehlt sie, so entfällt nicht die Handlung, sondern nur ihre soziale Bedeutung. 42 Jakobs (Fn. 18), 9/6: individuelle Erkennbarkeit ist gleichbedeutend mit Voraussehbarkeit. 43 Jakobs (Fn. 18), 6/27. 44 Jakobs (Fn. 5), 39.

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Bestimmung der Voraussehbarkeit ist mit einem individuellen Handlungsbegriff 45 unvereinbar46. 2. Wie soll nun die (halb) individuelle Erkennbarkeit mit der (halb) objektiv bestimmten Vermeidbarkeit im Handlungsbegriff kollaborieren? Der strafrechtliche Handlungsbegriff soll alle Deliktsmerkmale, d. h. Tatbestand, Unrecht und Schuld umfassen können. 47 Die realen Substrate des Verhaltens 48 werden abstrahiert - oder nicht - durch alle Deliktsmerkmale hindurchgezogen. 49 Das Unrecht - ein Handlungsbegriff - wird als Regelverstoß verstanden.50 Deswegen kommt die subjektive Sinndeutung nur als Indiz im Unrecht und hauptsächlich in der Schuld zur Bewertung. Wie läßt sich also garantieren, „daß der Sinnausdruck der Handlung jeweils Sinnausdruck eines Subjekts ist?" „Vorsatz und Fahrlässigkeit sind in dieser Lage die Formen, in denen ein Defizit dominanter Normbefolgungsmotivation erscheint; sie sind also das in die Wirklichkeit des Individuellen verlängerte objektive - nach dem Maßstab des guten Bürgers - bestimmte Defizit an Normbefolgungsmotivation", sagt Jakobs.51 Das in die Wirklichkeit des Individuellen verlängerte objektive, nach dem Maßstab des guten Bürgers bestimmte Defizit begründet für Jakobs also das Unrecht, während die individuelle Erkennbarkeit nur als Indiz zum Unrecht beiträgt. 52 Insoweit könnte dann aber die individuelle - im Sinne der subjektiven - Erkennbarkeit im Unrechtsbereich nur eine sekundäre Rolle spielen, wie auch die folgenden Ausführungen bezeugen. 3. Wie der Vorsatz für Jakobs nicht direkt als psychisches Faktum zur Handlung gehört, sondern als Form einer qualifizierten Vermeidbarkeit, so geht es ihm auch bei der Fahrlässigkeit nicht direkt um eine Disposition des Täters, die Kenntnis möglich macht, sondern um eine Disposition als Form von Vermeidbarkeit. Demgegenüber soll eine fahrlässige Handlung nicht Unrecht sein, weil die Tatbestandsverwirklichung erkennbar ist, sondern weil eine erkennbare Tatbestandsverwirklichung vermeidbar ist; 53 Vorsatz wie Fahrläs45

Jakobs (Fn. 5), 320.

Vgl .Jakobs (Fn. 3), 860: Da es um Personen geht und nicht um Subjekte, hat der aktuelle Kenntnisstand der Subjekte bei funktioneller Sicht eigentlich nicht das ihm von Jakobs zugeschriebene Gewicht. 47 Jakobs (Fn. 5), 44. Vgl. dazu Roxin (Fn. 2), § 7 Rn. 57. 4 8 Vgl. Jakobs (Fn. 18), 6/59. Wenn sie existieren, siehe Roxin (Fn. 2), § 8/34. 4 9 Tatbestand, Unrecht und Schuld sind keine blassen Figuren; nur ihre Funktion wird differenziert. Vgl .Jakobs (Fn. 18), 17/44 und Roxin (Fn. 2), § 19 Rn. 14. 50 Jakobs (Fn. 5), 39 ff, 43. 51 Jakobs (Fn. 5), 39. Vgl. auch ders. (Fn. 18), 6/24: „Der Standard bestimmt Institute der objektiven Zurechnung neben und nicht statt der Individualisierung". 5 2 Der individuelle Handlungsbegriff als Definition eines Verhaltensbegriffes kann selbstverständlich objektive und subjektive Elemente enthalten. Erkennbarkeit als Bedingung der Vermeidbarkeit und beide als Bedingungen der Handlung können individuell subjektiv oder individuell objektiv oder als Synthese konzipiert werden. 46

53

Jakobs (Fn. 18), 9/2.

Die Sinndeutung der Handlung

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sigkeit wären dann beide Formen der Vermeidbarkeit, beide wären auch durch die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung bestimmt; beim Vorsatz wäre die Erkennbarkeit zur Kenntnis entfaltet, bei Fahrlässigkeit nicht. 54 Wenn beide (Vorsatz und Fahrlässigkeit) durch die Erkennbarkeit bestimmt sind und die Erkennbarkeit bei Fahrlässigkeit nicht zur Kenntnis entfaltet ist, dann hat der Täter die Tatbestandsverwirklichung nicht erkannt. 55 Eine fahrlässige Handlung ist also Unrecht, wenn die Tatbestandsverwirklichung erkennbar und vermeidbar ist. 56 Beide Voraussetzungen weisen auf die Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit hin und nicht auf eine tatsächlich beim Täter, im Tatzeitpunkt der Handlung, 5 7 vorhandene Fähigkeit des handelnden Subjekts, die Tatbestandsverwirklichung zu erkennen und zu vermeiden. 58 4. Für das Unrecht der fahrlässigen Delikte wird von Jakobs folgendes ausgeführt: „Zum Fahrlässigkeitsunrecht (und nicht erst zur Schuld) gehört die individuelle Voraussehbarkeit. Das Unrecht hängt also von den Fähigkeiten des jeweiligen Täters ab, seine Handlung ihrer tatbestandserfüllenden Wirkung wegen zu vermeiden." 59 Das Abhängigmachen des Unrechts von den Fähigkeiten des jeweiligen Täters rufe aber besondere Probleme hervor. 60 Wenn im Unrecht Vorsatz und Fahrlässigkeit aber nicht als individuell psychische Fakten wirken und diese Elemente als psychische oder physische Fakten kein Unrecht begründen, sondern das Unrecht nur indizieren, 61 dann ruft die Berücksichtigung der subjektiv individuellen Erkennbarkeit und der Fähigkeiten des jeweiligen Täters im Unrechtsbereich, und zwar an erster Stelle (und nicht als Indizien), erhebliche Probleme hervor. Wird als individuelle Erkennbarkeit die Erkennbarkeit des guten Bürgers gemeint, dann ist der Charakter des Unrechtsurteils objektiviert. Wird die individuelle Erkennbarkeit als Erkennbarkeit des jeweiligen Täters gemeint, dann ist der Charakter des Unrechtsurteils subjektiviert. 62 Nur wenn als „jeweiliger Täter" der gute Bürger gemeint ist, ist das Unrechtsurteil gleichförmig. In 54 Jakobs (Fn. 18), 9/4: „Ist im Prozeß Kenntnis nicht nachweisbar, aber jedenfalls Erkennbarkeit, so ist wegen fahrlässiger Tat zu verurteilen, weil das Fehlen von Kenntnis bei der Fahrlässigkeit kein sachhakiges, sondern nur ein abgrenzendes Merkmal ist." 55 Jakobs (Fn. 18), 9/6. 56 Jakobs (Fn. 18), 9/2. 5 7 Um so mehr, wenn die Vermeidbarkeit, um die es sich hier hauptsächlich handelt, im Ansatz objektiv ist, so Jakobs (Fn. 5), 39. 58 Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 40 betont: „Bei den Vermeidbarkeitsgedanken geht es nicht um einen Handlungsbegriff, sondern um einen Zurechnungsgesichtspunkt." Vgl. ders. (aaO), § 8 Rn. 40: „Die Ausarbeitung des Vermeidbarkeitsprinzips unter den Wertungsgesichtspunkten ist eine wichtige dogmatische Aufgabe." 5 9 Diese Individualisierung entspricht auch der Funktion des Strafrechts, siehe Jakobs (Fn. 18), 9/13. 6 0 Vgl. Armin Kaufmann (Fn. 1), 405 ff. 61 Jakobs (Fn. 18), 6/59. 6 2 Man kann das Unrechtsurteil entweder formalisieren, abstrahieren, normativieren oder materialisieren, konkretisieren bzw. subjektivieren.

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diesem Fall sollten aber die Fähigkeiten des jeweiligen Täters nicht ausschlaggebend sein, sondern nur als Indiz für die Bewertung des realen Substrats der Handlung dienen, d. h. als Indiz für den Sinnausdruck63 des Geschehens.64 5. Dasselbe wird auch für die Vermeidbarkeit gesagt. „Nichts ist vermeidbar, wenn und weil beim Täter irgendwelche psychischen Dispositionen vorliegen, sondern wenn und weil er ... als perfekter Bürger ... vermeiden würde." 65 Beide Elemente, Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit, werden also von Jakobs gleichmäßig behandelt und mit der Figur des perfekten Bürgers ausgefüllt. Dann kann aber die individuelle Vermeidbarkeit keine erste Rolle spielen.66

V. Der normative Handlungsbegriff 1. Die Annahme von Jakobs, daß die Handlungssteuerung durchgehend nach den individuellen Fähigkeiten des Täters bestimmt sein soll, so daß der Sinnausdruck der Handlung jeweils Sinnausdruck eines Subjekts 67 sei, bleibt ohne Gewähr^ denn „individueller Sinnausdruck wird eine Tat dabei nicht durch psychische oder sonstige Eigenschaften per se, sondern durch die Verständigung darüber, was ein Subjekt ist ... Es geht also nicht um ein Problem der Psychologie, sondern der Zurechnung". 68 Wenn wiederum das Unrecht weder Störung des Rechtsgutsbestandes noch Störung der Rechtssicherheit, noch allein Rollen- oder Strukturverletzung, sondern Objektivierung einer falschen Haltung zur Norm ist, 69 dann läßt sich nicht mehr garantieren, daß der Simmausdruck der Handlung jeweils Sinnausdruck eines Subjekts ist. Um so mehr, wenn es nicht auf das Faktum der Kybernetik, sondern auf die Bedeutung der Steuerung ankommt. 70 Die Zurechnung, als normatives Kriterium, funktioniert selbständig von den realen Faktoren, von den Faktoren des realen Substrats der Handlung.71 Die 63 Über die Differenz zwischen gesellschaftlichem Sinn und Individualität, siehe Jakobs (Fn.-5), Vorwort. Diese Differenz ist nach Jakobs unnötig. 6 4 Man sollte sich auch vor Augen halten, daß es einen subjektiven Tatbestand bei den fahrlässigen Delikten der unbewußten Fahrlässigkeit als reales Substrat nicht gibt. Er wird einfach mit rechtlichen Gesichtspunkten konstituiert. Die Zurechnung hängt nicht von dem ab , was er gesehen hat, sondern von dem, was er hatte bemerken sollen, siehe Roxin GS für Armin Kaufmann (Fn. 35), 250. 65 Jakobs (Fn. 5), 39. 6 6 Vgl. Jakobs (Fn. 5), 25: „Fahrlässigkeit ist individuelle Vermeidbarkeit ... wenn ihm selbst, nicht irgendeiner Maßstabperson, die Folge, um die es geht, vermeidbar war". Über die Vermeidbarkeit als Handlungselement vgl. die Kritik des negativen Handlungsbegriffs bei Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 33 ff. 67 Jakobs (Fn. 18), 6/25. 68 Jakobs (Fn. 18), 6/24. 69 Jakobs (Fn. 18), 6/25. 70 Jakobs (Fn. 5), 26. 71 Ohne sie beiseite zu schieben.

D i e Sinndeutung der Handlung

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Sinndeutung bewegt sich zwischen den Sinndeutungen der Subjekte (TäterEmpfänger), der Gesellschaft, der rechtlichen Normierung etc. Auch „wo ein Grund zu großem Mißtrauen besteht, wird der Handlungsbegriff objektivistischer ... ebenso bei ritualisierten Interaktionen". 7 2 Und nicht zuletzt soll man sich vor Augen halten, daß „die Deutung hier nicht bewiesen, sondern nur plausibel gemacht werden kann". 7 3 2. Einen Schritt weiter geht Roxin mit seiner Lehre von der Handlung als Persönlichkeitsäußerung. Der hier vertretene Handlangsbegriff, sagt Roxin, sei insofern umfassend, als er nicht irgendein Teilelement des Geschehens, sondern dieses selbst in seiner Ganzheit umgreife. In der Beurteilung als Persönlichkeitsäußerwig gingen subjektive Zielsetzungen und objektive Wirkungen, persönliche, soziale, rechtliche und andere Wertungen ein, die erst zusammen ihren Bedeutungsgehalt erschöpften. 7 4 Im Einzelfall könne für die Feststellung einer Handlung auch die Einbeziehung sozialer und sogar rechtlicher Aspekte erforderlich sein, in der Regel bedürfe es dessen jedoch nicht. 7 5 Und weiter heißt es bei Roxin: Es entspricht der Realität menschlicher Existenz, daß Persönlichkeitsäußerungen nicht allein durch körperliche und psychische Elemente, sondern ebenso durch mannigfache Bewertungskategorien, private, soziale, ethische, aber auch rechtliche in ihrem Sein mitbestimmt und bisweilen erst konstituiert werden. Bei Begehungshandlungen braucht man weder auf die Kategorie des Sozialen noch auf die des Rechtlichen zurückzugreifen, um festzustellen, ob überhaupt eine Persönlichkeitsäußerung vorliegt; bei den meisten Unterlassungen ergibt sich dies immerhin schon aus der Einbeziehung der sozialen Sphäre; bei anderen aber ist sogar das rechtliche Gebot notwendige Bedingung für die Möglichkeit einer Persönlichkeitsäußerung. 76 Wo das Objekt der Wertung (hier die Persönlichkeitsäußerung) erst durch einen rechtlichen Wertungsakt (das tatbestandliche Handlungsgebot) ins Leben gerufen wird, muß die Handlung eine unlösliche Strukturverschlingung von Sein und Sollen aufweisen. 77 Im Grenzbereich kann die Abschichtung nicht ohne eine rechtlich wertende Entscheidung darüber erfolgen. Rechtliche Lösungen ergeben sich nie aus rein ontischen Befunden, sondern immer nur aus der Anwendung der maßgebenden normativen Kriterien auf sie. 7 8 3. Dazu ist zu sagen: Die Handlung als Persönlichkeitsäußerung ist also nicht immer ein mit allen realen Substraten ausgefülltes Geschehen. Denn es gibt Fälle, in denen keine psychische Seite vorhanden ist, wie dies im Falle der unbewußten Fahrlässigkeit schon oft betont worden ist. Das Fehlen des realen 72

Jakobs Jakobs 74 Roxin 75 Roxin 76 Roxin 77 Roxin 78 Roxin 73

(Fn. 18), (Fn. 18), (Fn. 2), § (Fn. 2), § (Fn. 2), § (Fn. 2), § (Fn. 2), §

6/24. 6/24 Anm. 67 b. 8 Rn. 51. 8 Rn. 52. 8 Rn. 5 2 - 5 3 . 8 Rn. 56. 8 Rn. 72. Vgl. ferner Schünemann

G A 1999, 213 ff.

196

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Substrats der subjektiven Seite wird durch die rechtliche Bewertung ausgefüllt. Die Persönlichkeitsäußerung wird durch die rechtliche Normierung konstituiert. 79 Der Handlungsbegriff ist also, in einem bestimmten Umfang, Konstruktion der rechtlichen Normierung und deswegen ein normativer Begriff.

VI. Ergebnis 1. Der Sinnausdruck einer Handlung kann zwischen allen Faktoren, d. h. kausalen, finalen, gesellschaftlichen und rechtlichen pendeln. Die Frage der Deutung bzw. Zurechnung hat hauptsächlich diesen Sinn, daß es nämlich nicht nur auf kausale, finale etc. ankommt. Man soll alle Faktoren berücksichtigen, so daß die Bewertung oder Beurteilung des Geschehens 80 umfassend sein kann. 81 Daß alle diese Faktoren nebeneinander und nicht statt einander stehen, ändert nichts an der Tatsache, daß am Ende die rechtlichen Kriterien das letzte Wort haben. Die Zuordnung zum Tatbestand setzt eine Ausformung des Sachverhaltes voraus, die nach rechtlichen Kriterien erfolgt. 82 In diesem Sinne kann auch die Sinndeutung der Handlung als Persönlichkeitsäußerung mitbestimmt werden. Genauso ist das Unrecht als Sozialschädlichkeit, als sozial inadäquates Verhalten, eine Größe, die ohne rechtliche Hilfe nicht zu beantworten ist. 2. Der rechtliche oder objektive Maßstab gibt den Sinn des Verhaltens für die Rechtsordnung a) wenn so etwas vorgesehen ist oder b) der subjektive Sinn anders nicht festzustellen ist. Dieser Sinn tritt an die Stelle des fehlenden Elementes oder der subjektiven Deutung, wenn sie anders nicht festzustellen ist. Daraus ist zu schließen, daß, wenn anders festzustellen ist, d. h. die subjektive Deutung erkennbar gemacht werden kann, diese subjektive Deutung zu berücksichtigen ist. Wenn sie anders nicht festzustellen ist, tritt 83 an ihre Stelle der objektive Sinn. Insoweit ist die Kritik gegen die psychologisierende Auffassung nur dann statthaft, wenn die psychische Welt des anderen

7 9 In diesem Fall stehen wir vor einer „unlöslichen Verschlingung von Sein und Sollen", Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 56. 80 Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 43: „(Es) muß ... ein gemeinsames Substrat geben, an das strafrechtliche Wertungen anknüpfen . . . " , obwohl die begriffliche Gemeinsamkeit nicht in der Einheit des sachlichen Substrats zu suchen ist. Ihre Gemeinsamkeit kann nur darin gefunden werden, daß sie sich der seeligen-geistigen Sphäre des Menschen, seiner Persönlichkeit zurechnen lassen, siehe Roxin (aaO), § 8 Rn. 74.

Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 48. Rechtliche Lösungen ergeben sich nie aus rein ontischen Befunden, sondern immer nur aus der Anwendung der maßgebenden normativen Kriterien auf sie, siehe Roxin (Fn. 2), § 8 Rn. 72. 81

82

8 3 U m so mehr, wenn, wie Roxin (Fn. 2), § 24 Rn. 69 ausführt, „die objektive Zurechnung teilweise an innerpsychische Faktoren anknüpft".

Die Sinndeutung der Handlung

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a) nicht vorliegt, b) anders vorgesehen ist oder c) nicht einfach festzustellen ist. Dann wird das objektive Maß angewandt, und dann tritt an die Stelle der subjektiven Deutung der objektive Sinn. 3. Ich fasse zusammen: a) Es gibt Fälle, in denen keine direkte psychische Seite vorhanden ist: unbewußte Fahrlässigkeit. b) Es gibt Fälle, in denen die subjektive Seite durch objektive Maßstäbe ersetzt wird. c) Es gibt Fälle, in denen die subjektive Seite festgestellt werden und insoweit eine Rolle spielen kann.

„Sozialadäquanz": eine überflüssige oder unverzichtbare Rechtsfigur? - Überlegungen anhand sozialüblicher Vorteilsgewährungen ' -

ALBIN E S E R

I. Auf verschiedenen Wegen zum gleichen Ziel: Ausgrenzung Das dem Briefträger üblicherweise zum Neujahr gegebene Trinkgeld ist eine ambivalente Gabe: freudvoll für den Empfänger, streitvoll für die Strafrechtler, die sich über die strafrechtliche Erfassung dieses Phänomens immer wieder den Kopf zerbrechen müssen. Zwar war man sich schon zu Zeiten, als der Postdienst noch eine hoheitliche Veranstaltung war, weitgehend darüber einig, daß weder der Schenker noch der Beschenkte wegen eines Bestechungsdelikts zu bestrafen sei;1 auf welchem Weg jedoch dieses fast allgemein akzeptierte Ergebnis 2 zu erreichen sei, ist nach wie vor höchst umstritten. * Zum breiten Spektrum von Fragen, mit denen sich Claus Roxin befaßt hat, gehört auch die Problematik der „sozialen Adäquanz" (vgl. die Nachweise unten Fn. 1, 7, 23). Obwohl oder gerade weil — es darüber in letzter Zeit etwas still geworden ist, seien dazu einige Uberlegungen angestellt. Auslöser dazu war ein rechtsvergleichendes Projekt des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, bei dem nicht zuletzt auch Fragen sog. „Bagatellbestechung" eine Rolle spielten (vgl. unten Fn. 10). Damit ist neben dem thematischen auch ein institutioneller Bezug zu Claus Roxin hergestellt, hat dieser doch dankenswerterweise über viele Jahre zunächst als Mitglied und zuletzt als Vorsitzender des Fachbeirats des MaxPlanck-Instituts fungiert. Deshalb seien die nachfolgenden Ausführungen zugleich in dankbarer Verbundenheit des Max-Planck-Instituts dem verehrten Jubilar zu seinem 70. Geburtstag dargebracht. - Für die Mitarbeit durch Sammlung und Sichtung des Materials und die Erstellung eines ersten Entwurfs bin ich Herrn Assessor Thomas Winter sowie für Unterstützung bei abschließenden Arbeiten Herrn Rechtsreferendar Markus Richter zu besonderem Dank verpflichtet. 1 Neben Roxin Bemerkungen zur sozialen Adäquanz im Strafrecht, FS für Klug, Bd. 2, 1983, 303 — 313 (312) findet sich das Beispiel des Postboten mit gleichem Ergebnis auch bei vielen anderen behandelt: so u. a. bei Schönke/SchröderICramer StGB, 2 6 2 001, § 331 Rn. 46, 53; LK-Jescheck StGB, n 1 9 9 7 , § 331 Rn. 15; Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts AT, 5 1996, 253; Krey Strafrecht BT, Bd. 1, "1998, 334; Lackner/Kühl StGB, 2 3 1 999, § 331 Rn. 14; Maiwald in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT, Tlbd. 2: Straftaten gegen Gemeinschaftswerte, 8 1999, 302; Otto Grundkurs Strafrecht: Die einzelnen Delikte, 5 1998, 514f. Vgl. auch Eser Juristischer Studienkurs, Strafrecht III, 2 1981, 228. 2 Gegenstimmen sind eher vereinzelt geblieben: so namentlich Dallinger Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, M D R 1958, 738 — 742 (740 f), der jegliche Form

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Geht man vom Tatbestand des § 331 StGB aus, so muß der fast einhellige Konsens über die Straflosigkeit zunächst überraschen: Zweifellos ist das Geschenk oder Trinkgeld ein Vorteil, und der Postbote erhält es nicht etwa, weil er ein netter Mensch ist, sondern weil er im abgelaufenen Jahr freundlich und zuverlässig die Briefe zugestellt hat (eine Diensthandlung) und dies hoffentlich auch im kommenden Jahr weiterhin tun wird (also eine Gegenleistung). Der Tatbestand des § 331 Abs. 1 ist also formal erfüllt. Dieser Konsequenz versucht man aber nun auf verschiedene Weise zu entgehen: Teils wird geltend gemacht, daß der Begriff des Vorteils bereits normativ zu verstehen und deshalb noch nicht erfüllt sei, 3 daß es an einem Aquivalenzverhältnis fehle, weil es sich nur um eine Geste der Höflichkeit handele, 4 daß der Tatbestand wegen der Geringfügigkeit der Zuwendung 5 oder der Sozialadäquanz des Verhaltens entfalle 6 oder daß eine am Rechtsgut orientierte Auslegung geringfügige und sozial allgemein tolerierte Zuwendungen vom Tatbestand ausnehme. 7 Solchen Ausgrenzungsstrategien wollte sich offenbar auch der Gesetzgeber nicht länger verschließen, indem er durch Einfügung des Abs. 3 in § 331 immerhin die Möglichkeit einer behördlichen Genehmigung geschaffen hat, gesellschaftlich übliche Zuwendungen straffrei zu stellen. 8 Neben die materiellrechtlichen Möglichkeiten einer Einschränkung treten außerdem noch die §§ 153,153 a StPO, welche es der Staatsanwaltschaft ermöglichen, bei geringer Schuld von einer Strafverfolgung abzusehen. 9 Richtet man den Blick über die Grenzen der nationalen Rechtsordnung hinaus, lassen sich weitere Möglichkeiten der Eingrenzung der Strafbarkeit finden: So wird in England und Wales verlangt, daß das gesetzliche Merkmal „corruptly" erfüllt ist: Dies setze voraus, daß die Zuwendung im Bewußtsein der Rechtswidrigkeit erfolgt sei. 10 Auch in Osterreich hat der Gesetzgeber den der Zuwendung ungeachtet der Höhe oder der Üblichkeit ablehnte; krit. in neuerer Zeit auch Wagner Die Rechtsprechung zu den Straftaten im Amt seit 1975 - Teil 1, JZ 1987, 5 9 4 - 6 0 5 (604). 3 Kaiser Spenden an politische Parteien und strafbare Vorteilsannahme, NJW 1981, 3 2 1 322 (322); Dingeldey Anm. zu BGHSt 31, 264, NStZ 1984, 5 0 3 - 5 0 5 (505); Überblick bei Merges Die Strafausschließungsgründe der Bestechungsdelikte, 1995, 147 ff. 4 Wagner (Fn. 2), 604; Schönke/Schröder/Cramer (Fn. 1), § 331 Rn. 29 c; L K - J e s c h e c k (Fn. 1), § 331 Rn. 13 a.E.; Überblick bei Merges (Fn. 3), 154 ff. 5 Gribl Der Vorteilsbegriff bei den Bestechungsdelikten, 1993, 134 ff, Ostendorf Das Geringfügigkeitsprinzip als strafrechtliche Auslegungsregel, GA 1982, 3 3 3 - 3 4 5 (345). 6 Wessels/Hetlinger Strafrecht BT 1, 24 2000, 290; Otto (Fn. 1), 514 f; Krey (Fn. 1), 334; Merges (Fn. 3), 156 ff; s. a. die Analyse bei Gribl (Fn. 5), 105 ff; aus der Rechtsprechung vgl. BGHSt 31, 2 6 4 - 2 9 0 (279). 7 Roxin (Fn. 1), 312; ders. Strafrecht AT I, 3 1997, 243 f. 8 Aufgrund von Art. 19 Nr. 187 EGStGB vom 2. 3. 1974 (BGBl. I 469); vgl. dazu u. a. Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 1), 302; Gribl (Fn. 5), 110 ff; Jung in: Roxin/Stree/Zipf/Jung, Einführung in das neue Strafrecht, 2 1975, 129. 9 Dabei geht es um den römischen Rechtsgrundsatz „minima non curat praetor"; siehe dazu Ostendorf (Fn. 5), 335 f mit Verweis auf Digesten IV, 1, 4. 10 Huber/Beck Landesbericht England und Wales, in: Eser/Überhofen/Huber (Hrsg.), Korruptionsbekämpfung durch Strafrecht. Ein rechtsvergleichendes Gutachten zu den Bestechungsdelikten im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz, 1997, 78.

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Ausschluß geringfügiger Zuwendungen berücksichtigt und ausdrücklich auf den Wert des Vorteils abgestellt. 11 In Schweden findet sich das Merkmal der „Ungebührlichkeit" im gesetzlichen Tatbestand. 12 Neben solchen Ausgrenzungsstrategien gibt es wie in Deutschland zum Teil auch noch die Möglichkeit, diese Gesichtspunkte beim Strafverfolgungsermessen zu berücksichtigen, so namentlich in England, "Wales und Frankreich. 13 In Italien und Griechenland stellt man auf die Beziehung zwischen Vorteil und Amtshandlung ab. 1 4 Auf den ersten Blick zeigt sich also eine Vielfalt von Lösungsmöglichkeiten. Trotz dieses verschiedenartigen Erscheinungsbildes fragt es sich jedoch, ob sich nicht die meisten, wenn nicht sogar alle Ansätze - zumindest aber die materiellrechtlichen - auf einen einheitlichen Grundgedanken zurückführen lassen und die Vielfalt daher nur eine scheinbare ist.

II. Geringfügigkeit der Zuwendung Vorab sei klargestellt, daß die Diskussion über die Straffreistellung der Gewährung oder Annahme kleiner Geschenke in allen Ländern nur im Rahmen der „einfachen" Beamtenbestechung geführt wird, von vornherein also nur dort als Problem gesehen wird, wo die Diensthandlung als solche als rechtmäßig - oder abgesehen vom Vorteilsaspekt jedenfalls nicht als rechtswidrig zu betrachten ist. Demgemäß ist im Falle von pflicht- und rechtswidrigen Handlungen des Amtsträgers für straffreistellende Ausnahmen grundsätzlich kein Raum. 1 5 Der einfachste und zugleich ein Höchstmaß an Rechtssicherheit eröffnende Weg, geringfügige Zuwendungen aus dem Tatbestand auszuscheiden, ist die Bezifferung einer festen Wertgrenze, unterhalb derer eine Strafbarkeit nicht in Betracht kommt. Einer solchen Lösung kommt wohl das Österreichische Strafgesetzbuch am nächsten, indem es in § 304 Abs. 4 einen Strafausschließungsgrund für den Fall einräumt, daß es sich um einen „geringfügigen Vorteil" handelt und die Tat nicht gewerbsmäßig begangen wurde. Umstritten ist aber, ab welcher konkreten Summe eine Geringfügigkeit nicht mehr vorliegen soll. 16 Die Rechtsprechung setzt derzeit wohl eine Grenze von 1000 Schilling an (entspricht ca. 140 DM). 1 7 In Deutschland, wo eine derartige Regelung fehlt, werden zwei Wege vorgeschlagen, geringfügige Vorteile aus dem Tatbestand des § 331 auszuscheiden. 11

Überhofen Landesbericht Österreich, in: Eser/Uberhofen/Huber (Fn. 10), 394 f. Cornils Landesbericht Schweden, in: Eser/Uberhofen/Huber (Fn. 10), 515 f. 13 Huber/Beck (Fn. 10), 79; Barth Landesbericht Frankreich, in: Eser/Uberhofen/Huber (Fn. 10), 121. 14 Hein Landesbericht Italien, in: Eser/Uberhofen/Huber (Fn. 10), 231 f; Papacharalambous Landesbericht Griechenland, in: Eser/Uberhofen/Huber (Fn. 10), 184 f. 1 5 Vgl. Maiwald Die Amtsdelikte - Probleme der Neuregelung des 28. Abschnitts des StGB, JuS 1977, 3 5 3 - 3 6 3 (355). 16 Vgl. die Angaben bei Überhofen (Fn. 11), 395 Fn. 71. 1 7 O G H Österreichische Juristen-Zeitung 1991, 1 3 8 - 1 4 1 (138). 12

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Der eine — bislang freilich vereinzelt gebliebene — Vorschlag knüpft am Vorteilsmerkmal an, indem er geringfügige Vorteile und Werbegeschenke aus dem Tatbestand des §331 StGB ausscheiden möchte. 18 Dabei wird in Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 2 4 8 a StGB eine Grenzziehung etwa bei 50 DM vorgeschlagen.19 Dem damit möglicherweise gewonnenen Vorteil an Rechtssicherheit stehen jedoch folgende Nachteile entgegen: Zum einen können die weiteren Umstände, insbesondere die Vermögensverhältnisse der bete iligten Personen nicht außer Betracht bleiben, 20 zum anderen könnten feste G renzen die Gefahr mit sich bringen, daß damit eine Erwartungshaltung seitens der Amtsträger aufgebaut wird. Mehr Anerkennung hat dagegen die Ansicht gefunden, daß bei gan;i geringfügigen Rechtsgutsbeeinträchtigungen der Tatbestand der Vorteilsannahme nicht erfüllt sei. Während man sich für diesen - dem „Geringfügigkeitsprinzip" 21 entsprechenden - Weg in Österreich auf die Vorschrift des § 304 Abs. 4 berufen kann, ist in Deutschland der Begründungsaufwand höher. 22 Ausgangspunkt ist dabei die Einsicht, daß das Strafrecht die ultima ratio des Rechtsgüterschutzes sei. Geringfügige Beeinträchtigungen bedürfen daher nicht dieses schärfsten Kontrollinstruments, weil, anders gewendet, der Täter nicht in strafrechtsrelevanter Weise sozialgefährlich sei. Das Geringfügigkeitsprinzip basiere auf dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, das nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch die Rechtsprechung zu beachten habe. Auf die einfachen Bestechungsdelikte übertragen bedeute dies, daß die Zuwendung zwar formell tatbestandsmäßig, aber nicht typischerweise für das geschützte Rechtsgut gefährlich sei, und aus diesem Grund eine Strafbarkeit zu entfallen habe, wenn die Rechtsnorm nicht bloßen formalen Ungehorsam sanktionieren wolle. Auch Claus Roxin ist der Ansicht, daß es Fälle geben kann, in denen das Geringfügigkeitsprinzip die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens ausschließt.23 So seien beispielsweise kurzzeitige Zwangseinflüsse im täglichen Leben ohne Dauer und nennenswerte Folgen nicht als Nötigung gemäß § 240 StGB strafbar, da sie nicht sozialschädlich seien. Dabei bleibt schon jetzt im Auge zu behalten, daß Roxin nicht zwischen geringfügigen und sozial adäquaten Handlungen unterscheidet, sondern beides der Kategorie der Tatbestandsauslegung zuordnet. Eine am Rechtsgut orientierte Auslegung ergebe, daß geringfügige Handlungen schon aus dem Tatbestand auszuscheiden seien, 24 wobei der GeKaiser (Fn. 3), 322; Gribl (Fn. 5), 146. Neben den von Kaiser (Fn. 3), 322 vorgeschlagenen 50 D M finden sich weitere Summen: So hielt das O L G Frankfurt N J W 1990, 2 0 7 4 - 2 0 7 6 (2075) Zuwendungen von 100 D M „weit außerhalb des zu ziehenden Rahmens"; Geerds Anm. zu B G H S t 36, 45, J R 1993, 2 1 1 - 2 1 3 (212) spricht bei 70 D M für einen Vollzugsbeamten von einem Grenzfall. 20 Merges (Fn. 3), 165 f. 2 1 Vgl. dazu Schönke/Schröder/Lercc&ner (Fn. 1), Vorbem. 70 a vor §§ 13 ff; Ostendorf GA 1982, 333 ff, der sich auf eine Entscheidung des O L G H a m m N J W 1980, 2537, bezieht. 2 2 Vgl. zum folgenden Ostendorf (Fn. 21), 333 ff. 23 Roxin Verwerflichkeit und Sittenwidrigkeit als unrechtsbegründende Merkmale im Strafrecht, JuS 1964, 3 7 3 - 3 8 1 (376); ders. Strafrecht AT (Fn. 7), 243 Fn. 78. 24 Roxin (Fn. 1), 312 f. 18

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danke der „Sozialadäquanz", sofern nicht sogar als bloßes „Auslegungsprinzip" ersetzbar, jedenfalls kein den Tatbestand ausschließendes besonderes „Merkmal" darstelle. 2 5 Für die Bestechungsdelikte hat diese am Rechtsgut orientierte Auslegung zur Folge, daß kleine Werbegeschenke (wie Kugelschreiber, Taschenkalender, Notizblock) als geringfügige Zuwendungen die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens ausschließen, weil diese das öffentliche Vertrauen in die Integrität des Beamten nicht gefährden.

III. Sozialadäquatheit der Zuwendung Können damit im Einzelfall geringwertige Zuwendungen aus dem Tatbestand der §§ 331, 333 S t G B ausgenommen werden, so stellt sich die Frage, ob nicht darüber hinausgehend auch noch betragsmäßig höhere Zuwendungen aufgrund der konkreten Begleitumstände bereits aus dem Tatbestand ausgeschlossen werden können. Entscheidend ist dann nicht mehr allein der Wert der Zuwendung, vielmehr ist dieser dann nur noch eines von anderen Kriterien, wie etwa Art, Anlaß und Zweck der Zuwendung oder das Verhältnis des Zuwendenden zum Amtsträger. Dabei geht es u m die Frage der Üblichkeit von Zuwendungen bzw. deren Gewährung gemäß entsprechenden (Verkehrs-)Sitten und Gepflogenheiten. Dies sind Aspekte, die man im strafrechtlichen Rahmen unter dem Schlagwort der „Sozialadäquanz" zu behandeln pflegt. Dieser Begriff dürfte wohl erstmals von Hans Welzel geprägt worden sein. 2 6 Er versteht dabei unter sozial adäquaten Handlungen solche, die sich innerhalb der historisch überkommenen sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens bewegen. 2 7 Diese Handlungen kennzeichneten lediglich den normalen Zustand der sozialen Handlungsfreiheit, während sich in den Straftatbeständen gerade sozial inadäquate Handlungen fänden, also solche, die aus den geschichtlich gewordenen Ordnungen des Soziallebens schwerwiegend herausfallen. Daher könnten sozial adäquate Handlungen niemals einem Straftatbestand unterfallen, auch wenn sie formal darunter subsumierbar seien. 2 8 Die weiteren Arbeiten zur Sozialadäquanz zeichnen sich aus durch den Versuch, diese weite Formulierung zu präzisieren und weitere Kriterien für die Sozialadäquanz zu finden: U m dazu - in zeitlicher Reihenfolge - nur einige zu nennen, so unterstreicht etwa Friedrich Schaffstein die objektiven Anhaltspunkte der Sozialadäquanz, nämlich „das allgemein Übliche, geschichtlich Gewordene und sozialethisch Gebilligte". 2 9 Detlef Krauß führt über den Termi25

Roxin Strafrecht AT (Fn. 7), 244. Welzel Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939), 4 9 1 - 5 6 6 (516f); ders. Das deutsche Strafrecht, " 1 9 6 9 , 55 f; ein Uberblick über die Entwicklung der Lehre von der sozialen Adäquanz findet sich bei Roxin Strafrecht AT (Fn. 7), 240 ff m w N ; einen Uberblick über die Judikatur zur Sozialadäquanz gibt Wolsky Soziale Adäquanz, 1990, 15 ff. 27 Welzel ZStW 58 (1939) (Fn. 26), 516 f. 28 Welzel Strafrecht (Fn. 26), 57. 29 Schaff stein Soziale Adäquanz und Tatbestandslehre, ZStW 72 (1960), 3 6 9 - 3 9 6 (378). 26

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nus soziale Adäquanz die Maßstäbe der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, wie sie bei den Fahrlässigkeitstaten zu beachten sind, auch in den Tatbestand der Vorsatzdelikte ein und verweist darauf, daß es jedermann freistehe, seinen verwerflichen Zielen nachzugehen, wenn er nur die Grenzen dieser objektiven Sorgfalt beachte. 3 0 Nach Heinz Zipf entspreche sozial adäquates Verhalten sozial anerkannten Verhaltensnormen, wobei jedoch nicht die bloße Gebräuchlichkeit eines Verhaltens genüge, sondern die Vorstellung der relevanten Mehrheit der Gemeinschaft hinzukommen müsse, daß das geübte Verhalten im Interesse des sozialen Zusammenlebens notwendig und richtig sei. 3 1 Zudem ist bei Zipf die Sozialadäquanz aus dem Blickwinkel seiner Lehre vom dynamischen Tatbestand zu sehen: 3 2 Dieser basiert auf der Erkenntnis, daß die tatbestandliche Unrechtstypisierung auf der Erfahrung der Sozialschädlichkeit bestimmter Verhaltensweisen beruht, daß diese Typisierung jedoch mit Fehlerquellen und Ungenauigkeiten belastet sei. Denn erstens sei es unmöglich, einen Tatbestand so genau zu fassen, daß er nicht auch Fälle erfasse, die unter seinen Wortlaut subsumierbar seien, ohne jedoch an der zugrundeliegenden Sozialschädlichkeit teilzuhaben, und zweitens sei jeder nach seiner Entstehung statische Straftatbestand der Gefahr ausgesetzt, sich von der dynamischen Entwicklung der Gesellschaftsstruktur und den sozialerheblichen Wertbegriffen zu entfernen. Das Korrektiv für diese „notwendigerweise unzulängliche Tatbestandstypisierung" 3 3 sei die soziale Adäquanz. Sie bringe die Strafrechtsnormen in Einklang mit dem sozialen Leben der Gemeinschaft. Demgegenüber wesentlich weniger theorieaufwendig hat Karl Peters den Begriff der Sozialadäquanz dahingehend eingeschränkt, daß nicht allein auf die normale Handlungsüblichkeit abgestellt werden dürfe, sondern ein Verhalten nur dann sozial adäquat sei, wenn es allgemein als sozial wertvoll angesehen werde, wobei die Eigenschaft als „wertvoll" zu verschiedenen Zeiten verschieden beantwortet werde. 3 4 Wenn auch mit etwas anderer Akzentuierung, so wird doch auf gleicher Linie auch vom Bundesgerichtshof sozialadäquates Verhalten als das „übliche, von der Allgemeinheit gebilligte und daher in strafrechtlicher Hinsicht im sozialen Leben gänzlich unverdächtige, weil im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit liegende Verhalten", definiert. 3 5 Die Sozialadäquanz sei ein Prinzip, das nicht nur für das Strafrecht, sondern für die ganze Rechtsordnung gelte. 3 6 Eine Analyse dieser Ausführungen zeigt das Bemühen, den Begriff der sozialen Adäquanz schärfer zu fassen, indem auf objektive Kriterien abgestellt 30

Krauß Erfolgsunwert und Handlungsunwert im Strafrecht, ZStW 76 (1964), 1 9 - 6 8 (47f). Zipf Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten im Strafrecht, ZStW 82 (1970), 6 3 3 - 6 5 4 (633). 32 Zipf (Fn. 31), 647 ff; ein Uberblick über Zipfs Lehre findet sich auch bei Merges (Fn. 3), 139 f. 3 3 Zitat bei Zipf (Fn. 31), 648. 34 Peters Sozialadäquanz und Legalitätsprinzip, FS für Welzel, 1974, 4 1 5 - 4 2 9 (426f). 35 BGHSt 23, 2 2 6 - 2 2 9 (228). Im gleichen Sinne wird auch von O L G H a m m N J W 1973, 7 1 6 - 7 1 9 (718f) auf die „soziale Angemessenheit und Anerkennung" abgehoben. Vgl. dazu auch Eser, Strafrecht III (Fn. 1), 223, 228 sowie Merges (Fn. 3), 131. 3 6 B G H S t 23, 2 2 6 - 2 2 9 (228). 31

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wird, die der Richter im Einzelfall zu würdigen hat. Dabei ist vor allem die kontinuierliche geschichtliche Vorstellung der Allgemeinheit in bezug auf eine bestimmte Verhaltensweise von Bedeutung, so daß sich gegenüber einem bloß üblichen Verhalten ein Mehr ergibt. Die Kriterien der sozialen Akzeptanz und Werthaltigkeit des Verhaltens scheiden allgemein übliche Mißstände aus dem Anwendungsbereich der Lehre aus. Ahnlich wie mit Anlehnung an den Begriff der im Verkehr erforderlichen und gebotenen Sorgfalt, wie er in der Dogmatik der Fahrlässigkeitsdelikte eine Rolle spielt, der Rechtsanwender einen Maßstab zur Verfügung hat, an dem er menschliches Verhalten messen kann, kann auch die soziale Adäquanz als Richtschnur für menschliche Handlungsweisen dienen. Auf die Bestechungsdelikte übertragen haben diese Überlegungen zur Folge, daß Zuwendungen, die sich über einen längeren Zeitraum als üblich und der Verkehrssitte entsprechend entwickelt haben, die also von der Gemeinschaft nicht als anrüchig, sondern gerade umgekehrt als erwartet betrachtet werden, schon aus dem Tatbestand der §§ 331, 333 StGB herausfallen und demzufolge auch nicht erst einer besonderen Rechtfertigung oder sonstigen Straffreistellung, wie etwa mittels Genehmigung, bedürfen. Auch unter diesem Gesichtspunkt entfällt also das Neujahrstrinkgeld an den Postboten aus dem Tatbestand der Bestechungsdelikte. Aber auch bei erheblich höheren Beträgen kann unter dem Aspekt der Sozialadäquanz die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens zu verneinen sein, etwa wenn Zuwendungen aus Höflichkeit oder mit Rücksicht auf die Gefühle der Dankbarkeit nicht zurückgewiesen werden können, wie sie zum Beispiel im diplomatischen Verkehr oder im Zusammenhang mit einer Lebensrettung denkbar sind. 37 Ferner ist denkbar, daß die Annahme von Geschenken und Einladungen nicht nur sozial adäquat ist, sondern sogar zu den Dienstpflichten eines Amtsträgers gehören kann. 38 Somit liefert das Konzept von der Sozialadäquanz einen flexiblen Maßstab, der es ermöglicht, die Umstände des Einzelfalles in die Frage nach der Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens einzubeziehen und auf diese Weise strafwürdige von nicht strafwürdigen Vorteilsgewährungen und -erlangungen abzugrenzen.

IV. Kritisches zur Sozialadäquanz In dem vorgenannten Vorteil wird jedoch zugleich die größte Schwäche der Lehre von der Sozialadäquanz gesehen: ihre Unbestimmtheit und begriffliche Unschärfe. Thomas Würtenberger hat dazu ausgeführt, daß ein Tatbestandsausschluß mit der Begründung sozialadäquaten Verhaltens vom Standpunkt der Rechtsstaatlichkeit nicht gerechtfertigt werden könne, da sich die Kriterien 37 Maiwald (Fn. 15), 355; im übrigen gilt die Annahme geringer Geschenke durch einen Amtsträger als Schulbeispiel eines Anwendungsfalles der sozialen Adäquanz; s. dazu Merges (Fn. 3), 129 m w N . 3 8 B G H S t 31, 2 6 4 - 2 8 9 (279).

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der Sozialadäquanz allzu oft wandelten und eine so starke Unsicherheit angesichts der Garantiefunktion des Tatbestandes untragbar sei. 3 9 Wolf gang Mitsch kritisiert, daß die Umschreibungen dessen, was mit sozialadäquat gemeint sein soll, zu vage und unbestimmt seien. 40 Hellmuth Mayer hatte bereits darauf abgehoben, daß es dem Richter verwehrt sein müsse, die gesetzlichen Vorschriften kritisch daraufhin nachzuprüfen, ob sie zu sozial adäquaten Ergebnissen führten; dies zu entscheiden sei Sache des Gesetzgebers. 4 1 Ein entschiedener Gegner der Sozialadäquanz ist Hans Joachim Hirsch, der besonders die Gefahr schwimmender Grenzen im unteren Bereich der Strafbarkeit gegen diese Lehre ins Feld führt. 4 2 Es werde die Versuchung geschaffen, am Gesetzgeber vorbei eine „Strafrechtsreform" zu betreiben; auch die Staatsanwaltschaften könnten die mit einer Anklageerhebung im Einzelfall verbundenen Ungelegenheiten zu umgehen suchen. Weitergehend führe der Begriff der Sozialadäquanz zu Fehldeutungen, wenn es dem Gesetzgeber gerade darum gehe, ein Verhalten, das herkömmlich als im Rahmen der sozialen Ordnung liegend gelte, aufgrund neuer Erkenntnisse zu untersagen. Auch Roxin wendet zunächst aus verbrechenssystematischer Sicht ein, daß sich auch die Rechtfertigungsgründe „innerhalb des Rahmens der sozialen Ordnungen" hielten, ein Verhalten also rechtlich und sozialethisch völlig ordnungsgemäß und gleichwohl tatbestandsmäßig sein könne. 4 3 Auf der anderen Seite stehe die Gefahr, daß Entscheidungen nach dem bloßen Rechtsgefühl getroffen oder allgemein übliche Mißbräuche für tatbestandslos erklärt würden. 4 4 Gerade letzteres wird speziell hinsichtlich der Sozialadäquanz bei Bestechungsdelikten gerügt; denn was im Einzelfall als sozialadäquate Zuwendung erscheinen könne, werde in der Gesamtbetrachtung schnell zur nicht wünschenswerten Unsitte; im Hinblick auf die Neutralitätswahrung der Verwaltung sei deshalb das Korrektiv der Sozialadäquanz besser nicht zuzulassen. 4 5 Die Konsequenz, dann alle Zuwendungen ohne Ausnahme unter den Tatbestand subsumieren zu müssen und nur bei Vorliegen einer Genehmigung von Strafe absehen zu können, wird in dieser Striktheit jedoch auch von den Vertretern dieser Auffassung nicht gezogen. 4 6 Statt dessen wird versucht, den „un39 Würtenberger Vom Rechtsstaatsgedanken in der Lehre der strafrechtlichen Rechtswidrigkeit, FS für Rittler zum 80. Geburtstag, 1957, 1 2 5 - 1 4 0 (129). 40 Mitsch in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 10 1995, 291. 41 H. Mayer Strafrecht AT, 1967, 65. 42 L K - H i r s c h S t G B , 11 1994, Vorbem. 29 vor § 32; ders. Soziale Adäquanz und Unrechtslehre, ZStW 74 (1962), 7 8 - 1 3 5 (93). 43 Roxin (Fn. 1), 305. 44 Roxin Strafrecht AT (Fn. 7), 244; vgl. zur Kritik an der Lehre von der Sozialadäquanz auch Jescheck/Weigend (Fn. 1), 252f sowie Schönke/Schröder/Lencfewer (Fn. 1), Vorbem. 70 vor § 13. 45 Merges (Fn. 3), 172 mit Verweis auf O L G Celle SJZ 1948, 6 8 6 - 6 8 7 (686); Fuhrmann Die Annahme von sogenannten Aufmerksamkeiten durch Beamte, G A 1959, 9 7 - 1 0 9 (103); Thiele Darf ein Beamter Geschenke oder Belohnungen annehmen?, Z B R 1958, 33 - 35 (35). 4 6 Siehe z. B. Merges (Fn. 3), 172, der „bei Beamten im diplomatischen Dienst etc." Ausnahmen zulassen möchte, dafür freilich eine dogmatische Begründung schuldig bleibt.

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entbehrlichen" Rechtsgedanken der sozialen Adäquanz dogmatisch schärfer zu fassen. 47 Als Lösung wird die teleologische Auslegung, die sich am Rechtsgut zu orientieren hat, präsentiert. So meint Mitsch, wenn der Gesetzeswortlaut einen hinreichend weiten Auslegungsspielraum eröffne, könne der „unrechtsverneinende Wertgehalt der sozialadäquaten Tatumstände in den Subsumtionsvorgang einfließen, um über die Verneinung des betroffenen Tatbestandsmerkmals zur Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit zu kommen". 4 8 Wo dagegen der Versuch restriktiver Auslegung scheitere, müsse die formelle Rechtswidrigkeit anerkannt werden, auch wenn das Ergebnis unbefriedigend sei. Ebenso verfährt Hirsch bei der Abgrenzung zwischen strafrechtlich Irrelevantem und Tatbestandsmäßigem mittels der für jede einzelne Vorschrift maßgebenden ratio legis. 49 Nicht zuletzt meint Roxin auf die „unspezifische Begründung" der Lehre von der Sozialadäquanz verzichten zu können, da sich die richtige Lösung „durch eine am geschützten Rechtsgut orientierte, einschränkende Interpretation" finden lasse. 50 Zwar räumt er zunächst ein, daß die Lehre von der Sozialadäquanz tendenziell ein „richtiges Prinzip zur Profilierung des Deliktstyps und damit ein Tatbestandseinschränkungsgrund" sei, daß es aber heute durch präzisere hermeneu tische Instrumente ersetzt werden könne. 5 1 Der Schutzbereich des Tatbestandes ergebe sich aus dem geschützten Rechtsgut und der vom Gesetzgeber gegebenenfalls vorgesehenen besonderen Angriffsweise, woraus sich der Deliktstyp bestimmen lasse, so daß bestimmte Handlungen trotz eines weitergreifenden Tatbestandswortlautes nicht erfaßt würden. 5 2 Handelte es sich bis dahin noch um Feststellungen, wie sie auch bei anderen Kritikern der Sozialadäquanz anzutreffen sind, so bringt Roxin die gebotene Differenzierung insofern um ein wesentliches Stück weiter, als er in Durchmusterung der als sozialadäquat in Betracht gezogenen Beispiele zwei Fallgruppen unterscheidet: 53 Während die erste Gruppe Fälle des „rechtlich irrelevanten oder erlaubten Risikos" betreffe, worunter vor allem die Teilnahme am Straßenverkehr oder Sportwettkämpfen wie auch der klassische „Erbonkelfall" falle, betreffe die zweite Gruppe die „Ausscheidung geringfügiger sozial allgemein tolerierter Handlungen aus dem Tatbestand", wie insbesondere auch der hier diskutierte Fall des Neujahrsgeschenks an den Postboten. Nachdem man bei der ersten Fallgruppe ohnehin bereits darüber streiten kann, ob und inwieweit es dabei überhaupt um den als „sozialadäquat" charakterisierbaren Bereich handelt, wird man Roxin jedenfalls im Ergebnis darin zustimmen können, (Fn. 1), 252 mwN. Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 40), 291. *>H.J. Hirsch ZStW 74 (Fn. 42), 134. 50 Roxin Strafrecht AT (Fn. 7), 244. 51 Roxin (Fn. 1), 312. 52 Roxin Strafrecht AT (Fn. 7), 244. 53 So bereits in FS für Klug (Fn. 1), 310 sowie — mit unwesentlichen Modifizierungen in Strafrecht AT (Fn. 7), 242 f. 47 Jescheck/Weigend

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daß es dabei weniger um Probleme des einzelnen Tatbestandes als vielmehr um allgemeine Kategorien objektiver Zurechnung geht.54 Deshalb muß das Hauptaugenmerk eigentlich nur noch der zweiten Fallgruppe gelten, wobei Roxin für den hier in Frage stehenden Fall des Neujahrsgeschenks an den Postboten die Tatbestandsmäßigkeit damit verneint, daß durch eine solche Vorteilsannahme das öffentliche Vertrauen in die Integrität der Beamten nicht gefährdet sei.55 Statt sich dazu undifferenziert auf die soziale Adäquanz solcher Handlungen zu berufen, ergebe sich die richtige Lösung jeweils durch eine „am Schutzbereich des betreffenden Tatbestandes orientierte teleologische Reduktion". Dieses Verfahren sei deshalb vorzuziehen, weil damit auch der Gefahr vorzubeugen sei, sozialethische Vorstellungen mit sozial üblichen Mißständen gleichzusetzen und für tatbestandslos zu erklären, sei es doch - wie der Diebstahl geringwertiger Sachen zeige - gerade nicht so, daß jede „Geringfügigkeit oder Üblichkeit" tatbestandslos sei.56

V. Gegenfragen So verständlich die vorgenannten Einwände auch erscheinen mögen, fragt es sich jedoch, ob die alternativen Ansätze den angeblichen Hauptmangel der Sozialadäquanz - nämlich ihre Unbestimmtheit - ihrerseits zu vermeiden vermögen. Wenn etwa einerseits an der Sozialadäquanz kritisiert wird, daß sie nicht ohne Blick auf die Ratio des konkret in Frage kommenden Tatbestandes zu sinnvollen Ergebnissen komme, so ist denen, die statt dessen mit „teleologischer Reduktion" arbeiten und/oder dazu auf das zu schützende Rechtsgut und die abzuwehrenden Verletzungen hinweisen, zwar zuzugeben, daß damit der Rechtsgutsbezug direkter zum Ausdruck gebracht wird. Was aber für dessen Bestimmung maßgeblich oder wonach der Erheblichkeitsgrad der Gefährdung zu bemessen ist, darauf bleiben diese Ansätze eine Antwort schuldig, sofern sie nicht sogar ihrerseits zu Kriterien greifen müssen, die dem Konzept der Sozialadäquanz entlehnt sind. Denn welche anderen Maßstäbe zur Beantwortung der Frage, ob im Einzelfall ein unter den Wortlaut des Tatbestandes fallendes Verhalten gleichwohl aus diesem ausgeschlossen bleiben soll, sollen eigentlich herangezogen werden können, wenn nicht die der Üblichkeit, der Verkehrssitte oder der sozialen Adäquanz? Auch eine am Rechtsgut orientierte Auslegung muß sich auf materielle Kriterien stützen, wenn sie bewerten will, ob ein Verhalten von der ratio legis erfaßt wird oder nicht. Ist es aber nicht so, daß das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität des Beamten deshalb nicht untergraben wird, weil das kleine Neujahrsgeschenk üblich ist, auf einer überkommenen Verkehrssitte beruht und sozial akzeptiert wird? Nur diese "Roxin (Fn. 1), 311; ders. Strafrecht A T (Fn. 7), 242. 55 Roxin (Fn. 1), 312. 56 Roxin (Fn. 1), 312 f; vgl. auch Jakobs Der Kern der Gesellschaft ist betroffen, KritV 1996, 3 2 0 - 3 2 4 (320).

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Maßstäbe können doch einen allgemeinen Konsens begründen, eine Zuwendung nicht als gefährdend zu betrachten. Dann aber stehen hinter einer teleologischen Auslegung im Grunde dieselben materiellen Maßstäbe, wie sie oben schon für die Sozialadäquanz aufgeführt worden sind. Demzufolge ist der Gewinn an Rechtssicherheit nur ein scheinbarer. Hierzu lohnt es sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was bereits Schaffstein treffend dazu festgestellt hat: „Wer den Gesichtspunkt der Sozialadäquanz als zu unsicher ablehnt, wird in solchen und ähnlichen Fällen zwangsläufig zu nicht minder unsicheren und unbestimmten Generalklauseln wie der ,Zwecktheorie' oder mangelnder Sozialschädlichkeit greifen müssen, wenn er nicht gar auf jede positivrechtliche Begründung verzichten und sich statt dessen auf noch unverbindlichere naturrechtliche Gedankengänge einlassen will. Dabei ist zu beachten, daß das Kriterium der Sozialadäquanz gegenüber jenen Formeln immerhin insofern praktikabler und sicherer ist, als es dem Richter durch die Bezugnahme auf das allgemein Übliche, geschichtlich Gewordene und sozialethisch Gebilligte gewisse objektive Anhaltspunkte für die zu treffende Entscheidung bietet". 5 7 Und noch eine weitere Überlegung mag verdeutlichen, daß das Maß an Rechtssicherheit bei der Auslegung strafrechtlicher Begriffe immer nur ein relatives sein kann: Unter körperlicher Mißhandlung versteht man nach geläufiger Definition eine üble, unangemessene Handlung, die das körperliche Wohlbefinden des Opfers mehr als nur unerheblich beeinträchtigt. 58 Was nun aber unangemessen ist, was eine mehr als nur unerhebliche Beeinträchtigung sein soll, ist aus dem Wortlaut des Tatbestandes selbst nicht zu entnehmen, sondern dem praktischen Beurteilungsermessen des Richters anheimgegeben. Auch er kann dabei letztlich nur Vergleiche anstellen mit Verhaltensweisen, die ihm als üblich und daher nicht unangemessen erscheinen, bzw. mit Beeinträchtigungen, die über das Übliche, das heißt das, was eine breite, repräsentative Auswahl von Menschen gewöhnlich hinzunehmen bereit ist, hinausgehen. Auch hier wird man also nur schwer davon sprechen können, daß die untere Grenze der Strafbarkeit exakt bestimmt, wenn überhaupt bestimmbar, sei. In dieser Hinsicht unterscheidet sich - wenn man auf Roxins Zweiteilung zurückgreifen will - die hier in Frage stehende Fallgruppe der „geringfügigen sozial allgemein tolerierten Handlungen" nicht einmal von der Fallgruppe des „rechtlich irrelevanten oder erlaubten Risikos". 5 9 Denn auch die sich vor allem bei Fahrlässigkeitsdelikten stellende Frage, inwieweit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet oder sich das Verhalten noch im Rahmen des „erlaubten Risikos" hält, ist schwerlich anders zu beantworten als durch einen Vergleich mit einem „standardisierten" Verhalten, das im Einzelfall erwartet werden durfte, wobei die zugrunde zu legenden „Standards" schwerlich ohne Blick

57 58 59

Schaff stein (Fn. 29), 377 f. Vgl. statt vieler Schönke/Schröder/£ser (Fn. 1), § 223 Rn. 3. Vgl. oben zu Fn. 53.

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auf (faktische) soziale Üblichkeit und (normative) soziale Angemessenheit zu gewinnen sind. Daß im Hinblick auf die Ausgrenzung geringfügiger und sozialadäquater Zuwendungen das bundesdeutsche Strafrecht nicht allein steht, zeigt ein nochmaliger Blick über die Grenzen. Wenn etwa Schweden mit dem Korrektiv der „Ungebührlichkeit der Zuwendung" 6 0 oder England mit dem tatbestandlichen Erfordernis von „corruptly" 6 1 arbeiten, so sind diese Begriffe schwerlich aussagekräftiger als die der Sozialadäquanz, bedürfen sie doch auch ihrerseits einer Konkretisierung im Einzelfall. An welchen anderen Maßstäben wäre aber diese zu messen, wenn nicht an der Üblichkeit, der Verkehrssitte oder der Akzeptanz eines Verhaltens durch die Bevölkerung?

VI. Wegweiser Ist es also letztlich eher ein Streit um Worte denn um Inhalte? J a und nein. J a insofern, als alle Kombattanten - sofern sie nicht für die tatbestandliche Ausgrenzung geringfügiger Vorteile eine bezifferte Wertgrenze vorsehen oder diese sogar bei Null ansetzen wollen, um dann jede Zuwendung dem Genehmigungsvorbehalt zu unterwerfen - ohne materielle und damit mit einem gewissen Maß an Rechtsunsicherheit behaftete Wertungskriterien nicht auskommen und demzufolge bei gleichem Inhalt lediglich um das passende terminologische Etikett und/oder dessen verbrechenssystematische Klassifizierung gestritten wird. Nein insofern, als mit dem jeweils benutzen Etikett jeweils unterschiedliche inhaltliche Aussagen verbunden sein können. Wenn etwa von „teleologischer Reduktion" die Rede ist, so zeigt das zunächst nicht mehr an als den Auftrag, im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel den Tatbestand einzuschränken. Was jedoch das maßgebliche Telos sein soll und wieweit die Reductio gehen darf, bleibt ebenso offen wie der dabei anzulegende Maßstab. Auch eine teleologische Rückbesinnung auf das Rechtsgut erweist sich letztlich als selbstreferentiell, wenn dessen Bestimmung - wie etwa bei dem für Bestechung relevanten öffentlichen Vertrauen in die Integrität des Beamten 6 2 - davon abhängt, bei welchen Verletzungsweisen - wie Art und H ö h e der Vorteile — eine tatbestandsrelevante Gefährdung anzunehmen sei. Würde man diesbezügliche teleologische Reduktionen einmal daraufhin untersuchen, welche Bewertungskriterien - bewußt oder unbewußt - zugrunde gelegt zu werden pflegen, so würde man kaum fehl gehen in der Annahme, daß es sich dabei um Kriterien der gesellschaftlichen Üblichkeit und Angemessenheit handeln wird. Wenn dem aber so ist, wenn also mit „teleologischer Reduktion" lediglich ein methodisches Gerät in die Hand gegeben wird, ohne daß die maßgeblichen 60 61 62

Vgl. oben zu Fn. 12. Vgl. oben zu Fn. 10. Vgl. oben zu Fn. 55.

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Einsatz- und Beurteilungskriterien mitgeliefert würden, dann fragt es sich, ob man dem Bedürfnis nach tatbestandlicher Ausgrenzung nicht gleich mit einem Konzept Rechnung zu tragen versucht, das wesentliche materielle Beurteilungskriterien mitenthält, auch wenn es methodisch noch ergänzungsbedürftig sein mag. Aus diesem Blickwinkel erscheint mir das Konzept der „Sozialadäquanz" jedenfalls für den hier in Frage stehenden Problembereich von Roxins zweiter Fallgruppe allen anderen Ausgrenzungskonzepten überlegen: -

Durch das Moment der „Sozial"adäquanz wird eine faktische Grundlage vorgegeben, die ihrerseits durch zwei Faktoren bestimmt wird: durch die Üblichkeit derartigen Verhaltens und, weil nicht nur eines einzelnen oder einer vereinzelten Gruppe, durch dessen Charakter als gesellschaftliche O b servanz. - Durch das Erfordernis von Sozial„adäquanz" ist sichergestellt, daß das übliche Verhalten normativ als billigenswert oder jedenfalls gesellschaftlich tolerabel angesehen wird, aus faktischer Observanz also nicht kurzschlüssig auf soziale Angemessenheit geschlossen werden darf, sondern diese ihrerseits festzustellen ist. - Woran indes weiterer Entwicklungsbedarf besteht, ist die Methodik, nach der die Üblichkeit und Angemessenheit des fraglichen Verhaltens zu ermitteln und zu bemessen ist. Dies wäre das Feld, auf dem zu arbeiten und sich notfalls auch zu streiten wirklich lohnen würde. Bislang scheint mir diese Fragestellung noch gar nicht ernstlich in Angriff genommen worden zu sein, weil man in teils terminologischen, teils verbrechenssystematischen Vorfeldgefechten verfangen blieb. Um andererseits nicht Kriegsschauplätze zu eröffnen, die wiederum von dem hier in Frage stehenden Problemfeld ablenken könnten, sind vorsorglich wenigstens zwei Eckpunkte zu markieren: Der eine betrifft die Art der Rechtsgüter, bei denen über sozialübliche Beeinträchtigungen überhaupt sinnvollerweise geredet werden kann. Das ist um so mehr möglich, je mehr ein Rechtsgut ein „intrasoziales" Gepräge in dem Sinne hat, daß es durch sein tiefes Hineinverwobensein in das zwischenmenschliche und gesellschaftliche Leben nach Schutzgrund und Schutzumfang stark sozialbedingt ist, wie etwa die Meinungs- und Entfaltungsfreiheit, die Ehre oder (wie im Bereich der Amtsdelikte) Art und Ausmaß des Vertrauens in die Integrität der Beamtenschaft - im Unterschied zu „transsozialen" Rechtsgütern wie Leib und Leben, deren Schutz und Umfang weitaus weniger, wenn überhaupt, sozialkonstitutiv bedingt sind. 63 Bezeichnenderweise weisen Tatbestände zum Schutz von stark sozialverflochtenen Rechtsgütern schon von vornherein eine weniger starke Konturierung und eine dementsprechend grö6 3 Zu dieser Unterscheidung zwischen „transsozialen" und „intrasozialen" Rechtsgütern vgl. bereits Eser Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund, 1969, 45 ff.

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ßere Offenheit für sozialrelevante Einschränkungen und Ausgrenzungen auf. Daß jedoch selbst im Kern „transsoziale" Rechtsgüter wie die körperliche Integrität nicht jeglicher Relativierung aufgrund von „Sozialadäquanz" entzogen sind, zeigt die schwierige Bestimmbarkeit der „körperlichen Mißhandlung" in § 223 StGB: Nachdem diese gerade nicht unbedingt in einer Gesundheitsschädigung zu bestehen braucht, sondern bereits in einer üblen „unangemessenen" Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens bestehen kann, 64 wird damit auf gesellschaftliche Maßstäbe verwiesen, die letztlich nach den Kriterien der „Sozialadäquanz" zu beurteilen sind. 65 Auch wenn daher, weil diese Uberlegungen vornehmlich um sozialübliche Vorteilsgewährungen im Bestechungsbereich kreisten, gegenüber vorschnellen Verallgemeinerungen Vorsicht geboten sein mag, schließt dies entsprechende Schlüsse bei ähnlich strukturierten Tatbeständen nicht aus. Eine nicht weniger wichtige Grenzmarke gegenüber dem Rückgriff auf „Sozialadäquanz" kann der erklärte Wille des Gesetzgebers sein, einem bis dahin sozialüblichen Verhalten gerade Einhalt zu gebieten und es deshalb nicht mehr zu tolerieren. Eine solche bewußte „Kriminalisierung" durch Berufung auf „Sozialadäquanz" unterlaufen zu wollen, würde verkennen, daß für Sozialadäquanz nicht schon die bloße Üblichkeit genügt, sondern die Billigungswürdigkeit dazugehören muß und diese durch Pönalisierung in Wegfall kommen kann. Inwieweit dies im Bereich der Bestechungsdelikte durch die Genehmigungsmöglichkeit nach §331 Abs. 3 StGB geschehen sollte, ist eine bislang noch zu wenig ausgeleuchtete Frage, um hier weiter verfolgt zu werden. 66 Dies erscheint aber auch entbehrlich, da es in diesem Zusammenhang weniger um die Interpretation einzelner Tatbestände als um die Grundsatzproblematik gingZu dieser Grundlagendiskussion wesentliche Anstöße gegeben zu haben, dafür bleibt dem verehrten Jubilar selbst dann zu danken, wenn man zum gleichen Ziel einen anderen Weg vorzieht.

Vgl. oben zu Fn. 58. Wenn auch mit etwas anderer Akzentuierung, so kommt doch auch in der Feststellung von Roxin, daß „die Rechtsgüter strafrechtlich von vornherein nicht absolut, sondern in einer auf die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens bezogenen sozialen Gebundenheit" geschützt sind (Fn. 1, 307), der möglicherweise unterschiedliche Grad, die aber keinesfalls kategorial zu leugnende Abhängigkeit des Rechtsgüterschutzes von Kriterien der Sozialadäquatheit zum Ausdruck. 6 6 Ein weiteres Streitfeld dieser Art wurde durch den Geldwäschetatbestand des § 261 StGB eröffnet, zumal eine ursprünglich vorgesehene Sozialadäquanzklausel (vgl. BTDrucks 11/7663, 7 zum Entwurf von § 261) schließlich fallen gelassen wurde, weil auch Vermögensverschiebungen zu Geldwäschezwecken in Bagatellfällen des täglichen Lebens strafwürdiges Unrecht darstellen würden (BTDrucks 11/7663, 50). Zu den Versuchen, diese gesetzgeberische Absicht durch teleologische Reduktion des Tatbestandes bis hin zur Berufung auf Sozialadäquanz zu unterlaufen, vgl. - mit weiteren Nachweisen - OLG Hamburg NJW 2000, 6 7 3 - 6 8 2 (674 ff). 64

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Faszinierendes, Berechtigtes und Problematisches der Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs WOLFGANG FRISCH

Sucht man nach strafrechtsdogmatischen Beiträgen der letzten Jahrzehnte, die die Entwicklung des Strafrechts in besonderem Maße beeinflußt haben, so stößt man unweigerlich auf den Aufsatz Claus Roxins in der Festschrift für Richard Honig. 1 . Die in diesem Beitrag skizzierten „Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht" haben nicht nur, im Verein mit zeitgleichen Überlegungen damaliger Göttinger Kollegen, 2 eine intensive wissenschaftliche Diskussion entfacht und die Lehre von der Erfolgszurechnung zu einem zentralen Thema der Verbrechenslehre gemacht. Sie haben auch nachhaltig die Rechtspraxis beeinflußt und so Wirkungen gezeitigt, die längst nicht jede mit großem Engagement geführte wissenschaftliche Diskussion vorweisen kann. Roxins Gedanken zur Zurechnung haben damit eine weitaus größere Resonanz gefunden als die Überlegungen Honigs3, an die der verehrte Jubilar in seiner Skizze anknüpft. Das mag auf den ersten Blick überraschen - denn das von Honig in den Vordergrund gerückte Zurechnungskriterium der objektiven Bezweckbarkeit wird an sich auch von Roxin akzeptiert. Es hat jedoch einsichtige Gründe.

I. Zur besonderen Wirkkraft der neueren Lehre von der Erfolgszurechnung: Faszinierendes 1. Ein erster wichtiger Grund erschließt sich bei einem Vergleich der beiden Ansätze. Zwar sehen Honig und Roxin das (allgemeine) Zentralproblem der Erfolgsdelikte übereinstimmend in der Frage, ob ein bestimmter Verlauf, an 1

Roxin FS für Honig, 1970, 133 ff. Vgl. insbes. Rudolphi JuS 1969, 549 ff; Schaff stein FS für Honig, 1970, 169 ff; s. ferner Jescheck Lehrbuch des Strafrechts AT, 1969, 187, 192 ff, 387 ff; Hardwig J Z 1968, 291. 3 Honig Festgabe für R.v.Frank, Bd. I, 1930, 174 ff. - Zur begrenzten Resonanz auf Honigs Ausführungen in den dreißiger bis sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vgl. v. Hippel Lehrbuch des Strafrechts, 1932, 97 Anm. 8 (mit knapper Ablehnung); Mezger Strafrecht. Lehrbuch, 3 1949, 122 (wo Honig in Anm. 41 der Relevanztheorie zugeordnet wird); selbst bei Hellmuth Mayer Strafrecht AT, 1953, der ebenfalls eine Theorie der objektiven Zurechenbarkeit vertritt, findet Honig nur ganz am Rande Erwähnung (144 Anm. 44). Abi. auch Engisch Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 59 Anm. 1. 2

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dessen Ende ein Erfolg steht, einer Person als ihr Werk zugerechnet werden kann. 4 Auch das Kriterium der „objektiven Bezweckbarkeit" dieses Verlaufs, in dem Honig die Antwort auf diese Zurechnungsfrage findet, 5 verwirft Roxin keineswegs. Während aber Honig bei diesem Begriff und seiner Ausfüllung durch das Kriterium der Beherrschbarkeit des Verlaufs6 stehenbleibt, sieht Roxin in der objektiven Bezweckbarkeit nur einen vorläufig verwendbaren, noch präzisierungsbedürftigen Begriff. 7 Unter Aufnahme von Beispielen und Distinktionen Honigs selbst macht er dabei deutlich, daß es insoweit nicht eigentlich um die „Faktizität des Könnens" gehe, sondern daß entscheidend sei, ob der Täter ein rechtlich relevantes (unerlaubtes) Risiko geschaffen habe.8 Zurechenbar seien nur solche Verläufe und Erfolge, die sich als Realisierung eines rechtlich relevanten (mißbilligten) Risikos darstellten. Daran fehle es nicht nur, wenn eine Person schon vorhandene Risiken nur verringert habe, es aber gleichwohl zum Eintritt der tatbestandlich umschriebenen Folgen gekommen sei, sowie in den Fällen der generell erlaubten Schaffung minimaler Risiken oder der mangelnden Steigerung eines erlaubten Risikos. 9 Auch bei rechtlich relevanter (mißbilligter) Risikoschaffung sei noch zu berücksichtigen, daß Verbots- oder Gebotsnormen stets nur auf die Verhinderung ganz bestimmter Verläufe zielten. Dementsprechend sei auch bei der Schaffung eines rechtlich relevanten Risikos nur der Eintritt eines Verlaufs zurechenbar, dessen Verhinderung die Norm bezweckt, nicht dagegen eines solchen, der also außerhalb des Schutzbereichs der (die Risikoschaffung verbietenden) Norm liegt. 10 Roxin lehnt sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich an Gedanken der (damals) im Zivilrecht schon entwickelten Lehre vom Schutzzweckzusammenhang an, deren Fruchtbarkeit er zugleich für eine Reihe strafrechtlich umstrittener Fallkonstellationen (etwa die Fälle der Zweitschäden oder die Retterfälle) zu verdeutlichen sucht. 11 Spätere Beiträge Roxins führen diese Erwägungen fort und konkretisieren sie zugleich für eine Reihe weiterer praktisch bedeutsamer Konstellationen (etwa die Zurechnungsausschließenden Fälle der Selbstgefährdung des eigenverantwortlichen Opfers durch die Einnahme von Drogen). 12 Der von Roxin vorgenommene Austausch der „objektiven Bezweckbarkeit" gegen die Schaffung eines rechtlich relevanten (mißbilligten) Risikos mag auf Vgl. Honig (Fa. 3), 175, 181; Roxin (Fn. 1), 133, 135. Vgl. Honig (Fn. 3), 184, 188, der sich dabei an Gedanken von Latenz in dessen Schrift „Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung", 1926, insbes. 67 ff, anlehnt. 6 Vgl. Honig (Fn. 3), 185 („Erreichbarkeit oder Abwendbarkeit des Erfolgs"), 187 („Möglichkeit der Beherrschung durch den Willen"). 7 Roxin (Fn. 1), 135. 8 Roxin (Fn. 1), 135 f. 9 Roxin (Fn. 1), 136-138. Roxin (Fn. 1), 141. 11 Roxin (Fn. 1), 142 ff. 12 Vgl. insbes. Roxins Beiträge in der FS für Gallas, 1973, 241 ff, 243 ff; in der FS für Klug, 1983, 303 ff und die Anm. zu BGHSt 32, 362 in NStZ 1984, 411 ff sowie (zusammenfassend) die eingeh. Darstellung in Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 11, insbes. Rn. 39 ff. 4

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Anmerkungen zur Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs

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den ersten Blick nicht allzu gewichtig erscheinen — zumal Roxin selbst die relevante Risikosteigerung nur als Präzisierung der objektiven Bezweckbarkeit einführt. 13 Tatsächlich handelt es sich um eine Veränderung des Gedankens der Erfolgszurechnung, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Das gilt zunächst schon in thematischer (und damit verbunden: extensionaler) Hinsicht. Honigs Lehre beschränkt die Erfolgszurechnung thematisch auf die Frage der objektiven Bezweckbarkeit des Erfolgs und damit - in Honigs eigenen Worten - der Beherrschbarkeit des zum Erfolg führenden Kausalverlaufs. Die Filterfunktion des Zurechnungsbegriffs erschöpft sich also in der Ausgrenzung nicht beherrschbarer Verläufe. Eine Zurechnungslehre, die als Basisfrage die Frage nach der rechtlichen Relevanz des vom Täter geschaffenen Risikos (und seiner Realisierung) stellt, hat insoweit eine ganz andere Dimension: 14 Sie erfaßt über die Topoi der (fehlenden) mißbilligten Gefahrenschaffung und des (begrenzten) Schutzzwecks des Tatbestands im Grunde alle Sachgesichtspunkte, die sich - jenseits der (eng verstandenen) Handlung und vor der ausnahmsweisen Rechtfertigung - für und gegen die tatbestandliche Relevanz bestimmter Verläufe ins Feld führen lassen. Dieser thematischen Breite entspricht eine weitaus größere Extension der Ausgrenzung. Es ist leicht verständlich, daß eine so großflächig bedeutsame Lehre von der Erfolgszurechnung weit mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochte als eine Zurechnungslehre, die sich eher auf Randkorrekturen zu beschränken schien. Die Auswechselung der Anknüpfungsbegriffe war zugleich von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Akzeptanz der (neuen) Lehre von der Erfolgszurechnung. Indem Roxin den unscharfen Begriff der Beherrschbarkeit 15 bestimmter Verläufe gegen die Begriffe des rechtlich mißbilligten Risikos und des Schutzbereichs der Norm auswechselte, verknüpfte er die Zurechnungsfrage mit Begriffen, die dem mit Wertungen vertrauten Juristen geläufig sind und den sofortigen Zugang zu einer Vielzahl konturierender Erkenntnisse und Bewertungskriterien erschließen, welche vor allem aus der (fortlaufend Risiken bewertenden) Fahrlässigkeitsdogmatik geläufig sind. Die Zurechnungsfrage wurde so nicht nur von dem Schleier vorrechtlicher Begrifflichkeit befreit und an vertrautes Normatives angebunden. Sie erschien vielmehr als Frage, die Juristen im Kontext der Fahrlässigkeitsdelikte der Sache nach schon immer gestellt haben. 2. Allein die umfassendere Bedeutung und die Verwendung zum Teil vertrauter, assoziationskräftiger Begriffe hätten freilich kaum gereicht, um der neuen Lehre zum Durchbruch zu verhelfen. Diese versprach indessen auch Vgl. Roxin (Fn. 1), 135, 137, 140. Zutreffend Maiwald FS für Miyazawa, 1995, 465 ff. 15 Der Begriff wird von Honig selbst nicht näher definiert; die von ihm in der Festgabe für Frank (Fn. 3), 186f angeführten Beispiele fehlender Beherrschbarkeit sind relativ heterogen. Naucke ZStW 76 (1964), 409, 426 (Anm. 64) bezeichnet denn auch das Konzept als „nicht sehr scharf". 13

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attraktive Lösungspotentiale in Gestalt ihrer Grundfrage wie der Lösungskriterien - Lösungspotentiale, die es nahelegten, sich auf sie einzulassen und das bisher in den traditionellen Begriffen Erarbeitete16 in ihren umfassenden Rahmen einzubringen. Schon im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte eröffnete die dezidiert formulierte Frage nach der Zurechnung von Erfolgen zu bestimmten Personen vor allem dort neue Perspektiven, wo es offenbar um begrenzte Verantwortungsbereiche verschiedener beteiligter Personen ging: Die Frage, ob die Folgen hier dem Täter oder dem Opfer selbst oder Dritten zuzurechnen seien, erschloß den Zugang zur Diskussion derartiger Verantwortungsbereiche weitaus deutlicher als die traditionelle Frage nach der Fahrlässigkeit oder Sorgfaltswidrigkeit des Täters. 17 Ganz Entsprechendes gilt für die Relevanz bestimmter Folgeschäden.18 Nicht weniger leistungsfähig und zum Teil auch schon in anderen Gebieten bewährt erschien der Topos des tatbestandlichen Schutzbereichs, der mit der Frage nach dem Schutzzweck bestimmter Verbote eine faszinierend klare und offenbar auch fruchtbare Fragestellung für eine Reihe schwieriger Fallkonstellationen (z.B. die Schockschadens- und Retterfälle)19 bot, zugleich aber auch in der Verbindung mit dem Erfordernis der Realisierung eines zu verhindernden Verlaufs Sachverhalte systematisch zu fundieren vermochte, über deren Lösung man sich weitgehend einig war (wie die Fälle des fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs). Vor allem aber war der Ansatz auch deshalb attraktiv, weil seine Sacherfordernisse zugleich im Bereich der Vorsatzdelikte verwendbar erschienen, bei denen sich offensichtlich auch Zurechnungsfragen stellten, die traditionellen Lösungsmuster der Fahrlässigkeitsdelikte20 aber nicht zu passen schienen. Die abstraktere Begrifflichkeit der Zurechnungslehre gestattete es hier, vertraute Wertungen und Lösungskriterien aus dem Bereich der Fahrlässigkeits- auf die Vorsatzdelikte zu übertragen. Sie bot damit für bestimmte Fallkonstellationen - wie z. B. die vom Täter gewollten abenteuerlichen Verläufe oder die Fälle des Erfolgseintritts auf andere als die vom Täter vorgestellte Weise dort einsichtige Lösungen, wo die herkömmlichen Instrumentarien der Kausalität und des Vorsatzes ersichtlich an Grenzen stießen.21

16 Gemeint sind die Begriffe der Fahrlässigkeit oder Sorgfaltswidrigkeit und des erlaubten Risikos (vgl. dazu für die damalige Zeit etwa Maurach Strafrecht AT, 2 1971, 542 ff). 17 Bezeichnenderweise sieht auch Maiwald (Fn. 14), 465 ff trotz seines Bemühens um einen Rückschnitt der objektiven Zurechnung die besondere Leistungsfähigkeit des Zurechnungsbegriffs in der Bestimmung der Verantwortlichkeit mehrerer Personen untereinander (480 f). 18

Im Sinne einer Leistungsfähigkeit des Begriffs in solchen Fällen auch Maiwald

(Fn. 14),

480. 19 Zur Leistungsfähigkeit der Schutzzwecklehre insoweit Roxin Gallas (Fn. 12), 256 ff.

(Fn. 1), 141 f; ders. FS für

2 0 Also insbes. die im Fahrlässigkeitsbereich verwendeten Kriterien der (fehlenden) objektiven Voraussehbarkeit des Erfolgseintritts oder der (fehlenden) Sorgfaltswidrigkeit des Handelns. 2 1 Im Sinne einer solchen Deutung des Erfolgs der Zurechnungslehre auch Hirsch FS für Lenckner, 1998, 120.

A n m e r k u n g e n zur Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs

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3. Weitere Umstände - von denen ich hier nur zwei anführen will - begünstigten die Rezeption. Zu nennen ist insoweit zunächst eine für die Übernahme hochnormativer Lösungskriterien günstige Situation. Nicht nur die intensive Diskussion um verschiedene Kausalbegriffe, auch die in den vierziger und fünfziger Jahren geführte Diskussion um den Handlungsbegriff hatte deutlich gemacht, daß gewisse Probleme durch den Rekurs auf ontische Vorgaben oder mit Hilfe deskriptiver Begriffe nicht umfassend gelöst werden können, die eigentlichen Entscheidungen und damit auch die sie leitenden Kriterien vielmehr normativer Art sind. Bei dieser Sachlage war die Bereitschaft vorhanden, sich auch auf hochnormative Leitkriterien einzulassen, wenn diese das eigentliche Problem nur klar und wegweisend ansprachen. 22 Zweitens und spezieller kam der Übernahme der neuen Lehre von der Erfolgszurechnung aber auch eine gewisse Renaissance der Idee und des Begriffs der Zurechnung im Strafrecht, insbesondere die Deutung der Straftat als ein der Person unter verschiedenen Aspekten zurechenbares, von ihr zu verantwortendes Geschehen, 23 zugute. Denn wenn man die Straftat insgesamt als Problem der Zurechnung eines bestimmten Geschehens begriff, mußte man natürlich auch jenes Teilstück der Straftat, das die Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung thematisierte, dezidiert als Problem der Zurechnung qualifizieren.

II. Anerkennung und Kritik der objektiven Zurechnungslehre 1. Vor dem eben skizzierten Hintergrund überrascht es nicht, daß die Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs im Schrifttum - wenn auch nicht in allen Einzelheiten 24 — rasch Anerkennung fand und hier zu Beginn der

22 Daß die Durchsetzung der objektiven Zurechnungslehre entscheidend durch die Bereitschaft zum Normativismus begünstigt wurde, hebt auch Hirsch (Fn. 21), 141 hervor. 23 Grundlegend Hardwig Die Zurechnung - Ein Zentralproblem des Strafrechts, 1957; danach insbesondere Maihofer FS für Eb. Schmidt, 1961, 173 ff; Arthur Kaufmann FS für H. Mayer, 1966, 113 ff; Wessels Strafrecht AT, 1969, 38 ff; Hruschka Strukturen der Zurechnung, 1976; Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981; im Sinne einer umfassenden lehrbuchmäßigen Ausarbeitung Jakobs Strafrecht AT. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1983; 2 1991. 24 Nur teilweise übernommen wurde insbes. Roxins Gedanke, daß in den Fällen der Ungewißheit über den Erfolgseintritt bei rechtmäßigem Alternatiwerhalten für eine Erfolgszurechnung allein schon die nachweisbare, über das erlaubte Maß hinausgehende Risikosteigerung genüge ([Fn. 1], 138 ff; s. auch Roxin ZStW 74 [1962], 418 ff). Diese Aussage der Risikoerhöhungslehre wurde vielmehr zu einem der umstrittensten Punkte innerhalb der Lehre von der Erfolgszurechnung selbst; vgl. dazu einerseits SK-StGB-Rudolphi (7. Aufl. 1999), Vorbem. § 1 Rn. 65 ff; andererseits Jakobs Strafrecht AT, 2 1991, 7/98 ff. Weitere Nachweise bei Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, 537 ff; N K - P u p p e 2. Aufl. (3. 10. 1998), Vor § 13 Rn. 120 ff; Roxin AT I (Fn. 12), § 11 Rn. 76 ff.

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achtziger Jahre bereits herrschende Meinung war. 2 5 Ein gewisses Kuriosum mag man allenfalls in der Plazierung der Lehre in den Lehrbüchern und Kommentaren sehen. Die einschlägigen Darlegungen finden sich meist im Kontext des vorsätzlichen Begehungsdelikts, obwohl die praktische Bedeutung der Lehre in diesem Bereich eher gering ist. Im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte, in dem die rechtspraktische Selektionsleistung von Kriterien wie der Schaffung eines rechtlich relevanten Risikos und seiner Realisierung vor allem liegt, begegnen zurechnungsspezifische Überlegungen dagegen meist in einer - nicht immer ganz klaren - Symbiose mit der traditionellen Begrifflichkeit der Fahrlässigkeitsdelikte (also der Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens). 2 6 Der Rückgriff auf Zurechnungsüberlegungen und -kriterien dominiert hier vor allem jenseits der Sorgfaltswidrigkeit bei Fallkonstellationen mit starker Opferbeteiligung, in den Fällen des nur ermöglichten Handelns Dritter, den Sachverhalten des fehlenden Schutzzweckzusammenhangs sowie des Folgeneintritts auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten und als Realisierung allgemeiner Lebensrisiken. 2 7 Noch ausgeprägter zeigt sich dieses Nebeneinander von traditioneller Sichtweise und objektiver Zurechnungslehre in der Rechtsprechung. Wo sich das, was die objektive Zurechnungslehre über die (fehlende) Schaffung eines rechtlich relevanten Risikos oder die (fehlende) Realisierung dieses Risikos zu lösen versucht, ohne weiteres schon mit dem traditionellen Instrumentarium der Fahrlässigkeitsdelikte erledigen läßt, wählt die Rechtsprechung diesen Weg. 2 8 Daß sie dem Gedankengut der Lehre von der Erfolgszurechnung nicht ablehnend gegenübersteht, zeigen indessen mehrere Entscheidungen im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte, in denen die Judikatur ganz offen auf Gedankengänge der Zurechnungslehre zugreift. 2 9 Vergleichbare, insbesondere zurechnungsver-

2 5 Vgl. etwa Eser Strafrecht I, 2 1976, 4/16 ff; Jakobs Strafrecht AT, '1983, 7/35 ff; Jescheck Strafrecht AT, 3 1978, § 28 I 3 (223 f) und IV (230 ff); LK-Jescheck StGB, 1 0 1985, Vorbem. § 13 Rn. 59 ff; Maurach/Zipf Strafrecht AT 1, 5 1977, § 18 III B; Schönke/Schröder/Lenckner StGB, 1 8 1976, Vorbem. § § 1 3 ff R n . 9 5 f f ; SK-StGB-Rudolpbi ( l . A u f l . 1975), Vorbem. § 1 Rn. 57; Schmidhäuser Strafrecht AT, 2 1975, 8/47 ff (allerdings mit Einordnung des erlaubten Risikos als Rechtfertigungsgrund) sowie Wessels Strafrecht AT, 7 1978, § 6 II (39 ff). 2 6 Zu den insoweit vorfindbaren Verbindungen, aber auch gewissen Unklarheiten, eingehend Burkhardt in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, 99 ff; dazu ergänzend Frisch in: Wolter/Freund (aaO), 135, 169 ff. 2 7 Vgl. etwa Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5 1996, § 55 II 2 (583 ff); Kühl Strafrecht AT, 2 1997, § 17 Rn. 45 ff; Wessels/Beulke Strafrecht AT, "1999, Rn. 673 ff. - Anders, nämlich im Sinne einer Ersetzung der traditionellen Begrifflichkeit des Fahrlässigkeitsdelikts durch die Kriterien der objektiven Zurechnungslehre, Roxin AT I (Fn. 12), § 24 Rn. 10 ff, 14 ff. 2 8 Als Beispiel sei die Entscheidung BGHSt 23, 61 genannt, in der Schutzzwecküberlegungen im Rahmen des schon von BGHSt 11, 1, 7 herangezogenen „rechtlichen Ursachenzusammenhangs" (Pflichtwidrigkeitszusammenhangs) fruchtbar gemacht werden. 2 9 Hervorhebenswert etwa BGHSt 32, 262 m. Anm. Roxin NStZ 1984, 411; BGH NStZ 1984, 452; 1985, 25 und BGHSt 39, 322 mit Bespr. von Bernsmann/Zieschang JuS 1995, 775; Sowada JZ 1994, 663 und Frisch FS für Nishihara, 1998, 66 ff; O L G Stuttgart N J W 1979, 2573; NStZ 1997, 190 f. - Im Kontext der Auswirkungen des error in persona des Angestifteten für den Anstifter auch BGHSt 37, 214 m. Anm. Puppe NStZ 1991, 123 und Roxin JZ 1991, 680.

Anmerkungen zur Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs

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neinende Entscheidungen zu den Vorsatzdelikten fehlen zwar. Eine grundsätzliche Ablehnung der Zurechnungslehre für den Bereich der Vorsatzdelikte läßt sich daraus aber schwerlich entnehmen. Das Fehlen von zurechnungsverneinenden Entscheidungen im Bereich der Vorsatzdelikte ist vielmehr rechtspraktisch bedingt, hat insbesondere damit zu tun, daß Vorsatztäter sich in der Realität (anders als in Lehrbuchbeispielen) regelmäßig offensichtlich mißbilligter Risiken bedienen und beim bloßen Einsatz rechtlich noch nicht relevanter Risiken rechtspraktisch regelmäßig auch der Vorsatz nicht belegbar ist. 2. Freilich hat die Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs auch Kritik erfahren, und zwar nicht nur im Detail — wie etwa bei der Figur der Risikoverringerung - , sondern durchaus in grundsätzlicher Hinsicht, in bezug auf ihre Existenzberechtigung und ihre Adäquität. Gegenstand der Kritik ist dabei vor allem das zentrale Erfordernis einer objektiv mißbilligten Gefahrenschaffung. Es erscheint den einen problematisch, weil es über zurechnungsspezifische Tatbestandsbeschränkungen bereits auf die Rechtswidrigkeitsfrage vorgreife, 30 während andere in ihm eine überzogene Normativierung des Strafrechts sehen, die der Rechtsunsicherheit Tür und Tor öffne. 31 Vor allem von Vertretern des Finalismus wird darüber hinaus auch auf die Uberflüssigkeit der objektiven Zurechnungslehre 32 und die Unmöglichkeit bzw. Sachwidrigkeit des Erfordernisses einer rein objektiv zu beurteilenden (mißbilligten) Gefahr verwiesen. 33 Die Unmöglichkeit einer rein objektiven Beurteilung der mißbilligten Gefahrenschaffung ergibt sich für Armin Kaufmann daraus, daß es für die Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines bestimmten Handelns entscheidend auch auf das Wissen des Handelnden ankommt: 3 4 Wenn jemand einem anderen ein Auto überläßt und es später wegen eines Defekts der Bremsen zu einem tödlichen Unfall kommt, so hänge die Antwort darauf, ob in der Überlassung eine mißbilligte Gefahrenschaffung lag oder nicht, auch vom Wissen des Überlassenden ab. War diesem der Defekt bekannt, so stelle die Überlassung natürlich eine mißbilligte Gefahrenschaffung dar, während dies bei fehlendem Wissen durchaus anders sein könne. Es gehe also - so Armin Kaufmann - ohne den Blick auf das Subjektive nicht ab. Sei man solchermaßen erst einmal in den subjektiven Bereich vorgedrungen, so sei aber auch die Rückkehr zur objek3 0 So Bustos Ramirez GS für Armin Kaufmann, 213, 236 f; Maiwald (Fn. 14), 476 f; s. auch Stratenwertb Strafrecht AT I, 3 1981, Rn. 230 i. V. m. 348 ff (anders in der 4. Aufl. 2000, § 8 Rn. 27). 31 So insbes. Küpper Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, 93ff, lOOff; ansatzweise zuvor auch schon Hirsch FS der Rechtswissenschaft!. Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, 403, 407 und Armin Kaufmann FS für Jescheck, 1985, 251, 259. 3 2 So Armin Kaufmann (Fn. 31), 261. 3 3 S o insbes. Armin Kaufmann (Fn. 31), 251 ff, 265; Struensee GA 1987, 97 ff, 105; später auch Hirsch (Fn. 31), 405, 406; dazu wieder Roxin GS für Armin Kaufmann, 1989, 237, 250 ff. 3 4 Vgl. etwa Armin Kaufmann (Fn. 31), 261, 266; Struensee (Fn. 33), 97, 99f, 105f; später auch Hirsch (Fn. 31), 405, 406; zust. Koriath Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, 1994, 534 ff.

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tiven Gefahrenbeurteilung unnötig. 35 Für den Fall des fehlenden Wissens sei bereits damit klar, daß ein Vorsatzdelikt ausscheidet. Kaufmanns Schüler Struensee hat diese Kritik bekräftigt und auf die Fahrlässigkeitsdelikte erstreckt:36 Auch hier sei, wenn man die Relevanz des sogenannten Sonderwissens für die Frage des richtigen Verhaltens anerkennt, 37 eine rein objektive Beurteilung nicht möglich, komme es vielmehr auch auf Subjektives an. Freilich finden sich speziell zur Uberflüssigkeit der Kategorien der objektiven Zurechnungslehre auch andere Begründungen. Hirsch und Küpper etwa stützen ihre Kritik für den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte darauf, daß schon aus dem Wesen des fahrlässigen Erfolgsdelikts sich ergebende Instrumentarien der Fahrlässigkeitsdogmatik zur Lösung der Fälle ausreichten, für die die objektive Zurechnungslehre besondere Zurechnungskategorien heranzieht.38 Einer besonderen mißbilligten Gefahrenschaffung bedürfe es nicht; insoweit reiche das Erfordernis der Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens. Und auch besondere Realisierungs- oder Schutzzweckzusammenhänge seien unnötig; die Funktion dieser Erfordernisse sei durch das in der Fahrlässigkeitsdogmatik seit langem anerkannte Erfordernis des Rechtswidrigkeits- oder Pflichtwidrigkeitszusammenhangs gewährleistet. Für den Bereich der Vorsatzdelikte verweisen diese Kritiker vor allem auf die ausfilternde Wirkung des Vorsatzes und der Täterkriterien. Das Wesen des Vorsatzes als Verwirklichungswille schließe es aus, den Täter, der auf höchst unwahrscheinliche und jenseits menschlicher Beherrschbarkeit liegende Verläufe setzt, als vorsätzlich Handelnden zu qualifizieren. 39 In den Fällen des vorausgesehenen oder in Kauf genommenen Erfolgseintritts über das Handeln eines eigenverantwortlichen Opfers oder Dritten aber scheide eine vorsätzliche Täterschaft deshalb aus, weil es insoweit an der Tatherrschaft des Urhebers fehle, im ersten Fall etwa nur eine Anstiftung zur frei verantwortlichen bewußten Selbstgefährdung vorliege. 40 - Freilich ist an dieser Stelle in jüngster Zeit ein Wandel in der Argumentation zu bemerken. Hirsch etwa erkennt die Notwendigkeit gewisser objektiver Erfordernisse inzwischen auch beim Vorsatzdelikt an. Indessen gehe es dabei nicht einfach um die Schaffung einer mißbilligten Gefahr, sondern darum, daß das Verhalten des Täters spezifische objektive Anforderungen erfüllen müsse, um T'ittrhandeln im Sinne der einzelnen Tatbestände zu sein. 41 Der Akzent der Kritik verschiebt Vgl. Armin Kaufmann (Fn. 31), 261. Struensee (Fn. 33), 97, 99 f, 101, 105; dazu Roxin (Fn. 33), 250 f. 3 7 Wie die h. M. dies (nach Struensees Ansicht [JZ 1987, 53, 57 ff, 59] freilich systemwidrig) tut; vgl. etwa Jescheck/Weigend (Fn. 27), § 55 I 2 b (579) mwN; Roxin AT I (Fn. 12), § 11 Rn. 50, § 24 Rn. 55. 3 8 Vgl. Hirsch (Fn. 31), 406; ders. (Fn. 21), 127; Küpper (Fn. 31), 100 ff. 3 9 Vgl. Hirsch (Fn. 31), 404f, aber auch ders. (Fn.21), 122f; Küpper (Fn. 31), 9 2 f f ; zuvor schon Welzel Das Deutsche Strafrecht, u 1 9 6 9 , 66 (der ursprünglich den objektiven Tatbestand mit Blick auf die soziale Adäquanz verneinte, ZStW 58 [1939], 517). Gegen derartige Lösungen im Subjektiven Schünemann G A 1999, 219 f. 40 Hirsch (Fn. 31), 405; ders. (Fn. 21), 126. 4 1 Vgl. Hirsch (Fn. 21), 119, 131 ff, insbes. 1 3 9 f f . 35 36

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sich also von der Überflüssigkeit hin zur fehlenden Sachgerechtigkeit der objektiven Zurechnungslehre. 42 3. Manche dieser Einwände erledigen sich von selbst. Das gilt vor allem für den Hinweis, daß es der objektiven Zurechnungslehre im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte nicht bedürfe, weil adäquate Problemlösungen hier bereits über das spezifische Instrumentarium der Fahrlässigkeitsdelikte (Sorgfaltswidrigkeit, Pflichtwidrigkeitszusammenhang) möglich seien. Die Adäquität der Sachvoraussetzungen der Erfolgszurechnung wird durch diesen Einwand nicht bestritten, sondern im Gegenteil anerkannt. Denn in der Sorgfaltswidrigkeit des Handelns ist das Gegebensein der mißbilligten Gefahrenschaffung vorausgesetzt; 43 und darin, daß der Erfolg gerade auf die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens zurückzuführen sein muß, steckt zugleich das Erfordernis, daß sich jene mißbilligte Gefahr realisiert haben muß, derentwegen das Handeln verboten und sorgfaltswidrig ist. Die Unterschiede im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte erschöpfen sich damit in der verschiedenen Benennung der Sacherfordernisse sowie deren unterschiedlicher Herleitung. Selbst im Bereich der Vorsatzdelikte verliert der Einwand der Überflüssigkeit deutlich an Gewicht, wenn nunmehr Hirsch, einer der prominentesten Kritiker der objektiven Zurechnungslehre, einräumt, daß ohne objektive Filter wohl doch nicht ganz auszukommen sei, und der objektiven Zurechnungslehre nur (noch) vorwirft, die richtigen objektiven Kriterien zu verfehlen. 44 Mit der Anerkennung von Erfordernissen wie der Sorgfaltswidrigkeit wird freilich auch der Vorwurf einer überzogenen Normativierung und der Gefährdung der Rechtssicherheit unglaubwürdig. Denn man kann sich kaum einen stärker normativ besetzten und in Teilbereichen unsichereren Begriff vorstellen als den der Sorgfaltswidrigkeit. 45 Allenfalls läßt sich der Einwand damit in dem Sinne aufrechterhalten, daß solche Normativierung und Unsicherheit im Bereich der Vorsatzdelikte vermeidbar sei, weil hier zur Problemlösung schärfere Begriffe zur Verfügung stünden - wie der als Verwirklichungswille eine gewisse Tatmacht voraussetzende Begriff des Vorsatzes oder (bei Erfolgseintritt über eigenverantwortliche Opfer oder Dritte) der Begriff der (fehlenden) Tatherrschaft oder, wie nunmehr nach Hirsch, die Wesensmerkmale der speziell in den vorsätzlichen Erfolgsdelikten vorausgesetzten Handlungen. Indessen ist schon zweifelhaft, ob diese Begriffe wirklich so klar sind, wie die Kritiker der objektiven Zurechnungslehre es behaupten. 46 Vor allem aber trägt der Einwand Siehe insbes. Hirsch (Fn. 21), 119, 121, 123, 125, 127, 131 ff, 138. Und zwar jenseits unterschiedlicher Akzentuierungen des Verhältnisses, wie sie Burkhardt (Fn. 26), 99 ff analysiert. Wie der Text auch Murmann Die Nebentäterschaft im Strafrecht, 1993, 250. 44 Vgl. Hirsch (Fn. 21), 119, 122 ff, 131 ff; näher dazu unten IV. 1. 4 5 Vgl. statt vieler Burkhardt (Fn. 26), 99 ff; s. auch Roxin AT I (Fn. 12), § 24 Rn. 12. 46 Man vgl. nur die gravierenden Unterschiede der Deutung und Konkretisierung der Tatherrschaft seitens der Anhänger des Tatherrschaftskriteriums im Rahmen der Täterlehre! Siehe ergänzend unten Fn. 77. 42 43

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des Normativismus und der mit den Begriffen der Zurechnungslehre verbundenen Rechtsunsicherheit dann nicht mehr, wenn die kritisierten normativen Begriffe aus Sachgründen unverzichtbar sein sollten. Dann müssen die entsprechenden Unschärfen hingenommen bzw. durch entsprechende Konkretisierungen möglichst behoben werden. Das bedeutet zugleich, daß eine endgültige Stellungnahme zu diesem Einwand erst möglich ist, wenn man sich des sachlichen Hintergrunds der Voraussetzungen der objektiven Zurechnungslehre vergewissert und diese als berechtigt erkannt hat. Dieser Frage müssen wir uns daher nunmehr zuwenden.

III. Zur Fundierung der Sachvoraussetzungen der objektiven Zurechnungslehre: Berechtigtes 1. Ausgangspunkt der einschlägigen Überlegungen muß die Einsicht sein, daß bei Gegebensein oder Hinzutreten bestimmter Bedingungen im Grunde jedes Handeln (Verhalten) irgendwelche Güterbeeinträchtigungen nach sich ziehen kann. Das allein kann noch nicht reichen, um ein Verhalten zu mißbilligen. Es käme sonst zu einem Ausmaß von Freiheitsbeschränkungen, an dem niemand interessiert ist. Für ein Verbot kommt vielmehr nur ein sehr viel engerer Kreis von möglicherweise folgenreichen Verhaltensweisen in Betracht. 47 Dem Grundgedanken des Rechts entspricht eine Beschränkung auf Verhaltensweisen, deren Verbot auch der von dieser Beschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten Betroffene als Vernünftiger muß akzeptieren können, weil er sie in der Position des vom Verhalten potentiell Betroffenen selbst wollte. 48 Orientiert man sich daran, so muß das Verbot und die Freiheitsbegrenzung - in Ubereinstimmung auch mit verfassungsrechtlichen Anforderungen - geeignet, erforderlich und im Blick auf vorhandene Rechtsprinzipien angemessen sein, um bestimmte Gutsbeeinträchtigungen (bzw. die zu ihnen führenden Verläufe) zu verhindern. Vor diesem Hintergrund wird in der Regel kein Grund für eine Freiheitsbeschränkung wegen der bloßen Möglichkeit eines Folgeneintritts bestehen, wenn diesem (bei Sichtbarwerden gewisser ungünstiger Bedingungen) erfahrungsbegründet auch später noch erfolgreich begegnet werden kann. Aber auch wenn das nicht der Fall ist, hat eine Mißbilligung im Blick auf denkbare negative Folgen vielfach auszuscheiden. Geht es beispielsweise um höchst unwahrscheinliche Verläufe, denen bei Abstandnahme von dem sie möglicherweise auslösenden Verhalten nur andere, nicht signifikant geringere Risiken gegenüberstünden, so wird man 47

Siehe dazu auch Jakobs

Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, 1996,

25 ff. 48 Es geht also nicht um ein strafrechtliches Sonderproblem, sondern um die Frage der Rechtskonstitution und der Rechtsbegrenzung überhaupt - womit auch im Sinne eines allgemeinen (zu konkretisierenden) Prinzips Gedanken wie der der wechselseitigen Adäquität der Freiheitsbegrenzung eine Rolle spielen.

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vernünftigerweise nicht auf die mit solchen theoretischen Risiken behafteten Tätigkeiten verzichten - mit solchen Risiken pflegt man sich vielmehr im Sinne von allgemeinen Lebensrisiken abzufinden.49 Eine Mißbilligung erwartet man regelmäßig erst, wenn auf die Möglichkeit solcher Verläufe konkrete Anhaltspunkte hindeuten oder es sich um erfahrungsbegründete Möglichkeiten handelt, an denen man auch sein eigenes, auf Schadensvermeidung bedachtes Verhalten vernünftigerweise ausrichten würde. 50 Weitere wichtige Gesichtspunkte, die auch für das Interesse des Opfers an einer (von ihm selbst wechselseitig zu akzeptierenden) Freiheitsbeschränkung anderer bedeutsam sind, bilden etwa die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Gefahrenrealisierung vom Opfer selbst als vernünftiger und verantwortlicher Person oder von entsprechenden Dritten: Wo der Eintritt bestimmter Folgen vom deliktischen Verhalten eigenverantwortlicher Dritter oder von jederzeit vermeidbarem eigenem Verhalten (des verantwortlichen Opfers) abhängt, wird man im allgemeinen (gerade auch im Blick auf die sonst für sich selbst gesetzten Begrenzungen) nicht die Mißbilligung des Verhaltens und damit die Freiheitsbegrenzung wollen, sondern die Vernünftigkeit und Verantwortlichkeit des Dritten oder der eigenen Person als ausreichende Garantie vor Schadenseintritten erachten.51 Wir brauchen diese Überlegungen nicht weiterzuführen. Schon die bisherigen Erwägungen zeigen, daß für eine rechtliche Mißbilligung nur Verhaltensweisen in Betracht kommen, die mit besonderen Risiken der Herbeiführung tatbestandlicher Güterbeeinträchtigungen behaftet sind. Diese besonderen Risiken werden dabei primär nicht durch Wahrscheinlichkeitsgrade, sondern vor allem durch bestimmte Umstände der Möglichkeit des Schadenseintritts definiert (etwa: die Unmöglichkeit, bestimmten Verläufen später Rechnung zu tragen; konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen bestimmter risikoerhöhender Umstände; die Unabhängigkeit der Risikoverwirklichung von weiterem Handeln vernünftiger Personen usw.). Ganz entsprechend kommen andere Risiken als Legitimationsgrund für eine Freiheitsbeschränkung regelmäßig nicht in Betracht (z. B. minimale Risiken, die man selbst wegen ihrer Ubiquität im Interesse eigener Entfaltung nicht scheut; Risiken, die sich nur bei Fehlverhalten vernünftiger Dritter realisieren usw.). Wo solche Risiken keinen legitimierenden Grund für eine Mißbilligung des Verhaltens abgeben, taugen die mit ihnen behafteten Verhaltensweisen von vornherein nicht zur Begründung des in den Vollendungstatbeständen vorausgesetzten objektiven (Handlungs-)Unrechts.52 Daran ändert sich auch dann nichts, wenn es im Gefolge solcher Handlungen tatsächlich zum Eintritt tatbestandsmäßiger Folgen kommt. Ein so eintretender Siehe dazu Frisch (Fn. 24), 386f, 388 ff rawN. Siehe dazu Frisch (Fn. 24), 122 ff, 127 f. 51 In dieser normativen Garantie und damit der fehlenden Rechtsverletzung des Handelnden, nicht in der fehlenden Beherrschbarkeit (die die ältere objektive Zurechnungslehre annahm), liegt der Grund dafür, daß gleichwohl eintretende Erfolge nicht als Unrecht angelastet werden können. 52 Im Bereich des Fahrlässigkeitsdelikts etwa läßt sich hier schon gar nicht von einem sorgfaltswidrigen Verhalten sprechen. Zu den Vorsatzdelikten siehe noch unten V. 1. 49

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Erfolg verkörpert kein (zurechenbares) Erfolgsunrecht, weil er schon gar nicht die Manifestation unrechten Verhaltens ist. Es ändert sich daran aber auch nichts dadurch, daß eine Person im Rahmen der Ausübung solcher rechtlich anerkannter Freiheiten anderen Böses will - jedenfalls prinzipiell nicht. 53 Solche bösen Absichten, Wünsche, Hoffnungen oder Annahmen mögen das Verhalten unmoralisch erscheinen lassen. Die rechtliche Freiheitsverteilung lassen sie prinzipiell unberührt. Das aber bedeutet: Hinsichtlich der grundsätzlichen Adäquität der ersten Sachvoraussetzung für die Annahme von zurechenbarem Erfolgsunrecht hat die objektive Zurechnungslehre recht; darauf, daß das letztlich zum tatbestandlichen Erfolg führende Verhalten überhaupt eine mißbilligte Gefahrenschaffung darstellt, läßt sich bei Delikten, die - wie die vollendeten Erfolgsdelikte - Unrechtserfolge und damit aus objektiven Uberschreitungen der rechtlichen Freiheit erwachsende Folgen voraussetzen, nicht verzichten. Mit dieser Einsicht ist freilich über zweierlei noch nicht entschieden: Es steht damit weder fest, daß diese Sachvoraussetzung primär ein Element der objektiven Zurechnung ist, noch ist damit ausgemacht, daß sie zum Tatbestand gehört. Auf die erste Frage wird noch einzugehen sein (unten V. 1.). Die Frage der Zugehörigkeit zum Tatbestand (und nicht etwa - erst - zur Rechtswidrigkeit) 54 aber hängt vom Tatbestandsverständnis ab. Hier sind unterschiedliche Auffassungen vertreten worden, und hier läßt sich - zumindest im Ansatz — auch Unterschiedliches vertreten. Für eine Auffassung, die den Tatbestand als wertfreies Gebilde versteht, 55 ist für dieses Sacherfordernis im Tatbestand sicher noch kein Platz. Versteht man den Tatbestand (wegen der Inkonsistenz des Konzepts der Wertfreiheit) 56 als ein bereits bestimmte Wertungen artikulierendes Gebilde, so kommt es wieder entscheidend darauf an, wieviel an Wertung man in den Tatbestand aufnimmt. Hält man die insoweit maßgebenden Wertungen sehr begrenzt (beschränkt man sich z. B. auf zurechenbares Verhalten, das in objektiv bezweckbarer Weise eine als Gutsbeeinträchtigung geltende Folge herbeiführt) 5 7 , so erscheint es durchaus möglich, die in der mißbilligten Gefahrenschaffung versammelten Sachverhalte jenseits des Tatbestands als Sachverhalte des Unrechtsausschlusses zu führen. 5 8 Anders wird dies erst, wenn man den Tatbestand als Unrechtstypus, als typischerweise unrechtes

53 Anderes gilt allein dort, wo bestimmte Rechte nur für den Fall der Verfolgung bestimmter Ziele anerkannt sind, was aber nicht der Normalfall ist. Siehe ergänzend Frisch FS für Lackner, 1987, 113, 145 ff sowie ders. (Fn. 24), 46 f, 122 f mwN; Roxin (Fn. 33), 245. 54 Siehe die kritischen Nachweise oben Fn. 30. 55 So die ältere Lehre, vgl. etwa Beling Die Lehre vom Verbrechen, 1906, 111, 145. 56 Zur Kritik der Lehre von der Wertfreiheit des Tatbestands (durch Hegler, Sauer und Mezger) vgl. etwa Schweikert Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, 1957, 14 ff. 57 Also Beschränkung des Tatbestands auf das von Honig (Fn. 3), 174, 182 ff Geforderte. 58 In diesem Sinne das Konzept Maiwalds (Fn. 14), 476 ff und Stratenwerths Strafrecht (Fn. 30), Rn. 230 i. V. m. 348 ff (anders in der 4. Aufl. 2000, § 8 Rn. 27). - Wohl auch Köhler Strafrecht AT, 1997, 143 ff.

A n m e r k u n g e n z u r Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs

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Verhalten versteht59 - also als Umschreibung dessen, was in der Regel als verbotenes Verhalten anzusehen ist und sich nur bei Vorliegen bestimmter Ausnahmesachverhalte rechtfertigen läßt. Dann liegt es nahe, die Sachvoraussetzung der an sich mißbilligten Gefahr schon dem Tatbestand zuzuordnen eben weil es bei Nichterfüllung dieser Voraussetzung schon generell an einem unrechten Verhalten fehlt. In der Sache dürfte das wohl das heute herrschende Tatbestandsbild sein, das sich insbesondere auch in der Qualifikation der Sorgfaltswidrigkeit als Tatbestandselement der Fahrlässigkeitsdelikte60 widerspiegelt. 2. Unverzichtbar erscheint aber auch das zweite Sacherfordernis der objektiven Zurechnungslehre: der spezifische (Realisierungs-)Zusammenhang zwischen dem prinzipiell mißbilligten Täterverhalten und dem eingetretenen Erfolg. Die in den Erfolgsdelikten geforderten Güterbeeinträchtigungen interessieren nicht einfach als naturalistisches Datum, sondern als Ausdruck des Unrechts (und in diesem Sinne als Erfolgsunrecht). Dieser Unrechtscharakter wird nicht schon dadurch begründet, daß sich der eingetretene Erfolg kausal auf ein menschliches Handeln (im Sinne eines zurechenbaren Verhaltens) zurückführen läßt. Notwendig ist vielmehr, daß er sich auch als Abweichung vom rechtlich gewährleisteten Zustand darstellt. Daran fehlt es nicht nur, wenn der Erfolg als Folge eines Handelns eintritt, das Ausübung rechtlich anerkannter Freiheit ist. Es kann daran auch mangeln, wenn das Handeln in bestimmter Hinsicht eine mißbilligte Risikoschaffung bildet - dann nämlich, wenn der eingetretene Erfolg mit dieser Rechtsüberschreitung „nichts zu tun hat", nicht deren spezifische Folge ist. Rechtsbegrenzungen in Gestalt von Verboten sollen nicht alles irgendwie Erdenkliche, unter Umständen bei ihrer Einhaltung nur ganz zufällig Vermeidbare verhindern.61 Sie beziehen ihre Legitimation vielmehr daraus, daß man mit ihrer Hilfe (planmäßig) bestimmte Verläufe und Folgen verhindern kann und sie zur Verhinderung dieser Verläufe, also zur Erhaltung des rechtlich gewährleisteten Zustands, erforderlich und angemessen sind.62 Von Unrecht im Sinne unrechtmäßiger Folgen kann daher nur dann die Rede sein, wenn ein Verlauf eingetreten ist, dessen Unterbleiben zum Rechtszustand gehört, rechtlich gewährleistet ist.63 Hieran fehlt es, wenn sich im Anschluß an eine mißbilligt riskante Handlung nicht ein spezifischer, hinter dem Verbot der 59 Vgl. etwa Jescheck/Weigend (Fn. 27), § 25 I 2 (245 f); Schönke/Schröder/Lenckner StGB, "1997, Vorbem. §§ 13 ff Rn. 43 ff. 60 Zur heute ganz überwiegenden Qualifikation der Sorgfaltswidrigkeit als Tatbestandselement der Fahrlässigkeitsdelikte vgl. etwa Jescheck/Weigend (Fn. 27), § 55 I (577 ff); Wessels/ Beulke (Fn. 27), Rn. 657 f, 667 ff; anders aber z. B. Schmidhäuser (Fn. 25), 9/32 ff. 61 Zutreffend Roxin (Fn. 1), 140 ff; Rudolphi (Fn. 2), 549, 552; Schünemann (Fn. 39), 213 ff. 62 Siehe dazu Frisch (Fn. 24), 71 f, 96 ff, 524 ff. Eingehend zu dieser spezifischen Legitimation Freund Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, 52 f, 54 ff, 128 ff; den. Strafrecht AT, 1998, § 2 Rn. 10 ff, 46 ff. 63 Heute wohl nahezu einhellig anerkannt und meist als Erfordernis des Schutzzweckzusammenhangs umschrieben; vgl. etwa Jescheck/Weigend (Fn. 27), § 28 IV 3 (288); Schönke/Schröder/ Lenckner (Fn. 59), Vorbem. §§ 13 ff Rn. 95 f, je mwN.

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Handlung stehender Verlauf realisiert hat, sondern durch das Verhalten nur die Realisierung eines allgemeinen Lebensrisikos ermöglicht wird. 64 Es fehlt daran aber auch, wenn der eingetretene Erfolg deshalb nichts mit dem mißbilligten Risiko zu tun hat, weil er ganz genauso bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre. 65

IV. Folgerungen: Zur Unhaltbarkeit der finalistischen Kritik Vor dem eben skizzierten Hintergrund erweist sich die Kritik an den von der objektiven Zurechnungslehre postulierten Sachvoraussetzungen als unberechtigt. 1. Das gilt insbesondere für den Einwand, diese Sachvoraussetzungen seien überflüssig, ihre Einführung brächte eine nicht notwendige und gefährliche Normativierung. 66 Diese Kritik ist nicht nur insoweit wenig überzeugend und letztlich weitgehend terminologischer Art, als die Kritiker im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte selbst mit ganz ähnlichen Erfordernissen (sorgfaltswidriges, gefahrenbeinhaltendes Handeln) arbeiten. Sie ist auch im Bereich der Vorsatzdelikte in der Sache verfehlt. Denn auch hier ist das Verhalten - ganz unabhängig von etwaigen subjektiven Zielsetzungen usw. - objektives Unrecht nur, wenn und soweit es sich als Überschreitung des Rechts darstellt, was im Bereich der Erfolgsdelikte ohne die Annahme einer mit dem Verhalten verbundenen mißbilligten Gefahrenschaffung nicht denkbar ist. Ebenso bilden eingetretene Erfolge Unrecht nur, soweit sie die spezifische Folge solcher Freiheitsüberschreitung sind. Defizite in diesem Bereich lassen sich durch Subjektives nicht kompensieren; vielmehr muß zum Subjektiven (beim vollendeten Delikt) das objektive Unrecht hinzukommen. Dementsprechend müssen dann auch die mit diesen unverzichtbaren objektiven Voraussetzungen gegebenenfalls verbundenen Normativierungen und Unschärfen, soweit sie unvermeidbar sind, hingenommen werden. Hiergegen läßt sich auch nicht einwenden, der Gesichtspunkt der Schaffung einer mißbilligten Gefahr passe nur zu den Fahrlässigkeitsdelikten, im Bereich der Vorsatzdelikte dagegen sei er fehl am Platze: 67 Hier gehe es um Verhaltensweisen, die gewisse spezifische Anforderungen der Vorsatzdelikte erfüllen müßten - Anforderungen, wie sie sich aus dem Begriff der Handlung und (als positiv-rechtlichem Niederschlag „vorrechtlicher Einsichten") aus der 6 4 Näher dazu mit weiterer Begründung Frisch (Fn. 24), 123 f, 276 ff, 336 f sowie 394 f, 402 ff, 524 ff. 6 5 Eingehend dazu Küper FS für Lackner, 1987, 247 ff, 267 ff, 277 ff m w N ; ergänzend Frisch (Fn. 24), 524 ff, 529 ff. - In der Sache abw. allerdings Spendel JuS 1964,14 ff sowie für bestimmte Konstellationen auch Ranft N J W 1984, 1429 und Krümpelmann FS für Jescheck, 1985, 331. 6 6 Vgl. insbes. Küpper (Fn. 31), 93 ff, 100 ff; gegen diesen auch von Hirsch erhobenen Einwand zutreffend zuletzt Schünemann (Fn. 39), 219, 228. 6 7 So Hirsch (Fn. 21), 119, 133 ff.

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Eingrenzung der Versuchsstrafbarkeit, aber auch daraus ergeben, daß sich die Tatbestände auf gewisse sozial übliche Verhaltensweisen nicht beziehen. Richtig an diesem Einwand ist nur, daß es mißbilligte Gefahrenschaffungen geben mag, die für die Erfüllung der Tatbestände der Vorsatzdelikte nicht taugen. Doch besagt dies lediglich, daß zur Erfüllung des Tatbestands der Vorsatzdelikte allein ein engerer Kreis mißbilligter Risiken in Betracht kommt, es hier um mißbilligte Risiken geht, die zusätzliche Kriterien erfüllen müssen. Verfehlt erscheint dagegen die weitergehende Annahme, Erfordernisse wie das unmittelbare Ansetzen ersetzten die Erforderlichkeit einer mißbilligten Risikoschaffung: Natürlich gelangen auch Fälle, bei denen es an der Schaffung einer mißbilligten Gefahr fehlt (wie die Erbonkel-Fälle usw.), in ein Stadium, in dem in zeitlicher Hinsicht von einem unmittelbaren Ansetzen gesprochen werden kann; tritt hier der Erfolg ein, so fehlt es an der Tatbestandsverwirklichung nicht deshalb, weil die im unmittelbaren Ansetzen liegenden (zeitlichen) Erfordernisse nicht erfüllt sind oder wegen der Nichterfüllung der Kriterien der Handlung, sondern allein wegen der fehlenden Mißbilligung der Gefahr, die der Täter bis ins letzte Stadium vor der Erfolgsherbeiführung geschaffen hat oder sich hat entwickeln lassen. 68 Nicht weniger verfehlt ist es, die soziale Üblichkeit bestimmter Verhaltensweisen gegen die mißbilligte Gefahrenschaffung auszuspielen. 69 Die (normativ anerkannte!) soziale Üblichkeit bestimmter Verhaltensweisen ist vielmehr nichts weiter als der Ausdruck dessen, daß die mit diesen Verhaltensweisen verbundenen Risikoschaffungen (auf G r u n d normativer Erwägungen!) als hinnehmbar angesehen werden und daher nicht zu den im Sinne des Tatbestands normwidrigen Verhaltensweisen zählen. 70 Nicht tragfähig ist aber auch das Argument, daß man sich im Bereich der Vorsatzdelikte intensivere Erwägungen zur mißbilligten Gefahrenschaffung (oder zur Gefahrenrealisierung) wegen der Filterfunktion des Vorsatzes ersparen könne - etwa, weil das Fehlen des Vorsatzes offensichtlich ist. Dies nicht nur deshalb, weil es sich insoweit nur um ein prüfungsökonomisches Argument handelt, das über die Struktur des Unrechts (und etwaige objektive U n rechtselemente) der Vorsatzdelikte nichts besagt. Das Argument überzeugt vor allem auch deshalb nicht, weil es Fälle geben mag, in denen der Täter sich das, was die objektive Zurechnungslehre über Sachvoraussetzungen auszufiltern versucht, durchaus vorgestellt hat, es ihm vielleicht sogar auf den Eintritt eines solchen Verlaufs ankommt: Der Täter kann sich den höchst unwahrscheinlichen Verlauf vorgestellt und ganz auf ihn gesetzt haben; 71 wer einem eigenver68 Dieser minimale Gefahrengehalt des auslösenden Verhaltens und nicht der vage Topos der (in Wahrheit auch in vielen Fällen sorgfaltswidrigen Verhaltens gerade gegebenen) mangelnden Beherrschung des Kausalgeschehens (auf den Hirsch [Fn. 21], 136 f abstellt) ist im übrigen auch der zutreffende Grund für die fehlende Normwidrigkeit des Verhaltens. Wie hier Schünemann (Fn. 39), 228. 69 Siehe etwa die Argumentation von Hirsch (Fn. 21), 136 f. 70 Zutreffend Roxin (Fn. 33), 245 f. - Verfehlt auch die These Hirschs (Fn. 21), 137, daß es bei „sorgfaltskonformen" Handlungen schon an der Gefährlichkeit selbst mangele. 71 Wie in den Erbonkel- oder Gewitterfällen usw.

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Wolfgang Frisch

antwortlichen „Opfer" Drogen usw. gibt, mag die Gefahr einer tödlichen Injektion erkannt und vielleicht sogar „billigend" in Kauf genommen haben. Soll der Täter in einem solchen Fall wegen vollendeten Vorsatzdelikts bestraft werden? - Auch die Kritiker der objektiven Zurechnungslehre wollen das nicht. Sie versuchen dieses Ergebnis freilich nicht auf objektiver Ebene, sondern überwiegend 72 durch eine Anreicherung der subjektiven Erfordernisse zu erreichen. Damit setzen sie sich indessen weiteren Einwänden aus. 2. Zunächst nimmt die Kritik durch die Anerkennung solcher Erfordernisse in gewisser Weise schon den Einwand der Überflüssigkeit zusätzlicher - von der objektiven Zurechnungslehre in Gestalt objektiver Sachvoraussetzungen postulierter - Filter zum Teil zurück. Auch sie erkennt damit zusätzliche, über die Kausalität des Handelns hinausgehende Voraussetzungen an. Zwar sind diese subjektiv akzentuiert: Sie stellen sich als Präzisierung des Vorsatzes oder der Zurechnung zum Vorsatz (wesentliche oder unwesentliche Abweichung im Kausalverlauf) 73 bzw. einer auch subjektive Komponenten umfassenden Tatherrschaft dar. Bei genauerem Hinsehen wird indessen schnell erkennbar, daß diese subjektiven Voraussetzungen jeweils einen objektiven Kern haben. So ist der den Vorsatz kennzeichnende Verwirklichungswille, an dem es z. B. in den Erbonkel-Fällen und ähnlichen Sachverhalten fehlen soll, durch die finale Tatmacht gekennzeichnet; im Rahmen der Frage nach einer vorsatzausschließenden Abweichung im Kausalverlauf 74 kommt es üblicherweise auf Voraussehbarkeit und Gleichwertigkeit (also eindeutig objektive Sachverhalte) an, usw. Wir wollen hier dahinstehen lassen, ob nicht schon dieser Rekurs auf bestimmte objektive Substrate im Rahmen des Subjektiven eine stillschweigende Anerkennung der Unverzichtbarkeit objektiver Filter enthält. 75 Denn eines ist jedenfalls sicher: Im Falle des vollendeten Delikts kann es auf das Objektive nicht nur als Bezugsmoment des Subjektiven ankommen - das Objektive muß hier auch wirklich vorliegen. Die im Vorsatz als Verwirklichungswille enthaltene finale Tatmacht muß also wirklich gegeben sein; ebenso muß der Handelnde bei Einschaltung Dritter wirklich Tatherrschaft haben, muß bei Eintritt eines anderen als des vorgestellten Verlaufs jener objektiv voraussehbar und gleichwertig sein, usw. Auch die Kritiker der objektiven Zurechnungslehre arbeiten damit in Wahrheit mit objektiven Voraussetzungen. Sie erörtern diese (meist) nur erst, nachdem sie in die Erörterung des Subjektiven eingetreten sind. Der Unterschied zwischen der objektiven Zurechnungslehre und ihren Kritikern reduziert sich bei dieser Sachlage im wesentlichen darauf, daß die beiden 7 2 Abweichend nunmehr - unter Aufgabe seiner früheren Ansicht - Hirsch (Fn. 21), 119, 121, 122, 125, 127. Zu Hirschs neuer Auffassung oben bei Fn. 6 7 - 7 0 sowie unten bei Fn. 88, 95 und 100. 7 3 Vgl. Küpper (Fn. 31), 96 ff. 7 4 Vgl. Küpper (Fn. 31), 96 ff (krit. zu ihm Murmann [Fn. 43], 188 f); früher auch Hirsch (Fn. 31), 405; s. auch schon Welzel (Fn. 39), 66. 7 5 In diesem Sinne wohl Roxin (Fn. 33), 240 f.

A n m e r k u n g e n zur Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs

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Lager verschiedene objektive Voraussetzungen benennen. 76 Die objektive Zurechnungslehre verwendet Begriffe wie die „mißbilligte Gefahrenschaffung" und die „Realisierung" eben dieser mißbilligten Gefahr; die Kritiker fragen, ob die Erfolgsherbeiführung Ausdruck der Tatmacht oder Tatherrschaft des Handelnden ist bzw. ob sie voraussehbar und dem von ihm Gewollten gleichwertig ist, neuerdings auch, ob sie den objektiven Kriterien einer Tötungsoder Verletzungshandlung entspricht. Die Begriffe der Kritiker sind dabei stärker ontologisch ausgerichtet; offenbar sollen damit (auch) die den normativen Begriffen der Zurechnungslehre nachgesagten Gefahren der Rechtsunsicherheit vermieden werden. Indessen ist schon das zweifelhaft. Denn auch, wie weit die finale Tatmacht genau geht, wann Tatherrschaft vorliegt und wann nicht, was man voraussehen kann, ist alles andere als eindeutig und Gegenstand vielfältiger Kontroversen 77 - erst recht gilt das für das hochnormative Merkmal der (unter welchem Aspekt?) Gleichwertigkeit des vorgestellten und des tatsächlichen Verlaufs. 78 Wichtiger ist freilich ein Zweites. Es ist die Einsicht, daß die stark ontologisch ausgerichteten Kategorien der Kritiker jene Kriterien, die bei der Rechtsumschreibung und Rechtsbegrenzung maßgeblich sind, kaum ansprechen oder zu fassen vermögen. Maßgebend sind eben nicht einfach ontologische Kriterien wie die „Macht", den Erfolg herbeizuführen oder ihn „objektiv zu bezwecken" (was immer das genau heißen soll!), oder ein vager vorrechtlicher Handlungsbegriff, sondern Einsichten wie die, daß gewisse minimale (und fast jedem Handeln eignende) Risiken des Erfolgseintritts kein legitimierender Grund für ein Verbot sein können, wenn nicht die Freiheit überhaupt aufgehoben werden soll, usw. Ebensowenig kommt es bei nur über Dritte oder das Opfer möglichen Erfolgseintritten sofort und direkt auf eine (wie zu verstehende?) Tatherrschaft an; vielmehr ist der entscheidende Gesichtspunkt, daß im Prinzip kein Grund zu einer Freiheitsbeschränkung besteht, wenn der Eintritt von Güterbeeinträchtigungen noch vom Handeln einer eigenverantwortlichen Person abhängt, auf deren verantwortliche Entscheidung grundsätzlich muß gesetzt werden dürfen. Natürlich werden diese normativen Prinzipien, Kriterien und Erwägungen auch durch normative Sammelbegriffe wie die „mißbilligte Gefahrenschaffung" nicht direkt gekennzeichnet. Begriffe dieser

7 6 Am deutlichsten wird dies an der neuen Auffassung Hirschs in der FS für Lenckner, bei deren Zugrundelegung es im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte nur noch um terminologische Unterschiede geht und der objektiven Zurechnungslehre im Bereich der Vorsatzdelikte vorgeworfen wird, eine etwa erforderliche objektive Voraussetzung nicht zutreffend zu beschreiben ([Fn. 21], 131 ff, 138). 7 7 Siehe nur die vielfältigen Kontroversen über das Gegebensein von Tatherrschaft innerhalb der Tatherrschaftslehre selbst (z. B. zur Frage, ob auch Beiträge im Vorbereitungsstadium Mittäterschaft begründen können, bejahend Jescheck/Weigend [Fn. 27], 680; Wessels/Beulke [Fn. 27], Rn. 529; verneinend L K - R o x i n StGB, "1993, § 25 Rn. 181; Bloy Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, 196 ff; Rudolphi FS für Bockelmann, 1979, 372 ff). Weiter: Wie möglich oder wahrscheinlich muß ein Verlauf sein, damit man mit Bezug auf ihn von Tatmacht oder Verwirklichungswillen sprechen kann? 78

Zur Vagheit dieses Merkmals schon Frisch (Fn. 24), 458 f, 579 f, 590.

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Wolfgang Frisch

A r t bezeichnen indessen wenigstens das grundsätzlich M a ß g e b e n d e 7 9 und sind offen für die A u f n a h m e jener spezielleren Kriterien, die über die Mißbilligung der Gefahrenschaffung entscheiden. 3. E s bleibt der insbesondere von Armin

Kaufmann

und Struensee

erhobene

Einwand, ein U r t e i l über die mißbilligte Gefahrenschaffung sei auf rein tiver

Grundlage

gar nicht

möglich,

objek-

weil man z. B . auch das Sonderwissen des

Täters über besondere G e f a h r e n m o m e n t e berücksichtigen m ü s s e . 8 0 Daran ist richtig, daß bei der Frage der mißbilligten Gefahrenschaffung von besonderem Wissen des Handelnden nicht abgesehen werden kann. D e n n es darf (jedenfalls in der R e g e l 8 1 ) erwartet werden, daß der, der anderen (oder: normalerweise) unbekannte G e f a h r e n m o m e n t e kennt, diese bei seiner Verhaltenseinrichtung berücksichtigt, würde er eben das doch auch in der gedachten Position des O p f e r s in der Regel (vernünftigerweise) wollen -

tut er das nicht, so über-

schreitet er seine Freiheit. Falsch ist es jedoch, so zu tun, als bewege man sich damit bereits im subjektiven Tatbestand des Vorsatzdelikts. D e n n erstens interessieren insoweit keineswegs nur solche U m s t ä n d e , an die der T ä t e r im Zeitpunkt der Tat denkt. Sein Verhalten kann vielmehr auch mißbilligt sein, wenn er U m s t ä n d e , die er vor einiger Zeit erfahren hat und bei der Entscheidung über sein Handeln hätte bedenken müssen, nicht berücksichtigt. 8 2 Zweitens ist es aber auch verfehlt, so zu tun, als basiere das Gefahrenurteil wegen dieses Vorgriffs auf subjektive oder individuelle Kenntnisse (im weiteren Sinn) nicht mehr auf objektiven U m s t ä n d e n . D e n n natürlich sind (im Falle der späteren Gefahrenrealisierung) die dem T ä t e r bekannten oder von ihm irgendwann erfahrenen besonderen Gefahrenumstände auch wirklich

und objektiv.

D e r Blick

auf das individuell Erfahrene dient in Wahrheit nur dazu, aus der G e s a m t menge der im Zeitpunkt des Handelns gegebenen, aber handelnden Personen vielfach unbekannten U m s t ä n d e sachgerecht jene zu bestimmen, die (neben den normalerweise bekannten) bei der Beurteilung der mißbilligten Gefahrenschaffung (oder genauer: des rechtlich richtigen oder falschen Verhaltens) zu berücksichtigen sind. 8 3 Sachlich bleibt damit von der Behauptung der U n m ö g l i c h k e i t einer rein o b jektiven Beurteilung der mißbilligten Gefahrenschaffung nur eines übrig: die

79 Nämlich, daß es um Risiken geht, und zwar um solche, deren Schaffung nicht generell erlaubt ist (zum Freiheitsbereich gehört). 8 0 Vgl. Armin Kaufmann (Fn. 31), 251, 265 ff; Struensee (Fn. 33), 97 ff. 81 Auf die Frage, ob Sonderwissen immer relevant ist oder die Verwertung nur im Rahmen der Wahrnehmung bestimmter Rollen erwartet wird, kommt es in diesem grundsätzlichen Zusammenhang nicht an. S. dazu etwa Frisch Vorsatz und Risiko, 1983, 133 f, 358 f; Jakobs (Fn. 24), 7/50; ders. GS für Armin Kaufmann, 271, 275 ff und NK-Puppe (Fn. 24), Vor § 13 Rn. 145 mwN. 82 Eindeutig im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte (s. auch Roxin [Fn. 33], 249 f). Im Rahmen der Vorsatzdelikte gilt objektiv nichts anderes, es wird hier bei fehlendem aktuellem Bedenken wegen des dann fehlenden Vorsatzes nur nicht relevant. 83 Siehe dazu Frisch in: Wolter/Freund (Fn. 26), 183 f.

A n m e r k u n g e n zur Lehre von der objektiven Zurechnung des E r f o l g s

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Einsicht, daß bei der durchaus auf objektive Umstände gegründeten und nach objektiven Maßstäben erfolgenden Beurteilung der Gefahr und ihrer Mißbilligung ein Vorgriff auf Kenntnisse und Erfahrungen des Täters notwendig werden kann - so daß sich die Beurteilung der mißbilligten Gefahrenschaffung nicht bruchlos in ein Prüfungsschema einfügt, das streng naturalistisch zwischen objektiven und subjektiven Umständen trennt. Hier ist nun freilich die entscheidende Frage, ob dieser Befund wirklich etwas gegen die Adäquität der von der objektiven Zurechnungslehre postulierten Sachvoraussetzungen besagt. 8 4 Ich meine, daß davon keine Rede sein kann. Schließlich ist ein Prüfungsschema, das hermetisch zwischen objektiv und subjektiv trennt, nicht das Maß aller Dinge. Das gilt um so mehr im Blick auf den entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund dieses Schemas. 8 5 In der Reihenfolge „objektiv-subjektiv" läßt sich vorgehen, wenn mit diesen Kategorien und der Feststellung der objektiven und subjektiven Tatsachen nur eine mehr oder weniger wertfreie Sachverhaltserfassung verbunden ist - die Frage des Rechts oder Unrechts gewissermaßen erst in einer zweiten Stufe behandelt wird. 8 6 Sieht man dagegen im Tatbestand schon einen Unrechts- oder Unwerttypus, so wird ein solches Verfahren höchst zweifelhaft. Denn über Recht oder Unrecht oder auch nur darüber, ob etwas typischerweise - das heißt vorbehaltlich etwaiger Rechtfertigungsgründe - Recht oder Unrecht ist oder dem Unrecht bestimmter Deliktstypen entspricht, läßt sich nur reflektieren, wenn man die Prinzipien der Konstitution von Recht und Unrecht beachtet. K o m m t es dabei für die Rechtskonstitution auch auf gewisse subjektiv eingegrenzte Umstände an, so bedeutet das zugleich, daß sich die Frage, ob das Verhalten den Unrechtstypus erfüllt, auf der Basis einer strengen Separierung von objektiv und subjektiv nicht beantworten läßt. 8 7 Ein streng auf der Trennung von Objektivem und Subjektivem beharrendes Schema ist damit zur adäquaten Erfassung des Gegenstands, um den es geht (Recht, Unrechtstypus), nicht geeignet - womit es schon deshalb als Basis einer Argumentation gegen eine sich um die Erfassung von Unrecht bemühende Lehre nicht taugt.

V. Fragwürdiges an der objektiven Zurechnungslehre Die vorstehende Billigung der Sachvoraussetzungen der Erfolgszurechnung impliziert nun freilich nicht, daß man dieser Lehre in jeder Hinsicht zustimmen müßte. Durchaus nicht ausgeschlossen ist insbesondere eines: daß gewisse von der Zurechnungslehre angeführte Voraussetzungen primär gar keine Zurechnungsvoraussetzungen sind, sondern der Zurechnung vorgelagerte eigen-

Siehe dazu schon Roxin (Fn. 33), 251; ders. Chengchi Law Review 50 (1994), 233, 247. Dazu näher Frisch in: Wolter/Freund (Fn. 26), 186 f; N K - P u p p e (Fn. 24), Vor § 13 Rn. 19. 8 6 Wie dies der älteren Lehre von der Wertfreiheit des Tatbestands entsprach. 8 7 Näher dazu Frisch in: Wolter/Freund (Fn. 26), 187 ff; s. auch N K - P u p p e (Fn. 24), Vor § 13 Rn. 19, 145 a. E. 84

85

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ständige Probleme und Fragen betreffen, auf die es im Rahmen der Zurechenbarkeit des Erfolgs nur auch ankommt. Eben das scheint mir in zweierlei Hinsicht der Fall zu sein. 1. Für keine reine Zurechnungsvoraussetzung, ja noch nicht einmal primär für eine solche, halte ich das Erfordernis einer mit der Handlung verbundenen mißbilligten Gefahrenschaffung. Fehlt es daran, so fehlt es in Wahrheit schon an einem (mit Blick auf seine mögliche Gütergefährlichkeit) verbotenen Verhalten. Die Behaftung des Verhaltens mit einer (bestimmten) mißbilligten Gefahr bzw. Gefährlichkeit ist in diesem Sinne das Kernelement des tatbestandsmäßigen Verhaltens der Erfolgsdelikte;88 fehlt es an ihr, so fehlt es damit zugleich an dem in den Tatbeständen der vollendeten Erfolgsdelikte vorausgesetzten Verhalten. Natürlich mangelt es damit auch an der Möglichkeit, einen im Gefolge dieses Verhaltens eintretenden Erfolg dem Täter zuzurechnen. Aber das ist nur deshalb so, weil die Zurechnung eines Erfolgs als Unrecht allemal ein fundierendes unrechtes Verhalten voraussetzt. Ganz deutlich wird das an den Fällen der Risikoverringerung. Ein Verhalten, das das Risiko des Eintritts bestimmter Güterbeeinträchtigungen reduziert, läßt sich von vornherein nicht verbieten; rechtlich zu beanstanden ist es allenfalls, wenn und weil es das Risiko nicht genügend reduziert. 8 9 Aber auch wenn das Risiko des Eintritts eines bestimmten Verlaufs im Verhältnis zu anderen, eindeutig tolerierten Möglichkeiten der Auslösung solcher Verläufe nicht deutlich gesteigert ist (wie in den nicht „gefahrverschärften" Erbonkelfällen usw.), fehlt es in Wahrheit schon an einem Verbot des Verhaltens (wegen der Auslösung eines solchen Verlaufs). Nichts anderes gilt weiter dort, wo eine solche Risikosteigerung zwar zu verzeichnen ist, die Handlung aber im Interesse des mit ihr verbundenen Nutzens, jedenfalls bei Einhaltung bestimmter risikominimierender Bedingungen, (grundsätzlich) erlaubt ist. 90 Desgleichen 88 Eingehend dazu schon Frisch (Fn. 24), 33 ff, 36 ff, 59 ff, 70 ff; zust. Eser/Burkhardt Strafrecht I, 4 1991, 3/99; 4/61, 64; Freund AT (Fn. 62), § 2 Rn. 13 ff, 72 ff; NK-Puppe (Fn. 24), Vor § 13 Rn. 143, 155, 164; s. auch SK-StGB-Rudolphi (Fn. 24), Vor § 1 Rn. 57 a. E., 62. - Daß es bei den meisten der von der objektiven Zurechnungslehre unter dem Aspekt der (fehlenden) objektiven Zurechnung des Erfolgs behandelten Fallkonstellationen um Sachverhalte des Fehlens eines tatbestandlich erfaßten verbotenen Verhaltens aus objektiven Gründen geht, hebt nunmehr - freilich ohne Hinweis auf die älteren Wurzeln dieses Gedankens (s. dazu Frisch [Fn. 24], 40 Anm. 155) - auch Hirsch (Fn. 21), 131 f hervor. Allerdings versteht Hirsch den Begriff der Handlung (anders als der folgende Text und abweichend von der geläufigen Unterscheidung von Handlungs- und Erfolgsunwert) unter Einschluß des eingetretenen Erfolgs (krit. dazu Eser/Burkhardt [aaO], 3/9 ff, 97 ff). Außerdem verkennt er (s. 132) den normativen Hintergrund der tatbestandlichen Erfassung bestimmter Handlungen. Siehe ergänzend oben bei Fn. 67 ff. 8 9 Was dann aber nicht zur Bestrafung aus einem Begehungserfolgsdelikt, sondern (unter der Voraussetzung einer Garantenstellung) allenfalls zur Bestrafung wegen begehungsgleichen Unterlassens führen kann. 9 0 Man denke an das Überfliegen dicht besiedelter Gebiete durch Flugzeuge, den Betrieb von Kernkraftwerken, von großen Industrieanlagen (mit nicht völlig verhinderbaren Zwischenfällen), usw.

Anmerkungen zur Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs

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wirkt sich endlich auch der Umstand, daß bestimmte Folgen nur über das Handeln des eigenverantwortlichen Opfers oder eigenverantwortlicher Dritter eintreten können, nicht erst im Sinne eines Ausschlusses der Erfolgszurechnung aus, sondern läßt (im Interesse der Freiheitserhaltung) regelmäßig bereits die Mißbilligung des solche Handlungen (des Opfers oder Dritter) auslösenden oder ermöglichenden Verhaltens entfallen.91 Im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte ist das seit langem anerkannt - es zeigt sich an der Verneinung der Sorgfaltswidrigkeit (des Verhaltens) in diesen Fällen (oder doch zumindest einem Teil von ihnen) 92 . Nichts anderes gilt aber prinzipiell auch für den Bereich der Vorsatzdelikte. Um echte Fälle (allein) fehlender Zurechnung des Erfolgs handelt es sich so gesehen erst, wenn das Verhalten des Täters zwar eine prinzipiell mißbilligte Gefahrenschaffung beinhaltet (und damit verboten ist), sich im eingetretenen Erfolg aber nicht diese, sondern eine generell tolerierte Gefahr realisiert hat. 93 Gegen die vorstehend skizzierte Differenzierung hat Claus Roxin eingewandt, sie berücksichtige nicht, daß es „im Ergebnis immer um Zurechnung oder NichtZurechnung des Erfolgs" gehe: Der Erfolg werde „nicht zugerechnet, wenn (der Verursacher) sich von vornherein sachgemäß verhalten hat, und ebenso dann nicht, wenn der Verlauf besonders abenteuerlich war". 94 Außerdem spreche gegen die von mir vorgeschlagene Trennung aber auch, „daß Handlungsund Erfolgsunwert unlöslich miteinander verknüpft" seien: „Ohne einen Todeserfolg und dessen Zurechnung" gebe „es keine Tötungshandlung und kein ,tatbestandsmäßiges Verhalten'". 95 Der vorliegende Beitrag gibt mir Gelegenheit, an dieser Stelle des Dissenses das Gespräch mit Claus Roxin aufzunehmen, mögliche Mißverständnisse auszuräumen und so die Diskussion insgesamt vielleicht doch etwas weiterzuführen. Ein Mißverständnis scheint mir dem ersten Einwand zugrunde zu liegen. Natürlich ist mir bewußt, daß es in beiden Fällen im Ergebnis an der Zurechnung des Erfolgs fehlt - so habe ich das auch stets geschrieben.96 Aber es fehlt daran 9 1 Siehe dazu auch Frisch (Fn. 24), 32, 61, 148 ff, 240 ff; zust. NK-Puppe (Fn. 24), Vor § 13 Rn. 155, 164. Unberührt bleibt natürlich ein in solchem Verhalten möglicherweise liegender sonstiger Verstoß. 9 2 Etwa den Fällen, in denen es trotz richtigen Verhaltens im Straßenverkehr oder bei Operationen usw. doch zu Beeinträchtigungen kommt; anders freilich in gewissen Fällen der Uberlassung von Gegenständen (insbes. wenn die Überlassung selbst unter anderem Aspekt zu beanstanden ist). 9 3 Wie z. B. die allgemeine Gefahr des Straßenverkehrs, wenn das versorgungsbedürftige, vom Täter verletzte Opfer auf dem Weg in die Klinik durch Unfall getötet wird. Ergänzend oben III. 2. 9 4 Vgl. Roxin AT I (Fn. 12), § 11 Rn. 46; ähnlich Wolter GA 1991, 531, 548 ff. Schünemann (Fn. 39), 216 spricht insoweit von einem „müßigen Streit", trennt aber selbst im Sinne des Textes und verwendet ersichtlich ebenfalls einen engeren Begriff der Handlung (s. etwa 218). 9 5 Dem zweiten Einwand stimmt Hirsch (Fn. 21), 142 Anm. 66 zu; freilich verwendet er ihn - anders als Roxin - als Argument gegen die objektive Zurechnungslehre. 9 6 Vgl. nur Frisch (Fn. 24), 7f; ders. NStZ 1992, 5.

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eben aus verschiedenen Gründen; und das erscheint mir nicht belanglos: Für den Bürger ist es durchaus von Interesse zu wissen, ob er rechtlich einwandfrei gehandelt hat oder ob das nicht der Fall ist und man ihm trotz eines Fehlverhaltens nur den eingetretenen Erfolg nicht als sein Werk anlastet. Ein Strafrecht, das sich auf die Beantwortung der Frage nach der Erfolgszurechnung beschränkt, wird dieser Aufgabe der Differenzierung zwischen tatbestandlich erfaßtem und schon gar nicht tatbestandsmäßigem Verhalten nicht gerecht. Es paßt damit schlecht zu einem Grundverständnis des Strafrechts, das durch den Einsatz der Strafe (ja doch primär auf Verhalten bezogene) Vorstellungen und Maßstäbe bestätigen oder festigen soll. 97 Daß eine Trennung in dem von mir vorgeschlagenen Sinne darüber hinaus auch gewisse dogmatische Vorteile hat (etwa in Gestalt einer stringenten Verneinung der Versuchsstrafbarkeit beim Anstreben von Erfolgen allein über tolerierte Risiken) 98 , sei bei dieser Sachlage nur am Rande erwähnt. Auch das zweite von Roxin gegen die Trennung ins Feld geführte Argument (den Hinweis auf die Unlöslichkeit der Verknüpfung von Verhalten und Erfolg) halte ich nicht für überzeugend. Roxin will doch sicherlich nicht bestreiten, daß sich Verhalten und Erfolg rein gedanklich trennen lassen: Wenn wir ein Verhalten im Blick auf seine Eignung, bestimmte Erfolge herbeizuführen, als rechtlich mißbilligenswert ansehen, so trennen wir — die Trennung ist geradezu die Voraussetzung, um (über diese spezifische Eignung des Verhaltens) die Mißbilligung des Verhaltens zu begründen. Roxin selbst trennt, wenn er zwischen der Schaffung des rechtlich relevanten Risikos und dessen Realisierung unterscheidet. Richtig erscheint der Hinweis auf die Unlöslichkeit von Verhalten und Erfolg nur in dem Sinne, daß ein in jeder Hinsicht tatbestandsmäßiges Verhalten bei den vollendeten Erfolgsdelikten auch zu einem eingetretenen, zurechenbaren Erfolg geführt haben muß. Freilich ist das tatbestandsmäßige Verhalten dann nur ein Synonym für die objektive Tatbestandsmäßigkeit. Es paßt damit nicht mehr zur durchaus üblichen Betrachtungsweise99, die als Elemente des objektiven Tatbestands eines Erfolgsdelikts eine (in bestimmtem Sinne tatbestandsmäßige) Handlung, einen Erfolgseintritt und einen bestimmten Zusammenhang verlangt. Für eine solche Betrachtungsweise, die das tatbestandsmäßige Verhalten als Teil des Tatbestands ansieht, kann sich das tatbestandsmäßige Verhalten nur in dem erschöpfen, was benötigt wird, um im Verein mit den anderen Elementen den Tatbestand zu erfüllen. Bei den Erfolgsdelikten ist das die mit dem Verhalten verbundene Schaffung eines rechtlich mißbilligten Risikos der Erfolgsherbeiführung. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so ist das, was unter dem reinen Verhal9 7 Also einem Verständnis, das insbes. der - auch von Roxin (AT I [Fn. 12], § 3 Rn. 21 ff, 26 ff, 41) im Rahmen seiner Straftheorie für bedeutsam gehaltenen - positiven Generalprävention zugrunde liegt. 9 8 Näher dazu Frisch (Fn. 24), 44 ff; zu weiteren Vorteilen in Gestalt der einsichtigen Begründung unterschiedlicher Prinzipien für Risikoschaffung und Risikorealisierung s. aaO, 59 ff, 71 f. 9 9 Vgl. etwa jüngst erst wieder Schünemann (Fn. 39), 218; Eser/Burkhardt (Fn. 88), 3/9 ff, 97 ff.

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tensaspekt für die Tatbestandsmäßigkeit gefordert ist, gegeben - und liegt damit in diesem Sinne ein tatbestandsmäßiges Verhalten vor (selbst wenn die weiteren für die Erfüllung des Tatbestands notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt sein sollten und es damit an einem tatbestandsmäßigen Verhalten im Sinne Roxins fehlt). Haftet dem Verhalten dagegen keine derartige rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung an, so fehlt es am tatbestandsmäßigen Verhalten. Aber auch ganz abgesehen davon müßte Roxin auf der Basis seines Begriffs des tatbestandsmäßigen Verhaltens in den Fällen des Fehlens einer rechtlich mißbilligten Risikoschaffung eigentlich ebenfalls zur Verneinung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens kommen. Denn wenn zum tatbestandsmäßigen Verhalten danach nicht nur eine rechtlich mißbilligte Risikoschaffung, sondern auch deren Realisierung im eingetretenen Erfolg erforderlich ist, so fehlt es an einem tatbestandsmäßigen Verhalten bereits dann, wenn nur eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt ist. In Wahrheit führt der umfassende Begriff des tatbestandsmäßigen Verhaltens von Roxin dazu, daß nicht nur beim Fehlen einer tatbestandlich relevanten Risikoschaffung, sondern auch bei fehlender Realisierung dieses Risikos im Erfolg ein tatbestandsmäßiges Verhalten abgelehnt werden muß (eine Konsequenz, die sich im Grunde mit der von Hirsch formulierten Kritik an der objektiven Zurechnungslehre 100 deckt). Anders gewendet: Der umfassende Begriff des tatbestandsmäßigen Verhaltens bei Roxin taugt nicht zur Erhaltung des „großen" Anwendungsfelds der objektiven Zurechnungslehre, sondern hat deren Verdrängung durch eine umfassende (auch die Zurechenbarkeit des Erfolgs einschließende) Lehre vom tatbestandsmäßigen Handeln zur Folge. So weit möchte indessen auch ich - auf der Basis des von mir präferierten engeren Begriffs des tatbestandsmäßigen Verhaltens — nicht gehen. 2. Fragen der Zurechnung und Fragen der Rechtlichkeit des Verhaltens Freilich ist der Einwand einer Aufblähung der Erfolgszurechnung zu Lasten des tatbestandsmäßigen Verhaltens nicht der gewichtigste Einwand. Die objektive Zurechnungslehre vermischt noch in einem tieferen Sinne grundsätzlich verschiedene Fragestellungen und Problemschichten, wenn sie alles der Erfolgszurechnung zuschlägt. Als Zurechnungsproblem mag man die Frage verstehen, ob sich eine (den Erfolg auslösende) Körperbewegung als Handlung einer Person, das heißt: als ein der Person zurechenbares, menschliches Verhalten begreifen läßt. 101 Diese Frage ist - unter anderem - auch in der Erfolgszurechnung mitgedacht (selbst wenn man sie vor die Klammer zieht); denn natürlich läßt sich ein Erfolg nur zurechnen, wenn man der Person das Verhalten, das diesen Erfolg ausgelöst hat, überhaupt als Handlung (und das heißt: als Äußerung der Person) zurechnen

100

Vgl. Hirsch (Fn. 21), 119, 131 ff, 142 (insbes. auch Fn. 66). Siehe zu dieser Zurechnungsfrage eingeh. Hruschka (Fn. 23), 3 ff und ergänzend die Nachweise oben Fn. 23. 101

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W o l f g a n g Frisch

kann. 102 Desgleichen handelt es sich um ein Zurechnungsproblem, wenn man die Frage stellt, ob der eingetretene Erfolg der Person als Folge dieses Handelns zuzurechnen ist. Dasselbe gilt für die im Rahmen der Erfolgszurechnung interessierende spezielle Frage, ob der Erfolg der Person als spezifische Folge gerade des mißbilligten, grundsätzlich rechtswidrigen Verhaltens zugerechnet werden kann. Wieder in einem anderen Sinne läßt sich von Zurechnung sprechen, wenn es darum geht, ob das der Person als Handlung zurechenbare rechtswidrige Verhalten ihr auch als schuldhaftes zurechenbar ist - etwa weil es von ihr durch Orientierung am Recht hätte vermieden werden können (und sollen). 103 Um etwas durchaus anderes geht es jedoch bei dem, was zwischen diese Zurechnungsstufen eingeschoben ist und späteren Zurechnungsstufen (z. B. der Zurechnung zur Schuld) als Anknüpfung dient: der Frage nämlich, ob das, was als Handlung anzusehen ist und möglicherweise auch zur Schuld zugerechnet werden kann, rechtlich zu mißbilligen ist. 104 Insoweit interessiert - über die Relation des konkreten Verhaltens zum Recht - letztlich der Inhalt des Rechts, etwa die Beschaffenheit des Rechtsverhältnisses zwischen den einzelnen, die Reichweite und die Grenzen der anzuerkennenden Freiheit. Diese Inhalte des Rechts sind von den Regeln der Zurechnung durchaus zu unterscheiden. 105 Sie sind der der Person vorausliegende Maßstab, an dem diese das ihr prinzipiell zurechenbare Handeln orientieren soll, an dem das ihr zurechenbare Handeln gemessen und mit Bezug auf den auch die Frage nach der (Zurechnung zur) Schuld gestellt wird. Bestimmt wird dieser Maßstab nicht durch Kriterien der Zurechnung (wie z. B. die Steuerbarkeit eines Verhaltens oder die Bezweckbarkeit eines Erfolgs); Aspekte dieser Art spielen bei der Rechtskonstitution nur insoweit eine Rolle, als sich die Freiheitsbeschreibung und Freiheitsbegrenzung prinzipiell auf zurechenbares Verhalten von Personen bezieht. Die Anerkennung und Begrenzung der Rechte und Freiheiten und damit auch die prinzipielle Mißbilligung bestimmten Verhaltens folgen vielmehr den Prinzipien, die beim Entwurf des Rechts ganz allgemein das Maß geben: also insbesondere dem Gedanken, die Freiheit des einen mit der Freiheit (und den Gütern) des anderen nach einem allgemeinen Gesetz in ein für alle Beteiligten (auch wechselseitig) akzeptables Verhältnis zu bringen 106 - wobei in diese Überlegungen vor allem Ge1 0 2 Mit Recht bezieht daher Roxin in seiner Skizze in der FS für H o n i g diese Voraussetzungen der Handlung in seine Gedanken zur objektiven Erfolgszurechnung ein (aaO, 146f). 1 0 3 Siehe dazu etwa Hruschka (Fn. 23), 36 ff. 1 0 4 In der Formulierung von Hruschka (Fn. 23), 30 ff: die „Konfrontation der Handlung mit der Kritik" (31), bzw. die „Messung der Handlung an Gesetz und Recht", die von der eigentlichen (zweistufigen) Zurechnung der Handlung zu unterscheiden ist (35 f). Auch Jakobs, der die Straftat insgesamt als Zurechnungsproblem sieht, räumt ein, daß die Frage der N o r m widrigkeit sich von der Zurechnungsfrage unterscheidet; freilich soll es sich um einen bloßen Hilfsbegriff im Rahmen der Zurechnungsfrage(n) handeln (s .Jakobs Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, 43 f). 1 0 5 So auch Hruschka (Fn. 23), insbes. 35 f. 1 0 6 Es versteht sich, daß auf die umfassende Diskussion über den Begriff und die Kriterien des Rechts, die Prinzipien der Rechtskonstitution, hier nicht mehr im einzelnen eingegangen werden kann.

Anmerkungen zur Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolgs

237

sichtspunkte eingehen, wie sie seit langem im Rahmen sogenannter Interessenabwägungen praktiziert werden, etwa die Geeignetheit und Erforderlichkeit bestimmter Freiheitsbeschränkungen zur Erhaltung der Freiheiten und Güter, die Wertigkeit von Freiheiten und Gütern oder die Erwartbarkeit bestimmter Schutzmaßnahmen durch den verantwortlichen Rechtsinhaber selbst. Eine Auffassung, die all diese Fragen zu Problemen der Zurechnung macht, vermischt Fragen der Rechtskonstitution (und der Abweichung eines bestimmten Verhaltens vom Recht) mit solchen der eigentlichen Zurechnung. An all dem ändert auch der Umstand nichts, daß die Frage des Rechtsinhalts im Rahmen der (rechtlichen) Folgenzurechnung eine Rolle spielt — das macht sie inhaltlich und systematisch noch lange nicht zu einem Zurechnungsproblem. Auch aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die Erfolgszurechnung auf das zu beschränken, was wirklich eine Zurechnungsfrage ist - nämlich die der Feststellung eines zurechenbaren Handelns und seiner Mißbilligung (wegen zu hohen Risikos) folgende Frage, ob der eingetretene Erfolg die spezifische Folge dieses der Person zurechenbaren, prinzipiell mißbilligten Handelns ist und ihr damit als Ausdruck des unrechten Verhaltens ebenso zugerechnet werden kann wie dieses mißbilligte Verhalten selbst. Mit diesen - trotz einiger kritischer Töne am Ende - insgesamt doch weit mehr zustimmenden als ablehnenden Bemerkungen muß ich meine Gedanken zur objektiven Zurechnung schließen. Ich widme sie mit herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag Claus Roxin, dem großen Strafrechtswissenschaftler und verehrten Kollegen, dem noch viele Jahre fruchtbaren Schaffens vergönnt sein mögen.

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan YÜ-HSIU HSÜ

A. Einleitung Im Jahre 1994 hielt unser Jubilar Claus Roxin auf dem TaiwanesischDeutsch-Spanischen Strafrechtssymposium einen Vortrag über „Die Lehre von der objektiven Zurechnung". 1 Weil mein Aufsatz über „Die theoretische Grundlage der objektiven Zurechnungslehre" 2 , in dem Roxins Ideen zum ersten Mal ausführlich auf chinesisch vorgestellt wurden, unmittelbar vor seinem Besuch in der TZStW (Taiwanesische Zeitschrift für die gesamten Strafrechtswissenschaften) publiziert worden war, war sein persönliches Auftreten mit seinem Werk, der Theorie der objektiven Zurechnung, auf der taiwanesischen Bühne ein solcher Erfolg, wie wenn ein Weltstar nach der Aufführung seines Films sein Publikum besucht. In der Diskussion nach dem Vortrag bemerkte sein Schüler Bernd Schünemann: „Die objektive Zurechnungslehre hat jetzt in Taiwan Fuß gefasst." Ich bin nicht sicher, ob das nicht allzu optimistisch war und ob man heute wirklich feststellen kann, daß sich die Doktrin der objektiven Zurechnung in Taiwan endgültig durchgesetzt hat. Aber immerhin hat sich die Wissenschaft mit diesem Thema, im Vergleich zu anderen Problembereichen, häufig und fortdauernd beschäftigt, 3 auch wenn es durchaus noch Vertreter der Gegenposition gibt. In der Praxis wurde die objektive Zurechnungslehre bisher in zwei Entscheidungen, einmal vom Landesgericht, und einmal vom Oberlandesgericht angesprochen und wörtlich zitiert. Im Grunde ging es in diesen beiden Fällen allerdings nicht unbedingt um Probleme der objektiven Zurechnung, weil man hier auch ohne sie mit Hilfe der traditionellen Fahrlässigkeitstheorie zu einer Lösung gekommen wäre. Ob dies nun ein fehlerhaftes Verständnis der objektiven Zurechnungslehre oder eine freundliche Annäherung an sie bedeutet, kann nur die Zukunft beantworten. In dieser kleinen Studie möchte ich jedenfalls den gegenwärtigen taiwanesischen Diskussions1 Sonderausgabe zum Taiwanesisch-Deutsch-Spanischen Strafrechtssymposium, Chengchi Law Review Vol. 50 (1999.5). 2 Yü-hsiu Hsü Die theorethische Grundlage der objektiven Zurechnung - Was ist denn die objektive Zurechnungslehre?, TZStW (38/1) 1994.2, 30, 40 (= in: Hsü Zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, Frühlingswind und Sanfte Sonne Forum - Strafrechtliche Abhandlungen 0, 1997, 219, 231). 3 Seit dem Jahre 1991 sind 12 einschlägige Aufsätze und Dissertationen, zehn davon nach 1994 veröffentlicht worden.

240

Yü-hsiu Hsü

stand darstellen. Zuerst werde ich über die Entwicklung in Wissenschaft und Praxis berichten, danach einige eigene Überlegungen auch zu neueren Ideen im deutschen Schrifttum und zur taiwanesischen Rechtsprechung beisteuern.

B. Die Entwicklung in Taiwan I. In der Wissenschaft 1. Als Ergänzungstheorie der Kausalität Der zum ersten Mal im Jahre 1983 in einem Lehrbuch 4 aufgetauchte Begriff „Lehre von der objektiven Zurechnung" wurde eher als eine Ergänzung zur Kausalität, also als eine Art Kausalitätstheorie wie die Adäquanztheorie und die Relevanztheorie verstanden. Die objektive Zurechnungslehre wurde als eine Theorie beschrieben, die zwischen Erfolgsverursachung und Erfolgszurechnung unterscheide, die Kausalität nach der Bedingungstheorie prüfe und die Erfolgszurechnung nach der Adäquanztheorie, nämlich nach der objektiven Voraussehbarkeit des Erfolgs, feststelle.5 Dabei stand die Trennung von Kausalität und Zurechnung in einer Art dogmatischem Halbdunkel und deutete etwa an, daß die objektive Zurechnungslehre mit der Erfolgszurechnung eine gewisse Verbindung hätte. Das von Roxin im Jahre 1970 entworfene Konzept der objektiven Zurechnungslehre ließ sie aber nicht erkennen. Der Grund lag wohl darin, daß die deutschen Lehrbücher bis dahin nur ein sehr schmales Bild von der objektiven Zurechnungslehre gemalt hatten. 6 Man braucht sich deshalb nicht zu wundern, daß die objektive Zurechnungslehre in den folgenden Jahren weder die Wissenschaft noch die Praxis in irgendeiner Weise beeindruckt hat. 2. Als Zurechnungstheorie Im Jahre 1991 sind zwei verschiedene Entscheidungsrezensionen veröffentlicht, in denen - trotz unterschiedlicher Ergebnisse - zur objektiven Zurechnung definitiv herausgestellt wurde, daß die Adäquanztheorie keine Kausalitätstheorie, sondern eine Zurechnungstheorie ist. 7 Ferner wurde die geschichtliche Entwicklung der Trennung zwischen Kausalität und Zurechnung untersucht

4

Shan-Tien

Lin AT, '1983, 92.

Shan-Tien Lin (Fn. 4), 9 4 f . 6 Zum Beispiel Jescheck Strafrecht AT, 3 1978, 2 8 / IV; Maurach/Zipf 265; Wessels Strafrecht AT, 1982, 47. 5

Strafrecht AT, 1977,

7 Rong-Jian Huang Unterlassungsdelikt und objektive Zurechnung, T Z S t W (35/3) 1991.6, 1, 10; Yü-hsiu Hsü Rezension zu T H G 3 6 9 3 / 1 9 8 9 - Ingerenz und die objektive Zurechnungslehre, T Z S t W ( 3 5 / 4 ) 1991.8, 1, 21 ff, 2 7 f f ( = in: Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 0, 1997, 281, 307 ff, 314 ff).

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan

241

und die Kritik aus der Sicht der Bedingungstheorie berücksichtigt, 8 und einige Zurechnungsregeln wie z. B. Risikoverringerung, Risikoerhöhung, hypothetische Kausalverläufe und rechtlich mißbilligtes Risiko sowie das Vertrauensprinzip, wurden ohne weitere Erläuterung vorgestellt. 9 Weil die objektive Zurechnungslehre in diesen beiden Aufsätzen, wenn auch noch nicht sehr gründlich erörtert, so doch zum ersten Mal mit einer zumindest erkennbaren Figur skizziert und direkt zur Rezension der Entscheidung angewendet wurde, haben ihr Wissenschaft und Praxis auf der Stelle große Aufmerksamkeit geschenkt, was in Taiwan normalerweise sehr selten passiert. Das Jahr 1991 läßt sich deshalb wohl als das Geburtsjahr der objektiven Zurechnungslehre in Taiwan bezeichnen. 3. Als eine materielle Tatbestandslehre Ein wirklich klares Bild von der objektiven Zurechnungslehre zeichnete sich in Taiwan aber erst 1994 ab. Nach dem Erscheinen des Lehrbuchs unseres Jubilars hat man das Gesicht der objektiven Zurechnungslehre eigentlich erstmals deutlich erkannt. Eine ausführliche dogmengeschichtliche Untersuchung war dann auch für Taiwan möglich und vonnöten. In meinem oben erwähnten Aufsatz aus dem Jahre 1994 setzte ich mich mit der angeblichen Entwicklungslinie von Hegel über Larenz und Honig bis Roxin10 kritisch auseinander und bemühte mich um eine vollständige Darstellung von Roxins Konzept. Meine damaligen Ergebnisse waren - verkürzt - folgende: 11 Erstens läßt sich die objektive Zurechnungslehre nicht auf Hegel und Larenz zurückführen, weil deren Gedanken zur subjektiven Unrechtslehre gehören. Für Hegel ist die Handlung die äußere Erscheinung des Willens und nur eine willentliche Handlung zurechenbar.12 Obwohl Larenz vom objektiven Zweckbegriff sprach, die Möglichkeit der Voraussehbarkeit auf die objektive Vernünftigkeit des Subjektes bezog und diese Möglichkeit als eine objektive Möglichkeit und damit die allgemeine Natur der Tat {Hegel) bezeichnete, scheint mir seine objektive Zurechnung noch auf ein subjektives Urteil hinauszulaufen.13 Zweitens ist die objektive Zurechnungslehre Roxins als eine materielle Tatbestandslehre zu verstehen. Mit der Risikoschaffung und Risikoverwirklichung möchte Roxin den Tatbestand definieren, und dabei wird die tatbestandsmäßige Handlung als Risikoschaffung beschrieben. Drittens hat die objektive Zurechnungslehre die Tendenz, alle tatbestandsausschließenden, rechtfertigenden und schuldaus8 Yü-hsiu Hsü (Fn. 7), 1, 21 ff, 27ff ( = in: Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 0, 1997, 281, 307 ff, 314 ff). 9 Rong-Jian Huang (Fn. 7), 1,10. 10 Küpper Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, 83 ff. 11 Yü-hsiu Hsü (Fn. 2), 30, 45, 47f, 51 f, 53 f; dies. TZStW (38/2) 1994.4, 61, 74ff ( = in: Hsü Strafrechtliche Behandlungen 0, 1997, 219, 237 ff, 245 f, 270 ff). 12 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 4 1955, §§44, 105, 107, 112f, 116ff, 121 ff. 13 Larenz Hegels Zurechnungslehre, 1927, 51, 54 f, 58 f, 60 ff,76 ff, 82 ff.

242

Yü-hsiu Hsü

schließenden G r ü n d e als objektiv Zurechnungsausschließende G r ü n d e in sich aufzunehmen. Viertens sollen Vorsatzdelikt und Fahrlässigkeitsdelikt entgegen Reyes14

keine gleiche objektive Zurechnungsstruktur haben. Insoweit stimmt

meine damalige Stellungnahme mit Schünemanns

neuer Äußerung ü b e r e i n . 1 5

4. Anwendungen und kritische Gegenmeinungen Zwischen dem J a h r e 1995 und dem J a h r e 1996, ungefähr ein J a h r lang, war die objektive Zurechnungslehre fast eine A r t M o d e t h e m a in der taiwanesischen Strafrechtswissenschaft. Insgesamt erschienen sechs einschlägige Abhandlung e n . 1 6 M a n c h e versuchten, mit der objektiven Zurechnungsregel Fälle der gemeingefährlichen Straftaten und des Verkehrsstrafrechts zu lösen. M a n c h e versuchten, die einzelnen Zurechnungsprobleme wie z. B . das unerlaubte R i s i k o , das U r t e i l ex ante oder ex post oder die Risikoerhöhung weiterführend zu erörtern. Auffälliger aber war die scharfe Kritik gegen die objektive Zurechnungslehre. Derartige kritische Stellungnahmen sind dem deutschen Schrifttum im Prinzip nicht fremd, z. B.: D i e objektive Zurechnung sei ein leerer Begriff und habe nur alle Zurechnungsausschließenden G r ü n d e zusammengesetzt. 1 7 Daraus ergäben sich keine weiteren Kriterien zum Urteilen; durch Vorsatz oder Fahrlässigkeit könne die Bestrafung vernünftiger eingeschränkt werden; atypische Kausalverläufe könnten die objektive Zurechnung nicht ausschließen, weil die Kausalität nicht nach alten, d. h. obsoleten Erfahrungen ablaufen müsse. W e n n dem T ä t e r seine Herrschaft über einen Kausalverlauf bewußt sei und er objektiv gesehen auch den Kausalverlauf beherrsche, sei dieser dem T ä t e r allemal zuzurechnen. Hierbei k ö n n e der Begriff der atypischen Kausalverläufe überhaupt keine Rolle spielen (dazu näher unten D . III.); Regreßverbot und Selbstgefährdungsprinzip seien nicht weniger nutzlos, weil allein „das erlaubte R i s i k o " funktioniere. E b e n s o nutzlos sei der Schutzzweck der N o r m ; entscheidend sei der Z w e c k der Verbots- oder G e b o t s n o r m , aber nicht der Schutzzweck der Sorgfaltsnorm. Zu guter L e t z t wurde auch der Kritik wegen V e r wandlung der Verletzungsdelikte in Gefährdungsdelikte und wegen Verstoßes gegen den I n - d u b i o - S a t z durch den Risikoerhöhungsgedanken zugestimmt.

Reyes Theoretische Grundlagen der objektiven Zurechnung, ZStW (105) 1993, 108, 125. Schünemann Uber die objektive Zurechnung, GA 1999, 207, 219 ff. Die chinesische Übersetzung (von Jhi-huei Chen) in: TZStW (42/6) 1998.12, 8 1 - 1 1 7 . 16 Rong-Jian Huang Strafrechtliche Probleme in dem Ueerkan-Fall, Taiwan Law Review, Vol. 1 (1995.5), 49 ff; Dond-Mau Lin Die strafrechtliche Haftung für Straßenverkehrsunfälle im Licht der objektiven Zurechnungslehre, TZStW (39/3) 1995.6, 19 ff; Sheng-Wei Tsai Objektive Zurechenbarkeit und Vorsatz, TZStW (39/3) 1995.6, 60 ff; Ming-Ren Cheng Zur Risikoerhöhungstheorie (Magisterarbeit der Chengchi Universität), 1995; Li- Ching Chang Die objektive Zurechnung der Unterlassung einer Diensthandlung, Tunghai Law Journal, Vol. 9 (1995), 253 ff; Rong-Jiang Huang Uber die Risikoverwirklichung, in: FS für Han-Bau Ma, 1996, 308 ff. 14 15

17 Hirsch (Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, 403, 407) hat damit in Taiwan Zustimmung gefunden.

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan

243

Diese Gegenpositionen haben jedoch keinen durchschlagenden E r f o l g gehabt, denn seitdem haben sich zwei Entscheidungsrezensionen zur objektiven Zurechnungslehre bekannt, eine davon zur deutschen R e c h t s p r e c h u n g . 1 8 U n d wie erwähnt, haben das Landesgericht Taipeh und das Oberlandesgericht Taipeh in zwei weiteren Entscheidungen die objektive Zurechnungslehre anerkannt. 1 9 U n d schließlich ist Roxins objektives Zurechnungskonzept unverändert in einem L e h r b u c h ü b e r n o m m e n w o r d e n . 2 0 5. A d ä q u a n z und tatbestandsmäßige Handlung Unabhängig von den vorerwähnten, prinzipiell ablehnenden G e g e n p o s i t i o nen habe ich in späteren Publikationen einzelne Positionen der objektiven Z u rechnungslehre kritisch hinterfragt: a) Entgegen Roxin, dem die Adäquanztheorie zur B e s t i m m u n g der R i s i k o verwirklichung dient, 2 1 bin ich der Meinung, daß das Verdienst der A d ä q u a n z theorie bei der objektiven Zurechnungslehre in der Feststellung der R i s i k o schaffung liegt; mit Hilfe der Adäquanztheorie läßt sich nämlich bestimmen, o b der Täter eine tatbestandsmäßige Handlung v o r g e n o m m e n hat oder nicht, weil man auf allgemeine Erfahrungsgrundsätze zurückgreifen muß, um festzustellen, ob ein menschliches Verhalten zur Verwirklichung eines Tatbestandes geeignet ist oder n i c h t . 2 2 b) D e r Zusammenhang zwischen R i s i k o und E r f o l g ist eine natürliche, p h y sische Verbindung zweier Ereignisse. Auch wenn die Verbindung den bisherigen Erfahrungen nicht entspricht, läßt sie sich nicht leugnen. Das Z u r e c h nungsurteil ist dann deswegen vonnöten, u m eine zurechenbare Verbindung herzustellen. 2 3 c) D i e objektive Zurechnung ist eine neue, materielle Interpretation der o b jektiven Tatbestandsmäßigkeit. I m Vergleich zur „Beherrschung der Kausalverläufe" wird „Risikoschaffung und -Verwirklichung" die Reichweite des T a t bestandes eher ausdehnen als einschränken. A b e r wenn der Vorsatz nach der „Eignung zur Tatbestandsverwirklichung" zu bestimmen ist, k ö n n t e die B e strafung durch einen restriktiven Vosatzbegriff eingeschränkt w e r d e n . 2 4 N a c h 18 Huei-Ting Huang Vollmondspielfeldfall - Zu der Tatbestandsmäßigkeit der gewerblichen Fahrlässigkeit, TZStW (43/5) 1999.10, 73 ff; Yü-hsiu Hsü Objektive Zurechnung und Kausalität, FS für Shan-Tien Lin, 1998, 1 ff ( = Hsü Probleme und Lösungskonzept, Frühlingswind und Sanfte Sonne Forum — Strafrechtliche Abhandlungen 4, 1999, 121 ff). 1 9 Landesgericht Taipeh, Klagenummer 1050/1997; Oberlandesgericht Taipeh, Revisionsnummer 4776/1998; Landesgericht Taipeh, Straßenverkehrssache, Erneuerungsnummer 1/1999. 20 Shan-Tien Lin AT, 6 1997, 146ff. 21 Roxin Die Lehre von der objektiven Zurechnung, Chengchi Law Review Vol. 50 (1994.5), 213, 257. 22 Yü-hsiu Hsü Entwirrung von dem Subjektiven und Objektiven, FS für Tung-Ming Tsai, 1997, 17, 38 ( = Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 0, 1997, 1, 30f). 23 Yü-hsiu Hsü (Fn. 18), 1, 19ff ( = Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 4, 1999, 143ff). 24 Yü-hsiu Hsü (Fn. 22), 17, 18, 21 ff ( = Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 0, 1997, 1, 37f, 40).

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Yü-hsiu H s ü

der „Eignung zur Tatbestandsverwirklichung" den Vorsatz zu bestimmen, ist theoretisch plausibel. Aber das bedeutet nicht, daß das Unrecht auf die objektive Deliktsseite verlagert wird, sondern nur, daß die subjektive Seite der Tat nach der objektiven Seite zu bestimmen ist. Für die N o r m ist schließlich entscheidend, ob die Normadressaten ihr ungehorsam oder nur leichtsinnig sind. Was die N o r m bestraft, ist die durch die objektive Deliktsseite gezeigte subjektive Normwidrigkeit. Das objektive Unrecht basiert auf dem subjektiven U n recht. Dies gilt sowohl für Vorsatzdelikte als auch für Fahrlässigkeitsdelikte. d) Diese neue Interpretation der Tatbestandsmäßigkeit ist insoweit unproblematisch. Die eigentliche weitere Aufgabe ist stets, die konkreten Zurechnungskriterien nachzuprüfen bzw. weiterzuentwickeln. Unter ihnen ist das Vertrauensprinzip zirkulär und deshalb unbrauchbar, weil nur vom rechtlich Verpflichteten erwartet wird, kein unerlaubtes Risiko zu schaffen. Umgekehrt hat die Person kein unerlaubtes Risiko geschaffen und es ist ihr auch keines zuzurechnen, wenn sie nicht pflichtwidrig gehandelt hat. Deswegen ist eben nur das pflichtwidrig geschaffene unerlaubte Risiko zurechenbar. Entscheidend ist immer nur die Pflichtwidrigkeit, aber nicht das Vertrauen-dürfen. 2 5 Es besteht tatsächlich keine andere Pflicht als die sich aus dem Verbot oder Gebot ergebende. 2 6 Jedoch bestehen etliche Sicherheitsgrenzen im Alltagsleben, deren Übertretung zu den Rechtsgutsverletzungen, nämlich zu den Verbots- oder Gebotsverstößen führen wird. Wer solche Sicherheitsgrenzen übertritt, schafft dann ein unerlaubtes Risiko. U m solche Sicherheitsgrenzen nicht zu übertreten, seien sie entweder bereits gesetzlich geregelt oder noch gewohnheitsmäßige Prinzipien geblieben, muß man gemäß der Sicherheitsregeln handeln. Daraus ergibt sich der Begriff „Sorgfaltspflicht" 2 7 . e) Daß eine Handlung mit Sonderwissen ein höheres und deshalb rechtlich unerlaubtes Risiko schaffen kann, ergibt sich daraus, daß der tatsächlich gefährlichere Kausalverlauf unter einer höheren unrechtmäßigen Beherrschung steht. Roxin hat ebenfalls eingeräumt, daß die objektive Zurechnung auch von subjektiven Kriterien beeinflußt wird und Tatbestandshandlungen immer aus einem Geflecht von objektiven und subjektiven Momenten bestehen. 2 8 Dagegen hat Jakobs das Sonderwissen unnötigerweise mit der Garantenstellung verflochten. Das Sonderwissen ist nie eine Begründung für die Garantenstellung gewesen, entgegen der Behauptung von Jakobs. Aber in den von Jakobs gebildeten Beispielen, haben die Täter (mit Ausnahme des Ingenieurs) 2 9 - der biologiekundige Neffe, der an der Technischen Hochschule studierende BauarbeiYü-hsiu Hsü (Fn. 22), 17, 3 4 f f ( = Hsü Strafrechtliche A b h a n d l u n g e n 0, 1997, 1, 2 4 f f ) . Jakobs Strafrecht AT, 2 1991, 9/6. 27 Yü-hsiu Hsü (Fn. 22), 17, 2 8 f ( = Hsü, Strafrechtliche A b h a n d l u n g e n 0, 1997, 1, 1 7 f ) . 28 Roxin (Fn. 21), 213, 234. 2 9 D e r ein A u t o nach einer P r o b e f a h r t z u r ü c k g e b e n d e K a u f i n t e r e s s e n t hat auch dann, w e n n er kraft seines S o n d e r w i s s e n s als Ingenieur einen B r e m s d e f e k t erkannte, kein unerlaubtes R i siko g e s c h a f f e n , nicht weil er kein G a r a n t ist, s o n d e r n weil d a s u n e r l a u b t e R i s i k o des A u t o s schon i m m e r b e s t a n d u n d mit der R ü c k g a b e des A u t o s nichts zu tun hat. 25

26

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan

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ter und der Biologiestudent als Aushilfskellner 30 - entgegen Jakobs Ansicht aktiv gehandelt. Eben durch ihr Sonderwissen haben sie ein unerlaubtes Risiko geschaffen. Wenn der Begehungstäter, wie Jakobs meint, auch ein garantenpflichtwidrig Handelnder ist, 31 würde das Sonderwissen nur beim Begehungsdelikt eine Garantenstellung begründen können 32 , was ungereimt erscheint. f ) Bezüglich des Stuttgarter Brandstiftungsfalles 33 , in dem es um die Zurechnung einer Brandstiftung und ihrer Folgen an denjenigen geht, der in einer den Brand begünstigenden Weise Abfälle im Treppenhaus liegen ließ, gilt meines Erachtens folgendes: Gössel34 ist darin zuzustimmen, daß die Bedingungstheorie aus der objektiven Zurechnung herausgelassen werden sollte. Im Gegensatz zur Rechtsprechung, die den Fall unter Heranziehung des Vertrauensprinzips löst, und zu Gössel, der statt dessen den Schutzzweck der N o r m heranzieht, ist jedoch meines Erachtens der fremde Verantwortungsbereich in Betracht zu ziehen. Mit dem objektiven Zurechnungskonzept zu vereinbaren ist der natürliche Kausalitätsbegriff. 35 Wenn die Lagerung der Renovierungsabfälle im Treppenhaus vor dem Eingang des Hauses - so die Rechtsprechung - nicht ordnungswidrig wäre, hätte der angeklagte Unterpächter kein unerlaubtes Risiko geschaffen und wäre dann auch nicht verantwortlich für die Tötung und Körperverletzung Dritter infolge der Brandstiftung. Die Anwendung des Vertrauensprinzips wäre dann unnötig. 36 Dagegen ist Gössel darin zuzustimmen, daß der Unterpächter doch gegen die Verkehrssicherungspflicht gegenüber den Bewohnern verstoßen hat. Aber diese Verkehrssicherungspflicht sollte freilich entgegen Gössel nicht eng sein, sondern sich auf die allgemeine Sicherheit der Bewohner beziehen, egal durch welche Gefahr ihre Sicherheit bedroht ist. Weil die Totschlags- und Körperverletzungstatbestände jedoch von einem Dritten verwirklicht wurden und der ordnungswidrig handelnde Unterpächter dabei nur fahrlässige Beihilfe geleistet hat, sind diesem die Tatbestandsverwirklichungen nicht zuzurechnen. 37 II. Die

Rechtsprechung

In den folgenden zwei Fällen hat das Landesgericht Taipeh die objektive Zurechnungstheorie seiner Entscheidung zugrunde gelegt. In einem Fall wurde diese Lösung außerdem vom Oberlandesgericht Taipeh akzeptiert. 30 Jakobs (Fn. 26), 7/49 f; ders. Tätervorstellung und objektive Zurechnung, G S für Armin Kaufmann, 1989, 271, 273: In allen Fällen erkennt der Täter ein verborgenes Risiko (Giftpilze, statische Mängel) nur auf Grund seines vollends fremden, anderweitig erworbenen Sonderwissens. 31 Jakobs (Fn. 26), 7/56 ff. 32 Yü-hsiu Hsü (Fn. 22), 17, 39ff ( = Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 0, 1997, 1, 33 ff). 3 3 Beschluß des O L G Stuttgart v. 21. 11. 1 9 9 6 - 1 Ws 166/96, J R 1997, 517. 34 Gössel Anm. zu O L G Stuttgart v. 21. 11. 1 9 9 6 - 1 Ws 166/96, J R 1997, 519, 520. 35 Yü-hsiu Hsü (Fn. 18), 1, 18, 2 0 f f ( = Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 4, 1999, 121, 140, 142 ff). 36 Yü-hsiu Hsü (Fn. 18), 1, 22 ( = Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 4, 1999, 121, 145f). 37 Yü-hsiu Hsü (Fn. 18), 1, 23 f ( = Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 4, 1999, 121, 146ff).

246

Yü-hsiu Hsü 1. Sachverhalt a) Nierenversagen 38

Am 12. Juni 1997 mittags besuchte A einen Freund im Krankenhaus, der mit der B im selben Zimmer untergebracht war. Als A wegen eines Streites mit der Pflegerin das Zimmer verlassen wollte, warf die B ihm eine Nudelsuppe ins Gesicht. Von Zorn ergriffen gab A der B einen Schlag auf den Kiefer. B war wegen Nierenversagens in Behandlung. Bei der späteren CT-Scan-Prüfung wurden bei ihr eine subarachnoidale Blutung auf einem seitlichen Riß der linken Gehirnhälfte und ein Hämatom auf ihrem linken parietalen Schläfenlappen entdeckt. Dadurch war B ins Koma gefallen und starb schließlich am 14. O k tober 1997 wegen einer Komplikation infolge eines septischen Schocks. Nach dem medizinischen Gutachten tritt eine Gehirnblutung infolge äußerlicher Gewaltanwendung bei an Nierenversagen Erkrankten leichter als bei normalen Menschen ein. Deswegen dürften die Blutung und das Hämatom eher von dem Schlag auf den Kiefer als von der Nierenkrankheit verursacht worden sein, obwohl der letztere Grund nicht völlig auszuschließen sei. Jedoch ließe sich ein prozentualer Unterschied hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Verursachung der Komplikation und des Todes zwischen den beiden möglichen U r sachen nicht feststellen. b) Pilgergruppe 3 9 A m 16. April 1997 lief eine Pilgergruppe eine Bergstraße hinauf, um einen Tempel auf diesem Berg zu besuchen. Unterwegs feuerte A Raketen ab. Eine Rakete landete im Auto der B, die zur gleichen Zeit in der Gegenrichtung bergab fuhr, und explodierte sogleich. Aufgrund des Schocks verlor B die Kontrolle über ihr Auto und prallte links gegen die Bergwand. Dabei verletzte sie zwölf Pilger. Danach ergriff B wieder das Steuer, und das Auto rutschte einige zehn Meter. Danach prallte es wieder nach rechts an die Bergwand, wobei ein bereits verletzter und zwei weitere Pilger mitgeschleppt wurden, von denen einer tödlich verunglückte, während die zwei anderen multiple Verletzungen erlitten.

2.

Begründungen

a) Die Ergebnisse In Fall 1 haben das Landesgericht und das Oberlandesgericht die Definition der objektiven Zurechnung wörtlich zitiert, aber die Kausalität zwischen dem

Landesgericht Taipeh, Klagenummer 10501997 (Fn. 19). Landesgericht Taipeh, Straßenverkehr Klagenummer 5 7 / 1 9 9 7 ; Oberlandesgericht Taipeh, Straßenverkehrssache Revisionsnummer 137/1998; Landesgericht Taipeh, Straßenverkehrssache Erneuerungsnummer 1/1999. 38

39

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan

247

Schlag und dem Todeserfolg als nicht feststellbar verneint. Dieser Fall befindet sich n o c h in der Revision. In Fall 2 hat das Landesgericht bei der erneuten und zugleich endgültigen E n t s c h e i d u n g 4 0 erst die objektive Zurechnungslehre praktiziert. D i e Fahrlässigkeit der Autofahrerin B bei dem ersten A n s t o ß wurde verneint, aber ihre Fahrlässigkeit bei dem zweiten Stoß an die Bergwand wurde bejaht, weil die B nach dem ersten Schock doch einige zehn M e t e r weiter gerutscht und also schon wieder am Steuer gewesen sei. T r o t z der zweiten b e w u ß t e n Handlung von B sei jedoch A wegen seines Feuerwerks auch für die T ö t u n g und weiteren Körperverletzungen verantwortlich, weil die B n o c h nicht zum Bewußtseinstand eines durchschnittlichen Menschen z u r ü c k g e k o m m e n sei.

b) Das Kausalitätsurteil In beiden Fällen hat die Rechtsprechung nach der Bedingungstheorie die Kausalität bejaht. D i e Bedingungstheorie wurde dabei freilich mit der o b j e k tiven Zurechnungslehre in Verbindung gebracht. D a s war das erste Mal, daß die Bedingungstheorie in einer Entscheidung angewendet wurde, weil bis dahin die Adäquanztheorie Lehre und Praxis beherrscht hatte. 4 1 U b e r den Inhalt der Bedingungstheorie hat sich die Rechtsprechung nicht geäußert. D i e einzige Beschreibung der Bedingungstheorie lautete, daß sie sich an der tatsächlichen Erfahrung orientiere. D i e Rechtsprechung hat insoweit richtig erkannt, daß die C o n d i t i o - s i n e - q u a - n o n - F o r m e l die bereits erfahrenen allgemeinen G e s e t z e voraussetzt. J e d o c h lehnt sie sich n o c h an die in der deutschen Strafrechtswissenschaft mehrfach als n u t z l o s 4 2 kritisierte Bedingungstheorie an. D i e s ergibt sich offenbar daraus, daß einerseits die Bedingungstheorie erst seit A n f a n g der 80er J a h r e als die von der deutschen Praxis angenommene Kausalitätslehre und einmal herrschende Lehre in der Wissenschaft in Taiwan bekannt geworden ist 4 3 und bis heute die F o r m e l der gesetzmäßigen Bedingung von Engisch als eine A r t der Bedingungstheorie dargestellt w i r d , 4 4 andererseits weil die R e c h t sprechung den Fall nach der objektiven Zurechnungstheorie behandelt und geglaubt hat, daß die Kausalität nach der objektiven Zurechnungslehre, nach der Bedingungstheorie und vor dem Zurechnungsurteil geprüft werden müßte. Landesgericht Taipeh, Straßenverkehrssache Erneuerungsnummer 1/1999. Tung-Ming Tsai Das Strafrecht, 71991, 81; Chung-Mou Han AT, 21992, 125; Yang-Jr Kao AT, 31994, 188; Chien-Horng Chu AT, 91992, 120; Tian-Kwei Gen AT, 1988, 84; ChienTsai Cbeng AT, 1981, 149; THGSt (Strafrechtliche Entscheidung des Taiwanesischen Höchsten Gerichtshofs), 3696/1976, 192/1987, 5006/1990, 1541/1991, 1219/1999. 42 Engisch Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 14 ff; Jakobs (Fn. 26), 7/9 ff• Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 51996, 28/11 4; Maurach/Zipf Strafrecht AT I, 81992, 18/40; (21998), vor § 13 Rn. 87f; Roxin Strafrecht AT I, 31997, § 11 Rn. 12; SK-StGB-Rudolphi (61997), vor § 1 Rn. 40; Schönke/Schröder/Lenckner StGB, 251 997, vor § 13 Rn. 74; Wessels/Beulke Strafrecht AT, 291 999, Rn. 156. 43 Shan-Tien Lin (Fn. 4), 86 ff. 44 Shan-Tien Lin (Fn. 20), 137. 40 41

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Yü-hsiu Hsü

c) Das objektive Zurechnungsurteil Über die objektive Zurechnung haben die genannten Entscheidungen eigentlich nur in Form folgender Definition gesprochen: Wer das unerlaubte Risiko schafft, das in dem Tatbestandserfolg verwirklicht wird, dem ist dann der Tatbestandserfolg zuzurechnen. In dem Fall des Nierenversagens wurde der Täter nur wegen Körperverletzung bestraft, weil sich die Kausalität für die Tötung nicht feststellen ließ. In dem Pilgergruppenfall wurden die Verletzungs- und Tötungserfolge dem Feuerwerker trotz der Fahrlässigkeit der Autofahrerin objektiv zugerechnet. Aber weitere Begründungen wurden dafür nicht gegeben.

C. Zur allgemeinen Problematik I. Zur Entwicklung der Doktrin In die Entwicklungsgeschichte der objektiven Zurechnungsdoktrin hat Schünemann neuerdings Engisch und Welzel überzeugend einbezogen.45 Aber dann sollte Bruns meines Erachtens auch nicht vergessen werden. In seiner Monographie „Kritik der Lehre vom Tatbestand" charakterisierte Bruns mit der „Möglichkeit der Tatherrschaft" die Täterschaft. Er verstand diese Möglichkeit der Tatherrschaft nicht unter dem Aspekt der Kausalität sondern als ein allgemeines objektives Kriterium der Zurechnung zum Täter, d. h. es sollte für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte, für Begehung und Unterlassung gelten. 46 Bruns Ansicht stand der heutigen objektiven Zurechnungslehre sozusagen gleich. Seine für die Täterschaft entwickelte Idee zeigt ferner eine logische Entwicklung bei Roxin. In seiner weltbekannten Forschung über Täterschaft und Tatherrschaft bemühte sich Roxin um die Begründung der Täterschaft. Unter der Geltung des Nullum-crimen-sine-lege-Satzes kann man sagen „Kein Täter ohne Tatbestand". Der Täterbegriff hängt von dem Tatbestandsbegriff ab. Infolgedessen ist eine materielle Definition des Tatbestandes vonnöten. So sieht man, daß Roxin schließlich folgerichtig zu der objektiven Zurechnungslehre gekommen ist. 47

Schünemann (Fn. 15), 210f; Roxin (Fn. 42), § 11 Rn. 63. Bruns Kritik der Lehre vom Tatbestand, 1932, 71 ff. 4 7 Bei Roxin findet man eine erfolgreiche Forschungsgeschichte, die bereits schon früh von „objektiven" Themen bestimmt wird. Seine Forschung über Täterschaft und Tatherrschaft führt auf die Forschung über die offenen Tatbestände zurück. Die Untersuchung über die offenen Tatbestände öffnete zwei Entwicklungsmöglichkeiten. Eine ist die materielle Tatbestandslehre, die andere ist die Verbrechenslehre. Die objektive Zurechnungslehre ist eben die materielle Tatbestandslehre. In der Verbrechenslehre hat Roxin das zweckrationale Straftatsystem entwickelt. Meines Erachtens ist Roxin mit der objektiven Zurechnungslehre erfolgreicher. 45 46

249

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan

II. Die objektive

Zurechnung

- ein inhaltsleeres

Etikettf

Diese von den Finalisten vorgebrachte Kritik wurde neuerdings von Schünemann zurückgewiesen. Schünemann findet das Verdienst der objektiven Zurechnung darin, daß sie die Zurechnung der sozialadäquaten Kausalverläufe, die keinen generalpräventiven Nutzen bringen würde, auszuschließen vermag. 48 Dieser Aspekt ist jedoch zu eng und wirkt eher umgekehrt. Inadäquate Kausalverläufe zu eliminieren, ist in traditioneller Weise die Aufgabe aller tatbestandsausschließenden Gründe, Rechtsfertigungsgründe und schuldausschließenden Gründe sowie Entschuldigungsgründe. Gerade zu diesem Zweck stiftet die objektive Zurechnung keinen besonderen Nutzen. Die objektive Zurechnung hat ihre Bedeutung vielmehr darin, daß sie das Handlungsunrecht objektiv definiert. Nach Welzel ist die finale Lehre als eine Handlungsunrechtslehre anzusehen. 49 Das Handlungsunrecht wird danach von der Finalität bestimmt. Jedoch läßt sich das Handlungsunrecht der Fahrlässigkeit damit schwer erklären. Roxin definiert das Handlungsunrecht der Fahrlässigkeit durch die Schaffung des unerlaubten Risikos und hat zugleich einen gemeinsamen tatbestandsmäßigen Handlungsbegriff für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte gefunden. Durch die Adäquanzregel entscheidet man, ob ein menschliches Verhalten zur Verwirklichung des Tatbestandes bzw. zur Verletzung der Rechtsgüter geeignet ist. Durch den Normzweck wird das unerlaubte Risiko ausgelesen. Die objektive Zurechnungslehre ist also eine mit zwei Operationsbegriffen „Normzweck und Adäquanz" komplett konstruierte Handlungsunrechtslehre. Ihre Reichweite erstreckt sich weiter auf Täterschaft und Vorsatzbegriff. Ein materieller Tatbestandsbegriff ist zugleich ein materieller Täterbegriff. Der seit den 80er Jahren propagierte objektive Vorsatzbegriff 50 ist mit dem objektiven Zurechnungsgedanken verbunden. Zu guter Letzt hat auch Hirsch zugegeben, daß die Verneinung des Vorsatzes auf Defiziten beruht, die bereits im Objektiven liegen. 51 Nach dieser Betrachtung soll die objektive Zurechnungslehre ihren Schwerpunkt anstatt in der Erfolgszurechnung in der Handlungszurechnung finden. Ihre Beschreibung des Handlungsunrechts durch die Risikoschaffung hat den seit etwa 20 Jahren in der Gesetzgebung immer mehr beliebten Gefährdungsdelikten wohl eine ausreichende dogmatische Begründung geliefert. Dagegen ist ihre Bedeutung für die Erfolgszurechnung eher geringfügig, weil die objektive Zurechnungslehre keine positiven Kriterien für die Erfolgszurechnung entwickelt hat. Alle ihre Zurechnungsausschließenden Gründe sind eher eine bloße neue Zuordnung der traditionellen tatbestandsausschließenden, recht-

Schünemann (Fn. 15), 213 ff. Yü-hsiu Hsii Rück- und Hinblick auf die objektive Zurechnungslehre, FS für ChungMou Han, 2000, 75, 104 ff. 5 0 Seine Verteidiger (nicht streng genommen) etwa Frisch, Herzberg, Puppe. Wenn Jakobs den Vorsatz mit „Wollensfehler" definiert, kann er nicht dazu gezählt werden. 51 Hirsch Zur Lehre von der objektiven Zurechnung, FS für Lenckner, 1998, 1, 7. 48

49

250

Yü-hsiu Hsü

fertigenden und schuldausschließenden Gründe. Insoweit ist die Kritik von Finalisten 52 nicht ganz unbegründet. Unter diesem Aspekt versteht man die objektive Zurechnung in weiterem Sinne. Im Vergleich dazu läßt sich Scbünemanns Argument wohl als die objektive Zurechnungslehre in engerem Sinne bezeichnen.

III.

Ex ante und ex post

Ex ante und ex post sind im Grunde keine richtigen Ausdrücke. Alle Urteile werden nachträglich gefällt. Im Schrifttum sind sie als individuelles Urteil und allgemeines Urteil interpretiert worden. 53 Danach soll die Sorgfaltswidrigkeit individuell nach der Kenntnis und Fähigkeit des Täters und die Erfolgszurechnung allgemein nach dem Zweck der Verhaltensnorm beurteilt werden.54 Diese Betrachtung trifft jedoch die Beurteilungsmethode immer noch nicht ganz. Die Kriterien der Beurteilung sind immer allgemein, und die Gegenstände der Beurteilung sind immer individuell.55 Die entscheidende Perspektive ist stets diejenige des urteilenden Richters 56 und immer objektiv und allgemein. Aber die zu beurteilenden Umstände hängen von den Kenntnissen und Fähigkeiten des Täters und den Ereignissen in concreto ab, einschließlich der atypischen Kausalverläufe. Wenn die Fähigkeiten des Täters höher oder niedriger als diejenigen des optimalen Beobachters stehen, werden zu einem solchen Täter jeweils passende, höhere oder niedrigere Kriterien gebildet. Die Kriterien gehören zu verschiedenen Gruppen, und für die jeweilige Gruppe gibt es nur allgemeine Urteile. Als Beispiele: Im Straßenverkehr gelten mindestens zwei Kriterien, um eine unerlaubte Risikoschaffung festzustellen. Eines gilt für die normalen Autofahrer, das andere gilt für die Berufskraftfahrer. Auch bei der Beurteilung der (adäquaten) Kausaliät wird ein allgemeines Kriterium individuell herangezogen. 57 Bei der Verletzung eines Hämophilen können zwei Fragestellungen ausgemacht werden: Wenn der Täter von der Bluterkrankheit des Opfers nichts weiß, wird bei der Kausalitätsbestimmung gefragt, ob ein Messerstich in den Arm tödlich ist oder nicht. War dem Täter die Bluterkrankheit des Opfers bewußt, wird die Frage so gestellt, ob ein Messerstich in den Arm eines Hämophilen tödlich ist. Auch zur Kausalität wird also stets individuell ein allgemeines Urteil gebildet.

Hirsch (Fn. 17), 403 ff; Küpper (Fn. 10), 83 ff, 94 ff. Kuhlen Zur Problematik der nachträglichen ex ante-Beurteilung im Strafrecht und in der Moral, in: Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, 341, 342 ff, 345 ff; wohl auch Schünemann (Fn. 15), 217 ff. 54 Schünemann (Fn. 15), 217, 219. 55 Yü-hsiu Hsü (Fn. 22), 17, 22 ff (= Hsü Strafrechtliche Abhandlungen 0, 1997, 1, 8 ff). 56 Schünemann (Fn. 15), 218. 57 Anders bei Kuhlen (Fn. 53), 341, 346. 52 53

251

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan

IV. Generalprävention

als Schutzzweck

der

Norm?

Zum Sicherheitszweck bestimmter Rechtsgüter Der Schutzzweck der Norm ist nicht nur eine untergeordnete Zurechnungsregel der Risikoverwirklichung. Mit der „objektiven Zweckhaftigkeit" 58 gilt der Normzweck vielmehr als die Grundlage der objektiven Zurechnung. Daher möchte Schünemann die objektive Zurechnung nach dem Normzweck grundlegend bestimmen. Dabei werden der Zweck der Verhaltensnorm und der Zusammenhang zwischen Zweck der Verhaltensnorm und Sanktionsnorm geprüft. 59 Und was ist dann der Normzweck? Schünemanns Antwort ist die „Generalprävention". Also ob ein geschaffenes Risiko unerlaubt ist und ob sich ein unerlaubtes Risiko in dem Tatbestandserfolg verwirklicht und objektiv zuzurechnen ist, soll davon abhängen, ob die Sanktionierung eines solchen riskanten Verhaltens generalpräventiv notwendig und deswegen kriminalpolitisch sinnvoll ist. Ob ein unerlaubtes Risiko besteht, wird von der die Sicherheitsgrenze bestimmenden Norm entschieden. Die Sicherheitsgrenze wird wiederum von den zu schützenden Gegenständen, nämlich den in den Tatbeständen beschriebenen Rechtsgütern, bestimmt. Ob ein unerlaubtes Risiko verwirklicht wird, hängt eben davon ab, ob der Tatbestand dieses Risiko anerkennt, d. h. als Unrecht erfaßt. Deshalb bedeutet die Prüfung des Normzwecks nicht nur die Prüfung der Sorgfaltspflichtnorm, und es ist Schünemann darin zuzustimmen, daß der Normzweck einen übergeordneten Rang bei der Prüfung der objektiven Zurechnung besitzt. Aber auch wenn die generalpräventive Funktion als der Endzweck gilt, ist sie als Prüfungskriterium zu vage und eigentlich bloß ein anderer Ausdruck des Normzwecks. Die effektive Prävention setzt ohne weiteres ein, wenn die den jeweiligen Schutzgegenständen, den Rechtsgütern, drohende Gefahr sanktioniert ist. Das heißt, wenn der Zweck der Sicherung bestimmter Rechtsgüter erreicht ist, ist der Normzweck und zugleich der Präventionszweck erfüllt. Zu prüfen ist bei dem Normzweck also der Sicherheitszweck bestimmter Rechtsgüter. Eben weil das Verbot der Verursachung von Straßenverkehrsunfällen nicht bezweckt, die Begleitinfektionen während eines Krankenhausaufenthaltes zu verhindern, 60 sondern nur, Gefahren für Leben, Gesundheit oder Vermögen aus Straßenverkehrsunfällen zu beseitigen, könnte die Zurechnung der Krankenhausinfektionen an den Straßenverkehrsteilnehmer keinen generalpräventiven Nutzen bringen. Die Sanktionierung von Krankenhausinfektionen kann nur medizinische Risiken beseitigen bzw. vermindern. In verschiedenen Lebensbereichen gibt es verschiedene Bedrohungen und deshalb auch verschiedene Sicherheitskautelen. Die Bauordnung schützt das Leben, die körperliche 58 Roxin Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, FS für Honig, 1970, 133, 136 (= ders. Grundlagenprobleme, 1973, 126). 59 Schünemann (Fn. 15), 221. 60 Schünemann (Fn. 15), 215.

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Yü-hsiu H s ü

Sicherheit und das Eigentum von Bauarbeitern und -benutzern sowie anderen sich in dem Bau befindenden Personen. Die Straßenverkehrsordnung schützt alle Verkehrsteilnehmer vor Schaden an Leben, Körper oder Eigentum. Die medizinischen Sicherheitsmaßnahmen schützen alle Patienten vor Gefahren für Leben und Gesundheit. Dem Arzt wird es zugerechnet, wenn er eine Schere im Bauch des Patienten vergißt und dadurch eine Entzündung verursacht, aber nicht, weil die Krankenschwester davon in Ohnmacht fällt. Den hinteren Radfahrer im bekannten Reichsgerichtsfall 61 zu bestrafen, wäre sicherlich generalpräventiv von Nutzen. Die Radler werden dann zu jeder Zeit und in jedem Fall, egal ob sie hinter einem anderen Radler fahren oder nicht, mit beleuchteten Rädern fahren. Jedoch besteht zwischen dem verletzten Rechtsgut (Leib oder Leben des vorderen Radfahrers) und der Sorgfaltswidrigkeit des unbeleuchtet fahrenden hinteren Radlers kein Normzweckzusammenhang. Auch den das Gasthaus nicht beleuchtenden Wirt zu bestrafen, kann den Fußgänger auf dem Gehweg vor dem Umfallen bewahren. Trotzdem ist der Wirt für das Umfallen des Fußgängers nicht verantwortlich, weil die die persönliche Sicherheit des Fußgängers schützende Sanktionsnorm mit der Beleuchtungspflicht des Gastwirtes keinen Zweckzusammenhang hat. Ebenfalls kann der rasende Autofahrer für den Tod des zuschauenden Fußgängers nicht haften, wenn der Fußgänger sich infolge der rasenden Geschwindigkeit übel fühlt und daraufhin einen Herzinfarkt bekommt. Hier wäre es schwierig zu sagen, ob die Sanktionierung des überschnell fahrenden Autofahrers den Zuschauer oder andere Autofahrer vor dem Herzinfarkt bewahren kann. Ganz sicher ist aber, daß sich das aus der Übertretung der Geschwindigkeitsbeschränkung entstehende Risiko mit dem Risiko des Herzinfarktes wegen der besonderen Körperreaktion auf die Geschwindigkeit nicht verbindet.

D. Zu einzelnen Kriterien I.

Regreßverbot

Für die Kausalität bzw. die objektive Zurechnung ist das Regreßverbot an sich ein völlig nüchterner Begriff und zur Begründung unbrauchbar. Für die Anwendung des Regreßverbotes bedarf es vielmehr einer weiteren Begründung. Der Bäcker, der Schuldner und der Kreditgeber des Täters in den von Jakobs gebildeten Fällen 6 2 haben nicht die tatbestandsmäßige Handlung begangen, und diese ist ihnen auch nicht zurechenbar. Im Fall des nur verletzten, aber dann an einem Krankenhausbrand gestorbenen Attentatsopfers liefert die feh6 1 Der Fall mit zwei im Dunkeln mit unbeleuchtenden Rädern hintereinander fahrenden Radlern in RGSt 63, 392 ff; Roxin (Fn. 42), § 11 Rn. 72. 62 Jakobs (Fn. 26), 7/59, 24/13, 17.

Die objektive Zurechnungslehre in Taiwan

253

lende Gefahrverwirklichung im Sinne von Roxin6i doch eine bessere Begründung als das nichtssagende Regreßverbot. Daß der Bäcker wegen vorsätzlicher Beihilfe zu einem Mord mit Hilfe des vom Täter vergifteten Brotes bestraft werden könnte, darf daher auch nicht als eine Ausnahme vom Regreßverbot angesehen werden. 64 Der mit vergiftetem Brot seine Frau tötende Täter hat nicht in einen bereits bestehenden Kausalverlauf eingegriffen, sondern ist selbst der Urheber des eigentlichen Kausalverlaufs. Das Brotverkaufen ist trotz Wissens von der anschließenden Vergiftung für sich allein nicht geeignet, den Totschlagstatbestand zu verwirklichen, also keine tatbestandsmäßige Handlung. 65 Schließlich geht es zu recht um die Reichweite des Tatbestandes. 66

II. Reichweite

des

Tatbestandes

Es geht hier um den Schutzzweck der Sanktionsnorm (des Tatbestandes). Viel erörtert und durchaus problematisch sind Schockschäden und Spätschaden bzw. Zweitschäden. 67 Ist die Voraussehbarkeit für die Zurechnung entscheidend, 68 oder darf das Opfer nicht durch die Erstschädigung einem weiteren Schadensrisiko ausgesetzt werden, 69 oder würde die Zurechnung von Spätschäden zu sehr in die Handlungsfreiheit des Täters eingreifen, 70 oder spielt sich der nach der AIDS-Infizierung eintretende Tod zu weit ausserhalb des Einflußbereichs des ersten Schädigers ab 71 ? Die in der Lehre bestehende Kontroverse ergibt sich hauptsächlich aus einer zu vagen Definition des Spätschadens, einschließlich des Schockschadens. Und das eigentliche Problem liegt in der medizinischen Beweisbarkeit. Wenn das wegen des ersten Schadens behindert gewordene Opfer wegen seiner Behinderung nochmals verletzt wird, ist der Zweitschaden ein völlig neuer Schaden und nicht ein mit dem Erstschaden eng verbundener Folgeschaden. Und die Bestrafung des Erstschadens hat die dadurch entstehenden negative Einflüsse bereits mitsanktioniert. Wenn der Erstschaden nur zu einer allgemeinen Reduzierung der Gesundheit bzw. der Widerstands- und Leistungskraft führt, läßt sich diese allgemeine Entwicklung nicht als ein Erfolg der bestimmten verletzenden Handlung begreifen und kann deswegen nicht von dem Tatbestand der Körperverletzung erfaßt werden. 72 Als Spätschaden anzusehen sind folgende Fälle: Der Erstschaden hat mit der Zeit eine konkrete Verschlechterung ver-

Roxin(Fn. 42), § 1 1 Rn. 63. N K - P a ^ e (Fn. 42), vor § 13 Rn. 155. 65 Köhler Strafrecht AT, 1996, 146. 66 Roxin (Fn. 42), § 11 Rn. 90 ff. 67 Jakobs (Fn. 26), 7/81; Roxin (Fn. 42), § 11 Rn. 119, § 24 Rn. 43 ff; NK-Puppe vor § 13 Rn. 235 ff, 240 ff; Schünemann (Fn. 15), 214 f. 68 NK-Puppe (Fn. 42), vor § 13 Rn. 235, 239. 6 9 NK-Puppe (Fn. 42), vor § 13 Rn. 236. 70 Nomias Die Zurechnung von Folgeschäden im Strafrecht, 1993, 31 f, 134 ff. 71 Schünemann (Fn. 15), 214. 72 Zu recht Roxin (Fn. 42), § 24 Rn. 44. 63

64

(Fn. 42),

254

Yü-hsiu Hsü

ursacht. Zum Beispiel hat ein Schlag auf den Kopf den Sehnerv beeinträchtigt und schließlich zur Blindheit geführt. Oder die Verletzung an der Wirbelsäule hat zu einer Lähmung geführt. Freilich spielt dabei der Zeitablauf eine große Rolle und ist für die ärztliche Feststellung der (adäquaten) Kausalität zwischen dem Erstschaden und dem Folgeschaden sowie für die Wiedereröffnung des Prozesses ausschlaggebend. Wenn kein medizinisches Gutachten zur Kausalitätsfeststellung führt, können die Juristen mit der Zurechnung auch schwer etwas anfangen. Das gilt auch für einen Schockschaden, der ein Erstschaden ist. Die Schwierigkeit der Zurechnung von Schockschäden und Spätschäden liegt also vor allem in der praktischen Unmöglichkeit einer genauen Kausalitätsanalyse. 73 Daher ist es verständlich, wenn Schünemann die Zurechnung von Spätschäden bei der AIDS-Infizierung ablehnt, 74 weil eine überzeugende Einflußnahmemöglichkeit des Schädigers auf den Ablauf der AIDS-Infektion bis heute medizinisch nicht feststellbar ist. Wenn demgegenüber die medizinische Kausalanalyse unproblematisch ist, ist die objektive Zurechnung auch zu bejahen, es sei denn, daß die Kausalität für Spätschäden oder Schockschäden erst nach der neuesten (nach der Tatzeit eingetretenen) technischen Entwicklung zu bejahen ist: Die nach der neuesten technischen Entwicklung erst festzustellende (adäquate) Kausalität bestand dann für die Tatzeit nicht.

III. Atypischer Kausalv erlauf und

Risikoerhöhung

1. Die oben erwähnte Kritik am Begriff des atypischen Kausalverlaufes (oben B. I. 4.) trifft nicht zu. Es kommt nicht darauf an, ob der Kausalverlauf nach alter Erfahrung adäquat erscheint. Tatsächlich ist der Kausalverlauf immer adäquat, wenn der Erfolg in einer nunmehr erklärbaren Weise eintritt. Jedoch muß die Bestimmung der Zurechnung nach der alten Erfahrung entschieden werden. O b der Täter wirklich den Kausalverlauf beherrscht hat, kann nur nach der alten Erfahrung geprüft werden. Diese Prüfung ist eben eine Prüfung dafür, ob der Kausalverlauf typisch oder atypisch, nämlich adäquat oder inadäquat ist. 2. Grundsätzlich setzt die Risikoerhöhungstheorie die Adäquanzregel voraus. Nur wenn der Kausalverlauf typisch ist, kann die Erhöhung des Risikos als die Risikoverwirklichung zugerechnet werden. Das Risikoerhöhungsprinzip führt tatsächlich nicht zur Ersetzung, sondern nur zur Ergänzung der Kausalitätserfordernisse. 75 Auch wenn die Risikoerhöhungstheorie am meisten angegriffen wird, halte ich sie für die kreativste Idee in der objektiven Zurechnungslehre. Als eine mit der Risikoschaffung definierte Handlungsunrechtslehre ist die Risikoerhöhungstheorie insoweit konsequent, weil sie das Unrecht des GeWohl auch NK-Puppe (Fn. 42), vor § 13 Rn. 242. Schünemann (Fn. 15), 214; ders. Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung - Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, 373, 483 ff. 75 Schünemann Anm. zu BGH, Beschluß v. 3. 5. 1984 - 4 StR 266/84, StV 1985, 229 f. 73 74

D i e objektive Zurechnungslehre in Taiwan

255

fährdungsdelikts beschreibt. Aber dadurch droht die Kritik durchzugreifen, daß damit das Gefährdungsdelikt als Verletzungsdelikt bestraft werde. Auch wenn die Bestrafung der Risikoerhöhung generalpräventiv wirksam ist, 76 fehlt es immer noch an einer weiteren dogmatische Begründung. Angesichts des Ausgangsfalls des Risikoerhöhungsprinzips - des Radfahrerfalls - scheint mir Jakobs Lösung mit dem Gedanken der Risikokonkurrenz einfacher und überzeugender zu sein. Dies wird im folgenden an der Rezension des Pilgerguppenfalles demonstriert.

E. Anmerkungen zu den Entscheidungen des Nierenversagens und des Pilgergruppenfalls I. Fall des

Nervenversagens

Es handelt sich im engeren Sinn der objektiven Zurechnungslehre nicht um ein Problem der objektiven Zurechnung. Aber im weiteren Sinn kann man den Fall an Hand der Kriterien der Risikoschaffung und Risikoverwirklichung prüfen. Ein Schlag auf den Kiefer ist zwar für eine normale Körperverletzung tatbestandsmäßig, aber nicht für eine schwere Körperverletzung, insbesondere ohne Sonderwissen vom Nierenversagen des Opfers. Das Ergebnis der Entscheidung ist also an sich unproblematisch. Heikel ist, daß die Kausalität zwischen der Blutung und der weiteren Komplikation sowie dem Todeserfolg von einem ärztlichen Sachverständigen nicht feststellbar war. Abgesehen davon, daß dem Täter der schwere Erfolg sowieso subjektiv nicht zuzurechnen ist, ist der Fall gerade ein Beispiel der praktischen Unmöglichkeit der objektiven Zurechnung eines Folgeschadens. Die Verbindung der Bedingungstheorie mit der objektiven Zurechnungslehre halte ich schließlich für ein Mißverständnis der Rechtsprechung. II.

Pilgergruppenfall

Auch dieser Fall ist nach den Regeln der objektiven Zurechnung im weiteren Sinne zu lösen. Aber im Vergleich zum ersten Fall können daran die Regeln der objektiven Zurechnungslehre besser demonstriert werden. 1. Risikoschaffung durch Raketenanzünden Bei religiösen Umzügen in Taiwan ist das Raketenanzünden ein nach der Volkssitte unentbehrlicher Brauch. Je mehr Raketen angezündet werden, desto ehrerbietiger verhält man sich der Gottheit gegenüber. Daher ist das Raketenanzünden in der taiwanesischen Gesellschaft ein erlaubtes riskantes Verhalten. 76

Schünemann

(Fn. 15), 226 f.

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Der sich dadurch ergebende Lärm, Rauch, ein etwa verursachter Schock sowie die leichte Brandgefahr sind gewöhnliche und deswegen erlaubte Risiken. Aber es gibt wie bei anderen gewöhnlich riskanten Handlungen, z. B. Autofahren, eine Gefahrengrenze; z. B. darf man nicht Raketen auf Menschen werfen. Bei normalen Umzügen auf der Straßen der Innenstadt haben die Teilnehmer die Straßen völlig besetzt. Die anderen Teilnehmer im Verkehr wissen, von solchen Gruppen Abstand zu halten, und die Teilnehmer der Umzüge können die Raketen relativ freier werfen. Aber in dem hier angesprochen Fall lief die Pilgergruppe einen Bergabhang hoch, und auf der Seite der Bergwand fuhren noch Autos. Um keine Rechtsgüterverletzung zu verursachen, wäre es sicherer gewesen, die Raketen auf die Seite vom Bergabhang zu werfen. Dadurch, daß der Raketenwerfer nicht darauf geachtet hat, die brennende Raketen nicht auf die Straße zu werfen, hat er also ein zur Rechtsgüterverletzung geeignetes, unerlaubtes Risiko geschaffen. 2. Risikoschaffung durch Autofahren mit offenem Fenster Autofahren ist eine erlaubte Handlung. Mit offenem Fenster zu fahren, ist normalerweise auch erlaubt. Aber wenn während des religiös motivierten Raketenanzündens auf den Straßen Auto gefahren wird, werden bestimmte Sicherheitsmaßnahmen erwartet. In einer solchen Situation ist das Schließen des Fensters eine notwendige Sicherheitsmaßnahme. Die Verkehrsordnung ist nicht eine statische, sondern eine dynamische Ordnung. Alle Verkehrsteilnehmer sind verpflichtet, auf andere Verkehrsteilnehmer aufzupassen, um jederzeit richtig bzw. sicher reagieren zu können. Auf einer leeren Straße darf ein Raketenwerfer Raketen nach freier Willkür anzünden. Ohne Feuerwerk in der Nähe darf die Autofahrerin mit vier offenen Fenstern fahren. Aber wenn diese beiden Ereignisse zusammentreffen, sind unerlaubte Risiken geschaffen worden. 3. Risikokonkurrenz - kumulative Kausalität Eine Rakete flog in das Auto und hat den Autounfall verursacht. Dieser Verkehrsunfall konnte nicht vom Raketenanzünden oder vom Autofahren allein, sondern nur von beiden Faktoren zusammen ausgelöst werden. In diesem Ereignis besteht gerade die kumulative Kausalität. Aus der Sicht der objektiven Zurechnung könnte der Fall als Risikokonkurrenz 7 7 eingeordnet werden. Aber die Risikokonkurrenz ist bloß eine Bezeichnung und ergibt noch kein Zurechnungsprinzip. Über die Zurechnung der kumulativen Kausalität hat sich im Schrifttum bis heute keine tiefgründige Lösung entwickelt. 78 Nach der ob-

Jakobs (Fn. 26), 7/72 ff. Jakobs (Fn. 26), 7/74, 83 ff; Jescheck/Weigend (Fn. 42), 28/11 4; Schönke/Schröder/Z.en£kner (Fn. 42), vor § 13 Rn. 83; SK-StGB-Rudolphi (Fn. 42), vor § 1 Rn. 51 a. In dem taiwanesischen Schrifttum wird das Problem kaum erörtert. 77 78

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jektiven Zurechnungslehre läßt sich die Zurechnung zur Vollendung höchstens damit begründen, daß die jeweiligen unerlaubten Risiken zur Tatbestandsverwirklichung geführt haben. 4. Fahrlässige Mittäterschaft In diesem Fall ist deshalb meiner Meinung nach als Zurechnungsangelpunkt, der noch wichtiger ist als die kumulative Kausalität, die fahrlässige Mittäterschaft anzusehen. a) Die gemeinsame Fahrlässigkeit Die fahrlässige Mittäterschaft ist auch in Taiwan ein umstrittenes Problem. In dem Vorläufer des heutigen T S t G B aus dem Jahre 19 1 2 7 9 war die fahrlässige Mittäterschaft geregelt gewesen. Im Jahre 1935 ist diese Regelung weggefallen. Heute lehnen die Praxis und die überwiegende Lehre diese Kategorie ab. 8 0 Einige Autoren haben sie jedoch anerkannt. 8 1 Die Verneinung wird nur damit begründet, daß die Mittäterschaft ein arbeitsteiliges Zusammenwirken und deswegen den mittäterschaftlichen Willenskonnex voraussetze. Dabei hat der Willenskonnex die Funktion, die Reichweite des arbeitsteiligen Zusammenwirkens und insoweit der Zurechnung zu bestimmen. Es geht also um die Bestimmung der Zurechnung überhaupt. Wenn folglich beim Fahrlässigkeitsdelikt keine Schwierigkeit in der Bestimmung der Zurechnung bestünde, wäre eine fahrlässige Mittäterschaft möglich. Das Fahrlässigkeitsdelikt charakterisiert sich durch die Pflichtwidrigkeit. Wie weit ein Fahrlässigkeitsdelikt zugerechnet werden soll, hängt davon ab, wie groß der Pflichtbereich ist. Mit anderen Worten, wenn eine gemeinsame Pflichtwidrigkeit festzustellen ist, dann besteht eine gemeinsame Fahrlässigkeit, und dann besteht folglich auch eine fahrlässige Mittäterschaft. Eine gemeinsame Pflichtwidrigkeit könnte es geben, und zwar in einer arbeitsteiligen, einer Koordinierung benötigenden Arbeitsgemeinschaft. Ein offensichtliches Beispiel ist das Fahren eines Tandemfahrrads, das von zwei Fahrer gemeinsam gefahren werden muß. Die zwei Tandemfahrer fahren arbeitsteilig, sind also verpflichtet, sich gegenseitig zu unterstützen und auf die Be79 Das Strafgesetz trat in Taiwan nicht in Kraft, weil Taiwan damals noch eine japanische Kolonie war. Das Chinesische Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 1. 7. 1935 wurde am 25. 10. 1945 in Taiwan in Kraft gesetzt. Seither ist das Strafgesetz bereits zehnmal und in 72 Paragraphen geändert worden. Die neueste und größte Änderung geschah am 21. 4. 1999. Insgesamt sind an diesem Tage 49 Paragraphen geändert worden, und ein Abschnitt ist neu eingeführt worden. Die größte Änderung betraf die Sexualdelikte und gemeingefährlichen Delikte. 8 0 T H G 242/1955; Chung-Mou Han (Fn. 41), 302; Tung-Ming Tsai (Fn. 41), 271 -Jien-Hwa Yang AT, 1988, 275 ff. 81 Cheng-Hau Liau Das Fahrlässigkeitsdelikt, 1991, 154 ff; Dzr-Ping Chen Uber die fahrlässige Mittäterschaft, Tunghai Law Journal, Vol. 10 (1996), 164 f; Yü-hsiu Hsü Kommentar zu § § 2 8 - 3 1 TStGB (Mittäterschaft und Teilnahme), National Science Council-Projekt (NSC85 - 2417-H-004 - 002-C4) 1997, 41 ff.

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wegungen voneinander aufzupassen. D i e Fahrlässigkeit eines Fahrers bedeutet auch die Verantwortung des anderen. Aus einem solchen Pflichtkomplex kann sich die fahrlässige Mittäterschaft ergeben. b) Pflichtkomplex im Straßenverkehr Im Straßenverkehr wird oft nach dem Vertrauensprinzip gesagt, daß der Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen darf, daß sich andere Verkehrsteilnehmer auf der Straße ordnungsgemäß bewegen. Wie oben bereits ausgeführt, ist das Vertrauensprinzip als Folge der gesetzlichen Erwartung dogmatisch grundsätzlich unbrauchbar. J e d o c h besagt dieser G e d a n k e die arbeitsgemeinschaftliche Eigenschaft des Straßenverkehrs. F ü r jeden Verkehrsteilnehmer allein gibt es viele Verkehrsordnungen. Vor solchen O r d n u n g e n sind alle Verkehrsteilnehmer gleich. A b e r sich nur an die für jeden geschriebenen, getrennten Regeln zu halten, reicht für die Verkehrssicherheit noch nicht aus. Vielmehr muß jeder Verkehrsteilnehmer bereit sein, entsprechend den Aktionen der anderen Verkehrsteilnehmer sein eigenes Fahrverhalten sicherheitsgemäß zu regulieren, weil die Umwelt des Straßenverkehrs eine dynamische Umwelt ist. Wollen alle Verkehrsteilnehmer ohne Unfall zurechtkommen, müssen sie ihr Verkehrsverhalten miteinander gut koordinieren. Dieses gegenseitige Aufpassenmüssen der Verkehrsteilnehmer bildet einen Pflichtkomplex. Aus diesem Pflichtkomplex ergibt sich der Risikokomplex wegen der Pflichtwidrigkeit. D i e Verwirklichung dieses Risikokomplexes kann unproblematisch allen Pflichtigen zugerechnet werden. c) Raketenwerfer und Autofahrerin sind fahrlässige Mittäter D e r Raketenwerfer und die Autofahrerin befanden sich in einer gemeinsamen Straßenverkehrsumwelt und bildeten also einen Pflichtkomplex. In ihrer verkehrsbezogenen Interaktion haben sie pflichtwidrig gehandelt und einen Risikokomplex geschaffen. Dieser Risikokomplex führte zu einem Tod und 13 Körperverletzungen, das Risiko ist verwirklicht. D i e fahrlässige Mittäterschaft ist also gegeben. Insgesamt besteht Tateinheit. D i e Autofahrerin versuchte zwar nach dem ersten Aufprall noch zweimal, ans Steuer zu k o m m e n . J e d e ihrer Reaktionen gehörte aber zu derselben Handlung. Der Vorgang war ein dauernder Kampf gegen die Gefahr und damit ein Dauerdelikt. Die A n n a h m e von zwei Handlungen der Autofahrerin in der Rechtsprechung ist nicht richtig. D i e s e Annahme hat Schwierigkeiten bereitet, den zweiten Anstoß der Autofahrerin dem Raketenwerfer zuzurechnen. Daher hat die Rechtsprechung die Zurechnung an den Raketenwerfer sehr unsauber begründet: D i e Autofahrerin sei beim Rutschen des Autos nach vorn wieder ans Steuer gelangt und habe deswegen bei dem zweiten Anstoß an den Felsen fahrlässig gehandelt. A b e r weil ihr Bewußtseinszustand noch nicht zu einem normalen Zustand, den eine durchschnittliche Person besitzen sollte, zurückgekehrt sei, sei der Raketenwerfer für den Todeserfolg und die letzten zwei Körperverletzungen ebenfalls verantwortlich.

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5. Actio libera in causa Daß die Rechtsprechung den ersten Aufprall des Autos als nicht fahrlässig angesehen hat, ist ebenfalls unrichtig. Die Autofahrerin hat die Beherrschung ihres Autos schuldhaft verloren, es sei denn, daß sie gerade ins Auto eingestiegen war und noch nicht rechtzeitig reagieren konnte. Daß sie die Fensterscheiben ihres Fahrzeugs offenließ, bildet eine fahrlässige actio libera in causa. Nach der einhelligen Meinung in Lehre und Praxis verdient eine solche Fahrlässigkeit keine Strafmilderung.

F. Ergebnis Seit dem ersten Straftatsystem, als das Beling-Liszt'sche klassische Verbrechenssystem ausgebaut wurde, hat sich die deutsche Strafrechtsdogmatik in prachtvoller Weise entwickelt. Durch die Systematisierung sind viele Problembereiche ausgearbeitet worden. Auch wenn die Grundgedanken vorher bereits existierten (die Vorsatztheorie ist das beste Beispiel), kann man ihre Präzisierung und Entfaltung im letzten Jahrhundert deutlich verfolgen. Allein schon die Entwicklung der Tatbestandslehre im 19. Jahrhundert, die man auch als Entwicklung der Unrechtslehre bezeichnen kann, hat die im 20. Jahrhundert weit übertroffen. In der Unrechtslehre fängt die Entwicklung mit der materiellen Rechtswidrigkeit an und läuft durch die finalistische personale Unrechtslehre bis zur objektiven Zurechnungslehre. Claus Roxin, der verehrte Jubilar, hat dazu ein unersetzbares und wohl sogar das einflußreichste Kapitel beigetragen. Das objektive Zurechnungskonzept hat seine Reichweite bis zur Vorsatzlehre und Täterschaftslehre erstreckt. Dabei bildet der objektive Vorsatzbegriff seit Mitte der 80er Jahre einen auffallenden Seitenzweig. D e r mit der Tatherrschaft definierte Täterbegriff hat die Theorie der Mittäterschaft vielfätig entfaltet und die Strafrechtswissenschaft bis heute noch unendlich beschäftigt. Darunter ist die Willensherrschaft als Begründung der Figur des mittelbaren Täters die ingeniöseste Idee. Außer in der Unrechtslehre hat Claus Roxin in der Schuldlehre mit der Idee von der Verantwortlichkeit ebenfalls eine neue Dimension eröffnet und die weitere Entfaltung vorbereitet. In dem kommenden Jahrhundert müßte davon eine große Ernte zu erwarten sein. Die dogmatischen Grundlagen der U n rechtslehre und Schuldlehre, die im letzten Jahrhundert ausgearbeitet worden sind, haben insoweit gesehen einen stabilen Baustein für die weitere Entwicklung der Strafrechtsdogmatik gelegt. Und auf diesem großen Stein sitzt eine große Figur - unser Jubilar, Claus Roxin. Ihm gilt mein herzlicher Dank, der mit dieser bescheidenen Studie nur unvollkommen ausgedrückt werden kann.

Die Zurechnung beim nachträglichen Fehlverhalten eines Dritten SEIJI SAITO

I. Einleitung Claus Roxin, der verehrte Jubilar, nimmt in Japan unter den deutschen Strafrechtslehrern einen ganz besonderen Platz ein. Die in klarer Sprache geschriebenen und inhaltlich ebenso sehr logischen wie ausgewogenen Ausführungen seiner Monographien, Aufsätze und Lehrbücher bringen es mit sich, daß er in Japan vielfach als Repräsentant der deutschen Strafrechtswissenschaft schlechthin gilt. Ich selbst habe das Glück gehabt, schon vor drei Jahrzehnten, zuerst noch an der Universität Göttingen, bei ihm forschen zu dürfen. So sei ihm nicht nur als „praeceptor Japoniae", sondern auch als meinem persönlichen Mentor diese kleine Studie in Dankbarkeit gewidmet. Sie versucht, die sogenannte Lehre von der objektiven Zurechnung, die Roxin begründet und seither in vielen Einzelheiten ausgearbeitet hat, 1 für eine spezielle Konstellation näher zu konkretisieren.

II. Problemstellung und Ausgangsposition 1. Am 20. 11. 1990 hat das japanische höchste Gericht in einem Beschluß den folgenden Fall behandelt und die Tat des Täters (A) als Körperverletzung mit Todesfolge beurteilt. 2 A hatte ohne Tötungsvorsatz mit einem Waschbecken B auf die Nase geschlagen, so daß B in Bewußtlosigkeit gefallen war. A hatte B daraufhin nach draußen gebracht und dort sich selbst überlassen. Später kam C dorthin und hat B ohne Tötungsvorsatz (aber mit Körperverletzungsvorsatz) geschlagen. C's Schläge beschleunigten ein wenig das Sterben von B. 1 Roxin Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten, ZStW 74 (1962), 4 1 1 ff; ders. Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, FS für Honig, 1970, 169 ff; ders. Zum Schutzzweck der N o r m bei fahrlässigen Delikten, FS für Gallas, 1973, 241 ff; ders. Die Lehre von der objektiven Zurechnung, Chengchi Law Review 1994, 2 1 9 ff; ders. Strafrecht AT I, 3 1997, § 11 B R n . 3 9 f f ( 3 1 0 f f ) . 2 Saiketsu Heisei 2 Nen 11 Gatsu 20 Ka, Keishu 44 Kan 8 G o 837 Peiji (Beschluß vom 20. 11. 1990, Entscheidungen des jap. Gerichts in Strafsachen, Bd. 44, Heft 8, 837).

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Die Besonderheit dieses vom japanischen höchsten Gericht entschiedenen Falls besteht darin, daß er das Problem der Erfolgszurechnung beim nachträglichen Fehlverhalten eines Dritten betrifft. Fast alle japanischen Autoren haben der Entscheidung zugestimmt. Andererseits vertritt die herrschende japanische Meinung die sogenannte Adäquanztheorie, d. h. die Lehre von der adäquaten Verursachung. Soweit bekannt, wurde die Adäquanztheorie von v. Kries am Ende des neunzehnten Jahrhunderts begründet. 3 Nach dieser Lehre ist im strafrechtlichen Sinne nur ein Verhalten ursächlich, das eine allgemeine Tendenz zur Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges besitzt, während Bedingungen, die nur zufällig den Erfolg ausgelöst haben, rechtlich irrelevant sind. 4 2. Zur Vereinbarkeit des Urteils des japanischen höchsten Gerichts vom 20. 11. 1990 mit der traditionell verstandenen Adäquanztheorie findet sich im Schrifttum die folgende skeptische Stellungnahme: a) Das japanische höchste Gericht bejaht den Kausalzusammenhang zwischen der Tat des Täters (A) und dem Tod des Verletzten (B), obgleich zwischen beiden die nachträgliche Tat eines Dritten steht. Dieser Schluß ist richtig. b) Aber die bisherige Adäquanztheorie besitzt kein Kriterium zur Erklärung dieses Falles eines nachträglichen Fehlverhaltens eines Dritten und kann diesen Fall deshalb nicht gut bewältigen. c) Dennoch sollte man an der Adäquanztheorie festhalten. Deshalb kann man diese Situation als die „Krise der Adäquanztheorie" bezeichnen. 5 3. Ich möchte statt dessen genau umgekehrt fragen: Muß man aber eigentlich den Schlußfolgerungen des japanischen höchsten Gerichts zustimmen? 3 Von Kries Uber die Begriffe der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit und ihre Bedeutung im Strafrecht, ZStW 9 (1889), 528 ff. Die Adäquanztheorie wurde durch v. Kries begründet und, soweit bekannt, von Traeger (Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904, 159 ff) ausgebaut. Vgl. auch v. Hippel Deutsches Strafrecht, Bd. 2, 1930, § 13 I X 2 (143); Allfeld Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, AT, 9 1934, § 2 2 III Fn. 18 (105 Fn. 18); Roxin A T I (Fn. 1), § 11 Rn. 34 (308). 4 Vgl. Mezger Strafrecht. Ein Lehrbuch, 3 1949, § 15 III (117); Bockelmann/Volk Strafrecht AT, 4 1987, § 13 V 4 (64). Auch in Japan ist über die Frage, von welchem Standpunkt aus das Adäquanzurteil zu fällen sei (ex ante? ex post? vom Standpunkt des Täters oder eines Dritten aus? aufgrund welcher Wissensbasis?), lange Zeit gestritten worden. Insbesondere ist das Problem der sog. Urteilsbasis, als angebliche Hauptfrage der Adäquanztheorie, wiederholt ausführlich behandelt worden. Nach wie vor werden zwei Lösungen vertreten: die von Rümelin begründete „objektive L ö s u n g " und die von Traeger ausgebaute „mittlere L ö s u n g " (vgl. Rümelin Die Verwendung der Causalbegriffe in Straf- und Civilrecht, 1890, 19, 217; Traeger [Fn. 3], 159 ff) Diese Terminologie (die objektive oder mittlere Lösung) geht nach meinem Verständnis auf Radbruch Die Lehre von der adäquaten Verursachung, 1902, 364 ff, zurück. 5 Ida, Ingakankei no „Sotosei" ni kansuru ichi Shiron (Ein Versuch über die Adäquanz der Kausalität), Hogakukenkyu (Forschung der Rechtswissenschaft), Bd. 64, Heft 11, 1991, 1 ff (jap.). Ebenso Yamaguchi, Soto ingakankei to kyakkanteki Kizoku (Adäquanz der Kausalität und objektive Zurechnung), Hogakukuyoshitsu (Ausbildung der Rechtswissenschaft), Nr. 176, 1995, 65 (jap.).

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Gibt es nicht umgekehrt ernsthafte Zweifel an dem von ihm bezogenen Standpunkt? Und um mein Ergebnis vorwegzunehmen: Ich halte die Meinung des japanischen höchsten Gerichts sogar für äußerst zweifelhaft. Zur Begründung möchte ich im folgenden zunächst auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eingehen, der einen ganz ähnlichen Fall behandelt und die Tat ebenfalls als Körperverletzung mit Todesfolge beurteilt hat. Dann möchte ich meine eigene Meinung über das Problem der Erfolgszurechnung beim nachträglichen Fehlverhalten eines Dritten entwickeln. Vorausschicken möchte ich, daß ich entgegen der in Japan herrschenden Meinung kein Anhänger der Adäquanztheorie bin, sondern der Lehre von der sogenannten objektiven Zurechnung folge. Denn die Adäquanztheorie vermeidet zwar den regressus ad infinitum der Aquivalenztheorie, und sie gestattet auch die Ausschaltung „abenteuerlicher" Kausalverläufe. Aber sie kann die Eliminierung sozialadäquater Kausalverläufe nicht begründen. 6 Die in Japan herrschende Meinung behauptet demgegenüber zwar, fast alle praktischen Ergebnisse der Lehre von der objektiven Zurechnung seien identisch mit denen der Adäquanztheorie und außerdem sei die Lehre von der objektiven Zurechnung schwer zu verstehen. Aber diese Kritik geht meiner Meinung nach fehl. 7 Zwar gibt es in Japan Verständnisschwierigkeiten mit dieser Lehre. Aber die objektive Zurechnung ist, so wie sie von unserem verehrten Jubilar entwickelt 8 und beispielsweise 1975 von Rudolphi formuliert wurde, nicht schwer zu verstehen: Objektiv zurechenbar ist ein durch menschliches Verhalten verursachter Unrechtserfolg nur dann, wenn dieses Verhalten eine rechtlich mißbilligte Gefahr des Erfolgseintritts geschaffen und diese Gefahr sich auch tatsächlich in dem konkreten erfolgsverursachenden Geschehen realisiert hat. 9 Und die schon erwähnten sozialadäquaten Kausalverläufe, bei denen etwa nach dem Schutzzweck der Norm keine Erfolgszurechnung am Platze ist, können nicht von der Adäquanztheorie, sondern nur von der Theorie der objektiven Zurechnung dogmatisch überzeugend bewältigt werden. Im folgenden werde ich deshalb vom Standpunkt dieser Lehre aus meine Meinung zur Fallgruppe des Dazwischentretens Dritter entwickeln. 1 0

Vgl. Schünemann Uber die objektive Zurechnung, G A 1999, 213 f. Saito Iwayuru „Sotoingakankeisetsu no Kiki" ni tsuite no Kanken — Koi no Daisansha no Koi to kyakanteki na Kizoku - (Ein Beitrag zur sog. „Krise der Adäquanztheorie" - Das vorsätzliche nachträgliche Verhalten eines Dritten und die objektive Zurechnung), Hogaku Shinpo (The Chuo Law Review), Vol. CIV, Nr. 7/8 1997, 755 ff (jap.). 8 Nachweise in Fn. 1. 9 SK-StGB-Rudolphi (1. Aufl. 1975), vor § 1 Rn. 57 (ebenso 7. Aufl. 1999, vor § 1 Rn. 57). Im Jahr 1977 hat Kienapfel in Osterreich eine ganz ähnliche Formel propagiert (Die Fahrlässigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Straßenverkehrs. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der objektiven Zurechnung, ZVR 1977, 163). 1 0 Uber die Dogmengeschichte des hier behandelten Problems vgl. Lang Die Unterbrechung des Kausalzusammenhanges durch willentliches Dazwischentreten eines Dritten. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung, 1996. 6

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III. Ein deutscher Fall Am 12.2.1992 hat auch der Bundesgerichtshof in Deutschland ausgesprochen, daß die folgende Tat als Körperverletzung mit Todesfolge zu bestrafen sei.11 A hat ohne Tötungsvorsatz mit einem Gummihammer B auf den Kopf geschlagen, so daß B in Bewußtlosigkeit gefallen ist. A dachte, B sei gestorben. Auf dem Weg nach Hause hat A seinen Verwandten C getroffen und ihm gesagt, er habe B getötet. C ging zu B's Haus und hatte dort den Eindruck, B sei gestorben. C hat daraufhin die vermeintliche Leiche von B an die Tür gehängt, damit man annehmen solle, daß B Selbstmord begangen habe. Aber B war durch die Schläge von A nicht sogleich gestorben, sondern wäre daran erst nach einigen Stunden zu Tode gekommen. C hat also durch das Aufhängen das Sterben von B beschleunigt. Die Besonderheit dieses vom B G H entschiedenen Falles besteht wie in der oben dargestellten japanischen Entscheidung darin, daß er das Problem der Erfolgszurechnung beim nachträglichen Fehlverhalten eines Dritten betrifft. Auch im BGH-Fall haben die zwei Personen unabhängig voneinander (anders als in Japan aber die zweite nur unvorsichtig) gehandelt, und es geht abermals nicht um Tötungsvorsatz, sondern um Verletzungsvorsatz und eine bloße Todesfolge. 12 Wenn man die oben dargestellte japanische Entscheidung für richtig erklären will, kann man meiner Meinung nach die BGH-Entscheidung zur Unterstützung anführen. Aber bis heute hat kein japanischer Autor die BGH-Entscheidung zum Zweck der Rechtfertigung der oben dargestellten japanischen Rechtsprechung und herrschenden Meinung ausgewertet.

IV. Erfolgszurechnung und nachträgliches Fehlverhalten eines Dritten 1. Wie oben gezeigt, hat das japanische höchste Gericht in dem von ihm entschiedenen Fall die Tat des Ersttäters als Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB; § 205 jap. StGB) beurteilt. Aber meiner Meinung nach kann man dem Ersttäter aus den folgenden Gründen die erst vom Zweittäter unmittelbar herbeigeführte Todesfolge nicht anlasten: a) Zwischen der Tat des Ersttäters und dem Tod des Verletzten gab es die vorsätzliche Tat eines andern. Zwar hat der Ersttäter durch seine Tat das unerlaubte Risiko für den Tod des Verletzten geschaffen. Aber diese Gefahr wurde vom Ersttäter nicht verwirklicht.13 B G H - U r t . v. 12. 2. 92 - 3 StR 481/91 = N S t Z 1992, 333. Zur Entscheidung des B G H vgl. Dencker Zum Erfolg der Tötungsdelikte, N S t Z 1992, 311 ff; Puppe Zum Zusammenhang zwischen Körperverletzung und Todesfolge bei § 226 StGB, J R 1992, 511 ff; Pütz Strafrecht BT: Die Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen Körperverletzung und Todesfolge - § 226 StGB, J A 1993, 285 ff; Otto J K 1993, S t G B § 226/4. 13 Vgl. Burgstaller Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten eines Dritten oder des Verletzten selbst, FS für Jescheck, Bd. I, 1985, 363 f ( = Bezauer Tage 1983, 137); Schmoller Fremdes Fehlverhalten im Kausalverlauf. Zugleich ein Beitrag zur fahrlässigen Beteiligung, FS für Triffterer, 1996, 223 ff. 11

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b) Die Körperverletzung mit Todesfolge ist ein erfolgsqualifiziertes Delikt. Der schwere Erfolg muß also durch Fahrlässigkeit verwirklicht werden. Wenn zwischen der unvorsätzlichen Tat und dem Erfolg eine vorsätzliche Tat steht, kann der Erfolg der unvorsätzlichen Tat nicht zugerechnet werden. Denn wer eine unvorsätzliche Tat begeht, kann im Regelfall darauf vertrauen, daß andere keine vorsätzlichen Straftaten begehen. 1 4 c) Zwar ist der Tod des Verletzten von dem Zweittäter nur beschleunigt worden. Aber der Tod des Verletzten darf der Vortat dennoch nicht zugerechnet werden. Wenn man das machen wollte, wäre es ein sogenannter hypothetischer Kausalverlauf. Zwar dürfen die hypothetischen Kausalverläufe die Schuld des Täters nicht beseitigen, aber zur gleichen Zeit und erst recht dürfen die hypothetischen Kausalverläufe den Täter nicht mit der Schuld belasten. 1 5 d) In dem vom japanischen höchsten Gericht entschiedenen Fall ist der Tod des Verletzten durch die Tat des Zweittäters ein bißchen beschleunigt worden. Der wirkliche Zeitpunkt des Todes des Verletzten wurde also erst durch die Tat des Zweittäters hervorgebracht. Man kann also behaupten, daß die entscheidende Ursache für den Tod des Verletzten zu dem bestimmten Zeitpunkt die Tat des Zweittäters, nicht die des Ersttäters, sei. e) Weil der Tod des Verletzten durch die Tat des Zweittäters „lediglich" beschleunigt wurde, vertreten sowohl die Rechtsprechung als auch fast alle Autoren in Japan die Auffassung, daß die Tat des Ersttäters als Körperverletzung mit Todesfolge zu bestrafen sei. Wenn das richtig wäre, würde es fraglich, wie die Tat des Zweittäters zu beurteilen wäre. Für dieses Problem gäbe es nach meinem Verständnis zwei Lösungsmöglichkeiten: (aa) Der Zweittäter ist ebenfalls wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB; § 205 jap. S t G B ) zu bestrafen. (bb) Der Zweittäter ist nur wegen Körperverletzung (§ 223 S t G B ; § 204 jap. S t G B ) zu bestrafen. Aber gegen beide Lösungen ergeben sich gravierende Bedenken: (1) Wenn man sowohl die Tat des Ersttäters als auch die des Zweittäters als Körperverletzung mit Todesfolge bestrafen wollte, erscheint es bedenklich, daß der Erfolg des Todes des Verletzten doppelt abgeurteilt würde. Der Ersttäter und der Zweittäter sind keine Mittäter, sondern Nebentäter. Ist es dennoch angebracht, beide wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu bestrafen? (2) Wenn man dagegen die Tat des Ersttäters als Körperverletzung mit Todesfolge und die des Zweittäters nur als Körperverletzung bestrafen wollte, wäre es ungereimt, daß die Tat des Zweittäters nur als Körperverletzung ohne Zurechnung des Todes bestraft würde, obgleich der Tod des Verletzten durch diese Tat beschleunigt wurde.

14 Roxin Bemerkungen zum Regreßverbot, FS für Tröndle, 1989, 186f; ders. A T I (Fn. 1), § 2 4 Rn. 26 ff (S. 928 ff). 15 Vgl. Roxm AT I (Fn. 1), § 11 Rn. 54 (S. 317).

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f ) Richtigerweise ist deshalb meines Erachtens die Tat des Ersttäters nur als Körperverletzung und diejenige des Zweittäters als Körperverletzung mit Todesfolge zu bestrafen. Zur Untermauerung dieses Ergebnisses möchte ich das folgende Beispiel anführen: A warf mit Tötungsvorsatz B von dem Dach eines Hochhauses auf die Erde. Bevor B auf die Erde fiel, schoß C, die in einem anderen Hochhaus die Tat von A mitangesehen hatte, ebenfalls mit Tötungsvorsatz auf B, daher starb B noch in der Luft auf dem Weg zur Erde. Richtigerweise wäre die Tat von A in diesem Fall als ein Tötungsversuch und die von C als eine vollendete Tötung zu qualifizieren. (In Japan wird auch die Auffassung vertreten, daß die Tat von A eine vollendete Tötung und die von C bloß ein Tötungsversuch sei. 16 Aber das überzeugt nicht. Nach dieser Meinung wäre jede Tötungshandlung ein bloßer Tötungsversuch, denn jeder Mensch stirbt früher oder später. 17 ) Wenn das richtig ist, muß man a fortiori folgendes behaupten: In dem vom japanischen höchsten Gericht entschiedenen Fall ist die Tat des Ersttäters bloße Körperverletzung und die Tat des Zweittäters Körperverletzung mit Todesfolge, denn der Zurechnungszusammenhang zwischen der Tat des Täters und dem Erfolgseintritt beim Opfer wird jedenfalls durch vorsätzliches Eingreifen eines Dritten in den Kausalverlauf ausgeschlossen. 18 2. Am 9. 7. 1993 hat auch das japanische Landgericht Osaka in einem ähnlichen Fall ausgesprochen, daß die Tat in folgender Konstellation als Körperverletzung mit Todesfolge zu bestrafen sei: 19 A hatte ohne Tötungsvorsatz mit einem Telefonhörer B so stark auf die Nase geschlagen, daß dieser in Bewußtlosigkeit gefallen war. B wurde daraufhin in ein Krankenhaus gebracht und fiel dort in den Hirntod. C (Arzt) hat mit Einwilligung der Verwandten von B den Respirator abgeschaltet, woraufhin B alsbald in den Herztod gefallen ist. 16 Hirano Hanzairon no Shomondai, I Soron (Probleme der Straftatlehre, Bd. I, Allgemeiner Teil), 1981, 42 (jap.). 17 Einmal wurde in Osterreich folgendes behauptet: „Diese (seil, die sog. unnötige Verursachung) liegt immer dann vor, wenn A einen bestimmten Erfolg herbeigeführt hat, der gleiche Erfolg aber sonst durch ein anderes Ereignis verursacht worden wäre. Es liegt daher auch Tötung vor, wenn jemand den Tod eines Todkranken durch das Einflößen von Gift beschleunigt. Es folgt daraus, daß eine Tatsache nur dann nicht kausal ist, wenn ohne sie der Erfolg auf die gleiche Weise und zur selben Zeit eingetreten wäre" (Malaniuk Lehrbuch des Strafrechts, Bd. I, Allg. Lehren, 1947, 85; vgl. auch Rittler Lehrbuch des österreichischen Strafrechts, Bd. I, Allg. Teil, 2 1954, 101 Fn. 1). 18 In Japan wird teilweise auch vom Standpunkt der Lehre von der objektiven Zurechnung die oben dargestellte Entscheidung für richtig gehalten (Yamanaka Daisansha ni yori kuwaerareta Boko no Kainyu to Shogaichishizai no Ingakankei [Nachträgliches vorsätzliches Fehlverhalten eines Dritten und Erfolgszurechnung der Körperverletzung mit Todesfolge], Heisei Ninendo Juyo Hanrei Kaisetsu [Erklärungen der wichtigen Rechtsprechungen im Jahre 1990], 1991, 143). Zwar wird eingeräumt, daß der Tod des Verletzten durch das nachträgliche vorsätzliche Fehlverhalten eines Dritten beschleunigt wurde; aber dennoch ließe sich objektiv sagen, daß der Tod des Verletzten durch die Tat des Vortäters verwirklicht worden sei. Aber das halte ich für bedenklich. 1 9 Osakachihan Heisei 5 Nen 7 Gatsu 9 Ka, Hanji 1473 Go 156 Peiji (Urteil des LG Osaka vom 9. 7. 1993, Zeitschrift für Rechtsprechung, Nr. 1473, 156).

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(Nach der in Japan herrschenden Meinung wird der Todeszeitpunkt des Menschen durch den sogenannten Herztod bestimmt und nicht durch den Hirntod. 2 0 Das L G Osaka folgte dieser herrschenden Meinung.) Das Urteil des L G Osaka ist also der oben erwähnten Rechtsprechung des japanischen höchsten Gerichts gefolgt. Die herrschende Meinung hat auch dieses Urteil gebilligt. Weil nach meiner eigenen Auffassung der Hirntod für den Tod des Menschen 21 maßgeblich ist, ist der Täter im Fall des L G Osaka auch meiner Meinung nach wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu bestrafen. Aber wenn man den Herztod als maßgeblich für den Tod des Menschen ansähe, könnte man meines Erachtens in diesem Fall den Täter nur wegen Körperverletzung bestrafen. 22 3. Wie oben erwähnt, vertritt die in Japan herrschende Meinung die sogenannte Adäquanztheorie. Zugleich ist die etwa vor 70 Jahren von Engisch entwickelte Auffassung vielfach manchmal in Japan als ein Modell der Adäquanztheorie verstanden und von ziemlich vielen Autoren akzeptiert worden. 23 Wie weithin bekannt sein dürfte, lautet Engischs Fassung der Adäquanztheorie folgendermaßen: a) Engisch identifizierte die Adäquanztheorie mit der Theorie der objektiven Sorgfaltswidrigkeit. b) Dann forderte er außer der Adäquanz in bezug auf den tatbestandlichen Erfolg (Adäquanz im weiteren Sinne), d. h. außer der generellen Vorhersehbarkeit des Erfolges wegen Verletzung der objektiv erforderlichen Sorgfalt, auch „die besondere Art und Weise des Kausalverlaufs" (Adäquanz im engeren Sinne), d. h. die Verwirklichung der Gefahr. 24 Um es kurz zu sagen, hat Engisch also klar zwischen -

der Kausalität im Sinne der Bedingungstheorie, der Adäquanz im Sinne der generellen Vorhersehbarkeit des Erfolges (Adäquanz im weiteren Sinne) und der Gefahrverwirklichung (Adäquanz im engeren Sinne) unterschieden und alle drei Voraussetzungen als selbständige Tatbestandsmerkmale nebeneinander gestellt. 25

20 Saito Uber Organtransplantationen und Todeszeitpunkt in Japan aus strafrechtlicher Sicht, in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, 124.

Saito (Fn. 20), 125. Auch in Osterreich wurde früher folgendes vertreten: Wenn das verletzte Mord- oder Unfallopfer nur deshalb stirbt, weil der Arzt aus Mitleid das Beatmungsgerät abstellt, ist dem Erstverursacher nicht objektiv zuzurechnen ( K i e n a p f e l Grundriß des österreichischen Strafrechts, AT, 5 1994, Z 27 Rn. 12 [154]; 6 1996, Z 27 Rn. 12 [156], Dieses Beispiel ist allerdings nunmehr in: Kienapfel/Höpfel Grundriß des österreichischen Strafrechts, AT, 7 1998, Z 27 Rn. 12 [S. 158]; 8 20 00, Z 27 Rn. 12 [S. 159] gestrichen worden). 21

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23 24 25

Engisch Engisch Engisch

Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 61, 69 ff. (Fn. 23), 61. (Fn. 23), 68.

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Seiji Saito

Es ist deutlich, daß Engisch damit einen Schritt über die schlichte Adäquanztheorie, die sich mit der generellen Vorhersehbarkeit des Erfolges begnügt, hinausgetan hat. Und schon damals hat er die Formulierung gefunden, die die heute in Deutschland herrschende Meinung zur Definition der objektiven Zurechnung benutzt. 26 1955 hat Sauer Engiscbs Fassung der Adäquanztheorie deshalb sogar als eine Spielart der Relevanztheorie aufgefaßt.27 1 994 habe ich in Japan diese Auffassung von Sauer über Engischs Fassung der Adäquanztheorie vorgestellt.28 Dabei habe ich Engisch als einen Vorläufer der Lehre von der objektiven Zurechnung bezeichnet. 1999 hat auch Schünemann in Deutschland dieselbe Auffassung vertreten.29 Wie oben bemerkt, wird in Japan gemeinhin angenommen, daß die herrschende Meinung die Adäquanztheorie vertrete. Aber durch Engischs Ansicht nähert sich die in Japan führende Auffassung meiner Meinung nach der Lehre von der objektiven Zurechnung stark an, auch wenn dem Namen nach die Adäquanztheorie dominiert. 4. Sowohl die vom japanischen höchsten Gericht gefällte Entscheidung vom 20. 11. 1990 als auch die sogenannte Adäquanztheorie können deshalb meiner Meinung nach nicht überzeugen. Deshalb ist eigentlich die Redeweise „Krise der Adäquanztheorie" sowohl irreführend als auch unnötig. Man sollte besser von der „Fortentwicklung der Adäquanztheorie zur Lehre von der objektiven Zurechnung" sprechen.

V. Kritik an der Entscheidung des Bundesgerichtshofes Zu dem vom BGH entschiedenen Parallelfall möchte ich folgendes abschließend noch bemerken: 1. Daß ein anderer im Interesse des Vortäters an einer vermeintlichen Leiche Handlungen vornimmt, die auf die Körperintegrität des in Wahrheit noch lebenden Opfers keine Rücksicht nehmen, ist meiner Meinung nach durchaus keine typische Auswirkung der durch die Vortat gesetzten Gefährdung, so daß nach meiner Auffassung bereits auf der allgemeinen Zurechnungsebene gegen die Zurechnung des konkreten Todeserfolges große Bedenken bestehen. Denn Vgl. Schünemann (Fn. 6), 210. Sauer Allgemeine Strafrechtslehre. Eine lehrbuchmäßige Darstellung, 3 1955, § 15 I a Fn. 53 (S. 81 Fn. 53), b (S. 83); ähnlich schon Sauer Allgemeine Strafrechtslehre, 2. völlig neue Auflage der Grundlagen des Strafrechts. Mit Leitsätzen zur Anfertigung von Übungsarbeiten und Urteilen, 1949, § 15 I 4 b (73). 28 Saito Noshi ni natsuta Higaisha ga Jinkokokyuki o torihazusare Shinzoschi ni natsuta Baai ni okeru Boko to Shinzoshi to no Aida no Ingakankei no Seihi (Kausalzusammenhang zwischen Körperverletzung und Hirntod nach der Abschaltung des Respirators eines hirntoten Patienten), Hanrei Hyoron (Review der Rechtsprechung), Nr. 429, 1994, 249 (jap.). 29 Schünemann (Fn. 6), 211. 26 27

Die Zurechnung beim nachträglichen Fehlverhalten eines Dritten

269

die Handlungen, die auf dem freien Willensentschluß eines Dritten beruhen, liegen außerhalb des typischen Gefahrenbereichs der ursprünglichen gefährlichen Handlung, auch wenn sie im Interesse des Täters erfolgen. 30 2. Erst recht ist problematisch, ob auch der spezifische Gefahrzusammenhang des § 227 StGB bejaht werden kann. Beim B G H wird die Überlegung leitend gewesen sein, daß derjenige, der eine tödlich wirkende Verletzung hervorruft, nicht deshalb besser gestellt werden soll, weil ein anderer, auf dieser Verletzung aufbauend, den Tod noch beschleunigt und dabei im Interesse des Vortäters handelt, auch wenn dies nicht ausdrücklich abgesprochen worden ist. Es ist aber zu bezweifeln, daß dies für den notwendigen qualifizierten Zusammenhang bei den erfolgsqualifizierten Delikten ausreicht. 31

VI. Schlußbemerkung Die Lehre von der objektiven Zurechnung ist nicht nur das in den letzten 20 Jahren am meisten und am intensivsten diskutierte dogmatische Thema der deutschen und auch der europäischen Strafrechtswissenschaft.32 Im Bereich dieser objektiven Zurechnung ist die sogenannte Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs durch Dritte, das Opfer oder auch durch den Täter selbst sehr oft diskutiert worden. 33 In dieser kleinen Studie habe ich mich mit dem Spezialproblem des nachträglichen Fehlverhaltens eines Dritten beschäftigt. Das dabei erzielte Ergebnis kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Wenn das nachträgliche Fehlverhalten eines Dritten den Enderfolg beschleunigt hat, bildet dieses Dazwischentreten in der Regel ein Hindernis für die Zurechnung des Enderfolges zum Täterverhalten.

So auch Otto (Fn. 12). Vgl. Saito Die Japanisierung der japanischen Strafrechtswissenschaft, Hikakuho Zasshi (Zeitschrift für Rechtsvergleichung), Bd. 30, Heft 4, 1997, 13 f. 3 2 Vgl. Schünemann (Fn. 6), 207. 3 3 Vgl. Otto Grundkurs Strafrecht. Allg. Strafrechtslehre, 6 2000, VI. 30 31

Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung UWE

HELLMANN

Die einverständliche Fremdgefährdung zählt zu den zahlreichen Problemen, die in der Strafrechtspraxis und der Wissenschaft zwar bekannt waren, deren Standort aber erst der verehrte Jubilar zutreffend lokalisiert hat. Die Anerkennung als selbstständiger Fall typ der objektiven Zurechnung in seinem Beitrag zur Festschrift für Gallas „Zum Schutzzweck der Norm bei fahrlässigen Delikten" 1 entfachte zwar die Diskussion, gleichwohl harrt diese Rechtsfigur nach seiner Einschätzung im Einzelnen noch weiterer dogmatischer Durchdringung.2 Die praktische Relevanz der Konstellationen, in denen das Opfer seine Rechtsgüter der Gefährdung durch den Täter im Bewußtsein des Risikos der Gefahr aussetzt, liegt auf der Hand. Hierher gehören z. B. die Mitfahrt im Auto des Angetrunkenen in Kenntnis seiner Fahruntüchtigkeit, der ungeschützte sexuelle Kontakt mit einem an Aids Erkrankten im Bewußtsein des Infektionsrisikos, das „Surfen" auf dem Dach eines von einem anderen gesteuerten Autos oder die Teilnahme an einem gefährlichen Wettkampf, bei dem das Verletzungsrisiko von dem jeweils anderen ausgeht.

I. Objektive Zurechnung als Sitz des Problems Wenn einleitend behauptet wurde, Roxins Einordnung der einverständlichen Fremdgefährdung als Fallgruppe der objektiven Zurechenbarkeit treffe zu, so bedarf diese These zunächst des Beweises, teilt die überwiegende Meinung, deren unterschiedliche Ansätze unten zu widerlegen sein werden, diese Sicht doch bekanntlich nicht. 1. Ähnlichkeit der einverständlichen und der Mitwirkung an einer fremden

Fremdgefährdung Selbstgefährdung

Unser Problem wäre schon an dieser Stelle gelöst, wenn sich feststellen ließe, dass die einverständliche Fremdgefährdung und die Mitwirkung an einer fremden Selbstgefährdung nicht gegeneinander abgrenzbar und deshalb grundsätz1 2

Roxin FS für Gallas, 1973, 241, 2 4 9 ff. Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 11 Rn. 110.

272

Uwe Hellmann

lieh gleich zu behandeln sind. So verfährt Schünemann, indem er die Tatherrschaft, die bei einer Fremdgefährdung im Gegensatz zur Selbstgefährdung vom Täter ausgeübt werde, in diesen Fällen als „vollständig funktionslos" betrachtet. 3 Träfe dies zu, so schiede die objektive Zurechnung bei einverständlichen Fremdgefährdungen aus, weil diese Lösung für die bloße Beteiligung an einer fremden - eigenverantwortlichen - Selbstgefährdung weitgehend anerkannt wird. Sogar die Rechtsprechung verfährt seit der in B G H S t 36, 262 veröffentlichten Entscheidung so, allerdings mit der für die einverständliche Fremdgefährdung nicht passenden Begründung, aus der Tatbestandslosigkeit der Suizidteilnahme folge, dass eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdungen nicht dem Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts unterfallen, wenn das mit der Gefährdung bewusst eingegangene Risiko sich realisiert. 4 Hirsch5 gelangt ebenfalls zu einer partiellen Gleichbehandlung beider Konstellationen, indem er - jedenfalls bestimmte - einverständliche Fremdgefährdungen zu gemeinsamen Selbstgefährdungen erklärt, welche den Tatbestand eines fahrlässigen Delikts nicht erfüllen, weil die Förderung fremder voll verantwortlicher Selbstgefährdungen keine Sorgfaltswidrigkeit darstelle. Offensichtlich will Hirsch aber auch nicht alle einverständlichen Fremdgefährdungen als gemeinsame Selbstgefährdungen behandeln; Abgrenzungskriterien nennt er allerdings nicht. Unser Problem ist jedoch nicht ohne weiteres dadurch zulösen, dass Fremdgefährdungen kurzerhand zu Selbstgefährdungen erklärt werden. Es trifft zwar zu, dass die Unterscheidung nicht leicht fällt, wenn das Opfer seine Rechtsgüter im Bewusstsein des Risikos in die gefährliche Situation einbringt, denn das Geschehen weist damit immer auch ein Element der Selbstgefährdung auf. Daraus folgt aber keineswegs, dass die Herrschaft über das die Rechtsgutsgefährdung herbeiführende Ereignis als Unterscheidungskriterium untauglich wäre. Immerhin findet es auch bei der Abgrenzung der Tötung auf Verlangen von der straflosen Suizidteilnahme Verwendung. 6 Die Übertragung auf bloße Gefährdungen ist zwar nicht zwingend, es erscheint aber grundsätzlich durchaus plausibel, das Verhalten des Beifahrers, der den angetrunkenen Fahrer zur gemeinsamen Autofahrt überredet hat, in deren Verlauf sich - auch - der Fahrer durch einen alkoholbedingten Fahrfehler in eine lebensgefährliche Situation bringt (Beteiligung an einer Selbstgefährdung), anders zu beurteilen, als das des fahruntüchtigen Fahrers, der seinen Beifahrer einem solchen Risiko aussetzt, auch wenn dieser die Gefährlichkeit des Mitfahrens erkannt hatte und deshalb das Risiko hätte vermeiden können (einverständliche Fremdgefährdung). 3 Schünemann JA 1975, 715, 722 f; ebenso Otto Jura 1984, 536, 540; ders. FS für Tröndle, 1989, 157ff. 4 Z. B. BGH NStZ 1984, 452; NJW 1985, 690, 691; NStZ 1985, 25 f; NStZ 1986, 266, 267; OLG Stuttgart MDR 1985, 162. 5 LK-Hirsch StGB, "1994, Vor § 32 Rn. 94. 6 Siehe dazu nur Schönke/SchröderAEser StGB, 25 1997, §216 Rn. 11; Neumann JA 1987, 244, 245 ff.

Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung

273

Nicht zu verkennen ist allerdings, dass die Abgrenzung besondere Schwierigkeiten bereitet, wenn „Täter" und „Opfer" gleichwertige oder sogar jedenfalls im Wesentlichen - gleichartige Beiträge erbringen und beide die Herrschaft über das gefährliche Geschehen ausüben, wie dies z. B. bei dem ungeschützten Geschlechtsverkehr des Aidskranken mit seinem gesunden Sexualpartner der Fall ist. Uberwiegend 7 wird eine bloße Beteiligung des Infizierten an der Selbstgefährdung des Partners angenommen, weil das Opfer sich auch dann selbst gefährde, wenn beide die Herrschaft über das unmittelbar zum Erfolg führende Geschehen hatten. Roxins bejaht dagegen im Ergebnis zu Recht eine Fremdgefährdung. Dabei kann offen bleiben, ob — wie Roxin meint - jeder Sexualkontakt dem Einspritzen von Rauschgift durch den Dritten gleicht. Der Infizierte bringt jedenfalls seinem noch gesunden Partner die gefährlichen Viren bei, so dass die Gefahr für Leib und Leben von ihm ausgeht. Um eine einverständliche Fremdgefährdung und nicht um die Beteiligung an einer Selbstgefährdung handelt es sich zudem bei risikobehafteten Wettkämpfen, bei denen die Gefahr zwar von dem Gegner droht, alle Beteiligten ihr aber gleichermaßen ausgesetzt sind, so dass es vom Zufall abhängt, ob sich die Gefahr überhaupt realisiert und wen sie dann trifft. Für unser Thema ist im Übrigen ohnehin nicht entscheidend, wo die Grenze zwischen Selbst- und Fremdgefährdung verläuft, sondern dass sie - wie zwischen Suizidbeteiligung und Tötung auf Verlangen - gezogen werden kann. Zudem wird sich zeigen, dass eine exakte Grenzziehung gar nicht erforderlich ist, da die Strafbarkeit davon letztlich nicht abhängt. 2. Begrenzung

der

Sorgfaltspflicbt

Nicht zur Lösung unserer Problematik eignet sich der vom Reichsgericht 9 in dem berühmten Memel-Fährmann-Fall beschrittene, vom B G H 1 0 mehrfach aufgegriffene und in der Literatur 11 vereinzelt bis in die jüngere Zeit vertretene Weg, einen Sorgfaltspflichtsverstoß des Gefährdenden zu verneinen, wenn der Gefährdete das Risiko im gleichen Maß überblickt und für sein Handeln selbst verantwortlich ist. Diese Sicht träfe nur unter der Geltung von zwei Bedingungen zu. Zum einen müsste ein „überwiegendes Mitverschulden" des Opfers den Sorgfaltsverstoß des Täters ausschließen oder jedenfalls so stark überlagern, dass dieser eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht - mehr - zu begründen vermag, und zum anderen müsste gerade das bewußte Eingehen eines Risikos ein sol7 BayObLG NStZ 1990, 81, 82; LG Kempten N J W 1989, 2068, 2069 f; Bruns N J W 1987, 2281, 2282; Schönke/Schröder/Iercafewer (Fn. 6), Vor § 32 Rn. 107. Offengelassen in BGHSt 36, 1, 16 ff. 8 Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 108; ebenso Helgerth NStZ 1988, 261, 262. 9 RGSt 57, 172. 1 0 BGHSt 4, 88, 93; 7, 112, 115. " Z . B . Frisch Das Fahrlässigkeitsdelikt und das Verhalten des Verletzten, 1974, 118 ff; Geppert ZStW 83 (1971), 947, 996 f.

274

Uwe Hellmann

ches „Mitverschulden" begründen. Schon die erste Prämisse gilt im Strafrecht jedoch nicht. Die zivilrechtliche H a f t u n g mag bei einem mitwirkenden Verschulden des Geschädigten gemäß § 254 BGB entfallen, wenn der Verletzte auf eigene Gefahr gehandelt hat und es deshalb als widersprüchlich erscheint, den Schädiger zur Rechenschaft zu ziehen. 1 2 Für die strafrechtliche Bewertung ist dagegen zunächst nur relevant, ob der Täter selbst sorgfaltswidrig gehandelt hat. 1 3 Der Sorgfaltsverstoß kann sich bei einverständlichen Fremdgefährdungen zwar darin erschöpfen, dass der Täter - wie der Memel-Fährmann - die gefährliche Handlung überhaupt vorgenommen hat. Bereits dadurch verletzt er aber die allgemeine Sorgfaltspflicht, 1 4 mag er sich im weiteren Verlauf des Geschehens auch sorgfaltsgemäß verhalten haben. Grundsätzlich unterscheidet sich diese Situation deshalb nicht von den Konstellationen, in denen der Täter das O p f e r nicht einer von Naturgewalten oder von einem Dritten drohenden Gefahr aussetzt, sondern er selbst das Risiko darstellt, wie dies z. B. bei dem ungeschützten Sexualkontakt des Aidsinfizierten oder der Mitnahme eines Beifahrers durch den angetrunkenen Autofahrer der Fall ist. Der eigentliche Sorgfaltsverstoß besteht auch hier in der Vornahme der gefährdenden Handlung. In der Sache hat dies auch der B G H in den genannten Urteilen anerkannt. Die grundsätzliche Billigung der Memel-Fährmann-Entscheidung ist nämlich nicht mehr als ein Lippenbekenntnis, denn der B G H sieht die Pflichtwidrigkeit der Gefährdung schon in der Verletzung des allgemeinen Gebots, eine „billige Rücksicht auf Gesundheit und Leben anderer zu nehmen" 1 5 . Dieses Gebot missachtete aber auch der Memel-Fährmann. Die vereinzelt vertretene These, das mit der normalen O r d n u n g des Gemeinschaftslebens an sich nicht in Einklang stehende risikoträchtige, gefährliche Vorhaben enthalte wegen der freiwilligen und selbstverantwortlichen Eigengefährdung des sich in diese Gefahr Begebenden keine Verletzung der objektiv erforderlichen Sorgfalt des Täters, 1 6 erschöpft sich in der bloßen unbewiesenen Behauptung, ein grundsätzlich sozialinadäquates Risiko verliere seine Verbotenheit wegen der Eigengefährdung des Opfers.

3. Die

Einwilligungslösung

Die herrschende Meinung sucht die Lösung f ü r die Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung bei der Einwilligung. 1 7 Hier ist nicht zu klären, ob die Einwilligung bereits den Tatbestand ausschließt oder erst die Rechtswidrigkeit, da sich erweisen wird, dass für unsere Konstellationen die Einwilligung

12

Vgl. nur BGHZ 34, 355, 363. Geppert (Fn. 11), 989 f. 14 Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 107. 15 BGHSt 7, 112, 115. 16 Geppert (Fn. 11), 996 f. 17 Z. B. BGH NJW 1995, 795, 796; OLG Zweibrücken JR 1994, 518, 519 mit Anm. Dötting-, LK.-Hirsch (Fn. 5), Vor § 32 Rn. 95, 107; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 6), Vor § 32 Rn. 102. 13

Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung

275

ohnehin nicht einschlägig ist. Dötting13 hat zwei der bei einverständlichen Fremdgefährdungen zu bewältigenden Probleme herausgearbeitet. Zum einen muss darauf verzichtet werden, dass der Gefährdete in die Verletzung eingewilligt hat, denn in aller Regel wird er zwar die Gefahr bewusst eingegangen sein, aber auf einen guten Ausgang vertraut haben. Die Kaufleute, die den Memel-Fährmann zur Überfahrt trotz des Sturmes aufforderten, der Beifahrer, der sich zu dem angetrunkenen Fahrer ins Auto setzt, oder der Autosurfer hätten ihre gefährlichen Unternehmungen vermutlich unterlassen, wenn sie ernsthaft damit gerechnet hätten, zu Tode zu kommen oder mit einer Querschnittslähmung im Rollstuhl zu enden. Zum anderen darf der Grundgedanke des § 2 1 6 der Annahme einer Einwilligung nicht in Fällen entgegenstehen, in denen sich die Lebensgefahr realisiert. Damit sind aber noch nicht alle Hindernisse erfasst, die zu überwinden sind, damit die Einwilligungsregeln zur Anwendung kommen könnten. a) Einwilligung in die Gefährdung Bei Vorsatztaten ist weitgehend anerkannt, dass die Einwilligung die Handlung und den Erfolg umfassen muss. 19 Das Opfer muss also bei Verletzungserfolgsdelikten auch in die Verletzung seines Rechtsguts, bei Gefährdungserfolgsdelikten in die - konkrete - Gefährdung einwilligen. Für die Behauptung, bei der einverständlichen Fremdgefährdung brauche sich die Einwilligung dagegen nicht auf die aus der Gefährdung resultierende Verletzung zu beziehen, sondern es genüge, wenn der Verletzte in Kenntnis der besonderen Gefahr in die Vornahme der an sich sorgfaltswidrigen Handlung und damit in seine Gefährdung eingewilligt habe, wird zumeist keine Begründung angeführt oder sie erschöpft sich in dem Zirkelschluss, das hier bestehende gesteigerte Risiko einer Verletzung dürfe schon dann eingegangen werden, wenn der Einwilligende dieses bewusst auf sich nimmt. 20 Die nähere Betrachtung zeigt, dass sich Beweise für diese These schwerlich finden lassen. Das offenbart auch die Argumentation von Dölling, der wenigstens versucht, sie zu untermauern. Er wählt dabei allerdings bereits einen Ausgangspunkt, der das anvisierte Ziel erkennen lässt. Die Richtigkeit der von ihm vorangestellten pauschalen Erwägungen, das Strafrecht schütze Rechtsgüter, „indem es auf die Verletzung dieser Rechtsgüter gerichteten Handlungen pönalisiert", und bei den einwilligungsfähigen Rechtsgütern werde den Inhabern der Handlungsobjekte die Befugnis eingeräumt, „einem anderen die Vornahme der prinzipiell verbotenen Verletzungshandlung zu gestatten", 21 wird niemand bestreiten. Sie besagen für unsere Problematik jedoch nichts. Aus ihnen folgt insbesondere nicht, die Einwil-

Dölling GA 1984, 71, 82 ff. Z. B. LK-Hirsch (Fn. 5), Vor § 32 Rn. 106; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 6), Vor § 32 Rn. 34; Roxin (Fn. 2), § 13 Rn. 49. 2 0 Z. B. Schönke/Schröder/Lercc&ner (Fn. 6), Vor § 32 Rn. 102. 21 Dölling (Fn. 18), 83 f (Hervorhebungen nicht im Original). 18

19

276

U w e Hellmann

ligung hebe Handlungsverbote im Einzelfall auf und stelle dadurch das durch die Handlung bedrohte Objekt rechtsschutzlos. Der erste Teil dieser Aussage lässt sich mit dem Beispiel des fahruntüchtigen Autofahrers widerlegen. Die Einwilligung des Beifahrers in die Trunkenheitsfahrt und das für ihn damit verbundene Risiko hebt das Handlungsverbot keineswegs auf; selbstverständlich bleibt die Fahrt im fahruntüchtigen Zustand verboten. Die zweite These träfe nur zu, wenn gerade die Einwilligung in die Gefährdung das durch die Handlung bedrohte Objekt schutzlos stellen würde. Das ist jedoch erst zu beweisen. Döllings weitere Überlegungen zum materiellen Grund des durch die Einwilligung bewirkten Strafbarkeitsausschlusses offenbaren dann, dass es sich bei dem bewussten Eingehen eines Risikos eben nicht um eine Einwilligung handelt. Die Ausgangserwägung, die Rechtsordnung räume der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrecht des Rechtsgutsträgers den Vorrang vor dem in der Vernichtung des Objekts liegenden Wertverlust ein, verdient wiederum ebenso uneingeschränkte Zustimmung wie die These, der Rechtsgutsträger dürfe das Objekt ohne Vernichtungswillen der gefährlichen Handlung des anderen aussetzen, weil er es sogar zwecks Verwirklichung seines Selbstbestimmungsrechts mit Vernichtungswillen durch einen anderen zerstören lassen dürfe. Aus der Befugnis des Rechtsgutsinhabers, seine Rechtsgüter in Gefahr zu bringen, folgt allerdings nicht, dass er in die Verletzung einwillige. Dölling führt deshalb diesen Gedanken auch gar nicht weiter, sondern er folgert die Straflosigkeit des Täters für den Fall, dass sich die Spekulation des Rechtsgutsträgers, das Objekt werde die Aktion unversehrt überstehen, als falsch erweist, aus einem völlig anderen Gesichtspunkt. Die Verletzung falle in den Verantwortungsbereich des Rechtsgutsträgers und nicht in den des anderen, dem der Rechtsgutsinhaber die Vornahme der gefährlichen Handlung ausdrücklich gestattet hat. Die Abgrenzung von Verantwortungsbereichen ist aber nicht für die Einwilligung relevant, sondern für die objektive Zurechnung. Eine andere Überlegung erweist, dass die „Einwilligung" in die bloße Gefährdung auch dann nicht ausreichen kann, wenn der Täter die von ihm nicht vorhergesehene Verletzung sorgfaltswidrig herbeiführt. Das Unrecht der fahrlässigen Erfolgsdelikte, insbesondere der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung, wird maßgeblich von dem Erfolgsunwert der Tat geprägt. Das wird zwar zum Teil bestritten, 22 die Ausblendung des Erfolges aus dem Unrecht des fahrlässigen Delikts, indem er zu einer objektiven Strafbarkeitsbedingung oder zu einem den Tatbestand limitierenden Element deklariert wird, ist aber dogmatisch verfehlt und geht an der Gesetzesrealität vorbei. Auch Roxin hat dies im Einzelnen dargelegt. 23 Das folgenlose sorgfaltswidrige Verhalten erfüllt die fahrlässigen Erfolgstatbestände gerade nicht. Es kann aus anderen Gründen, z. B. wegen seiner Allgemeingefährlichkeit, unter Strafe stehen, wie dies bei der folgenlosen Trunkenheitsfahrt der Fall ist, oder einen Bußgeldtatbestand verwirklichen. Häufig wird es aber sogar strafrechtlich völlig irrelevant 22

23

Z. B. Schaffstein FS für Welzel, 1974, 557, 559 ff. Roxin (Fn. 2), § 10 Rn. 88 ff, § 24 Rn. 7.

Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung

277

sein. U m den Erfolgsunwert zu beseitigen, ist es erforderlich, dass der Rechtsgutsinhaber in die Verletzung einwilligt. Ist er lediglich mit der Risikoschaffung durch den Täter einverstanden, akzeptiert er also dessen sorgfaltswidriges Verhalten oder wünscht er es sogar, so könnte dieser Umstand allenfalls das in dem sorgfaltswidrigen Verhalten bestehende Handlungsunrecht ausschließen. Oben wurde jedoch bereits dargelegt, dass der Sorgfaltsverstoß bei einverständlicher Hinnahme der Gefährdung durch den Rechtsgutsinhaber nicht entfällt. Der Vergleich mit den Konsequenzen, die sich ergeben, wenn der Rechtsgutsinhaber bei einer Vorsatztat die dort erforderliche Einwilligung in den Erfolg nicht erteilt hat, bestätigt diesen Befund. Willigt das Opfer nur in die Gefährdung seines Rechtsguts ein, weil es auf das Ausbleiben des Erfolgs vertraut, und erkennt der Täter dies, obwohl er die Gefährlichkeit seines Verhaltens für das Opfer höher einschätzt und deshalb dessen Verletzung ernsthaft für möglich hält, so ist er wegen vollendeter Deliktsbegehung strafbar. Interpretiert er die Zustimmung des Rechtsgutsinhabers fälschlicherweise als Einwilligung in die Verletzung, so entfällt - unabhängig von der Einordnung der Einwilligung als tatbestandsausschließendes Merkmal oder als Rechtfertigungsgrund - entweder der Vorsatz oder wegen des Erlaubnistatbestandsirrtums jedenfalls die Vorsatzstrafbarkeit, nicht jedoch ohne weiteres die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung. Bei Anwendung der allgemeinen Grundsätze käme es also eigentlich darauf an, ob der Irrtum des Täters über das tatsächliche Vorliegen der Einwilligung sorgfaltswidrig war. Aber selbst wenn ein solcher Sorgfaltsverstoß zu konstatieren wäre, würde er unter Anwendung der herrschenden Meinung dem Täter nicht schaden, denn konsequenterweise müsste schon die „Einwilligung" in die Rechtsgutsgefährdung die Strafbarkeit ausschließen. Weshalb das Einverständnis des Opfers mit der Gefährdung für die Vorsatzstrafbarkeit des Täters, der die Reichweite der Zustimmung zutreffend erkennt, völlig unbeachtlich sein soll, so dass er wegen vollendeter Deliktsbegehung strafbar wäre, im Falle des sorgfaltswidrigen Irrtums des Täters dagegen sogar die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit entfallen soll, lässt sich nicht nachvollziehbar begründen. b) Disponibilität des Rechtsguts Vor erheblichen Schwierigkeiten steht die Einwilligungslösung, aber nicht nur sie, wenn sich das Risiko der einverständlichen Fremdgefährdung in einem Todeserfolg realisiert, weil § 216 StGB die „Fremdtötung" unter Strafe stellt, selbst wenn der Getötete damit einverstanden war. Indem der Tatbestand vorsätzliche Fremdtötungen grundsätzlich verbietet, entzieht er das Leben jedenfalls in seinem Anwendungsbereich der Dispositionsbefugnis des Opfers. Über die sich daraus für einverständliche Lebensgefährdungen ergebenden Konsequenzen besteht bekanntlich Streit. Einige Vertreter der Einwilligungslösung sprechen § 216 StGB die Bedeutung für die Einwilligung in eine fahrlässige Tötung weitgehend ab und stützen diese Sicht auf die Behauptung, bezüglich einer Lebensgefährdung müssten andere Grundsätze gelten als bei der vorsätz-

278

Uwe Hellmann

liehen T ö t u n g , weil die vorsätzliche T ö t u n g den vom L e b e n ausgehenden Achtungsanspruch in ganz anderer Weise berühre als eine unvorsätzlich-sorgfaltswidrige H a n d l u n g . 2 4 Allerdings sei „das frivole Spiel mit fremdem L e b e n selbstverständlich nicht deshalb gerechtfertigt, weil der B e t r o f f e n e damit einverstanden i s t " 2 5 . D i e G r e n z e zwischen der unerlaubten „frivolen" und der durch Einwilligung gerechtfertigten Fremdgefährdung sei nach M a ß g a b e des § 2 2 8 S t G B zu ziehen, so dass sittenwidrige Einwilligungen unbeachtlich wär e n . 2 6 Andere entnehmen § 2 1 6 S t G B , dass die Einwilligung auch in die fahrlässige T ö t u n g prinzipiell unwirksam sei, lassen sie aber für Fälle zu, in denen der W e r t des Selbstbestimmungsrechts und des mit der Tat verfolgten Zwecks den in der fahrlässigen T ö t u n g liegenden U n w e r t überwiegen. Eine solche „qualifizierte" Einwilligung, die ausnahmsweise rechtfertigend wirke, sei insbesondere anzunehmen, wenn der Z w e c k der Gefährdung im Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder sonstiger existentieller Interessen anderer oder in der W a h r u n g von Interessen der Allgemeinheit bestehe. 2 7 T r o t z unterschiedlicher Ausgangspunkte gelangen beide Auffassungen letztlich zu ähnlichen Ergebnissen. D i e angeführten G r ü n d e erschöpfen sich jedoch in bloßen Plausibilitätserwägungen. Eine abschließende Stellungnahme muss an dieser Stelle jedoch noch nicht erfolgen, da alle Lösungswege, auch der hier vertretene, mit § 2 1 6 S t G B in Einklang gebracht werden müssen. D e r e n Auswirkungen werden deshalb erst unten untersucht.

c) Urteils- und Einsichtsfähigkeit Ein weiterer Einwand gegen die Einwilligungslösung, der von deren Vertretern allerdings nicht thematisiert wird, besteht darin, dass eine Einwilligung bei einverständlichen Fremdgefährdungen häufig scheitert, weil der Gefährdete Folgen, Bedeutung und Tragweite seines Tuns nicht zutreffend einschätzt. E s ist anerkannt, dass rechtsgutsbezogene Fehlvorstellungen die Einwilligung unbeachtlich m a c h e n . 2 8 Diskutiert wird dieser U m s t a n d zwar zumeist im Zusammenhang mit der Einwilligung bei ärztlichen Heileingriffen, und dort dient er der Bestimmung des Umfangs der Aufklärungspflicht des Arztes über mögliche Risiken und sonstige unerwünschte N e b e n f o l g e n der B e h a n d l u n g . 2 9 D i e ärztliche Aufklärung ist aber lediglich die Voraussetzung für eine wirksame

24 Vgl. OLG Zweibrücken JR 1994, 518, 519; LK-Hirsch (Fn. 5), Vor § 32 Rn. 95; Schönke/ Schröder/Lenckner (Fn. 6), Vor § 32 Rn. 104; Ostendorf JuS 1982, 426, 431 f; SK-StGB-&tmio» (Juni 1989), Anh. zu § 16 Rn. 33; LK-Schroeder StGB, "1994, § 16 Rn. 180. 25 Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 6), Vor § 32 Rn. 104. 26 Schönke/Schröder/Z-enc&ner, aaO. 27 Dötting (Fn. 18), 90. 28 Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 51996, 383; Kühl Strafrecht AT, 21997, § 9 Rn. 38; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 6), Vor § 32 Rn. 46; Michel JuS 1988, 8, 11; Wessels/Beulke Strafrecht AT, 3°2000, Rn. 376. 29 Siehe nur die eingehende Darstellung der Problematik bei Schönke/Schröder/Eser (Fn. 6), §223 Rn. 40 ff.

Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung

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Einwilligung, so dass der eigentliche Grund für das Scheitern der Rechtfertigung nicht in der Verletzung der Aufklärungspflicht besteht, sondern in der daraus resultierenden mangelhaften Vorstellung des Patienten über die Risiken der Behandlung. Für die Wirksamkeit der Einwilligung ist somit maßgeblich, ob das Opfers die Gefahren zutreffend einschätzt, nicht dagegen der Grund für eine die Einwilligung ausschließende Fehlvorstellung. 30 Die Erwägungen zur Wirksamkeit der Einwilligung bei fehlerhafter Aufklärung des Patienten gelten deshalb auch für unsere Konstellationen, obwohl sie sich vom riskanten ärztlichen Heileingriff dadurch unterscheiden, dass der Gefährdende keine Aufklärungspflicht besitzt und er - anders als der Arzt — zudem in der Regel die Gefahren nicht besser abschätzen kann als der Gefährdete. In den Fällen der einverständlichen Fremdgefährdung wird zumeist festzustellen sein, dass der Gefährdete das Ausmaß der Gefahr und damit die Tragweite seines Verhaltens nicht zutreffend einschätzt. Dieser Schluss liegt jedenfalls nahe, wenn das Eingehen des Risikos besonders leichtsinnig oder objektiv unvernünftig ist, wie das z. B. bei dem „Autosurfen" oder ungeschützten Sexualkontakt des Gesunden mit einem aidskranken Partner der Fall ist. Da diesen Verhaltensweisen keine dringlichen Beweggründe zugrunde liegen, sondern solche, die ein Eingehen des Risikos nicht geboten erscheinen lassen, etwa das Bestreben, sich durch ein besonders wagemutiges Verhalten Ansehen in seiner „Clique" zu verschaffen oder dem Partner die Liebe durch das Eingehen der Infektionsgefahr zu beweisen, sind überdies besonders strenge Anforderungen an die Kenntnis des Gefährdeten von dem Ausmaß der Gefahren zustellen. Diesen Schluss ergibt jedenfalls wiederum die Anwendung der Grundsätze zur Bestimmung des Umfangs und der Intensität der Aufklärung bei einem ärztlichen Heileingriff. Der Genauigkeitsgrad der Aufklärung und damit des Kenntnisstands des Patienten über die Risiken ist dort umgekehrt proportional zur Dringlichkeit der Maßnahme, d. h. je weniger dringlich sie erscheint, desto genauer muss der Patient über die Risiken informiert sein. 31 4.

Zwischenergebnis

Nach alledem kann die Straflosigkeit des Täters im Falle der Realisierung der vom „Opfer" bewusst eingegangenen Gefahr weder durch eine Begrenzung der Sorgfaltspflicht noch durch die Annahme einer Einwilligung überzeugend begründet werden. Da zudem die Rechtsfiguren des erlaubten Risikos 3 2 oder der Sozialadäquanz ersichtlich keinen Beitrag zur Bewältigung unserer Problematik zu leisten imstande sind, weil sie lediglich dazu führen, dass die Frage nach der individuellen Verantwortlichkeit des Gefährdenden für einen konkreten Erfolg gewissermaßen auf einer abstrakten Ebene beantwortet und dadurch der maßgebliche Gesichtspunkt eher verschleiert als erhellt wird, bleibt nur

31 32

Vgl. Kühl (Fn. 28), § 9 Rn. 40. Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Schönke/Schröder/£ser (Fn. 6), § 223 Rn. 40. Siehe dazu nur Frisch NStZ 1992, 1 ff, 62 ff.

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Uwe Hellmann

der von Roxin vorgeschlagene Weg, die einverständliche Fremdgefährdung als Umstand zu begreifen, der im Rahmen der objektiven Zurechnung des Verletzungserfolgs Berücksichtigung findet. Diese Lösung hätte zugleich den Vorteil, dass sie auch bei Vorsatz des Gefährdenden hinsichtlich der Verletzung anwendbar wäre. Dabei geht es nicht um die Fälle, in denen der Täter bessere Kenntnisse besitzt, deshalb - im Gegensatz zum Gefährdeten - die tatsächlichen Risiken richtig einschätzt und dadurch das Geschehen zu steuern vermag, sondern um solche, in denen beide den Gefahrengrad ähnlich erfassen, aber nur der nachdenklichere Täter die Realisierung für möglich hält, während der draufgängerische Gefährdete auf einen guten Ausgang vertraut. Den Täter allein deshalb bestrafen zu wollen, weil er im Gegensatz zum Fahrlässigkeitstäter nicht nur das Risiko erkannt, sondern auch den Erfolgseintritt ernsthaft für möglich gehalten hat, überzeugt nicht, da der leichtsinnige Täter, der auf einen guten Ausgang vertraut und deshalb die Gefahren aufgrund seiner Bedenkenlosigkeit falsch einschätzt, für das Opfer unter Umständen größere Gefahren heraufbeschwört als der nachdenkliche Täter, der wegen der zutreffenden Beurteilung der möglichen Folgen seines Verhaltens noch eher in der Lage wäre, die schädlichen Folgen abzuwenden, mag ihm dies - aus welchen Gründen auch immer - letztlich doch nicht gelungen sein. Die Notwendigkeit einer Gleichbehandlung des vorsätzlich Handelnden mit dem Fahrlässigen zeigt sich insbesondere dann, wenn die an der gefährlichen Situation Beteiligten dem gleichen Risiko ausgesetzt sind, wie dies z. B. bei gefährlichen Wettkämpfen der Fall ist. Vereinbaren die Gegner einer kampfsportlichen Auseinandersetzung auf verletzende Handlungen zu verzichten, realisiert sich aber trotzdem das beiden bekannte nicht unerhebliche Verletzungsrisiko, so überzeugt es nicht, denjenigen zu bestrafen, der die eigene Verletzung und die des Gegners für möglich gehalten hat, weil er seine Fähigkeiten und die des Gegners kritischer beurteilt, den anderen dagegen straflos zu lassen, nur weil er - etwa wegen Uberschätzung des eigenen Könnens - darauf vertraut hat, dass eine Verletzung des Gegners ausbleiben wird.

II. Bestimmung des maßgeblichen Zurechnungskriteriums Mit der Feststellung, die Lösung unserer Konstellation könne nur bei der objektiven Zurechnung gefunden werden, ist jedoch noch nichts gewonnen, denn ob das bewusste Hineinbegeben in die von einem Dritten geschaffene Gefahr die Zurechnung ausschließt, wenn sich das Risiko realisiert, ist damit noch nicht dargelegt. 1. Gleichstellung von Fremd- und

Selbstgefährdung

Roxins These, die objektive Zurechnung sei bei der einverständlichen Fremdgefährdung dann zu verneinen, wenn sie der Selbstgefährdung unter allen rele-

Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung

281

vanten Gesichtspunkten gleichsteht,33 erscheint zwar grundsätzlich plausibel, die von ihm für die Gleichstellung als maßgeblich bezeichneten zwei Voraussetzungen, der Schaden müsse die Folge des eingegangenen Risikos und nicht hinzukommender anderer Fehler des Gefährdenden sein, und der Gefährdete müsse für das gemeinsame Tun dieselbe Verantwortung tragen wie der Gefährdende, decken das maßgebliche Zurechnungskriterium aber nicht auf. Die erste Forderung enthält kein solches, da sie lediglich besagt, dass ein Ausschluss der Zurechnung nur in Betracht kommt, wenn sich gerade das Risiko in einem Verletzungserfolg realisiert, das der Gefährdete bewusst eingegangen ist. Sie erschöpft sich also in der Beschreibung der Situation der einverständlichen Fremdgefährdung. Die zweite Voraussetzung deutet den wahren Grund für den Zurechnungsausschluss zwar an, bezeichnet ihn aber nicht präzise. Die Verantwortung des Gefährdeten für das gemeinsame Tun nimmt Roxin an, wenn er das Risiko im selben Maß übersieht wie der Gefährdende. 34 Ob darin das Zurechnungskriterium zu finden ist, das für Selbst- und Fremdgefährdungen gleichermaßen Geltung beanspruchen darf, ist allerdings noch zu beweisen, zumal die Begründung der herrschenden Meinung 35 für die Ablehnung der Erfolgszurechnung bei der bloßen Beteiligung an einer fremden Selbstgefährdung, der auch grundsätzlich Roxin folgt, 36 einen ganz anderen Gesichtspunkt aufgreift, indem aus der Straflosigkeit der Teilnahme an einer vorsätzlichen Selbsttötung durch einen A-maiore-ad-minus-Schluß die Straflosigkeit der Beteiligung an einer fremden Selbstgefährdung gefolgert wird. Träfe dieses „Teilnahmeargument" für den Ausschluss der objektiven Erfolgszurechnung bei der Selbstgefährdung zu, so schiede eine Gleichstellung der Fremdgefährdung mit dieser gerade aus. Die Gleichbehandlung der Fremd- mit der Selbstgefährdung im Rahmen der objektiven Erfolgszurechnung setzt somit zweierlei voraus: Das Teilnahmeargument darf nicht das entscheidende sein, und es muss ein anderer Gesichtspunkt gefunden werden, der den Zurechnungsausschluss bei der Beteiligung an einer fremden Selbstgefährdung überzeugend begründet und zugleich für die Fremdgefährdung gilt. 2. Untauglichkeit

der „ Teilnahmetheorie "

Die weitgehende Akzeptanz, welche die Herleitung der Beteiligung an einer fremden Selbstgefährdung aus der Straflosigkeit der Teilnahme an einer vorsätzlichen Selbstverletzung findet, verwundert nicht, da jedenfalls das Ergebnis zutrifft und die Begründung eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch 33

Roxin (Fn. 1), 252 f; ders. (Fn. 2), § 11 Rn. 107. Roxin (Fn. 1), 252 f; ders. (Fn. 2), § 11 Rn. 107. 3 5 BGHSt 32, 262, 264; B G H NStZ 1984, 452; NJW 1985, 690, 691; NStZ 1985, 25 f; NStZ 1986, 266, 267; O L G Stuttgart M D R 1985, 162; Schönke/Schröder/£ser (Fn. 6), Vor §211 Rn. 35 f; Lackner /Kühl StGB, 23 1999, Vor § 211 Rn. 12. Roxin (Fn. 1), 243 ff; ders. (Fn. 2), § 11 Rn. 91 ff. 34

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nehmen kann. Neumann37 hat jedoch die mangelnde dogmatische Tragfähigkeit dieser Konstruktion im Einzelnen nachgewiesen.38 Um überflüssige Wiederholungen zu vermeiden, genügt an dieser Stelle der Hinweis auf seine überzeugende Stellungnahme. Die Analyse der Rechtsprechung erweist zudem, dass sie die „Teilnahmetheorie" auch gar nicht wirklich ernst nimmt, sondern - quasi nach Belieben von diesem Ansatz abrückt, wenn ein anderes Ergebnis erzielt werden soll, für das sie mangels Nennung eines tauglichen Zurechnungskriteriums aber keinen nachvollziehbaren Grund anzugeben vermag. So lag es z. B. in dem Fall des stark angetrunkenen Retters, der in das vom Angeklagten in Brand gesetzte Haus zurücklief, um seinem Bruder zu Hilfe zu kommen. 39 Die Strafbarkeit des Brandstifters wegen fahrlässiger Tötung des Retters stützt der BGH auf die bloße Behauptung, der Grundsatz der Straffreiheit wegen bewusster Selbstgefährdung des Opfers bedürfe der Einschränkung, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch herbeiführt, dass er ohne Mitwirkung und ohne Einverständnis des Opfers eine erhebliche Gefahr für dessen Rechtsgüter oder die Interessen ihm nahestehender Personen begründet und damit ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungshandlungen schafft. Weshalb das Fehlen der Mitwirkung und des Einverständnisses des Opfers bei der Gefahrschaffung die Erfolgszurechnung begründet, obwohl die Zurechnung grundsätzlich ausscheiden soll, wenn sich die Mitwirkung des Täters in einer bloßen Veranlassung oder Förderung des Selbstgefährdungsaktes erschöpft,40 bleibt unerfindlich. Wenn der BGH behauptet, der Schutzzweck der Norm ergebe, dass der Veranlasser der Gefahr für daraus resultierende Selbstgefährdungen anderer einzustehen hat, weil in solchen Situationen sich selbst gefährdende Personen in den Schutzbereich strafrechtlicher Vorschriften einzubeziehen seien, so handelt es sich um einen Zirkelschluss.41 3. Eigenverantwortlichkeit als maßgebliches Zurechnungskriterium bei Selbst- und Fremdgefährdungen Dabei hätte der BGH das zutreffende Ergebnis - Strafbarkeit des Brandstifters - durch einen Rückgriff auf das maßgebliche Zurechnungskriterium überzeugend begründen können. Die objektive Erfolgszurechnung scheidet bei Selbstverletzungen bekanntlich nur aus, wenn das Opfer eigenverantwortlich gehandelt hat. An der Eigenverantwortlichkeit des Retters bestanden zumindest erhebliche Zweifel, zum einen weil er erheblich unter Alkoholeinfluss 37

Neumann JA 1987, 244, 245 ff. Siehe auch Geilen JZ 1974, 145, der die Ableitung als Glasperlenspiel der Teilnahmelehre bezeichnet. 3 9 BGHSt 39, 322 ff. 4 0 Siehe die Nachweise in Fn. 35. 41 Berksen NJW 1995, 240, 241. 38

Einverständliche F r e m d g e f ä h r d u n g und objektive Zurechnung

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stand und es deshalb naheliegend erscheint, dass er das Risiko nicht mehr richtig übersah, 4 2 zum anderen weil er sich aufgrund der seinem Bruder drohenden Lebensgefahr in einer Zwangslage befand, die der des § 35 S t G B ähnelte. 4 3 Die Anwendung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit führt auch in anderen strittigen Fällen der Selbstverletzung bzw. -gefährdung zum richtigen Ergebnis. D a s gilt insbesondere, wenn sich der Drogenabhängige das von dem „Dealer" gelieferte tödliche Betäubungsmittel selbst verabreicht oder der Verletzte eine lebensrettende Behandlung verweigert und deshalb stirbt. Ist das Opfer aufgrund der Sucht, der Verletzungen, einer Alkoholabhängigkeit 4 4 oder anderer Umstände zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung nicht imstande, so kommt eine Strafbarkeit des Täters in Betracht, wenn der konkrete Verlauf vorhersehbar war. Für die Richtigkeit der These, dass die Eigenverantwortlichkeit den wahren Grund für die Straflosigkeit der Beteiligung an fremder Selbstgefährdung darstellt, 4 5 spricht im Übrigen auch die Betrachtung der Suizidbeteiligung. Die Freiverantwortlichkeit des Suizidenten kennzeichnet bekanntlich dort die Grenze zwischen strafloser Selbstmordbeteiligung und strafbarer Tötung in mittelbarer Täterschaft. Der Grund für die Straflosigkeit besteht aber nicht darin, dass es im Falle der Freiverantwortlichkeit an einer beteiligungsfähigen Haupttat fehlt, denn das gilt auch, wenn der Suizident nicht freiverantwortlich handelt, sondern darin, dass die (Frei- oder E i g e n v e r a n t w o r t l i c h k e i t des Suizidenten für die Selbsttötung die Strafbarkeit eines Dritten, der ihn dazu veranlasst oder dabei unterstützt, ausschließt. Im Ergebnis trifft es deshalb durchaus zu, den Ausschluss der objektiven Zurechnung bei der Beteiligung an einer fremden Selbstgefährdung aus der Straflosigkeit der Suizidbeteiligung zu folgern, denn es erscheint in der Tat ungereimt, die Beteiligung an einer Selbstgefährdung, für die das „ O p f e r " - allein - verantwortlich ist, zu bestrafen, wenn sogar die Teilnahme an der fremden Selbstverletzung unter dieser Voraussetzung straflos bleibt. Der Berufung auf das schon bei der Suizidbeteiligung nicht tragfähige Teilnahmeargument bedarf es dazu nicht. Der entscheidende Grund für den Zurechnungsausschluss im Falle der Beteiligung an einer Selbstgefährdung besteht somit in der (Eigen-)Verantwortlichkeit des „Opfers". Deshalb kommt die von Roxin geforderte Gleichbehandlung der einverständlichen Fremdgefährdung nur in Betracht, wenn sich erweisen lässt, dass sie gerade unter dem Aspekt der Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung gleichsteht. Jedenfalls in den typischen Fremdgefährdungskonstellationen ergibt die Anwendung der zur Eigenverantwortlichkeit bei der Selbstgefährdung entwickelten Kriterien, dass dies der Fall ist. D o r t handelt das „ O p f e r " eigenverantwortlich, wenn es das Geschehen mindestens in dem gleichen Maße beherrscht wie 42 43 44 45

Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 101, 97 f. Amelung N S t Z 1994, 338; Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 101. Vgl. B G H N S t Z 1994, 394. Ausführlich dazu Neumann (Fn. 37), 248 f.

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der „Täter". 46 Die herrschende Meinung stellt zwar nicht ausdrücklich auf die Beherrschung des Geschehens durch den sich selbst Gefährdenden ab, sondern darauf, dass er das Risiko genauso übersieht wie der Mitwirkende. 4 7 Zutreffend ist daran aber, dass eine eigenverantwortliche Entscheidung eine im Wesentlichen korrekte Einschätzung des Risikos notwendig voraussetzt. Die Eigenverantwortlichkeit erschöpft sich darin aber nicht, sondern sie erfordert darüber hinaus - wie oben bereits dargelegt wurde - auch die Abwesenheit von Zwang und erheblichen psychischen Defekten, welche die Willensfreiheit beeinträchtigen. 48 Die Bewertung der Motive des Gefährdeten ist dagegen ebenso irrelevant 49 wie dessen Vertrauen, der Gefährdende beherrsche den zur Verletzung führenden Verlauf durch pflichtgemäßes Verhalten 50 oder die Höhe der Gefahrintensität des eingegangenen Risikos 51 . Das so verstandene Prinzip der Eigenverantwortlichkeit führt unzweifelhaft bei dem ungeschützten Sexualkontakt des über die Erkrankung informierten Gesunden mit seinem aidsinfizierten Partner zum Ausschluss der objektiven Zurechnung, da beide das Geschehen in gleicher Weise beherrschen, zumal die „Tatbeiträge" sogar völlig gleichwertig sind. Im Falle des Autosurfens hängt der Ausgang der gefährlichen Fahrt sogar in erster Linie von der Beherrschung des Risikos durch den Gefährdeten ab, nämlich von seiner Fähigkeit sich auf dem Autodach zu halten. Auf den ersten Blick scheint es dagegen in unseren übrigen Beispielen anders zu liegen, hält doch der Gefährdende das zum tatbestandlichen Erfolg führende Verhalten allein in seinen Händen. Die nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass - zutreffende Risikoeinschätzung des Gefährdeten und Freiheit von Willensbeeinträchtigungen vorausgesetzt - auch in diesen Fällen kein Ubergewicht in der Beherrschung des Geschehens auf Seiten des Gefährdenden festzustellen ist. Kann er trotz sorgfaltsgemäßen Verhaltens im Zeitpunkt des Erfolgseintritts das schädigende Ereignis nicht abwenden, so zeigt dies, dass er das Geschehen nicht beherrschte. Der Memel-Fährmann war trotz Aufbietung aller Sorgfalt nicht in der Lage, die von den Naturgewalten ausgehenden Gefahren zu bewältigen. Gleiches gilt für den Teilnehmer an einem gefährlichen Wettkampf, wenn sich die dem Kampfgeschehen innewohnenden Risiken realisieren, die trotz sorgfaltsgemäßen Verhaltens - von beiden nicht beherrschbar sind. Selbst der angetrunkene Autofahrer beherrscht das zu der Verletzung führende Geschehen nicht, wenn sie auf einem alkoholbedingten Fahrfehler beruht. Von den übrigen Konstellationen unterscheidet sich die-

Vgl. Neumann (Fn. 37), 248 f; Stree JuS 1985, 179, 182. Siehe die Nachweise in Fn. 33 und 35. 4 8 Siehe auch Schünemann (Fn. 3), 723. 4 9 Entgegen Dölling (Fn. 18), 90 ff; den. JR 1994, 520, 521; Helgerth NStZ 1988, 261, 263, die allerdings die Wirksamkeit der rechtfertigenden Einwilligung von dem Wert des mit der Tat verfolgten Zwecks abhängig machen. 50 Entgegen Zaczyk Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Opfers, 1993, 56 ff, der dieses Kriterium zur Unterscheidung der straflosen Beteiligung an einer Selbstgefährdung von der strafbaren Fremdgefährdung heranzieht. 51 Entgegen Walther Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, 236 ff. 46

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Einverständliche Fremdgefährdung und objektive Zurechnung

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ser Fall zwar dadurch, dass der Täter sich nicht nur sorgfaltswidrig verhält, indem er den Gefährdeten einem Risiko aussetzt, sondern ihm in der Gefahrensituation ein weiterer Sorgfaltsverstoß unterläuft. Dieses Fehlverhalten ist aber gerade eine Folge der Fahruntüchtigkeit, die dem Fahrer die Beherrschung der konkreten Verkehrslage unmöglich macht.52

III. Resümee Es trifft somit zu, dass der aus einer Fremdgefährdung resultierende Erfolg dem Dritten nicht zugerechnet werden kann, wenn sich der Gefährdete bewusst dem Risiko ausgesetzt hat. Der Präzisierung bedarf Roxins Ansatz lediglich insofern, als der Grund für den Zurechnungsausschluss - wie bei der Selbstgefährdung - in der Eigenverantwortlichkeit des Verletzten besteht. Es versteht sich nunmehr von selbst, dass diese Sicht mit § 216 StGB nicht in Konflikt gerät, da die Eigenverantwortlichkeit ebenfalls die Grenze zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Beteiligung an einer Selbsttötung markiert. Aber auch mit § 228 StGB ist unsere Lösung vereinbar. Da die Vorschrift nur für „fremdverantwortliche" Körperverletzungen gilt, also solche, bei denen der Täter das Geschehen in größerem Maße beherrscht als das Opfer, bedarf es einer Übertragung der strengeren Anforderungen auf die Fälle eigenverantwortlicher Gefährdungen oder Verletzungen nicht.

52

Vgl. Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 109 a. E.

Brauchen wir eine Risikoerhöhungstheorie? INGEBORG PUPPE

BGHSt 11, 1 und kein Ende Die Entscheidung BGHSt 11, 1 hat Strafrechtsgeschichte gemacht. Der B G H entwickelte anhand dieser Entscheidung seine Lehre von der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung und Roxin die Risikoerhöhungstheorie 1 . Ein Lastzugfahrer hatte einen Radfahrer in einem Abstand von nur 0,75 - I m überholt, wobei der Radfahrer unter die Vorderräder des Anhängers geriet und tödlich verletzt wurde. Der Radfahrer selbst war aber so stark angetrunken, daß möglicherweise der gleiche Unfall passiert wäre, wenn er in dem ordnungsgemäßen Mindestabstand von 1,50-2,00 m überholt worden wäre. Der B G H hat den Lastzugfahrer mit der Begründung freigesprochen, es fehle zwar nicht an der Kausalität der Handlung, wohl aber an der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung, weil der zu geringe Überholabstand hinweggedacht werden könnte, d. h. durch den ordnungsgemäßen Mindestabstand ersetzt werden könnte, ohne daß der Erfolg entfiele. Zumindestens sei dies nach dem Zweifelsgrundsatz zugunsten des Lastzugfahrers zu unterstellen. Diese Entscheidung stellt einen großen Fortschritt in der Lehre von der Zurechnung dar, weil sie den Zusammenhang klärt, der zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung des Täters und dem Erfolg bestehen muß. Es genügt eben nicht, daß die Handlung des Täters zwei Eigenschaften hatte: erstens eine Sorgfaltspflicht zu verletzen und zweitens kausal für den Erfolg zu sein. Es müssen vielmehr gerade diejenigen Eigenschaften, um derentwillen die Handlung sorgfaltswidrig ist, Mitursachen des Erfolges sein, d. h. als notwendige Bestandteile in der kausalen Erklärung des Erfolges vorkommen. 2 Bis dahin hatte man das Problem, die sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Handlung von den übrigen, etwa für den Erfolg kausalen Eigenschaften zu trennen, dadurch zu lösen versucht, daß man die sorgfaltspflichtwidrige Handlung umgedeutet hat in die Unterlassung der Befolgung der Sorgfaltspflicht. So wurde beispielsweise im sogenannten Ziegenhaar-Fall die Verantwortlichkeit des Fabrikanten nicht damit begründet, daß er den Arbeiterinnen infizierte Ziegenhaare zur Verarbeitung übergeben hat, sondern damit, daß er es unterlassen hat, sie zuvor 1

Roxin ZStW 74 (1962), 411, 430 ff. Puppe ZStW 99 (1987), 595, 601; dies. N K 2. Aufl. (03. 10. 1998), Vor § 13 Rn. 189, 195; auch schon Jakobs Strafrecht AT, 2 1991, 7/78; ders. Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, 102 f. 2

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zu desinfizieren.3 Auf diese Weise kann man jedes sorgfaltswidrige Verhalten umdeuten in eine Unterlassung sorgfaltsgemäßen Verhaltens, man braucht es aber in keinem Fall zu tun, da ja in all diesen Fällen tatsächlich eben ein positives sorgfaltswidriges Tun vorliegt.4 Durch die Erkenntnis des Erfordernisses der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung, das ja schon im Gesetzeswortlaut mit den Worten „wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht" (§ 222 StGB) deutlich genug ausgesprochen wird, hat der BGH diese Umdeutung überflüssig gemacht. Er hat aber diese Erkenntnis dadurch verdunkelt, daß er nicht einfach von Kausalität der Fahrlässigkeit, sondern von Kausalität im Rechtssinne spricht, so als sei dies ein andersartiger Zusammenhang. Die Literatur hat denn auch vielfach Anstoß an dem Ausdruck „Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung" genommen und ihn durch Ausdrücke wie Rechtswidrigkeitszusammenhang5, Pflichtwidrigkeitszusammenhang6 oder Verwirklichung des unerlaubten Risikos 7 ersetzt, die über die begriffliche Bestimmung dieses Zusammenhangs nichts aussagen.8 Auch Roxin hat an dem Ausdruck Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung Anstoß genommen, im übrigen aber den Grundsatz des BGH akzeptiert. Er kritisiert jedoch, daß die Zurechnung bereits dann entfallen soll, wenn bei sorgfaltsgemäßem Verhalten des Täters aufgrund anderer im tatsächlichen Verlauf vorhandener Gefährdungsfaktoren der Eintritt des Erfolges nicht gänzlich auszuschließen ist. Das hätte, so Roxin, die Konsequenz, daß man ein Tatobjekt, das ohnehin schon einer gewissen Gefahr ausgesetzt ist, zusätzlich gefährden könnte, ohne eine Verantwortlichkeit für seine Verletzung befürchten zu müssen. Deshalb müsse man sich für die Zurechnung des Erfolges damit begnügen, daß das Verhalten des Täters das ohnehin schon vorhandene Risiko des Erfolgseintritts erheblich erhöht hat.9 Das ist die Risikoerhöhungstheorie in ihrer ursprünglichen Fassung. Es soll gezeigt werden, daß bei einer methodisch richtigen Untersuchung der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung die von Roxin perhorreszierte Schutzlosigkeit der bereits gefährdeten Objekte meistens gar nicht eintritt. Zur Begründung der Verantwortlichkeit mehrerer Beteiligter, die durch verschiedene Sorgfaltspflichtverletzungen zum Kausalverlauf beitragen, brauchen wir die Risikoerhöhungstheorie nur in besonders gelagerten Fällen. Daß dies

RGSt 63, 211, 214; ebenso Mezger StuB Strafrecht AT, 76. Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 24 Rn. 12; ders. ZStW 74 (1962), 411, 413. 5 Schönke/Schröder/Cramer StGB, 25 1997, § 15 Rn. 161; LK-Hirsch StGB, "1999, § 2 3 0 Rn. 7; Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5 1996, § 55 II 2 b; Engisch Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 67. 6 Wessels/Beulke Strafrecht AT, 29 1999, Rn. 181. 7 Jakobs AT (Fn. 2), 7/78; Roxin AT I (Fn. 4), § 11 Rn. 63; Schlächter JA 1984, 673; Burgstaller Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, 96 ff. 8 Kritisch dazu Roxin ZStW 74 (1962), 411, 419; NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 183; dies. GA 1994, 296, 308 ff. 9 Roxin ZStW 74 (1962), 411, 428 ff, 434; ders. AT (Fn. 4), § 11 Rn. 77 ff. 3

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Brauchen wir eine Risikoerhöhungstheorie?

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bisher sowohl den Anhängern der Risikoerhöhungstheorie 10 als auch ihren Gegnern, den Verfechtern der sogenannten Vermeidbarkeitstheorie 11 entgangen ist, liegt an einem gemeinsamen Grundfehler beider Theorien. Die Risikoerhöhungstheorie ist eine Abschwächung der Vermeidbarkeitstheorie 12 dahin, daß nicht die Feststellung gefordert wird, der Täter hätte durch sorgfaltsgemäßes Verhalten den Erfolg mit Sicherheit vermieden, sondern daß es vielmehr schon genügt, wenn er ihn bei sorgfaltsgemäßem Verhalten mit großer Wahrscheinlichkeit vermieden hätte. Vermeidbarkeitstheorie wie Risikoerhöhungstheorie gehen also davon aus, daß es auf die Frage ankommt, was bei sorgfältigem Verhalten des Täters geschehen wäre. Beide Theorien fußen auf der Lehre von der notwendigen Bedingung und auf dem Verfahren, die Kausalität eines Faktors für einen Erfolg dadurch zu prüfen, daß man sich diesen Faktor hinwegdenkt und dann fragt, ob der Erfolg nach allgemeinen Naturgesetzen oder Erfahrungsregeln entfallen würde. Die Vermeidbarkeitstheorie wendet dieses Verfahren nicht auf die Handlung des Täters, sondern auf seine Sorgfaltspflichtverletzung an, indem sie an die Stelle des sorgfaltswidrigen Verhaltens des Täters ein sorgfaltsgemäßes setzt und dann fragt, ob der Erfolg entfiele, ob er also durch sorgfaltsgemäßes Verhalten vermieden worden wäre. 13 Die Risikoerhöhungstheorie verfährt im Prinzip genauso. Indem sie an die Stelle des sorgfaltswidrigen Verhalten des Täters ein sorgfaltsgemäßes setzt, stellt sie die Frage, ob die Sorgfaltspflichtverletzung hinweggedacht werden kann, ohne daß das Erfolgsrisiko sinkt. 14

Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtwidrigkeiten Aber beim Zusammenwirken von verschiedenen Sorgfaltspflichtverletzungen mehrerer Beteiligter kann ein Fall kumulativer Kausalität vorliegen und bei kumulativer Kausalität versagt die Conditio-sine-qua-non-Formel ebenso wie die Wegdenk-Methode und damit notwendig auch die Vermeidbarkeitstheorie. 15 Nun wird die Conditio-sine-qua-non-Formel bei kumulativer Kausalität üblicherweise dahin korrigiert, daß es auf den Erfolg und den Kausalver1 0 SK-StGB-Rudolphi (Juni 1997), Vor § 1 Rn. 65 ff; Jescheck/Weigend (Fn. 5), § 55 II 2 b aa; Roxin AT I (Fn. 4), § 11 Rn. 78 ff; Otto N J W 1980, 417. 11 Schönke/SchröderIGramer (Fn. 5), § 15 Rn. 171 ff; S K - S t G B - W s o « (Juni 1989), Anh. § 16 Rn. 27 a; LK-Schröder StGB, n 1 9 9 3 , § 16 Rn. 188, 190; Jakobs AT (Fn. 2), 7/98 ff, 103; Bockelmann Strafrecht AT, 4 1987, S. 103; Baumann/Weber/Müsch Strafrecht AT, , 0 1995, 22/ 40; Wessels/Beulke (Fn. 6), Rn. 678 f. 1 2 NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 186 ff. 13 Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 11), 22/40 f; Bockelmann (Fn. 11), 163; Wessels/Beulke (Fn. 6), Rn. 678 f; freund Strafrecht AT, 1998, 2/47; Schönke/Schröder/Cramer (Fn. 5), § 15 Rn. 171 ff. 14 Roxin ZStW 74 (1962), 411, 431 f; ders. AT (Fn. 4), § 1 1 Rn. 68; SK-StGB-Rudolphi (Fn. 10), Vor § 1 Rn. 66, 69; Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, 1981, 335 ff. 15 NK-Puppe (Fn. 2), Vor 5 13 Rn. 184 f.

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lauf in seiner ganz konkreten Gestalt ankomme 16 und zu prüfen sei, ob der vom Täter gesetzte Kausalfaktor sich „tatsächlich ausgewirkt" habe, 17 oder die Formel wird ersetzt durch die folgende: Von mehreren Faktoren (Handlungen), die alternativ aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, ist jede kausal. 18 Aber beiden Korrekturverfahren fehlt der Erkenntniswert, sie können also nur dann zu richtigen Ergebnissen führen, wenn man intuitiv bereits erkannt hat, daß ein Fall der Mehrfachkausalität vorliegt und welche Kausalfaktoren mehrfach vertreten sind. Was der Ausdruck bedeuten soll, ein Faktor habe sich „tatsächlich ausgewirkt", ist gänzlich unklar 1 9 und die Alternativenformel kann überhaupt nur dann gehandhabt werden, wenn man bereits die Zahl der mehrfach vorhandenen Kausalfaktoren kennt und weiß, welcher durch welchen ersetzbar ist. 20 Der Befund, daß die Conditio-sine-qua-non-Formel in Fällen mehrfach vertretener Kausalfaktoren versagt und zu falschen Ergebnissen führt, hätte eigentlich, statt zur Erfindung solcher zirkelschlüssiger Korrekturformeln, zu der Erkenntnis führen müssen, daß diese Formel für die Kausalität zuviel verlangt, indem sie den Bedingungszusammenhang logisch falsch beschreibt. Sie erkennt als Ursache nur eine schlechthin notwendige Bedingung für den Erfolgseintritt an, es genügt aber eine Bedingung, die notwendig ist innerhalb einer nach allgemeinen Kausalgesetzen hinreichenden und wahren Minimalbedingung. 21 Aber die Bequemlichkeit dieser Wegdenk-Methode hat dazu geführt, daß man sich statt dessen auf diese Korrekturformeln verlassen hat, was nichts anderes heißt, als daß man sich auf seine vormethodische Intuition verlassen hat. Das muß zu falschen Ergebnissen führen, die unkorrigiert bleiben, wenn der Sachverhalt so kompliziert liegt, daß die vormethodische Intuition versagt, und deshalb nicht erkannt wird, daß es sich überhaupt um einen Fall von Doppel- oder Mehrfachkausalität handelt. Eben dies ist in dem Fall BGHSt 11, 1 geschehen. Weder die Anhänger der Vermeidbarkeitstheorie noch die der Risikoerhöhungstheorie haben nämlich bisher erkannt, daß hier ein Fall der Mehrfachkausalität von Sorgfaltspflicht16 Schönke/Schröder/Lenckner StGB, 25 1 997, Vor §§ 13 ff Rn. 79; Banmann/Weber/Müsch (Fn. 11), 14/10 ff; Schmidhäuser Strafrecht AT, 2 1984, 8/56; Maurach/Zipf Strafrecht AT, 8 1992, 18/54; Samson Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, 30 ff; Toepel JuS 1994, 1009 f; kritisch dazu Puppe ZStW 92 (1980), 863, 870 ff; dies. GA 1994, 297, 300 ff; dies. NK (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 67 ff. 17 Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 16), Vor §§ 13 ff Rn. 80; Jakobs AT (Fn. 2), 7/13 und 21; Otto Strafrecht AT, 5 1996, 6/40; Jakobs FS für Lackner, 1987, 53, 67; Murmann Die Nebentäterschaft im Strafrecht, 1993, 148 ff. 18 Der Gedanke stammt von Traeger Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904, 45 f; vgl. weiter Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 11), 14/41; Gropp Strafrecht AT, 1997, 5/25; Wessels/ Beulke (Fn. 6), Rn. 157. 19 Puppe ZStW 92 (1980), 863, 870 ff; dies. NK (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 84; dies. Jura 1997, 408; 412. 20 Puppe ZStW 92 (1980), 863, 874 ff; dies. NK (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 88; Toepel JuS 1994, 1009, 1011. 21 NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 1 3 Rn. 96 f; dies. ZStW 92 (1980), 863, 875; dies. ZStW 99 (1987), 595, 599.

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Verletzungen vorliegt. 22 Dies gilt auch für andere höchstrichterliche Entscheidungen. 2 3 Die Folge davon war, daß man weiterhin die Conditio-sine-qua-nonFormel auf den Fall angewandt hat mit dem Ergebnis, daß der Lastzugfahrer freigesprochen wurde, da seine Sorgfaltspflichtverletzung hinweggedacht werden könnte, ohne daß der Erfolg entfiele, weil die Sorgfaltspflichtverletzung des angetrunkenen Radfahrers zur Erklärung des Unfalls hinreicht. 24 Daß dieses Ergebnis nicht richtig sein kann, wird deutlich, sobald man nach der Verantwortlichkeit des Radfahrers fragt. Mit demselben Recht, mit dem der Lastzugfahrer damit entlastet wird, daß seine Sorgfaltspflichtverletzung hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfällt, und er ihn deshalb durch sorgfältiges Verhalten nicht vermeiden konnte, kann sich der Radfahrer darauf berufen, daß seine Trunkenheit hinweggedacht werden kann, weil und sofern der Unfall auch dann eingetreten wäre, wenn er im nüchternen Zustand mit dem von dem Lastzugfahrer eingehaltenen geringen Abstand überholt worden wäre. Keiner der Beteiligten hätte danach durch sorgfaltswidriges Verhalten eine Ursache für den Unfall gesetzt. Auch die Risikoerhöhungstheorie hilft hier nicht weiter, sondern führt ebenfalls in die Irre, wenn man sie auf der Grundlage der Conditio-sine-quanon-Formel und der Wegdenk-Methode anwendet. Wenn man nämlich das sorgfaltswidrige Verhalten des Täters hinwegdenkt bzw. durch ein sorgfaltsgemäßes ersetzt, so untersucht man nicht das Risiko, das der Täter durch sein sorgfaltswidriges Verhalten geschaffen hat, sondern das Risiko, das der andere Beteiligte durch seine Sorgfaltspflichtverletzung geschaffen hat. Beträgt dieses Risiko 100 %, so kann es nicht mehr erhöht werden. Eine Haftung des Täters kann dann auch nach der Risikoerhöhungstheorie nicht mehr begründet werden, auch wenn ein Fall der Mehrfachkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen vorliegt. 25 Denkt man sich beispielsweise den zu geringen Abstand des überholenden LKW hinweg bzw. einen ausreichenden Abstand an seine Stelle und kommt dann zu dem Ergebnis, daß wegen der hochgradigen Trunkenheit des Radfahrers der Unfall trotzdem mit Sicherheit eingetreten wäre, so läßt sich auch dann keine Risikoerhöhung mehr begründen, wenn man nunmehr das sorgfaltswidrige Verhalten des Lastzugfahrers, also den zu geringen Überholabstand wieder hinzudenkt. Denn ein 100%iges Risiko läßt sich nicht mehr erhöhen. Das hat dann sowohl für die Vermeidbarkeitstheorie als auch für die Risikoerhöhungstheorie in ihrer bisherigen Fassung die weitere praktische Konsequenz, daß der Angeklagte freizusprechen ist, wenn, etwa wegen des Todes 22 N u r Jakobs (AT, 7/75) hat dies im Prinzip erkannt. Leider bringt er sich durch seine Lehre von der zuerst „perfekt" gewordenen Bedingung um die Früchte dieser seiner Erkenntnis [AT (Fn. 2), 7/83 a; (Fn. 17), 53, 63 ff, 68 ff; FS für Miyazawa, 1995, 419, 421 ff]. Zu dieser Lehre NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 197 ff. 23 BGHSt 13, 169; 24, 31; B G H VRS 54, 436; vgl. dazu NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 199; dies. Jura 1997, 513, 516 f. 24 BGHSt 11, 1, 6. 25 NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 199 b.

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des anderen Unfallbeteiligten, der Unfallhergang, insbesondere das Verhalten des anderen Beteiligten, nicht vollständig aufklärbar ist und deshalb nicht ausgeschlossen werden kann, daß schon dessen schwerwiegende Sorgfaltspflichtverletzung eine 100%ige Gefahr des Erfolgseintritts begründet hat. Da es sich um einen Tatsachenzweifel handelt, ist die Risikoerhöhungstheorie auf diesen auch nicht anwendbar. Natürlich müßten wir uns bei Ungewißheit über das Verhalten des anderen Beteiligten mit diesen Konsequenzen des Grundsatzes in dubio pro reo abfinden, wenn für die Zurechnung des Erfolges zum Täterverhalten wirklich die Frage maßgeblich wäre, ob der andere allein schon ein 100%iges Erfolgsrisiko geschaffen hat oder nicht. Handelt es sich jedoch um einen Fall der Mehrfachkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen, so kommt es auf diese Frage gar nicht an. Mehrere Beteiligte, deren Sorgfaltspflichtverletzungen je für sich alleine hinreichen, einen Unfall zu erklären, entlasten sich nicht gegenseitig, so daß auch ein Zweifel über das Verhalten des anderen Beteiligten den Angeklagten nicht entlasten kann. Die Diskussion um BGHSt 11, 1 lehrt, daß wir uns bei der Feststellung von Doppelkausalität nicht einfach auf die Intuition verlassen dürfen. Wenn wir Scheinprobleme und falsche Ergebnisse vermeiden wollen, brauchen wir ein zuverlässiges und logisch einwandfreies Verfahren zur Feststellung von Mehrfachkausalität. In den Gesamtdarstellungen der Zurechnungslehre wird, nachdem das Versagen der Formel von der notwendigen Bedingung und der Wegdenkmethode bei Doppelkausalität festgestellt ist, auf die von Engisch entwickelte 26 sogenannte Formel von der gesetzmäßigen Bedingung verwiesen und damit auch das Problem der Doppelkausalität für gelöst erklärt. 27 Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung stellt sowohl einen erkenntnistheoretischen als auch einen methodischen Fortschritt dar. Der erstere besteht in der Beseitigung der Illusion, man könne Kausalität allein durch eine spekulative Gedankenoperation definieren und im Einzelfall feststellen. Engisch hat nun auch für die Juristen klargestellt, daß es Kausalität dem Begriffe nach ohne allgemeine empirische Gesetze nicht gibt. 28 Diese Erkenntnis hat sich inzwischen in der Rechtswissenschaft weitgehend durchgesetzt. 29 Der methodische Fortschritt besteht darin, daß die Feststellung der Ursächlichkeit der Handlung bzw. der Sorgfaltspflichtverletzung anhand des wirklichen Kausalverlaufs geschieht und nicht anhand eines fiktiven. So wird der oben aufgezeigte Fehler vermieden, die Kausalität einer Sorgfaltspflichtver26

Engisch Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 21 ff. Roxin AT I (Fn. 4), § 11 Rn. 24; SK-StGB-Rudolphi (Fn. 10), Vor § 1 Rn. 51; Stratenwerth Strafrecht AT, "2000, 8/19; Schönke/Schröder/ Lenckner (Fn. 16), Vor §§ 13 ff Rn. 82. 28 Hume Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 7. Abschnitt, 1. Teil; aA neuerdings Toepel Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, 53 ff. 29 Roxin AT I (Fn. 4), § 11 Rn. 14; SK-StGB-Rudolphi (Fn. 10), Vor § 1 Rn. 51; Jescheck/ Weigend (Fn. 5), § 28 II 4; Stratenwerth (Fn. 27), 8/19; aA Toepel (Fn. 28), 52 ff. 27

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letzung deshalb nicht zu erkennen, weil die Sorgfaltspflichtverletzung eines anderen Beteiligten zur Erklärung des Unfalles ausreicht. Aber trotz dieser Fortschritte kann die sogenannte Formel von der gesetzmäßigen Bedingung die Formel von der notwendigen Bedingung nicht ersetzen, denn sie gibt keine Möglichkeit mehr an, die Einzelursache aus dem Gesamtkomplex von Tatsachen der sogenannten Gesamtursache zu isolieren, die nach dem empirischen Gesetz eine Bedingung - gemeint ist offenbar eine hinreichende Bedingung - für den Erfolgseintritt darstellt. Die Formel von der notwendigen Bedingung hat das logische Bedingungsverhältnis zwischen Einzelursache und Erfolg falsch bestimmt, die sogenannte Formel von der gesetzmäßigen Bedingung bleibt diese Bestimmung gänzlich schuldig. 30 Ohne die Bestimmung dieser logischen Bedingungsbeziehung können wir aber die Einzelursache aus der sogenannten Gesamtursache nicht isolieren und auch nicht feststellen, ob sie im tatsächlich gegebenen Sachverhalt durch eine andere Einzelursache ersetzbar ist, also ein Fall der Doppelkausalität vorliegt. Hat man die Doppelkausalität intuitiv erkannt, so kann man sie mit Hilfe der Methode von Engisch zwar durch die Angabe zweier verschiedener gesetzmäßiger Bedingungen beschreiben, was nach der Formel von der notwendigen Bedingung unmöglich ist, ob die Doppelkausalität aber überhaupt erkannt wird, bleibt weiterhin der Intuition überlassen. Ein Erfolg wird dadurch kausal erklärt, daß Tatsachen angegeben werden, aus deren Vorhandensein in Verbindung mit allgemeinen Naturgesetzen und Erfahrungsregeln auf den Eintritt des Erfolges zu schließen bzw. dieser zu prognostizieren ist. Ohne eine solche Erklärung ist Kausalität im wissenschaftlichen Sinne weder vorstellbar noch feststellbar. Kommt in einer solchen kausalen Erklärung das Verhalten einer Person vor, so muß die Möglichkeit geprüft werden, daß die Angabe in der Erklärung überflüssig ist. Dann ist das Verhalten entgegen dem ersten Anschein nicht kausal gewesen. Dies kann dadurch festgestellt werden, daß man sich das Verhalten hinwegdenkt, aber nicht aus der Welt bzw. aus der Wirklichkeit, sondern aus einer bereits aufgestellten, schlüssigen und wahren kausalen Erklärung. Dann ist nicht zu fragen, ob der Erfolg entfiele, sondern genauer, ob die kausale Erklärung ohne diese Angaben nicht mehr nach allgemeinen Sätzen schlüssig ist. Ist das der Fall, so ist das Verhalten des Täters notwendiger Bestandteil einer hinreichenden gesetzmäßigen und wahren Bedingung des Erfolges und damit für diesen kausal. 31 Ist aber in der hinreichenden Bedingung ein weiterer Kausalfaktor enthalten, der den zu prüfenden ersetzt, enthält dieser also selbst eine Doppelkausalität, so passiert beim Wegstreichen des zu prüfenden Faktors genau der gleiche Fehler 30 N K - P u p p e (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 89 ff; dies. GA 1994, 297, 301 ff; aA. Erb meint allerdings, eine solche logische Bestimmung sei nicht nur überflüssig, sondern auch unmöglich und man könne und müsse die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung anwenden, ohne sich auf eine Bestimmung des logischen Bedingungsverhältnisses festzulegen, „so daß entsprechende Ansätze eher Verwirrung stiften und damit die Kausalitätsprüfung erschweren" (JuS 1994, 449, 452). 31 Puppe ZStW 92 (1980), 863, 875 ff; dies. SchwZStr 107 (1990), 141, 151; dies. GA 1994, 297, 303; dies. (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 96.

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wie bei Anwendung der Formel von der notwendigen Bedingung. Das wird dadurch verhindert, daß man von einer hinreichenden Minimalbedingung ausgeht, d. h. von einer Bedingung, die nur solche und so viele Angaben enthält, als für die Gültigkeit des angewendeten empirischen Gesetzes notwendig sind. Ein Fall von Mehrfachkausalität liegt dann vor, wenn wir mehrere solche kausalen Erklärungen für einen Erfolg aufstellen können, indem wir mehrere nach Naturgesetzen hinreichende Minimalbedingungen des Erfolges angeben, die sämtlich erfüllt und nur zum Teil identisch sind. 32 Die nicht identischen Teilbedingungen ersetzen sich gegenseitig, sind also mehrfach vertreten. In diesem Sinne können sich in unserem Beispielsfall der zu geringe Abstand des Uberholens und die durch Trunkenheit verursachte Spurunsicherheit des Radfahrers bei der Erklärung des Unfalls gegenseitig ersetzen, wenn sich unter Einbeziehung der Trunkenheit des Radfahrers eine hinreichende Bedingung für den Unfall auch dann ergibt, wenn man einen ausreichenden Uberholabstand unterstellt und eine andere hinreichende Bedingung aus dem zu knappen Uberholabstand, wenn man Nüchternheit des Radfahrers unterstellt. 33 Natürlich ist die Risikoerhöhungstheorie auch dann nicht zur Begründung von Kausalität und Verantwortung erforderlich, wenn nur beide Sorgfaltspflichtverletzungen gemeinsam den Unfall erklären, jede für sich alleine dazu aber nicht hinreicht. Dann liegt eben kein Fall der Doppelkausalität vor. Die praktische Bedeutung der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen ist gerade im Verkehrsstrafrecht groß, weil dort meistens Fehler mehrerer Beteiligter zusammentreffen. Ein Beispiel dafür ist der Fall BGHSt 13, 169. Der Angeklagte hatte in einem Abstand von weniger als 2 Meter von einem haltenden Bus ein Kind tödlich überfahren und war vom Vorwurf des § 222 freigesprochen worden, weil seine Einlassung nicht widerlegbar war, das Kind sei so unachtsam auf die Straße gerannt, daß er es auch bei einem Abstand von 2 Metern erfaßt hätte. Der zu schnell fahrende Autofahrer im Fall B G H VRS 54, 436 kann sich nicht damit entlasten, daß der Fußgänger seine Fahrbahn so knapp gekreuzt hat, daß auch bei vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit seine Vollbremsung den Zusammenstoß nicht verhindert hätte. Entsprechendes gilt für den betrunkenen Autofahrer im Fall BGHSt 24, 31. Beide Beteiligten haben einen Fehler gemacht, der zur Herbeiführung des Unfalls auch dann ausgereicht hätte, wenn der andere sich richtig verhalten hätte. Deshalb ist es zur Begründung der Verantwortung des Autofahrers nicht nötig, sich mit dem B G H und der Lehre 32 Puppe ZStW 92 (1980), 863, 878; dies. (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 96; dies. JR 1992, 27, 33; Sofos Mehrfachkausalität bei Tun und Unterlassen, 1999, 159 ff. 33 U m das vom Täter gesetzte unerlaubte Risiko von dem durch den anderen Beteiligten gesetzten zu trennen, kann nicht einfach die Handlung des anderen aus der Kausalerklärung ganz gestrichen werden. Zu einem Zusammenstoß gehören zwei. Es liegt also jedenfalls keine Doppelkausalität von Handlungen vor, aber möglicherweise eine Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen. U m die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen Beteiligten aus der Kausalerklärung herauszuhalten, ohne seine gesamte Handlung herauszunehmen, bleibt nichts anderes übrig, als seine Handlung als sorgfaltsgemäße zu fingieren, NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 198; im Ergebnis auch Ranft N J W 1984, 1425, 1429.

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vom rechtmäßigen Alternatiwerhalten die Frage zu stellen, was die richtige Fahrgeschwindigkeit für einen absolut fahruntüchtigen Kraftfahrer ist. U n d doch gibt es auch im Straßenverkehr Konstellationen, bei denen die Zurechnung eines Erfolges zu einem Fehlverhalten nur mit der Risikoerhöhungstheorie zu begründen ist. D a s können zum einen Fälle sein, in denen nur ein Beteiligter sich falsch verhalten hat und die übrigen Gefahrfaktoren natürliche Ursachen hatten. Konnte der zu schnell Fahrende die Kollision mit einem außer Kontrolle geratenen Fahrzeug nicht verhindern oder sein auf Glatteis ins Schleudern geratenes Auto selbst nicht mehr unter Kontrolle bringen, so kann ungewiß sein, ob er das bei Einhaltung des Geschwindigkeitslimits noch gekonnt hätte oder nicht. Aber von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob die Geschwindigkeitsüberschreitung notwendiger Bestandteil der minimalen hinreichenden Erfolgsbedingung war oder nicht. D a es um menschliche Leistungsfähigkeiten in einer kritischen Situation geht, läßt sich diese Frage oft nicht eindeutig beantworten. E s läßt sich nur feststellen, daß bei geringerer Geschwindigkeit die Chance größer gewesen wäre, den Unfall zu verhindern, die Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit also das Unfallrisiko im vorliegenden Einzelfall erhöht hat. Zum anderen ist bei einem Zusammentreffen mehrerer Sorgfaltspflichtverletzungen die Risikoerhöhungstheorie dann anwendbar, wenn sich allein aufgrund der Sorgfaltspflichtverletzung des anderen Beteiligten ein Risiko von 1 0 0 % ergibt, aufgrund der Sorgfaltspflichtverletzung des Täters ohne die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen Beteiligten aber ein Risiko, das geringer ist als 1 0 0 % . In solch einem Fall ist die Gefahr besonders groß, daß man das Problem der Mehrfachkausalität deshalb nicht erkennt, weil man sich mit der 100% igen Erklärung des Erfolges aufgrund der Sorgfaltspflichtverletzung des anderen Beteiligten zufrieden gibt, indem man nach der Wegdenk-Methode bzw. der Vermeidbarkeitstheorie feststellt, daß das sorgfaltsgemäße Verhalten des Täters den Unfall nicht verhindert hätte, oder auch nach der Risikoerhöhungstheorie, daß es das Risiko nicht erhöht hat, weil aufgrund des Verhaltens des anderen Beteiligten ja bereits ein 100%iges Risiko vorhanden war. Die Entdeckung der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen führt also zu der Erkenntnis, daß die Risikoerhöhungstheorie in vielen Fällen, in denen sie bisher angewendet worden ist, zur Begründung der Zurechnung gar nicht nötig ist. Es gibt aber Fälle des Zusammentreffens mehrerer Sorgfaltspflichtverletzungen, in denen die Zurechnung zum Verhalten eines Beteiligten ohne Risikoerhöhungstheorie nicht zu begründen ist.

Vernichtung einer Rettungschance durch Verhinderung fremder Pflichterfüllung Eine weitere Konstellation, bei der der Zweifelsgrundsatz bzw. die Risikoerhöhungstheorie voreilig ins Spiel gebracht werden, ist die, daß der Täter pflichtwidrig einem anderen nicht die Gelegenheit gegeben hat, das gefährdete

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Rechtsgut seiner Pflicht gemäß zu retten, oder daß er diese Gelegenheit durch positives Tun zunichte gemacht hat. Meist geht es dabei um die Unterlassung der Hinzuziehung eines Dritten, aber das Problem ist nicht unterlassungsspezifisch, da die Verhinderung fremder Pflichterfüllung auch durch positives Tun, beispielsweise Unterdrücken einer Information oder gewaltsame Hinderung des Dritten an der Pflichterfüllung begangen werden kann. Behandelt man diese Fälle nach der Conditio-sine-qua-non-Formel oder der Vermeidbarkeitstheorie unter Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo, so kann sich der Täter stets mit dem Hinweis entlasten, es stehe nicht mit hundertprozentiger Sicherheit fest, daß der andere seine Pflicht auch erfüllt hätte, wenn er Gelegenheit dazu erhalten hätte. Sowohl Befürworter 34 als auch Gegner 35 der Risikoerhöhungstheorie sehen in dieser die einzige Möglichkeit, den Täter für den Erfolg verantwortlich zu machen, da er ja immerhin eine reale Chance zunichte gemacht hat, daß der andere sich zu pflichtgemäßem Handeln entschließt und die Gefahr abwendet. Hierfür zunächst einige praktische Beispiele aus der Rechtsprechung. Ein Fabrikant von Ledersprays (es handelte sich in Wirklichkeit um eine GmbH, aber davon können wir in vorliegendem Zusammenhang absehen) erfuhr, daß eines seiner Produkte, das schon jahrelang unbeanstandet im Handel gewesen war, bei einzelnen Anwendern Lungenödeme verursachte. Statt, wie es nach Ansicht des BGH seine Pflicht gewesen wäre, das Produkt sofort zurückzurufen und die Produktion und Auslieferung einzustellen, veranlaßte er zunächst weitere Laboruntersuchungen zur Aufklärung der Ursache der Lungenödeme. Mehrere Benutzer, die das Produkt nach diesem Entschluß gekauft hatten, erkrankten an Lungenödemen. Der BGH verurteilte den Fabrikanten wegen vorsätzlicher Körperverletzung dieser Verbraucher. Dieser hatte sich unter anderem damit verteidigt, daß nach allgemeiner Erfahrung Rückrufaktionen von vielen Einzelhändlern und Zwischenhändlern ignoriert werden, um den mit der Rückführung des Produkts verbundenen Aufwand zu ersparen. Diese verkaufen dann den bei ihnen vorhandenen Vorrat des Produkts einfach weiter. Es sei nicht nachgewiesen, daß gerade die Einzelhändler, von denen die Geschädigten das Produkt gekauft haben, rechtzeitig von dem Rückruf erfahren und ihn auch befolgt hätten, sofern er ergangen wäre. Diesen Einwand hat der BGH juristisch nicht gewürdigt, sondern darauf verwiesen, daß die Kausalität der Unterlassung des Rückrufs für die Lungenödeme der Verbraucher durch das Instanzgericht verbindlich festgestellt sei. 36 Damit hat der BGH verkannt, daß eine solche Feststellung, wenn sie mit der von ihm selbst geforderten an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit getroffen wird, allgemeinen Erfahrungssätzen widerspricht und deshalb revisibel ist. Niemand kann nach allgemeinen Erfahrungssätzen eine Aussage darüber machen, ob Einzelhändler E den Rückruf befolgt hätte, wenn dieser ihn erreicht hätte. Kahla GA 1987, 66, 76 ff. * Ranft JZ 1987, 859, 862. 36 BGHSt 37, 106, 113. 34

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Ein Assistenzarzt stellte an einem Freitag bei einer frisch operierten Patientin Symptome für einen schwerwiegenden entzündlichen Prozeß fest. Entgegen seiner Pflicht zog er nicht den Oberarzt hinzu, sondern beruhigte sich mit einer harmlosen Erklärung der Symptome. Der Oberarzt fand bei der Visite am Sonntag die gleichen Symptome vor, ordnete aber die erforderlichen diagnostischen Maßnahmen zur Vorbereitung einer Nachoperation erst für den folgenden Montag an. An diesem Tage war die Patientin bereits nicht mehr zu retten. Am Wochenende war der Laborarzt nur in Rufbereitschaft. Der B G H macht die Mitverantwortung des Assistenzarztes für den Tod der Patientin davon abhängig, ob die sträfliche Leichtfertigkeit des Oberarztes eine „wochenendbedingte" oder eine „wochenendunabhängige" war, d. h. ob er sich genauso verhalten hätte, wenn er mit den Symptomen bereits am Freitag konfrontiert worden wäre, als der Laborarzt im Dienst war. Dies müsse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen werden. 37 Ein solcher Beweis ist unmöglich und zwar nicht nur im Einzelfall, sondern prinzipiell. Das gleiche Problem tritt auf, wenn die Pflichtwidrigkeit darin besteht, den Geschädigten selbst vor einer Gefahr nicht zu warnen oder Schutzmittel gegen sie für ihn nicht bereit zu halten. 38 In all diesen Fällen ist eine Verantwortlichkeit des pflichtwidrig Handelnden oder Unterlassenden nach der Conditio-sine-qua-non-Theorie und der Vermeidbarkeitstheorie nicht zu begründen. Denn diese Theorien verlangen in diesen Fällen die Beantwortung von Fragen, die nicht nur wegen mangelhafter Aufklärung des Einzelfalles, sondern aus prinzipiellen Gründen nicht beantwortbar sind. Aussagen über fiktive Geschehensverläufe, sogenannte irreale Konditionalsätze, sind nur sinnvoll, wenn diese Geschehensverläufe strikt gesetzlich determiniert sind. Menschliches Verhalten ist aber nicht strikt gesetzlich determiniert, deshalb hat die Frage danach, wie sich ein Mensch in einer bestimmten Situation verhalten hätte, in die er nicht geraten ist, keinen Sinn. 3 9 Hier bietet sich nun die Risikoerhöhungstheorie als Ausweg an. Denn immerhin ist die Behauptung sinnvoll und richtig, daß der Täter eine Chance dafür zunichte gemacht hat, daß der andere Beteiligte durch pflichtgemäßes Verhalten das bedrohte Rechtsgut rettet. Aber diese Fallkonstellationen unterscheiden sich in wesentlichen Punkten vom Normalfall der Risikoerhöhung. Der Täter hat jedenfalls zu einer mit hundertprozentiger Sicherheit hinreichenden Bedingung für den Erfolgseintritt beigetragen. Die Möglichkeit, daß der Rettungspflichtige seiner Pflicht nicht nachkommt, begründet jedoch eine Ungewißheit darüber, ob die Unterlassung seiner Benachrichtigung ein notwendiger Bestandteil dieser hinreichenden Erfolgsbedingung ist. Stünde nämlich nach allgemeingültigen Erfahrungssätzen

BGH NStZ 1986, 217. Beispiele hierfür sind Schweizer Bundesgericht BGE 91 IV 117 (Bogner) und O L G Naumburg NStZ RR-1996, 229, 232 („Gasanschlußfall"). 3 9 NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 119; dies. ZStW 95 (1983), 287, 293; dies. Jura 1997, 408, 410; Kahlo GA 1987, 66, 77; Sofos Mehrfachkausalität bei Tun und Unterlassen, 1999, 240 ff. 37 38

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fest, daß der Rettungspflichtige auch dann nicht gerettet hätte, wenn er von der Gefahr gewußt hätte, so bleibt die kausale Erfolgserklärung nach allgemeinen empirischen Gesetzen auch dann schlüssig, wenn man aus ihr die Angabe, daß der Retter nicht benachrichtigt worden ist, ersatzlos streicht. Aber die Möglichkeit einer fremden, in Wirklichkeit nicht geschehenen Pflichtverletzung darf bei der Begründung der Zurechnung nicht berücksichtigt werden. Das hat keine empirischen und auch keine logischen, sondern normative Gründe. Dies zeigt das folgende Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, es stehe mit hundertprozentiger Gewißheit fest, daß der Rettungspflichtige seiner Rettungspflicht nicht nachgekommen wäre, wenn er benachrichtigt worden wäre. Selbst dann könnte sich derjenige, der die Information des Retters unterlassen hat und damit verhindert hat, daß seine Rettungspflicht überhaupt in Kraft trat, mit dem Hinweis auf diese Gewißheit nicht entlasten. Denn niemand kann sich zu seiner Entlastung auf eine fremde Pflichtverletzung berufen, die nicht stattgefunden hat. 40 Um eine solche Entlastung zu verhindern, ist für die Uberprüfung der Kausalität eines Täterhandelns zum Zwecke der Erfolgszurechnung folgende Regel aufzustellen: Besteht das Täterverhalten in der Verhinderung der Pflichterfüllung eines anderen, so sind bei der Uberprüfung der Notwendigkeit dieser Verhinderung innerhalb der kausalen Erklärung die juristischen Gesetze zugrunde zu legen, die die Pflicht des anderen regeln, mit anderen Worten, es ist davon auszugehen, daß er seine Pflicht erfüllt hätte, wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte. 41 Der Grund dafür ist nicht ein Vertrauensgrundsatz, wonach die Rechtsordnung bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgehen dürfe oder müsse, daß jeder seinen Rechtspflichten nachkommt, 42 ein solches Vertrauen könnte ja stets durch Tatsachen widerlegt werden. Es geht vielmehr ausschließlich darum, die Möglichkeit einer fremden Pflichtverletzung aus der kausalen Erklärung des Erfolgseintritts auszuscheiden, solange die Pflichtverletzung tatsächlich nicht stattgefunden hat. Weil diese Pflichtverletzung eine fiktive ist, ist sie selbst dann auszuschließen, wenn ihr Eintritt mit hundertprozentiger Sicherheit feststünde. Aber auch bei diesen Fallkonstellationen bleibt ein Restposten übrig, bei dem ohne die Risikoerhöhungstheorie nicht auszukommen ist. Es sind die Fälle, in denen nicht nur zweifelhaft ist, ob der Rettungspflichtige seiner Rettungspflicht auch nachgekommen wäre, sondern auch, ob es ihm gelungen wäre, das bedrohte Rechtsgut zu retten. Stünde nach allgemeinen Kausalgesetzen fest, daß ihm das nicht gelungen wäre, so können wir wiederum die Angabe, daß er nicht hinzugezogen worden ist, in der Erfolgserklärung streichen und sie bleibt schlüssig. Nun ist diese Schlüssigkeit aber unabhängig davon, ob der Rettungspflichtige die Rettung versucht hätte oder nicht. Ist aber die Frage, ob er bei unterstellter Pflichterfüllung erfolgreich gewesen wäre oder nicht, 40

Jakobs A T (Fn. 2), 7/88; N K - P u p p e (Fn. 2), V o r § 13 Rn. 98 ff, 100, 1 1 9 f. NHL-Puppe (Fn. 2), V o r § 13 Rn. 1 1 9 ; Sofos (Fn. 39), 2 3 4 ff, insbes. 2 4 8 ff. 4 2 So begründet dies Ergebnis Jakobs FS f ü r Miyazawa (Fn. 22), 4 1 9 , 423. 41

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prinzipiell nicht zu beantworten, so ist es auch die Frage nicht, ob die Angabe, daß kein Retter eingeschaltet wurde, notwendiger Bestandteil der gesetzmäßigen Mindestbedingung des Erfolges ist oder nicht. Es steht nur fest, daß das Erfolgsrisiko dadurch erhöht worden ist. Hierfür ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Der angeklagte Zahnarzt zog einer jungen Patientin zwei Backenzähne unter Narkose, auf der sie aus Angst vor den Schmerzen bestand, obwohl sie ihm erklärt hatte, daß sie „etwas am Herzen" habe. Der Zahnarzt hatte es versäumt, die Patientin vor der N a r k o s e internistisch auf Narkosetauglichkeit untersuchen zu lassen. Sie starb infolge eines Narkosezwischenfalles, der auf eine Herzbeutelentzündung zurückzuführen war. Der Sachverständige erklärte, es sei nicht sicher, daß jeder Internist bei ordnungsgemäßer Untersuchung die Herzbeutelentzündung erkannt hätte. 4 3 In solch einem Fall ist die Ungewißheit darüber, ob die Unterlassung der Hinzuziehung eines Internisten notwendiger Bestandteil der hinreichenden Erfolgsbedingung war, nicht dadurch zu beseitigen, daß man pflichtgemäßes Verhalten des Internisten unterstellt. Aber es gibt auch keine andere Möglichkeit, diese Ungewißheit zu beseitigen, nicht nur im Einzelfall, sondern prinzipiell. Es steht ja gar nicht fest, welchen Internisten der Zahnarzt zugezogen hätte, wenn er die Narkosetauglichkeitsuntersuchung pflichtgemäß veranlaßt hätte, welche diagnostischen Fähigkeiten dieser Internist besessen hätte, welche Aufmerksamkeit er, gegebenenfalls über das pflichtgemäße Mindestmaß hinaus dem Fall zugewandt hätte und in welcher Tagesform er sich befunden hätte. Von all diesen fiktiven Sachverhalten hängt eine Aussage darüber ab, ob er die Herzbeutelentzündung erkannt hätte oder nicht. Die Frage, ob der Internist, der hinzugezogen worden wäre, die Herzbeutelentzündung erkannt hätte, ist also sinnlos. Hier ist nun in der Tat die Risikoerhöhungstheorie die einzige Möglichkeit, eine Verantwortlichkeit des pflichtwidrig handelnden Zahnarztes zu begründen, denn daß er der Patientin eine reale Chance genommen hat, durch Entdeckung der Herzbeutelentzündung dem Narkosetod zu entgehen, steht mit hundertprozentiger Gewißheit fest, solange der Sachverständige die Möglichkeit der Entdeckung der Herzbeutelentzündung nicht ausschließt.

Die Risikoerhöhungstheorie bei ärztlichen Kunstfehlern Ein weiterer praktisch wichtiger Bereich, in dem eine Zurechnung eines Erfolges zu einem Fehlverhalten nur mit Hilfe der Risikoerhöhungstheorie möglich ist, sind ärztliche Kunstfehler. Ein großer Teil der Ermittlungsverfahren gegen Arzte, auch bei schweren Kunstfehlern, scheitert nach der Rechtsprechung an der Nichtbeweisbarkeit der sogenannten Vermeidekausalität. In solchen Fällen wird die Kausalität des Kunstfehlers oft damit begründet, es sei mit

43

BGHSt 21, 59; vgl. dazu Puppe Jura 1997, 513, 517.

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Sicherheit festzustellen, daß der Patient bei richtiger Behandlung noch einige Stunden oder Tage länger gelebt hätte.44 Aber erstens ist auch diese Sicherheit nur bei solchen Kunstfehlern gegeben, die relativ kurze Zeit vor dem Eintritt des Todes passiert sind, und zweitens ist die Verlängerung des Lebens und damit des Todeskampfes um wenige Stunden nicht der Sinn und Zweck tiefgreifender therapeutischer Eingriffe, insbesondere der von Operationen. 45 Im oben geschilderten Fall des Assistenzarztes, der den Oberarzt nicht über die alarmierenden Anzeichen einer postoperativen Entzündung informiert hatte, hätte der Oberarzt keine weiteren Diagnosen und keine Nachoperation anordnen dürfen, wenn er damit nichts anderes erreicht hätte, als eine Verlängerung des Lebens der Patientin um wenige Stunden oder Tage. Eine solche Operation wäre medizinisch nicht indiziert gewesen. Frisch, ein Gegner der Risikoerhöhungstheorie, macht dagegen geltend, es gehe nicht nur um eine Verlängerung des Lebens eines Patienten um wenige Stunden, sondern um eine Verlängerung um wenige Stunden in Verbindung mit einer Heilungschance.46 Auf diese Weise wird die Risikoerhöhungstheorie, nachdem sie zur Vordertür hinausgewiesen worden ist, durch eine Hintertür wieder hereingeholt.47 Krümpelmann hält das praktische Ergebnis der Vermeidbarkeitstheorie, daß Ärzte nur ausnahmsweise für ihre Kunstfehler zur Verantwortung gezogen werden können, für praktisch nicht nur akzeptabel, sondern begrüßenswert, um die Ärzte angesichts der hohen Anforderungen an ihre Sorgfalt, denen sie in ihrem gefährlichen Beruf ausgesetzt sind, von einem allzu hohen Risiko der Strafbarkeit zu entlasten.48 Eine solche Entlastung mag tatsächlich begrüßenswert sein, sie ist aber durch die Ablehnung der Risikoerhöhungstheorie nicht in gerechter Weise durchführbar, sondern allenfalls durch eine Einschränkung der Verantwortung auf grobe Fahrlässigkeit, wie sie etwa Köhler vorschlägt.49 Denn durch die Vermeidbarkeitstheorie wird die Auswahl der Ärzte, die für ihren Kunstfehler verantwortlich gemacht werden, nach zufälligen und ungerechten Kriterien getroffen. Da nach herrschender Lehre der sichere Nachweis genügt, daß der Arzt bei richtigem Verhalten das Leben des Patienten um wenige Stunden verlängert hätte, sind diejenigen Ärzte, die im Endstadium der Krankheit behandeln, immer dem vollen Risiko der Verantwortung auch für leichte Kunstfehler ausgesetzt, während ein Arzt, der in einem früheren Stadium der Krankheit einen, wenn auch schweren Kunstfehler begeht, sich damit entlasten kann, es sei nicht mit hundertprozentiger Sicherheit nachzuweisen, daß der Patient bei richtiger Behandlung auch nur eine Stunde länger gelebt hätte. 44 BGH NStZ 1981, 218; 1985, 26 , 27; OLG Koblenz OLGSt § 222, 63. « Krümpelmann GA 1984, 491, 493 f; Wolfslast NStZ 1981, 219, 220. 46 Frisch Verhalten, 1988, 559. 47 Roxin AT I (Fn. 4), § 11 Rn. 86; N K - P u p p e (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 125 a. E. 48 Krümpelmann GA 1984, 491, 508 ff. 49 Köhler Strafrecht AT, 1997, 177 ff.

Brauchen wir eine Risikoerhöhungstheorie?

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Hierfür ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Der angeklagte Arzt hatte es versäumt, nach einer Krebsoperation (Semikastration) die zur Verhinderung von Metastasen durch Streuinfektion ärztlich unbedingt indizierte Bestrahlung des Operationsfeldes anzuordnen. Zwei Jahre später verstarb der Patient an inoperablen Metastasen. Der Sachverständige erklärte, aufgrund des ihm vorliegenden statistischen Materials überleben in vergleichbaren Fällen mindestens 90 % der Patienten, die bestrahlt worden sind, eine solche Operation um mehr als fünf Jahre, höchstens 10 % der Patienten nicht. Dies deutete der BGH dahin, daß es zwei verschiedene Gruppen von Patienten gebe, von denen die eine 90 %, die andere 10 % der Patienten umfasse. Bei der ersten stehe von vornherein mit hundertprozentiger Gewißheit fest, daß die Bestrahlung ihre Lebenszeit verlängert, bei der zweiten mit der gleichen Gewißheit das Gegenteil. Es müsse festgestellt werden, ob der betroffene Patient zu der ersten Gruppe gehört oder zu der zweiten. Darüber läßt sich aber nach den Aussagen des Sachverständigen nur eine Wahrscheinlichkeitsangabe von 90 % machen und eine solche Wahrscheinlichkeit grenze noch nicht an Sicherheit, erfülle daher die Anforderungen an den Beweis im Strafprozeß nicht. Deshalb wurde der Arzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. 50 Nach dem heutigen Erkenntnisstand der Medizin ist aber die Aussage des Sachverständigen ganz anders zu deuten. Denn die Medizin nimmt heute nicht mehr an, daß Krankheits- und Heilungsprozesse, insbesondere die Entwicklung von Krebskrankheiten hundertprozentig determiniert sind. Ob vorhandene Restkrebszellen sich irgendwo ansiedeln oder vom Immunapparat des Körpers erkannt und vernichtet werden, wie und mit welcher Geschwindigkeit sich etwaige Metastasen entwickeln, all dies hängt auch von Faktoren ab, die nicht naturgesetzlich determiniert sind, nicht zuletzt von der psychischen Einstellung und Verfassung des Patienten und vom Verhalten seiner Umgebung zu ihm. Nach dem heutigen Erkenntnisstand der Medizin ist also die Aussage des Sachverständigen wie folgt zu deuten: Dieser einzelne Patient hatte nach der Operation mindestens eine 90%ige Chance, bei Bestrahlung länger als fünf Jahre zu leben, und ein höchstens 10%iges Risiko, nicht länger als fünf Jahre zu leben. Diese reale Chance hat ihm der Arzt durch die Unterlassung der medizinisch unbedingt indizierten Bestrahlung genommen.

Wir brauchen eine Risikoerhöhungstheorie Es hat sich herausgestellt, daß in vielen Fällen, für die die Risikoerhöhungstheorie bemüht wird, eine Zurechnung auch ohne diese zu begründen ist. Diese Erkenntnis wurde durch die schematische Anwendung jener Kausalitätsformel verhindert, wonach ein Verhalten nur dann ursächlich für einen Erfolg ist, wenn es nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, sowie 50

BGH GA 1988, 184.

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der auf dieser Formel fußenden Vermeidbarkeitstheorie. Diese Formel verlangt für die Kausalität zu viel und stellt keine Methode zur Verfügung, Mehrfachkausalität und Ersatzkausalität überhaupt zu erkennen, sofern sie nicht schon intuitiv erkannt worden sind. Dennoch sind Konstellationen übrig geblieben, bei denen eine Zurechnung des Erfolges zu einem pflichtwidrigen Verhalten nur auf der Basis der Risikoerhöhungstheorie möglich ist, weil der Kausalverlauf, der die Sorgfaltspflichtverletzung mit dem Erfolg verknüpft, nicht vollständig naturgesetzlich determiniert ist. Stratenwerth hat vor fast dreißig Jahren gezeigt, daß diese prinzipielle Ungewißheit etwas grundsätzlich anderes ist als der Zweifel über Tatsachen, der nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu beheben ist. 51 Bei einem Tatsachenzweifel besteht Gewißheit darüber, daß einer von zwei Sachverhalten, a oder non a, in der objektiven Wirklichkeit gegeben ist oder gegeben war, und wir können auch prinzipiell Mittel und Methoden angeben, dies festzustellen und den Zweifel zu beheben. Nur stehen diese Mittel im Einzelfall dem Richter nicht zu Gebote, weil es beispielsweise keinen Zeugen gibt, der den Sachverhalt beobachten konnte. Hier gebietet der Zweifelsgrundsatz, den Zweifel dadurch zu beheben, daß man den für den Angeklagten günstigeren Sachverhalt als tatsächlich gegeben unterstellt. Bei nicht vollständig determinierten Prozessen steht dagegen schon objektiv nicht fest, ob das Fehlverhalten des Täters eine notwendige Bedingung oder vielmehr ein notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung für den Erfolgseintritt ist oder nicht, da es für nicht vollständig determinierte Prozesse eine nach allgemeinen Gesetzen notwendige oder hinreichende Bedingung eben nicht gibt. Die Frage, ob ein solcher Prozeß genauso oder anders verlaufen wäre, wenn der Täter sich richtig verhalten hätte, ist empirisch sinnlos. Der Zweifelsgrundsatz kann aber dem Richter nicht gebieten, eine objektiv bestehende Ungewißheit dadurch zu beheben, daß er auf eine sinnlose Frage eine Antwort gibt. Das gilt auch dann, wenn diese Antwort dem Täter günstig ist, denn sie ist mit Gewißheit falsch. 52 Die Gegner der Risikoerhöhungstheorie, die ihr in ihrem gesamten Anwendungsbereich nach wie vor einen Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz vorwerfen, haben diese Erkenntnis von Stratenwerth entweder überhaupt nicht 53 oder nur sehr oberflächlich 54 verarbeitet. Die Weigerung der Wissen51 Stratenwerth FS für Gallas, 1973, 227, insbes. 233; ders. (Fn. 27), 13/56; Walder SchwZStR 93 (1977), 113, 159 ff; Puppe ZStW 95 (1983), 287, 293 ff; dies. (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 131; vgl. dazu aber auch schon Kahrs D a s Vermeidbarkeitsprinzip, 1968, 46 ff. 5 2 N K - P u p p e (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 131. 5 3 Schönke/Schröder/Cramer (Fn. 11), § 15 Rn. 173; LK-Schroeder (Fn. 11), § 16 Rn. 190; Schlüchter J A 1984, 676. 5 4 SK-StGB-SiWWJora (Fn. 11), Anh. § 1 6 Rn. 27 interpretiert Stratenwerth dahin, daß er zwischen prinzipiell aufklärbaren und prinzipiell unaufklärbaren „Umständen" unterscheiden will; ebenso ders. F S für Welzel, 1974, 593 Fn. 68; bei Jakobs AT (Fn. 2), 7/101 heißt es in bezug auf die Risikoerhöhungstheorie von Stratenwerth: „ N u r derjenige Zweifel soll den Täter belasten, der nicht allein im Einzelfall, sondern überhaupt nicht aufklärbar ist, da er einen Bereich betrifft, für den ex ante wie ex post nur statistische Aussagen getroffen werden können.

Brauchen wir eine Risikoerhöhungstheorie?

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schaft und vor allem auch der Rechtspraxis, sich mit dem Vorhandensein nicht vollständig determinierter Verläufe auseinanderzusetzen, das in den Naturwissenschaften und auch in der Medizin längst allgemein anerkannt ist, dürfte ihren Grund darin haben, daß man vor der Entscheidung der Frage zurückschreckt, ob eine im Einzelfall bestehende Ungewißheit ihre Ursache im Fehlen tatsächlicher Informationen hat oder darin, daß man es mit einem nicht vollständig determinierten Prozeß zu tun hat. Theoretisch ist diese Frage endgültig nie zu beantworten, weil niemals die Möglichkeit auszuschließen ist, daß unsere Kenntnis der einschlägigen empirischen Gesetze unvollständig ist. Aber jede wissenschaftliche Antwort auf eine Frage steht unter dem Vorbehalt, daß sie nur für den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft gelten kann. Dieser Vorbehalt gilt auch für die Feststellung einer vollständig determinierten Kausalität, denn auch bei dieser müssen ja empirische Gesetze angewandt werden, und die können sich eines Tages als falsch oder unvollständig erweisen. Unsere Untersuchung praktischer Anwendungsfälle der Risikoerhöhungstheorie hat aber gezeigt, daß in der Rechtspraxis nur wenige Arten von Prozessen auftreten, von denen wir heute annehmen, daß sie nicht vollständig kausalgesetzlich determiniert sind. Das sind biologische, insbesondere medizinische Prozesse und menschliche Leistungen sowie menschliche Entscheidungen, die nicht normativ geregelt sind. Für die letzteren postuliert das Strafrecht in anderem Zusammenhang, nämlich bei der Schuld, geradezu, daß sie nicht naturgesetzlich determiniert sind. Für die ersten beiden ist die Unvollständigkeit ihrer gesetzlichen Determination nach dem heutigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis so gut bestätigt, daß mit der gleichen Gewißheit von ihr ausgegangen werden kann, mit der auch sonst von der Gültigkeit allgemeiner empirischer Gesetze, insbesondere von Kausalgesetzen ausgegangen wird. Das theo-

O b diese Risiken ausgrenzbar sind, kann dahinstehen, jedenfalls ist das behauptete Prinzipielle der Unaufklärbarkeit kein Grund, einen Zweifel contra reum wirken zu lassen." Dann heißt es insbesondere in bezug auf einen Krankheitsprozeß: „Dieses Risiko mag man nun wiederum ex post beurteilen, aber solange das Ergebnis nicht 0 % oder 100 % ergibt, kann man ihm nicht entnehmen, wie der Krankheitsverlauf im konkreten Fall angelegt war." Jakobs verlangt also in bezug auf Prozesse, die nicht vollständig gesetzlich determiniert sind, Aussagen darüber, wie der „konkrete" Einzelfall vollständig determiniert gewesen ist. Aus diesem Widerspruch soll nun der Zweifelsgrundsatz heraushelfen; s. dazu auch NK-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 130 f; Erb Rechtmäßiges Alternatiwerhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 1991, 144 folgert aus der Beurteilung der Risikoerhöhung ex post, daß auch der nicht determinierte Prozeß, der bei rechtmäßigem Alternatiwerhalten abgelaufen wäre, als der Vergangenheit angehörend und damit als objektiv feststehend fingiert werden müsse. „Nur daß die Auflösung in ein hypothetisches Sicherheitsurteil auch nicht dem mit optimalen Aufklärungsmethoden ausgestatteten Beobachter, sondern nur dem Laplaceschen Weltgeist möglich ist." Obwohl er nicht vollständig determinierte Prozesse ausdrücklich anerkennt, sieht auch Vogel in der Zurechnung eines Erfolges aufgrund einer Wahrscheinlichkeitserklärung einen Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz schon deshalb, weil aus einer Wahrscheinlichkeitserklärung keine Gewißheit des Erfolgseintritts ableitbar ist; Vogel Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, 166. Juristen fällt es offenbar auch am Ende des 20. Jahrhunderts schwer, sich vom Laplaceschen Weltgeist zu trennen, denn der weiß auch von objektiv nicht determinierten Prozessen ganz genau, wie sie determiniert sind.

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retisch unlösbare Problem, allgemein zwischen einer subjektiven Ungewißheit und einer objektiven Unbestimmtheit zu unterscheiden, erweist sich also, soweit es in der strafrechtlichen Praxis überhaupt auftritt, nicht nur als praktisch lösbar, sondern als gelöst. Für diejenigen Prozesse, die wir danach als nicht vollständig determiniert behandeln müssen, stehen wir also vor der Frage, ob wir die Zurechnung mit der Risikoerhöhungstheorie begründen oder auf Zurechnung gänzlich verzichten. Das letztere würde bedeuten, daß in diesem Bereich überhaupt keine Strafbarkeit wegen eines Erfolgsdelikts möglich ist. Vogel erkennt die Möglichkeit nicht determinierter Kausalverläufe durchaus an, lehnt aber auch für diese die Anwendung der Risikoerhöhungstheorie ab, weil nach seiner Meinung aus Wahrscheinlichkeitsgesetzen nur ein Urteil über Fallmengen, aber keines über den Einzelfall ableitbar sei. 55 Gleichwohl nimmt er eine Strafbarkeit wegen Versuchs an, weil und insofern der Täter zwar auch im Zweifel sei, ob sein Verhalten notwendige Bedingung für den Schadensprozeß ist, dies aber doch für möglich halte und eine Möglichkeitsvorstellung für den Vorsatz genügt. 56 Entweder liegt dem die oben dargestellte Verwechslung zwischen Tatsachenzweifel und objektiver Unbestimmtheit zugrunde, oder es gilt nur für solche 55 Vogel (Fn. 54), 165 f. Eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses gehöre nicht der Objektsprache an, sondern der Metasprache. Trotz der Verwendung wissenschaftstheoretischer Begriffe geht Vogel mit keinem Wort auf die in der Wissenschaftstheorie diskutierten Vorschläge ein, eine Wahrscheinlichkeitsangabe in bezug auf einen Einzelfall sinnvoll zu interpretieren, sogenannte induktive Wahrscheinlichkeit, vgl. Hempel Deductive nomological vs. Statistical explanation, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. III, Scientific Explanation, Space and Time, 1962, 2 n d printing 1966, 98 ff, insbes. 138 f; Stegmüller Erklärung, Begründung, Kausalität, 2 1983, 800 ff; Carnap Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit, 1959, 83 f; zusammenfassend Puppe ZStW 95 (1983), 287, 307 ff. Aus einer vollständigen Wahrscheinlichkeitserklärung folgt zwar nicht der Erfolg, aber ein objektiver Gewißheitsgrad des Erfolges, eben die induktive Wahrscheinlichkeit; vgl. Stegmüller (aaO), 820 f, wo insbesondere auch der von Vogel erhobene Einwand, daß für statistische Erklärungen die Abtrennungsregel nicht gilt, bereits ausgeräumt wird; zur objektiven Wahrscheinlichkeit bereits Kabrs Das Vermeidbarkeitsprinzip, 1968, 46 ff, insbes. 51. 56 y0gel (Fn. 54), 164; ebenso Jakobs AT (Fn. 2), 29/20; jedenfalls Vogel hätte seine beiden Aussagen, daß bei der Risikoerhöhung eine Strafbarkeit wegen Versuchs übrig bleibe und daß auch bei objektiv nicht determinierten Prozessen eine Zurechnung kraft Risikoerhöhung ausscheide, weil eine Wahrscheinlichkeitserklärung logisch zu schwach sei, nicht mehr vereinbaren können, wenn er sie in umgekehrter Reihenfolge gemacht hätte. Jakobs ist zuzugeben, daß die unvollständige Determiniertheit des Kausalverlaufs, entgegen Stratenwerth (Fn. 27), 13/55, die Begründung einer Garantenpflicht, die Erfolgsabwendung „immerhin zu versuchen" nicht hindert, aber es ist falsch daraus zu schließen, daß bei Verletzung dieser Pflicht die „Haftung für Versuch fraglos" sei, Jakobs AT (Fn. 2), 29/20. Richtig ist das Gegenteil: Die Haftung für Versuch ist fraglos ausgeschlossen, sofern der Täter nur weiß oder glaubt, daß bei Erfüllung seiner Rettungspflicht die Rettung objektiv nicht mit Sicherheit feststünde, Stratenwerth (Fn. 27), 13/55 Fn. 81. Denn der Täter eines Versuchs muß nach seiner Möglichkeitsvorstellung nicht nur eine Pflicht verletzen, sondern den objektiven Tatbestand mit allen Zurechnungsvoraussetzungen erfüllen, vgl. dazu auch den Text. Weiß also der Täter, daß er nur ein Risiko erhöhen, in keinem Fall aber eine hundertprozentige Rettungschance vereiteln kann, so weiß er mit Sicherheit, daß er nach den von Jakobs vorausgesetzten Zurechnungsbedingungen den Erfolg nicht zurechenbar herbeiführen kann.

B r a u c h e n wir eine R i s i k o e r h ö h u n g s t h e o r i e ?

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Täter, die den indeterminierten Prozeß irrtümlich für determiniert halten, insofern also unaufgeklärt sind. Denn weiß der Täter, daß er auf einen nicht determinierten Verlauf Einfluß nimmt, so weiß er auch, daß die Beziehung, die er zum Erfolg herstellt, nach Vogel logisch zu schwach ist. Er hat also keinen Vorsatz, sich zurechnungsrelevant zu verhalten. "Wenn es im nicht determinierten Bereich keine zurechnungsbegründenden Ursachen gibt, so gibt es in diesem Bereich auch kein Verursachungsverbot. 57 Die Rechtsgüter sind also in diesem Bereich strafrechtlich schutzlos, soweit sie nicht mittelbar durch besondere Gefährdungsverbote geschützt werden, wie sie sich vereinzelt im StGB ja finden. Will man sich mit dieser Konsequenz nicht abfinden, so bleibt im nicht determinierten Bereich nichts anderes übrig, als die Verknüpfung zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg durch Wahrscheinlichkeitsgesetze herzustellen und einen Beitrag, den der Täter zu einer solchen Wahrscheinlichkeitserklärung geleistet hat, als Ursache genügen zu lassen. In den Naturwissenschaften geschieht dies längst. Es ist aber dazu notwendig, daß der Jurist sich mit den logischen und methodischen Voraussetzungen der richtigen Handhabung von Wahrscheinlichkeitserklärungen vertraut macht. Im Gegensatz zu einer strikten kausalgesetzlichen Erklärung, die dann vollständig ist, wenn sie einen hundertprozentig gewissen (zwingenden) Schluß auf den Erfolg zuläßt, ist dieses Vollständigkeitskriterium bei Wahrscheinlichkeitserklärungen mangels hundertprozentiger Gewißheit nicht anwendbar. Eine Wahrscheinlichkeitserklärung ist dann vollständig, wenn alle Faktoren, die nach den einschlägigen allgemeinen Wahrscheinlichkeitsgesetzen die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts beeinflussen, in ihr vorkommen. 58 Es gibt also im Gegensatz zu einer strikten Kausalerklärung bei der Wahrscheinlichkeitserklärung keine logische Methode, ihre Vollständigkeit festzustellen. Es bleibt nichts anderes übrig, als aufgrund von theoretischem empirischem Wissen nach einschlägigen Gesetzen zu suchen und zu prüfen, ob ihre Voraussetzungen gegeben waren. Krümpelmann hat denn auch gegen die Risikoerhöhungstheorie eingewandt, daß sie zu falschen Ergebnissen führt, wenn ein wirklich gegebener Kausalfaktor dem Urteilenden verborgen bleibt, zum Beispiel ein „schockierendes E K G " erklärt den Tod des Patienten unabhängig vom Kunstfehler des Arztes. 5 9 Aber trotz des logischen Vollständigkeitskriteriums kann auch eine strikte Kausalerklärung an einem solchen Irrtum scheitern, weil dem Urteilenden eine vorhandene überholende Kausalkette entgeht. Dann ist seine Kausalerklärung zwar nach allgemeinen Gesetzen schlüssig und vollständig, nur leider ist sie 57 Stratenwerth (Fn. 27), 13/55; Brammsen M D R 1989, 123, 125; NHL-Puppe (Fn. 2), Vor § 13 Rn. 135. 58 H e m p e l (Fn. 54), 138 f; Camap Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, 2 1974, 38 ff; Camap/Stegmüller (Fn. 55), 23 ff; Stegmüller (Fn. 55), 814 ff; vgl. zusammenfassend Puppe ZStW 95 (1983), 288, 305 ff. 59 Krümpelmann G A 1984, 491, 501; Erb (Fn. 54), 141 f. Der Beispielsfall, den Krümpelmann (aaO), Fn. 49 nennt, ist dadurch zu lösen, daß man ihn als Fall der Mehrfachkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen erkennt.

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dennoch nicht wahr. 6 0 Die Conditio-sine-qua-non-Formel gaukelt hier eine falsche Sicherheit vor. U m einen solchen Irrtum zu vermeiden, sind bei einer Kausalerklärung auch sogenannte störende Bedingungen zu berücksichtigen, die den angenommenen Kausalverlauf in Wirklichkeit verhindern können. Deshalb sind in alle Wahrscheinlichkeitserklärungen auch solche Faktoren einzubeziehen, die die Wahrscheinlichkeit reduzieren. Sie könnten ja den vom Täter gesetzten wahrscheinlichkeitserhöhenden Faktor konterkarieren. Also ist zunächst auch menschliches Verhalten, das die Erfolgswahrscheinlichkeit reduziert, in die Erklärung einzubeziehen. Natürlich kann ein solches Verhalten keine Zurechnung begründen, denn es ist nicht verboten, die Wahrscheinlichkeit eines Schadenserfolges zu reduzieren. Die Zurechnung wird also nur durch solche Verhaltensweisen begründet, die innerhalb einer auf wahren Voraussetzungen beruhenden und vollständigen Wahrscheinlichkeitserklärung die Wahrscheinlichkeit erhöhen, so daß der Wahrscheinlichkeitsgrad sinkt, wenn man diesen Faktor aus der Erklärung streicht. Dies ist nichts anderes als die Anwendung der Risikoerhöhungstheorie, wie sie von Roxin vor fast vierzig Jahren vorgeschlagen worden ist. Mit Stratenwertb ist sie allerdings auf nicht determinierte Prozesse einzuschränken, anders ausgedrückt, die Risikoerhöhung muß ex post unter Ermittlung aller nach den anwendbaren Wahrscheinlichkeitsgesetzen relevanten Tatsachen festgestellt werden. 6 1 Zweifel des Richters über solche Tatsachen sind nach dem Zweifelsgrundsatz durch Unterstellung der für den Täter günstigeren tatsächlichen Voraussetzung zu beheben. Diejenigen Gegner der Risikoerhöhungstheorie, die meinen, Feststellung ex post bedeute die Feststellung einer Risikoerhöhungstheorie nach dem jeweiligen Kenntnisstand des erkennenden Gerichts, 62 mißdeuten die Risikoerhöhungstheorie.

Näher dazu Puppe SchwZStrR 107 (1990), 141, 147 f. Roxin AT I (Fn. 4), § 11 Rn. 81; Stratenwertb (Fn. 51), 227, 229 f; ders. (Fn. 27), 8/36 und 13/56; Walder SchwZStR 93 (1977), 113, 161 f. 62 Erb (Fn. 54), 133 ff. 60 61

Einige Bemerkungen über das Kausalitätsproblem und die Täterschaft im Falle rechtswidriger Kollegialentscheidungen TERESA RODRÍGUEZ MONTAÑÉS

Ich möchte diese Überlegungen mit einigen Worten über den verehrten Jubilar Claus Roxin beginnen. Wie so viele andere Strafrechtler in der ganzen Welt habe ich das Privileg gehabt, seine Gastfreundlichkeit und Lehrerqualitäten während mehrerer Forschungsaufenthalte am Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften der Universität München genießen zu dürfen, welches er so viele Jahre lang geleitet hat. Er ist ein wirklich außergewöhnlicher Kenner des Strafrechts, dessen Beitrag zu dieser Wissenschaft auf Grund seiner intellektuellen Feinheit, seiner Fähigkeit, auch die am verwickeltsten erscheinenden Zusammenhänge einleuchtend zu machen, seiner immer verständlichen Ausführungen sowie seiner schier unerschöpflichen Arbeitskapazität unanfechtbar und weltweit anerkannt ist. Doch darüber noch weit hinausgehend glaube ich, daß es sich bei ihm um eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit handelt. Daher fühle ich mich außerordentlich geehrt, mich zu seinen Schülern zählen zu können und einen Beitrag zu dieser Festschrift anläßlich seines 70. Geburtstages leisten zu dürfen.

A. Einleitung

Die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung, die sich aus den Entscheidungen oder der Übernahme von Übereinkünften im Umfeld von Kollegialorganen ergibt, ist absolut nichts Neues im Bereich der strafrechtlichen Dogmatik. Doch kann gesagt werden, daß sie in den letzten Jahren große Aktualität erreicht hat. Die Herkunft der modernen Diskussion zu diesem Thema steht in enger Verbindung mit der Problematik der strafrechtlichen Produktverantwortung sowie ganz besonders mit der Entscheidung des BGH im sogenannten Erdal- oder „Lederspray-Fall"1.

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B G H S t 37, 106.

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Teresa Rodríguez Montañés

D o c h die (strafrechtliche) Bedeutung der A n n a h m e von Übereinkünften im Bereich von Kollegialorganen geht weit über die strafrechtliche Produktverantwortung, ja sogar über die Unternehmensverantwortung in anderen Sektoren (Gesellschafts- und Umweltdelikte, Verstöße gegen Planungs- und Baurecht usw.) hinaus und ist z u m Beispiel auch im Bereich des Beamtenwesens oder in der öffentlichen Verwaltung zu spüren.

II. D i e grundsätzlichen dogmatischen Probleme, die im Augenblick der Feststellung von strafrechtlichen Verantwortlichkeiten der Mitglieder eines K o l legialorgans zu beachten sind, ergeben sich in erster Linie aus der Tatsache, daß die klassischen Strukturen der Zurechnung von dem Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit der körperlichen Personen inspiriert sind, welche auf G r u n d ihrer H a n d l u n g Erfolge erzeugen, mit denen sie ihre Verpflichtungen verletzen. In den uns interessierenden Fällen ist die Situation jedoch völlig anders, wie wir im folgenden sehen werden. D a s erste dieser Probleme besteht in der Feststellung einer kausalen Beziehung sowie der objektiven Zurechnung zwischen der aktiven oder unterlassenen H a n d l u n g derjenigen, die an der Erzielung einer Ubereinkunft in einem Kollegialorgan teilnehmen (dem individuellen Verhalten jedes einzelnen) und den eventuellen schädigenden Konsequenzen auf G r u n d der betreffenden Entscheidung. D i e zweite P r o b l e m g r u p p e ist in der A b g r e n z u n g der individuellen Verantwortungsbereiche innerhalb des Kollektivs zu sehen: Welche Verpflichtung hat das Subjekt nicht erfüllt? Was ist von dem individuellen Subjekt zu erwarten? Wo beginnt die Verantwortlichkeit? In enger Verbindung damit stellt sich die Frage nach der Begrenzung der Täterschaft und Beteiligung, unter besonderer Beachtung der Strukturen der Mittäterschaft und mittelbaren Mittäterschaft, der fahrlässigen Mittäterschaft, der Mittäterschaft an Unterlassungsdelikten, sowie nach den Fällen, in welchen die Entscheidung keine (Mit-)Täterschaft bedeutet, sondern eine Teilnahme an d e m Delikt eines anderen. Zuletzt noch sind die Zusammenhänge in Verbindung mit dem iter criminis zu analysieren.

III. D i e s e Problematik kann als ganzes nicht ohne vorherige Festlegung einer Reihe von Präzisierungen angegangen werden, unter welchen als grundsätzliche die folgenden zu nennen sind: 1. D i e Wertung der strafrechtlichen Verantwortung eines Kollegialorganmitglieds ist nicht ohne Beachtung der Besonderheiten dieser Organe sowie des Prozesses der Erzielung von Übereinkünften in diesem O r g a n möglich.

Kausalität und Täterschaft bei rechtswidrigen Kollegialentscheidungen

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Ganz grundsätzlich ist hier festzuhalten, daß die Verpflichtung und die Fähigkeit zur Ausführung der getroffenen Übereinkünfte das Kollektiv an sich betreffen (und sich nur durch dieses auf jedes einzelne seiner Mitglieder ausdehnen). Das heißt, daß im Unterschied zu den normalen Fällen der Beteiligung mehrerer Personen an einem Delikt, in welchen die gemeinsame Handlungsweise auch individuell möglich wäre, in diesen Fällen (per definitionem im Sinne des Wesens der gemeinsamen Handlungsweise des Kollegialorgans) die einzelnen Mitglieder, als Individuen betrachtet, weder Kompetenz noch Handlungsfähigkeit haben; nur das Organ (oder das Kollektiv) als ganzes hat diese, nur dieses kann Ubereinkünfte herstellen. Andererseits bedeutet die Teilnahme an einem solchen Gremium die Unterwerfung unter dessen mehrheitliche Entscheidungen, und diese werden der Außenwelt als ein gemeinschaftliches Werk präsentiert, das jedoch von jedem einzelnen seiner Mitglieder mitgetragen wird. Falls eine solche Entscheidung strafrechtliche Konsequenzen hat, stellt sich die Frage, ob dabei alle Mitglieder des Organs in gleichem Ausmaß verantwortlich zu machen sind. Eine strafrechtliche Verantwortung ist strikt persönlich zu verstehen, und dazu müssen die allgemeinen Regeln für den Fall der Beteiligung mehrerer Personen an einem Delikt angewandt werden und auf deren Grundlage festgelegt werden, in welchem Ausmaß der einzelne an diesem Delikt beteiligt ist und wie weit daher seine Verantwortung reicht. 2. Die Wertung, ob die Haltung eines Individuums kausal ist oder nicht, ob es sich dabei um eine Täterschaft oder Beteiligung handelt, ob das Delikt vollzogen wurde oder im Versuchsstadium blieb etc. - das Aufwerfen und die Lösung dieser dogmatischen Probleme kann sich letzten Endes nicht nur auf den Augenblick der Stimmabgabe beschränken, sondern muß auch die schon bestehende Übereinkunft mit in Betracht ziehen. Ich denke, daß dieser Ausgangspunkt durch die Beachtung des eigentlichen Wesens der Übereinkünfte eines Kollegialorgans aufgedrängt wird: Eine Übereinkunft entsteht erst nach Auszählung aller abgegebenen Stimmen und Feststellung der Mehrheitslage, hat einen formellen Charakter (im Gegensatz zu anderen Fällen nicht institutionalisierter Abkommen wie Verbrechensverabredung oder Mittäterschaft) und ist, wie wir später sehen werden, von großer Bedeutung bei der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. 3. Die Teilnahme an einer Stimmabgabe und die Annahme einer Übereinkunft haben unterschiedliche Bedeutung und üben einen unterschiedlichen Einfluß auf die strafrechtliche Verantwortung in Funktion des jeweiligen Tatbestandes aus, auf welchen sich die Entscheidung bezieht. Daher glaube ich, daß zwischen zwei Fallgruppen zu unterscheiden ist: einerseits den Fällen, in denen die Annahme der Entscheidung schon Ausführung oder Vollzug bedeutet, da der Kern der Rechtswidrigkeit gerade in dieser Übereinkunft besteht, und andererseits denjenigen, in denen die Entscheidung nur die Beteiligung an der Vorbereitung eines Umstands bedeutet, der erst später ausgeführt wird.

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D i e s e Unterscheidung hat erhebliche Konsequenzen auf den iter criminis sowie die Feststellung der Täterschaft und Beteiligung, wie wir später sehen werden. 4. D i e Analyse des Problems der Zurechnung ist auf G r u n d der folgenden Unterscheidung durchzuführen: Einerseits ist die strafrechtliche Verantwortung zu analysieren, die sich aus der H a n d l u n g einer Stimmabgabe zugunsten einer rechtswidrigen Entscheidung ergibt. In diesen Fällen handelt es sich u m eine aktive oder passive H a n d l u n g (was keine vorzeitige Wertung der Verantwortung auf G r u n d von Begehung oder Unterlassung bedeutet, da diese von der A r t und Weise der angenommenen Übereinkunft abhängt), die als ein Verstoß gegen eine strafrechtlich relevante Verpflichtung gewertet werden kann und ausreichend ist, u m eine strafrechtliche Zurechnung zu begründen (wir werden später sehen, auf welcher Grundlage); daher wird in diesen Fällen nicht über den Verstoß gegen eine Verpflichtung diskutiert, sondern über den Typus der Zurechnung, nach welchem die betreffenden Subjekte zur Verantwortung gezogen werden. In den anderen Fällen wird keine aktive H a n d l u n g im Zusammenhang mit der rechtswidrigen Übereinkunft vorgenommen, sondern höchstens eine Unterlassung von Maßnahmen zu deren Verhinderung. Daher ist es entscheidend, zu analysieren, ob ein strafrechtlich relevanter Pflichtverstoß besteht oder nicht (ob die Verpflichtung zur Verhinderung oder Erschwerung von Tatbeständen besteht, auf welche Weise diese zu konkretisieren ist sowie welcher H a n d l u n g s u m f a n g von dem individuellen Subjekt zu erwarten ist) sowie ob ein solcher Verstoß (Begehung durch Unterlassung) mit der Haltung derjenigen gleichzustellen ist, die zustimmend abstimmen, und daher ausreichend ist, dem Unterlassenden die gleiche Verantwortlichkeit abzuverlangen wie den anderen (gleichgültig, u m welche es sich handelt) oder, falls nicht so weit gegangen wird, welche A r t von Verantwortlichkeit zu fordern ist. Von dieser so weit verzweigten Problematik, deren Analyse Ziel einer gerade im Durchführungsprozeß begriffenen monographischen Studie ist, möchte ich im folgenden einige Fragen zur Kausalität und Täterschaft in den Fällen einer positiven Z u s t i m m u n g zur Erzielung von rechtswidrigen Übereinkünften angehen.

B. Das Kausalitätsproblem in den Fällen einer positiven Stimmabgabe zur Erzielung einer rechtswidrigen Entscheidung D a s erste wichtige dogmatische Problem, das durch die A n n a h m e von internen Übereinkünften von Kollegialorganen aufgeworfen wird, besteht in der Feststellung einer kausalen Beziehung zwischen der individuellen H a n d l u n g jedes einzelnen Mitglieds des Kollegialorgans (der Stimmabgabe) und dem Tatbestand, der durch die im Endeffekt hergestellte Übereinkunft geschaffen wird. Bei einer ersten intuitiven und vor-juristischen Annäherung scheint es uns evident, daß bei der Erzielung einer Übereinkunft in einem Kollegialorgan, welche in sich selbst oder auf G r u n d ihrer späteren A u s f ü h r u n g einen Tatbe-

Kausalität u n d Täterschaft bei rechtswidrigen Kollegialentscheidungen

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stand erfüllt, zumindest alle diejenigen als daran kausal Beteiligte zu verstehen sind, die bei der Wahl eine positive Stimme abgegeben haben. Bei einer juristischen und strafrechtlichen Betrachtung erscheinen uns die Umstände jedoch bald nicht mehr so einfach, zumindest wenn wir uns Fällen von überbedingten Erfolgen (nach der Terminologie von Jakobs2, die auch von Röh3 angenommen wurde) ausgesetzt sehen oder von vielfältiger Kausalität, d. h., wenn sich das Ergebnis einer Abstimmung mit mehr Bedingungen (Stimmen) als den notwendigen produziert. Und gerade in diesen Fällen müßte, bei Anwendung der Bedingungstheorie als der Kausaltheorie, die in der Lehre die absolute Mehrheit findet, 4 unter Heranziehung der sogenannten hypothetischen Formel gesagt werden, daß keine einzelne der Stimmen für sich allein betrachtet kausal für das Ergebnis war, da dieses sich genauso ohne deren Mitzählung ergeben hätte.

I. Das Kausalurteil nach der

conditio-Formel

1. Wie allgemein bekannt ist, bedeutet die hypothetische Formel oder die conditio sine qua non, als Hilfsmethode für die Bedingungstheorie, daß jeglicher Faktor, der in Gedanken unterdrückt zur Veränderung des Ergebnisses führt, als Bedingung und damit als kausal zu verstehen ist; daß ein Faktor im Gegensatz dazu jedoch nicht kausal ist, falls ohne seinen Einfluß das Ergebnis unverändert bleibt. 2. Wenden wir nun diese Formel auf die uns hier beschäftigenden Fälle an, müssen wir jeglichen kausalen Zusammenhang zwischen einer einzelnen abgegebenen Stimme und der kollektiven Entscheidung verneinen, da im Falle der Annahme dieser Entscheidung auf Grund von mehr Stimmen, als zur Herstellung der notwendigen Mehrheit notwendig war, die einzelne Unterdrükkung einer jeglichen der abgegebenen Stimmen nicht dazu führen würde, die Ubereinkunft scheitern zu lassen, da auch ohne diese Stimme eine ausreichende Mehrheit bestehen bleibt. Bei strenger Anwendung des Prinzips in dubio pro reo muß daher eine kausale Beziehung zwischen der Handlung jedes einzelnen, der mit seiner Stimmabgabe zur Annahme der Ubereinkunft mit breiter Mehrheit beigetragen hat, verneint werden. Dies erscheint uns eine unannehmbare Lösung, vor allem, wenn wir davon ausgehen, daß sich im Falle der Annahme der Entscheidung auf Grund einer minimalen Mehrheit kein Kausalitätsproblem mehr stellt.

2 Jakobs FS für Lackner, 1987, 53 ff, 63 ff; ders. Strafrecht AT, 2 1991, 7/83 a; ders. FS für Miyazawa, 1995, 422 ff; ders. in: Mir/Luzón (Hrsg.), Responsabilidad penal de las empresas, 1996, 80 ff. 3 Röh Die kausale Erklärung überbedingter Erfolge im Strafrecht, 1993, passim. 4 Vgl. dazu u. a. Luzón Peña P G I, 1996, 365, 371; Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 11 Rn. 5 ff; Schönke/Schröder/Iettofercer StGB, 25 1997, vor § 1 3 Rn. 73; Tröndle/Fischer StGB, 49 1999, vor § 13 Rn. 16.

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3. Vielleicht wäre es hier möglich, durch die Anwendung einer Variante der Bedingungstheorie zu einer zufriedenstellenden Lösung zu kommen, welche die Betrachtung des „Erfolges in seiner konkreten Gestalt" verlangt. Es erscheint uns jedoch zweifelhaft, ob für eine „konkrete Gestalt" die Anzahl der Stimmen in Betracht zu ziehen ist, denn im Gegensatz zu anderen Fällen kumulativer Kausalität, bei welchen im Normalfall die Zusammenstellung aller Gründe auf irgendeine Art und Weise das Ergebnis in seiner konkreten Gestalt beeinflußt, „egal ob durch Antizipation unter der Annahme, dadurch einen höheren Kampfgeist zu erzeugen, oder einfach weil dadurch die konkrete Form der Ergebniserscheinung verändert wird" 5 , ändert sich in den Fällen der Erzielung von Übereinkünften mit breiter Mehrheit absolut nichts an der konkreten Gestalt der Zusammenhänge durch den Umstand, daß mehr Stimmen als für die Mehrheit notwendig abgegeben wurden. 4. Eine andere Variante der Bedingungstheorie schlägt die kumulative Unterdrückung aller Faktoren vor: Falls verschiedene Faktoren im Geiste alternativ, jedoch nicht kumulativ unterdrückt werden können, ohne daß sich dadurch das Ergebnis ändert, dann seien diese alle als Ursachen des Ergebnisses zu betrachten. 6 Nach Cerezo ermöglicht diese Formel eine Lösung „bei den Schwierigkeiten, die durch Stimmabgabe hervorgerufene, rechtswidrige Ubereinkünfte in Kollegialorganen hervorgerufen werden, bei denen die erreichte Mehrheit das Mindestmaß überschreitet und wo die alternative Subtraktion jeder einzelnen der abgegebenen positiven Stimmen, jedoch nicht aller dieser zusammen in Betracht kommt." 7 Diese Formelvariante löst das Problem scheinbar, doch ergibt sich hieraus die Schwierigkeit, daß es so nicht mehr möglich ist, die wirkliche Kausalität von den anderen Faktoren zu unterscheiden, welche nicht kausal sind. Im Endeffekt dient uns diese Formel zur vorherigen Festlegung des Konzeptes der Kausalität (bei den diesem Konzept entsprechenden Faktoren handelt es sich um alle diejenigen, die im Geiste addiert oder subtrahiert werden können), denn anderenfalls wären wir nicht in der Lage, zwischen den kausalen und allen anderen Faktoren zu unterscheiden, die eindeutig nicht kausal sind und aus diesem Grund nicht in Betracht gezogen werden. Warum aber zählen wir zu den Faktoren, die wir kumulativ unterdrücken, alle Stimmabgaben (und nur die Stimmabgaben), jedoch nicht andere Umstände wie zum Beispiel, daß der Präsident des Organs einen grauen Anzug trägt oder daß die Wahl um 13.30 Uhr stattfindet oder daß es sich um einen sonnigen Tag handelt? Dies geschieht natürlich, weil wir davon ausgehen, daß die Stimmen (alle Stimmen gemeinsam) Grundlage für die Annahme der Übereinkunft sind, die Anzug-

Mir Puig PG, 5 1998, 224 Rn. 27 und 28. Vgl. Tarnowsky Die systematische Bedeutung der adäquaten Kausalitätstheorie für den Aufbau des Verbrechensbegriffs, 1927; Welzel Das Deutsche Strafrecht, "1969, 45; Cerezo PG II, 6 1998, 57; Mir Puig DP PG, 5 1998, 225. 7 Cerezo PG II, 6 1998, 57 Fn. 24. 5 6

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färbe des Präsidenten jedoch nicht; die vorgeschlagene Formel erlaubt uns jedoch nicht, zu dieser Schlußfolgerung zu gelangen, und daher glaube ich, daß sie keine geeignete Methode zur Lösung der Kausalproblematik in diesen Fällen darstellt. II. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung (Die Formel von Engisch) 1. Diese Theorie nimmt sich des eigentlich vorhandenen kausalen Mechanismus an und ersetzt die hypothetische Formel „durch eine positive Überprüfung der Kausalität auf der Grundlage der menschlichen Kenntnis über die Kausalitätsgesetze"8. Die dazu von Engisch 1931 vorgeschlagene Formel sieht wie folgt aus: Ein Verhalten ist als kausal für ein Ergebnis zu betrachten, wenn sich mit diesem Verhalten im Laufe der Zeit Veränderungen in der Außenwelt verkettet haben, die in ihrer Abfolge mit diesem Verhalten sowie untereinander nach den (Natur-)Gesetzen im Zusammenhang stehen und in irgendeine Komponente des mutmaßlichen konkreten Tatbestands gemündet haben, welcher nun in den Bereich der strafrechtlichen Verfolgung fällt.9 2. Mit dieser Formel kann - nach Weißer10 - die kausale Verbindung zwischen jeder individuellen Stimme und dem Wahlergebnis beschrieben werden: „Der Einzelbeitrag des jeweiligen Abstimmenden war ursächlich für das Abstimmungsergebnis als Teil der hierfür erforderlichen Mehrheit ... Damit besteht ein naturgesetzlicher Zusammenhang zwischen dem Einzelverhalten der Abstimmenden ... und dem Abstimmungsergebnis, das wiederum in seiner Ausführung die Ursache für die Körperverletzungserfolge bildete." III. Die Lehre von der hinreichenden

Mindestbedingung

1. Puppe11 schlägt ein neues Kausalitätskonzept vor, nach welchem schon dann von Kausalität gesprochen werden kann, wenn ein Faktor notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung des Erfolgs ist. „Eine Einzelursache ist also nur ein notwendiger Bestandteil einer nach allgemeinen empirischen Gesetzen hinreichenden und wahren Bedingung ... Notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Bedingung bedeutet also, daß die Bedingung nicht mehr hinreichend ist, wenn der betreffende Bestandteil aus ihr gestrichen wird, mit anderen Worten, es muß sich um einen notwendigen Bestandteil Luzón Pena (Fn. 4), 366. Engisch Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 21 ff. 10 Weißer Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung rechtswidriger Kollegialentscheidung, 1996, 116. 11 Puppe ZStW 92 (1980), 863, 875 ff; dies. JR 1992, 32; dies. ADPCP 1992, 681 ff; NKPuppe (1995), vor § 13 Rn. 96; zust. Kindhäuser Gefährdung als Straftat, 1989, 83 ff; Neudecker Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen, 1995, 224 f; krit. Toepel JuS 1994, 1011 f. 8

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einer nach Naturgesetzen hinreichenden Mindestbedingung handeln." 1 2 Diese Definition nähert sich nach Uberzeugung der Autorin einem intuitiven Verständnis der Kausalität. 2. Mit dieser Theorie wird das Problem der Kausalität der individuellen Stimmabgabe zugunsten einer rechtswidrigen Entscheidung mit mehr als der strikt notwendigen Stimmenmehrheit gelöst, denn damit kann man davon ausgehen, daß die Stimmabgabe jedes einzelnen Mitglieds ein individueller Grund für das Zustandekommen der Entscheidung ist, da diese Stimme in Verbindung mit all den anderen (zur Bildung einer Mehrheit notwendigen) positiven Stimmen ein Bestandteil von mehreren minimal notwendigen und ausreichenden Bedingungen (die verschiedenen Stimmenkombinationen, mit denen eine minimal ausreichende Mehrheit konfiguriert werden kann) und damit für das Erzielen der rechtswidrigen Entscheidung notwendig ist. Voraussetzung für die Kausalität der individuellen Stimme ist nur, daß die Mehrheit vorher noch nicht bestand. 3. Die Theorie von Puppe bedeutet in Wirklichkeit eine Überarbeitung der Bedingungstheorie (die Autorin spricht selbst von einer minimalen ausreichenden Bedingung), doch unter Abwendung von der hypothetischen Formel 1 3 sowie mit der Bemühung, sich in das Wesen der kausalen Beschreibung der Ergebnisse zu vertiefen. Ohne an dieser Stelle in Details gehen zu wollen, erscheint mir die Theorie von Puppe sehr überzeugend, und ich glaube, daß diese auch in problematischen Fällen zu einem richtigen Ergebnis kommt.

IV. Die Lehre von Jakobs und Roh Jakobs14

1. besteht auf der Verantwortlichkeit aller Teilnehmer, die zugunsten einer rechtswidrigen Entscheidung ihre Stimme abgeben, beleuchtet das Problem aber weniger aus der Sicht der Kausalität, sondern im Hinblick auf die Zurechnung 15 , insbesondere im Augenblick des Zeitpunkts der Zurechnung. Dies ist für ihn der Moment der Ausführung, und da die Ausführung gleichzeitig für alle diejenigen erfolgt, die ihre Zustimmung dazu gaben, sollen sie alle verantwortlich sein. Schauen wir uns die Argumentation von Jakobs etwas genauer an. 12

NK-Puppe (Fn. 11), vor § 13 Rn. 96.

Vgl. Weißer (Fn. 10), 1996, 1 1 8 f: „Auch diese Meinung bedeutet eine Abkehr von der conditio-Formel in ihrer hergebrachten Form." „Die oben dargelegte Argumentation zur Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung weist keine wesentlichen Unterschiede zu Puppes Ansicht auf"; Cerezo (Fn. 7), 57 Fn. 24. 14 Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 425; ders. in: Mir/Luzön (Fn. 2), 78 ff. 15 Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 421; ders. in: Mir/Luzön (Fn. 2), 78: „Da es strafrechtlich genuin nicht um Kausalität geht, sondern um Zurechnung, da also die Kausalität strafrechtlich als ein Derivat der Zurechnung erscheint, soll hier nach der Aufgabe der Zurechnung bestimmt werden, was an Kausalität notwendig ist." 13

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2. Dieser Autor geht von dem Grundsatz aus, daß die Beteiligung an einer Abstimmung, also die Abgabe einer individuellen Stimme, noch keine Ausführung ist, sondern eine bloße vorbereitende Handlung der Ausführung oder eine Teilnahme an dieser. In diesem Augenblick besteht noch kein perfekter Normbruch, und entscheidend für eine Zurechnung sei, wann dieser perfekte Verstoß gegen die Norm geschieht: „Im Vorfeld der Externalisierung gibt es keinen perfekten Normbruch, und deshalb kann es nur darauf ankommen, wann der Normbruch geschieht, der im Vorfeld vorbereitet wird. ... Es verhält sich also wie bei der Beteiligung am Versuch: Arbeitsteilung führt nicht zu einer individualisierenden Bestimmung des Deliktsstadiums, vielmehr wird der Zeitpunkt der Externalisierung so bestimmt, als vollzöge eine einzige Person, eben das Kollektiv, das gesamte Verhalten." 16 „Unabhängig von dem Zeitpunkt, in dem es vollzogen wird, kommt es für den perfekten Normbruch auf das Ausführungsverhalten an. Dieses Ausführungsverhalten wird in der Regel vom letzten Verantwortlichen vollzogen, also frühestens von dem die Abstimmung leitenden Mitglied, das die Mehrheit feststellt, regelmäßig wohl danach, nämlich von dem für den betroffenen Bereich zuständigen Geschäftsführer. Falls (was noch darzulegen ist) diese Personen als von allen Konsentierenden Beauftragte die Mehrheit feststellen oder den Beschluß durchführen, wird das durch die Stimmabgaben vorbereitete Geschäftsverhalten in diesen Akten durchgeführt, also für alle Zustimmenden gleichzeitig, was heißt, daß keiner einen perfekten Normbruch vor den anderen vollzieht: Also ist Haftung aller möglich." 17 Entscheidend sei einzig und allein der Augenblick der Externalisierung, und in diesem Moment koexistierten alle Stimmen gleichzeitig, unabhängig von der Abfolge ihrer Abgabe oder Kenntnisnahme. Die Tatsache ihrer Abgabe reiche aus. „Stimmen mehr Personen zu, als zur Antragsannahme erforderlich sind, so sehen die Geschäftsordnungen zumeist nicht vor, es solle nur bis zur Mehrheit gezählt und der Rest übergangen werden - dann würden die Personen, deren Stimmabgabe übergangen wird, erfolglos versucht haben, an der Mehrheitsbildung mitzuwirken - , sondern alle Stimmen sollten gezählt und die Mehrheit solle als eine überbedingte Mehrheit festgestellt werden. Diese Stimmen externalisieren sich dann alle gleichzeitig im beschlossenen Geschäftsverhalten. ... Die richtige Frage kann demnach nur lauten, ob die Zustimmung bei jedenfalls gesicherter Mehrheit noch einen Grund dafür abgeben kann, das Delikt zu begehen. Diese Formulierung der Frage legt freilich schon die Antwort nahe: Ein guter Grund verliert seine Qualität nicht deshalb, weil andere Gründe auch gut sind." 1 8 Zusammenfassend meint Jakobs: „Wer für ein rechtswidriges Geschäftsverhalten stimmt, haftet für dieses Geschäftsverhalten, wenn seine Stimme mitge-

Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 425; ders. in: Mir/Luzön (Fn. 2), 84. Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 425; ders. in: Mir/Luzön (Fn. 2), 84 f. 18 Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 426; ders. in: Mir/Luzön (Fn. 2), 86.

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zählt wird und eine — selbst unnötig hohe - Mehrheit zustande kommt, wobei gleichgültig ist, wann er seine Stimme abgegeben hat." 1 9 3. In Weiterführung der Ideen von Jakobs widmet sich auch sein Schüler Röh20 diesem Problem und kommt zu den gleichen Schlußfolgerungen, wenn auch auf einem leicht anderen Fundament und in dem viel weiteren Rahmen einer Rekonstruktion der Normen der strafrechtlichen Zurechnung mit einem logischen Schema, welches er „kausale Erklärung" nennt und das von der Annahme des Standardmodells der wissenschaftlichen Beschreibung in der von Hempel und Oppenheim21 entwickelten Wissenschaftstheorie ausgeht, auf dessen Übereinstimmung mit der kausalen Theorie von Engisch der Autor selbst hinweist.22 Er sagt - im Gegensatz zu Jakobs - , daß auch im Augenblick der Stimmabgabe schon eine Externalisierung des Normbruchs bestehe, meint aber, daß die „kollektive Kompetenz" die Betrachtung des individuellen Verhaltens als einen Teil des kollektiven Verhaltens fordere, so als ob sich das Risiko für alle Beteiligten im gleichen Augenblick perfektioniert hätte. V.

Schlußfolgerungen

1. Meiner Meinung nach wird dem kausalen Problem eine zu große Aufmerksamkeit entgegengebracht, da dieses in solchen Fällen nicht entscheidend ist und ohne allzu große Schwierigkeiten gelöst werden kann. Ich glaube, daß die Kriterien für die Festlegung des Bestehens oder Nichtbestehens eines kausalen Zusammenhangs nicht auf die internen Beziehungen oder die Stimmabgabe anzuwenden sind, sondern eher im Zusammenhang mit schon erzielten Übereinkünften anzuwenden sind, bei denen die interne Konfiguration der Mehrheitslage nicht relevant ist. Unter dieser Prämisse sind alle diejenigen, die zugunsten eines rechtswidrigen Beschlusses oder gegen ein rechtmäßiges Übereinkommen abstimmen, gleichmäßig kausal an dessen Schaffung beteiligt, also daran, daß die Entscheidung in die Welt gesetzt wurde, auf Grund der der Entscheidungsfindung innerhalb der Kollegialorgane eigenen Dynamik sowie unabhängig von der konkreten Zusammenstellung der Mehrheit oder dem Moment der Stimmabgabe. Selbst wenn die Entscheidung mit weniger als den abgegebenen Stimmen angenommen worden wäre, gilt doch in der wirklichen Welt - eine Realität, die schließlich nicht ignoriert werden kann und sich über alle Hypothesen erhebt - , daß es sich um eine Entscheidung handelt, die dank einer gewissen Zahl von Stimmen angenommen wurde, und daß alle Beteiligten ihr Zustandekommen erst möglich gemacht haben, d. h. kausal zu ihrem Entstehen beigetragen

Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 427; den. in: Mir/Luzön (Fn. 2), 86 f. Röh Die kausale Erkärung überbedingter Erfolge, 1995. Vgl. dazu Hilgendorf 491 ff. 21 Vgl. Röh (Fn. 20), 53 ff. 22 Röh (Fn. 20), 57. 19

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haben. Und diese Entscheidung, wie auch Jakobs23 betont, besteht erst, nachdem die Stimmen ausgezählt sind und die Mehrheitslage festgestellt wurde (was diese Fälle von anderen Entscheidungsfällen unterscheidet, z. B. bei Verbrechensverabredung oder Mittäterschaft, in denen die getroffene Ubereinkunft keinen institutionellen Sinn oder keinen formellen Charakter hat), jedoch nicht vorher. Erst in diesem Moment, welcher wirklich relevant ist, da vorher noch keine Entscheidung im Sinne eines Willensausdrucks des Organs besteht, ist jede einzelne der zustimmend abgegebenen Stimmen in Betracht zu ziehen, nicht nur zum Zweck einer Zurechnung, wie anscheinend der These von Jakobs zu entnehmen sein soll, sondern schon vorher als kausaler Beitrag zu ihrem Entstehen. 2. Zu dieser Schlußfolgerung trägt auch ein intuitives Verständnis der Kausalität bei, und ich glaube, daß diese dem Konzept der von der Bedingungstheorie oder der Theorie der Gleichwertigkeit der Konditionen (jede Kondition eines Ergebnisses ist ein Grund für sein Zustandekommen) vertretenen Kausalität gebührende Rechnung trägt, unter Verzicht auf die hypothetische Formel. Doch auch von der Konditionstheorie in Verbindung mit den Naturgesetzen (Theorie von Engisch) oder der von Puppe vorgeschlagenen Formel, welche für mich ein sehr ernsthafter und gut fundierter Versuch zur Darbietung einer kausalen Erklärung der Ergebnisse aus strafrechtlich relevanter Sicht ist, ist ähnliches zu sagen. 3. Die vorstehenden Betrachtungen müssen auch zum Zwecke einer objektiven Zurechnung in Betracht gezogen werden: Jede einzelne abgegebene Stimme, die eine überbedingte Mehrheit bildet, schafft ein strafrechtlich relevantes Risiko des Zustandekommens der Übereinkunft und bedeutet nach schließlich wirklichem Zustandekommen der rechtswidrigen Ubereinkunft die Verwirklichung des der Aktion der Stimmabgabe inhärenten Risikos auf pflichtwidrige Weise; das rechtswidrige Abkommen kann nun ausgeführt werden. Ist in diesem Zusammenhang nun auch das von Roxin24 formulierte Kriterium der Risikosteigerung anzuwenden? Jede einzelne Stimme steigert zwar effektiv das Risiko, doch vielleicht - so sagt Luzon25 - ist dieses Kriterium hier unnötig, denn solche Fälle wie auch andere mit hypothetischen kausalen Abläufen und einem der Pflichterfüllung entgegenstehendem Verhalten können mit Hilfe des Kriteriums der Risikoverwirklichung und dem Ziel des Normenschutzes gelöst werden. Erneut ist hier die Tatsache von entscheidender Bedeutung, daß die Entscheidung erst nach Auszählung der Stimmen und Festlegung der Mehrheitsverhältnisse existiert. In diesem Augenblick verwirklicht sich die Entscheidung Jakobs in: Mir/Luzön (Fn. 2), 86. Vgl. Roxin ZStW 74 (1962), 41 ff; den. ZStW 78 (1966), 214ff; den. Strafrecht AT I, 3 1997, § 11 Rn. 76 ff. 23

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Luzön Pena (Fn. 4), 386.

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mit allen Stimmen zu ihren Gunsten, und diese Angabe (die Entscheidung, wie sie in der wirklichen Welt erscheint) ist absolut relevant für die strafrechtliche Zurechnung. Jede Stimme zu ihren Gunsten schafft ein Risiko, welches in die Annahme einer rechtswidrigen Übereinkunft mündet, welche allen zuzurechnen ist, die dafür gestimmt haben. Ich bin also im wesentlichen mit der Argumentation von Jakobs einverstanden.

C. Probleme der Täterschaft im Falle rechtswidriger Entscheidungen I. Voreiligkeit bei der Annahme von Mittäterschaft 1. Sowohl die Rechtsprechung (in Deutschland, insbesondere im Zusammenhang mit dem Lederspray-Fall) als auch die Lehre pflegen bei der Betrachtung der Frage nach dem Typus, nach welchem die Mitglieder eines Kollegialorgans nach Erzielung einer rechtswidrigen Ubereinkunft zur Verantwortung zu ziehen sind, direkt die Prüfung einer Mittäterschaft einzuleiten sowie zu analysieren, ob bei jedem einzelnen der Subjekte, die ihre Stimme zugunsten der Ubereinkunft abgegeben haben, die notwendigen Bedingungen bestehen, um sie als Mittäter beschuldigen zu können. 2. Die Mittäterschaft scheint auf den ersten Blick tatsächlich das am besten geeignete Zurechnungsmodell zu sein, um eine Gruppe von Subjekten zur Verantwortung zu ziehen, die gemeinsam auf institutionalisierte Art und Weise handeln (das eigentliche Wesen der Erzielung von Übereinkünften im Rahmen von Kollegialorganen zwingt dazu) und gleichförmige Beteiligungen am Delikt (durch die Stimmabgabe) sowie im Prinzip in gleichem Ausmaß aufweisen (wenn dies auch in den Fällen von Vetorechten oder unterschiedlichem Stimmgewicht anders sein kann). Eine derartige Behandlung dieser Frage zieht jedoch mehrere andere Gesichtspunkte nicht in Betracht. An erster Stelle, und dies geschieht in vielen Fällen, wenn nicht sogar in der Mehrzahl, bedeutet die Erzielung der Übereinkunft noch keine (vollendete) Erfüllung des Straftatbestands, selbst noch nicht den Beginn ihrer Ausführung, sondern ist lediglich ein vorbereitender Akt für die spätere Ausführung, welche von anderen Personen bewerkstelligt wird. 2 6 Das heißt, hier sofort von Mittäterschaft zu reden und zu prüfen, ob die Bedingungen dafür erfüllt sind oder nicht, ohne auf die Verantwortlichkeit des wirklichen Ausführers einzugehen, erscheint uns zumindest überraschend. Die Erzielung einer Übereinkunft wird nicht immer als Täterschaft qualifiziert werden können, denn es wird Fälle geben, welche ledig-

26 Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 419; ders. in: Mir/Luzón (Fn. 2), 75 f. Zust. Suárez Gonzalez Participación en las decisiones del Consejo de Administración de una sociedad y responsabilidad penal, in: La responsabilidad penal de las sociedades, CGPJ, 1994, 51; Cuadrado Ruiz La responsabilidad por omisión de deberes del empresario, 1998, 121.

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lieh auf die Teilnahme an Straftaten anderer hinauslaufen. Daher ist die Frage nicht so einfach zu beantworten und schlicht zu überprüfen, ob die Bedingungen einer Mittäterschaft erfüllt sind, sondern es ist eine getrennte Analyse der Fallgruppen sowie weiterer Figuren wie der mittelbaren (Mit-)Täterschaft, der (Mit-)Anstiftung sowie der (Mit-)Beihilfe notwendig. Im Endeffekt sind die allgemeinen N o r m e n anzuwenden, welche die Beteiligung mehrerer Personen an einem Delikt regeln, und in Anlehnung an diese ist festzustellen, welche wirkliche Beteiligung an der Ausführung des Deliktes von den einzelnen zu verantworten ist. 2 7 3. Wie ich in der Analyse der Fallgruppen zu zeigen versuchen werde und wie ich schon im Zusammenhang mit der Frage nach der Kausalität gezeigt habe, glaube ich andererseits, daß die Kriterien zur Feststellung der Täterschaft nicht auf die internen Beziehungen oder den Augenblick der Stimmabgabe anwendbar sind, sondern nur auf schon erzielte Ubereinkünfte, wobei die interne Zusammensetzung der Mehrheitslage irrelevant ist. Alle diejenigen, die ihre Stimme zugunsten einer rechtswidrigen Entscheidung oder gegen die Annahme einer pflichtmäßigen Entscheidung abgeben, sind auf G r u n d der Dynamik der Entscheidungsfindung im Rahmen von Kollegialorganen in gleichem Ausmaß an dem betreffenden Delikt beteiligt, doch die Wertung, ob es sich bei dieser „Intervention" um eine Täterschaft oder eine Teilnahme handelt, ist etwas, das erst später nach Festlegung des konkreten Straftatbestands (unter Berücksichtigung des zu seiner Durchführung einzuleitenden Verfahrens und der Relevanz, welche die Übereinkunft für dieses bedeutet) sowie der Beziehungen zu den anderen am Tatbestand beteiligten Subjekten, die jedoch keine Mitglieder des Kollegialorgans sind, bestimmt werden kann.

II.

Übersicht

über die

Fallgruppen

Auf der Grundlage dieses Ausgangspunktes, welcher meiner Meinung nach Schlüsselfunktion hat, jedoch bei der Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf G r u n d der Erzielung von Ubereinkünften im Rahmen von Kollegialorganen oft nicht erwähnt wird, glaube ich, daß die folgenden Fallgruppen unterschieden werden sollten: 1. einerseits alle diejenigen, bei welchen die Entscheidung mit ihrer Ausführung gleichzusetzen ist (und zugleich die Erfüllung des Straftatbestands bedeutet) und bei welchen die Feststellung der Mittäterschaft der zugunsten der Übereinkunft Abstimmenden keine größeren Probleme schafft, wie wir sehen werden; 2. andererseits die Fälle, in denen die Erzielung der Übereinkunft noch nicht ihre Ausführung bedeutet, sondern im Sinne von Jakobs28 die Vorbereitung

27

28

In diesem Sinne auch Martínez Buján Pérez D P Económico PE, 1999, 183. Jakobs FS für Miyazawa, 1995, 419; ders. in: Mir/Luzón (Fn. 2), 75 f.

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eines Deliktes darstellt, welches später von anderen Personen ausgeführt wird, normalerweise von der Entscheidungsinstanz untergeordneten Subjekten oder Organen, so daß erst diese spätere Ausführung der Ubereinkunft als eigentliches Vergehen gewertet werden kann. In solchen Fällen denke ich, daß nicht ohne weiteres von Mittäterschaft gesprochen werden kann, höchstens vielleicht von mittelbarer Mittäterschaft in dem Falle, daß die für die Gegebenheit dieser Klassifizierung notwendigen Bedingungen erfüllt werden. 29 Anderenfalls stehen wir vor Fällen mit Beteiligung am Delikt eines anderen. 3. Schließlich gibt es noch Fälle, in denen die Annahme der Ubereinkunft eindeutig und von Anfang an nicht als (Mit-)Täterschaft gewertet werden kann, sondern als Beteiligung am Delikt eines anderen, welcher das Delikt ausführt und als (Mit-)Täter verantwortlich ist: Hier fällt die Mittäterschaft weg, und es ist zu prüfen, ob wir einen Fall von Induktion, erzwungener Kooperation oder Verschwörung vor uns haben. Ein Beispiel ist die Anfertigung von Berichten durch ein Kollegialorgan, welche das deliktische Verhalten eines anderen ermöglicht oder erleichtert (dies hier nur am Rande zu der besonderen Regelung einiger solcher Fälle durch die Art. 320, 322 und 329 des spanischen Strafgesetzbuches). Zusätzlich ist innerhalb dieser drei großen Blöcke noch zwischen vorsätzlicher oder fahrlässiger Handlung und Unterlassungstaten zu unterscheiden. Bei dieser Betrachtung ist davon auszugehen, daß alle Stimmen den gleichen Rang haben, also kein Stimmrecht mit unterschiedlicher Gewichtung und auch kein Vetorecht besteht. III. Die Behandlung der einzelnen Fallgruppen 1. Erste Gruppe: Direkt ausgeführte rechtswidrige Entscheidung a) Im Prinzip handelt es sich hierbei um die Gruppe, die die wenigsten Probleme aufwirft, denn das Delikt beruht direkt auf der Erzielung der Übereinkunft (und nicht auf ihrer späteren Ausführung durch andere). Außerdem scheinen sich schon im voraus die für eine Mittäterschaft bei vorsätzlich begangenen Delikten notwendigen Bedingungen zu ergeben: ein gemeinsamer Plan, eine gemeinsame Handlung mit Arbeitsteilung und die Tatherrschaft. 30 Bei näherer Betrachtung der verschiedenen Bedingungen in den uns hier interessierenden Fällen können jedoch durchaus zweifelhafte Situationen auftreten, insbesondere in den Fällen von Ubereinkünften, die durch überbedingte Mehrheitsverhältnisse zustande kommen. aa) Bei der Analyse der Frage nach der Tatherrschaft scheint es zum Beispiel, daß die Mittäterschaft bei Übernahme der Theorie der funktionellen TatZust. Suárez González (Fn. 26), 58; Cuadrado Ruiz (Fn. 26), 122. Vgl. Roxin J A 1979, 519; LK-Roxin StGB, " 1 9 9 3 , § 25 Rn. 154, 173; Kamm Die fahrlässige Mittäterschaft, 1999, 30 ff. 29 30

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herrschaft, einem zuerst von Roxin31 vorgeschlagenen Kriterium, das heute sowohl in Deutschland als auch in Spanien 32 mehrheitlich akzeptiert wird (wesentlich dafür ist der Beitrag zum gemeinsamen Plan; die Mit-Herrschaft in dem Sinne, daß jeder Beteiligte durch Mitwirkung an die anderen gebunden ist, so daß durch Unterbrechung seiner Beteiligung der gesamte Plan unwirksam wird; die Notwendigkeit der Funktion jedes einzelnen Beteiligten für den Gesamtplan), verneint werden müßte, denn individuell betrachtet ist keine einzelne der Beteiligungen (Stimmen) entscheidend, da die Mehrheit genau so, allein gestützt auf die restlichen Stimmen, zustande gekommen wäre. Diese Schlußfolgerung, d. h. die Verneinung der Mittäterschaft, erscheint uns jedoch nicht zufriedenstellend, denn dann würde die strafrechtliche Verantwortung des individuellen Subjekts auf Grund eines im Vorfeld der Feststellung der Wahlentscheidung produzierten Verhaltens von einer „zufälligen Stimmenverteilung am Ende der Abstimmung" 33 abhängig gemacht. Daher würde für die Anhänger der funktionellen Tatherrschaft ein solches Verhalten (Stimmabgabe zugunsten eines rechtswidrigen Antrags) im Falle einer minimalen Mehrheit wohl eine wesentliche Beteiligung an einem gemeinsamen Plan und deshalb eine Mittäterschaft bedeuten. Nach den Worten von Weißer bedeutet es einen Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand sowie gegen eine Interpretation der Typusverwirklichung im objektiven Sinn, wenn eine breite Mehrheit (mit einem höheren Grad an Pflichtverletzung) zur Verneinung der Mittäterschaft führen würde, eine Entscheidung mit „geringerer Pflichtverletzung" jedoch strafrechtliche Folgen für das Subjekt als Mittäter zur Folge haben kann. In diesen Fällen könnte jedoch die von Roxin34 vorgeschlagene Lösung einer additiven Mittäterschaft auf Grund funktioneller Tatherrschaft durch die Denkweise angewandt werden, daß die Tatherrschaft nicht ex post, sondern ex ante zu verstehen ist; dabei müssen wir uns die Frage nach der Relevanz der individuellen Beteiligung am gemeinsamen Plan ex ante stellen (unter Verzicht auf die Theorie der Notwendigkeit), denn ex ante hat jede Beteiligung die gleiche Bedeutung für das aus dem geschmiedeten Plan erwachsene Ergebnis (von dieser Beteiligung könnte alles abhängen) und ist daher als wesentlicher Beitrag zu betrachten. Dieser Konstruktion von Roxin kommen auch Bloy35 (insbesondere, was die gleiche Bedeutung aller Beteiligungen ex ante betrifft) und Bottkeib (welcher „eine abgestimmt gleichgeordnete Gestaltungsherrschaft" für entscheidend bei der Mittäterschaft hält) 37 sehr nahe. Bei Anwen31

Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, '1963, 275 ff. Vgl. dazu Pérez Alonso La coautoría y la cooperación (necesaria) en Derecho penal, 1998, 206 ff; Kamm (Fn. 30), 20 ff mwN. Krit. Díaz y García Conlledo La autoría en Derecho penal, 1991, 596 ff, 651 ff. 33 Weißer (Fn. 10), 104. 34 Roxin JA 1979, 524; LK-Roxin (Fn. 30), § 25 Rn. 159; ders. Täterschaft und Tatherrschaft, 6 1994, 660 f. 35 Bloy Die Beteiligungsformen als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, 372 ff, bes. 375. 36 Bottke Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, 87 ff. 3 7 Vgl. dazu auch Díaz y García Conlledo in: Silva (Hrsg.), Política criminal, 1997, 301. 32

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dung dieses Kriteriums auf die uns hier beschäftigenden Fälle ist die Mittäterschaft zu bejahen, denn jede einzelne Stimme, ex ante verstanden, hätte für das Zustandekommen der Mehrheit entscheidend sein können. 38 Ein weiterer Lösungsversuch kommt von den Anhängern der kollektiven Tatherrschaft als Kriterium für die Mittäterschaft. Dieser Gedanke erscheint schon bei Stratenwerth39 sowie in dem Handbuch von Maurach/Gössel/Zipf40. Nach diesem Gedankengebäude ist nicht einmal die Beteiligung an sich von entscheidender Bedeutung für den Erfolg des gemeinsamen Plans, vielmehr reicht für die Tatherrschaft eines einzelnen reicht die Beteiligung an der gemeinsamen Tatherrschaft des Verbands aus. Eine Tatherrschaft bei der Mittäterschaft bestehe hier, sobald die Beteiligung jedes einzelnen in Verbindung mit den anderen dem Verband eine gemeinschaftliche Tatherrschaft der Mittäter über den Verlauf der Dinge vermittelt. „Tatherrschaft des einzelnen bedeutet demnach Teilhabe an der gemeinsamen Herrschaft des Kollektivs." 41 Von der Übernahme des Kriteriums einer kollektiven Tatherrschaft ausgehend, betont Weißer42, daß für die Analyse der Herrschaft der Augenblick der Beitragsleistung (Stimmabgabe) wichtiger sei als jeglicher andere spätere Zeitpunkt, zu welchem die Mehrheitslage schon feststeht. In diesem Augenblick bestehe Tatherrschaft und auch Bewußtsein davon. Die Tatherrschaft der Mittäterschaft könne nicht als direkte Macht über die Führung der anderen Mittäter verstanden werden. Bei der Mittäterschaft genüge es, wenn die Mittäter in ihrer mittäterschaftlichen Verbundenheit den Geschehensablauf beherrschten, wenn sie durch ihre gemeinsame Aktion den Verletzungserfolg bewirkten, was Maurach/Gössel/Zipf als „kollektive Tatherrschaft der Mittäter" 43 bezeichnen. Welche Beurteilung verdienen nun die gerade beschriebenen Thesen? Meiner Meinung nach, und hierin stimme ich mit Luzón Peña44 und Díaz y García Conlledo45 überein, ist die Theorie der funktionellen Mitherrschaft als entscheidendes Kriterium für die Mitherrschaft bei der Mittäterschaft zurückzuweisen, da es sich dabei nur um eine negative Herrschaft handelt (sie kann zur Nicht-Verwirklichung des Deliktes führen, jedoch nicht zur Verwirklichung), was auf eine inakzeptable Erweiterung des Täterschaftskonzepts hinausläuft. Andererseits erscheint mir auch das Kriterium des Ex-ante-Verständnisses der Relevanz des individuellen Beitrags zum gemeinsamen Plan (welches in diesen Fällen die Mittäterschaft zu bejahen erlaubte) nicht korrekt, da einerseits für So auch Weißer (Fn. 10), 95 f. Stratenwerth Strafrecht AT I, 3 1981, Rn. 807 (230). 40 Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht AT II, 7 1989, § 49 II Rn. 26. 41 Weißer (Fn. 10), 99. 42 Weißer (Fn. 10), 101 f. 4 3 Siehe Weißer (Fn. 10), 102. 44 Luzón Peña La determinación objetiva del hecho. Observaciones sobre la autoría en delitos dolosos e imprudentes de resultado, in: Estudios penales, 1991, 199 ff, 202 ff. 45 Díaz y García Conlledo (Fn. 32), 675 ff; ders. Autoría mediata, coautoría y autoría accesoria, in: EJB Civitas, 1995, 707 {; ders. Coautoría alternativa y coautoría aditiva: ¿Autoría o particiapación? in: Silva Sánchez (Hrsg.), Política criminal y nuevo Derecho penal, 1997, 311 ff. 38 39

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die strafrechtliche Zuordnung der Tatbestand so, wie er abgelaufen ist, bewertet werden muß und nicht nur bloße Hypothesen, zumal dies außerdem kein Kriterium für eine wirkliche, sondern höchstens für eine potentielle Herrschaft abgibt, die meiner Meinung nach für die Festlegung einer Mittäterschaft nicht ausreicht. Was die These der kollektiven Tatherrschaft angeht, halte ich es aus methodischen Gründen für falsch und schwer vertretbar, unter Beachtung des Prinzips der persönlichen Verantwortlichkeit die Schuld der Täterschaft dem Verband zuzuschreiben und erst nachher die Frage der Mittäterschaft der einzelnen Mitglieder abzuleiten, die zugunsten einer rechtswidrigen Ubereinkunft gestimmt haben. Andererseits teile ich jedoch auch nicht die These von Weißer, nach welcher die Tatherrschaft sich auf den Augenblick der Beitragsleistung (Stimmabgabe) zu beziehen hat, jedoch auf keinen anderen späteren Augenblick, in dem die Mehrheit schon gebildet ist. Meiner Meinung nach, und ausgehend von der Berichtigung des Kriteriums der objektiven und positiven Bestimmung der Tat, wie von Luzón sowie Díaz y García Conlledo46 vorgeschlagen, ist das Relevante bei der Mittäterschaft die objektive und positive Mitbestimmung des Delikts durch alle und jeden einzelnen der Mittäter. Nur die gemeinsame Handlung (nach Absprache und mit Funktionsaufteilung) ist bestimmend für eine positive Deliktsbegehung, welche die Tatsache und die Art der Ausführung des Deliktes in einer Art und Weise bestimmt, wie sie nicht durch die Handlung irgendeines Individuums alleine möglich wäre. Dieses Kriterium darf jedoch nicht im Augenblick der Stimmabgabe angewandt werden, sondern erst dann, wenn die Entscheidung schon existiert. In diesen Fällen also (und stets unter der Voraussetzung gleichrangiger Beteiligungen, d. h. gleichem Stimmgewicht) glaube ich, daß wirklich gesagt werden kann, daß alle ihre Stimme abgebenden Subjekte objektiv und positiv die Erzielung der Ubereinkunft mitbestimmen und daher im Hinblick darauf, daß bei der hier betrachteten Fallgruppe gerade die Herstellung der Ubereinkunft den Straftatbestand erfüllt, das Delikt mitbestimmen. Damit erfüllt sich die erste Forderung, um eine Mittäterschaft bejahen zu können. Diese Mitbestimmung ist real und nicht potentiell: Damit will ich sagen, daß wir hier keine hypothetische Formulierung über die eventuelle Relevanz der ex ante möglicherweise entscheidenden individuellen Stimme für ihre Bejahung mehr benötigen — ähnlich wie ich bei der Festlegung der Kausalität vertreten habe, daß alle Stimmen kausal sind, weil sie alle zum Entstehen der Ubereinkunft beigetragen haben (unabhängig davon, ob diese auch mit weniger Stimmen angenommen worden wäre). bb) Als weitere Bedingungen für die Mittäterschaft sind zu untersuchen: gemeinsame Handlung, Arbeitsteilung, gemeinsamer Plan, Beteiligung im Ausführungsstadium:

46

Vgl. oben Fn. 47 und 48.

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(1) Wie Neudecker47 betont, besteht einer der Unterschiede zwischen den Fällen von kollegialen Entscheidungen und den herkömmlichen Fällen von Mittäterschaft darin, daß in diesen jeder einzelne der Mittäter das Delikt grundsätzlich aus eigenem Antrieb hätte begehen können, während die mit anderen gemeinsam durchgeführte Aktion nur zur Erleichterung der Ausführung dank Arbeitsteilung dient. Im Gegensatz dazu kann der einzelne in den Kollegialorganen jedoch nur eines zu der Verwirklichung des gemeinsamen Plans beitragen, nämlich seine Stimme abgeben, aber nicht - selbst wenn er wollte - das Delikt allein begehen]. Auf Grund dieser Beobachtung, welche korrekt ist, folgert die Autorin, daß wir es mit einem Fall der Zurechnung von fremdem Verhalten zu tun haben und daß es sich hier um einen Sonderfall der Mittäterschaft ohne Arbeitsteilung handelt, so wie er auch in den Konvergenzdelikten zu finden ist oder in den Fällen additiver Mittäterschaft. Damit haben wir keine Schwierigkeit, die Mittäterschaft zu bejahen, denn eine Arbeitsteilung ist keine Bedingung an sich und wird auch nicht von § 25 I StGB gefordert, sondern ist lediglich die meistens übliche Form. 4 8 Meiner Meinung nach kann also in den Fällen der Erzielung von Übereinkünften im Rahmen von Kollegialorganen durchaus von gemeinsamer Handlung und Arbeitsteilung (verstanden in weitem Sinne, als Aufteilung der Anstrengungen oder der Funktionen) gesprochen werden. Der Unterschied zu den anderen Fällen besteht darin, daß die Erzielung hier zwingend ist und auf Grund der Normen, die die Herstellung von Übereinkünften im Rahmen von Kollegialorganen bestimmen, institutionalisiert ist. Aber daß etwas auf eine bestimmte Art und Weise obligatorisch ist, kann uns nicht zu der Schlußfolgerung führen, daß es nicht existiert, sondern umgekehrt, daß es notwendigerweise existiert. Das heißt, daß im Rahmen der Kollegialorgane alle diejenigen, die im Augenblick einer Entscheidungsfällung in einem bestimmten Sinn abstimmen, gemeinsam handeln und mitentscheiden. Nicht zu vergessen ist dabei jedoch, daß uns diese Tatsache noch nicht automatisch zur Feststellung der Mittäterschaft führt, sondern nur dazu, daß alle beteiligten Subjekte gemeinsam durch eine Intervention von gleichem Rang an dem betreffenden Delikt mitwirken, welches erst später, nachdem die Übereinkunft existiert, gewertet werden kann. (2) Beteiligung im Ausführungsstadium? Obwohl die Mehrzahl der Anhänger der Theorie der Tatherrschaft diese Bedingung nicht fordert, bestehen Roxin49 und einige andere Autoren auf der Grundlage der Theorie der funktionellen Tatherrschaft auf der Beteiligung im Ausführungsstadium, gerade um eine übermäßige Ausdehnung ihres Konzeptes der funktionellen Tatherrschaft verhindern zu können. 5 0 Falls wir die Beteiligung im Ausführungsstadium als Bedingung fordern, was wir meines Erachtens auf Grund des hier verteidigten, 47 48 49 50

Neudecker (Fn. 11), 209. Neudecker (Fn. 11), 210. Roxin Täterschaft (Fn. 34), 294. Vgl. dazu Díaz y Garcia Conlledo (Fn. 32), 672 ff; Pérez Alonso (Fn. 32), 220 ff, 236.

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sehr viel engeren Konzeptes der Mittäterschaft tun sollten, so wie dies auch die formal-objektive Theorie tut, würde sich diese Bedingung in den uns hier beschäftigenden Fällen sehr wohl erfüllen, jedoch nicht in anderen Fällen, in denen die Stimmabgabe und die Übereinkunft noch nicht als Ausführung, sondern nur als Vorbereitung des Delikts selbst verstanden werden können. (3) Auch Neudecker fragt sich, ob hier eine gemeinsame Entscheidung oder ein gemeinsamer Plan besteht, was er für besonders problematisch für die kollegialen Entscheidungen hält, die direkt die Deliktsausführung darstellen. Die Problematik dieser Fälle besteht in Wirklichkeit darin, daß die gemeinsame Entscheidung und der objektive Beitrag zum Tatbestand in der einzigen Handlung zusammengefaßt sind, welche die Beteiligten ausführen: ihrer Stimmabgabe.51 Was also hier im Grunde diskutiert wird, ist die Notwendigkeit eines vorherigen und von der Beteiligung am Tatbestand unabhängigen Abkommens (wie es in den normalen Fällen von Mittäterschaft besteht), denn das Bestehen der gemeinsamen Entscheidung ist von sich aus nichts Problematisches. 52 Ich halte nun ein unabhängiges vorheriges Abkommen für nicht notwendig; eine minimale Ubereinstimmung reicht aus. Diese kann durchaus stillschweigend und simultan sein, und ich glaube, daß diese Minimalbedingung sich bei der Stimmabgabe ergibt. (4) Zusammenfassend kann also die Mittäterschaft all derjenigen, die zugunsten der Übereinkunft stimmen, auch in den Fällen breiter Mehrheitsverhältnisse bejaht werden. In den Fällen mit auf Grund minimaler Mehrheit angenommenen Übereinkünften ist das Problem der Bejahung der Mittäterschaft für die meisten Theorien durch die Wesentlichkeit der individuellen Beteiligung am Zustandekommen der Übereinkunft erheblich einfacher. Doch betonen wir hier erneut, daß für die Bestimmung der Mittäterschaft die Wesentlichkeit der individuellen Beteiligung am Zustandekommen der Übereinkunft nicht wirklich relevant ist, sondern die Effizienz oder die Relevanz, welche diese Übereinkunft im Hinblick auf die Einstufung in einen konkreten Deliktstatbestand hat, das heißt, ob sie eine tatbestandsmäßige Deliktsbegehung bedeutet oder nicht sowie ob gesagt werden kann, daß die Tatherrschaft der die Entscheidung unterstützenden Subjekte für den betreffenen Deliktstatbestand besteht - dies erst ab dem Augenblick der Feststellung der Übereinkunft, jedoch noch nicht schon bei der Stimmabgabe. b) Die vorstehenden Betrachtungen zur Mittäterschaft beziehen sich auf die vorsätzlich begangenen Delikte. Ist die Figur der Mittäterschaft jedoch auch auf die Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte anzuwenden? Angesichts der Unmöglichkeit, diese Frage hier ausgedehnt zu behandeln, möchte ich mich darauf beschränken, den allgemeinen Rahmen dieser Fragestellung einzugrenzen und meine Meinung dazu darzustellen.

51 52

So auch Franke J Z 1982, 582. In diesem Sinne auch Samson StV 1991, 184; Weißer (Fn. 10), 91.

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aa) Im Zusammenhang mit der fahrlässigen Mittäterschaft hat die deutsche Lehre diese Struktur 5 3 mehrheitlich mit dem Argument abgelehnt, daß es im Umfeld der Fahrlässigkeit nach Definition keine gemeinsame Deliktsentscheidung oder keinen gemeinsamen Plan geben könne und, da das Element eines gemeinsamen Plans für eine Mittäterschaft unabdingbar sei, vom Begriff der Mittäterschaft her nicht möglich sei. Ein anderes Argument ist, daß hier eine gemeinsame Tatherrschaft weder bestehe noch bestehen könne sowie daß diese Figur im Rechtsgebäude nicht vorgesehen sei. Eine wachsende Minderheit in der Lehre sieht in der Kategorie der fahrlässigen Mittäterschaft jedoch durchaus einen Sinn. 54 Meiner Meinung nach sollte die Struktur der fahrlässigen Mittäterschaft, welche von einer gemeinsamen Handlung und einer objektiven Mitbestimmung der Tat ausgeht, akzeptiert werden. Da das Kriterium objektiv ist, stellen sich hier nicht die Probleme, die bei der Tatherrschaft qua Ubereinkunft auftreten, welche sich nicht auf das tatbestandsmäßige Ergebnis beziehen muß, sondern nur auf die Verwirklichung des gefährlichen oder unachtsamen Verhaltens; falls keine Übereinkunft besteht, stehen wir vor einem Fall von Nebentäterschaft. bb) Der Zusammenhang der möglichen Mittäterschaft bei Unterlassungsdelikten sowie insbesondere in den Fällen von Begehung durch Unterlassung ist ein noch kaum behandeltes Thema. Daher möchte ich mich darauf beschränken, zu sagen, daß die Mittäterschaft hier begrifflich möglich, jedoch nur sehr vereinzelt anzutreffen ist. 55 In bezug auf die Bedingungen für ihr Auftreten halte ich, im Gegensatz zur überwiegenden Meinung in der Literatur, die Forderung einer Garantenstellung für ein Unterlassungsvergehen nicht für ausreichend, sondern meine, daß eine materielle Äquivalenz mit dem aktiven Verhalten 56 bestehen muß und daß diese Äquivalenz immer die Täterschaft bestimmen wird. 5 7 Was ich damit sagen will, ist, daß die herangezogenen Äquivalenzkriterien eine solche Äquivalenz im Vergleich mit dem aktiven Verhalten des Täters begründen und daß ihr Vorliegen daher nicht nur die Verwirklichung eines Delikts wegen Begehung durch Unterlassung bestimmt, sondern auch die Täterschaft, denn was wir hier suchen, ist gerade eine Formel, mit der 53 Siehe dazu grundlegend Weißer Gibt es eine fahrlässige Mittäterschaft? JZ 1998, 230 ff; Kamm (Fn. 30), 70 ff. " V g l . Bindokat JZ 1979, 434 ff; Otto Jura 1990, 47 ff; den. FS für Spendel, 1992, 281 ff; Dencker Kausalität und Gesamttat, 1996, 174 ff; Weißer (Fn. 10), 146 ff; dies. JZ 1998, 230 ff; Renzikowski Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, 261, 282 ff; Kamm (Fn. 30), 174 ff. 55 Vgl. LK-Roxin (Fn. 30), § 25 Rn. 215; ders. Täterschaft (Fn. 34), 469. 56 Ich folge der Lehre von Luzón Peña D° Penal de la Circulación, 2 1990, 175; ders. Estudios penales, 1991, 237 ff: Er spricht über Schaffung oder Erhöhung des Risikos als Aquivalenzkriterium. Ähnlich Silva Sánchez El delito de omisión, 1986, 369 ff; ders. Aspectos de la comisión por omisión: fundamento y formas de intervención. El ejemplo del funcionario penitenciario, C P C 38 (1989), 367 ff. Vgl. auch Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, 231 ff und passim; ders. Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, 84ff: „Herrschaft des Garanten über den Grund des Erfolges". 57 In diesem Sinne auch Silva Sánchez C P C 38 (1989), 388.

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es möglich ist, eine Unterlassung zu bejahen, die einer aktiven Erfüllung des Deliktstatbestandes durch den Täter gleichkommt; daher ist es unnötig, die Forderung nach Tatherrschaft oder einem objektivierten Tatentschluß hinzuzufügen. Zusammen mit dieser Äquivalenz oder dieser strukturellen Gleichwertigkeit zwischen dem Unterlassen und dem aktiven Verhalten eines Täters (sowie ganz besonders für den Fall einer Mittäterschaft) glaube ich, daß zumindest eine minimale Übereinkunft über die Unterlassung notwendig ist, wenn diese auch nicht formal in einer Versammlung von einem als solchem konstituierten Kollegialorgan erzielt worden sein muß. Ausreichend wäre hier eine formlose Übereinkunft, das heißt, daß die Subjekte darin übereingekommen sind, eine pflichtgemäße Maßnahme oder Entscheidung, welche nur im Rahmen des Kollegialorgans formell beschlossen werden kann, nicht in die Wege zu leiten. Falls keinerlei Übereinkunft besteht (weder ausdrücklich noch stillschweigend, weder formell noch formlos), sondern (durch das Organ) einfach die pflichtgemäßen Maßnahmen zur Verhinderung eines möglicherweise rechtswidrigen Ergebnisses nicht ergriffen werden, kann selbstverständlich nicht von Mittäterschaft gesprochen werden. Schließlich ist hier noch die Existenz einer gemeinsamen Handlungspflicht unerläßlich, welche nur durch gemeinsames Handeln erfüllt werden kann. N u r in diesen Fällen hat es Sinn, von Mittäterschaft zu reden. 5 8 In allen anderen Fällen, auch wenn eine eindeutige Übereinkunft zur Unterlassung vorliegt, haben wir es mit unmittelbar persönlicher Täterschaft zu tun. Das heißt, ein Unterlassungsabkommen macht noch nicht alle, die dazu beitragen, automatisch zu Mittätern. 5 9 Selbstverständlich ergibt sich die gemeinsame Handlungspflicht in den Fällen von Entscheidungen der Kollegialorgane per definitionem: D a nur das O r gan als ganzes, und nicht seine Mitglieder individuell betrachtet, die Befähigung zur Annahme von Übereinkünften hat, ist die Handlungspflicht gemeinsam und kann nur durch eine gemeinsame Handlung erfüllt werden. Falls die Mitglieder also übereinkommen, ein pflichtgemäßes Verhalten zu unterlassen, und diese Unterlassung als Begehung durch Unterlassen zu betrachten ist, sind alle diejenigen, die zugunsten der Übereinkunft abgestimmt haben, als Mittäter zu betrachten. Eine andere wichtige Frage ist, ob abgesehen von der Handlungspflicht, die jedem einzelnen Mitglied eines Kollegialorgans obliegt, noch andere Handlungspflichten bestehen (z. B. die Pflicht, seine Kollegen zwecks Verhinderung eines Delikts zum Handeln zu zwingen; die Pflicht, die gefährliche Situation den Behörden anzuzeigen; die Pflicht zur Aktivierung von Mechanismen, um Entscheidungen zu erzwingen, u. ä.), 6 0 welche auf individuelle Weise erfüllt Vgl. L K - R o x i n (Fn. 30), § 25 Rn. 162, 215; ders. Täterschaft (Fn. 34), 469 f. Vgl .Jakobs in: Mir/Luzón (Hrsg.), Responsabilidad penal de las empresas, 1996, 93 f. 6 0 Ubersehen in der „Lederspray"-Entscheidung B G H S t 37, 106, 126; s. dazu Schünemann in: Gimbernat/Schünemann/Wolter, Internationale Dogmatik der Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, 49, 71; ders. in: Umweltschutz und technische Sicherheit im Unternehmen, 1994, 137, 164. 58

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werden können. Im Zusammenhang mit der Verletzung solcher Pflichten glaube ich, daß es sich um den Fall unmittelbar persönlicher Täterschaft handelt, jedoch im Sinne von echten Unterlassungsdelikten (Verletzung der Pflicht, Delikte zu verhindern oder anzuzeigen, Verletzung der Verpflichtung, Hilfe zu leisten, siehe §§ 138, 323 c StGB). 2. Zweite Gruppe: Rechtswidrige Entscheidungen, die späterer Ausführung bedürfen a) Ausgehend von einem restriktiven Konzept der Täterschaft sowie der Notwendigkeit der Teilnahme des Mittäters im Ausführungsstadium werden in diesen Fällen die anfänglichen Reflexionen besonders relevant: Daß eine Reihe von Subjekten, die Mitglieder eines Kollegialorgans sind, eine Übereinkunft treffen, deren spätere Ausführung zu einem Delikt führt, macht diese noch nicht automatisch zu Mittätern. In diesem Augenblick (dem der Erzielung der Ubereinkunft) befinden wir uns noch in der Vorbereitungsphase des Delikts. Falls die Ausführung, wie dies meistens geschieht, anderen Personen obliegt, ergeben sich die folgenden Möglichkeiten der strafrechtlichen Verantwortungsbegründung: aa) Die erste Hypothese ist die einer mittelbaren Mittäterschaft der Mitglieder des betreffenden Kollegialorgans: Die an der Entscheidung Beteiligten führen das Delikt nicht selbst aus, sondern durch andere (in Wirtschaftsunternehmen im Falle von Kollegialorganen der Firmen oder innerhalb der Verwaltung im Falle von im Bereich der öffentlichen Verwaltung getroffenen kollegialen Entscheidungen), durch welche sie die Erfüllung des Deliktstatbestandes bestimmen (oder beherrschen). 61 Im Prinzip ist die mittelbare (Mit-)Täterschaft in den Fällen ziemlich einfach zu begründen, in denen eine Nötigung oder ein Tatbestandsirrtum der die Tat materiell Ausführenden gegeben ist. Solche Fälle sind ziemlich häufig, vor allem in den unteren Rängen sowohl in Wirtschaftsunternehmen als auch in der Verwaltung, in welchen die Kenntnisse der faktischen und rechtlichen Situation begrenzt zu sein pflegen. Eine mittelbare Täterschaft ist auch dort zu finden, wo das „untergeordnete" Subjekt gerechtfertigt handelt oder in einer Situation von Unzumutbarkeit oder Verbotsirrtum, obwohl hier die Literatur nicht mehr einstimmig ist. bb) Problematischer ist die Zulässigkeit dieser Figur in den Fällen, in denen die unmittelbar Ausführenden oder die dem Entscheidungsträger hierarchisch nachstehenden Untergebenen vorsätzlich handeln und in vollem Umfang straf61 Uber mittelbare Täterschaft vgl. u. a. LK-Roxin (Fn. 30), § 25 Rn. 53 ff; ders. Täterschaft (Fn. 34), 141 ff, 638 ff; Huber Die mittelbare Täterschaft beim gemeinen vorsätzlichen Begehungsdelikt, 1995, passim; Hernández Plasencia La autoría mediata en Derecho penal, 1996, passim; Schönke/Schröder/Cramer StGB, "1997, § 25 Rn. 6ff.

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rechtlich selbst verantwortlich sind. 62 Hier sieht es so aus, daß unter Anwendung des Prinzips der Selbstverantwortlichkeit deren (direkte oder mittelbare) Täterschaft zu bejahen ist, während die Entscheidungsträger als bloße Beteiligte (Anstiftung oder notwendige Beihilfe) zu betrachten sind. Doch diese Lösung, obwohl sicherlich korrekt in einigen Fällen, in denen die „organisatorische Herrschaft" 63 wirklich nicht so intensiv ist und keinesfalls von einer Instrumentalisierung der Untergebenen gesprochen werden kann, auch wenn die vorgesetzten Subjekte über den vollständigsten einen kompletten Uberblick über die faktische und juristische Situation verfügen, zeigt sich in vielen anderen Fällen als nicht zufriedenstellend, in denen es fragwürdig wird, von Selbstverantwortlichkeit der Untergebenen zu sprechen. Sind die hierarchischen Zwischenstufen wirklich „komplett verantwortlich" und frei, wenn wir sie zum Beispiel in eine Unternehmensstruktur integriert vorfinden, welche sie aller Art von Druckausübungen unterwirft, wo das Hierarchieprinzip herrscht und ein hoher Vertretbarkeitsgrad existiert, der um so höher ist, je niedriger die Rangstufe des Subjekts ist? 64 In einigen besonderen Fällen wäre dort vielleicht die Gedankenkonstruktion des „Täters hinter dem Täter" im Rahmen von organisierten Machtapparaten anwendbar, wie seinerzeit Roxin65 vorschlug, oder eine ähnliche Struktur, die nicht so sehr auf der Idee der Vertretbarkeit des Instruments beruht (ein zusätzlicher Gesichtspunkt, doch weder der einzige noch der relevanteste), sondern auf dem besseren Wissen sowie der Herrschaft und der Kontrolle über die Organisation auf Grund ihrer legalen Befehlsmacht, und zwar unabhängig von der Verantwortlichkeit des unmittelbaren Ausführers. 66 Doch keine dieser Strukturen kann ganz allgemein und ohne genaue Betrachtung des konkreten Falles angewandt werden, denn von dessen näheren Umständen hängt es ab, ob wir von einer Instrumentalisierung des anderen bzw. von der Herrschaft oder Bestimmung der Geschehnisse durch die Unternehmensstruktur reden können, was alles unerläßliche Bedingungen sind, um eine mittelbare Täterschaft annehmen zu können. b) Zum Abschluß möchte ich nur noch darauf hinweisen, daß wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen dürfen, daß vor allem die Figur der unechten Unterlassung zur Begründung der Zurechnung eines Deliktes (als Mittäter) an diejenigen Subjekte, die die Entscheidungen treffen, an deren späterer Ausführung jedoch weder von einer hierarchisch übergeordneten Position aus noch in 6 2 In diesem Sinne auch Silva Sánchez Responsabilidad penal de las empresas y sus órganos en Derecho español, in: Silva/Schünemann/Figueiredo (Hrsg.), Fundamentos de un sistema europeo de Derecho penal, 1995, 369 f; Díaz y García Conlledo Autoría mediata, Vortrag am III. Congreso de estudiantes de Derecho penal, Universität Barcelona, 1996, 30. 63 Silva Sánchez (Fn. 62), 371. 6 4 Vgl. Schünemann wistra 1982, 41 ff (= A D P C P 1988, 5 2 9 f f , 533). 65 Roxin G A 1963, 193 ff; ders. FS für Lange, 1976, 192 ff; ders. Täterschaft (Fn. 34), 242 ff. 6 6 Ähnlich Schünemann Unternehmenskriminalität (Fn. 56), 103; Silva Sánchez (Fn. 62), 370 f; Díaz y García Conlledo (Fn. 62), 30.

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funktioneller Arbeitsteilung beteiligt sind. In diesem Zusammenhang sind die Beiträge von Schünemann67 besonders einleuchtend, welchen ich mich im wesentlichen anschließe. Doch bedeutet dies nicht, die Existenz einer allgemeinen Garantenpflicht des Unternehmers oder des hierarchisch Vorgesetzten zu akzeptieren. Dies halte ich im Rahmen einer Strafgesetzgebung, in welcher das Prinzip der persönlichen Verantwortung für das eigene Verhalten hochgehalten wird, für unannehmbar. Die Gleichbedeutung einer Unterlassung mit einem aktiven T u n 6 8 kann nur dort bejaht werden, wo der zur Entscheidung Befähigte eine effektive Herrschaft über die Gefahrenquelle besitzt, eine Herrschaft, die gerade aus der Sphäre der eigenen Zuständigkeit des Subjektes erwächst, was den Unterschied ausmacht, ob seine Unterlassung ein Risiko im Sinne eines normativen bzw. sozialen Ergebnisses schafft oder erhöht. Dies kann in vielen Fällen anzutreffen sein, doch möchte ich hier erneut hervorheben, daß dies im jeweils konkreten Fall zu überprüfen ist und daß dabei die Zuständigkeiten des Subjektes, seine Handlungsbefähigung sowie die materielle Bedeutung, die die Unterlassung seiner Handlungsverpflichtung mit sich bringt, in Rechnung zu stellen sind. Keinesfalls darf dies automatisch geschehen, denn sonst würde man letztlich eine Art von objektiver Verantwortlichkeit der für die Entscheidungen zuständigen Entscheidungsorgane in einer mehr oder weniger komplexen Unternehmens- bzw. Verwaltungsstruktur statuieren.

67 Schünemann Unternehmenskriminalität (Fn. 56), 89 ff, 95 ff; ders. wistra 1982, 42 ff ( = ADPCP 1988, 533 ff). Zust. auch Silva Sänchez (Fn. 62), 371 f. 6 8 Vgl. oben Fn. 59.

Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen LOTHAR KUHLEN

I. Einleitung Ein großer Fortschritt der Strafrechtsdogmatik liegt in der, wesentlich von Roxin mitbestimmten, Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung. 1 Sie hat sich in der heutigen Strafrechtswissenschaft weitgehend durchgesetzt. Im folgenden Beitrag geht es weder darum, die Grundfrage nach ihrer Berechtigung erneut zu erörtern, noch darum, zu nach wie vor umstrittenen Einzelfragen Stellung zu nehmen. Ich möchte vielmehr zeigen, daß diese Lehre einen erheblich größeren Anwendungsbereich hat, als man heute ebenso einhellig wie stillschweigend annimmt. Die objektive Zurechnung wird ganz überwiegend als Problem der Tatbestandslehre, des näheren als objektive Tatbestandsvoraussetzung des Erfolgsdelikts aufgefaßt. 2 Lediglich Puppe hat sich für eine „Weiterentwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung auch in der Rechtfertigungsdogmatik" ausgesprochen. 3 Diese Aufforderung ist jedoch bisher, soweit ersichtlich, ohne jede Resonanz geblieben. 4 Dabei ist es bereits prima facie außerordentlich plausibel, daß auch im Rahmen der Rechtswidrigkeit die objektive Zurechnung bedeutsam ist. Das ergibt sich aus ihrer Funktion in der strafrechtlichen Unrechtslehre. In dieser geht es zunächst darum, das Verhalten zu bestimmen, das ex ante beurteilt (in tatbestandsmäßiger Weise) gegen eine Norm verstößt. Der so festgelegte Kreis des strafrechtlichen Unrechts wird dann durch Verneinung der objektiven Zurechnung des Erfolges zur Handlung weiter eingeschränkt, soweit ex post betrachtet die Normbefolgung keinen Beitrag zum bezweckten Rechtsgüterschutz geleistet hätte. 5 Vgl. dazu nur Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 11 sowie jüngst Schünemann G A 1999, 207. Bustos Ramirez GS für Armin-Kaufmann, 1989, 213, 229 ff lokalisiert zwar die objektive Zurechnung in der Rechtswidrigkeit, aber ohne sachlichen Unterschied zur h. M., d. h. ohne die Frage einer objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen zu thematisieren. 3 Puppe J Z 1989, 728, 729; vgl. auch Puppe JR 1994, 515. 4 Auch Puppe selbst behandelt in ihrer umfangreichen Abhandlung über die objektive Zurechnung in Jura 1997, 408, 513, 624 sowie Jura 1998, 21 das Problem der objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen nicht. 5 Prägnante Formulierung dieses Grundgedankens der objektiven Zurechnung bei Schünemann (Fn. 1), 215 ff. 1

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Folgt man nun der tradierten und zweckmäßigen Trennung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, so spaltet man das Ex-ante-Urteil über die strafrechtlich relevante Normwidrigkeit des Verhaltens auf und muß es dementsprechend in zwei Teilschritten begründen: zunächst als prima facie pflichtwidriges (sorgfaltswidriges, tatbestandsmäßiges), sodann als definitiv pflichtwidriges, da nicht gerechtfertigtes Verhalten. D a n n muß aber auch die M ö g lichkeit einer ex post erfolgenden Unrechtseinschränkung durch Verneinung der objektiven Zurechnung zweimal gegeben sein: zunächst (wie heute fast allgemein anerkannt) nach Feststellung des tatbestandsmäßigen Verhaltens im Rahmen des objektiven Tatbestandes, sodann (wie hier postuliert) wenn feststeht, daß das tatbestandsmäßige Verhalten nicht gerechtfertigt und damit definitiv normwidrig war, im Rahmen der objektiven Rechtswidrigkeit. 6 D i e heutige Lehre von der objektiven Zurechnung verzichtet auf diesen zweiten Zurechnungsschritt und bleibt damit auf halbem Wege stehen. F ü r diesen zweiten Schritt ist es erforderlich, zu klären, was objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen eigentlich bedeutet. Ich möchte das nicht (nur) abstrakt tun, sondern am Beispiel der Einwilligung und dort des näheren an einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs z u m Arztstrafrecht. D a s wird nicht nur der Verdeutlichung dienen, sondern zugleich zeigen, daß die objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen, ungeachtet ihrer dogmatischen Vernachlässigung, der Sache nach in der Praxis bereits anerkannt wird.

II. Wirkliche, mutmaßliche und hypothetische Einwilligung 1. In der allgemeinen Strafrechtsdogmatik unterscheidet man heute 7 zwei Arten der Einwilligung: die wirkliche und die mutmaßliche. Erstere 8 muß als Wille oder Erklärung tatsächlich gegeben sein. 9 Ist sie wirksam, schließt sie das Unrecht der Tat aus, nach herrschender Meinung durch deren Rechtfertigung, nach anderer Ansicht bereits durch Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit 1 0 . Bei

6 Wenn man die Prüfung der Normwidrigkeit teils beim Tatbestand, teils erst in der Rechtswidrigkeit vornimmt, kann man, entgegen der heute dominierenden Ansicht, das Korrektiv der objektiven Zurechnung nicht auf den Tatbestand beschränken. Die objektive Zurechnung insgesamt erst in der Rechtswidrigkeit zu prüfen (so Bustos Ramirez [Fn. 2], 229 ff), ist logisch möglich, aber ebenso unzweckmäßig, wie es eine entsprechend einheitliche, d. h. auf die Trennung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit verzichtende, Prüfung der Normwidrigkeit wäre. 7 Neben dem Einverständnis, dessen Vorliegen bereits die Erfüllung einzelner Merkmale des Deliktstatbestandes ausschließt, wie etwa die Zustimmung zur Gewahrsamsaufhebung bei der Wegnahme oder zum gewünschten Verhalten bei der Nötigung. Vgl. Roxin (Fn. 1), § 13 Rn. 2 ff. 8 Die in der Folge gemeint ist, wenn ohne weiteres von Einwilligung gesprochen wird. 9 Wobei umstritten ist, ob eine Zustimmungserklärung nötig ist oder ein intern bleibender Zustimmungsiw7/e genügt. Vgl. Roxin (Fn. 1), § 13 Rn. 42 ff einerseits; Jakobs Strafrecht AT, 2 1991, 7/115 andererseits. 10 Roxin (Fn. 1), § 13 Rn. 12 ff.

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fehlender wirklicher kommt eine mutmaßliche Einwilligung in Betracht. Voraussetzung dafür ist zum einen, daß sich eine wirkliche Einwilligung mit zumutbarem Aufwand nicht einholen läßt, zum anderen, daß im Handlungszeitpunkt das Urteil (die „Mutmaßung") begründet ist, der von der Handlung Betroffene würde ihr, wenn er dazu befragt würde, zustimmen. Ist die mutmaßliche Einwilligung wirksam, so schließt sie, ebenso wie die wirkliche, das Unrecht der Tatbestandserfüllung aus, und zwar durch deren Rechtfertigung11. Die größte praktische Bedeutung haben wirkliche und mutmaßliche Einwilligung für die Rechtfertigung ärztlicher Heileingriffe. Vor allem in der zivilrechtlichen, daneben aber auch in der strafrechtlichen Judikatur zur Arzthaftung begegnet ein fest etablierter dritter Terminus, die hypothetische Einwilligung12. Von hypothetischer Einwilligung spricht man dort, wo die Zustimmung eines Patienten zum Heileingriff wegen eines Aufklärungsmangels unwirksam ist, der Patient aber bei genügender Aufklärung dem Eingriff gleichfalls (und dann: wirksam) zugestimmt hätte. Auch die hypothetische Einwilligung schließt die Strafbarkeit aus. Daß sie mit der wirklichen Einwilligung nicht identisch ist, liegt auf der Hand. Trotz einer starken Ähnlichkeit ist die hypothetische aber auch von der mutmaßlichen Einwilligung nicht nur terminologisch, sondern sachlich unterschieden. Insbesondere wird die Strafbarkeit des Arztes wegen hypothetischer Einwilligung des Patienten meist in solchen Fällen ausgeschlossen, in denen eine pflichtgemäße Aufklärung ohne weiteres möglich war, womit eine wesentliche Voraussetzung der mutmaßlichen Einwilligung fehlt. Für den an der vertrauten Dichotomie von wirklicher und mutmaßlicher Einwilligung orientierten Strafrechtler wirft die hypothetische Einwilligung einige Probleme auf, denen die Strafrechtsdogmatik bislang nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet hat. Material stellt sich zunächst die Frage, was eigentlich von der Subsidiarität der mutmaßlichen gegenüber der wirklichen Einwilligung13 bleibt, wenn die Strafbarkeit auch durch eine bloß hypothetische Einwilligung desjenigen ausgeschlossen wird, dessen Zustimmung man ohne weiteres einholen konnte, aber nicht eingeholt hat. Führt nicht der Sache nach die hypothetische Einwilligung zu einer erheblichen und entsprechend begründungsbedürftigen Einschränkung des subsidiären Charakters der mutmaßlichen Einwilligung? Daneben fragt sich, in welchem dogmatischen Verhältnis die hypothetische zur wirklichen und mutmaßlichen Einwilligung steht. Wollte man sie als weiteren Recht11 Die mutmaßliche Einwilligung fassen auch solche Autoren als Rechtfertigungsgrund auf, die in der wirklichen Einwilligung einen Tatbestandsausschließungsgrund sehen. Vgl. Roxin (Fn. 1), § 13 Rn. 12 ff, § 18 Rn. 3. 12 Vgl. dazu aus der strafrechtlichen Judikatur bzw. Literatur B G H R StGB § 223 Abs. 1 Heileingriff 2; B G H J R 1996, 69, 71 mit Anm. Rigizahn J R 1996, 72, 73 und Ulsenheimer NStZ 1996, 132, 133 sowie Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 2 1998, Rn. 130ff. Aus zivilrechtlicher Sicht mit zahlreichen Rechtsprechungshinweisen Deutsch Medizinrecht, 4 1999, Rn. 160 ff; Laufs/Uhlenhruck Handbuch des Arztrechts, 2 1999, § 67 Rn. 3 f. 13 Dazu Roxin (Fn. 1), § 18 Rn. 10 ff.

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fertigungsgrund neben wirklicher und mutmaßlicher Einwilligung auffassen, so würde sie letzterer fast jede eigenständige Bedeutung nehmen. 14 So ist die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung freilich nicht zu verstehen. Es handelt sich bei ihr nicht um einen eigenen Rechtfertigungsgrund, sondern um einen mit der wirklichen oder mutmaßlichen Einwilligung zusammenhängenden Strafbarkeitsausschluß. Wenn dieser auf eine fehlende „Kausalität des Aufklärungsmangels" 15 zurückgeführt wird, so ist immerhin das strafrechtsdogmatische Problem der hypothetischen Einwilligung zutreffend benannt. Es geht um einen Ausschluß der objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsmängeln. 16 2. Dieser Zurechnungsausschluß sei an einer Entscheidung des B G H verdeutlicht, der folgender 17 Sachverhalt zugrunde lag. Der Angeklagte A, Chefarzt einer Universitätsklinik für Neurochirurgie, führte im Jahr 1990 mehrfach einen bestimmten Eingriff („HWS-Disc-Ektomie") durch, bei dem eine abgenutzte Halsbandscheibe entfernt wird. An ihre Stelle wird zwischen die angrenzenden Wirbelkörper ein „Abstandhalter" eingesetzt. Dafür wurden damals in Deutschland üblicherweise Eigenknochen verwendet, die durch einen zusätzlichen operativen Eingriff in den Beckenkamm des Patienten gewonnen wurden (Methode a). A benutzte statt dessen seit 1990 routinemäßig Rinderknochen („Surgibone-Dübel"), was in anderen Ländern wie z. B. Kanada gebräuchlich war (Methode b). Ein derartiger Dübel war ein nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) zulassungspflichtiges, aber 1990 vom Bundesgesundheitsamt (BGA) nicht zugelassenes Arzneimittel. Methode b hat den Vorteil, daß sie keinen zusätzlichen operativen Eingriff 18 erfordert. Für Methode a spricht, daß ein Eigenknochen „aus sich heraus zur knöchernen Verbindung der angrenzenden Wirbelkörper und damit zu der erwünschten Festigkeit" beitragen kann, während der Surgibone-Dübel lediglich als „Gerüst ... für das Knochenwachstum aus den angrenzenden Wirbelkörpern" fungiert. 19 Bei Methode b besteht deshalb „über eine längere Zeit die Gefahr von Spankomplikationen" 20 . Derartige Kompliktionen traten nach einem von A durchgeführten Eingriff auch beim Patienten P auf. 21 P war zwar über allgemeine (d. h. unabhängig von 14 Denn wenn der Betroffene zwar nicht wirklich eingewilligt, auf Anfrage aber wirksam zugestimmt hätte, so wäre der Eingriff durch hypothetische Einwilligung gerechtfertigt, ohne daß es noch auf die (für die mutmaßliche Einwilligung wichtige) Frage ankäme, ob man den Betroffenen fragen kann oder nicht. 15 So etwa Schönke/Schröder/£jer StGB, 25 1997, § 223 Rn. 40; Ulsenheimer (Fn. 12) NStZ 1996, 133; Puppe (Fn. 3) JR 1994, 515. 16 Vgl. Taupitz 50 Jahre BGH - Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. I, 2000, 497 ff. 17 Hier vereinfacht und modifiziert wiedergegebener. 18 Mit dem Risiko „einer erheblichen Schmerzbildung, einer Infektion an dieser Stelle sowie ... einer Schwächung des Beckenkamms" (BGH JR 1996, 69). 1 9 BGH JR 1996, 69, 70. 2 0 Des näheren: „Dislokation, Ausstoßung, Zusammenbruch, Resorption des Spans oder Einbruch in die Wirbelkörper" (BGH JR 1996, 69, 70). 2 1 Im Originalfall darüber hinaus bei fünf weiteren Patienten.

Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen

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der Entscheidung für Methode a oder b bestehende) Risiken der Operation, insbesondere Tod, Querschnittslähmung und Erfolglosigkeit des Eingriffs aufgeklärt worden,22 nicht aber über die von A angewandte Methode b (Verwendung eines Dübels aus Rinderknochen), das mit ihr verbundene (gegenüber Methode a) erhöhte Komplikationsrisiko und den Umstand, daß der verwendete Dübel nach dem AMG zulassungspflichtig, aber nicht zugelassen war. Das Landgericht hatte A wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt. Der BGH hob das Urteil auf und stützte diese Entscheidung im wesentlichen auf die folgenden Gründe. Der von A durchgeführte Eingriff sei eine tatbestandsmäßige Körperverletzung gewesen,23 die „grundsätzlich der wirksamen Einwilligung" des B bedurfte, „um rechtmäßig zu sein" 24 . P habe zwar der Operation zugestimmt, seine Einwilligung sei aber nicht wirksam gewesen. Ein (zur Unwirksamkeit der Einwilligung führender) Aufklärungsmangel liege zwar nicht schon darin, daß A den P nicht auf die Verwendung von Methode b, damit eines „Abstandhalters" aus körperfremdem Material hinwies.25 Ob A den P über das besondere Risiko der Methode b im Vergleich zur Methode a (höhere Gefahr von Spankomplikationen) aufklären mußte, läßt der BGH offen. 26 Die unterbliebene Aufklärung des P über die Nicht-Zulassung des verwendeten Dübels 27 sei dagegen ein Aufklärungsmangel, der die Unwirksamkeit der Einwilligung zur Folge habe.28 War somit der objektive Einwilligungstatbestand nicht erfüllt, so handelte A doch in einem Erlaubnistatbestandsirrtum. Er nahm nämlich an, die SurgiboneDübel seien vom BGA zugelassen,29 Falls der Risikounterschied zwischen den Methoden a und b „Gewicht" hatte, 30 ging A davon doch nicht aus.31 Auch insoweit handelte er also jedenfalls in einem Erlaubnistatbestandsirrtum, der B G H J R 1996, 69, 72. Obwohl der Eingriff ohne Behandlungsfehler durchgeführt wurde. O b die Wahl von Methode b der lex artis, „dem medizinischen Standard" entsprach, läßt der B G H offen ( B G H J R 1996, 69, 70 f). 2 4 B G H J R 1996, 69, 70. Diese bekanntlich sehr umstrittene, der ständigen Judikatur entsprechende Auffassung des ärztlichen Heileingriffs als tatbestandsmäßige Körperverletzung und der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund wird in der Folge ohne weiteres zugrunde gelegt. 2 5 B G H J R 1996, 69, 70. 2 6 Das Landgericht hatte die Frage bejaht. Nach Auffassung des B G H war diese Aufklärung nur geboten, wenn zwischen Methode a und b ein „Unterschied von Gewicht" bestand, was sich aus den Feststellungen nicht mit hinreichender Deutlichkeit ergab ( B G H J R 1996, 69, 70). 2 7 Von der P auch nicht „aus anderer Quelle" wußte ( B G H J R 1996, 69, 71). 2 8 B G H J R 1996, 69, 71. Auch die dargestellte Beurteilung der Aufklärungspflichten des A und der korrespondierenden (Un-)Wirksamkeit der von P erteilten Einwilligung lege ich den folgenden Ausführungen ohne weiteres zugrunde. Zur Diskussion vgl. Ulsenheimer (Fn. 12) NStZ 1996, 132 f; Rigizahn (Fn. 12), 72 f. 2 9 B G H J R 1996, 69, 71. 3 0 So daß auch die insofern bestehende Unkenntnis des nicht entsprechend aufgeklärten P seine Einwilligung unwirksam machte. 3 1 Er nahm vielmehr an, daß Komplikationen bei Methode b „nicht häufiger zu erwarten" seien als bei Methode a ( B G H J R 1996, 69, 71). 22

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„wie ein den Vorsatz ausschließender Irrtum über Tatumstände nach § 16 Abs. 1 StGB zu bewerten" 32 sei. Damit kam lediglich fahrlässige Körperverletzung in Betracht. Selbst wenn der Erlaubnistatbestandsirrtum auf Fahrlässigkeit beruhte, 33 konnte nach Auffassung des BGH A's Strafbarkeit noch aus weiteren Gründen ausgeschlossen sein. Zum einen konnte sich das aus einer hypothetischen Einwilligung des P ergeben. Denn „Aufklärungsmängel können ... eine Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung nur begründen, wenn der Patient bei einer den Anforderungen genügenden Aufklärung in den Eingriff nicht eingewilligt hätte". 34 Zum anderen konnte sich nach Ansicht des BGH ein Strafbarkeitsausschluß auch „unter dem Gesichtspunkt des Schutzzweckgedankens ergeben", des näheren daraus, daß „die Strafbarkeit eines Arztes wegen unzureichender Patientenaufklärung entfällt, wenn sich als Folge eines mit Einwilligung des Patienten vorgenommenen Eingriffs ein Risiko realisiert, das nicht in den Schutzbereich der verletzten Aufklärungspflicht fällt". 35 Hierauf sei „gerade dann zu achten", wenn sich in der erneuten Hauptverhandlung ergeben sollte, „daß das Risiko von Spankomplikationen bei der Verwendung von ,Surgibone' infolge der längeren Fusionszeit in einer Weise gesteigert ist, daß es der Aufklärung über diesen Umstand bedurfte". 36 Denn jedenfalls dieses spezifische Risiko habe sich in den bei den Patienten eingetretenen Komplikationen nur dann verwirklicht, „wenn sich die Störungen erst zu einer Zeit einstellten, zu der bei der Verwendung von Eigenknochen die feste knöcherne Verbindung bereits erreicht gewesen wäre". 37

III. Dogmatische Struktur der objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen Die Ausführungen des BGH zur hypothetischen Einwilligung und zum Schutzbereich von Aufklärungspflichten werfen die Frage auf, wo diese Sachgesichtspunkte im Straftatsystem zu lokalisieren sind und wie der vom BGH für möglich gehaltene Strafbarkeitsausschluß zu verstehen ist. 38 B G H JR 1996, 69, 71. Wenn also A „bei Aufbringung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen können, daß ,Surgibone-Dübel' vom B G A als Arzneimittel nicht zugelassen waren" (BGH JR 1996, 69, 71), oder wenn, wie man hinzufügen muß, gegebenenfalls (d. h. bei einem zwischen Methode a und b bestehenden Risikounterschied „von Gewicht") der A das erhöhte Risiko von Spankomplikationen bei Methode b erkennen mußte. 3 4 B G H JR 1996, 69, 71 mit weiteren Hinweisen zur hypothetischen Einwilligung. 3 5 B G H JR 1996, 69, 72. 3 6 B G H JR 1996, 69, 72. 3 7 B G H JR 1996, 69, 72. 3 8 Umstritten, aber doch recht gut geklärt ist die entsprechende Frage für den Erlaubnistatbestandsirrtum. Ist ein Rechtfertigungsgrund objektiv nicht erfüllt, so ist beim Vorsatzdelikt (wegen der negativen Formulierung der Rechtfertigungs- als Strafausschließungsgründe) noch zu prüfen, ob ein Erlaubnistatbestandsirrtum vorliegt, der den Vorsatz (oder doch die Vorsatz32

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Betrachtet man die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund, kann die P r ü fung einer hypothetischen Einwilligung und der Frage, ob der Eintritt eines Verletzungserfolges im Schutzbereich verletzter Aufklärungspflichten liegt, nicht im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit, sondern frühestens in der Rechtswidrigkeit erfolgen. 3 9 In der Sache stimmen die v o m B G H erörterten Kriterien mit Strafbarkeitsvoraussetzungen überein, die in der heutigen Tatbestandslehre zur objektiven Zurechnung gezählt werden. Die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung ist augenscheinlich eine Ausprägung des in der Tatbestandslehre anerkannten Zurechnungsausschlusses bei fehlendem Pflichtwidrigkeitszusammenhang.40 D e r Strafbarkeitsausschluß für Körperverletzungen, die außerhalb des Schutzbereichs der verletzten Aufklärungspflicht liegen (in denen sich nicht das spezifische Risiko verwirklicht, das mit dem Aufklärungsmangel verbunden ist), beruht auf dem gleichen Grundgedanken wie der Z u rechnungsausschluß für tatbestandliche Erfolge, die außerhalb des Schutzbereichs der durch das unerlaubt riskante Verhalten verletzten N o r m liegen, d. h. in denen sich nicht das spezifische Risiko dieses Verhaltens verwirklicht (fehlender Risikozusammenhang).41 Da es u m eine jedenfalls im Kern identische Zurechnungsproblematik geht, liegt es nahe, die hypothetische Einwilligung und den Schutzbereich der verletzten Aufklärungspflicht beim Rechtfertigungsgrund der Einwilligung in struktureller Analogie zu den Kriterien der objektiven Zurechnung in der Tatbestandslehre zu behandeln. 4 2 Die objektive Zurechnung des tatbestandlich strafbarkeit) ausschließt. Stützen kann man das auf eine entsprechende Definition des Tatvorsatzes, wonach ein Täter nur dann vorsätzlich handelt, „wenn er eine Tat und Tatumstände annimmt, die die objektiven Voraussetzungen eines Deliktstatbestandes erfüllen, und wenn es außerdem nicht der Fall ist, daß er von einer Tat und von Tatumständen ausgeht, die die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungstatbestandes erfüllen" (Hruschka Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 21988, 197). Nach der m. E. vorzugswürdigen „Unrechtstheorie" (so der von HerzbergjA 1989, 294, 295 vorgeschlagene Terminus) ist der Erlaubnistatbestandsirrtum im subjektiven Rechtfertigungstatbestand, also im Rahmen der Rechtswidrigkeit, zu prüfen. Zur Gegenauffassung siehe Wessels/Beulke Strafrecht AT, 3°2000, Rn. 479. 39 Rechnet man, wie üblich, die Kausalität zum Tatbestand des Erfolgsdelikts, läßt sich das Problem (entgegen Puppe [Fn. 3], JZ 1989, 729) daher auch nicht der Kausalitätsbeziehung zuordnen. 4 0 Vgl. dazu, insbesondere zum Streit zwischen Vermeidbarkeitslehre und Risikoerhöhungstheorie, Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 76 ff; Küper FS für Lackner, 1987, 247, 282. 41 Vgl. Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 67 ff. 42 Dabei wird folgender Aufbau des objektiven Tatbestandes (beim aktiv begangenen vollendeten schlichten Erfolgsdelikt) zugrunde gelegt: 1. Handlung 2. Erfolg 3. Kausalität zwischen Handlung und Erfolg 4. Rechtlich mißbilligte Gefahrschaffung (Sorgfaltswidrigkeit oder Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens) 5. Objektive Zurechnung des Erfolges zur Handlung a) Pflichtwidrigkeitszusammenhang b) Risikozusammenhang. Dieses Tatbestandsverständnis, insbesondere die Konzeption der objektiven Zurechnung, wird in der Folge nur soweit erläutert, wie das zur Vermeidung von Mißverständnissen erfor-

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v o r a u s g e s e t z t e n E r f o l g e s z u m t a t b e s t a n d s m ä ß i g e n Verhalten ist im R a h m e n des objektiven

Tatbestandes

z u p r ü f e n , ihr F e h l e n schließt die E r f ü l l u n g des

objektiven T a t b e s t a n d e s eines vollendeten Delikts aus. D e m e n t s p r e c h e n d sind der (bei h y p o t h e t i s c h e r Einwilligung fehlende)

Pflichtwidrigkeitszusammen-

hang und der R i s i k o z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n A u f k l ä r u n g s m a n g e l u n d E r f o l g im R a h m e n der objektiven

Rechtswidrigkeit

z u p r ü f e n , ihr F e h l e n schließt das

objektive U n r e c h t eines vollendeten Delikts aus. P r ü f t m a n den T a t b e s t a n d eines Erfolgsdelikts, ist die objektive Z u r e c h n u n g im A n s c h l u ß an die rechtlich mißbilligte G e f a h r s c h a f f u n g 4 3 u n d v o r d e m s u b jektiven T a t b e s t a n d z u e r ö r t e r n . 4 4 D e m e n t s p r e c h e n d ist auf die objektive Z u r e c h n u n g im R a h m e n der R e c h t s w i d r i g k e i t s p r ü f u n g einzugehen, w e n n feststeht, daß das Verhalten nicht

objektiv gerechtfertigt w a r . 4 5 O b j e k t i v g e r e c h t -

fertigt ist ein Verhalten, das die objektiven V o r a u s s e t z u n g e n eines R e c h t f e r t i g u n g s g r u n d e s e r f ü l l t . 4 6 Ist das der Fall, fehlt es a m objektiven U n r e c h t einer vollendeten Tat, o h n e daß es n o c h auf die F r a g e der objektiven Z u r e c h n u n g a n k ä m e . 4 7 W a r die H a n d l u n g nicht objektiv gerechtfertigt, k a n n das U n r e c h t eines vollendeten Delikts aber n o c h d a d u r c h ausgeschlossen sein, daß die o b jektive Z u r e c h n u n g des E r f o l g e s z u m Verhalten s c h e i t e r t . 4 8 E n t g e g e n d e m üblichen Verständnis ist also die P r ü f u n g der objektiven R e c h t s w i d r i g k e i t b e i m vollendeten D e l i k t n o c h nicht abgeschlossen, w e n n fest-

derlich erscheint. Die hier interessierende Übertragung der objektiven Zurechnung auf Rechtfertigungsgründe wird auch nicht davon berührt, wie man das ein oder andere kontroverse Detail der Tatbestandslehre, und dort: der objektiven Zurechnung, versteht. 4 3 Vgl. dazu Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 47 ff. O b ein Verhalten unerlaubt riskant ist, ist ex ante zu beurteilen. O b die Voraussetzungen der objektiven Zurechnung erfüllt sind, bestimmt sich dagegen (ebenso wie die Kausalität) ex post (vgl. Schünemann [Fn. 1], 215 ff). Daß ein Verhalten unerlaubt riskant (und damit prima facie pflichtwidrig) ist, gehört (entgegen Roxin [Fn. 1], § 11 Rn. 46) nicht selbst zur objektiven Zurechnung, bei der es um eine Relation zwischen diesem Verhalten und dem tatbestandlichen Erfolg geht (vgl. Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, 33 ff; Schünemann [Fn. 1], 218). Pflichtwidrigkeitsund Risikozusammenhang (Schutzbereichskriterium) sind demgemäß die wichtigsten (und jedenfalls die einzigen in der Folge berücksichtigten) Voraussetzungen der objektiven Zurechnung des Erfolges zur Handlung. Zu weiteren Zurechnungskriterien siehe Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 90 ff. 4 4 Denn erst wenn das tatbestandsmäßige, d. h. spezifisch riskante und (prima facie) pflichtwidrige Verhalten feststeht, läßt sich sinnvoll fragen, ob auf seiner Pflichtwidrigkeit der Erfolg beruht (Pflichtwidrigkeitszusammenhang) und ob sich im Erfolg das spezifisch mißbilligte Handlungsrisiko realisiert hat (Risikozusammenhang). 4 5 Denn auch hier kann man erst dann die Frage nach der objektiven Zurechnung sinnvoll stellen. 4 6 Ist ein Verhalten objektiv gerechtfertigt, wird also das Prima-facie-Urteil über seine Pflichtwidrigkeit aufgehoben. Auch bei der Rechtfertigung eines Verhaltens geht es somit um dessen (nun definitive) Ex-ante-Beurteilung. 4 7 Ebenso wie es nicht mehr auf die objektive Zurechnung im Tatbestand ankommt, wenn bereits das tatbestandsmäßige Verhalten fehlt. 4 8 Ebenso wie die fehlende objektive Zurechenbarkeit des Erfolges beim Tatbestand dazu führt, daß das unerlaubt riskante und in diesem Sinn tatbestandsmäßige Verhalten den objektiven Tatbestand des Erfolgsdelikts nicht erfüllt.

Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen

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steht, daß kein Rechtfertigungsgrund erfüllt war. Es ist vielmehr noch zu prüfen, ob der Erfolg objektiv zurechenbar darauf beruht, daß keine Rechtfertigung eingreift.49 Erst wenn diese Frage bejaht ist, steht das objektive Unrecht einer vollendeten Tat fest. Und erst dann ist gegebenenfalls im Rahmen des subjektiven Rechtfertigungstatbestandes ein Vorsatzausschluß durch Erlaubnistatbestandsirrtum zu prüfen. 50 Nach dieser Lokalisierung des Problems bleibt zu klären, wie man sich die objektive Zurechnung bei einem Rechtfertigungsgrund vorzustellen hat. Wie in der Tatbestandslehre geht es auch hier um die Zurechnung des tatbestandlichen Erfolges. Die Kriterien der objektiven Zurechnung (Pflichtwidrigkeits- und Risikozusammenhang) sind ebenfalls die gleichen wie bei der objektiven Zurechnung im Tatbestand des Erfolgsdelikts. An die Stelle der spezifisch rechtlich mißbilligten und in diesem Sinne tatbestandsmäßigen Handlung tritt dagegen die tatbestandsmäßige und nicht durch einen bestimmten Rechtfertigungsgrund objektiv gerechtfertigte Handlung. Diese Formulierung verweist auf ein spezifisches Problem der objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen. Der negativen Voraussetzung, nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt zu sein, genügen ja auch tatbestandsmäßige Handlungen, für deren Rechtfertigung jeder Anhaltspunkt fehlt. Hier kann eine rechtswidrige vollendete Tat durch Zurechnungserwägungen nicht ausgeschlossen werden. So wird offenbar das Unrecht einer Körperverletzung, die gegen den erklärten Willen des Betroffenen oder außerhalb jeder auch nur notwehrähnlichen Situation erfolgt, nicht durch die hypothetische Überlegung beseitigt, daß bei Vorliegen einer Einwilligung oder Notwehrsituation „die gleiche" Verletzung rechtmäßig erfolgt wäre. Die Kriterien der objektiven Zurechnung kommen vielmehr nur dort zur Anwendung, wo die Erfüllung des objektiven Rechtfertigungsgrundes durch bloße Rechtfertigungsmängel ausgeschlossen war, auf denen der tatbestandliche Erfolg objektiv zurechenbar beruhen muß.51 Während bei der Tatbestandsmäßigkeit die objektive Zurechnung des tatbestandlichen Erfolges zu jedem rechtlich mißbilligten Verhalten zu prüfen ist, stellt sich also bei Rechtfertigungsgründen (ebenso wie 4 9 Diese Frage stellt sich in ganz ähnlicher Form, wenn man die Einwilligung mit Roxin (Fn. 1), § 13 Rn. 12 ff als Tatbestandsausschließungsgrund betrachtet. Auch dann ist zu beachten, daß der objektive Tatbestand (und damit ebenfalls das objektive Unrecht einer vollendeten Tat) nicht nur ausgeschlossen ist, wenn der Tatbestandsausschließungsgrund der wirksamen Einwilligung erfüllt ist, sondern auch dann, wenn er zwar nicht erfüllt ist, darauf aber der Erfolg nicht objektiv zurechenbar beruht. 5 0 Die Prüfung der objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen steht damit nicht nur in struktureller Analogie zur Zurechnungsprüfung im Rahmen des Tatbestandes. Sie weist auch eine gewisse Entsprechung zur Prüfung des Erlaubnistatbestandsirrtums auf (vgl. dazu Fn. 38). Beim vollendeten Vorsatzdelikt kann sich nach Verneinung der objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung noch die Frage anschließen, ob es (wegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums) am Unrecht einer Vorsatztat fehlt. Ebenso kann im Rahmen der Rechtswidrigkeit noch zu prüfen sein, ob (wegen fehlender objektiver Zurechnung des Erfolges) das Unrecht einer vollendeten Tat fehlt. 51 Derartige Mängel sind in der Folge gemeint, wenn abkürzend von Rechtfertigungs- oder Einwilligungsmängeln gesprochen wird.

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bei Tatbestandsausschließungsgründen) wegen ihrer negativen Formulierung das zusätzliche Problem, unter den vielen Umständen, die dazu führen können, daß ein Rechtfertigungstatbestand nicht erfüllt ist, die zurechnungsrelevanten bloßen Rechtfertigungsmängel auszuzeichnen.52 Welche Rechtfertigungsdefizite bloße Rechtfertigungsmängel im genannten Sinne darstellen, läßt sich nicht pauschal sagen. Es bedarf der Ausarbeitung mit Blick auf die einzelnen Rechtfertigungsgründe.53 Unbeschadet dieser noch ausstehenden Präzisierung läßt sich nunmehr folgender Satz aufstellen:54 war eine tatbestandsmäßige Handlung lediglich wegen eines Rechtfertigungsmangels objektiv nicht gerechtfertigt, so muß der Erfolg auf diesem Mangel objektiv zurechenbar beruhen;55 anderenfalls fehlt das objektive Unrecht einer vollendeten Tat. 56 Für die Einwilligung ergibt sich damit folgendes. Eine vollendete Tat ist nach Einwilligungsgrundsätzen ausgeschlossen, wenn der objektive Tatbestand der Einwilligung erfüllt (die Tat durch eine wirksame Einwilligung gerechtfertigt) war oder wenn die Tat zwar nicht durch eine wirksame Einwilligung gerechtfertigt war, der tatbestandliche Erfolg darauf jedoch nicht objektiv zurechenbar beruht. Letzteres ist der Fall, wenn die Einwilligung lediglich an zurechnungsrelevanten Mängeln leidet und der Erfolg nicht objektiv zurechenbar auf diesen beruht. Diese Voraussetzung wiederum ist erfüllt, wenn der Erfolg auch ohne die Einwilligungsmängel (und damit bei wirksamer Einwilligung) eingetreten wäre (fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang) oder wenn sich im Erfolg nicht das spezifische Risiko der Einwilligungsmängel realisiert hat (fehlender Risikozusammenhang). 5 2 So kann man bei der Notwehr fragen, ob in einer Notwehrsituation die Verletzung des Angreifers auf der Überschreitung des zur Verteidigung Erforderlichen objektiv zurechenbar beruht (vgl. Puppe [Fn. 3], JZ 1989, 729). Man betrachtet dann die Überschreitung des zur Verteidigung Erforderlichen als bloßen Rechtfertigungsmangel. Die hier erkennbar werdenden Abgrenzungsprobleme stellen keinen Einwand gegen die Übertragung der objektiven Zurechnung auf Rechtfertigungsgründe dar. Ahnliche Probleme begegnen auch bei der objektiven Zurechnung in der Tatbestandslehre, so bei der Frage, wieweit bei der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs hypothetische Kausalverläufe zu berücksichtigen sind. Vgl. dazu Roxin (Fn. 1), § 1 1 Rn. 52 ff. 5 3 Für die Rechtfertigungsgründe der wirklichen und mutmaßlichen Einwilligung behandle ich diese Frage in dem demnächst in der FS für Müller-Dietz erscheinenden Aufsatz „Ausschluß der objektiven Zurechnung bei Mängeln der wirklichen und der mutmaßlichen Einwilligung". 5 4 Vgl. bereits Puppe (Fn. 3), J R 1994, 515. 5 5 Liegen mehrere bloße Rechtfertigungsmängel (etwa mehrere für sich genommen zur Unwirksamkeit einer Einwilligung führende Aufklärungsmängel) vor, so genügt es für das Unrecht der vollendeten Tat, daß der tatbestandliche Erfolg auf einem dieser Rechtfertigungsmängel objektiv zurechenbar beruht. 5 6 Die Möglichkeit einer nicht objektiv gerechtfertigten Tat, die gleichwohl nicht das objektive Unrecht eines vollendeten Delikts aufweist, mag zunächst befremdlich erscheinen. Sie steht aber in völliger struktureller Übereinstimmung mit der heute fast allgemein anerkannten Möglichkeit einer spezifisch rechtlich mißbilligten und in diesem Sinne objektiv tatbestandsmäßigen Handlung, die aber wegen fehlender objektiver Zurechenbarkeit des Erfolges den objektiven Deliktstatbestand nicht erfüllt und deshalb allenfalls das Unrecht eines Versuchs begründet.

Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen

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IV. Analyse von BGH J R 1996, 69 Die dogmatische Struktur der objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen ist nun soweit geklärt, daß eine nähere Analyse der dargestellten Entscheidung des BGH und damit zugleich eine weitere Verdeutlichung des Zurechnungsausschlusses bei Rechtfertigungsmängeln möglich ist. Dabei sind auf der Tatbestandsebene (§ 223) zwei Verletzungserfolge zu unterscheiden: die unmittelbar mit dem Eingriff verbundene Verletzung der körperlichen Integrität (e) und die später aufgetretenen gesundheitsschädigenden Komplikationen (k). Beide Erfolge wurden durch die von A durchgeführte Operation verursacht. Ein Behandlungsfehler des A ist nicht ersichtlich.57 Nach der gefestigten Judikatur zum ärztlichen Heileingriff war aber die Operation wegen der mit ihr verbundenen Verletzung der körperlichen Integrität und wegen des Komplikationsrisikos ohne weiteres als tatbestandsmäßiges (rechtlich mißbilligtes) Verhalten anzusehen, e beruhte objektiv zurechenbar auf der Operation und wurde von A vorsätzlich (absichtlich) herbeigeführt. Auch k beruhte objektiv zurechenbar auf der Operation, denn die Komplikationen wären ohne sie nicht eingetreten und in ihnen realisierte sich ein typisches Risiko derartiger operativer Eingriffe.58 Ob A bezüglich k (bedingt) vorsätzlich handelte, läßt sich der Entscheidung des BGH nicht entnehmen, es sei in der Folge angenommen. 59 Die Körperverletzung könnte durch Einwilligung des P gerechtfertigt gewesen sein. P hatte der Operation zugestimmt. Die Einwilligung war aber unwirksam, weil er nicht ausreichend über die Bedeutung und Tragweite des von A durchgeführten Eingriffs informiert war. Er wußte zum einen nicht, daß der verwendete Dübel zulassungspflichtig, aber nicht zugelassen war (Aufklärungsmangel mi). Zum anderen war ihm nicht bekannt, daß Methode b mit einem erheblich höheren (weil längere Zeit bestehenden) Komplikationsrisiko verbunden war als Methode a (Aufklärungsmangel m2).60 Der den Tatbestand 5 7 Insbesondere sei angenommen, daß nicht schon die Wahl von Methode b (statt von Methode a) einen solchen Fehler darstellte (von B G H J R 1996, 69, 70 f offengelassen). 5 8 Es kommt hier nicht darauf an, ob k auch bei einer anderen Operation (nach Methode a) eingetreten wäre. Der Vergleich der Methoden a und b würde bei der objektiven Zurechnung von k im Tatbestand des § 223 nur eine Rolle spielen, wenn es ein Behandlungsfehler war, Methode b statt Methode a zu wählen, sofern es also darum ginge, ob sich in k das gegenüber a höhere Komplikationsrisiko von b verwirklichte. Daß insofern eine strengere Prüfung der objektiven Zurechnung im Tatbestand erfolgt, wenn es um einen Behandlungsfehler geht, ist nur scheinbar widersinnig. Denn wenn der Erfolg objektiv zurechenbar auf einem Behandlungsfehler beruht, so ist das nach Einwilligungsgrundsätzen nicht mehr „heilbar" (weil die Einwilligung Behandlungsfehler nicht umfaßt). Beruht der Erfolg dagegen nicht objektiv zurechenbar auf dem Behandlungsfehler, so beruht er doch ebenso wie bei nicht fehlerhafter Behandlung objektiv zurechenbar auf dem Eingriff als solchem, es kommt also auf die Einwilligung an. 5 9 Anderenfalls würde sich die Einwilligungsproblematik im Rahmen des Fahrlässigkeitsdelikts stellen. 6 0 Hier wird also angenommen, der Risikounterschied zwischen a und b habe „Gewicht" gehabt, P hätte deshalb über ihn informiert werden müssen.

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des § 2 2 3 erfüllende operative Eingriff w a r also nicht d u r c h Einwilligung des P gerechtfertigt. Bei den I n f o r m a t i o n s d e f i z i t e n des P handelt es sich j e d o c h u m bloße willigungsmängel.61

Ein-

N u r w e n n die V e r l e t z u n g e n des P auf diesen M ä n g e l n o b -

jektiv z u r e c h e n b a r b e r u h e n , weist das t a t b e s t a n d s m ä ß i g e Verhalten des A das objektive U n r e c h t einer vollendeten K ö r p e r v e r l e t z u n g auf. Z u n ä c h s t ist die objektive Z u r e c h n u n g des Verletzungserfolges e z u p r ü f e n . A u f m i b e r u h t e objektiv z u r e c h e n b a r n u r dann, w e n n e bei p f l i c h t g e m ä ß e r A u f k l ä r u n g ü b e r die N i c h t z u l a s s u n g des S u r g i b o n e - D ü b e l s nicht eingetreten w ä r e . D i e s e r Pflichtwidrigkeitszusammenhang

fehlt bei einer h y p o t h e t i s c h e n

Einwilligung, d a n n also, w e n n P auch bei K e n n t n i s v o n der N i c h t z u l a s s u n g des D ü b e l s einer O p e r a t i o n nach der M e t h o d e b z u g e s t i m m t hätte. Bleiben insofern Zweifel, „ s o ist davon a u s z u g e h e n , daß die Einwilligung auch bei o r d n u n g s g e m ä ß e r A u f k l ä r u n g erteilt w o r d e n w ä r e " . 6 2 Selbst w e n n feststeht, daß P bei K e n n t n i s v o n der N i c h t z u l a s s u n g der O p e r a t i o n s m e t h o d e b nicht z u g e s t i m m t hätte, s o h ä t t e er der O p e r a t i o n nach M e t h o d e a z u g e s t i m m t . 6 3 D a n n w ä r e die m i t d e m Eingriff v e r b u n d e n e V e r l e t z u n g e aber gleichfalls eingetreten, dieser E r f o l g b e r u h t s o m i t nicht objektiv z u r e c h e n b a r auf d e m A u f k l ä r u n g s mangel m i . 6 4 D e r V e r l e t z u n g s e r f o l g e b e r u h t auch nicht o b j e k t i v z u r e c h e n b a r auf

mj.

H ä t t e P t r o t z I n f o r m a t i o n ü b e r die V o r - u n d N a c h t e i l e der M e t h o d e n a u n d

6 1 Diese m. E. zutreffende Sachauffassung des B G H sei hier ohne weiteres zugrunde gelegt. Näher dazu Kuhlen (Fn. 53). 6 2 B G H J R 1996, 69, 71. Der B G H interpretiert damit den Pflichtwidrigkeitszusammenhang auch hier (ebenso wie bei der objektiven Zurechnung im Tatbestand) im Sinne der Vermeidbarkeitslehre, fordert also für die objektive Zurechnung, daß der Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre. Das verdient jedenfalls dann Unterstützung, wenn man der entsprechenden Auffassung in der Tatbestandslehre folgt (ebenso müßte die schwächere Interpretation des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs im Sinne der Risikoerhöhungslehre konsequent auch für die objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen gelten). Zu den zivilrechtlichen Anforderungen an den Beweis der hypothetischen Einwilligung siehe Voll Die Einwilligung im Arztrecht, 1996, 170 ff.

Von dieser naheliegenden tatsächlichen Annahme wird in der Folge ausgegangen. Daran läßt sich im Ergebnis auch durch eine Neubestimmung des tatbestandlichen Erfolges nichts ändern. Daß ein nicht-zugelassener Abstandhalter eingesetzt wurde, stellt keine Gesundheitsschädigung dar. Auch daß es sich bei dem Dübel um einen Fremdkörper aus Rinderknochen handelt, kann man schwerlich als Gesundheitsschädigung qualifizieren. Wollte man anders entscheiden, wäre ebenfalls die objektive Zurechnung dieses „Verletzungserfolges" zum Aufklärungsmangel mi zu verneinen. ZwarHtönnte man dann, falls P etwa wegen einer grundsätzlichen Abneigung gegen derartige Fremdkörper die Operation nach Methode a gewählt hätte, den Pflichtwidrigkeitszusammenhdng bejahen. Aber der „Verletzungserfolg", der in der Einfügung des Fremdkörpers liegt, liegt außerhalb des Schutzbereichs der von A verletzten Pflicht, über die Nichtzulassung des Dübels aufzuklären. Denn diese Pflicht hat den Zweck, den Patienten darüber aufzuklären, ob dem verwendeten Mittel das „Gütesiegel" (BGH J R 1996, 69, 71) der Zulassung zukam oder nicht. Sie diente dagegen nicht der Aufklärung des Patienten darüber, ob ihm ein „Interponat aus körperfremdem statt aus körpereigenem Material eingepflanzt wird", was nach Ansicht des B G H „für sich genommen" gerade noch keine Aufklärungspflicht begründet (BGH J R 1996, 69, 70). 63 64

Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen

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b einer Operation nach Methode b zugestimmt oder läßt sich diese Möglichkeit nicht ausschließen, so fehlt der Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Hätte er sich für einen Eingriff nach Methode a entschieden, gilt das gleiche, denn auch dann wäre e eingetreten. Damit stellt sich die Frage, ob k auf einem der Aufklärungsmängel beruht. Läßt sich nicht ausschließen, daß P auch bei Information über die Vor- und Nachteile von a und b der Operationsmethode b zugestimmt hätte, so fehlt der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen mj und k. Eine objektive Zurechnung von k kommt also nur in Betracht, wenn feststeht, daß sich P bei entsprechender Information gegen b entschieden hätte. Er wäre dann nach Methode a operiert worden. Auch dann konnten freilich Komplikationen wie k auftreten, wenn auch während eines kleineren Zeitraums. Trat k in diesem Zeitraum ein, läßt sich mithin nicht ausschließen, daß es auch bei einer Operation nach Methode a zu k gekommen wäre. Wegen fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs beruht k dann nicht objektiv zurechenbar auf m.2. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht vielmehr nur, „wenn sich die Störungen erst zu einer Zeit einstellten, zu der bei der Verwendung von Eigenknochen die feste knöcherne Verbindung bereits erreicht gewesen wäre". 65 Nur dann realisiert sich auch in k das spezifische (nicht auch mit a verbundene) Risiko von b, so daß k auf m2 objektiv zurechenbar beruht. Mit Blick auf mi läßt sich jedenfalls keine weitergehende objektive Zurechnung von k begründen. Hätte P von der Nichtzulassung des Surgibone-Dübels gewußt und dennoch (vielleicht) der Operationsmethode b zugestimmt, so fehlt der Pflichtwidrigkeitszusammenhang, ebenso dann, wenn k in dem Zeitraum auftrat, in dem auch bei Methode a mit derartigen Komplikationen zu rechnen war. In dem verbleibenden Fall 66 ist zwar der Pflichtwidrigkeitszusammenhang gegeben. Es ist aber fraglich, ob der erforderliche Risikozusammenhang besteht, d. h. ob sich in k das spezifische Risiko des Aufklärungsmangels mi realisierte.67 Der BGH begründet die Pflicht zur Aufklärung über die Nichtzulassung eines zulassungspflichtigen Interponats damit, daß diesem ohne die Zulassung durch das BGA „gleichsam ein Gütesiegel [fehle], das - unabhängig von dessen tatsächlicher Qualität oder Sicherheit - für die Entscheidung des einzelnen 6 5 BGH JR 1996, 69, 72. Der BGH ordnet freilich die Frage (ergebnisäquivalent) nicht dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang, sondern dem Zurechnungskriterium des Schutzzwecks zu. 6 6 P hätte bei Aufklärung über die Nichtzulassung der Operation nach Methode b nicht zugestimmt und k stellte sich erst ein, als es bei einer Operation nach Methode a nicht mehr zu Komplikationen hätte kommen können. 6 7 Die (nicht unbestrittene) zivilrechtliche Judikatur schließt nur ausnahmsweise die Haftung des Arztes wegen fehlenden Risikozusammenhangs aus und beschränkt diesen Haftungsausschluß insbesondere auf Fälle, in denen eine Grundaufklärung erfolgt ist. Vgl. B G H Z 106, 391 ( = JR 1989, 286 mit Anm. Giesen/Langkeit = VersR 1989, 514 mit Anm. Hauß); B G H NJW 1991, 2346; BGH NJW 1996, 777. Für das Strafrecht verdient diese Einschränkung des Schutzbereichsgedankens keine Zustimmung (dazu Kuhlen [Fn. 53]). BGH JR 1996, 69, 72 konnte die Frage offenlassen, weil im Fall eine ausreichende Grundaufklärung erfolgt war.

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Patienten im Geltungsbereich des A M G wesentlich sein kann, über das er mithin auch informiert sein muß". 6 8 Diese Aufklärungspflicht dient also der Information des Patienten über die „formale Zulassung", nicht aber über die „tatsächliche Unbedenklichkeit und Zuverlässigkeit des eingesetzten Arzneimittels". 69 Sie hat damit nicht den Zweck, den Patienten vor gesundheitlichen Risiken oder Schäden zu schützen. 70 Mit dem Aufklärungsmangel mi ist also nur das spezifische Risiko verbunden, daß der Patient auf einer (in der genannten formalen Hinsicht) unvollständigen Informationsgrundlage entscheidet. Dieses Risiko hat sich im Verletzungserfolg k nicht realisiert, dieser beruht also auch in der hier erörterten Konstellation 71 nicht auf mi. Damit erweist sich, daß dieser Aufklärungsmangel strafrechtlich nicht viel wert ist. Die Verletzung der Pflicht zur Aufklärung über die Nichtzulassung des Dübels schließt zwar (nach Ansicht des B G H ) die Rechtfertigung des Eingriffs aus. Die Körperverletzungserfolge e und k beruhen aber in keiner Konstellation objektiv zurechenbar auf mi. Dieser Einwilligungsmangel begründet also in keinem Fall das Unrecht einer vollendeten Körperverletzung. Im Ergebnis durchaus zutreffend wird daher kritisiert, daß der B G H zunächst eine Pflicht zur Information über die Nichtzulassung des Surgibone-Dübels statuiert, diese dann aber über Zurechnungserwägungen ihrer Bedeutung entkleidet habe. 72 Freilich trifft diese Kritik nicht die Zurechnungserwägungen selbst. 73 Tatsächlich zeigt sich nämlich am Leerlaufen des Aufklärungsmangels mi bei der Prüfung der objektiven Zurechnung, daß diesem Aufklärungsdefizit der nötige Rechtsgutsbezug fehlt, 74 so daß es gar nicht zur Unwirksamkeit von P's Einwilligung führte. Das hat zur Folge, daß die fehlende Aufklärung über die Nichtzulassung (als bloß formales Gütesiegel) auch keine Strafbarkeit wegen versuchter Körperverletzung begründen kann. 75

BGH JR 1996, 69, 71. So zutreffend Rigizahn (Fn. 12), 73. 7 0 Der BGH geht auf den Schutzzweck der in Rede stehenden Aufklärungspflicht nicht eigens ein und verrät in dieser Frage eine gewisse Unsicherheit (man vgl. die Formulierung, auf den Risikozusammenhang werde „gerade dann zu achten sein", wenn sich herausstelle, daß m2 vorlag, BGH JR 1996, 69, 72). Auch der Senat ist aber wohl der hier vertretenen Ansicht. Nur unter dieser Voraussetzung machte es Sinn, dem Tatrichter die Klärung der Frage aufzugeben, ob m2 vorlag (ob also der Risikounterschied zwischen den Methoden a und b „von Gewicht" war). Dieser Klärung hätte es nicht mehr bedurft, wenn sich die Strafbarkeit des A bereits mit dem (feststehenden) ersten Aufklärungsmangel hätte begründen lassen. 68

69

Vgl. Fn. 66. Vgl. Rigizahn (Fn. 12), 74. 7 3 Die im Gegenteil einwandfrei funktionieren und in ihrem Bereich zum zutreffenden Ergebnis führen (keine Begründung des Unrechts einer vollendeten Körperverletzung durch mi). 7 4 Dazu mit weiteren Hinweisen Roxin (Fn. 1), § 13 Rn. 69 ff. 7 5 Während aus Zurechnungserwägungen lediglich folgt, daß mi für das Unrecht einer vollendeten Körperverletzung nicht genügt. In dem vom BGH entschiedenen Fall spielte die Frage im Ergebnis keine Rolle, da wegen des Erlaubnistatbestandsirrtums von A eine versuchte Körperverletzung ohnehin ausschied. 71

72

Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen

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V. Resümee Die Analyse des Surgibone-Urteils hat ergeben, daß die an dieser Entscheidung geübte Kritik teilweise berechtigt ist. Auf die umstrittene Frage, ob der Arzt zur Aufklärung über die Nichtzulassung des verwendeten Dübels verpflichtet war,76 kam es strafrechtlich nicht an, da die mangelnde Information der Patienten über dieses formelle „Gütesiegel" die Wirksamkeit ihrer Einwilligung nicht berührte. Insofern bedurfte es daher77 auch keines auf Zurechnungserwägungen gestützten Haftungsausschlusses. Die Auffassung des BGH, daß die Patienten über einen Risikounterschied „von Gewicht" zwischen den Methoden a und b aufgeklärt werden mußten, ist dagegen durchaus sachgerecht.78 Bestand ein solcher Unterschied, war daher die Einwilligung wegen des entsprechenden (zweifellos rechtsgutsbezogenen) Informationsdefizits der Patienten unwirksam. Dann aber kam es auf die Erwägungen des Senats zur objektiven Zurechnung entscheidend an und auch das dabei vom BGH erzielte Ergebnis verdient Zustimmung. Eine vollendete Körperverletzung scheidet aus, wenn der Patient bei pflichtgemäßer Aufklärung der Operation nach Methode b zugestimmt hätte oder dieses nicht auszuschließen ist. Selbst wenn feststeht, daß er dann keine Einwilligung erteilt hätte, sind objektiv zurechenbar nicht die mit dem Eingriff selbst verbundenen Verletzungen, sondern lediglich die später erfolgten Komplikationen und auch das nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, daß sie zu einer Zeit auftraten, als bei einer Operation nach Methode a nicht mehr mit ihnen zu rechnen gewesen wäre. Zwar hat sich Rigizahn in seiner Urteilsanmerkung dagegen gewandt, „daß immer neue Konstrukte der Wissenschaft wie etwa jene ,objektive Zurechnung' im Zuge der stetigen personellen Erneuerung und Verjüngung der Richterschaft mehr und mehr auch Einzug in die Rechtsprechung halten". 79 Aber diese Auffassung ist verfehlt. Neben sachlich nicht weiterführenden nostalgischen Ressentiments gegenüber „modernistischen Bemühungen" der Strafrechtsdogmatik 80 wird sie vor allem auf die Unbestimmtheit des Schutzzweckgedankens und anderer Zurechnungskriterien gestützt, deren „Beliebigkeit und Unberechenbarkeit" 81 die gesamte Lehre von der objektiven Zurechnung „grundsätzlich in Frage [stelle]" 82 . Dieser Einwand richtet sich nicht gegen die hier interessierende Übertragung der Zurechnungslehre in die Rechtfertigungsdogmatik, sondern ganz allgemein gegen jene Lehre. Es sei daher nur angemerkt, daß die Unbestimmtheit des Schutzzweckkriteriums (bzw. des Risikozusammenhangs)

7 6 Vgl. dazu Ulsenheimer (Fn. 12), NStZ 1996, 132f einerseits, Rigizahn (Fn. 12), 73 andererseits. 7 7 Wie Rigizahn (Fn. 12), 74 im Ergebnis zu Recht moniert. 7 8 Ebenso wohl Ulsenheimer (Fn. 12), NStZ 1996, 132 und Rigizahn (Fn. 12), 73. 79 Rigizahn (Fn. 12), 74. 80 Rigizahn (Fn. 12), 74 Fn. 11. 81 Rigizahn (Fn. 12), 74. 82 Rigizahn (Fn. 12), 74.

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schwerlich größer ist als die der Kategorie der rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung oder Sorgfaltswidrigkeit83 und daß in vielen Fällen das Schutzbereichskriterium sehr gut funktioniert. 84 Letzteres trifft in noch höherem Maße für das Zurechnungskriterium des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zu, das Rigizahn von seiner Kritik der objektiven Zurechnungslehre offenbar auch ausnehmen will, 85 obwohl es ein Kernstück dieser Lehre bildet. Natürlich führt die Erweiterung der Rechtswidrigkeitsprüfung um die Stufe der objektiven Zurechnung zu einer gewissen Komplizierung des Aufbaus und damit der Prüfung der Rechtswidrigkeit beim vollendeten Erfolgsdelikt. Aber sie steht in völliger struktureller Ubereinstimmung mit der entsprechenden Ausweitung des Tatbestandes und seiner Prüfung beim vollendeten Erfolgsdelikt und sollte daher jedenfalls diejenigen nicht schrecken, die darin für die Tatbestandslehre per saldo eine Bereicherung sehen. Soweit eine objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen in der Praxis der Sache nach bereits anerkannt ist, führt ihre dogmatische Analyse zu einer Reihe von Klärungen. Es geht bei dem Haftungsausschluß wegen fehlender Zurechnung des Erfolges zu Rechtfertigungsmängeln nicht nur unspezifisch um einen Ausschluß der „Strafbarkeit" 86 , sondern des objektiven TatunrechtsS7. Des näheren ist bei Scheitern dieser Zurechnung nur das Unrecht einer vollendeten Tat ausgeschlossen.88 Die Prüfung dieses Unrechtsausschlusses erfolgt im Anschluß an die der objektiven Voraussetzungen des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes. Sind diese erfüllt, war die Tat (ex ante) gerechtfertigt. Nur wo sie das nicht war, schließt sich (wo der Rechtfertigungsgrund wegen bloßer Rechtfertigungsmängel objektiv nicht erfüllt war) die ex post zu beurteilende Frage an, ob der Erfolg auf den Rechtfertigungsmängeln objektiv zurechenbar beruht. All das steht in strikter Parallele zur objektiven Zurechnung im Rahmen des Tatbestandes. Die Auffassung der hypothetischen Einwilligung als eines Kriteriums der objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsmängeln verdeutlicht, daß es sich Auf die man jedenfalls beim Fahrlässigkeitsdelikt schlechterdings nicht verzichten kann. So z. B. im Surgibone-Fall, wo es völlig eindeutig im Schutzbereich der Pflicht zur Aufklärung über das unterschiedliche Risiko von Spankomplikationen im Anschluß an die O p e ration nach der Methode a oder b liegt, wenn solche Komplikationen in einem Zeitpunkt auftreten, zu dem nur bei einer der Operationsmethoden mit ihnen zu rechnen war. 83

84

8 5 Denn die Ausführungen des Senats zur hypothetischen Einwilligung verdienen nach seiner Auffassung „uneingeschränkte Zustimmung" (Rigizahn [Fn. 12], 73).

So B G H J R 1 9 % , 69, 71. Das kann beim Strafbarkeitstf«j5cW«y? durch Verneinung der objektiven Zurechnung auch schlecht anders sein, wenn man (mit der heute ganz überwiegenden Auffassung) die Strafbarkeitsbegründung durch die Erfolgsherbeiführung bereits als unrechtskonstitutiv auffaßt (und nicht etwa mit einer extrem finalistischen Position den Erfolg gänzlich aus der Unrechtslehre verbannt). Wenn Rigizahn (Fn. 12), 74 Fn. 11 die Bemühungen um eine objektive Zurechnung „schon auf der Unrechtsebene" auf die „Prämisse" zurückführt, „das Unrecht bestehe vor allem im Handlungsunwert, nur sekundär aber im Erfolgsunwert einer Tat", so wird dieser Zusammenhang in sein Gegenteil verkehrt. 86

87

8 8 Komplementär ist der Ausschluß des Unrechts lediglich einer Vorsatztat (und damit auch eines Versuchs) beim Erlaubnistatbestandsirrtum.

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dabei nicht um eine einwilligungsspezifische Rechtsfigur handelt. Es geht vielmehr um eine Ausprägung des Pflichtwidrigkeitszusammenbangs als allgemeiner Zurechnungsvoraussetzung. Dann ist aber davon auszugehen, daß neben dieser auch die sonstigen in der Tatbestandslehre anerkannten Kriterien der objektiven Zurechnung bedeutsam sind, wo die objektive Zurechnung des Erfolges bei Rechtfertigungsgründen zu prüfen ist. Das bestätigt sich für das Kriterium des Schutzbereichs der verletzten Norm (bzw. des Risikozusammenhangs), auf dessen Anwendung der BGH in der hier analysierten Entscheidung zu Recht einen (möglichen) Ausschluß der Strafbarkeit wegen vollendeter Körperverletzung gestützt hat. Es geht aber nicht nur um eine dogmatische Klärung dessen, was die Praxis im Ergebnis ohnehin schon ihren Entscheidungen zugrunde legt. Die objektive Zurechnung verlangt vielmehr über die Einwilligung hinaus, bei der sie praktisch anerkannt ist, Beachtung bei allen Rechtfertigungsgründen. Das gilt zum einen für die mutmaßliche Einwilligung.89 Zum anderen hat Puppe meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, daß es „klassisches versari in re illicita" ist, wenn man denjenigen, dessen Notwehrrechtfertigung lediglich an einem unterlassenen Warnschuß (und deshalb fehlender Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung) scheitert, auch dann wegen vollendeter Tötung des Angreifers bestraft, wenn dieser den Warnschuß ignoriert hätte. 90 Hier ist vielmehr die objektive Zurechenbarkeit des Erfolges zu verneinen.91 Ahnliches dürfte für andere Rechtfertigungsgründe gelten.92 Hier liegen sicherlich manche bisher nicht erkannte oder doch nicht ausreichend diskutierte Probleme. Insbesondere bedarf die Frage nach den bloßen zurechnungsrelevanten Rechtfertigungsmängeln bei den einzelnen Rechtfertigungsgründen noch näherer Untersuchung. Bereits heute ist aber die Hoffnung begründet, daß die weitere Ausarbeitung der Lehre von der objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsmängeln zu der Restriktion der strafrechtlichen Erfolgshaftung beitragen wird, um die es letztlich der gesamten Lehre von der objektiven Zurechnung geht.

8 9 Dazu Kuhlen (Fn. 53). Spätestens das sollte zur Anerkennung einer objektiven Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen auch diejenigen veranlassen, die die wirkliche Einwilligung nicht als Rechtfertigungs-, sondern als Tatbestandsausschließungsgrund betrachten (was im übrigen an der dort auftretenden Zurechnungsproblematik nichts ändert). 90 Puppe (Fn. 3), JZ 1989, 729. 91 Was in der von Puppe besprochenen Entscheidung verkannt wurde. Siehe dazu L G München I JZ 1988, 565 mit insofern ebenfalls krit. Anm. von Schroeder. 9 2 Selbst bei Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen spielen Zurechnungserwägungen eine Rolle, die nähere Untersuchung verdient. Vgl. etwa zum Streit um die Bedeutsamkeit hypothetischer Auskünfte zur Rechtslage für die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums N K - N e u m a n n (Januar 1995), § 17 Rn. 81 f.

Dolus generalis" und „strafrechtliches Glück" MARCELO A . SANCINETTI*

I.

Zu den zahlreichen Beiträgen Claus Roxins zur Diskussion herausragender Probleme der Zurechnungslehre ist seine nun schon vor mehr als zwei Jahrzehnten veröffentlichte Arbeit „Gedanken zum ,Dolus generalis'" zu zählen. 1 Diese Arbeit, deren Grundgedanken in den entsprechenden Abschnitten seines Lehrbuchs weiterhin Gültigkeit beanspruchen, 2 entspricht einer Konstante des Werkes unseres Jubilars, nämlich dem Versuch, schon bestehende Lösungen mit neuen oder besser erarbeiteten Fundamenten zu versehen, wobei Korrekturen für besondere, sich vom Grundfall unterscheidende Sachverhalte, die eine unterschiedliche Wertung bedingen sollen, eingeführt werden. Diese Bemühungen um theoretische Fundierung und wertende Korrektur führen in mehr als einem Fall zu Lösungen, die voraussichtlich ein Laie für das betreffende Problem finden würde, was Roxin als Folge einer kriminalpolitischen Orientierung des systematischen Denkens darstellt. 3 Was dieser Bezug genau bedeutet, ist eine Frage, die den wissenschaftlichen Dialog über eine lange Zeitspanne bereichern wird. Doch wenn sich Roxin auf diese Beziehung beruft, handelt es sich in Wirklichkeit meistens um ein „reflective equilibrium" 4 zwischen einer Begründung auf der einen und Gerechtigkeitsintuitionen auf der anderen Seite.5 In Zusammenhang mit dem dolus generalis ist die am weitesten verbreitete Intuition klar: „Es darf nicht sein - so diese Ansicht - , daß derjenige, der töten wollte und getötet hat mit der (möglicherweise 6 ) geringeren Versuchs* Deutsche Fassung von Manuel Cando Meliá (Universidad Autónoma de Madrid). 1 Roxin FS für Würtenberger, 1977, 109 ff. 2 Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 12 Rn. 162 ff. 3 Vgl. die Gesamtdarstellung zuerst in Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970. 4 Im Sinne des Werkes John Rawls' A Theory of Justice, 1971, 1 7 - 2 2 und passim. In demselben Jahrzehnt verwandte schon eine ähnliche Methodologie Jonathan Glover Causing Death and Saving Lives, 1977, 2 2 - 3 8 . 5 Vgl. Roxin (Fn. 3), 4f, 10. Es geht nur (aber immerhin!) darum, daß die theoretische Begründung nicht vollständig auf die Gerechtigkeitsintuition verzichtet, bis beide übereinstimmen (oder die eine die andere beherrscht!). Vgl. auch Roxin (Fn. 2), § 7 Rn. 30 ff, 37 ff, 50 ff. Bei § 7 Rn. 37 ff geht es - unter der Uberschrift „Vernachlässigung der Einzelfallgerechtigkeit" - um gleichgeartete Probleme und denselben Lösungsansatz wie bei § 7 Rn. 44 ff hier unter dem Titel „Kriminalpolitisch nicht legitimierbare Systemableitungen". 6 Wie bekannt sieht § 23 Abs. 2 StGB keine notwendig gemilderte Strafe für den Versuch vor; andererseits kommen im Prinzip nur Fälle in Betracht, bei denen der Versuch strafbar ist

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Marcelo A . Sancinetti

strafe honoriert wird! Er muß wegen vollendeter Tötung haften, denn letztlich hat er sein Ziel erreicht!" - so die „Vollendungslösung". Doch eine klare Intuition sichert nicht ohne weiteres eine richtige Lösung. Bei der Untersuchung von Roxins Gedanken zum dolus generalis kann ein „reflexives Gleichgewicht" in dem Sinne erlangt werden, daß man zu einer Modifizierung der Eingangsintuition gelangt: vielleicht ist die „Versuchslösung" richtig. Ist sie aber auch gerecht? Diese Frage belebt von neuem die ewige Problematik, zu deren Lösung auch Roxin7 beigetragen hat, ob es denn gerecht sei, die Strafe für einen beendeten Versuch zu mildern, das heißt, ob die Rechtsordnung von einer Moral auszugehen hat, die auch dem Glück Tribut zollt.

IL Das Grundproblem (der Täter glaubt, sein Ziel bereits erreicht zu haben und führt im Anschluß eine Handlung aus, die gerade erst den Erfolg herbeiführt) ist seit altersher bekannt.8 X führt gegen Y mehrere schwere Schläge in der Absicht, ihn zu töten; Y bleibt bewußtlos liegen; X, der ihn für tot hält, wirft ihn in einen Abgrund, um die vermeintliche Leiche zu verbergen. Y stirbt in Wirklichkeit durch den Fall. Handelt es sich um eine vorsätzliche vollendete Tötung oder um einen anfänglichen Tötungsversuch mit einer anschließenden fahrlässigen Tötung? Der Fall ist unproblematisch in jenen Konstellationen, in denen der Täter die zweite Handlung „für alle Fälle" vornimmt, das heißt, um den Erfolg sicher zu erreichen („und wenn er jetzt noch am Leben sein sollte, soll er sich noch das Genick brechen"). Denn in diesem Fall liegt eindeutig Vorsatz auch bezüglich der zweiten Handlung vor (so die einstimmige Auffassung in der Lehre). Deshalb ist davon auszugehen, daß der Täter nach der ersten Handlung tatsächlich - und vernünftigerweise9 - davon überzeugt ist, daß der Erfolg bereits eingetreten ist. (§ 23 Abs. 1 StGB). In vielen Rechtsordnungen wird aber für den Versuch eine obligatorische Strafmilderung vorgesehen. Dies ist im allgemeinen in den lateinamerikanischen Ländern der Fall, mit Ausnahme Paraguays, dessen neues Strafgesetzbuch nur für den unbeendeten Versuch eine obligatorische Strafmilderung vorsieht (Art. 27 3° Cpp), während der beendete Versuch mit demselben Strafrahmen der vollendeten Tat bedroht wird (Art. 27 2° Cpp), soweit jener strafbar ist (Art. 27 1° Cpp). 7 Roxin (Fn. 2), § 12 Rn. 88 ff, insbes. 96 ff. 8 Vgl. Stratenwerth Strafrecht AT I, 4 2000, § 8 Rn. 92, mit Nennung von Fällen aus den Jahren 1795 und 1819; vgl. auch H. Mayer J Z 1956, 109 ff. In der deutschen und ausländischen Rechtsprechung sind alle möglichen Arten von Teilakten vorzufinden: Das im ersten Akt angegriffene Opfer stirbt tatsächlich durch Erhängen, Ertrinken, Vergiftung, Feuer usw. Die Struktur des Grundfalles bleibt in den verschiedenen Konstellationen unverändert. 9 Mit dieser Präzisierung soll die Behandlung des etwaigen Einwandes, die Fundierung des Vorsatzes könne (bezüglich des zweiten Aktes) aufgrund der Gleichstellung von Vorsatz und sog. „Tatsachenblindheit" erfolgen, gegenstandslos gemacht werden. Vgl. dazu Jakobs Strafrecht AT, 2 1991, 8/b, 8/10, 19/1; ders. ZStW 101 (1989), 516ff, insbes. 527ff; den. Das Schuldprinzip, 1993, 19ff. Gegen Jakobs vgl. auch Sancinetti Subjektive Unrechtsbegründung und

„Dolus generalis" und „strafrechtliches Glück"

351

Als verwandtes P r o b l e m pflegt man den umgekehrten Fall zu behandeln, in dem der Täter, der die Ausführung der Tat in der Absicht beginnt, den E r f o l g mit einer späteren Handlung zu erreichen, diesen schon durch einen der anfänglichen A k t e erreicht: die sogenannte „vorzeitige Vollendung". O b w o h l eine Tendenz10

festzustellen ist, beide Konstellationen jeweils gleich zu lösen, ist

die B e g r ü n d u n g nur aus der Perspektive der Vollendungslösung für beide Fälle identisch (die Abweichung v o m Kausalverlauf ist in beiden Fällen adäquat, v o r hersehbar usw.), während für die Versuchslösung die B e g r ü n d u n g der Verneinung der Vollendung beim Fall des dolus generalis in der fehlenden Risikorealisierung des ersten Risikos in dem durch die zweite H a n d l u n g herbeigeführten Erfolg, bei der Konstellation der vorzeitigen Vollendung darin liegt, daß der T ä t e r „ n o c h " keinen perfekten Vorsatz (der Versuchsbeendigung) gefaßt h a t . 1 1 Die Problematik hat allgemeinere Bedeutung, denn die gleiche F r a g e kann sich auch, z u m Beispiel, bei den Qualifizierungsgründen der vorsätzlichen T ö tung stellen: Die Tat beginnt mit H e i m t ü c k e ; im Verlaufe der Ausführung gelingt es dem Opfer, den Täter zu entwaffnen und einen fehlgeschlagenen A b wehrversuch durchzuführen; der Täter behält schließlich die O b e r h a n d und tötet das Opfer, ohne

daß die T ö t u n g noch als heimtückisch bezeichnet werden

kann: M o r d oder Mordversuch in Handlungseinheit mit T o t s c h l a g ? 1 2 Rücktritt vom Versuch, 1996, 236 ff, insbes. 255 ff; zu Jakobs Replik vgl. GA 1997, 553 ff Fn. 15. Wegen der Unsicherheit des Begriffes der Tatsachenblindheit wäre es bei seiner Anwendung auf den Fall schwierig festzustellen, ob sich jeder in dieser Lage befinden würde, der dasjenige nicht wahrnimmt, was jeder andere an seiner Statt gesehen hätte (daß das Opfer sich bewegte), oder ob auch jener noch „tatsachenblind" wäre, der zur Feststellung des Todes keinerlei Maßnahmen ergreift (X hält Y nur deswegen für tot, weil er unbeweglich auf dem Bauch liegt, forscht aber nicht nach noch existierendem Puls oder anderen Lebenszeichen). 10 Es handelt sich aber in der Tat um eine Tendenz, nicht um eine vollständige Ubereinstimmung. Die differenzierenden Lösungen für den dolus generalis (vgl. dazu unten III 3) können schwerlich auf die „vorzeitige Vollendung" übertragen werden. Andererseits sind auch entschiedene Vertreter der Versuchslösung für den Grundfall des dolus generalis anzutreffen, die dieselbe Lösung aber nicht für den umgekehrten Fall, die „vorzeitige Vollendung", verfechten; so Maurach/Zipf Strafrecht AT, 8 1992, § 23 Rn. 36. Es sollte aber einfacher als beim Grundfall des dolus generalis sein, für den Fall der vorzeitigen Vollendung zur Versuchslösung zu gelangen. Denn beim Grundfall hat sich der Täter die Möglichkeit vorgestellt, das von ihm schon Geleistete könnte den Erfolg bereits hervorrufen, so daß, wenn das Eingangsrisiko nicht wirklich durch das Zweitrisiko ersetzt, sondern nur in Begleitumständen variiert würde, eine vorsätzliche Vollendung anzunehmen wäre, während im umgekehrten Fall der Täter die Möglichkeit der Vollendung (noch) nicht angenommen hat. 11 Vgl. Sancinetti (Fn. 9), 65 ff mwN (dort Fn. 6), auch S. 93 f mwN; ders. Teoria del delito y disvalor de acciön, 1990, 429 ff. In der spanischen Rechtsprechung ist ein solcherart strukturierter Fall vorgekommen mit der interessanten Besonderheit, daß der Täter nach Erlangung der Vollendung weitermacht, da er den Erfolgseintritt nicht bemerkt, so daß es zu einer Beendigung des Versuchs gegenüber einem untauglichen Tatobjekt kommt. Vgl. Baldö Lavilla ADPCP 48 (1995), 339 ff. 12 Vgl. den Sachverhalt RGSt 70, 257. Das RG lehnte das Vorliegen von Überlegung aufgrund der unsicheren Beweislage bezüglich der Herbeiführung des Todes ab, obwohl der Erstangriff mit Vorsatz und Überlegung für erwiesen angesehen wurde. Ein paralleles Problem stellt sich in den Fällen der sog. „sukzessiven Zurechnungsunfähigkeit". Roxin unterstützt hier

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Marcelo A. Sancinetti

Diese Fallkonstellationen und verwandte Probleme, die spezifische Fragen aufwerfen, sollen hier aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. In dieser Arbeit soll es u m den geläufigen Sachverhalt des dolus generalis gehen.

III. 1. N a c h herkömmlicher Auffassung - die n o c h in der Rechtsprechung vorherrschend ist, wohl aber in der Lehre in die Minderheit geraten ist -

ist der

Fall als vorsätzlich vollendete Tat zu beurteilen. Die anfänglich dafür vorgetragene B e g r ü n d u n g ging davon aus, daß der unzweifelhaft im ersten Tatabschnitt vorliegende Vorsatz auf das Gesamtgeschehen zu erstrecken und so seine W i r kung auch auf den zweiten Tatabschnitt zu beziehen sei. Diese Sichtweise ist es auch, die die Bezeichnung der Problematik als „dolus generalis" mit sich brachte, denn hiernach liegt eben Vorsatz „im allgemeinen" vor. Diese Bezeichnung, die auf v. Weber13

zurückgeht, wird auch heute n o c h verwandt, wenn

auch ohne B e z u g auf die ursprüngliche Begründung; die Vollendungslösung wird heute anders fundiert, doch das materielle P r o b l e m wird unter dem gleichen N a m e n sogar von den Vertretern der Versuchslösung behandelt. Die deutsche Rechtsprechung — die bis auf eine in ihrer Bedeutung etwas unklare E n t s c h e i d u n g 1 4 stets die Vollendungslösung angewandt h a t 1 5 -

lehnte

die Lösung der Rechtsprechung, die die Tat für vollständig zurechenbar hält; vgl. dazu Roxin (Fn. 1), insbes. 110 Fn. 2; ders. (Fn. 2), § 12 Rn. 171 f. Auch bei der Behandlung dieser Fälle ist auf den Abschnitt der Ausführung abzustellen, der vom Täter „zurechenbar" durchgeführt wurde: Der weitere Verlauf, der für die Vollendung entscheidend ist, ist es nicht, es sei denn, es sind die - äußerst seltenen - Voraussetzungen einer vorsätzlichen a.l.i.c. gegeben. 13 Vgl. Heinrich Benedikt von Weber NArchCrim 7 (1825), 549 ff, 565, 576 ff. 14 RGSt 70, 257 ff. Diese Entscheidung wird herkömmlicherweise, wenn auch mit Vorbehalten, als die Versuchslösung favorisierend zitiert (so z. B. Welzel Das Deutsche Strafrecht, "1969, 74: „Abweichend anscheinend ..."; ebenso Jakobs AT (Fn. 9), 8/Fn. 158: „Sowohl ..."). 15 RG DRiZ 1932, 230, Nr. 285; RGSt 67, 258; RG HRR 1939, Nr. 468; OGHSt 1, 74; OGHSt 2, 285; BGH bei Dallinger MDR 1952, 16; BGHSt 7, 325; 14, 193. In der englischen Rechtsprechung ist man dieser Lösung im Fall „Thabo Meli" (1954) I. All E. R. 373, gefolgt, in dem der Privy Council den Irrtum der Mittäter in folgendem Sachverhalt für irrelevant hielt: Die Täter warfen das totgeglaubte Opfer, nachdem sie es zu einer Hütte geführt und dort in Tötungsabsicht geschlagen hatten, von einem Hügel, um einen Unfall vorzutäuschen; der Tod trat aber durch die Aussetzung im Freien ein (s. die Nachweise bei Nino Los límites de la responsabilidad penal, 1980, 129 Fn. 126). Aus der spanischen Rechtsprechung bezieht sich Cerezo Mir (Curso de derecho penal español, 1996, Bd. II, 132-134 Fn. 76) kritisch auf einen Fall aus dem Jahre 1962, der vom Landesgericht Teruel nach der Vollendungslösung entschieden wurde (es handelte sich um mehrere Täter, die das Opfer schlugen und es im Glauben, es sei tot, aufknüpften, um einen Selbstmord vorzutäuschen); dagegen erwähnt Bacigalupo (Derecho penal PG, 2 1999, Rn. 641) einen ähnlich gelagerten Sachverhalt, bei dem der spanische Oberste Gerichtshof (TSS vom 14. 11. 1980) die vorsätzliche Vollendung verneint habe; doch es scheint, als habe der OGH hier den Vorsatz schon bezüglich des Erstaktes abgelehnt. In der argentinischen Rechtsprechung wurde das Problem wohl nur einmal bewußt erkannt, und zwar in einem Fall mit der interessanten Variante, daß am zweiten Abschnitt ein Dritter teilgenommen hatte: B hatte anfänglich das Opfer mit einer Holzlatte auf den Kopf

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die ursprüngliche Begründung des dolus generalis ab. 16 Diese wurde schon im 19. Jahrhundert starker Kritik unterzogen und im 20. Jahrhundert sogar von Vertretern der Vollendungslösung abgelehnt; 17 doch wie die Bezugnahme des BGH auf die von ihm abgelehnte Entscheidung des Schwurgerichts 18 zeigt, hat diese Begründung ihre Wirkung nie vollständig verloren. 19 Obwohl in der Rechtsprechung oft auf der Grundlage der Lehre von der conditio sine qua non argumentiert wurde (der Erfolg sei der Anfangshandlung deshalb zurechenbar, weil der zweite Handlungsschritt ohne den ersten nicht durchgeführt worden wäre), 20 besteht doch der Hauptstrang der Begründung in der Überlegung, die Abweichung vom Kausalverlauf sei jedenfalls adäquat vorhersehbar, so daß der Irrtum über den Verlauf als irrelevant einzuschätzen sei. 21 Diese Ansicht wird von einem wichtigen Teil der Lehre unterstützt. 22 Gegenwärtig wird zwar anerkannt, daß nur der erste Handlungsschritt die zuzurechnende Handlung sein kann und auch, daß eine Abweichung vom Kausalverlauf vorliegt; diese sei aber als unwesentlich anzusehen, denn der Erfolg trete im Rahmen des Vorhersehbaren ein. Im allgemeinen wird hier auf der Grundlage argumentiert, das Geschehen stelle eine Einheit dar, was aber kein wirkliches Argument ist, denn daß das Geschehen eine Einheit sei, bedeutet nicht, es könne nicht teils als vorsätzlich und teils als fahrlässig gewertet werden. 2. Den Gegenpol zu dieser Lösung bildet jene Auffassung, nach der es nicht möglich ist, im Erfolg die Verwirklichung der typischen Gefahr der vorsätzlich ausgeführten Handlung zu sehen, und die dementsprechend nur das Vorliegen eines Versuchs annimmt, unter Umständen mit konkurrierender fahrlässiger Vollendung - so die Versuchslösung. 23 geschlagen und es danach am Hals gewürgt; im Glauben, es sei tot, ließ er sich v o n V bei der Vortäuschung eines Selbstmordes helfen; o b w o h l die Todesursache nicht eindeutig feststand, entschied sich das Gericht dafür, einen Tod durch Erhängen anzunehmen. In der Entscheidung w i r d der I r r t u m f ü r irrelevant erklärt (vgl. La Ley t. 1 0 [1938], 4 6 8 ff). B G H S t 14, 193. Vgl. H. Mayer J Z 1 9 5 6 , 1 0 9 mit weiteren Nachweisen zur älteren Lehre. 1 8 B G H S t 14, 193. 1 9 Sogar bei Welzel (Fn. 14) ist eine Reminiszenz des G e d a n k e n s eines sich auf den zweiten Tatabschnitt erstreckenden Vorsatzes vorzufinden. 2 0 B G H S t 14, 193 (194). 2 1 B G H S t 14, 1 9 3 (194). 2 2 Vgl. u. a. H. Mayer (Fn. 8); Schmidhäuser Studienbuch 1 9 8 2 , 5/75, 5/78, 7/53; Blei Strafrecht I AT, 1 8 1 9 8 3 , 122 f; Puppe Vorsatz und Zurechnung, 1 9 9 2 , 54 f; NK-Puppe, § 1 6 R n . 104 f f ; Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 1 0 1 9 9 5 ; Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts AT, 5 1 9 9 6 , § 2 9 V 6 d; Wessels/Beulke Strafrecht AT, " 1 9 9 9 , Rn. 2 6 5 ; Schönke/Schröder/Cramer S t G B , " 1 9 9 7 , § 15 Rn. 58; Tröndle/Fischer S t G B , 4 9 1 9 9 9 , § 1 6 Rn. 7; Lackner/Kühl StGB, 2 3 1 999, § 15 Rn. 1 1 ; vgl. auch Ashworth Principles of Criminal Law, 2 1 9 9 5 , 1 5 5 ff. In A r g e n t i nien folgen dieser Lehre Soler Derecho penal argentino, 1940, § § 4 0 X , 42 X I V ; Righi/Ferndndez Derecho penal, 1 9 9 6 , 1 8 6 f. 16

17

2 3 Vgl. u . a . Engisch Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1 9 3 0 , 72; Frank S t G B , 1 8 1 9 3 1 , § 59 IX; Mauracb/Zipf {Fn. 10), § 23 Rn. 35; Maiwald Z S t W 78 (1966),

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Diese Lösung findet ihre Begründung in der Wahrung des Simultanitätsprinzips (der Vorsatz sei bei der tatsächlich den Erfolg herbeiführenden Handlung erloschen), in der entsprechenden Ablehnung einer Haftung aus dolus antecedens und in der Bekämpfung der bei der Gegenmeinung vorzufindenden Implikationen im Sinne eines versari in re illicita, die letztlich also Exponent eines Gesinnungsstrafrechts sei. Als Gegenpart der durch die Vollendungslösung propagierten Vereinigung beider Akte in einer Einheit geht die Versuchslösung normalerweise mit der Behauptung einer Tatmehrheit einher, 24 was aber keine notwendige Bedingung ihrer Richtigkeit und wahrscheinlich falsch ist. 25 3. Zwischen diesen beiden „reinen" Lösungen für alle Sachverhalte sind zumindest drei Zwischenpositionen auszumachen. a) Die erste Differenzierung ist bei Welzel26 zu finden, der die Vollendungslösung strikt an die Tateinheit band; diese sei nur dann gegeben, wenn der Zweitakt auf eine einheitliche Entscheidung rückführbar sei, während Tatmehrheit anzunehmen sei, wenn die Entscheidung zur Durchführung des Zweitaktes nachträglich getroffen wurde. Doch bei der „vorzeitigen Vollendung" ist mit Sicherheit Tateinheit gegeben, und trotzdem wird nicht deswegen die Frage, ob der Erfolg zum Vorsatz zuzurechnen sei, hierdurch ohne weiteres gelöst. So wie eine Tat in einem Abschnitt tatbestandsmäßig und in einem anderen tatbestandslos sein kann (nachträgliche Einwilligung) oder zunächst rechtswidrig und danach gerechtfertigt (nachträgliches Eintreten einer N o t standslage) usw., so kann ein und dieselbe Tat teils vorsätzlich und teils unvorsätzlich ausgeführt werden: „Ein Zerreißen einer einheitlichen Handlung bei zerrissener Zurechnung ist keine Besonderheit." 27 30 ff; Herzberg ZStW 85 (1973), 867 ff; Hruschka JuS 1982, 317 ff; ders. Strafrecht nach logischanalytischer Methode, 21988, 25 ff (Fall 8); Hettinger FS für Spendel, 237 ff; ML-Zielinski, §§ 1 5 - 1 6 Rn. 62; Jakobs Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, 99 f; ders. AT (Fn. 9), 8/77 ff; Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, 620 ff; Schlebofer Vorsatz und Tatabweichung, 1996, 6 ff, 124 ff; Otto Grundkurs Strafrecht AT, 5 1996, § 7 Rn. 16 ff, 82 ff (92); Köhler Strafrecht AT, 1997, 152 ff (154); Gropp Strafrecht AT, 1998, § 5 Rn. 71 ff; Freund Strafrecht AT, 1998, § 7 Rn. 139 ff; vgl. auch Sverdlik Crime and Moral Luck, in: Statman (Hrsg.), Moral Luck, 1993, 181 ff. In Argentinien Nino (Fn. 15), 404 f; Sancinetti (Fn. 11); Bacigalupo (Fn. 15). 24 Die angeblich notwendige Verbindung zwischen Versuchslösung und Tatmehrheit scheint ein entscheidendes Moment der Argumentation z. B. Hettingers (Fn. 23), insbes. 249, 251, zu sein. 25 So wie keine Tatmehrheit gegeben ist, wenn beide Abschnitte der Gesamttat mit Tötungsvorsatz begangen werden, braucht auch die Tatsache, daß der zweite Teilakt fahrlässig begangen wurde, nicht notwendig zu einer Tatmehrheit zu führen. 26 Welzel (Fn. 14), mit einer noch der alten Lehre vom dolus generalis nahestehenden Terminologie. In Argentinien folgten dieser Auffassung Zaffaroni (Teoria del delito, 1973, 282; Tratado de derecho penal t. III, 1981, 331) und früher auch Bacigalupo (Lineamientos de la teoria del delito, 1986, 42 f), der heute scheinbar für alle Fälle die Versuchslösung befürwortet (Fn. 15). 27 Jakobs JuS 1980, 714 ff (im Kontext der Gegenüberstellung von Einzel- und Gesamtbetrachtung beim Rücktritt vom Versuch); vgl. dazu auch Maiwald Die natürliche Handlungseinheit, 1964, 92 f.

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Eine plausiblere Begründung der Wirkung der Voraussicht des Zweitaktes im Ausgangsplan wird von Stratenwerth28 und Rudolphi29 angeboten. Hiernach sei darauf abzustellen, ob der spätere Erfolgseintritt die Verwirklichung der durch den ersten Akt geschaffenen Gefahr darstellt, was immer dann zutreffe, wenn der Täter den zweiten Schritt von Anfang an vorgesehen habe, im umgekehrten Fall aber zweifelhaft sei. Doch diese Auffassung läßt die Frage unbeantwortet, aus welchem Grund denn die anfängliche Voraussicht des zweiten Aktes dazu führen soll, daß sich weiterhin das durch den Erstakt geschaffene Risiko realisiere. Denn diesem Bild liegt die Möglichkeit zugrunde, daß sich der Täter selbst vorsätzlich als späteres unvorsätzliches Werkzeug benutzt, entsprechend einem Falle der a.l.i.c. Jedenfalls ist der Zweitakt im Ausgangsplan als Verdeckungshan&hmg einer schon vollendeten Tat vorgesehen und nicht als alternative Vollendungshaxidlung, so daß die Voraussicht des zweiten Schrittes schon im Ausgangsprojekt das materielle Problem unberührt läßt. b) Eine zweite vermittelnde Lösung geht auf Schroeder zurück: „War die Ersthandlung konkret erfolgstauglich, war also das Opfer bereits tödlich verletzt, so kann die Beschleunigung des Todes durch ein Vergraben oder Versenken den Vorsatz nicht ausschließen; war die Ersthandlung dagegen nicht konkret erfolgstauglich, so fehlt es in der Tat am Vorsatz". 3 0 Diese Auffassung entspricht dem Gedanken, der Gegenstand des Vorsatzes sei nicht der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Zügen, wohl aber die konkrete Tauglichkeit der Handlung zur Erfolgsherbeiführung. 3 1 Hier könnte man sich fragen, wie es denn sein kann, daß das Vergraben, Versenken usw. die Verwirklichung der durch die erste Handlung geschaffenen Gefahr nur dann darstellt, wenn diese Ersthandlung ein konkretes Erfolgseintrittsrisiko geschaffen hat, aber nicht, wenn dieses nicht hervorgerufen wurde. So wie ein untauglicher Versuch plus Erfolgseintritt noch keine Vollendung ergeben, 3 2 so wird dieses Ergebnis auch nicht durch bloße Addition eines Erfolges und eines tauglichen Versuches erreicht; Vollendung ist dort gegeben, wo der Erfolg die konkrete Verwirklichung des geschaffenen Risikos ist. O b der Erstakt eine konkrete Todesgefahr (der Schuß trifft den Kopf) oder kein Risiko (der Schlag auf den Schädel führt nur zu einer Bewußtlosigkeit des Opfers) geschaffen hat, hat nichts mit der Frage zu tun, ob das später ein-

Stratenwerth (Fn. 8), § 8 Rn. 93 f. SK-StGB-Rudolphi, % 16 Rn. 34 f. 30 UL-Schroeder StGB, "1994, § 16 Rn. 31; in dieselbe Richtung auch Eser/Burkhardt Strafrecht I, 1992, Fall 8 Rn. 45. 31 LTi-Schroeder (Fn. 30), Rn. 29. Schroeder widerspricht aber im Anschluß seiner Ausgangsposition, indem er unter Berufung auf Welzel und Stratenwerth (aaO, Rn. 31) eine andere Lösung favorisiert, „wenn sich die einzelnen Teilakte infolge ihrer engen zeitlichen Aufeinanderfolge im Täterplan als Einheit darstellen"; insoweit ist Roxins (Fn. 1), 113, Kritik zutreffend. 32 LK-Schroeder (Fn. 30), Rn. 29. 28

29

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tretende Ersticken die Verwirklichung des anfänglichen Risikos darstellt. Und dies ist in keinem von beiden Sachverhalten der Fall. 33 Dieser Vorschlag wäre nur auf der Grundlage des Gedankens annehmbar, die Schädigung von rettungslos verlorenen Gütern sei vom Tatbestand nicht erfaßt. Vielleicht kann man nach der entsprechenden Entwicklung der gesellschaftlichen Wertungen zu einem flexibleren Todesbegriff gelangen und denjenigen als Täter einer vollendeten Tat behandeln, der eine unumkehrbare Lage geschaffen hat, während dagegen die Zerstörung des hoffnungslos Verlorenen als tatbestandslose Tat gewertet wird. Doch solange jede Sekunde Gehirntätigkeit als Tabu durch das Tötungsverbot erfaßt wird, führt der Ersatz einer Gefahrlage, die kurz vor der Todesverursachung stand, durch ein anderes Risiko, das den Tod tatsächlich hervorruft, zu einem Fehlschlag des ersten Verlaufs; nur der zweite führt die Vollendung herbei. c) Die dritte Differenzierung wurde von Roxin geschaffen. Einerseits vertritt er die Vollendungslösung auf der Grundlage der Überlegung, daß der zweite Handlungsschritt - und damit auch der Enderfolg - einen schon bei der Durchführung des Erstaktes vorhersehbaren Verlauf darstellt, so daß letztlich der Enderfolg dem Erstakt als unwesentliche Kausalabweichung34 zuzurechnen sei. Doch da die Vorhersehbarkeit im allgemeinen ein gemeinsames Kennzeichen von Vorsatz und Fahrlässigkeit sei 35 und da die herrschende Meinung diesen Begriff durch die nachträgliche Prüfung, ob „die nicht vorhergesehenen Einzelumstände ,keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen'" ergänzt, 36 führt Roxin zur Lösung der Frage, ob ein von dem Vorgestellten abweichender Verlauf zuzurechnen sei, den Begriff der „Verwirklichung des Täterplanes" ein, als sei der Verwirklichung der vorsätzlich geschaffenen Gefahr die Feststellung nachzuschalten, daß der „Plan verwirklicht" wurde.37 Beim Fall des dolus generalis werde der Plan dann verwirklicht, wenn der Täter zu Beginn mit Tötungsabsicht gehandelt und diese Absicht nicht vor dem Zweitakt revidiert habe; im umgekehrten Fall (wenn er mit bedingtem Vorsatz handelte oder mit direktem Vorsatz oder sogar mit Absicht, aber später durch gegenläufige Akte seine Absicht aufgegeben hat) werde der „Täterplan" nicht verwirklicht; die Vorsatztat bleibe ein Versuch, und die Vollendung sei nur als fahrlässige zurechenbar.38 Diese Differenzierung hat das herkömmliche Verständnis zur Voraussetzung, dem Eventualvorsatz komme ein geringerer Unwert zu als der Absicht. Daß dies nicht richtig sein kann, zeigt schon die Lehre von der objektiven Zurechnung; denn zur Bestimmung, ob eine Handlung ein bestehendes Risiko vermindert hat (Tatbestandslosigkeit) oder aber durch ein geringeres ersetzt 33 34 35 36 37 38

Frisch Roxin Roxin Roxin Roxin Roxin

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

23). 1), 114ff, 118. 1), 121. 1), 116. 1), 116, 121; ders. (Fn. 2), § 12 Rn. 167 ff. 1), 1 2 1 - 1 2 7 ; ders. (Fn. 2), § 12 Rn. 165 f.

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hat (Rechtfertigung), ist das objektive Ausmaß des Risikos entscheidend 39 und nicht die Art des Vorsatzes, mit dem das vorbestehende Risiko geschaffen wurde. Derjenige, der in Tötungsabsicht auf das Opfer zielt, dies aber mit einer defekten Waffe aus großer Entfernung tut und dazu ein schlechter Schütze ist, schafft eine geringere Erfolgschance und ein weniger schweres Unrecht als der Täter, der mit bedingtem Vorsatz, aber mit einer großkalibrigen Waffe aus kurzer Entfernung auf einen Gegenstand in der Nähe eines Menschen schießt. Wird dem „Willens"element des Vorsatzes konstitutive Bedeutung zugemessen, so impliziert dies ein Verständnis des Vorsatzes als „böser Wille", das als Relikt eines Gesinnungsstrzirechxs abzulehnen ist; nur die Kenntnis eines relevanten Risikos ist entscheidend. 40 Darüber hinaus kann es vorkommen, daß der anfänglich mit Absicht handelnde Täter das Motiv zum Weiterhandeln verloren hat. 41 Wenn er deswegen in Tötungsabsicht einen Schuß abgibt, weil er eine Wette eingegangen ist, er könne den Erfolg mit einem einzigen Schuß erreichen, hätte er kein Motiv zu einem neuen Versuch. Umgekehrt kann ein eingangs mit Eventualvorsatz Handelnder nachträglich ein Motiv finden: Hat er das Opfer verletzt, könnte es ihm geboten erscheinen, es als Zeugen unschädlich zu machen. Dieser doppelte Einwand könnte von Roxin mit einer kleineren Modifizierung seiner Auffassung überwunden werden: Entscheidend wäre dann nicht, mit welchem Vorsatz zu Beginn gehandelt wurde, sondern ob der Täter ein Motiv zu neuerlichem (vorsätzlichem) Handeln gehabt hätte, wenn er die wirkliche Lage erkannt hätte. An mehreren Stellen von Roxins Ausführungen wird deutlich, daß seine Differenzierung zur Frage nach dem hypothetischen Verhalten des Täters führt. 4 2 So aber verläßt man den Bereich des Tktstrafrechts. Andererseits ist auch unverständlich, warum die Vorsatzform relevant sein soll, wenn der Täter beim Zweitakt ohne Vorsatz handelt, aber nicht, wenn der Verlauf sich mit oder ohne Abweichung ohne neuerliches Zutun des Täters verwirklicht. Hinter der Erklärung, die Ratio einer anderen Wertung liege darin, daß beim dolus generalis der Täter „von neuem handele", 43 verbirgt sich die offensichtliche Tatsache, daß auch für Roxin der zweite Akt die „eigentliche Tötungshandlung" ist; nur scheint ihm die Versuchslösung anstößig, wenn behauptet werden kann, daß der Täter zu Beginn absichtlich handelte und auch danach so gehandelt hätte, wenn er die wirkliche Lage erkannt hätte. Dies ist aber keine Begründung der Annahme, im Enderfolg realisiere sich das erste Risiko.

39

40

Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 47f; ders. FS für Honig, 1970, 133 ff (136).

Sancinetti (Fn. 11), 145 ff, 197 ff.

« Jakobs AT (Fn. 9), 8/Fn. 158. 42 Roxin (Fn. 1), 122. Dies wird auch nicht durch die Behauptung konterkariert, „der Plan des Täters [habe] sich realiter ungeachtet der Kausalabweichung verwirklicht" (aaO, 126); denn die Annahme, daß der Täterplan sich „realiter verwirklicht" habe, wird von einem Urteil über das hypothetische Verhalten abhängig gemacht. 43 Roxin (Fn. 1), 123 Fn. 50.

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Marcelo A. Sancinetti

Was sich zu „verwirklichen" hat, ist die vom Vorsatz des Täters umfaßte Gefahr, realisiert sich dieses Risiko, liegt vorsätzliche Vollendung vor. Ein „Extra"begriff der „Planverwirklichung" ist irreführend.

IV. 1. Um zu einer Lösung zu gelangen, könnte man zunächst Roxins Argumente für die Vollendungslösung bezüglich des Sachverhaltes eines mit Tötungsabsicht handelnden Täters untersuchen. Wäre diese Lösung für diesen Fall zutreffend, müßte sie auch für alle anderen gelten. Sein Eingangsargument geht davon aus, daß „ganz allgemein eine Erfolgszurechnung nicht das Fortbestehen des Vorsatzes bis zum Erfolgseintritt voraussetzt", denn es [sei] „gleichgültig, was er [seil, der Täter] fortan denkt oder will". Derjenige, der, nachdem er eine Zeitbombe gelegt hat, ins Ausland flieht, hat eine vollendete Tötung begangen, und zwar auch dann, „wenn er den Vorsatz inzwischen aufgegeben und bitter bereut hat, oder wenn er im Trubel seiner internationalen Konspirationstätigkeit im Augenblick des Erfolgseintritts an den ganzen Vorgang nicht mehr denkt" 44 . Doch dieser Fall hat mit denjenigen des dolus generalis nichts gemein; was die Versuchslösung fordert, ist nicht, daß der Täter seinen Verwirklichungswillen unverändert bis zum Erfolgseintritt beibehält, sondern daß er einen solchen genau im Augenblick der den Erfolg herbeiführenden Handlung hat. Auch das bekannte Beispiel - auf das auch Roxin zurückgreift45 - des von einer Brücke geworfenen Opfers, das anstatt zu ertrinken, an einem Brückenpfeiler zerschmettert stirbt, weist nicht dieselbe Struktur auf. Hier wäre auch zu eruieren, ob sich das vom Täter vorgestellte Risiko realisiert;46 dies hängt von dem Abstraktionsgrad, mit dem die das Risiko bestimmenden Bedingungen beschrieben werden, ab. Wenn aber hier eine vorsätzliche Begehung angenommen wird, so geschieht dies, weil der Täter immerhin weiß, daß er einen Menschen von einer Brücke wirft, wobei in diesem Begriff die Definition als „feste, massive Struktur" 47 enthalten ist, usw. Doch zweifellos wird dasselbe Risiko in dem anderen von Roxin gestellten Fall, bei dem der Täter sein Opfer auf einer Straße liegenläßt, wo es von einem Roxin (Fn. 1), 115. Roxin (Fn. 1), 116. 4 6 Gegen die allgemeine Ansicht vgl. Jakobs AT (Fn. 9), 8/64. Differenzierend Eser/Burkhardt (Fn. 30), Fall 8 Rn. 31 ff (33, 35), wo die Zurechnung dahingehend begründet wird, derjenige, der ein „zusätzliches" Risiko schaffe, dürfe nicht besser gestellt werden; hiernach hängt die Frage, ob mit dem Sturz gegen den Brückenpfeiler das Eingangsrisiko realisiert wird, davon ab, ob das Opfer nicht schwimmen konnte; es handelt sich um den gleichen Fehler, der bei der entsprechenden Lösung zum dolus generalis vorzufinden ist (vgl. oben III 3 b). 44 45

4 7 Gäbe es z. B. Brücken mit einem Unterbau aus „Luft und Gummi", mit einem bestimmten Höchstgewicht usw., die manchmal schwer von den Brücken mit massivem Unterbau zu unterscheiden wären, so wäre die Annahme, das Opfer von einer „Luftbrücke" zu werfen, mit der Verwirklichung des Risikos eines Schädelbruches unvereinbar.

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Dritten überfahren wird, nicht mehr realisiert. Roxin vergleicht diesen Sachverhalt mit demjenigen des dolus generalis: Der einzige Unterschied liege darin, daß hier „der Täter selbst wieder in den Kausalverlauf eintritt und nachträglich weitere Bedingungen setzt. Da er dies aber als ein im Hinblick auf den Todeserfolg blinder Kausalfaktor tut, ergibt sich im Vergleich mit anderen hinzutretenden Ursachen keine strukturelle Differenz, so daß die Zurechenbarkeit des Erfolges allein von der Beurteilung der Kausalabweichung abhängt." 48 Der noch am wenigsten bedeutende Einwand gegen diese Auffassung liegt darin, daß der Zweitakt eben kein „blinder Kausalfaktor" ist, sondern ein Sinnausdruck (der Fahrlässigkeit wohnt eine eigene gesellschaftliche Bedeutung inne). Entscheidend ist vielmehr sowohl für den Fall, daß nach dem Ersthandelnden ein Zweiter auf den Plan tritt (sei es der Täter selbst oder aber ein Dritter) als auch für den Fall einer natürlich verursachten Kausalabweichung die Frage, ob das sich verwirklichende Risiko dasselbe zu Beginn geschaffene Risiko ist. Bestand das Eingangsrisiko in einem mit einem Baseballschläger gegen den Kopf geführten Schlag und trat der Tod durch den Sturz des noch lebenden Opfers in einen Abgrund (in den es durch eine Handlung des Täters, eines Dritten oder durch einen Wirbelsturm gefallen ist), so hat sich im Enderfolg nicht das Eingangsrisiko, sondern eine andere Gefahr verwirklicht. 2. Wenn hier davon die Rede ist, daß bei der Lösung der Problematik des dolus generalis darauf abzustellen ist, ob sich das erste Risiko realisiert hat, so soll hiermit das Bestehen eines Defizits beim subjektiven Tatbestand nicht bezweifelt werden, da der Täter, wäre ihm bei der Ausführung des Zweitaktes die wirkliche Lage bekannt, eindeutig vorsätzlich handeln würde. Da dies nicht der Fall ist, bleibt die Frage, ob sich das vorsätzlich geschaffene Eingangsrisiko trotz des Zweitaktes verwirklicht hat. Unzweifelhaft realisiert sich das Eingangsrisiko, wenn die weitere Handlung nur zu einer Änderung von Begleitumständen führt. 4 9 Wenn der Täter schon nur dadurch, daß er das Opfer an den Achseln hochhebt, die Blutung wesentlich beschleunigt, so bedeutet dies nicht, daß sich das erste Risiko nicht verwirklicht hätte, und dies, obwohl der Verlauf auch von einem zweiten Akt beeinflußt wird. 5 0 Denn der Täter braucht sich nicht den besonderen Verlauf vorzustellen, sondern muß das charakteristische Risiko seiner Handlung er48 Roxin (Fn. 1), 115 f. Der Vergleich mit den Fällen, bei denen der Zweitakt von einem Dritten durchgeführt wird, findet sich auch bei Schönke/Schröder/Cramer (Fn. 22). Der Gedanke, der zweite A k t habe als blinder Kausalfaktor zu gelten (Naturverlauf), war das zentrale Argument H. Mayers (Fn. 8). 49 Jakobs AT (Fn. 9), 8/77 ff; ders. (Fn. 23), 99 f. Diese Einschränkung wird öfter so interpretiert, als vertrete Jakobs eine „vermittelnde" Position; in Wirklichkeit handelt es sich aber um eine Präzisierung, die jeder Anhänger der Versuchslösung annehmen müßte. 5 0 Es könnte sogar sein, daß durch die Bewegung des Körpers während des Zweitaktes eine noch mögliche Rettungschance zerstört wird. Trotzdem - entgegen der differenzierenden Lösung von Schroeder und Eser/Burkhardt - würde das erste Risiko verwirklicht, denn es gehört zum normalen Ablauf nach einer Schußverletzung, daß der verletzte Körper bewegt wird und so der Tod durch Verbluten eintritt (= Realisierung des Erstrisikos).

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kennen. Wenn sich dieses Risiko verwirklicht, ist die Tat (vorsätzlich) vollendet. Wenn aber das Opfer im Abgrund zerschellt, so verwirklicht sich das Eingangsrisiko nicht mehr. 3. Um allgemein zu bestimmen, ob ein von dem vorgestellten Kausalverlauf abweichender Verlauf dem Täter als vorsätzlich ausgeführt zugeschrieben werden kann, geht die herkömmliche Lehre davon aus, daß dem Täter all jene Erfolge zurechenbar sind, die ex ante für diesen Verlauf vorhersehbar waren; in der Reserve bleibt nur die Möglichkeit einer abweichenden Lösung, wenn Umstände vorliegen, die eine „andere Bewertung der Tat rechtfertigen" 51 . Das zweite Element agiert als „Joker"; es gibt keinen nachprüfbaren Gesichtspunkt, um es mit Inhalt zu versehen. Das erste Merkmal, die „Vorhersehbarkeit", ist ungenau, gerade weil auch die als fahrlässig zugerechneten Verläufe „vorhersehbar" sein müssen, so daß man sich bei der Voraussetzung der vorsätzlich angenommenen Gefahr mit einem Erfordernis begnügt, das geringer ist als dasjenige, das notwendig wäre. Wer einem anderen in den Kopf schießt, schafft ein Todesrisiko und ein Körperverletzungsrisiko, ebenfalls die Gefahr einer riskanten medizinischen Intervention, aber auch das Risiko einer eiligen Uberführung in ein Krankenhaus usw. und damit auch dasjenige einer halsbrecherischen Fahrt. Hiernach ist schon beim Schießen der als mögliche Folge z. B. rasanter Fahrt eintretende Tod beim Transport zum Krankenhaus vorhersehbar. Ein unter diesen Bedingungen geschehener Todesfall ist ein zurechenbarer Tod. 5 2 Aber: Ist er zum Vorsatz zuzurechnen? Für die Zurechnung zum Vorsatz wäre es notwendig, daß der Erfolg schon auf entsprechendem Weg objektiv bezweckbar wäre; zur Zurechnung als Fahrlässigkeit reicht es dagegen aus, wenn es vernünftig wäre, das Risiko einer halsbrecherischen Fahrt nicht auf sich zu nehmen. 53 Wenn das vom Täter geschaffene konkrete Risiko durch ein ebenfalls zu Beginn geschaffenes abstraktes Risiko „übertrumpft" worden ist, kann der Erfolg dem Verursacher - wenn er denn ein solcher ist - nur als fahrlässige Tat zugerechnet werden (ob er sich eingangs einen Unfalltod vor-

5 1 Vgl. B G H S t 7, 329; Wessels/Beulke (Fn. 22), Rn. 2 5 8 ff m w N ; Schönke/Schröder/Gramer (Fn. 22), § 15 Rn. 55 ff m w N ; Roxin (Fn. 1), 110 ff, 116; a A Otto (Fn. 23), § 7 Rn. 83 ff (84). 5 2 Wenn deshalb die Rede davon ist, der durch einen Autounfall eintretende Tod sei dem ersten Verursacher nicht objektiv zurechenbar (vgl. u. a. SK-Rudolphi, vor § 1 Rn. 63; Schönke/ S c h r ö d e r / C r a m e r [Fn. 22], § 15 Rn. 58; Roxin [Fn. 1], 120), wird dies ohne die nötigen Differenzierungen formuliert: E r ist nicht zurechenbar, wenn die Fahrt im Rahmen des erlaubten Risikos verbleibt oder wenn sie aus einem anderen Grund nicht ordnungsgemäß verläuft (z. B.: unnötiger Halt an exponierter Stelle); wenn aber aufgrund der Dringlichkeit der Überführung es nötig ist, ein unerlaubtes Risiko (gerechtfertigt) zu schaffen, ist der Unfall demjenigen, der diese Notlage (ohne Rechtfertigung) geschaffen hat, zurechenbar. Vgl. dazu Jakobs AT (Fn. 9), 7/Fn. 131g. 5 3 Hier wird von der Möglichkeit ausgegangen, die der Zurechnung zum Vorsatz eigenen (erkannten) Risiken von denen der Zurechnung zur Fahrlässigkeit objektiv zu unterscheiden: Objektive Bezweckbarkeit eines Erfolgs (konkretes Risiko) einerseits und Planung der Vermeidung von (abstrakten) Risiken andererseits. Vgl. dazu Sancinetti in: Cancio Meliá/Ferrante/ Sancinetti, Estudios sobre la teoría de la imputación objetiva, 1998, 58 ff.

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gestellt oder ob er ihn sogar herbeigewünscht hat, ist irrelevant). Deshalb: Die Vorhersehbarkeit kann keinen Gesichtspunkt zur Entscheidung über die Zurechnung zum Vorsatz darstellen. 4. Bessere Aussichten hat jene Formel, die danach fragt, ob sich das der Handlung eigene Risiko realisiert hat, und nicht, ob der Täter den konkreten Verlauf kannte: „Vorsatzgegenstand ist nicht ein konkreter Verlauf, sondern die Verwirklichung eines Risikos" 5 4 . Hiernach sei zur Lösung darauf abzustellen, ob die Abweichung vom Verlauf eine Variierung von Begleitumständen innerhalb ein und desselben Risikos 5 5 oder aber die Ersetzung des (fehlgeschlagenen) Eingangsrisikos durch ein anderes (erfolgreiches) Risiko. Diese Gegenüberstellung ist auch bei Roxin impliziert, wenn er zwischen der Handlung, die ex ante ein Risiko verringert, und derjenigen Handlung, die es durch ein geringeres ersetzt, unterscheidet. 56 Stellen wir uns einen Dritten vor, der just in dem Augenblick vor dem von dem Täter gegen den Kopf des Opfers geführten Keulenschlag den Tatverlauf beeinflussen könnte - zum Beispiel, indem er das Opfer einen Abhang hinunterstößt - , so daß es zwar vor dem Tod durch den Schlag „gerettet" werden würde, aber - auf Grund einer ex ante geringeren Lebensgefahr - trotzdem stürbe. Würde der Dritte nach Roxin ein und, dasselbe Risiko verringern oder aber durch ein anderes, vorzugswürdiges ersetzen? Da der gleichfalls eintretende Tod durch Sturz in den Abgrund nicht ohne weiteres als Folge eines Keulenschlages auf den Kopf zu erklären ist, müßte man zu dem Ergebnis kommen, daß der hypothetische Dritte das Risiko ersetzte. Doch genau diese Überlegung würde bedeuten, daß in den Fällen des dolus generalis sich nicht das Eingangsrisiko realisiert, sondern ein anderes Risiko, das durch den Zweitakt geschaffen wird. 5. Doch die Versuchslösung müßte noch gegen den Einwand bestehen, die Möglichkeit, einem ersten Verursacher die Folgen weiteren Verhaltens eines Dritten zuzurechnen, gehöre zum Standardwissen. 57 Dies muß auch für Fälle gelten, bei denen der Erst- und der Zweitverursacher identisch sind und bei denen der Enderfolg mit dem eingangs verfolgten übereinstimmt. Doch damit - zum Beispiel - der durch die für die Operation notwendige Narkose eingetretene Tod als Realisierung des vorsätzlich angenommenen Eingangsrisikos gelten kann, muß das vom Arzt verwandte Verfahren den medizinischen Kunstregeln entsprechen. Wenn der Arzt seinerseits einen Fehler begeht, verwirklicht sich vielleicht auch ein der Eingangshandlung zurechenbares Risiko, aber ein anderes Risiko: Nicht mehr dasjenige eines Todes durch Schüsse und die notwendigen und korrekten Rettungsmaßnahmen, sondern ein anderes Risiko, das, wenn es denn dem Ersthandelnden zurechenbar ist, erneut Jakobs AT (Fn. 9), 8/66; KK-Zielinski, §§ 1 5 - 1 6 Rn. 59. Jakobs AT (Fn. 9), 7/14, 7/82, 8/70. 56 Roxin (Fn. 39). 5 7 Vgl. u. a. mit verschiedenen Lösungen Jakobs AT (Fn. 9), 7/55, 7/59, 7/81; Frisch (Fn. 23), 408 ff; SK-Rudolf hi, § 16 Rn. 21 ff. 54 55

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nur als fahrlässig zugeschrieben werden kann. Denn daß ein Arzt eine riskante Lebensrettungsmaßnahme ergreifen muß, und daß das Opfer wegen der korrekt vorgenommenen Operation stirbt, gehört zu den Variationen der Umstände des Risikos einer vorsätzlichen Tötung durch eine Feuerwaffe; dagegen kann das allgemeine Risiko, daß ein Arzt seinerseits ein fehlerhaftes Verhalten durchführt, nicht mehr als vorsätzliche Schaffung des Eingangsrisikos gewertet werden. Der Ersthandelnde ist (vorsätzlicher) mittelbarer Täter einer korrekten Rettungshandlung, nicht aber einer solchen, die fehlerhaft ist. Wird dieser Gesichtspunkt auf die Fälle des dolus generalis übertragen, führt er zu Folgendem: Da der Zweitakt fehlerhaft ist (Fahrlässigkeit) und jedenfalls auch nicht einer Notlage entspringt, wenn er äußerlich korrekt wäre (unvermeidbarer Irrtum), ist der Endverlauf nicht als (vorsätzliche) Folge des Anfangsrisikos zurechenbar. Wenn aber der Täter selbst, als Arzt, der er ist, eine durch seinen Erstakt notwendig gewordene Rettungshandlung versucht und diese fehlschlägt (das Opfer stirbt an der von ihm eingeleiteten Narkose), führt die Richtigkeit und Notwendigkeit des Verlaufs dazu, daß sich das erste Risiko verwirklicht ( = vorsätzliche Vollendung). Diese Konsequenz sollte nicht überraschen, denn beide Fälle unterscheiden sich in einem entscheidenden Punkt: Im zweiten Fall erkannte der Täter, daß das Opfer am Leben war; hätte er es anstatt des Rettungsversuchs sterben lassen, läge ebenfalls eine vollendete Tötung vor. Damit eine fehlerhafte Zweithandlung desselben Täters ihm wegen seiner vorhergehenden Vorsatzhandlung zugerechnet werden kann, muß er - schon bei diesem ersten Akt - für den späteren Fehler zuständig sein, was nur der Fall sein kann, wenn die - sehr seltenen - Voraussetzungen einer vorsätzlichen a.l.i.c. erfüllt werden. Für den Normalfall reicht die sich auf den späteren fehlerhaften Akt beziehende N o r m aus. Schon intuitiv würde man die Verwirklichung des Erstrisikos verneinen, wenn man den Grundfall mit einer von folgenden Varianten anreichert: a) Der Täter wirft das Opfer nicht absichtlich in den Abgrund, sondern es entgleitet ihm, als er es aufzuladen versucht; schon weil hier nicht einmal der Fall an sich bekannt ist, führt bloße Intuition zur Erkenntnis, daß der konkrete Tod keine Realisierung des Anfangsrisikos darstellt, b) Nach der ersten Handlung überläßt der Täter das auf dem Boden liegende Opfer seinem Schicksal; ein Dritter, der die Tat beobachtet hat, möchte dem Täter, ohne daß dieser es weiß, helfen, der Strafe zu entgehen, und wirft den Körper, wie im Grundfall, in einen Abgrund. Vorsätzliche Tötung des Erstverursachers? Mit Sicherheit nicht. 6. Die Versuchslösung wird manchmal sogar von ihren Vertretern 58 als dem Rechtsgefühl widerstreitend empfunden. Gropp gibt sich damit zufrieden, daß „der Zufall (bzw. Glück und Unglück) nicht zu Lasten des Täters berücksich58 Maurach Deutsches Strafrecht AT, 2 1958, § 23 III 2 b : „... daß sie dem Rechtsgefühl nicht genügt, kann freilich auch nicht bezweifelt werden". Diese Bemerkung ist ab der 3. Aufl. (1965) nicht mehr anzutreffen.

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tigt werden darf, wohl aber zu seinen Gunsten berücksichtigt werden muß". 59 „In den dolus generalis-Fällen hat der Täter ,Glück', weil der Erfolg zunächst nicht eintritt. Dieses Ausbleiben des Erfolgs muß dem Täter wie bei jedem Versuch zugute kommen ,.." 6 0 Es ist zwar richtig, daß bei jedem (beendeten) Versuch „strafrechtliches Glück" vorliegt; doch weder trifft es zu, daß dies nur eine Begünstigung ist, noch ist es richtig, daß dieses Glück gerechtfertigt ist. Es ist keine Begünstigung, weil der gleiche zufällige Umstand, der zum Fehlschlag des Versuchs von A führen kann, auch die Vollendung des Nebenversuchs von B zur Folge haben kann, so daß dieser durch dieses Unglück geschädigt wird (der Flug eines Vogels lenkt das Geschoß ab) 61 . Im vorliegenden Rahmen kann ich mich nicht eingehend mit der Ungerechtigkeit eines an die Erfolgszurechnung gebundenen Systems befassen;62 doch möchte ich hier unterstreichen, daß die Lehre von der objektiven Zurechnung den Ansatz des Grundsatzes der Abschaffung der strafschärfenden Funktion des Erfolgs bei der Vorsatztat in sich trägt, und zwar auch dank Roxins Beiträgen. Denn um die Tatbestandslosigkeit bei Fällen der Risikoverringerung zu beurteilen, ist die Ex-ante-Lage entscheidend. Und wenn die Frage nach dem Ob der Unerlaubtheit eines Risikos ex ante beantwortet wird, sollte dies auch für das Maß seiner Mißbilligung gelten; ein Versuch mit geringen Erfolgschancen sollte weniger mißbilligt werden als ein vielversprechender Versuch. Vermag die „Vollendung" diese Reihenfolge zu ändern, so wird einmal ex ante (ist ein mißbilligtes Risiko vorhanden?) und ein andermal ex post (wie mißbilligt ist das Risiko?) entschieden: ein sich seiner selbst unsicheres System. Solange der Begriff der „Vollendung" eine Rolle spielt, sollten die Fälle des dolus generalis als ein Minus gelten.

V. Die „richtige Lösung" bürstet die Intuition gegen den Strich, und zwar um so intensiver, je mehr Bedingungen der „differenzierenden Lösungen" gegeben sind: Der Täter hatte den Zweitakt im anfänglichen Plan vorgesehen, schuf ein Risiko, das den Erfolg hervorgerufen hätte, wenn er es nicht selbst ersetzt hätte, und handelte in unrevidierter Tötungsabsicht. Trotzdem liegt keine vorsätzliche Vollendung

vor.

Doch ein Strafrecht, das vom Grundsatz der Schuld wegen fehlerhafter Motivierung ausgeht und gleichzeitig aber je nach den eingetretenen Erfolgen mehr oder weniger zurechnet, kann Wertungswidersprüche nicht vermeiden. Jedes auf der Grundlage von sich widerstreitenden Grundsätzen errichtete Gropp (Fn. 23), § 5 Rn. 76. Gropp (Fn. 23), § 5 Rn. 77. 61 Sverdlik (Fn. 23). 62 Vgl. dazu Sancinetti (Fn. 11), 43 ff, 79 ff, 126 ff und passim; ders. (Fn. 9), 19 ff, 24 ff, 132 ff, 163 ff, 171 ff und passim. 59 60

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System (Schuldstrafrecht gegen Erfolgsstrafrecht) ist einem Quantum Irrationalität ausgeliefert: Die Erfolgsdelikte „zwingen per Definition des Erfolgs zu einem Mindestnaturalismus" 6 3 ; „es [handelt] sich bei dem auf die Emanation Folgenden offenbar um schiere Natur ...", 6 4 Die entscheidende Frage ist dann, was denn dazu zwingt, Erfolgsdelikte zu haben, statt bei der Zurechnung zum Vorsatz nur kupierte Erfolgsdelikte (schiere Zurechnung). Die Antwort kann nicht in der Tatsache liegen, daß die weitestverbreitete Intuition dies für notwendig hält: Eine Glücksmoral ist eine verwerfliche Moral. Wenn kein Argument für sie spricht, hat die Intuition der Argumentation zu weichen. Dies ist der springende Punkt für ein „reflective equilibrium" und auch der Grund, warum letztlich die dogmatische Analyse, das dogmatische System über der Kriminalpolitik zu stehen haben. Der Gang dieser Arbeit scheint schwer mit Roxins Denken vereinbar zu sein; doch sie bemüht sich jedenfalls, wie es der Jubilar stets vertreten hat, um eine innige Beziehung zwischen der Dogmatik und ihren Folgen. 6 5 Sei so meinem Respekt für den unschätzbaren Wert seiner Lehren Ausdruck verliehen.

63 64 65

Jakobs FS für Lackner, 1987, 53 ff (55 Fn. 4). Jakobs FS für Nishihara, 1998, 105 ff (109). Roxin (Fn. 3), 4 f , 10 und passim; ders. (Fn. 2), § 7 Rn. 30 ff, 37 ff, 50 ff und passim.

An der Grenze von Vorsatz und Fahrlässigkeit - Ein Modell multikriterieller computergestützter Entscheidungen LOTHAR PHILIPPS

I. Unscharfe Begriffe als Entscheidungsgrundlage Wenige Grenzen in unserer an Grenzkonflikten wahrlich nicht armen Welt sind so umstritten wie die zwischen benachbarten Rechtsbegriffen. Bei manchen von ihnen dauert der Streit um die Grenze schon Jahrhunderte. 1 Gewiß steht hier viel auf dem Spiel: es geht um Mein und Dein, um Gebenmüssen oder Behaltendürfen, um Gefängnis oder Freiheit - oder wenigstens um eine härtere oder eine mildere Strafe. 2 Trotzdem ist erstaunlich, daß es in manchen Bereichen des Rechts weder dem Scharfsinn großer Juristen noch der Autorität hoher Gerichte gelingen will, Abgrenzungen zu finden, die als gerecht, sicher und praktikabel allgemein anerkannt werden. Der Konflikt der Interessen allein erklärt das Scheitern der Grenzziehung nicht, pflegen doch selbst Erbfeinde unter den Staaten irgendwann einen Grenzverlauf zu akzeptieren. Die Staaten können sich jedoch auf Sachverhalte der Geographie beziehen. Objektive Sachverhalte hinter den Rechtsbegriffen, von diesen nur bezeichnet und nicht auch geformt, gibt es jedoch kaum. Deshalb ist nicht einmal sicher, worum genau zwei Rechtswissenschaftler sich streiten; selbst ihre kontroversen Definitionsvorschläge bleiben unbestimmt. Sollte man daraus nicht den Schluß ziehen, daß es die Grenze zwischen benachbarten Rechtsbegriffen gar nicht gibt? Vor nicht allzu langer Zeit hätte man einen solchen Schluß befremdlich gefunden. Inzwischen gibt es jedoch eine Fuzzy Logic, die anerkennt, daß Begriffsgrenzen einander überlagern und ineinander verfließen können; was die 1 Was die Vorsatzgrenze anlangt, so richtet S c h e f f l e r einen einfühlsamen Blick auf ein streiterfülltes Stück Vergangenheit: /. S. F. von Böhmer ( 1 7 0 4 - 1 7 7 2 ) und der dolus eventualis, Jura 1995, 3 4 9 - 3 5 6 . Speziell mit der Problematik der folgenden Ausführungen verbunden ist der dogmengeschichtliche Beitrag von Volk Dolus ex re, FS für Arthur Kaufmann, 1993, 611 ff. 2 Das anglo-amerikanische Recht hat zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit eine Pufferzone eingerichtet: Recklessness; vgl. Weigend Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit, ZStW 93 (1981), 657 ff. Das dämpft den Konflikt zwischen den beiden Begriffen; andererseits hat man gegen eine Grenze deren zwei eingetauscht. O b das per Saldo ein Vorzug ist, soll hier unerörtert bleiben; für die absehbare Zukunft ist nicht zu erwarten, daß die Rechtsordnungen, die von der „kontinentalen" Zweiteilung bestimmt sind, diese aufgeben werden.

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Begriffe zusammenhält, ist nicht ihre Grenze, sondern ihr Gravitationszentrum, und dessen Ausstrahlungen können sich mit den Ausstrahlungen anderer Gravitationszentren überkreuzen.3 Wenn auch juristische Begriffe unscharf sind, so müssen doch juristische Entscheidungen in der Regel scharf umgrenzt sein, sonst könnten sie nicht vollstreckt werden. Die Fuzzy Logic hat verschiedene Verfahren entwickelt, auf der Grundlage unscharfer Begriffe scharfe Entscheidungen zu treffen. Das Verfahren, das ich hier vorschlage, ist ursprünglich für betriebswirtschaftliche Entscheidungen entwickelt worden, beispielsweise für die Vergabe von Krediten auf Grund von unscharfen Kriterien wie „wirtschaftliche Sicherheit" einerseits und „persönliche Zuverlässigkeit" andererseits (beides mit mehrfach gestuften Unterkriterien).4 Eine klare Entscheidung braucht nicht die richtige Entscheidung zu sein, sollte es aber tunlichst. Betriebswirte sind da besser dran als wir Juristen. Ihnen stehen Erfahrungen zur Verfügung, an denen sie Entscheidungen zur Kreditgewährung testen können: Fälle, in denen jemandem ein Kredit gewährt wurde, aber er konnte ihn nicht zurückzahlen, und auch Fälle, wo jemandem ein Kredit versagt wurde, und er hat sich trotzdem auf dem Markt behauptet: schade um den verlorenen Kunden. Ob jedoch eine Gerichtsentscheidung über Vorsatz oder Fahrlässigkeit falsch war, dafür gibt es keine poena naturalis: daß ein Urteil von einer höheren Instanz aufgehoben, daß es in juristischen Zeitschriften verrissen werden kann, ist selbstverständlich - doch auch für die Richtigkeit der Kritik gibt es kein Feedback von der Sache her. Aber dieser Mangel liegt in der Natur der Dinge: kein Grund, es nicht auch in der Jurisprudenz mit einem Verfahren zu versuchen, das sich anderswo bewährt hat. Wenn man ein fuzzyylogisches Entscheidungsverfahren richtig ausnutzen will, braucht man den Computer. Der Diplom-Informatiker Gerhard Popp hat auf Grund meiner Vorgaben ein Computerprogramm geschrieben: „An der Grenze eines Rechtsbegriffs - Multikriterielle Entscheidungen in einer weiten, offenen, sich wandelnden und diffusen Umgebung". Er hat das Programm mit einer suggestiven graphischen Benutzeroberfläche versehen, die es jedem Computer-Laien ermöglicht, aus dem Stand heraus damit zu arbeiten - oder zunächst damit zu spielen. Man kann es sich (samt Quellcode) mit Erläuterungen und einigen juristischen Beispielen vom Internet herunterladen.5 Ich werde auf 3 Zu Anwendungen von Fuzzy Logic im Recht vgl. das von Philipps und Sartor herausgegebene Sonderheft (Sept. 1999) der Zeitschrift Artificial Intelligence and Law (Kluwer-Verlag). Vgl. auch Philipps Ein bißchen Fuzzy Logic für Juristen, in: Tinnefeld/Philipps/Weis (Hrsg.), Institutionen und Einzelne im Zeitalter der Informationstechnik, 1994, 219 ff. Das Grundsätzliche zur Fuzzy Logic findet sich bei Bart Kosko Fuzzy Thinking, 1993 (dt. Hamburg 1993); daß Kosko dort wiederholt Verbindungen zum Rechtsdenken knüpft, in einer Weise, die deutlich an Theodor Viehwegs Topische Juriprudenz erinnert, ist von der Fuzzy Logic her gesehen kein Zufall. Noch wesentlich mehr Verbindungen zum Recht finden sich in Koskos Fuzzy Future, New York 1999.

Vgl. z. B. H.-J. Zimmermann Fuzzy Set Theory, Boston-Dordrecht-London 2 1991, 362 ff. Unter http://www4.in.tum.de/~popp findet sich Popps Homepage. Es gibt viele multikriterielle Decision-Support-Systeme auf dem Markt. Sie sind nicht spezifi4 5

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dieses Programm aber nur peu ä peu eingehen; denn nur was für sich selber einleuchtet, kann, durch den Computer verstärkt, ein Licht auf die Umwelt werfen.

II. Entscheidungsunterstützung bei unscharfen Begriffen Jenes Entscheidungsverfahren läßt sich folgendermaßen in die Jurisprudenz übertragen: Man stelle zunächst die wesentlichen Kriterien zusammen, die die Fachleute bei ihren Versuchen, sich im Grenzgebiet zweier Begriffe zurechtzufinden, benutzen. Das können Faustregeln der Praxis sein und Leitsätze wichtiger Gerichtsentscheidungen. Auch Kriterien aus der juristischen Literatur füge man hinzu. Wenn zwei Lehrmeinungen kontrovers sind und sich wechselseitig ausschließen, sollte das kein Grund sein, sie nicht beide zu übernehmen. Voraussetzung ist lediglich, daß an beiden „etwas dran" ist. Daß auch Teilwahrheiten Wahrheiten sind, ist einer der Grundgedanken der Fuzzy Logic. Die Kriterien werden sodann nach Sachzusammenhängen geordnet und in eine Baumstruktur gebracht, so daß sie sich abwärts vom Allgemeinen zum Speziellen hin verzweigen - ganz so, wie es auch in Kommentaren geschieht (mit denen man beim Entwurf eines Entscheidungsbaums tunlichst im Einklang bleiben sollte).6 Die Bewertung eines Rechtsfalles vollzieht sich in umgekehrter Richtung: Subsumiert wird unter die Begriffe der untersten und speziellsten Schicht des Baumes, der Schicht der „Blätter". Die Subsumtionen, d. h. wie wir sehen werden, ihre Erfüllungsgrade, werden dann nach oben hin zur Wurzel des Baumes hin aggregiert; wie dies vonstatten geht, davon später. Sollte ein Rechtsfall so recht unter keinen Begriff des Baumes passen, obwohl man findet, daß der Fall einschlägig ist, sollte man also den Eindruck einer „Lücke" im Kriterienbaum haben, dann kann man ein Kriterium auch analog anwenden. Und wenn die Lücke etwas Typisches an sich hat, wenn der Fall in einer voraussichtlich wiederkehrenden Weise von den vorgesehenen Begriffen abweicht, so mag es sich lohnen, an der fraglichen Stelle einen neuen ziert, aber doch für diese oder für jene Verwendung - zum Beispiel in der Medizin - unterschiedlich gut geeignet. Ich habe aber keines gefunden, das meinen Vorstellungen von einer juristischen Entscheidung nahe kommt. Gleichwohl beachte man die vorzügliche Beschreibung und Evaluierung einiger Systeme in der Computerzeitschrift c't: Nabe und Schmid Kopf oder Zahl? c't 5 (1997), 256 ff. Von manchen Systemen läßt sich auch eine Kostprobe vom Internet herunterladen; einschlägige Adressen im angeführten r'i-Heft. Vgl. auch die Münchner Diplomarbeit (TU 1998) von Fellinger „Evaluierung entscheidungsunterstützender Werkzeuge und Lösungsprinzipien für neue Werkzeuge anhand von Fallstudien aus dem Softwareengineering". 6 Für alle Fälle sei bemerkt, daß die Bäume der Mathematiker — anders als die der Natur abwärts von oben nach unten wachsen. „Abwärts" besagt aber nicht, daß sich auch der Entwurf des Baumes in dieser Richtung vollziehen müsse. Wahrscheinlich wird man einige Teile topdown entwerfen und andere bottom-up. - Übrigens kann man eine Baumstruktur auch durch die von Wittgenstein eingeführte dezimale Gliederung ausdrücken: 1; 1.1, 1.2 usw. Manche Juristen werden das bevorzugen.

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Zweig mit neuen Kriterien in den Baum einzufügen. D e r Baum kann also weiterwachsen und größer und dichter werden. Man kann aber auch Zweige herausschneiden, wenn sie abgestorben sind oder wenn sie in eine Richtung ausschlagen, die man f ü r falsch hält. 7 Die Gestalt des Baumes ist immer etwas Vorläufiges; das zu wissen mag hilfreich sein bei dem Entschluß, ihn anzupflanzen: Man kann mit einem kleinen Baum mit wenigen Asten anfangen, und vielleicht ist das sogar das beste. So betrachtet mag der hier skizzierte Baum ein bißchen groß geraten sein; aber das bitte ich mir bei einer Gabe f ü r einen Jubilar wie Claus Roxin nachzusehen. 8 Die A r t der Subsumtion unter die Kriterien ist ebenso u n o r t h o d o x wie die Toleranz gegenüber widerstreitenden Lehrmeinungen: Die Kriterien werden als graduierbar betrachtet. A n d e r s gesagt: die Sachverhalte werden nicht als schlechthin passend oder unpassend aufgefaßt, sondern als zu einem gewissen Grade passend. D e r jeweiligen Ausprägung eines Merkmals w i r d ein W e r t zugeordnet aus einer Skala, die von 0 bis 1 reicht. W e n n also beispielsweise eine Handlung „in höchstem Maße lebensgefährlich" ist, w i r d ihr der W e r t 1 zugeordnet; eine „völlig ungefährliche" Handlung erhält den W e r t 0. Ist eine Handlung „halbwegs gefährlich", w i r d sie mit 0,5 bewertet. Was die Stufen der Skala anlangt, so dürfte es praktikabel sein, neun Schätzwerte zu verwenden, die verbal in Dreiergruppen aufgegliedert sind: 0,1; 0,2; 0,3 - „niedrig"; 0,4; 0,5; 0,6 - „mittel"; 0,7; 0,8; 0,9 - „hoch". Die beiden G r e n z w e r t e 1 und 0 drücken das gänzliche Erfülltsein oder Nichterfülltsein eines Kriteriums aus. Dieser Vorschlag mag durch meine Tätigkeit als P r ü f e r im juristischen Staatsexamen inspiriert sein; doch spricht das nur f ü r ihn, denn alle Juristen in

7 Die Plastizität ist dadurch erkauft, daß nur von einem Teil der Logik, dem junktorenlogischen, Gebrauch gemacht wird. Das vollständige System der Fuzzy Logic wäre zwar genauer, aber wesentlich aufwendiger in der Konstruktion und der Justierung, und, was Korrekturen und Ergänzungen anlangt, deren Notwendigkeit in der Natur des Rechts begründet ist, schwerfälliger. Als Beispiel für ein formal „vollständiges", inhaltlich freilich nicht justiertes System vgl. Philipps Unbestimmte Rechtsbegriffe und Fuzzy Logic, FS für Arthur Kaufmann, 1993, 265 ff. Die Nachteile sieht auch Münte, der in einer familienrechtlichen Arbeit von der vollständigen Fuzzy Logic Gebrauch macht: „Die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe mit Hilfe von Fuzzylogik am Beispiel des § 1610 BGB", Münster 2000. 8 Nicht berücksichtigt im Indikatorenbaum ist die Konstellation, daß jemand eine Vielzahl von Handlungen vornimmt, vielleicht sogar en bloc, deren jede einzelne zwar nur eine geringe, vielleicht sogar sehr geringe Erfolgswahrscheinlichkeit mit sich trägt; deren Vielzahl aber den Eintritt einzelner deliktischer Resultate als hoch, wenn nicht sogar als so gut wie sicher erscheinen läßt; das wird als Geschäftsrisiko widerwillig akzeptiert, zumal da die Opfer anonym sind und der Einzelfall durch den Zufall selegiert ist. Jemand verkauft Blut an Krankenhäuser, ohne es auf HIV gehörig getestet zu haben; manche sterben an dem Virus. Oder: Jemand bringt eine Gruppe von Ausländern über die Grenze, in einem nahezu luftdichten Container; einige von ihnen ersticken. Daß dergleichen in der juristischen Praxis manchmal zwar noch zu einer Anklage, aber nicht zu einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung zu reichen scheint, kann ich nicht nachvollziehen. Es fragt sich freilich, ob man diesen und manchen anderen Phänomen wirklich ein eigenes „Blatt" widmen sollte. Besser wäre es vermutlich, man könnte durch einen Mausklick auf ein Blatt einen kommentierenden Hypertext zum Vorschein bringen.

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Deutschland kennen das Prinzip: Man bewertet eine juristische Prüfungsleistung, indem man ihr einen Zahlenwert aus einem Bereich zuordnet (diesmal von 0 bis 18), der ebenfalls verbal in Dreiergruppen gegliedert ist (von 0 abgesehen): 1, 2, 3 - „mangelhaft"; 4, 5, 6 - „ausreichend"; ...; 16,17,18 - „sehr gut". Was man als Prüfer kann, sollte man auch als Richter oder Staatsanwalt können. 9 Das Entscheidungsverfahren läßt sich, mit Modifikationen, auf unbestimmte Rechtsbegriffe jeder Art in jedem Rechtsgebiet anwenden; am dolus eventualis sei es hier lediglich exemplifiziert. Dabei soll auch keine neue Theorie vorgestellt werden; neu ist nur die Methode, und neu vielleicht auch nur in ihrer Explizitheit: Intuitiv werden viele Praktiker in vergleichbarer Weise verfahren. Was den juristischen Inhalt des Kriterienbaumes anlangt, so schließt sich mein Vorschlag der vorherrschenden „modifizierten Einwilligungstheorie" an. Diese Theorie halte ich für richtig; doch sei wiederum betont, daß das Verfahren als solches von ihr unabhängig ist: Wer sich dem Gegenpol der „Vorstellungstheorie" nähern möchte - einer Tendenz der letzten Jahre folgend - , kann dies mit derselben Methode tun; er muß dann lediglich den Baum ändern. Der Kriterienbaum zum dolus eventualis ist hier auf Tötungsdelikte beschränkt (wenn sich auch manche Kriterien auf andere Delikte übertragen lassen). Diese Einschränkung ist sinnvoll, da der dolus eventualis bei Tötungsdelikten eine besondere Rolle spielt. In der heutigen Gesellschaft breitet sich diffuse Aggressivität aus: man kann nicht mehr von dem rationalistischen Vorverständnis ausgehen, daß eine Tötung entweder Absicht war oder aber ein Versehen. Skinheads, die ihrem Opfer den Schädel eingetreten haben, berufen sich darauf, daß sie ihm nur einen „Denkzettel" hätten verpassen wollen; zudem waren sie meistens betrunken, was ihre Intentionalität (nicht erst ihr Unrechtsbewußtsein) abgestumpft haben mag. In den Einzelheiten des Entscheidungsbaums wird der Strafrechtler Positionen wiedererkennen, die u. a. mit den Namen Hassemer, Herzberg, Jakobs, Armin Kaufmann, Roxin, Schrotb und Schünemann verbunden sind. Das mul-

9 D a ß dieses Skalierungsverfahren methodologisch problematisch ist, dessen bin ich mir bewußt; aber das gilt f ü r die unstrukturierte Praxis z u m dolus eventualis erst recht. Vgl. Philipps Iudex non calculat - jedenfalls nicht ohne C o m p u t e r ; M s c h r K r i m B d . 81, 1998, 263 (265 ff). Ein paar praktische Hinweise: Bestimmte Werte lassen sich in vielen Fällen mit Sicherheit ausschließen: Wenn eine S u b s u m t i o n „halbwegs" zutreffen könnte, wird man ihr nicht die Werte 0,8 oder 0,9 zuschreiben. D e n Wert 0,5 wird man nicht wählen, wenn das Gewicht der S u b s u m t i o n spürbar der einen oder der anderen H ä l f t e der Skala zuneigt. Wenn man den E i n d r u c k hat, daß ein Indikator nach der verbalen Skala „ i m geringen", „ i m mittleren" oder im „hohen M a ß e " erfüllt ist, wird man grundsätzlich den mittleren der jeweils drei numerischen Werte wählen u n d den oberen oder den unteren nur dann, wenn man glaubt, daß auch der verbale N a c h b a r w e r t in Betracht k o m m t (im Verhältnis z u m „mittleren" also „ g e r i n g " auf der einen Seite u n d „ h o c h " auf der anderen). D a r ü b e r hinaus sind versuchsweise Verschiebungen der Werte ratsam; es ist ja geradezu der Sinn des S y s t e m s , daß m a n die G r e n z e n seines Rechtsgefühls austeste. D a z u gehört auch die sog. „Sensitivitätsanalyse", das heißt die P r ü f u n g , o b und in welchem Maße es auf bestimmte Antworten überhaupt a n k o m m t oder o b die entsprechende Frage — wie Juristen gerne sagen - „dahingestellt bleiben k a n n " .

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tikriterielle Konzept ist vor allem von Hassemer in die Rechtswissenschaft eingeführt worden. 1 0 In die gleiche Richtung weist eine Ubersicht, die Ulrich Schroth zur Rechtsprechung des B G H angefertigt hat. 11

III. Erläuterungen zum Entscheidungsbaum Die Wurzel des Baumes, der Vorsatz, gabelt sich, der herkömmlichen Auffassung gemäß, in zwei Stämme, den intellektuellen und den voluntativen: daß man erstens den Erfolgseintritt als mehr oder minder wahrscheinlich voraussieht und daß man ihn zweitens mehr oder minder akzeptiert. Das Verhältnis der beiden Komponenten zueinander ist freilich subtil. Es gibt nämlich die Möglichkeit der Kompensation: wenn eine Komponente nur schwach ausgeprägt ist, kann das durch die Stärke der anderen ausgeglichen werden. Doch wie schwach darf die eine, wie stark muß dann die andere sein? Dazu später mehr. Der erste der beiden Stämme ist der intellektuelle: daß der Täter die Gefahr kennt, die von seiner Handlung ausgeht. Es mag dies - nun beginnen die Verästelungen - beispielsweise das Wissen des Täters um die Gefährlichkeit seiner Waffe sein oder das Wissen um die Verletzlichkeit des anderen, in die man sich mit dem eigenen Leibe einfühlt. 12 Wie der Bundesgerichtshof anerkannt hat, darf man aus einem hochgradig lebensgefährlichen Verhalten, wenn sich die Gefahr „geradezu aufdrängt", auf dolus eventualis schließen. Die Gefahr drängt sich z. B. auf bei einem ausgedehnten Tatgeschehen, wenn der Täter sieht, wie sein Baseballschläger den Körper des anderen zerstört. Der Schluß aus einem Indikator ist jedoch korrigibel, auf Grund von Gegenindikatoren. Der Blick auf den Tod kann verschleiert sein, wenn der Täter unter starker affektiver Spannung steht oder unter dem Einfluß von Alkohol oder Drogen. Aber auch bei klarem Bewußtsein von der Todesgefahr muß noch die zweite Komponente des Vorsatzes vorliegen. Es fragt sich immer noch, ob der Täter sich für die erfolgsträchtige Tat „entschieden" hat, ob er in den möglichen Erfolg „eingewilligt" hat. Ein Gegenindikator zur „Einwilligung" in die Tötung eines anderen ist die Reziprozität der Todesgefahr: Der blindlings um die Kurve rasende Fahrer gefährdet sich selber genau so sehr wie den, der ihm möglicherweise entgegenkommt. Wenn man nicht annehmen kann, daß er den eigenen Tod in Kauf nimmt, so gilt das auch für den Tod des anderen. 10

Hassemer Kennzeichen des Vorsatzes, GS für Armin Kaufmann, 1989, 289 ff. Schroth Die Rechtsprechung des B G H zum Tötungsvorsatz in der Form des „dolus eventualis", NStZ 1990, 324 ff. 12 Daß das Wissen um den Körper und um die Waffe ein „intellektuelles" Wissen sei, wird wohl manchen, der von der phänomenologischen und existenzphilosophischen Philosophie beeinflußt ist, bedenklich stimmen. Aber für den juristischen Zweck einer begrifflichen Entgegensetzung sollte die Benennung genügen. 11

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Viel erörtert wurde der von Armin Kaufmann eingeführte Gegenindikator, daß der Täter Handlungen vornimmt, um den Erfolg zu vermeiden. Aber wie alle Indikatoren ist auch dieser nicht durchschlagend. Denn ebenso wie der Wille zur Tat bis zum dolus eventualis gedämpft sein kann, kann es auch der Wille zur Vermeidung der Tat sein. 13 Eine Untergrundorganisation benachrichtigt die Polizei wenige Minuten bevor in einem belebten Bahnhof eine Bombe explodiert. („Geht bestimmt noch gut!") Damit verwandt ist der Gegenindikator, daß der Täter - vielleicht auch das mögliche Opfer oder ein Dritter — die Situation unter Kontrolle hat: bereit, es nicht zum Schaden kommen zu lassen, so daß die Gefahr „abgeschirmt" ist. Wenn bei einer Verkehrskontrolle ein Autofahrer in der Absicht durchzubrechen auf einen Polizisten zurast, wird von der heutigen Rechtsprechung Tötungsvorsatz in der Regel verneint. Man geht davon aus, daß der Polizist in seiner Ausbildung gelernt hat, eine solche Situation zu meistern, - und daß der Täter dies auch glaubt (er bekommt es täglich in den Actionfilmen des Fernsehens vor Augen geführt). Doch mit solchen auf den deliktischen Erfolg bezogenen Indikatoren läßt sich die Entscheidung des Täters nicht immer erschöpfend erfassen. Auch der Entscheidungsprozeß als solcher ist zu analysieren. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt." Was aber darf man unter welchen Umständen wagen, um was zu gewinnen und vor allem zu retten? Das ist nicht nur eine Frage der Rechtfertigung; vielmehr kann die Nähe zu einem vorgestellten Rechtfertigungsgrund, ebenso wie andererseits die Ferne zum vorgestellten Erfolg, den Vorsatz in Frage stellen. Zudem: Der Täter mag in der Entscheidungssituation frei sein, wie der einzelne Erpresser, der es unternimmt, einen Zug zum Entgleisen zu bringen. Er kann aber auch in der Situation gefangen sein, wie der Richter, der sich seinen Rechtsfall nicht aussuchen kann, auch wenn er die Möglichkeit einer Fehlentscheidung voraussieht, oder wie der Polizeioffizier, der in kritischer Lage den für die Geisel tödlichen „Rettungsschuß" befiehlt, oder wie der Arzt, der sich zu einer Notoperation mit vielleicht tödlichem Ausgang entscheidet. Je enger die Situation umgrenzt ist (zeitlich, räumlich, sozial und normativ), desto mehr spricht das gegen dolus eventualis. Und schließlich: Da der Mensch ein sich selbst reflektierendes Wesen ist, kann er auch mit der Ungewißheit über den Ausgang seines Verhaltens spielen und sie - herausfordernd oder furchtsam - genießen. Ein solches Spiel wiederum spricht für dolus eventualis. Es kann sogar das Verhalten des Täters nach der Tat den Charakter eines Gegenindikators haben. Wenn jemand den fatalen Erfolg seines Tuns zu korrigieren versucht, indem er Wiederbelebungsversuche anstellt, so spricht das oft gegen eine Billigung der Tötung. So jedenfalls bei einem durch Emotion 13 So auch Hassemer, der den Kaufmann'sehen Fn. 10.

Indikator ins rechte Licht gerückt hat, s. o.

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ausgelösten A k t — nicht j e d o c h , w e n n der T ä t e r die T ö t u n g , s o unlieb sie i h m war, ernsthaft in B e t r a c h t g e z o g e n hat (wie i m L e d e r r i e m e n f a l l B G H S t 7, 363).14

IV. Die Verknüpfung mehrerer Indikatoren Z w e i I n d i k a t o r e n , die in dieselbe R i c h t u n g weisen, hat m a n sich als d u r c h ein Oder

v e r k n ü p f t vorzustellen: „ D i e T ö d l i c h k e i t d e r W a f f e oder

der H a ß

auf das O p f e r " : jeder I n d i k a t o r spricht für dolus eventualis. W e n n aber beide Kriterien erfüllt sind, sei es auch n i c h t vollständig, s o d o c h in e i n e m h o h e n M a ß e ? D a s spricht „erst r e c h t " für d o l u s eventualis. Z w e i gute G r ü n d e sind stärker als einer. W i e aber ist diese Stärke z u b e r e c h n e n ? 1 5 W e n n jene beiden I n d i k a t o r e n n u r z u e i n e m b e s t i m m t e n G r a d erfüllt sind, wie ergibt sich daraus ein G e s a m t w e r t ? D a s N ä c h s t l i e g e n d e ist dieses: M a n s u m m i e r t die E r f ü l l u n g s g r a d e . D a s sei an einem Beispiel erläutert, das f e r n a b v o m Strafrecht liegt, aber dafür b e s o n ders einfach ist: J e m a n d m ö c h t e sich einen H u n d anschaffen u n d sucht deshalb ein T i e r h e i m auf. ( D a s „Tierheim" dient der Vereinfachung: bei einem „ H u n d e z ü c h t e r " w ü r d e das E n t s c h e i d u n g s p r o b l e m w e g e n der K o m p o n e n t e des K a u f preises k o m p l e x e r sein.) D e m Interessenten schweben zwei p r o m i n e n t e H u n d e

14 Auf den wissenschaftstheoretischen Status der Indikatoren gehe ich hier nicht näher ein, verweise statt dessen auf die vorzügliche Arbeit von Mylonopoulos Komparative und Dispositionsbegriffe im Strafrecht, Frankfurt/M. 1998. Erwähnt sei aber Folgendes: Hassemer interpretiert den dolus eventualis, überhaupt den Vorsatz, als „Dispositionsbegriff". Da ist bestimmt manches dran; aber ich bin mir nicht sicher, wieviel. Wenn man einen Blick auf den Baum der Indikatoren wirft, wird man feststellen, daß viele von ihnen in der Tat Dispositionsbegriffe enthalten. Andere enthalten „irreale Konditionalsätze", welche mit Dispositionsbegriffen engstens verwandt sind, so z. B. die Frank'sehen Formeln, welche ich nicht in die Kriterien aufgenommen habe, weil sie zu allgemein sind: „Hätte der Täter auch gehandelt, wenn er vorausgesehen hätte, daß ..." Ja, er hätte dann gehandelt, wenn er eine entsprechende Disposition gehabt hätte! Dem dolus eventualis kann man vermutlich ohne Verwendung von Dispositionsbegriffen keine Bedeutung zuschreiben; aber ist er deshalb selber ein Dispositionsbegriff? Eine Bombe zum Beispiel ist explosiv, und „explosiv" ist ein Dispositionsbegriff. Richtig ist auch, daß sich die Bombe ohne den Dispositionsbegriff „explosiv" nicht definieren läßt. Aber ist deshalb der Begriff „Bombe" als solcher ein Dispositionsbegriff? Vielleicht handelt es sich hier aber auch nur um ein grammatisch bedingtes Scheinproblem.

Von praktischer Bedeutung in der Rechtswissenschaft, vor allem was das Rechtsmittel der Revision anlangt, ist freilich die Tatsache, daß sich juristische Bedeutungspostulate und empirische Alltagstheorien, „Indikatoren" und „Indizien", nicht sauber unterscheiden lassen lassen, also einerseits Sätze, die an bestimmte beobachtbare Umstände das Erfülltsein bestimmter Rechtsbegriffe knüpfen, und andererseits Sätze, die beim Vorliegen bestimmter Umstände den Schluß auf bestimmte faktische Konsequenzen nahelegen. Wird durch 1,1 Promille Alkohol im Blute des Autofahres der rechtlich relevante Zustand der absoluten Fahruntüchtigkeit rechtlich definiert oder faktisch präsumiert? Vgl. Volk (Fn. 1), sowie Volk Wahrheit und materielles Recht im Strafprozeß, 1980. 15 Vgl. zum Folgenden Philipps Eine Theorie der unscharfen Subsumtion - Die Subsumtionsschwelle im Lichte der Fuzzy Logic, ARSP Bd. 81 (1995), 405 ff.

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als mustergültig vor: Ist das Tier so klug wie der TV-Polizeihund Rex, so würde er es sofort mitnehmen. Ist das Tier so charmant wie Rudolf Moshammers Yorkshire-Terrierin Daisy, würde er auch keinen Augenblick zögern. Der Besucher des Tierheims erblickt alsbald eine Hündin, die bezaubernd ist. Sie reicht zwar längst nicht an Daisy heran - aber immerhin! Bei näherer Beschäftigung mit dem Tier erweist es sich auch als auffallend intelligent. Zwar kein Vergleich mit Rex - gleichwohl eindrucksvoll. Angenommen, der Interessent bewertet jeden der beiden Aspekte mit 0,5: wie sollte sich ihr Zusammentreffen auswirken? (Natürlich wird der Interessent nicht ausdrücklich „0,5" denken; aber er mag doch bei der Beurteilung nach jedem der beiden Kriterien ein labiles Gleichgewicht empfinden.) Bei einer arithmetischen Summierung der beider Kriterien würde sich ein Wert von 1 ergeben, also der Höchstwert. Der Interessent müßte den Hund unbedingt mitnehmen; das wäre das konsistente Verhalten, wenn er seinen Wertungen treu bleibt. Eine so weit gehende Konsequenz leuchtet aber nicht ein. Gleichwohl sollte die Tendenz, das Tier zu erwerben, durch das Zusammentreffen zweier wünschenswerter Eigenschaften in rationaler Weise zunehmen und die Ausgangswerte von 0,5 überschreiten. Plausibler ist, man wählt nicht die arithmetische, sondern die „probabilistische" Summe, wie man sie von der Wahrscheinlichkeitsrechnung her kennt: x + y - xy. Diese Formel wendet man an, wenn man beispielsweise berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei zwei Münzwürfen mindesten einmal „Wappen" oben liegt (beim ersten oder dem zweiten Wurf). Bei den hier offensichtlichen Ausgangswerten von 0,5 je Wurf ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 0,75. Auch in der Fuzzy Logic ist das ein anerkanntes Verfahren, wenn es um die Verrechnung der Erfüllungsgrade von Indikatoren geht. Im Hundebeispiel würden die beiden Tendenzen zur Mitnahme von je 0,5 zu einem Gesamtwert von 0,75 zusammenfließen. Das ist ein akzeptables Resultat. An der Herkunft der Formel aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird man sich nicht stoßen, wenn man sich vor Augen hält, daß Karl Popper Wahrscheinlichkeiten als „Propensitäten", als Wirkungstendenzen, interpretiert. Auch ein Argument begründet eine Propensität, eine Tendenz wenn auch nicht zu einer Wirkung, so doch zu einer Folgerung. Auf diese Weise kann man die Indikatoren aber nicht in allen Fällen verrechnen. Eine wesentliche Voraussetzung muß nämlich noch nachgeschoben werden. Wenn die Erfüllung eines Kriteriums ganz oder wenigstens zu einem nicht unerheblichen Teil mit der eines anderen zusammenfällt, darf man die beiden Erfüllungsgrade nicht summieren. Man würde ja das mehr oder weniger Selbe zweimal auf die Waagschale legen. Dieser Gedanke ist der Jurisprudenz seit langem vertraut, vor allem als Verbot der Doppelverwertung von Strafzumessungsgründen. U m in solchen Fällen auf der sicheren Seite zu sein, setzt man statt der Summe der Kriterien ihr „Maximum" ein; man bescheidet sich mit dem höchsten der Erfüllungsgrade; der andere wird vernachlässigt. Auch das Maximum ist im Rahmen der Fuzzy Logic eine anerkannte Methode, die logische Oder-Verknüpfung auszudrücken. Welche der beiden Oder-Varianten, die

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L o t h a r Philipps

Summe oder das Maximum, vorzuziehen ist, „hängt von den Umständen des Einzelfalles ab" - wie Juristen gerne sagen. Im Hundebeispiel sind die beiden entscheidungserheblichen Eigenschaften, „charmant" zu sein und „intelligent" zu sein, bislang als unabhängig betrachtet worden - mit der Konsequenz der probabilistischen Summe. Das kann man in vielen Fällen auch so sehen. „Bist nicht klug, doch sehr charmant" charakterisiert ein alter [//¿-Schlager einen Filmhelden (Bei Ami). Aber das braucht nicht immer so zu sein, bei einem Menschen jedenfalls nicht. Wenn man beobachtet, wie jemand geschickt und zielbewußt seinen Charme als Waffe im sozialen Aufstieg einsetzt - und eben das schildert Maupassant in seinem Roman, der dem Film als Vorlage diente - in solchen Fällen wird man die Unabhängigkeit von Charme und Intelligenz eher verneinen. Dann sollte man nicht die probabilistische Summe, sondern das Maximum der Schätzwerte als Ausdruck des Oder wählen, gleichviel, ob sich im Maximum die „Intelligenz" oder der „Charme" ausdrückt. Das von Gerhard Popp implementierte Entscheidungsunterstützungssystem verlangt in jedem konkreten Fall bei jeder einzelnen Kriterienkopplung eine Entscheidung über die Art der Verknüpfung - mit der Möglichkeit, sich versuchsweise wieder umentscheiden zu können. 1 6 Bisher sind wir davon ausgegangen, daß die verschiedenen Indikatoren in dieselbe Richtung weisen. In vielen Fällen wird aber ein Indikator (oder ein Indikatorenbündel) in die eine Richtung weisen und ein Gegenindikator (oder ein Bündel von Gegenindikatoren) in die entgegengesetzte Richtung. Wie saldiert man das? Der Gegenindikator ist mit dem Indikator in negierter Form verknüpft, und zwar durch ein Und: „x und nicht y " . In solchen Fällen berechnet man zunächst den Wert des negierten Gegenindikators, und zwar gemäß 1-y: je stärker der Gegenindikator y erfüllt ist (also beispielsweise im Falle, daß der Täter das Opfer verehrt hat), desto schwächer fällt sein negierter Ausdruck aus. Der negierte Gegenindikator wird nun durch ein Und mit dem Indikator verknüpft. Was die Und-Verknüpfung anlangt, so kommt es - anders als bei der Oder-Verknüpfung - auf beide Komponenten an; deshalb ist für den Gesamtwert des verknüpften Ausdrucks vor allem die schwächere Komponente ausschlaggebend. (Man weiß ja: Jede Kette ist nur so stark wie ..., jeder Geleitzug nur so schnell wie ...) J e mehr also der Gegenindikator erfüllt ist und je

1 6 Es ist übrigens ein G r u n d für meine Ablehnung der auf dem Markt angebotenen multikriteriellen Decision-Support-Systeme (s. Fn. 5), daß mir dort das Alltagsphänomen sich überlagernder Kriterien nicht hinreichend berücksichtigt scheint. (Bei einem Autokauf, der öfters als Beispiel durchgerechnet wird, sind die Entscheidungskriterien Preis, Benzinverbrauch, G e räumigkeit, Bequemlichkeit, Haltbarkeit, Eleganz etc. säuberlich voneinander unterschieden.) Außerdem k o m m t mir das Phänomen der Kompensierbarkeit zu kurz. U n d nicht zuletzt: D e r Richter muß jederzeit verstehen können, was die Maschine tut. Keinesfalls darf er sich einer mathematischen Zauberformel überantworten, welche zudem oftmals gar nicht offengelegt ist, und sollten ihre Ergebnisse noch so befriedigend wirken: auf das Ergebnis allein k o m m t es im Recht nicht an.

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weniger deshalb bei seiner Negation übrig bleibt, desto schwächer ist das Ergebnis aus der Und-Verknüpfung, der Saldierung von Indikator und Gegenindikator. Und in desto schwächerem Maße weisen dann die Indikatoren auf dolus eventualis hin. Ebenso wie für das Oder bieten sich auch für das Und zwei Varianten an. Jede von ihnen ist das Gegenstück einer Variante des Oder. Dem Oder als Summe zweier Werte entspricht ein Und als ihr Produkt und dem Oder als Maximum zweier Werte entspricht ein Und als ihr Minimum. Zwischen diesen Alternativen muß man sich ebenfalls im jeweiligen Fall entscheiden, und zwar wiederum unter dem Gesichtspunkt von Abhängigkeit (dann Minimum) und Unabhängigkeit (dann Produkt). 17 Als letztes sei noch jene Verknüpfung eingeführt, das die beiden fundamentalen Komponenten des Vorsatzes, die „intellektuelle" und die „voluntative", verbindet. Dieser Verknüpfung liegt die komplementäre Einheit zweier Komponenten zugrunde, wie sie in der Jurisprudenz oft und prinzipiell vorkommt. (Wille und Erklärung, Handlung und Erfolg, Innenverhältnis und Außenverhältnis, Form und Inhalt, Substanz und Wert, Können und Sollen, subjektiv und objektiv, „auffälliges Mißverhältnis" von Leistung und Gegenleistung und „Ausbeutung der Zwangslage eines anderen" beim Wucher, § 138 BGB, und manches andere mehr.) Komponenten, die zu einer solchen Einheit verbunden sind, können einander kompensieren; die Schwäche der einen kann durch die Stärke der anderen ausgeglichen werden - jedenfalls bis zu einem bestimmten Grade. Wenn man handelt im Bewußtsein höchster Wahrscheinlichkeit, ein Verhängnis auszulösen, scheitert der Vorsatz nicht daran, daß einem diese Wirkung zuwider ist; umgekehrt kann eine geringe Erfolgschance durch die Entschlossenheit, sie auszunutzen, zum Vorsatz vervollständigt werden.18 Doch das völlige Fehlen einer Komponente wird durch das noch so ausgeprägte Vorhandensein der anderen nicht kompensiert. Der Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler H.-J. Zimmermann hat für diese kompensatorische Verknüpfung eine anschauliche Formel gefunden: ( x y ^ x + y-xy^yetCU] Die linke Hälfte der Formel drückt ein Und aus (Produkt), und die rechte ein Oder (probabilistische Summe). 1 7 Wenn man den mit „und", „oder" sowie mit „nicht" verbundenen Variablen lediglich die beiden Werte „1" oder „0" zuordnet, die in der Fuzzy Logic Ausdruck der als Grenzwerte betrachteten vollständigen Wahrheit oder Falschheit sind, so ergibt sich aus allen im Text angedeuteten Formeln derjenige Wert, den man nach der klassischen zweiwertigen Junktorenlogik zu erwarten hat. Die Formeln der Fuzzy Logic sind also Generalisierungen. Es gibt auch noch andere, kompliziertere Generalisierungen, vielleicht mögen sie sogar sachgerechter sein; doch sollte man bescheiden anfangen. 1 8 Ebenso Puppe Vom Umgang mit Definitionen in der Jurisprudenz. Kreative Definitionen oder warum sich Juristen über Begriffe streiten, GS für A r m i n Kaufmann, 1989, 15 ff.

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Durch den y-Wert wird die Formel gewichtet: je höher der y-Wert ist, desto mehr wird die rechte Seite, die des Oder, verstärkt (und die linke Seite, die des Und, geschwächt), und desto weiter geht die kompensatorische Wirkung der Verknüpfung, da sie mit dem Oder verbunden ist. Bei einem niedrigen y-Wert verlagert sich umgekehrt das Gewicht auf die linke Seite, auf das Und, und die kompensatorische Kraft wird geringer. Mit Hilfe des Computerprogramms von Popp kann man mit den verschiedensten y-Werten experimentieren, zunächst einmal um ein Gefühl für die Proportionen der beiden Komponenten zu bekommen. Mir selber scheint nach etlichen Versuchen ein y-Wert von 0,7 angemessen zu sein. Eine entsprechende Tabelle füge ich ein; x drückt darin den Erfüllungsgrad der intellektuellen und y den der voluntativen Komponente aus:

x \ y 0,00

0,10

0,20

0,30

0,40

0,50

0,60

0,70

0,80

0,90

1,00

0,00 0,10 0,20 0,30 0,40 0,50 0,60 0,70 0,80 0,90 1,00

0,00 0,08 0,13 0,17 0,22 0,27 0,31 0,36 0,41 0,45 0,50

0,00 0,13 0,19 0,24 0,30 0,35 0,40 0,46 0,51 0,56 0,62

0,00 0,17 0,24 0,30 0,36 0,42 0,48 0,53 0,59 0,64 0,70

0,00 0,22 0,30 0,36 0,42 0,48 0,54 0,59 0,65 0,70 0,76

0,00 0,27 0,35 0,42 0,48 0,54 0,60 0,65 0,71 0,76 0,81

0,00 0,31 0,40 0,48 0,54 0,60 0,65 0,70 0,76 0,81 0,86

0,00 0,36 0,46 0,53 0,59 0,65 0,70 0,76 0,80 0,85 0,90

0,00 0,41 0,51 0,59 0,65 0,71 0,76 0,80 0,85 0,89 0,94

0,00 0,45 0,56 0,64 0,70 0,76 0,81 0,85 0,89 0,93 0,97

0,00 0,50 0,62 0,70 0,76 0,81 0,86 0,90 0,94 0,97 1,00

0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00

V. Das Rechtsgefühl und der Computer Ein verbreitetes Vorurteil vermutet hinter jedem Vorschlag, einen Computer zu verwenden, die Bereitschaft des Menschen, sich ersetzen zu lassen. Bei Fabrikarbeitern, die durch Industrie-Roboter ersetzt werden, akzeptiert man das, nicht aber bei Richtern, nicht wenn es um das Rechtsgefühl geht. Bei dem hier vorgeschlagenen System sind solche Sorgen unbegründet. Das Rechtsgefühl des Menschen wird hier nicht ersetzt, sondern vorausgesetzt; es wird ja ständig befragt. Das System führt den Menschen lediglich in Bereiche, die er nicht erreichen kann, ohne den Blick von anderen Bereichen zu lösen, die für das Rechtsurteil nicht minder wichtig sind. Ein Fall im Grenzgebiet von Vorsatz und Fahrlässigkeit ist oft unübersichtlich, füllt einen weiten Horizont aus mit verfließenden Phänomenen psychischer, sozialer, normativer Art: ineinander verschlungen und einander widerstreitend. Der Fokus des menschlichen Bewußtseins aber ist eng.

Ein Modell multikriterieller computergestützter Entscheidungen

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Daher soll das Bewußtsein entlastet werden, soll es Schritt für Schritt auf Teilentscheidungen gelenkt werden, deren Ergebnisse dann fixiert und ausgelagert werden - mit der Möglichkeit, jederzeit auf sie zurückzugreifen. Der Computer richtet den Fokus zuerst auf diesen Indikator, dann auf jenen, und er hält jedes partielle Urteil fest. Es ist, wie wenn der Polizeiphotograph einen Tatort Stück für Stück erfaßt. Daraufhin werden die Teilurteile in einer Weise verknüpft, die zwar mathematisch einfach ist, aber für den Menschen zeitraubend und lästig wäre. Bis der Computer zum Schluß an die Wurzel des Entscheidungsbaumes gelangt und eine Antwort auf die Frage nach dem dolus eventualis gibt: Ja oder Nein, und auch in welchem Maße sich das Nein der Grenze immerhin annähert oder das schlichte Ja überboten wird. Auf dem Monitor wird das nicht nur numerisch angegeben, sondern auch zur bildhaften Anschauung gebracht. 19 Die erste Antwort will der Benutzer aber vielleicht nicht akzeptieren - oder er möchte schon, traut sich aber nicht, weil das Ergebnis unangenehm dicht an der Grenze liegt und ausweislich des Protokolls, das das System führt, nur ein oder zwei Argumente dafür sprechen, aber vielleicht drei oder vier dagegen. 20 Wenn die Antwort des Systems das Rechtsgefühl des Benutzers unbefriedigt läßt oder er im Zweifel bleibt, ob er das Ergebnis in einer Urteilsbegründung oder einem Schriftsatz überzeugend darstellen kann, sollte er auf die Teilentscheidungen blicken, die für das Endergebnis verantwortlich sind: Läßt sich an einem Teilergebnis etwas ändern - sei es durch Neueinschätzung eines Erfüllungsgrades, sei es durch Austausch der Verknüpfungsweise zweier Indikatoren - , ändern in einer Weise, die der Benutzer vor sich selber verantworten kann? Der Benutzer kann im System auch die Grenze verschieben, bei deren Überschreitung der Computer dolus eventualis annimmt; 21 dies sollte er allerZur Fundstelle des Programms im Internet s. Fn. 5. In Schriften zur Topischen Juriprudenz und zum „Beweglichen System" im Sinne Wilbttrgs findet man immer wieder wie selbstverständlich die Bemerkung, daß man die Argumente pro und contra zählen müsse. Selbstverständlich ist das aber keineswegs. Wenn mehrere Argumente probabilistisch summiert werden können, wird ihre Kraft durch die Summe größer und nicht durch die Anzahl. Auch das Doppelverwertungsverbot gleichartiger Argumente darf man nicht durch einen Zählvorgang umgehen. Richtig ist allerdings, daß durch eine Mehrzahl von gleichgerichteten Argumenten die Begründung einer Entscheidung, wenn auch nicht verstärkt, so doch besser abgesichert wird (für den Fall, daß jemandem hinsichtlich des einen oder anderen Arguments Zweifel kommen). Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß die Typizität eines Falles durch eine Mehrzahl von Argumenten verdeutlicht wird. Im hier vorgeschlagenen System werden übrigens nicht alle Argumente pro oder contra unterschieden und gezählt, sondern erst von einem Level der Subsumtionshöhe an, der einstellbar ist, so daß Kleinkram, den niemand ernst nehmen würde, außer Betracht bleibt. 19

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2 1 Durch eine solche Grenzverschiebung könnte die „hohe Hemmschwelle gegenüber einer Tötung" berücksichtigt werden, deren Beachtung der B G H bei Entscheidungen zum dolus eventualis formelhaft immer wieder anmahnt, manchmal nur einen Satz, bevor oder nachdem er ein Argument der Vorinstanz als „formelhaft" rügt; so in dem im StV 1997, 7 abgedruckten Beschluß. Worum es sich im Sinne empirischer Wissenschaft bei dieser Hemmschwelle handeln soll, ob um ein genetisch oder ein sozial begründetes Phänomen, und wie weit es reichen soll, bleibt dabei im Dunkeln. Immerhin kann man vielleicht der Tendenz des B G H den Sinn einer normativen Grundentscheidung abgewinnen, eines in dubio pro negligentia, wie es Schürte-

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L o t h a r Philipps

dings nicht für den Einzelfall tun. Natürlich kann man sich bei all dem selber belügen; doch das schafft man auch ohne Computerhilfe. Und wenn das Ergebnis, das dem Rechtsgefühl des Benutzers widerstrebt, im Rahmen des Systems trotzdem unerschütterlich ist? Der Richter ist frei. Indessen sollte er wissen, wo seine Freiheit Widerstand zu überwinden hat. Dieses Modell, dazu gedacht, ihm bei der Entscheidung zu helfen, ist zwar fehlerbehaftetes Menschenwerk; wer wüßte das besser als der, der es entworfen und mehrmals modifiziert hat. Aber ich hoffe, daß auch an den Fehlern Widerständiges ist, das es zu bedenken gilt.

mann bei aller grundsätzlichen Kritik versucht: Vom philologischen zum typologischen Vorsatzbegriff, FS für H. J. Hirsch, 1999, 375. Aber auch so betrachtet ist die Schwelle zu hoch angesetzt, wie Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 12 Rn. 74, in einer Liste drastischer Fälle zeigt.

Die Einwilligung in ihrer strafrechtlichen Bedeutung 1 Bemerkungen über Tatbestandsausschluss und Rechtfertigungsgründe

JAVIER D E V I C E N T E R E M E S A L

I. Problemstellung 1. Die schon aus der Maxime volenti non fit iniuria2 des römischen Rechts zu ersehende große Bedeutung der Einwilligung im Strafrecht bleibt auch in der späteren legislativen und dogmatischen Entwicklung als eine besonders diskutierte Frage bestehen, sowohl aus allgemeiner Perspektive als auch wegen ihrer praktischen Transzendenz für die Tatbestände an sich, worauf sich die Beiträge unserer Dogmatik zu konzentrieren pflegen. 3 Das Interesse an dieser Rechtsfigur ist von sich aus schon wegen ihres großen Einflusses auf die eigenständigen Formen einer ursprünglich technisch nicht so weit entwickelten Gesellschaft von großer Bedeutung, wird jedoch heutzutage auf Grund neuer Voraussetzungen noch wichtiger und komplizierter, die sich aus den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen und dem technischen Fortschritt, insbesondere in der Industrie und der Medizin ergeben.4 2. Die Begrenzung der Wirksamkeit der Einwilligung im Strafrecht geschieht unabhängig davon, ob diese trotzdem in den allgemeinen Normen, oder, üblicher, in verstreuten Normen des Besonderen Teils berücksichtigt wird. Im ersten Fall wird diese oftmals als eine der Gründe geregelt, die eine kriminelle Verantwortung ohne weitergehende Spezifikationen ausschließen, 1

Ausgearbeitet im Rahmen des Forschungsprojekts des Teilprogramms zur Förderung der allgemeinen Kenntnisse Nr. PB97-0769-C03-03. 2 Die mit der zitierten Maxime erfasste „Beleidigung" bezieht sich auf diese nicht in einem strikt technisch-juristischen Sinn, nicht einmal im Römischen Recht, sondern ganz allgemein auf die Verbindung mit Rechtsgütern. Im gleichen Sinne Roxin Strafrecht A T I , 2 1994, § 13 Rn. 1. 3 Unsere Dogmatik richtet ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf das Umfeld der Delikte gegen das Leben: die Beteiligung beim Selbstmord, den M o r d mit Einwilligung, die Abtreibung und die körperliche Integrität (Einwilligung bei Körperverletzung), alles dies Fälle, die zweifellos auch die meiste Sorge bereiten. 4 Siehe Da Costa Andrade Consentimento e acordo em Direito Penal. C o n t r i b u t o para a fundamenta^ao de u m paradigma dualista, Coimbra 1990, 12. In diesen Kontext werden auch die Sicherheitsprobleme im Verkehr und bei den sportlichen Betätigungen eingeschlossen.

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wenn es auch nicht an Beispielen fehlt, in denen sie, weit konkreter betrachtet, hinter den Gründen aufgeführt wird, die Rechtswidrigkeit und Schuld ausschließen. Im spanischen Strafrecht wird die Einwilligung im Cödigo Penal (Strafgesetzbuch) nicht als allgemeines Institut geregelt. Sie erscheint nicht ausdrücklich als einer der Umstände aufgeführt, die von strafrechtlicher Verantwortung befreien, und kann daher nicht analog zu diesen Umständen behandelt werden. 5 In Konsequenz dazu muss ihr mögliches Anwendungsfeld, d. h. die Frage, ob und in welchem Maß ihre Wirksamkeit bejaht wird, unter Betrachtung der zum Besonderen Teil gehörenden Tatbestände mit großer Anstrengung bei deren Interpretation entschieden werden, und auf dieser Grundlage muss auch ihre dementsprechende systematische Einordnung gesucht werden. 3. Gleichgültig auf welche Weise, die wirksame Einwilligung, die von Verantwortlichkeit befreit, wird immer auf allgemeine oder spezifische Weise auf die rechtlich zur Verfügung stehenden („disponiblen") Güter beschränkt. 6 So werden an erster Stelle die Rechtsgüter der gesamten menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, auch wenn der direkt Betroffene ein Privatmann ist (z. B. Falschaussage, Dokumentenfälschung, Vergehen gegen den Zivilstand der Personen: widerrechtliche Aneignung des Zivilstands oder illegale Eheschließungen). Jedoch kann es geschehen, dass bestimmte Tatbestände sowohl die Rechtsgüter des Kollektivs als auch die der Privatleute schützen (z. B. falsche Anschuldigung und Anzeigeerstattung, Delikte gegen die Verkehrssicherheit), was zu Diskrepanzen über die Anwendbarkeit der Einwilligung bei diesen führt. Auf alle Fälle handelt es sich hier nicht um ein Problem, das in erster Linie die Theorie der Einwilligung, sondern vielmehr das von den jeweiligen Tatbeständen geschützte Rechtsgut betrifft. 7 Etwas Ahnliches geschieht bei den von Beamten im Dienst ausgeführten Delikten, wo die Frage danach, ob die Einwilligung des Opfers relevant ist oder nicht, auch unter Betrachtung des konkret in Frage kommenden Tatbestands bestimmt werden muss. 8 So schließt 5 Ein Teil in der spanischen Rechtslehre nimmt jedoch an, dass sie auch von dem Verantwortungsausschlussgrund durch den Ausschlussgrund der rechtmäßigen Ausübung eines Rechts, Berufs oder Postens abgedeckt werden könne. 6 Abgesehen von den Fällen, in denen die Bezugnahme auf die Wirksamkeit der Einwilligung ausdrücklich ist, gibt es auch andere, in denen davon auszugehen ist, dass die Tatbestandserfüllung vom Konzept her eine Handlung ohne oder gegen den Willen des Verletzten bedeutet (invito laeso). Dabei handelt es sich um die traditionell unter der Bezeichnung „Einverständnis" laufenden Fälle. So zum Beispiel im deutschen Recht (StGB) der § 2 4 0 (Nötigung); § 177 (Vergewaltigung); § 123 (Hausfriedensbruch); § 242 (Diebstahl); § 2 3 7 (Entführung gegen den Willen der Entführten); § 248 b (Unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs). 7 Siehe für alle Roxin U b e r die Einwilligung im Strafrecht (Abgetrennte Veröffentlichung der Sondernummer des Bulletins der Fakultät für Recht von Coimbra „Estudios en homenaje al Prof. Dr. Eduardo Correia", 1984), Coimbra 1987, 2 7 - 2 8 ; ders. AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 32. 8 U b e r die Irrelevanz der Einwilligung bei der Festnahme durch Beamte im Dienst, im Gegensatz zur Relevanz im allgemeinen Tatbestand der Freiheitsberaubung, s. Bajo P E , III, 1989, 25. U b e r die Irrelevanz der Einwilligung bei der Prävarikation, s. Roxin FS für Correia (Fn. 7), 33.

Die Einwilligung in ihrer strafrechtlichen Bedeutung

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die Einwilligung auch nicht die Verwirklichung des Tatbestands bei denjenigen Delikten aus, die eine Kooperation des Opfers voraussetzen und gerade zu dessen Schutz dienen sollen (z. B. bei bestimmten Sexualdelikten). 9 Auch die individuellen Rechtsgüter sind der Begrenzung in Bezug auf die Wirksamkeit der Einwilligung unterworfen. So gilt das menschliche Leben zum Beispiel bei der Betrachtung in der gültigen Regelung unseres kulturellen Umfelds nicht als ein Gut, über welches verfügt werden kann. Die der Einwilligung zugesprochene strafrechtliche Relevanz wird so im Höchstfall auf eine Verringerung der Verantwortlichkeit beschränkt, führt jedoch nicht zu deren Ausschluss. Derartige Begrenzungen betreffen weiterhin, wenn auch in geringerem Ausmaß, die Einwilligung bei den Körperschäden, entweder durch ein allgemeines Begrenzungskriteriums (zum Beispiel die Klausel der guten Sitten) oder durch die konkrete Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung in bestimmten Einzelfällen. Die Bestimmung der Reichweite der Wirksamkeit der Einwilligung jedoch, ebenso wie ihre Eigenschaften, ihre konkreten Voraussetzungen etc., sind keine Fragen, die in allen Fällen klar und eindeutig durch die Rechtsnormen gelöst werden können, 10 sondern Probleme, deren Lösung der Rechtslehre durch die Interpretation der entsprechenden strafrechtlichen Tatbestände obliegt. 11 Eines dieser Probleme, welches in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion von allgemeiner Bedeutung ist und welches ich zum Teil aus diesem Grund als Gegenstand dieses Beitrags wähle, ist das der systematischen Natur und Einordnung. 4. Es geht darum, festzulegen, ob die wirksame Einwilligung einen Grund für Tatbestandsausschluss oder Rechtfertigung darstellt, ein Thema voller Kontroversen, wie wir sehen werden. Die Diskrepanzen erscheinen schon in der Form der Regelung der Einwilligung selbst in den Strafgesetzbüchern: sei dies in ihrem Allgemeinen Teil oder bei den einzelnen Delikten. Während die Rechtslehre in den Ländern, die zu der ersten Gruppe gehören, darin eine keinem Irrtum unterworfene - legislative - Stütze zu Gunsten der These sehen will, dass die Einwilligung einen Rechtfertigungsgrund darstellt, können wir, da wir in Spanien keine derartige Regelung besitzen, einwenden, dass eine legislative Entscheidung uns nicht zu Gunsten dieser These voreingenommen machen darf, denn diese könnte perfekt kompatibel mit der anderen sein, laut welcher die Einwilligung in jedem Fall ein Grund für Tatbestandsausschluss 9

Roxin AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 34. Beweis dafür ist die im Vergleich der Rechtsnormenwerke aufzufindende Unterschiedlichkeit. 1 1 Hier handelt es sich also im Endeffekt darum, den vom C P gelassenen möglichen Spielraum zu finden, um, de lege lata, eine Harmonie zwischen den unterschiedlichen Betrachtungen zu schaffen. Dabei müssen wir uns darauf beschränken, als Vorschläge de lege ferenda alle diejenigen durchzusetzen, die trotz ihrer Anpassung an die Prinzipien der Kriminalpolitik und materiellen Gerechtigkeit auf die unüberwindbare Schranke des Legalitätsprinzip stoßen. Ein eindeutiger Beweis für diesen Kampf war und ist zum Beispiel die Diskussion über das Ausmaß der Einwilligung bei den Körperverletzungsdelikten. 10

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ist - abgesehen davon, dass vor allem früher eine heute fast aufgegebene Betrachtung der Einwilligung lediglich als Rechtfertigungsgrund existierte. 5. In der heutigen Rechtslehre sowohl im Ausland als auch in Spanien ist ein ziemlich ausgewogenes Gleichgewicht zwischen diesen beiden Thesen zu beobachten: die dualistische oder Differenzierungstheorie (das ist die traditionelle) und die einheitliche, monistische oder Vereinigungstheorie. Das heißt, zwischen denen, die vertreten, dass die wirksame Einwilligung je nach Fall ein Grund für Tatbestandsausschluss oder Rechtfertigung sein kann, und denen, die annehmen, dass sie nur ein Grund für Tatbestandsausschluss sein kann. 1 2 Nach der traditionellen Dogmatik würde der Tatbestandsausschluss den Fällen des sogenannten „Einverständnisses" oder der spanischen „conformidad" entsprechen und die Rechtfertigung denen der „Einwilligung" im engeren Sinne. Für die Anhänger der Einheitstheorie hat eine solche Unterscheidung keinen Sinn, und sie würden lediglich von Einwilligung reden. Diese Meinungsdiskrepanz beruht in erster Linie auf der unterschiedlichen Interpretation des Konzeptes Rechtsgut, insbesondere in der Bedeutung, die dabei dem Bezug auf Einzelpersonen oder das Sozialgefüge beigemessen wird, auf Grund welcher im jeweiligen Fall vertreten wird, ob eine Tat ausschließlich gegen den Willen des Betroffenen verstößt oder ob diese im gegenteiligen Fall eine eigenständige Bedeutung für die Gesellschaft hat, die unabhängig von diesem Willen ist. Auf dieser Grundlage würde das entscheidende Argument für die Bipolarität zwischen Einwilligung und Einverständnis (oder zwischen der Einwilligung als Grund für einen Tatbestandsausschluss und der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund, für diejenigen, die jene terminologische Unterscheidung zurückweisen) auf der Bestimmung beruhen, ob das Rechtsgut verletzt wird oder nicht, wenn bei der Tatausübung ein übereinstimmender Wille des Betroffenen besteht. Falls eine solche Verletzung bejaht werden kann, und dies ist die üblicherweise angeführte Betrachtung, kann die wirksame Einwilligung nur als Rechtfertigungsgrund wirken. Wenn im Gegensatz dazu die Mitwir12 Hier ist jedoch darauf hinzuweisen (s. Roxin AT I [Fn. 2], § 13 Rn. 11, in Bezug auf die deutsche Rechtslehre), dass eine doppelte Differenzierung zwischen den Gegnern der traditionellen Dogmatik notwendig ist. Einerseits sind da diejenigen, die die systematische Differenzierung (zwischen Tatbestandslosigkeit und Rechtfertigung) verneinen und vertreten, dass jegliche wirksame Einwilligung zum Ausschluss des Tatbestands führt. In diesem Fall würden die direkt von einer solchen unterschiedlichen systematischen Einordnung hervorgerufenen Konsequenzen verschwinden: die Fälle, in denen der Handelnde ein wirklich bestehendes Gutheißen des Rechtsgutträgers nicht kennt, sowie die Fälle, in denen der Handelnde irrtümlich annimmt, dass ein Einverständnis des Rechtsgutträgers vorliegt; gleichzeitig würden jedoch auch die aus der beabsichtigten faktischen Natur des Einverständnisses gegenüber der juristischen Natur der Einwilligung entstehenden Unterschiede relativiert werden. Andererseits sind dort diejenigen zu finden, die weiterhin die systematische Differenzierung zulassen (mit ihren direkten Konsequenzen, obwohl sie sagen, dass keine allgemeinen Erklärungen über das - faktische Einverständnis oder die - juristische - Einwilligung gemacht werden können, sondern dass dies von den entsprechenden Tatbeständen abhängt), jedoch verneinen oder daran zweifeln, dass eine rigorose Zweiteilung der traditionellen Theorie der (faktischen oder juristischen) Voraussetzungen der Wirksamkeit des Einverständnisses oder der Einwilligung korrekt ist.

Die Einwilligung in ihrer strafrechtlichen Bedeutung

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kung der Einwilligung verhindert, dass eine Rechtsgutsverletzung angenommen werden kann, wird von vornherein schon die Tatbestandsmäßigkeit ausgeschlossen. Die Reichweite dieser Entscheidung in die eine oder andere Richtung wird schließlich entweder zu einer systematischen Vereinheitlichung im Sinne des Ausschlusses der Tatbestandsmäßigkeit in jeglichem Fall (einheitliche oder monistische Theorie) oder aber zur Differenzierung zwischen Tatbestandsausschlussfällen, in welchen keine Verletzung des Rechtsguts besteht, und Rechtfertigungsfällen führen, in welchen trotz wirksamer Einwilligung wohl der Tatbestand erfüllt ist, der Träger des Rechtsguts in seiner Verfügungsfreiheit jedoch dazu bereit ist, diese aus gleich welchen Gründen zu ertragen (dualistische Theorie). 6. Schon aus diesen allgemeinen Betrachtungen ist zu ersehen, dass wir es hier mit einer Vielzahl diskutierter Fragen zu tun haben, unter welchen wir die folgenden hervorheben möchten. Erstens, ob die Unterscheidung zwischen Einwilligung und Einverständnis gleichzeitig als Grundlage für die Unterscheidung zwischen Rechtfertigungsgrund und Grund für den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit geeignet ist. Zweitens, ob die Begrenzungen des Schutzes der von einer wirksamen Einwilligung betroffenen Rechtsgüter eine Modifizierung des Konzeptes Rechtsgut auf der Basis einer unabhängigen Wertung der Verfügungsbefugnis gegenüber dem Eigenwert des Verfügungsgegenstands notwendig macht. Drittens, ob im Gegenteil dazu, und wie ich es für richtig halte, derartige Begrenzungen keine Modifikation erzwingen, da sowohl im Allgemeinen als auch in den Einzelfällen der wirksamen Einwilligung die Konzepte „Rechtsgut" und „Strafrechtsgut" auf einer gemeinsamen Wertung der „Verfügungsbefugnis" und des „Verfügungsgegenstands" in sich selbst beruhen. Nach der Voranstellung einiger Vorbetrachtungen über die mögliche Bedeutung und Reichweite der Beziehung zwischen Tatbestandsausschluss und Rechtfertigung der Einwilligung auf allgemeiner und Einzelfallebene werden wir sehen, ob die genannte „gemeinsame Wertung" in den Fällen einer wirksamen Einwilligung notwendigerweise eine differenzierende Behandlung begründet, oder, ganz im Gegenteil dazu, den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit in allen Fällen; ähnlich, ob und in welchem Ausmaß der Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit in solchen Fällen die Rechtfertigung des Verhaltens, d. h. den Ausschluss der allgemeinen Rechtswidrigkeit bedeutet.

II. Die Unterscheidung zwischen Einwilligung und Einverständnis 1. Die traditionelle dualistische Dogmatik (in Deutschland seit Geerds13) unterscheidet zwischen „Einverständnis" und „Einwilligung". Ein Einverständnis sei in allen denjenigen Tatbeständen zu finden, deren Ausführung schon 13 Geerds Einwilligung und Einverständnis des Verletzten, 1953; ebenfalls sein Artikel mit gleichem Titel, erschienen im Jahr darauf in GA 1954, 262 ff.

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vom Konzept her, d. h. im Hinblick auf die f ü r die Beschreibung des Tatbestands gewählten Begriffe ein Handeln gegen oder ohne den Willen des Verletzten bedeutet (invito laeso), und w ü r d e die Tatbestandsmäßigkeit ausschließen, weil von vornherein eine Verletzung des geschützten Rechtsguts ausgeschlossen sei. 2. Aus dieser Perspektive wird in der aktuellen spanischen Rechtslehre oftmals argumentiert, dass das Nichterfüllen des Tatbestandselements der H a n d lung ohne oder gegen den Willen des Subjekts die Tatbestandslosigkeit des Verhaltens bestimme. „Das Nicht-Auftreten eines negativen Elementes wie dieses" — sagt zum Beispiel Mir Puig14 — „rechtfertigt das Geschehen nicht, erlaubt die Verletzung des Rechtsguts nicht", sondern verhindert eher, dass sich eine solche Verletzung ergibt. Schlussfolgernd sagt er, „dass daher das Auftreten einer wirksamen Einwilligung kein G r u n d zur Rechtfertigung ist, sondern die Absenz eines spezifischen Tatbestands (des ,Typus') des Besonderen Teils bedeutet". Daraus ist sensu contrario die andere Konsequenz zu entnehmen, siehe Romeo Casabona15, nach welcher in den Fällen von Beleidigung oder Körperverletzung die Einwilligung des Betroffenen als G r u n d f ü r die Rechtfertigung erscheint, jedoch nicht die Fähigkeit besitzt, den Tatbestand auszuschließen, „da der Wille des passiven Subjekts keinen festen Bestandteil (seil, des Tatbestandes) darstellt". Ein Teil der Dogmatik geht freilich weiterhin davon aus, dass in unserem Recht die wirksame Einwilligung allenfalls die Tatbestandsmäßigkeit ausschließen kann, weil dies von anderen exegetischen G r ü n d e n so verlangt werde: Weil das Strafgesetzbuch in seinem Allgemeinen Teil die Einwilligung nicht berücksichtigt, verhindere dies, sie selbst in Analogie zu den vorgesehenen Umständen als Rechtfertigungsgrund zu verstehen. 1 6 3. a) Diese Argumentation ist aber nicht entscheidend, da sie die systematische Einordnung allein von den konkreten Möglichkeiten abhängig macht, die eine bestimmte Sprache zum Ausdruck eines Begriffes hat, welcher sich auf die Handlung ohne oder gegen den Willen des Betroffenen bezieht, oder von der eher zufälligen Entscheidung des Gesetzgebers abhängt, solche Voraussetzungen ausdrücklich festzuhalten. O b wir einem Fall von Einwilligung oder Einverständnis gegenüberstehen, kann daher von den genannten Möglichkeiten der Eingrenzung abhängen, die die wörtliche Formulierung der Tatbestände ermöglicht. Als Beweis dafür sollte uns ein von Roxin gebotenes Beispiel ausreichen, das auch f ü r die Rechtslage in Spanien tauglich ist: Ist das Zulassen einer illegalen Festnahme (§ 239 StGB; Art. 163 CP) ein Fall von Einverständ14 Mir Puig in: „Adiciones" zur Ubersetzung der 3. Ausgabe (1978) des Tratado de Derecho Penal von Jescheck, 1981, 530 f. 15 Romeo Casabona El médico y el derecho penal, I, La actividad curativa. Licitud y responsabilidad penal, 1981, 302; ders. El consentimiento en las lesiones en el Proyecto de Código penal de 1980, CPC, 1982, 276 und 284, Nr. 105 und 106. 16 Mir Puig (Fn. 14), 530, unter anderen.

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nis oder Einwilligung? Bei einem Freiheitsentzug kann gesagt werden, dass ein „Einsperren" mit dem Willen des Betroffenen nur gerechtfertigt ist, weil die Einwilligung das Einsperren nicht aufhebt. Da § 239 StGB zum Thema Einsperren jedoch noch erwähnt, dass dem Opfer „die Ausübung seiner persönlichen Freiheit entzogen wird", muss auch hier ein durch das Einverständnis hervorgerufener Ausschluss des Tatbestands eingeräumt werden, denn dem Betroffenen wird die Freiheit auf Grund seines Einverständnisses nicht „entzo«17

gen Ahnliches ist zu den formalen Argumenten zu sagen, die sich ausschließlich auf die ausdrückliche Erwähnung oder deren Absenz einer Handlung ohne oder gegen den Willen des Betroffenen stützen, 18 oder zu anderen ausdrücklichen Referenzen im Tatbestand außerhalb des Umfelds der Einwilligung. So ist zum Beispiel das Auftreten einer freiwilligen Verzichtleistung kein Grund für einen Tatbestandsausschluss, obwohl Art. 16 C P einen solchen ausdrücklich und buchstäblich erwähnt. Auch erscheint es nicht korrekt, dass der Tatbestandsausschluss oder die Rechtfertigung im Falle von Hausfriedensbruch davon abhängt, ob ein Tatbestand ausdrücklich (so in unserem CP) oder nicht (so im StGB) den entgegenstehenden Willen des Besitzers erwähnt. Dies alles macht uns eindeutig den begrenzten Wert dieser Art von Argumenten deutlich. 19 b) Sowohl in den traditionell mit Einverständnis oder „conformidad" in Verbindung gebrachten Fällen als auch in denen, die die paradigmatischen Beispiele der Einwilligung für die dualistische Theorie darstellen (das sind die Verletzungen und Schädigungen), geht es also darum, festzustellen, ob bei diesen wirklich eine strafrechtlich relevante Verletzung des Rechtsguts entsteht, wenn dabei eine wirksame Einwilligung mit im Spiel ist. Erst damit kommen wir zu den oben erwähnten anderen wesentlichen Fragen.

" Roxin AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 22. 18 Im gleichen Sinn Bacigalupo in: Justificación und exculpación, 1995, 112. 1 9 Die formalen, aus der Schriftform der Bestimmungen abgeleiteten Argumente sind nicht unanfechtbar, weil diese oftmals von den begrenzten Möglichkeiten einer bestimmten Sprache für die Benutzung von geeigneten Begriffen zum Ausdruck und Verständlichmachen abhängt, dass die einen Tatbestand bedeutende Handlung gegen oder ohne den Willen des Geschädigten zu geschehen hat, sei dies nun in der Formulierung der Tatbestandshandlung selbst oder durch einen Ausdruck in der Beschreibung des Delikttyps. (In diesem Sinne zitiert Roxin als Beispiele die Ausdrücke „eindringen" und „nötigen" in der Beschreibung der Tatbestandshandlung, sowie „Verletzung" der Vertraulichkeit der mündlichen Mitteilungen oder von Geheimnissen). Zusammen mit dem grammatikalischen Element müssen wir hier auch auf den systematischen und teleologischen Aspekt eingehen, um die Rolle aufdecken zu können, die der einwilligenden Willensäußerung des Rechtsgutinhabers vorbehalten ist, obwohl wir auch damit manchmal nicht zu einem klaren Ergebnis kommen. Und dies gilt nicht nur zur Bestimmung der Reichweite dessen, was der Tatbestand einzig und allein auf stillschweigende Art und Weise auszudrücken scheint, sondern auch in den Fällen, wo in seiner Beschreibung eine ausdrückliche Bezugnahme auf eine Handlung gegen oder ohne den Willen des Opfers zu finden ist.

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III. Die unabhängige Wertung der Verfügungsbefugnis und des Eigenwertes des Verfügungsgegenstands als zurückweisbare Grundlage für die Bestimmung der Gestaltung des Rechtsguts in den Fällen einer wirksamen Einwilligung 1. D e n Fragestellungen, Argumenten und gegenseitigen Kritiken der A n hänger (oder einiger dieser) der Einheits- und der dualistischen Theorie ist zu entnehmen, dass die Diskrepanzen im Zusammenhang mit den T h e m e n Tatbestandslosigkeit und Rechtfertigung zumindest im Prinzip folgenden H i n tergrund haben: dass das K o n z e p t Rechtsgut in einigen Fällen und mit Ausschließlichkeit durch den Wert der Verfügungsbefugnis bestimmt wird, während in anderen Fällen auch der Eigenwert des Verfügungsgegenstands mit ins Spiel k o m m t . D a r a u s geht im ersten Fall die Unmöglichkeit einer Verletzung des von seinem Träger preisgegebenen Rechtsguts hervor, während dessen Verletzung im zweiten Fall wohl möglich, jedoch gerechtfertigt ist. a ) In der anfänglichen Einheitsdogmatik 2 0 wurde das Deliktsobjekt als eine konkrete Willensbeziehung verstanden, was in eine h o m o g e n e Behandlung der Einwilligung einmündet, und zwar insbesondere in die Gleichstellung der Selbstverletzung und der Fremdverletzung mit Einwilligung. Aus der Sicht eines solchen Verständnisses der Konfiguration des Rechtsguts ist der ausschließliche Wert der Bezugnahme auf das Individuum im Gegensatz zu der Referenz auf die Gesellschaft gut verständlich. D a s Rechtsgut kann so angesichts des Auftretens von Einwilligung nicht nur nicht verletzt werden, sondern die M ö g lichkeit seiner Verletzung würde schon von sich aus einen Widerspruch darstellen. D i e Ergebnisse, zu denen die anfänglichen Fragestellungen dieser D o g matik des „subjektiven Rechts" und des „Interesses" k o m m e n , sind jedoch auf dem Hintergrund der späteren Weiterentwicklung des Konzeptes „Rechtsgut" nicht mehr von Bedeutung und werden daher auch nicht mehr von der heutigen Einheitstheorie getragen. D i e heutige Einheitstheorie (von einem breiten Sektor der Rechtslehre sowohl in Spanien 2 1 als auch im A u s l a n d 2 2 vertreten) hat ihre H e r k u n f t in ähn2 0 Zu Beginn der Einheitstheorie (diese geht auf das Ende des vergangenen Jahrhunderts zurück, vor allen Dingen auf die Beiträge von Feuerbach, Ortmann, Kessler und Klee) erscheinen die Rechtslehren des subjektiven Rechtes und des Interesses, welche sich entweder durch das Zugeständnis der Möglichkeit an den Verletzten, auf seinen strafrechtlichen Schutz zu verzichten, oder dank der Anerkennung des bestimmenden Einflusses der psychologischen Beziehung des Subjekts zu dem Interessensobjekt auf den Wert der individuellen Freiheit stützen. Uber die Fragestellungen dieser Autoren zu Beginn der Einheitstheorie s. Costa Andrade Consentimento, 1991, 42 ff.

Zum Beispiel von Bacigalupo, Bustos, De Vicente Remesal, Gömez Benitez, Mir Puig, Zugaldia. 2 2 Uber die deutsche Rechtslehre s. Roxin FS für Correia (Fn. 7), 4, Nr. 4 und 5. Hier sind als Vertreter der Einheitsdogmatik unter anderen Arzt, Gössel, Hirsch, welcher später seine Meinung zu Gunsten der dualistischen Theorie änderte, Horn, Armin Kaufmann, Kientzy, Kühne, Langer, Roxin, Rudolphi, Schlehofer, Schmidhäuser, Stratenwerth zu nennen; unschlüssig: Weigend. 21

und

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liehen Fragestellungen, jedoch mit beachtlichen Veränderungen, die besser auf die neuen K o n z e p t e des Rechtsguts zugeschnitten sind. Die m o d e r n e Einheitstheorie betont, wie in der deutschen Rechtslehre unter anderem von Weigend

24

und Roxin

25

Zipf23,

vertreten wird, dass der entscheidende H i n t e r g r u n d

für das Einverständnis damit, dass jegliche wirksame Einwilligung den Tatbestand ausschließt, auf einer liberalen K o n z e p t i o n des auf das Individuum bezogenen Rechtsguts beruht, welches sich auf die im G r u n d g e s e t z verankerte Handlungsfreiheit stützt ( A r t . 2 Abs. 1 G G ) . A n dieser, meiner Meinung nach korrekten,

liberalen K o n z e p t i o n

des

Rechtsguts beteiligt sich auch unsere D o g m a t i k , und aus ihr leiten weiterhin die Vertreter der Einheitstheorie den (manchmal zweifelhaften 2 6 ) Tatbestandsausschluss in allen Fällen mit wirksamer Einwilligung ab. So Gómez Bustos2*,

Bacigalupo29

und

Benítez27,

Zugaldíai0.

b) Die theoretischen G r u n d a n n a h m e n der dualistischen T h e o r i e sind im Gegensatz dazu ganz anders. Zusammenfassend verstößt die einen Tatbestand ausmachende H a n d l u n g nach dieser Theorie (für die sich auch ein großer Teil sowohl der ausländischen 3 1 als auch der spanischen 3 2 Rechtslehre ausgesprochen hat) in einigen Fällen von wirksamer Einwilligung nicht nur gegen den 23 Zipf Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970, 30. Nach Meinung von Zipf setzen alle im Recht festgelegten Tatbestände, bei denen eine Einwilligung möglich ist, eine Handlung gegen den Willen des Rechtsgutinhabers voraus, so dass eine wirksame Aufgabe des Rechtsguts jegliche strafrechtlich relevante Verletzung ausschließt und die Verwirklichung des Tatbestands unmöglich macht. 24 Weigend Über die Begründung der Straflosigkeit bei Einwilligung, ZStW 98 (1986), 61. Ahnlich merkt Weigend an, dass im Falle von Einwilligung keinerlei juristische und strafrechtliche relevante Beeinflussung des Rechtsguts besteht, da, wer einwilligt, gerade dadurch von einer Möglichkeit Gebrauch macht, die ihm von der Rechtsordnung eingeräumt wird. 25 Roxin Jus 1988, 61; den. AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 12. Roxin hebt ebenfalls darauf ab, dass die Rechtsgüter, falls sie im Dienst der freien Entwicklung des Individuums stehen, nicht durch eine Handlung verletzt werden können, die sich auf die freie Verfügung über sie durch ihren Inhaber stützt, denn dies beeinträchtigt ihre Entwicklung nicht, sondern bedeutet im Gegenteil dazu eher ihren Ausdruck. Ahnlich wie es bei der Nutzung der Rechtsgüter durch den Inhaber selbst geschieht, bedeutet auch die Handlung eines Dritten mit Einwilligung keine Verwirklichung eines Tatbestands, so dass die Tatbestandsmäßigkeit konsequenterweise von vornherein ausgeschlossen werden muss. Wenn ein Eigentümer zum Beispiel auf der Grundlage einer freien Entscheidung damit einverstanden ist oder sogar beantragt, dass sein Eigentum beschädigt oder zerstört wird, ist darin keinerlei Verletzung seiner Eigenschaft als Eigentümer zu sehen, sondern eine Mitwirkung im Sinne einer freiwillig tolerierten Ausführung. 26 27 28 29 30

162 f.

Siehe Muñoz Conde „Teoría general del delito", 1989, 114. Gómez Benítez PG, 1984, 421 f. Bustos PG, 1984, 223-224. Bacigalupo Principios de Derecho penal. Parte general, 2. Ausgabe 1990, 155-157. Zugaldía Los delitos contra la propiedad y el patrimonio, I. Infracciones de uso, 1988,

31 Zu Gunsten der dualistischen These unter anderen Amelung, Baumann, Blei, Bockelmann, Dreher/Tröndle, Hirsch, Hruschka, Lenckner, Noll, Otto, Samson, Stratenwerth, Wessels. 3 2 Unter anderen Rodríguez Devesa, Cobo/Vives, Cerezo Mir, Romeo Casabona, Gracia Martín (anfänglich, zur Zeit vertritt er die Einheitstheorie), Luzón Peña und mit bestimmten Einschränkungen Muñoz Conde.

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Willen des Subjekts, sondern auch gegen ein Referenzobjekt, das eine eigenständige Bedeutung für die Gemeinschaft hat. In diesen Fällen wird davon ausgegangen, dass die Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts erfolgt, die dessen Inhaber unter Inanspruchnahme seiner Verfügungsfreiheit zu ertragen bereit ist. Sicherlich gibt es in unserer Dogmatik nicht viele materielle Argumente in diesem Stil, denn, wie wir gesehen haben, wird in der Mehrzahl der Fälle die Rechtfertigung auf Grund von bloß formalen Kriterien zugelassen. So schließt nach Rodríguez Devesa die Einwilligung die Gesetzwidrigkeit aus. Andererseits erweitert er jedoch, dass dort, wo die Abwesenheit einer Einwilligung ausdrücklich oder implizit im Gesetzestext verankert ist, das Fehlen der Einwilligung ein negatives Tatbestandselement darstellt, woraus hervorgehe, dass das entsprechende Verhalten bei Einwilligung des Rechtsgutinhabers nicht mehr als eine den Tatbestand erfüllende Handlung gelten könne. 33 Doch gibt es in der Rechtslehre einige weitere Äußerungen zu diesem Punkt, wie zum Beispiel die von Cerezo Mir34. Was die Alternative Einwilligung-Tatbestandsausschluss betrifft, stimmt er mehr oder weniger mit den üblichen Argumenten in den Einverständnisfällen überein. Nach Meinung von Cerezo (in Bezug auf den früheren CP von 1973) fehlt bei Einwilligung die Tatbestandsmäßigkeit zum Beispiel in den folgenden Fällen: Wenn das Rechtsgut die individuelle Freiheit ist, wie bei den unrechtmäßigen Festnahmen („ihm wird dann nicht die Freiheit entzogen"), bei der Nötigung, der Verletzung des Art. 429, 1., den sexuellen Aggressionen im Sinne des Art. 430 und der Entführung nach Art. 440,1. („die Einwilligung schließt einen Angriff gegen die sexuelle Freiheit und damit die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens aus"). Ahnliches gelte bei den Deliktstypen, bei denen zusammen mit einem Rechtsgut auch die Freiheit der Verfügung darüber geschützt wird; zum Beispiel beim Diebstahl und Hausfriedensbruch (bei diesem „wird zusammen mit der Nichtverletzbarkeit der Wohnung die Freiheit des Wohnungsinhabers zum Verfügen darüber, wer dort hereinkommen und sich aufhalten darf, geschützt"). Im Gegensatz dazu haben wir es zum Beispiel bei den Beleidigungsdelikten nach Cerezo mit einem Ausschluss der Rechtswidrigkeit zu tun: „Die Einwilligung kann hier nicht die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens ausschließen, jedoch wohl die Rechtswidrigkeit, weil in den Rechtswissenschaften des spanischen Strafrechts davon ausgegangen wird, dass die Ehre ein verfügbares Rechtsgut ist". Ähnliches gilt im Fall der Beschädigungen35 und Körperverletzungen 36 . 3 3 Die darauf beruhende Zweiteilung, ob dieses einen Tatbestand ausmachende Element besteht oder nicht und in negativer Form in einem positiven Tatbestand formuliert ist, ist zum Hauptkriterium bei der Unterscheidung zwischen Tatbestandsausschluss und Rechtfertigung geworden. Einige Autoren bringen dazu zusätzliche Argumente bei, wie zum Beispiel Cobo/ Vives PG, 3. Ausgabe 1990, 375. 3 4 Grundsätzlich Cerezo Consentimiento como causa de exclusión del tipo y como causa de justificación, 1989, 2 0 1 - 2 3 7 . 3 5 Siehe Gracia Martín El actuar en lugar de otro en Derecho penal, I. (Teoría general), 1985, 91, n. 66. 36 Cerezo (Fn. 34), loe. cit: „Die Einwilligung schließt hier nicht die Tatbestandsmäßigkeit aus, sondern in einigen Fällen (in den vom Abschnitt 2 des Art. 428 definierten) lediglich die

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c) Ein grundlegender Einwand gegen die Einheitstheorie aus den Reihen der dualistischen Theorie, unter anderen von Hirsch37, Jescheck3S und Amelung39, lautet schließlich, dass die strafrechtlich geschützten Objekte dann nicht mehr die in Mitleidenschaft gezogenen Werte sind, wie zum Beispiel die körperliche Integrität, die Bewegungsfreiheit, die Ehre, das Eigentum oder die Intimsphäre, sondern bloß „der Wille zum Schutz dieser Werte"40. Diesem Argument versucht sich die Einheitstheorie meiner Meinung nach mit nicht zufriedenstellendem Ergebnis zu widersetzen, indem sie anführt, dass das Tatobjekt nicht mit dem Rechtsgut verwechselt werden dürfe. 2. a) So weit, so gut. Entgegen der üblichen Interpretation der dualistischen Theorie meine ich jedoch, dass die Postulate der Einheitstheorie nicht notwendigerweise zu der Schlussfolgerung führen müssen, dass das Rechtsgut in den Fällen einer wirksamen Einwilligung lediglich die Verfügungsbefugnis und nicht der Verfügungsgegenstand ist; und ich komme konsequenterweise auch nicht dazu, dass die Unmöglichkeit der Verletzung des verfügbaren Rechtsguts davon abhängt, dass diese Verletzung sich in der Handlung gegen den Willen des Inhabers dieses Guts erschöpft. Das Rechtsgut setzt sich aus etwas mehr als nur dem Willen des Handelnden zusammen, so dass seine Verletzung sich nicht in einer Handlung gegen den genannten Willen seines Inhabers erschöpft, was andererseits auch von einem Teil der eindeutigen Vertreter der Einheitstheorie wie Rudolphi und Roxin anerkannt wird. Nach Rudolphe ist die Verfügungsbefugnis ein konstitutives Element des Rechtsguts. Mit großer Klarheit führt Roxin42 ausdrücklich an, dass sich die Verletzung des Rechtsguts nicht in einer Handlung gegen den Willen ihres Inhabers erschöpfe, obwohl dies eine der Grundforderungen sei. In ähnlichem Sinne bekräftigt Stratenwerth43, dass der Wille des Betroffenen nicht nur für den Rechtsschutz bedeutend sei, sondern „auch zum geschützten Objekt gehört". Von großer Bedeutung sind in diesem Sinne auch die Beobachtungen von Eser44, dass die Unantastbarkeit der Körperstruktur und -substanz von dem zugehörigen Erhaltungswillen des Körperinhabers abhängen, wenn er auch einräumt, dass man zu weit gehen würde, wenn man in diesem Koeffizienten der Selbstbestimmung ein selbständiges Schutzgut im Rechtswidrigkeit des Verhaltens, da im Abschnitt 2 des Art. 428 ganz allgemein die Irrelevanz der Einwilligung zur Befreiung von Verantwortung bei den Delikten mit Körperverletzung festgelegt wird." 37 Hirsch FS für Welzel, 1974, 799; ebenfalls LK-Hirsch StGB, 10 1985, Vorbem. § 32 Rn. 98. 38 Jescheck Tratado (Fn. 14), 514. 39 Amelung Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes. Eine Untersuchung im Grenzbereich von Grundrechts- und Strafrechtsdogmatik, 1981, 26 f. 40 Die Gleichstellung von Rechtsgut und Schutzbereich wird ausdrücklich von Hirsch kritisiert, L K - H i r s c h (Fn. 37), Vorbem. § 223 Rn. 1. 41 Rudolphi ZStW 86 (1974), 87. 42 Roxin AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 14. 43 Stratenwerth ZStW 68 (1956), 43. 44 Eser ZStW 97 (1985), 18.

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Sinne des § 223 StGB sehen wolle. Dieses Etwas mehr, das den Willen des Betroffenen vervollständigt, ist selbstverständlich der „Verfügungsgegenstand". Das Rechtsgut und die Macht, über dieses Gut verfügen zu können, bilden nach Rudolphe5 nicht nur eine Einheit, sondern der Verfügungsgegenstand und die Verfügungsbefugnis stellen in sich selbst und in ihrer Beziehung zueinander das vom Tatbestand geschützte Rechtsgut dar. Im Gegensatz zu den Interpretationen aus der Sicht der Einheitstheorie (und konkret von Roxin) darf dieser Verfügungsgegenstand nicht mit seinem „materiellen" bzw. „körperlichen Substrat" gleichgestellt werden und kann dies in einigen Fällen auch nicht, um darauf die Kritik zu gründen, dass die dualistische Theorie auf diese Weise etwas Untrennbares zu trennen versuche. 46 Nicht nur das Leben oder die körperliche Integrität, sondern auch die Bewegungsfreiheit, die Ehre, die Intimität etc. bergen einen rechtlich relevanten Wert, der vom Willen seines Inhabers unabhängig ist. 47 Gerade aus diesem Grund wird das Problem des Umfelds seiner Verfügbarkeit aufgeworfen. Eine andere Frage ist es, ob wir es als Konsequenz aus dieser gemeinsamen Wertung mit einem sira/rechtlichen Gut zu tun haben oder nicht. b) Bei der Betrachtung der Grundlagen der dualistischen Theorie besteht kein Zweifel daran, dass deren Anhänger in den Einwilligungs-Rechtfertigungs-¥äl\en von einer gemeinsamen Wertung der Verfügungsbefugnis und des Verfügungsgegenstands selbst ausgehen. In den Einwilligungs-Tatbestandsausschluss-Fällen (oder Einverständnis-Fällen) jedoch kann auch aus dieser Theorie, ähnlich wie aus der Einheitstheorie, keine unabhängige Wertung abgeleitet werden. Wie ich schon vorgegriffen hatte, ist das ein Beweis dafür, dass (wenn auch aus theoretischer Sicht ziemlich klar entschieden werden kann, wann es sich um einen Fall von Einverständnis oder um einen von Einwilligung handelt) die Lage längst nicht mehr so klar ist, wenn wir die Theorie auf die konkreten Fälle anwenden, wo eine bemerkenswerte Uneinigkeit herrscht. Gerade angesichts dieser Diskrepanzen der dualistischen Theorie versuchen einige ihrer Vertreter, wie zum Beispiel Da Costa AndradeAS, von einer strikteren Orientierung aus die wirklichen Fälle von Einverständnis von all denjenigen zu unterscheiden, in denen einzig und allein die Willensäußerung des Subjekts in Ausübung seiner Freiheit das Rechtsgut schafft. Doch ist dies praktisch unmöglich, da die Freiheit normalerweise mit einem konkreten Schutzbereich verbunden ist, der zum Bestand des Rechtsguts führt. Und dieser Zuordnungs45

Rudolphi ZStW 86 (1974), 87. Roxin AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 14. Hier bezieht er sich konkret auf die Unmöglichkeit, bei den Beschädigungs- und Verletzungsfällen zwischen dem Eigentum des Besitzers und dem Geistkörper zu unterscheiden. 47 Dem entspricht auch die Meinung von Amelung (Fn. 39), 26 f. D o r t widerlegt er die These, nach welcher die Verfügungsfreiheit des Rechtsgutinhabers von sich aus ein wesentlicher Teil des Rechtsguts ist und führt dazu als Beispiel den Fall der Misshandlung eines kleinen Kindes unmittelbar nach Ermordung seiner Eltern durch den Misshandelnden an, wodurch das Kind in diesem Augenblick keinen gesetzlichen Vertreter hätte. 48 Da Costa Andrade Consentimento, 1991, 484 ff. 46

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bereich kann außer mit dem Willen des Subjekts auch mit einem selbständigen systemischen Sozialwert ausgestattet sein, der von der vom Gesetzgeber selbst aufgestellten Auswahl anerkannt ist. c) Schlussfolgernd: Das Rechtsgut bei den von wirksamer Einwilligung betroffenen Delikten besteht nicht nur aus dem „Willen des Handelnden", sondern auch aus dem „Referenzobjekt", dem dieser Wille zugeschrieben wird konkret z. B. der Integrität des Körpers, der Bewegungsfreiheit, der Ehre oder der Intimsphäre. Und dies wird nicht nur von der dualistischen Theorie ausdrücklich anerkannt (auf leicht sichtbare Weise in den Einwilligung-Rechtfertigungs-Fällen und eher stillschweigend in allen Fällen des Einverständnisses ab dem Augenblick, in dem die Freiheit des passiven Subjekts, damit sie wirklich Freiheit ist, einem konkreten Umfeld zugeschrieben werden muss), sondern implizit auch von der Einheitstheorie, wie wir gesehen haben, gleichgültig wie stark sie darauf pocht, dass die Einwilligung in jedem Fall die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens ausschließt.

IV. Die gemeinsame Wertung der Verfügungsbefugnis und des Eigenwertes des Verfügungsgegenstandes als Grundlage für die Konzepte des „Rechtsguts" und des „Strafrechtsguts" Als Konsequenz aus den vorstehenden Erläuterungen ergibt sich, dass die wirksame Einwilligung einzig und allein die Grenzen des sira/rechtlichen und allgemeinrechtlichen Schutzes des Rechtsguts markiert, jedoch dessen Konzept ganz und gar nicht berührt. Oder anders gesagt: Die gemeinsame Wertung der Verfügungsbefugnis und der Eigenwert des Verfügungsgegenstands stellen die Grundlage der Konzepte „Rechtsgut" und „Strafrechtsgut" dar. Was nun anliegt, ist zu bestimmen, ob und in welchem Maße das so konfigurierte Rechtsgut unter Abwägung der Spannung zwischen individuellem und sozialem Wert in den Fällen von wirksamer Einwilligung die Einschätzung als Sira/rechtsgut verdient und Bedarf nach dem entsprechenden 5tra/rechtlichen Schutz hat. Die Herkunft dieser Spannung zwischen individuellem und sozialem Wert, zwischen Autonomie und supra-individuellem Wert des Gegenstands geht auf die Idee zurück, dass sich durch das Konzept des Strafrechtsguts die Uberwindung der Ebene der individuellen Intersubjektivität hin zu einem Gemeinschaftsinteresse ergibt. 49 Hier sind im Vorhinein alle Fälle auszuklammern, welche normale Prozesse des täglichen Lebens darstellen, unabhängig davon, ob sie die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers erregt haben. Schon aus einer vorjuristischen Perspektive heraus kann das Eintreten eines Bewohners in seine Wohnung als gleichwertig mit dem Eintreten eines Dritten mit Einwilligung des Wohnungsinhabers postuliert werden. Ahnliches gilt für das Öffnen der eigenen Korrespondenz oder 49

Siehe Da Costa Andrade

(Fn. 48), 484 f.

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der eines anderen mit dessen Einwilligung; auch wenn wahr ist, dass die mit Einwilligung durchgeführte Handlung den Verlust der Kontrolle über das damit verbundene Risiko bedeutet und dies mit noch besserer Begründung auf die juristisch-wertende Ebene anzuwenden ist, ja sogar auf den Bereich des Strafrechts. Eines der von den Vertretern der dualistischen Theorie zur Unterscheidung zwischen Einverständnis-Tatbestandsausschluss und EinwilligungRechtfertigung angeführten Argumente ist gerade dieses: dass nur die vom ersten Zusammenhang umfassten Fälle normale Vorgänge des täglichen Lebens bedeuteten und daher absolut irrelevant seien, so dass dafür nicht die Funktion der Nennung eines Tatbestands notwendig sei, da die Tat kein juristisch-strafrechtlich relevantes Wertungsniveau erlange. Doch schon die bloße Bezugnahme im Gesetz auf bestimmte Vorgänge, auch wenn diese mit Einwilligung geschehen, kann im Vergleich mit dem Schweigen des Gesetzgebers im Falle von anderen gerade dadurch zum Ausdruck bringen, dass diese Vorgänge als Konsequenz der Anstrengungen des Gesetzgebers zu ihrer Auswahl in Abwägung ihrer ausreichenden sozialen Bedeutung nicht als abstrakt und von Anfang an als irrelevant zu verstehen sind. Eher ist das Gegenteil der Fall, denn diese Bezugnahme schließt eine Indizienfunktion sowohl für den handelnden Dritten als auch für die Verantwortlichen der Rechtspflege ein. Dies bezieht sich zum Beispiel auf eine gewisse Umsicht oder Sorgfalt bei der Überprüfung des Einwilligungszustands, um so zu verhindern, in solche Umstände wie Willensschwäche, Irrtümer oder Unkenntnis zu verfallen. Weiterhin wird so den verantwortlichen Autoritäten der Justizverwaltung eine gewisse Nachforschungsbefugnis zugesprochen. 5 0 Darin zeigt sich außerdem, dass ein feiner Unterschied zwischen den Fällen mit Tatbestandsausschluss und den tatbestandslosen besteht. In diesen aus sozialer Sicht normalen Fällen sowie ganz allgemein in jenen, die den Betroffenen begünstigen, bei denen, beiläufig gesagt, auch die Mehrzahl der Voraussetzungen der wirksamen Einwilligung passen, ist die Spannung zwischen dem sozialen und dem individuellen Wert minimal oder nicht existent, so dass diese daher keine Bedeutung als Indiz für eine eventuelle Rechtswidrigkeit haben. In anderen problematischeren Fällen wie denen mit wirklicher Beeinträchtigung des Wohlergehens des Betroffenen oder, noch treffender, in denen mit Schädigung (bei denen nicht unbedingt Willensmängel auftreten müssen, die die Wirksamkeit der Einwilligung herabsetzen, wie oft eingewandt wird) kann die Verletzung eines Rechtsguts nicht verneint werden, auch wenn auf Grund der Einwilligung die Notwendigkeit eines strafrechtlichen Schutzes ausgeschlossen wird. In diesen Fällen mit echter Schädigung des Betroffenen ist es jedoch häufig, dass die Wirksamkeit der Einwilligung entfällt, weil sämtliche gesetzlichen Grenzen überschritten werden.

5 0 Darüber hinausgehend könnte im korrekten Zusammenhang zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung gut gesagt werden, dass der Tatbestand hier eine doppelte Indizienfunktion hat: eine erste auf die strafbare Rechtswidrigkeit und eine zweitrangige auf die allgemeine Rechtswidrigkeit oder Rechtfertigung.

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V. Betrachtungen über die Beziehung zwischen Tatbestandsausschluss und Rechtfertigung 5 1 : die N a t u r und systematische Einordnung der wirksamen Einwilligung 1. Angesichts der scheinbar allgemeinen Tendenz dazu, sich abkürzend auf das Unrecht als zu bestrafendes Unrecht zu beziehen, ist es angebracht, das letzte begrenztere vom weiter ausgedehnten Unrecht (allgemein) zu unterscheiden, welches sich auf alle rechtswidrigen Geschehnisse bezieht, egal ob diese im Strafrecht erfasst sind oder nicht. Anders als das allgemeine Unrecht erfordert das zu bestrafende Unrecht einen Auswahl- und Abstufungsprozess der rechtswidrigen Handlungen mit der Einteilung der als schwerwiegendere Verstöße gegen die wichtigen Rechtsgüter zu verstehenden Angriffe in Straftatbestände und erfordert in sämtlichen Fällen eine Befreiung von subjektiver Wertung unter Ausschluss der puren Verantwortlichkeit auf Grund des Ergebnisses (.Prinzip der subjektiven Verantwortung). Aus teleologischer Betrachtung der Tatbestandsmäßigkeit obliegt die Lösung von Konflikten nicht nur dem Umfeld der Rechtfertigung, sondern allen Bereichen der Rechtslehre sowie auch der Justizpolitik und daher, übereinstimmend mit Amelung52 und Günther53, auch der Ausbildung der Straftatbestände. Das zu bestrafende Unrecht hat jedoch nicht nur seine eigenen Regeln zur Auswahl und Einstufung, sondern auch für den Ausschluss, so dass zusammen mit den Rechtfertigungsgründen (oder Gründen für den allgemeinen Ausschluss des Unrechts oder der Rechtswidrigkeit) auch Gründe für den Ausschluss des zu bestrafenden Unrechts (oder den Ausschluss der strafrechtlichen Tatbestandsmäßigkeit) bestehen, die lediglich die als strafbar vertypte Rechtswidrigkeit ausschließen, jedoch nicht die (allgemeine) Rechtswidrigkeit des Verhaltens.54 Beim Tatbestandsausschluss wird der Ausschluss einer strafrechtlichen Reaktion gegen bestimmte Verhaltensweisen entschieden, was daher den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit oder die Negierung des Tatbestands bedeutet. Bei der authentischen (und totalen) Rechtfertigung dagegen geht es darum, zu entscheiden, ob eine bestimmte Verhaltensweise allgemein erlaubt 51 Nachfolgend vertrete ich im Großen und Ganzen eine mit meinem Lehrmeister übereinstimmende Meinung, s. Luzón Peña EJB Civitas, 1995, „Voces": Causas de atipicidad; Causas de justificación; Injusto e injusto penal; Error sobre causas de justificación e Indicaciones en el aborto; ders. Causas de atipicidad y causas de justificación, in: Luzón Pefia/Mir Puig (Hrsg.), Causas de justificación y de atipicidad en Derecho Penal, 1995, 2 1 - 4 3 . Später in: Curso de Derecho Penal. Parte General I, 1996, 555 ff. Zur deutschen Dogmatik s. Schünemann in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, 149, 172 ff (in spanischer Sprache auch in: Silva Sánchez - ed. española — Fundamentos de un sistema europeo del derecho penal, 1995, 205, 235 ff). 52 Amelung Beitrag zur Kritik an dem strafrechtlichen System mit kriminalpolitischer Orientierung von Roxin. In: El sistema moderno del Derecho penal: Cuestiones fundamentales. Estudios en honor de Claus Roxin en su 50° aniversario (Bernd Schünemann, comp.; Einleitung, Ubersetzung und Anmerkungen von J . M. Silva Sánchez), Madrid 1991, 99. 53 Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, 251 ff. 54 Siehe Luzón Peña E J B Civitas, 1995, „Voz" Injusto penal; ders. Causas de atipicidad, 1995, 21.

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ist, d. h. ob sie statthaft ist. Ähnlich wie es bei der Bildung der Straftatbestände geschieht, stehen wir auch hier bei ihrem Ausschluss vor zwei Sichtweisen, die unterschieden werden müssen; denn die Tatsache, dass eine Strafreaktion angesichts eines bestimmten Verhaltens ausgeschlossen wird, bedeutet nicht, dass dieses notwendigerweise erlaubt ist. Wenn wir nun bei Betrachtung des Umfeldes des Tatbestandsausschlusses von der Konzeption des Tatbestands als eines globalen oder totalen Unrechtstyps ausgehen, können wir zwischen den Gründen für den Tatbestandsausschluss in striktem Sinne, d. h. die den strikten oder positiven Tatbestand ausschließen, sowie den Gründen für den Tatbestandsausschluss im weiteren Sinne, bei denen auch die „Rechtfertigungsgründe" einzuschließen sind und bei denen das Verhalten nicht rechtswidrig, sondern erlaubt oder statthaft ist, unterscheiden. Innerhalb der „Gründe für einen Tatbestandsausschluss oder für den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit in striktem Sinn" kann nun zwischen Ausschlussgründen für Indizientatbestände und Ausschlussgründen für Straftatbestände oder zu bestrafendem Unrecht unterschieden werden. Traditionsgemäß stellt die Dogmatik die „Tatbestandsausschlussgründe" mit den „Ausschlussgründen für Indizientatbestände" gleich, auf Grund der Annahme, dass das Verhalten, wenn es auch formal in die Beschreibung im Gesetzestext passt, jedoch in Wirklichkeit keine Rechtsgüter angreift oder dies nicht auf wenigstens minimal relevante Art und Weise tut. Aus diesem Grund ergäbe sich hier nicht von Anfang an ein Indiz für eine Rechtswidrigkeit, was zum Tatbestand führen würde, und es muss nicht weiter untersucht werden, ob eventuell Rechtfertigungsgründe bestehen. Aus dieser Perspektive kann andererseits gesagt werden, dass dem Tatbestandsausschluss ein Vorrangwert vor der Rechtfertigung eingeräumt wird, womit der Ausdruck zu verstehen ist, dass ein Verhalten schon nicht tatbestandsmäßig anstatt bloß nicht tatbestandsmäßig ist. 55 Angesichts dieses Verständnisses der Gründe für einen Tatbestandsausschluss werden als solche meist auch einige Fälle von Einwilligung oder Einverständnis (zum Beispiel bei illegaler Festnahme oder Hausfriedensbruch) in der Auffassung mit eingeschlossen, dass durch eine solche Einwilligung schon im Vorhinein jegliche Verletzung des Rechtsguts ausgeschlossen wird - obwohl dies diskutabel ist, wie wir sehen werden. Bei dieser Lage der Dinge sollten die Adverbien („schon" oder „bloß") in Bezug auf die Tatbestandslosigkeit, zum Erzielen von mehr Genauigkeit, vielleicht besser in umgekehrtem Sinn angewendet werden, denn wir sollten uns die oftmals nicht ausreichend in Betracht gezogene Idee vor Augen halten, dass tatbestandslos nicht direkt und von sich aus schon gerechtfertigt bedeutet. So kann es zum Beispiel geschehen, dass die Einwilligung nur die Tatbestandsmäßigkeit ausschließt oder dass in einigen Fällen im Gegenteil dazu die als tatbestandslos zu verstehende Handlung mit Einwilligung außerdem gerechtfertigt ist, entweder auf Grund der Einwilligung selbst, oder

5 5 Siehe Luzón Peña E J B Civitas, 1995, „Voz" Causas de atipicidad; ders. Causas de atipicidad, 1995, 26.

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auf Grund der Mitwirkung anderer Rechtfertigungsgründe. 56 Jedoch muss hier anerkannt werden, dass normalerweise nur dann von Rechtfertigung gesprochen werden kann, wenn die Handlung in einen positiven oder strikten Tatbestand passt. Ein zweiter Sinn, in welchem von „Tatbestandsausschließungsgründen" gesprochen werden kann, ist in Bezug auf die Ausschlussgründe der Straftatbestandsmäßigkeit oder des strafbaren Unrechts. Ahnlich wie im ersten Fall passt das Verhalten auch hier formal in die Beschreibung im Gesetz, beeinträchtigt im Gegensatz zum vorigen Fall jedoch zwar materiell, aber auf juristisch nicht relevante Art und Weise bestimmte Rechtsgüter. Daher haben wir es hier scheinbar prinzipiell mit einem Tatbestand in striktem Sinne zu tun, der Indiz für eine Rechtswidrigkeit ist. In solchen Fällen gilt traditionsgemäß die Auffassung, dass es sich bei Nichtauftreten eines Rechtfertigungsgrundes um eine einen Tatbestand ausmachende und rechtswidrige Handlung (oder, im Verständnis des Tatbestands als ratio essendi der Rechtswidrigkeit, um eine vom Tatbestand her rechtswidrige Handlung) handelt. Ubereinstimmend mit der Haltung von Luzón Peña „können, auch wenn es nicht zu Rechtfertigungsgründen kommt, gewisse Umstände auftreten, die als stillschweigend akzeptierte Gründe für eine Einschränkung im Sinne der Straftatbestände wirken und daher zum Ausschluss der Straftatbestandsmäßigkeit führen: Denn, wenn es sich hier auch um eine Beeinträchtigung oder Verletzung von Rechtsgütern handelt, die im Prinzip juristisch relevant ist, ist diese jedoch nicht schwerwiegend genug, um als sira/rechtlich relevant eingestuft zu werden; daher ist dieses Verhalten als in gewissem Sinne rechtswidrig zu verstehen, stellt jedoch keinen direkten Straftatbestand oder eine Rechtswidrigkeit dar" 5 7 . Die so verstandenen „Tatbestandsausschließungsgründe" als Gründe für eine strafrechtliche Tatbestandslosigkeit oder den Ausschluss der strafrechtlichen Tatbestandsmäßigkeit bedeuten einen negativen Teil jeglichen Tatbestands. Andererseits ist aus dieser Sicht zu verstehen, dass die oben genannte adverbiale Bezugnahme ermöglicht, das Verhalten als lediglich (strafrechtlich) tatbestandslos oder außerdem (vollständig) gerechtfertigt, d. h. als in sämtlichen Rechtssparten statthaft zu qualifizieren. Bei dieser Betrachtung wird natürlich von einem Konzept des Straftatbestands als einer Auswahl ausgegangen, welche das Strafgesetz in Übereinstimmung mit dem fragmentarischen Charakter und dem Prinzip ultima ratio des Strafrechts unter den verbotenen Verhaltensweisen (oder für die Konzeption des Tatbestands als bloße ratio cognoscendi von Verhaltensformen, die im Prinzip verboten sein können) macht, wobei nur die schwerwiegendsten in Betracht gezogen werden. Was die Rechtfertigung betrifft, haben wir schon gesehen, dass es sich dabei um „mildernde Umstände handelt, die aus bestimmten Gründen die Rechtswidrigkeit oder Unrechtmäßigkeit der im Prinzip einen Tatbestand darstellen56

Zum Beispiel durch die legitime Ausübung eines Rechtes, Berufs oder Postens. Siehe Luzón Peña EJB Civitas, 1995, „Voz" Causas de atipicidad; den. Causas de atipicidad, 1995, 22, 25 f. 57

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den Handlung ausschließen, die in ihrem objektiven Teil den positiven Tatbestand erfüllt, welcher ein Indiz für Rechtswidrigkeit ist. Aus diesem G r u n d werden diese U m s t ä n d e auch als Ausschlussgründe der Rechtswidrigkeit oder des U n r e c h t s b e z e i c h n e t . " 5 8 D a b e i sollten wir jedoch nicht vergessen, dass einige Rechtfertigungsgründe im H i n b l i c k auf die Einwilligung gleichzeitig auch G r ü n d e für die Tatbestandslosigkeit sind (Ausschlussgründe des Indizientatbestands) 5 9 . 2. N u n m e h r möchte ich durch eine genauere Betrachtung einiger Fälle u n tersuchen, welche juristische N a t u r die Einwilligung und deren Anordnung in dem System besitzt, das ich gerade über die Deliktstheorie aufzuzeichnen versucht habe. D i e Zusammenfassung vorwegnehmend meine ich, dass das Auftreten einer wirksamen Einwilligung Folgendes bestimmen kann: einerseits, dass keine Verletzung des Rechtsguts besteht, dass dadurch der positive Indizientatbestand nicht erfüllt wird. Andererseits, dass wohl eine Verletzung des Rechtsguts vorliegt, dass durch die Einwilligung oder als ihre K o n s e q u e n z jedoch die Straftatbestandsmäßigkeit (nur) ausgeschlossen (das Verhalten aber nicht gerechtfertigt) oder aber das Verhalten gerechtfertigt wird. D i e s e Rechtfertigung kann ihrerseits oder eher gleichzeitig schon die Tatbestandsmäßigkeit ausschließen (d. h. zur gleichen Zeit wie ein Ausschlussgrund für den Indizientatbestand oder den Tatbestand in striktem Sinne wirken), da die Verletzung des Rechtsguts als sozial und juristisch v o l l k o m m e n normal betrachtet wird, oder aber die strikte oder indizienhafte Tatbestandsmäßigkeit nicht ausschließen (da es sich dabei nicht um vollständig gewöhnliche, normale oder irrelevante Fälle handelt), jedoch wohl den Tatbestand im weiteren Sinne oder den Gesamtunrechtstatbestand. I m Folgenden einige konkrete Fallbeispiele dazu.

a) D i e Entwendung einer in fremdem Eigentum stehenden Sache unter gültiger Einwilligung des Eigentümers: 6 0 D a s Mitwirken einer Einwilligung im Falle eines Diebstahls bedeutet nicht nur, dass daraufhin kein Strafverfahren zur B e s t i m m u n g des Ausschlusses der Tatbestandsmäßigkeit eingeleitet wird, da die Verletzung des Rechtsguts dafür nicht relevant genug ist. D i e Einwilligung bedeutet, dass hier von Anfang an schon jegliche Verletzung des Rechtsguts fehlt und daher schon im Vorhinein ein positiver Tatbestand mit Indizienfunktion einer Rechtswidrigkeit auszuschließen ist; aus diesem G r u n d braucht nicht weiter nach einer Rechtfertigung gesucht zu werden, weil diese schon K o n s e q u e n z der genannten Tatbestandslosigkeit ist. S o gilt aus dieser Sichtweise konkret, dass die gültige Einwilligung des Eigentümers zur Aneignung

58 Siehe Luzón Peña EJB Civitas, 1995, „Voz" Causas de atipicidad; ders. Causas de atipicidad, 1995, 32. 5 9 Siehe Luzón Peña EJB Civitas, 1995, „Voz" Causas de justificación. 6 0 Hier müsste genauer ausgedrückt von der Besitzergreifung einer fremden Sache oder einem Zugriff auf diese mit Einwilligung des Besitzers gesprochen werden, denn das Konzept der Aneignung (auch bei Erschleichen, ganz eindeutig jedoch bei Gewaltausübung oder Bedrohung von Personen) enthält implizit die Idee der Abwesenheit jeglicher Einwilligung.

D i e Einwilligung in ihrer strafrechtlichen B e d e u t u n g

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seines Eigentums durch einen Dritten schon jegliche Verletzung oder Beeinträchtigung des Rechtsguts ausschließt, denn das Eigentumsrecht und die mit diesem verbundenen Befugnisse wurden nicht angetastet; eher ist das Gegenteil der Fall, denn hier wird gerade dieses Recht zur Nutzung der Verfügungsbefugnis in Anspruch genommen. Die Handlung des Dritten bedeutet keine Verletzung der Position des Eigentümers, sondern eine freiwillig tolerierte Beteiligung an der Ausübung dieses Rechts. 61 b) Wie wir jedoch im Verlauf der bisherigen Ausführungen gesehen haben, halten die Vertreter der dualistischen Theorie oder der Differenzierung die Einwilligung (oder das Einverständnis) normalerweise für einen Tatbestandsausschließungsgrund, zum Beispiel bei illegalen Festnahmen oder Hausfriedensbruch, auf Grund des Verständnisses, dass dadurch das Rechtsgut nicht verletzt wird, da dieses der Ausdruck der Willensfreiheit ist und in Konsequenz daraus nicht einmal ein positiver Tatbestand mit Indiz einer Rechtswidrigkeit erfüllt wird. Ebenfalls wird oftmals die Beeinträchtigung des Rechtsguts Gesundheit und Integrität bei den medizinisch-chirurgischen Interventionen mit positivem Ergebnis verneint: wegen ihres (objektiven) Heilungssinns nach den einen, oder wegen des Heilungszwecks und der korrekten Ausführung, welche zum Ausschluss des subjektiven Tatbestands führe, nach den anderen. Doch diese Fälle (wie auch andere) bedeuten trotz des Auftretens von Einwilligung wohl eine Beeinträchtigung des Rechtsguts. Dies bedeutet daher, dass sie im Prinzip in den positiven Indizientatbestand hineinpassen. Doch muss dies nicht unbedingt verhindern, dass diese als Tatbestandsausschließungsfälle betrachtet werden können, weil dort ein Ausschlussgrund der Straftatbestandsmäßigkeit oder in einigen Fällen sogar der Rechtfertigung auftritt. Bei den illegalen Festnahmen oder genauer gesagt, bei der Beraubung der Bewegungsfreiheit, bei Festnahme oder Einsperren mit Einwilligung, besteht im Hintergrund eine Beeinträchtigung des Rechtsguts, nicht des einfachen freien Willens, sondern der Bewegungsfreiheit in sich oder der Möglichkeit, sich zu bewegen. Wer sich unter Mitwirkung an einem wissenschaftlichen Experiment einschließen lässt, gibt, wie Jescheck62 aufzeigt, vorübergehend seine Bewegungsfreiheit auf. Die Einwilligung kann jedoch auf keinen Fall die Wirklichkeit der Einschließung aufheben und damit die mögliche Enttäuschung von fremden Erwartungen, die sich auf eine „normale" Annahme der Freiheit stützen. Was sie wohl eliminieren kann, ist die Entziehung des Genusses der persönlichen „Freiheit", in dem Sinne, dass einem einwilligenden Subjekt seine Freiheit nicht „entzogen" werden kann, 63 was andererseits jedoch ausreichend zur Begründung des Ausschlusses der Straftatbestandsmäßigkeit des Verhaltens ist. Auch beim Hausfriedensbruch oder besser gesagt, beim Betreten und Aufenthalt in einer fremden Wohnung ist die persönliche und familiäre Intimsphäre der Wohnung trotz 6 1 Im gleichen Sinne unter Bezugnahme auf die von einem Dritten mit Erlaubnis des Eigentümers an dessen Sachen hervorgerufenen Schäden Roxin AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 13. 62 Jescheck Tratado (Fn. 14), 511. 6 3 Siehe Roxin AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 22.

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gegebener Einwilligung durch den Inhaber an einen Dritten diesem nicht dort wohnenden Fremden ausgesetzt. In Konsequenz daraus ergibt sich in beiden Fällen, zumindest im Hinblick auf die Verletzung eines Rechtsguts, ein strikter oder Indizientatbestand. Andererseits schließt die Einwilligung in beiden Fällen jedoch nicht nur einen Straftatbestand aus, sondern wirkt auch als Rechtfertigungsgrund. Das Auftreten einer gültigen Einwilligung bei der Entziehung der Bewegungsfreiheit oder dem Eintritt eines Fremden in die eigene Wohnung bestimmt nicht nur den Ausschluss der Straftatbestandsmäßigkeit (zum Beispiel auf Grund der Prinzipien der Bedeutungslosigkeit, der sozialen Toleranz oder der nicht zu rechtfertigenden sozialen Anpassung), sondern auch der allgemeinen Unrechtmäßigkeit, da diese soziale Wertung der Anpassung, Richtigkeit oder Normalität des Verhaltens mit der allgemeinen juristischen Wertung übereinstimmt. Bei anderen Tatbeständen jedoch, bei denen zu folgern ist, dass dort, wo eine juristisch wirksame Einwilligung des Inhabers des Rechtsguts fehlt, eine faktische Einwilligungssituation ausreichend ist, schließt die faktische Zustimmung gewisser Personen nur die Straftatbestandsmäßigkeit aus: Die Handlung mit Einwilligung kann unter diesen Umständen nicht als ausreichend schwerwiegend verstanden werden, um den entsprechenden Kriminalakt zu erfüllen. Andererseits ist das Verhalten jedoch nicht vollständig gerechtfertigt; es ist nicht statthaft, da dabei eine bestimmte außerstrafrechtliche, zum Beispiel zivil- oder arbeitsrechtliche Verantwortlichkeit besteht. So ist dies der Fall beim Hausfriedensbruch, wenn der Einwilligende oder der mit dem Eintritt oder dem Aufenthalt eines Fremden Einverstandene nicht der Inhaber des Zutrittsrechts ist. Das ist zum Beispiel auch der Fall bei der Aneignung einer Sache durch einen Dritten unter Einwilligung eines minderjährigen oder sonst unmündigen Eigentümers. Um hier die Straftatbestandsmäßigkeit auszuschließen, reicht es aus, dass sich der Minderjährige oder Unmündige ausreichend der Bedeutung seines Übergabeaktes bewusst ist. Doch eine solche juristisch ungültige Einwilligung schließt nicht die zivile Verantwortlichkeit zum Beispiel zur Ersatzleistung für den Schaden aus. Schließlich erscheint noch bei den medizinisch-chirurgischen Interventionen mit positivem Ausgang (was die ausgewählten Fälle angeht, obwohl wir noch wesentlich mehr Beispiele anführen könnten) klar zu sein, dass dort die Tatbestandsmäßigkeit nicht mit dem Argument der Nichtbeeinträchtigung des Rechtsguts verneint werden kann. Trotz des heilenden, notwendigen, unerlässlichen oder unvermeidbaren Charakters einer Operation besteht kein Zweifel daran, dass sich daraus, einmal abgesehen von lang andauernden Schmerz- und Heilungszeiten (z. B. bei den Schönheitsoperationen), eine Beeinträchtigung der körperlichen Integrität (Wunden, Narben, Amputationen) und ein Verlust oder eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit (in den oftmals langwierigen postoperativen Krankenhausaufenthalten) ergibt. Diese Interventionen sind jedoch andererseits vollständig gerechtfertigt, nicht nur wegen ihrer allgemeinen Anerkennung als vollständig normal sowie juristisch und sozial angemessen, sondern auch wegen ihrer Ausführung durch zugelassene medizinische Fachleute. Doch gerade wegen dieser Eigenschaften der Normalität und sozialen Vertretbarkeit können solche Interventionen

D i e Einwilligung in ihrer strafrechtlichen Bedeutung

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gleichzeitig als Ausschlussgrund für den Indizientatbestand betrachtet werden. 6 4 Schlussfolgernd bestimmt also die wirksame Einwilligung des Rechtsgutinhabers (unter der Voraussetzung, keine Willensmängel aufzuweisen oder die rechtlichen Grenzen nicht zu überschreiten, denn in diesem Fall hätten wir es nicht mehr mit einem Problem des Tatbestandsausschlusses oder der Rechtswidrigkeit zu tun) 6 5 im Umfeld der individuellen Rechtsgüter den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit. Die Konfiguration des Rechtsguts auf der Grundlage der Spannung zwischen individueller (der Verfügungsbefugnis) und systemisch-sozialer Wertung (des Verfügungsgegenstands) führt dazu, dass in den Fällen mit wirksamer Einwilligung auf alle Fälle ein Gut fehlt, das einer strafrechtlichen Würdigung bedarf und daher unter strafrechtlichen Schutz zu stellen ist. Mit diesem kleinen Beitrag ist es mir eine große Ehre, mich von ganzem Herzen an dieser Ehrung für Claus Roxin, meinen hochverehrten Lehrmeister, zu beteiligen. Er ist zweifellos einer der profiliertesten Strafrechtswissenschaftler der Welt, dessen Wissenschaftsgeist und herzliche Aufnahme ich bei meinen Aufenthalten in München sehr genießen durfte.

64 In gleichem Sinne Luzön Pena. EJB Civitas, 1995, „Voz" Causas de atipicidad; ders. Causas de atipicidad, 1995, 24. 65 In gleichem Sinne Roxin AT I (Fn. 2), § 13 Rn. 18 und 36 ff.

Zur materiellen Legitimation der mutmaßlichen Einwilligung NOBUYUKI YOSHIDA

I. Es scheint mir, daß die Entwicklung der Zivilisation die Erweiterung des Selbstbestimmungsrechts mit sich bringt. Auch macht sie seine Vertiefung unerläßlich. Als Erweiterung des „Selbst-bestimmen-könnens" macht z. B. die weiterentwickelte Kunst der Organtransplantation einerseits die Einwilligung des Spenders, andererseits die des Empfängers erforderlich. Da Spender und Empfänger sich über Leben und Tod entscheiden müssen, wird es unbedingt nötig, den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts zu vertiefen. 1 Dies ist rechtlich auch schon damit begründet, daß Art. 1 Abs. 2 GG das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person garantiert, 2 sowie daß unsere japanische Verfassung in Art. 13 das Recht auf Leben, Freiheit und die Verfolgung des Wohlergehens anerkennt. 3 Im modernen Leben wird das Sozialsystem immer komplizierter und das Tempo täglich schneller. Dabei tritt ein weiteres modernes Problem auf, nämlich ob unter solchen Umständen, unter denen die Einwilligung des Verletzten nicht wirklich gegeben ist, sondern nur gemutmaßt werden kann, eine rechtsgutseingreifende Handlung des Täters gerechtfertigt werden sollte. Das ist das Problem der mutmaßlichen Einwilligung, deren Inhalt Mezger, der von unserem Jubilar der eigentliche Erfinder genannt wird, 4 folgendermaßen bestimmt hat: „Mutmaßliche Einwilligung bedeutet ein objektives, richterliches Wahrscheinlichkeitsurteil dahin, daß der Betroffene, wenn er volle Kenntnis der Sachlage besessen hätte, von einem persönlichen Standpunkt aus in die Handlung eingewilligt hätte." 5 Dieses Problem wird jetzt so gelöst, daß die Hand1 Vgl. Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 13 Rn. 38; § 16 Rn. 20, 42, 85; § 22 Rn. 159; näher insbes. zur Rechtslage nach dem TPG Niedermair Körperverletzung und die Guten Sitten, 1999, 222 ff mwN. 2 Vgl. statt aller Roxin (Fn. 1), § 13 Rn. 14 m. Fn. 25; Jescbeck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts AT, 5 1996, § 34 II 3; L K - H i r s c h StGB, "1992, Vorbem. § 32 Rn. 92 m. Fn. 147. 3 Art. 13 der Japanischen Verfassung lautet: Jeder wird als Individuum geachtet. Alle Rechte des Volkes in bezug auf Leben, Freiheit und Verfolgung des Wohlergehens sind am höchsten zu respektieren, insofern sie nicht gegen das Wohl der Allgemeinheit verstoßen. * Roxin FS für Welzel, 1974, 447. 5 Mezger Strafrecht, 3 1949, 219 f.

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lung, die auf dem hypothetischen Willen des Verletzten beruht, gerechtfertigt werden kann. So hat unser Jubilar geschrieben, die mutmaßliche Einwilligung sei ein Rechtfertigungsgrund. Dazu hat er die Struktur dieses Rechtfertigungsgrundes wie folgt erklärt: „Es kollidieren der vom Handelnden vermutete und der möglicherweise entgegenstehende wirkliche Wille des Rechtsgutsträgers, und diese Kollision wird dadurch ausgeglichen, daß die Rechtsordnung nach objektiven und differenzierten Kriterien einen ,mutmaßlichen Willen' festlegt, der den Eingriff rechtfertigt, auch wenn sich hinterher herausstellt, daß der wirkliche Wille des Rechtsgutsträgers ein anderer war." 6 1. Im Einklang damit ist sich die deutsche Literatur darüber einig, daß die mutmaßliche Einwilligung ein Rechtfertigungsgrund ist. 7 Auch die Praxis 8 sieht das so, z. B. im Fall B G H N J W 1988, 2310, wo ein Arzt die Operationserweiterung, nämlich eine Eileiterunterbrechung an einer Patientin, ohne Aufklärung über die Erweiterung des ärztlichen Eingriffs, somit auch ohne ihre Einwilligung vorgenommen hatte. Jedoch habe er mit ihrer mutmaßlichen Einwilligung gehandelt, weil ein „katastrophaler Befund" vorlag, nämlich starke Verwachsungen in der Bauchhöhle, die zu Beginn der Operation festgestellt wurden; dies hatte den Arzt davon überzeugt, im Fall einer erneuten Schwangerschaft und einer dann unvermeidlichen Kaiserschnittoperation könnte es zu einer lebensgefährlichen Uterusruptur kommen. Der B G H hat hier festgestellt: „Die mutmaßliche Einwilligung bildet einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund, nicht lediglich einen Unterfall des rechtfertigenden Notstandes." 9 Ebenso sind sich in Japan, unter dem starken Einfluß der deutschen Literatur, die Meinungen insofern einig, als die mutmaßliche Einwilligung einen neuen Rechtfertigungsgrund darstellt. 10 Auch die Praxis 11 hat, freilich erst im sogenannten „Milchdrüsenentzündungs-Fall" und auch nicht direkt, sondern nur mittelbar, nämlich in einer Zivilsache, die mutmaßliche Einwilligung als einen Rechtfertigungsgrund anerkannt. Ähnlich wie im oben zitierten Fall in Deutschland hatte ein Arzt bei der verlangten Entfernung einer Krebsgeschwulst aus der rechten Brust einer Schauspielerin die Operation ohne Einwilligung der Patientin, jedoch in der Überzeugung dahin ausgeweitet, einen weiteren Tumor, der in ihrer linken Brust lag, herauszunehmen, obwohl wissenschaftlich noch nicht sicher war, ob sich der Tumor wirklich in Zukunft zu Roxin (Fn. 1), § 18 Rn. 3. Vgl. nur Roxin (Fn. 1), § 18 Rn. 3; Jescheck/Weigend (Fn. 2), § 34 VII 1; Hirsch (Fn. 2), Vorbem. § 32 Rn. 129; Schönke/Schröder/Ienc/fener 25 1997, Vorbem. §§ 32 Rn. 54. 8 Z. B. BGHSt 16, 309, 312; 35, 246, 249; RGSt 25, 375, 382; 61, 242, 256 usw.; vgl. näher Roxin (Fn. 1), § 18 Rn. 3 ff mwN. 9 BGH NJW 1988, 2310 mit Anm. Yoshida in: Hikakuho-zashi 25, 2 (1990), 143; kritisch auch Geppert JZ 1988, 1024; Müller-Dietz JuS 1989, 280. 10 Vgl. Yoshida Das Wesen der Rechtswidrigkeit und der Handlungsunwert, 2. unveränderte Aufl. 1995, 233ff, näher Fn. 1 2 - 1 5 . 11 Z. B. Oberster GH, Hanreijiho, 1011, 54; LGZ Tokyo, Kakyushinsaibanshyo-Minjihanrei-shyu, 22, 5. 6, 626; LGZ Kyoto, Hanreijiho, 848, 93 usw. 6

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Krebs entwickeln würde. Das L G Tokyo fällte folgendes Urteil: „Mit wenigen Ausnahmen, wenn der Arzt unter besonderen Umständen operieren muß, etwa wegen der drohenden Lebensgefahr für die Patientin keine Zeit hat, ihre Einwilligung einzuholen, sollte sich der Arzt darüber vergewissern, ob die Patientin einwilligen würde. Wenn er also ohne ihre Einwilligung operiert, kann er den Vorwurf, diese Operation sei ein rechtswidriger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Patientin, nicht vermeiden." 12 Wie diese Fälle zeigen, kann man sagen, daß die Erkenntnis, die mutmaßliche Einwilligung wirke rechtfertigend, Gemeingut geworden ist. Aber der Grund dafür, warum die mutmaßliche Einwilligung rechtfertigende Kraft hat, ist bis heute noch sehr umstritten geblieben. In Deutschland wie in Japan werden vielfältige Meinungen vertreten: Kombination von rechtfertigendem Notstand und Sozialadäquanz 13 , Geschäftsführung ohne Auftrag 14 , rechtfertigender Notstand 1 5 , erlaubtes Risiko 1 6 , Einwilligung 17 . 2. Was ist jedoch der Grund dafür, daß es diese vielen verschiedenen Behauptungen gibt? Meiner Meinung nach liegt der Grund in der Besonderheit der Umstände, unter denen der Täter von der mutmaßlichen Einwilligung des Verletzten überzeugt handeln kann. Das zeigt die komplexe Natur dieses Rechtfertigungsgrundes. Ich glaube, diese Konsequenz ergibt sich aus einem alten Kathederfall, wo der Täter, auf die mutmaßliche Einwilligung vertrauend, in das Haus seines abwesenden Nachbarn eindringt, um eine schadhaft gewordene Wasserleitung abzudichten. Zunächst kann man hier leicht den Eingriff in das Hausrecht des Nachbarn als gerechtfertigt ansehen. Weil aber das Eindringen in das Haus, wie unser Beispiel zeigt, eine vorteilhafte Handlung für den Nachbarn ist, sollte sich der Verletzte eigentlich bei dem Täter bedanken, statt sie ihm vorzuwerfen. Wenn der Nachbar dabei anwesend gewesen wäre, hätte er mit Sicherheit dem Täter erlaubt, in das Haus einzudringen. Das spricht sehr für die Lehre von der Einwilligung. Aber die Einwilligung des Verletzten ist nicht wirklich erteilt worden. Deshalb kann man der mutmaßlichen Einwilligung den Charakter eines Ersatzes für eine tatsächlich fehlende Einwilligung nicht absprechen. Damit wird ein anderes Element nötig, um diese Ersetzung zu erlauben. Nach dem LGZ Tokyo (Fn. 11), 22, 5. 6, 626 f. Vgl. Zipf Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970, 52 ff. Doch hat er nach dieser Abhandlung seine Meinung geändert und die mutmaßliche Einwilligung als eigenständigen Rechtfertigungsgrund anerkannt; vgl. Maurach/Zzp/Strafrecht AT 1, 8 1992, § 2 8 Rn. 4. 14 Vgl. Noll Ubergesetzliche Rechtfertigungsgründe, im besonderen die Einwilligung des Verletzten, 1955, 135 ff (vgl. näher zu seinen Meinungsänderungen Roxin [Fn. 4], 452 Fn. 22); Zitelmann AcP 99 (1906), 104 f; Ahrens Geschäftsführung ohne Auftrag, 1904, 29 ff; Baumann/ Weber Strafrecht AT, 9 1985, § 21 II 5 a; Schroth JuS 1992, 478. 15 Vgl. Schmidhäuser Strafrecht AT, 2 1975, 9/49; Welzel Das Deutsche Strafrecht, "1969, § 14 V; Bockelmann Strafrecht AT, 3 1979, § 15 C II 2; H. Mayer Strafrecht AT, 1967, § 19, 3. 1 6 Vgl. Roxin (Fn. 4), 447, 452; Lenckner FS für H. Mayer, 1966, 165, m;Jescheck/Weigend (Fn. 2), § 34 VII 2; Müller-Dietz (Fn. 9), 281. 17 Vgl. Mezger GerS 89 (1924), 287 ff; Hirsch (Fn. 2), Vorbem. § 32 Rn. 132. 12

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Element sollte mit Rücksicht darauf gesucht werden, daß es sich bei der mutmaßlichen Einwilligung immer um die Situationen handelt, in denen nicht abgewartet werden kann, wie der Einwilligungsberechtigte selbst verfügen würde, weil es für die Entscheidung anderenfalls zu spät wäre. Das ist das Element, nämlich das Zusammentreffen eines Entscheidungszwangs mit der Unmöglichkeit, daß der an sich dazu Berufene rechtzeitig die Einwilligung erteilt. Darauf mag die Lehre vom rechtfertigenden Notstand beruhen. Da man sagen kann, der Nachbar würde das Eindringen in das Haus dann gestattet haben, wenn er von der schadhaft gewordenen Wasserleitung gewußt hätte, oder mit welchem Kriterium auch immer beurteilt werden könnte, daß die Einwilligung von dem Verletzten erteilt worden wäre, ergibt sich das Erfordernis der Interessenabwägung. Denn das Interesse stellt lediglich einen wichtigen Gesichtspunkt bei der Ermittlung des Willens dar. Damit ist auch gezeigt, daß die Lehre von der Geschäftsführung ohne Auftrag ebenso vertreten werden könnte. Schließlich bleibt aber bei der mutmaßlichen Einwilligung noch die Möglichkeit, es werde sich später zeigen, daß der Rechtsgutsträger etwas anderes wollte. Diese unseren Erwartungen zuwiderlaufende Tatsachengrundlage bereitet der Lehre vom erlaubten Risiko eine Argumentationsgrundlage vor. Das ist die Ursache für die vielfältigen Meinungsverschiedenheiten. Sie liegt gerade in der Vielseitigkeit der Situation, in der der Täter auf die mutmaßliche Einwilligung des Rechtsgutsträgers vertrauen kann. Denn die mutmaßliche Einwilligung ist ein Rechtfertigungsgrund, dessen Besonderheit in der Unmöglichkeit, im Erfordernis, in der Dringlichkeit und in der Wahrscheinlichkeit der Einwilligungseinholung liegt; doch verbleibt immer auch die Möglichkeit einer der Einstellung des Verletzten widersprechenden Entscheidung des Täters.

II. Bei aller Umstrittenheit dieser Lehren sehe ich die mutmaßliche Einwilligung als einen selbständigen Rechtfertigungsgrund an, der unter dem Einfluß der situativen Besonderheiten - strukturell zwischen Einwilligung, rechtfertigendem Notstand und erlaubtem Risiko schwankend - doch die rechtfertigende Kraft aus der Respektierung der Autonomie bezieht. 1. Zuerst sei die Lehre überprüft, die sich auf eine Kombination von rechtfertigendem Notstand und Sozialadäquanz stützt. Zipf hat früher als Vertreter dieser Lehre behauptet: „Ein eigenes Rechtsinstitut der vermuteten oder mutmaßlichen Einwilligung ist überflüssig. Die Fälle, in denen jemand im fremden Interesse tätig wird, lassen sich ausreichend durch den anerkannten Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstandes erfassen, wobei hier allerdings zu beachten ist, daß ein aus den Umständen erschließbarer, entgegenstehender Wille des Rechtsgutsträgers eine solche Hilfsaktion unzulässig macht. Die Fälle schließlich, in denen jemand im eigenen Interesse in fremde Rechtsgüter ein-

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greift, wobei nach der Üblichkeit eines solchen Verhaltens aber mit der Zustimmung des Betroffenen zu rechnen ist, lassen sich in engen Grenzen mit dem Rechtsinstitut der Sozialadäquanz ausreichend erfassen."18 Aber diese Behauptung ist schon theoretisch nicht durchsetzbar, weil Zipf selbst innerhalb der über den rechtfertigenden Notstand lösbaren, altruistischen Fälle auch noch die Fälle anerkennt, die bei „einem aus den Umständen erschließbaren, entgegenstehenden Willen des Rechtgutsträgers" nicht gerechtfertigt werden sollten. Offenbar liegt seiner Meinung nach die rechtfertigende Kraft also nicht nur im rechtfertigenden Notstand, sondern auch in der mutmaßlichen Einwilligung. Angenommen, in unserem Beispielsfall des Wasserrohrbruchs stehen sich in etwa gleichrangige Rechtsgüter, nämlich das Hausrecht des Nachbarn und sein Eigentum gegenüber. Dann kann das Eindringen in das Haus nicht durch eine Güterabwägung gerechtfertigt werden. Wenn aber der Wasserrohrbruch auch noch ein öffentliches Interesse oder fremde Individualinteressen beeinträchtigen würde, dann sollte die Verletzung des Hausrechts nach rein objektiven Wertabwägungen gerechtfertigt werden, weil nach § 34 StGB das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Wenn dagegen nur das Haus des Nachbarn vor Schaden bewahrt werden sollte, so würde der Fall nicht nach einer rein objektiven Wertabwägung, sondern nach der subjektiven, gemutmaßten Einstellung des Eigentümers beurteilt. Hier ist die Rechtfertigung nur vom subjektiven Wollen des Verletzten abhängig. Das zeigt die Widersprüchlichkeit der Ansicht Zipfs, der alle Fälle der mutmaßlichen Einwilligung nur durch rechtfertigenden Notstand oder Sozialadäquanz rechtfertigen will. Ferner ist noch ein weiteres Argument von Zipf zu kritisieren. Wenn er sagt, „daß eine Einwilligung als Tatbestandsausschließungsgrund nur dann vorliegt, wenn sie von dem zuständigen Rechtsgutsträger selbst (oder einem dazu berechtigten Vertreter) in rechtswirksamer Weise vor der Tat erteilt wurde" 19 , so faßt er als Einwilligung nur die wirklich erteilte auf. Demgemäß kann man die konkludent zum Ausdruck gebrachte Einwilligung nicht der wirklichen Einwilligung zuordnen. Schon daraus ergibt sich, daß die Lehre von der „Alleinzuständigkeit" vom rechtfertigenden Notstand oder Sozialadäqanz mangelhaft ist. 2. Aus der Kritik an Zipf ist zwar klar geworden, daß die mutmaßliche Einwilligung, wie schon der BGH anerkannt hat, ein eigenständiger Rechtfertigungsgrund ist. Aber die Perspektive darüber, nach welchen Prinzipien und wie dieser Rechtfertigungsgrund beurteilt werden sollte, ist noch nicht eröffnet. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, daß die mutmaßliche Einwilligung, wie ich oben (I. 2.) gezeigt habe, vier situative Besonderheiten hat, nämlich Unmöglichkeit, Erfordernis, Dringlichkeit und Wahrscheinlichkeit der Einwilligungseinholung. Also muß dieser Rechtfertigungsgrund vielseitig sein, wie auch Roxin seinen Charakter als zwar zwischen Einwilligung und rechtferti18 19

Zipf (Fn. 13), 1970, 56. Zipf (Fn. 13), 1970, 56.

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gendem Notstand stehend, aber als von beiden abweichend20 bezeichnet hat. Daraus ergibt sich, daß ein monistisches Verständnis dieses Rechtfertigungsgrundes materiell unmöglich ist. a) Mezger als Vertreter einer monistischen Rechtfertigungslehre sagt: „Diese sogenannte mutmaßliche Einwilligung ist also in allem ein vollständiger Ersatz der wirklichen Einwilligung." Damit wird notwendigerweise die mutmaßliche Einwilligung nur nach dem Prinzip des mangelnden Interesses als gerechtfertigt beurteilt. 21 Wenn Mezger aber bei der Entscheidung nicht auf das wahre Wohl, sondern nur auf die zu vermutende persönliche Einstellung des Betroffenen abzuheben versucht, 22 so darf ich in Ubereinstimmung mit unserem Jubilar auf die Widersprüchlichkeit dieser Lehre hinweisen: Mezger müßte nämlich die Tat selbst dann als gerechtfertigt ansehen, wenn sich hinterher herausstellt, daß der Täter trotz sorgfältiger Überlegung den wirklichen Willen des Rechtsgutsträgers nicht getroffen hat, dieser sich also geschädigt fühlt. Dann kann man aber nicht mehr von einer mangelnden Interessenverletzung, sondern nur von der Rechtfertigung eines unerwünschten Eingriffs in die Rechtssphäre eines anderen, also von einem Kollisionsfall sprechen. 23 So muß etwa Hirsch als jetziger Vertreter dieser Lehre sagen, die rechtfertigende Kraft der mutmaßlichen Einwilligung beruhe nicht nur auf dem Gedanken, daß hier dem zu erwartenden Willen des an der rechtzeitigen Entscheidung gehinderten Einwilligungsberechtigten gemäß gehandelt wird, sondern auch darauf, daß das Interesse lediglich einen wichtigen Gesichtspunkt bei der Ermittlung dieses Willens darstellt. 24 Da die Einwilligung des Verletzten nicht wirklich erteilt wird, muß man notwendigerweise darüber mutmaßen. Dabei ist ein Kriterium erforderlich, mit dem die echte Einstellung des Verletzten klargemacht wird. Das ist der Gesichtspunkt der Interessenabwägung. Denn im allgemeinen kann man sagen, im Sozialleben gelte das Prinzip, man wolle das für sich selbst Vorteilhafte. b) Manche Autoren wollen über die Lehre von der Geschäftsführung ohne Auftrag mit den Prinzipien der Respektierung der Autonomie und der Interessenabwägung das Problem der mutmaßlichen Einwilligung lösen. Noll sagt als ein Vertreter dieser Lehre: „Zwingend ergibt sich aus Art. 419 ff O R [ = Schweizerisches Obligationenrecht] nur, daß Handlungen, die dem Interesse und dem mutmaßlichen Willen des Verletzten entsprechen und in die er auch selber wirksam einwilligen konnte, rechtmäßig sind." 25 Und neuerdings hat Schroth diese nebeneinandergestellte Kombination der zwei Elemente folgendermaßen begründet: „Der mutmaßliche Wille ist immer nur ein fiktiver Wille." 20 21 22 23 24 25

Roxin (Fn. 4), 448. Mezger (Fn. 5), 220. Mezger (Fn. 5), 220 ff. Roxin (Fn. 4), 449. Hirsch ( Fn. 2), Vorbem. § 32 Rn. 132. Noll ( Fn. 14), 137.

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Dieses fiktiven Charakters wegen wird es notwendig, „ein Korrektiv, das den Rechtsgutsinhaber schützt, einzubauen. Als Korrektiv bietet sich das verobjektivierte Interesse des Rechtsgutsträgers an." Aus dieser Verobjektivierung entsteht das Element „Interesse" - dem Wortgebrauch nach im Sinne von „Nützlichkeit" - als ein Rechtfertigungselement.26 Gegen diese Lehre hat schon unser Jubilar eingewandt, zwar verlange § 683 BGB, daß die Geschäftsführung dem Interesse und dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht; doch komme es für das Strafrecht allein auf den mutmaßlichen Willen an, bei dessen Ermittlung freilich das „Interesse" einen wesentlichen Faktor bilden kann. 27 Darüber hinaus wird heutzutage im allgemeinen als Kritik vorgebracht, die zivilrechtlichen Vorschriften über die Geschäftsführung ohne Auftrag und vor allem § 679 BGB, der unter engen Voraussetzungen sogar einen bewußt gegen den bekanntermaßen entgegenstehenden Willen des Geschäftsherrn erfolgten Eingriff deckt, seien für das Strafrecht bedeutungslos. Erläutert wird das mit der gegenüber dem Strafrecht unterschiedlichen Funktion der §§ 677 ff BGB: Die Geschäftsführung ohne Auftrag regele „nur den internen Schadens- und Aufwendungsausgleich, nicht aber die Voraussetzungen des Eingriffs in fremde Rechtsgüter."28 Ferner weise ich darauf hin, daß diese Lehre auf der prästabilierten Harmonie zwischen dem Interesse und dem mutmaßlichen Willen beruht. Aber besteht nicht ein Widerspruch zwischen dem nach objektiver Interessenabwägung bestimmten Interesse und dem nach subjektiver Einstellung des Verletzten gemutmaßten Willen? Auch nachdem man die subjektive Einstellung des Verletzten so genau wie möglich untersucht hat, würde noch die Möglichkeit verbleiben, der untersuchte entspreche nicht dem wahren Willen. Selbst wenn der wahre Wille unvernünftig wäre, muß man ihn achten, weil die Autonomie des einzelnen maximal respektiert werden soll, wie Art. 2 Abs. 2 GG es befiehlt. Schließlich halte ich die Begründung von Schroth deshalb für unrichtig, weil die Verobjektivierung der Interessen den individuellen Charakter der Interessen, deren Verletzung also durch die Einwilligung gerechtfertigt werden kann, verneint und deswegen gegen das Autonomieprinzip verstößt. Daraus folgt, daß es unmöglich ist, den Fall der mutmaßlichen Einwilligung nach den zwei nebeneinandergestellten Prinzipien zu rechtfertigen. Es bleiben statt dessen nur zwei Kombinationsmöglichkeiten, nämlich die Bevorzugung der objektiven Interessenabwägung vor der subjektiven Einstellung des Verletzten oder aber die umgekehrte Rangfolge. c) Die jetzt überwiegende Meinung hat diese Möglichkeiten aufgegriffen und führt aus: „Ein dem Berechtigten zustehendes Gut (Gutsobjekt) gerät in Gefahr und kann nur durch den Eingriff in ein anderes, objektiv wichtigeres seiner Güter gerettet werden; der Berechtigte ist verhindert, selbst zu entscheiSchroth (Fn. 14), 479. Roxin (Fn. 4), 452. 28 Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, 52; Roxin (Fn. 1), § 18 Rn. 9; Jescheck/Weigend (Fn. 2), § 34 VII 2; Hirsch (Fn. 2), Vorbem. § 32 Rn. 130. 26 27

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den; sein Wille steht der Rettung und damit dem Eingriff nicht - jedenfalls nicht erkennbar - entgegen; der Täter handelt mit objektiver Rettungsaussicht und dem Willen der Rettung des betroffenen Gutes. In solchen Notfällen tritt also die Autonomie des Berechtigten hinter dem Interesse an der Erhaltung des gefährdeten Gutes zurück." 2 9 Aber diese Lehre, welche die mutmaßliche Einwilligung als eine Sonderform des rechtfertigenden Notstandes auffaßt, kann den folgenden Einwänden nicht standhalten. Zum ersten ist diese Lehre widersprüchlich. Einerseits hält Schmidhäuser diese Fälle dem Bereich der Autonomie zugehörig, andererseits kommt er beim Fall der schadhaft gewordenen Wasserleitung zu der Konsequenz: „Was der Täter hier wollte und tat, muß man wollen und tun dürfen!" 30 Damit verneint er die Wichtigkeit des hypothetischen Willens des Verletzten und erkennt die Bevorzugung der objektiven Interessenerhaltung davor an. Auf diese Weise verkauft er die Autonomie an die Vernunfthoheit, obwohl er die Autonomie anfangs als absolute Diskussionsgrundlage angesehen hat. Ich stimme also unserem Jubilar darin zu, „daß auch die momentane Abwesenheit oder Entscheidungsunfähigkeit des Betroffenen nicht zur grundsätzlich verbotenen Anmaßung einer solchen Vernunfthoheit ausgenützt werden darf." 31 Ferner nimmt Schmidhäuser im Beispiel der schadhaft gewordenen Wasserleitung Rechtfertigung mit der Begründung an, der Täter begehe zwar Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch, tue aber das im Interesse des Eigentümers dringlich Gebotene. 32 Aber das Handeln scheint mir auch nach objektiver Interessenabwägung nicht gerechtfertigt zu sein. In diesem Fall ist das geschützte Interesse das Eigentum des Verletzten, das beschädigte demgegenüber ebenfalls sein Eigentum und auch noch sein Hausrecht. Wenn man das geschützte Interesse mit dem beschädigten nur im Hinblick auf das Eigentum verglichen hätte, anders gesagt, wenn man das geschützte und das beschädigte nur quantitativ abgewogen hätte, wie Schmidhäusers Ausdruck „aber er darf so handeln, da er größeren Schaden vom Haus abhalten will" 3 3 zeigt, so könnte das geschützte Interesse im Sinne von § 34 StGB wesentlich überwiegen. Wägt man aber das Hausrecht dazu addierend ab, kann man nicht einfach zur Konsequenz kommen, daß das geschützte Interesse das beschädigte wesentlich überwiegt. Denn das Hausrecht wird in der rechtlichen Wertrangordnung höher als das Eigentum bewertet. § 34 StGB bestimmt nämlich die Rangordnung der Rechtsgüter der Reihe nach folgendermaßen: Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut. Das Hausrecht gehört dabei aber zum Rechtsgut Freiheit. Allgemein anerkannt ist außerdem, daß das wesentliche Uberwiegen nicht nur nach der Wertrangordnung der Rechtsgüter, sondern auch nach einer umfassenden Bewertung sämtlicher Umstände bestimmt werden soll. Wenn man

29 30 31 32 33

Schmidhäuser Schmidhäuser Roxin (Fn. 4), Schmidhäuser Schmidhäuser

(Fn. (Fn. 451; (Fn. (Fn.

15), 9/49. 15), 9/49. ders. (Fn. 1), § 18 Rn. 6. 15), 9/49. 15), 9/49.

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Schmidhäuser darin folgt, daß der Fall der mutmaßlichen Einwilligung nur nach objektiver Interessenabwägung beurteilt werden soll, dann könnte man zu dem unerwünschten Ergebnis kommen, daß unser Kathederfall, den alle als gerechtfertigt ansehen, rechtswidrig bliebe, weil das Eigentum und die Freiheit beeinträchtigt werden, um bloß das Eigentum zu schützen. Damit hat sich klar gezeigt, daß die Lehre vom rechtfertigenden Notstand zu harte Kriterien aufweist, deretwegen viele rechtfertigungswürdige Fälle aus dem Bereich des Unrechtsausschlusses eliminiert werden. Mit anderen Worten: „Auf der anderen Seite müßten dann aber Fallgruppen ausgeklammert werden, bei denen noch von einer mutmaßlichen Zustimmung des betroffenen Rechtsgutsträgers ausgegangen werden könnte." 34 Schließlich kann diese Lehre auch der Kritik nicht standhalten, daß da, wo der gemutmaßte Wille des Betroffenen dem nach einer objektiven Interessenabwägung bestimmten „wahren Wohl" des Betroffenen entgegensteht, zuletzt das „wahre Wohl" bevorzugt wird. Sicherlich berücksichtigt Welzel „einen erkennbar entgegenstehenden Willen bei einer primär auf das wahre Wohl des Betroffenen abstellenden Entscheidung", um „übereifrige Fürsorge Dritter zu verhindern". Aber der subjektive Wille verkommt, sofern man dieser Lehre folgt, zu einem bei der Wertabwägung neben anderen Gesichtspunkten mehr oder weniger zu berücksichtigenden Faktor. Dies wird dadurch bestätigt, daß Welzel bei dem Fall einer erzieherischen Züchtigung fremder Kinder zu der Konsequenz gelangt, ein entgegenstehender Wille des Erziehungsberechtigten sei in schweren Fällen aus dem Gesichtspunkt des höherstehenden öffentlichen Interesses unbeachtlich. 35 So meint unser Jubilar: „Die Tatsache, daß über den erklärten Willen des anwesenden Rechtsgutsträgers nicht hinweggeschritten werden dürfte, auch wenn dieser einem Außenstehenden als befremdlich und dem .wahren Wohl' des Betroffenen widersprechend erscheinen sollte" 36 , sei unanfechtbar. Weil unsere Verfassung als Grundprinzipien Liberalismus und Individualismus anerkennt, wird daraus das Selbstbestimmungsrecht als eines der allgemeinen Menschenrechte abgeleitet. Geht man noch einen Schritt weiter, so kommt man zu dem Schluß, daß auch der gemutmaßte Wille respektiert werden muß. Daraus folgt: „Der ,primär rechtfertigende Grund' ist das am zu vermutenden Willen des Berechtigten orientierte Handeln, nicht die Wahrung eines davon unabhängigen Interesses." 37 Damit wird klar, daß man die Lehre vom rechtfertigenden Notstand nicht für richtig halten kann, weil sie die Interessenabwägung dem hypothetischen Willen des Rechtsgutsträgers vorzieht und dadurch das grundlegende Prinzip der Autonomie, das auch noch in den Fällen der mutmaßlichen Einwilligung als höchstes zu respektieren ist, mißachtet. Deshalb ist das Element des hypothetischen Willens nicht einfach ein Element, 34 35 36 37

Maurach/Zipf (Fn. 13), § 28 Rn. 7. Welzel (Fn. 15), § 14 V. Roxin (Fn. 4), 450. Roxin (Fn. 4), 451.

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das in der gesamten Interessenabwägung neben anderen berücksichtigt wird, sondern das Element, das bei der Vermutung des wahren Willens des Betroffenen die Hauptrolle spielen muß. In dieser Richtung bestehen zwei Meinungen, nämlich die Lehre vom erlaubten Risiko und die Lehre von der Einwilligung. d) Roxin, ein Hauptvertreter der Lehre vom erlaubten Risiko, 38 sagt: Bei der mutmaßlichen Einwilligung „wird vielmehr die Eigenmächtigkeit des Eingriffs in eine fremde Rechtssphäre, die (anders als bei der Einwilligung) zur Tatbestandsmäßigkeit führt, gerechtfertigt durch ein Handeln auf Grund eines sachgemäßen, hypothetischen Wahrscheinlichkeitsurteils über den wahren Willen des Betroffenen.,Sachgemäß' ist das Urteil dann, wenn es einer an objektiven Maßstäben orientierten Antwort auf die Frage entspricht, was der Rechtsgutsträger sagen würde, wenn seine Meinung eingeholt werden könnte. Ist in diesem Sinne sachgemäß' gehandelt worden, so ist die Tat auf jeden Fall rechtmäßig, und zwar auch dann, wenn sich später zeigt, daß der Rechtsgutsträger etwas anderes wollte. Es handelt sich hier also - ganz anders als bei Einwilligung und übergesetzlichem Notstand - um einen Rechtfertigungsgrund aus erlaubtem Risiko: Weil die Entscheidung des Rechtsgutsträgers nicht eingeholt werden kann, darf in bestimmten, noch näher zu umschreibenden Situationen (meist dringlichen Notlagen) gehandelt und das Risiko einer Fehlentscheidung in Kauf genommen werden." 39 Dabei hat Roxin die Interessenabwägung lediglich als Mittel zur Ermittlung der subjektiven Einstellung des Rechtsgutsträgers angesehen. Auf diesem Grundgedanken beruhend hat er die Fälle der mutmaßlichen Einwilligung zuerst in zwei Fallgruppen geteilt: zum einen die altruistischen Fälle, in denen der Täter, wie im Beispiel der schadhaft gewordenen Wasserleitung, nur für den Betroffenen handelt; zum anderen die egoistischen Fälle, in denen der Täter für sich selbst oder einen Dritten handelt, wie etwa im Fallobst-Fall, wo der Täter, wie schon in früheren Jahren, den Garten des verreisten Nachbarn betritt, um Fallobst aufzulesen. Im Anschluß an diese Einteilung hat er die erste Fallgruppe noch weiter in drei Fälle, nämlich den Fall der sachgebundenen Entscheidung, den der persönlichkeitsgebundenen und den der existentiellen Entscheidung unterteilt, um dem wahren Wohl des Betroffenen am besten gerecht zu werden. Bei der Lösung dieser Fälle folgert er aber aus dem „Erfahrungssatz, daß der Mensch im allgemeinen das ihm Nützliche wünscht, ... die Leitregel: Eine Tat ist gerechtfertigt, wenn sie dem .wahren Wohl' des Betroffenen entspricht, es sei denn, daß sich aus dem Wissen des Täters oder aus der Situation Gegenindizien ergeben, die eine andersartige Auffassung des Rechtsgutsträgers nahelegen."40 Aber zunächst muß schon dieser Erfahrungssatz kritisiert werden. Es ist zwar sicher, daß man im allgemeinen das einem selbst Nützliche wünscht, doch 38 Roxin hat selbst die Unklarheit dieses Begriffs erkannt; vgl. Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 59 f. Noch kritischer z. B. Schmidhäuser (Fn. 15), 9/50; Rudolphi GS für Schröder, 1978, 82. 39 Roxin (Fn. 4), 453. 40 Roxin (Fn. 4), 464.

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kann man mit diesem Satz weder den Fall der unvernünftigen Entscheidung lösen noch die wahre Einstellung des Betroffenen treffen. Vielmehr wird aus diesem Erfahrungssatz, wie die Leitregel zeigt, zunächst das wahre Wohl des Betroffenen nach einer objektiven Interessenabwägung bestimmt und sodann die subjektive Einstellung des Betroffenen nur als Limitierungsprinzip dafür berücksichtigt. Dies aber widerspricht dem Ansatz der mutmaßlichen Einwilligung, der subjektiven Einstellung des Betroffenen so gut wie möglich zu entsprechen, auch wenn das Ergebnis der objektiven Interessenabwägung der gemutmaßten Einstellung des Rechtsgutsträgers nicht entsprechen würde. Zweitens ergibt sich aus der Anerkennung dieses Erfahrungssatzes auch, daß die sogenannten egoistischen Fälle unter einigen Vorbehalten gerechtfertigt werden. Daran kritisiert z. B. Schmidhausen „Aber der Eingriff in die Herrschaftssphäre des Berechtigten ist in derartigen Fällen (so verständlich er manchmal sein mag) durch nichts gerechtfertigt; letztlich läuft solches Verhalten auf Anmaßung einer Hoheit über den anderen hinaus." 41 Geht man drittens von der Voraussetzung aus, daß die spezielle, individuelle Einstellung des Betroffenen möglichst berücksichtigt werden muß, daß es sich also immer nur um die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts handelt, so ist es unnötig, die Fälle der mutmaßlichen Einwilligung weiter nach dem Attribut des verletzten Rechtsguts in drei Fälle einzuteilen, den der sachgebundenen Entscheidung, den der persönlichkeitsgebundenen Entscheidung und den der existentiellen Entscheidung. Denn die Einwilligung selbst ist nur wirksam im Bereich der individuellen Rechtsgüter. Will man deshalb direkt das Selbstbestimmungsrecht achten, so ist eine Unterscheidung der individuellen Rechtsgüter verfehlt. Zum Beispiel kommt es nicht selten vor, daß jemand selbst sein Leben seiner Freiheit opfern will. Ja, im Bereich der individuellen Rechtsgüter könnte allerlei Unvernünftiges, geradeso wie das Vernünftige geschehen. Schließlich kann man dieser Lehre die grundlegende Kritik entgegenhalten, daß der Begriff des „erlaubten Risikos" hier nur ein inhaltsloser, d. h. funktioneller Begriff ist. Unser Jubilar hat früher die Funktion des Begriffs „erlaubtes Risiko" folgendermaßen aufgefaßt: „Wenn die mutmaßliche Einwilligung ein Rechtfertigungsgrund aus erlaubtem Risiko ist, sollte bei unerlaubtem Risiko die Verantwortung des Täters ungeschmälert erhalten bleiben. Schließt man nämlich den Vorsatz schon bei jeder gänzlich unbegründeten und ungeprüften Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung aus, so würde das (abgesehen vom Falle der Körperverletzung) mangels Fahrlässigkeitsstrafdrohung stets zum Freispruch führen. Das würde aber den Zweck, willkürlicher und schädigender Bevormundung einen Riegel vorzuschieben, vereiteln. ... Das Strafrecht würde nicht nur die an sich schon verbotene Anmaßung der ,Vernunfthoheit' über andere, sondern sogar die Hoheit der Unvernunft tolerieren. Das wäre gewiß nicht sehr befriedigend."42 Das bedeutet, das erlaubte Risiko führe zur Beschränkung des Vorsatzausschlusses, mit anderen Worten, es verschärfe die 41 42

Schmidbauer (Fn. 15), 9/50. Roxin (Fn. 4), 455. Zu Roxins später geänderter Meinung vgl. unten im Text bei Fn. 54 ff.

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Voraussetzungen beim Irrtum über diesen Rechtfertigungsgrund. Damit hat Roxin zuerst die pflichtgemäße Prüfung als Rechtfertigungselement anerkannt und dann nach der eingeschränkten Schuldtheorie die Irrtumsfälle bei diesem Rechtfertigungsgrund in vorsatzausschließende und in den Vorsatz unberührt lassende Fälle eingeteilt: „Der Vorsatz ist - wie bei anderen Rechtfertigungsgründen auch - ausgeschlossen, soweit eine Fehlvorstellung die Situation betrifft, die dem Handelnden Grund zur Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung gegeben hat. Er bleibt aber unberührt, wenn der Täter auf der Grundlage eines bestimmten Sachverhalts ein nach den Maßstäben der Rechtsordnung verfehltes hypothetisches Wahrscheinlichkeitsurteil fällt, wenn er also eine mutmaßliche Einwilligung annimmt, wo sie nach Lage der Dinge nicht angenommen werden dürfte." 43 Sollte die mutmaßliche Einwilligung auf erlaubtem Risiko beruhen, ergäbe sich die Konsequenz, daß die Rechtfertigung dabei strenger als in anderen Fällen geprüft werden würde. Aber ob das addierte Element „pflichtgemäße Prüfung", das der durch erlaubtes Risiko begründete Rechtfertigungsgrund stets in sich enthalten muß, den Irrtumsfällen gerecht werden kann, ist sehr zweifelhaft. Deshalb muß die von unserem Jubilar als Voraussetzung seiner Annahmen bejahte Meinung Lenckners überprüft werden, welcher von der Funktionsfähigkeit dieses Begriffs im Rechtfertigungsbereich ausgeht.44 Lenckner beschreibt die Funktion des Elements der „pflichtgemäßen Prüfung" wie folgt: Er unterscheidet bei den rechtfertigenden Fällen zwei Fallgruppen; zum einen diejenigen, bei denen der objektive Sachverhalt eines Rechtfertigungsgrundes gegeben war, aber dieser nicht sorgfältig geprüft wird, zum anderen die Konstellationen, bei denen es an den objektiven Gründen fehlt, auf denen die Rechtfertigung beruht, der Täter jedoch nach pflichtgemäßer Prüfung der Sachlage angenommen hat, sein Tun sei erlaubt. Uber die erste Fallgruppe schreibt er: „Durfte das fremde Rechtsgut aufgrund der genannten objektiven Gegebenheiten verletzt werden, so war die Tat in ihrem Ergebnis richtig, was in der Sprache der modernen Strafrechtsdogmatik heißt, daß es jedenfalls an einem Erfolgsunwert fehlt. Daß der Täter die Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht pflichtgemäß geprüft hat, könnte sich deshalb nur noch im Handlungsunwert der Tat ausdrücken. Aber auch das ist nicht der Fall. Hat der Täter den ihm zur Seite stehenden Rechtfertigungsgrund nicht nur objektiv verwirklicht, sondern ihn auch subjektiv verwirklichen wollen - und davon sind wir ausgegangen so ist damit zugleich der Aktunwert der tatbestandsmäßigen Handlung ausgeräumt."45 Demgegenüber betrifft die zweite Fallgruppe „die Fälle, in denen es aus besonderen Gründen wirklich zwingend ist, den Täter von dem Risiko einer pflichtgemäß getroffenen, aber im Ergebnis falschen Entscheidung zu befreien." Die mutmaßliche Einwilligung, die zu

Roxin (Fn. 4), 459. Näher zum Stand von Lehre und Praxis hinsichtlich der pflichtgemäßen Prüfung als Rechtfertigungselement Rudolphi (Fn. 38), 73 f rawN. 45 Lenckner (Fn. 16), 173 f. 43

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diesen Fällen gehört, sollte nach dem „Gedanken, daß die Tat hier zwar nicht notwendigerweise, aber in praxi meistens durchaus altruistische Züge trägt, in dem sie wichtige andere Interessen des Verletzten schützen soll", gelöst werden. 46 Danach wird bei mit mutmaßlicher Einwilligung begangener Tat des Täters sein Vorsatz ausgeschlossen, die verbleibende Möglichkeit der Fahrlässigkeitsbestrafung aber auf Grund der pflichtgemäßen Prüfung ebenfalls verneint; das Handeln wird also gerechtfertigt, weil der Täter die objektive Sorgfalt eingehalten hat. Aber auch diese Ansicht kann einigen Einwänden nicht entgehen. Wäre das Element der pflichtgemäßen Prüfung wirklich im allgemeinen das wesentliche Element der Rechtfertigungsgründe, so sollte die Erforderlichkeit dieses Elements nicht davon abhängig sein, ob der objektive Sachverhalt eines Rechtfertigungsgrundes besteht oder nicht. Denn das wesentliche Element soll immer unabhängig von allen anderen Elementen erforderlich sein. 47 Auch hat Lenckner in seiner ersten Fallgruppe, in der nur der objektive Sachverhalt vorliegt, die Erforderlichkeit dieses Elements mit den im folgenden geschilderten Begründungen verneint. Darin verbirgt sich aber eine fehlerhafte logische Entwicklung. Er behauptet, als Voraussetzung zur Rechtfertigung sei nötig, „daß tatsächlich eine Situation bestand, in der das verletzte Gut entweder freiwillig auf seinen Schutz verzichtet hat oder in der es einem anderen, in concreto wichtigeren Interesse weichen mußte. Dabei ist letzteres schon dann der Fall, wenn sich das zu schützende Interesse - ex ante beurteilt — in Gefahr befand, ... War dies zu bejahen, so durfte der Täter handeln, auch wenn sich dann hinterher herausstellte, daß dieses Urteil - ex post gesehen - falsch war. ... Da der Gefahrbegriff auf eine künftige Entwicklung bezogen und damit notwendig immer ein Kind unserer Unwissenheit ist, muß dieses Risiko hingenommen werden." 48 Mit dieser Begründung hat er die Wichtigkeit des Ex-ante-Urteils, anders gesagt, die Bevorzugung des Ex-ante-Urteils gegenüber dem Ex-post-Urteil betont. Der wesentlichen Struktur der Rechtfertigungsgründe nach gesehen, ist diese Behauptung zwar sachgemäß und richtig. Doch hat er daraus fälschlicherweise die weitere Konsequenz gezogen, daß das Element der pflichtgemäßen Prüfung nur dann erforderlich sei, wenn sich das Vorhandensein des objektiven Sachverhalts, nämlich die tatsächliche Vereinigung der gemutmaßten Einwilligung mit dem sich nachher herausstellenden echten Willen des Verletzten, sich ex post bestätigt hat. 49 Dagegen muß vielmehr gefragt werden, warum 46

Lenckner (Fn. 16), 182. Vgl. dazu Rudolphi (Fn. 38), 76 ff; dort kritisiert er die Zweiteilung der Rechtfertigungsgründe, nämlich in eine pflichtgemäße Prüfung beinhaltende Rechtfertigungsgründe und in andere, bloße Rechtfertigungsgründe, weil er alle Rechtfertigungsgründe als auf erlaubtem Risiko basierend ansieht. 48 Lenckner (Fn. 16), 173. 49 Lenckner (Fn. 16), 173. Dies zeigt hinreichend seine Formulierung, „Voraussetzung dafür [seil, für die Befugnis des Täters zu handeln] ist lediglich, daß tatsächlich eine Situation bestand, in der das verletzte Gut entweder freiwillig auf seinen Schutz verzichtet hat oder in der es einem anderen, in concreto wichtigeren Interesse weichen mußte." 47

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dem ex post sich bewahrheitenden Vorhandensein des objektiven Sachverhalts die Befugnis verliehen ist, die Rechtswidrigkeit der Handlung auszuschließen. Wenn Lenckner die Bevorzugung des Ex-ante-Urteils betont und dazu noch den Grundsatz anerkennt, die Gefahr sei immer notwendig „ein Kind unserer Unwissenheit", müßte er notwendigerweise die Handlung unabhängig davon als rechtswidrig beurteilen, ob sich das Vorhandensein des Sachverhalts erwiesen hat. Ferner muß Lenckners Behauptung angezweifelt werden, die mutmaßliche Einwilligung sei nur gerechtfertigt, wenn sich der mutmaßliche Wille mit dem wirklichen subjektiven Interesse des Betroffenen decke. 50 Diese Behauptung kann nämlich die Besonderheiten der mutmaßlichen Einwilligung nicht erfassen, weil das Wesen dieser Einwilligung nicht darin liegt, ob die gemutmaßte Einstellung des Betroffenen ex post seinen subjektiven Interessen entspricht oder nicht. Es ist vielmehr danach zu fragen, wie der ex ante gemutmaßte Wille des Verletzten die rechtfertigende Funktion ausüben kann, obwohl sich nachher herausgestellt hat, daß dieser Wille gegen den wirklichen Willen des Verletzten verstößt. Auch würden sich daraus praktische Schwierigkeiten ergeben. Wenn z. B. in unserem Wasserleitungsfall der Hausbewohner erst nach zwei Monaten zurückkommen wird, würde das Urteil über Recht oder Unrecht der Tat erst nach Ablauf von zwei Monaten fallen. Dies ist unsinnig. Andererseits findet sich ein logischer Widerspruch auch bei der Lösung der Fälle, wo der objektive Sachverhalt fehlt, die pflichtgemäße Prüfung jedoch erfolgt ist. Lenckner hat auf die altruistische Seite der mutmaßlichen Einwilligung hingewiesen, um die mutmaßliche Einwilligung als einen das erlaubte Risiko in sich schließenden Rechtfertigungsgrund anzusehen. Dies ist insofern richtig, als die altruistische Seite tatsächlich die mögliche Divergenz der mutmaßlichen Einstellung des Verletzten zu seinem wahren Willen ziemlich reduzieren kann. Aber mit dem Hinweis auf die altruistische Seite kann nicht die dogmatische Folgerung bestätigt werden, daß die mutmaßliche Einwilligung ein das erlaubte Risiko einschließender Rechtfertigungsgrund sei. Denn auch andere Rechtfertigungsgründe wie z. B. Notwehr oder Notstand, den Lenckner selbst als einen das erlaubte Risiko involvierenden Rechtfertigungsgrund angesehen hat, haben diese altruistische Seite, falls damit die Rechte eines Dritten geschützt werden. Es scheint mir also richtig zu sein, daß die altruistische Seite nicht notwendigerweise zur Anerkennung des erlaubten Risikos in der mutmaßlichen Einwilligung führt. Selbst wenn das Vorhandensein des erlaubten Risikos in der mutmaßlichen Einwilligung anerkannt werden könnte, muß man weiter danach fragen, warum diese Anerkennung zugleich zur notwendigen Forderung einer pflichtgemäßen Prüfung führen darf. Auf diese Frage hat Lenckner selbst mit den folgenden Sätzen geantwortet: „Nur wenn der Täter durch die pflichtgemäße Prüfung der Sachlage ... die Gefahr einer im Ergebnis ungerechtfertigten Ehrverletzung

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Lenckner (Fn. 16), 175.

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soweit als möglich ausgeschlossen hat, ist das Risiko ein erlaubtes und die Tat von diesem gedeckt." Diese Erklärung ist zwar insoweit überzeugend, als die Gefahr „nur im Rahmen des Unvermeidlichen, d. h. wenn in der konkreten Situation alles geschehen ist, was billigerweise getan werden mußte, um sie auf das danach mögliche Minimum zu beschränken",51 hingenommen werden kann. Obwohl die Sachlage pflichtgemäß geprüft worden ist, könnte die gemutmaßte Einstellung doch mit dem wahren Willen des Verletzten nicht in Einklang stehen. Würde die Handlung des Täters dabei bedingungslos gerechtfertigt, weil die mutmaßliche Einwilligung das Element des erlaubten Risikos in sich trägt? Ist dabei nicht noch ein weiteres Element, z. B. die Angemessenheit oder Erforderlichkeit des Mittels erforderlich? Wenn nicht, so kann die mutmaßliche Einwilligung nicht das gleiche Gewicht wie die Notwehr erhalten, die auf zwei Rechtfertigungsprinzipien, nämlich dem Selbstschutzprinzip und dem Rechtsbewährungsprinzip, beruht. Der Grund, warum das Element der pflichtgemäßen Prüfung allein zur Rechtfertigung erforderlich ist, ist noch nicht geklärt. Dies führt notwendig zu der Konsequenz, daß dieses Element sich nicht aus der Struktur dieses Rechtfertigungsgrundes ergibt, sondern aus seiner strafrechtlichen Funktion, über dieses Element auch noch die Fahrlässigkeit auszuschließen und so die Handlung des Täters im ganzen zu rechtfertigen. Den Beweis dafür hat Lenckner selbst wie folgt angetreten: „Sie (seil, die pflichtgemäße Prüfung) ersetzt den fehlenden objektiven Sachverhalt und übernimmt die Rolle eines die Rechtmäßigkeit konstituierenden Merkmals" 52 , oder noch ausführlicher: „Entfällt nämlich, wie die h. M. annimmt, beim Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes eine vorsätzliche Tat und kommt nur eine fahrlässige Begehung in Betracht, so bedeutet dies, daß es schon am Tatbestand, zumindest aber an der Rechtswidrigkeit des Fahrlässigkeitsdelikts fehlt, wenn der Täter die objektive Sorgfalt eingehalten hat, d. h. wenn sein Irrtum auch bei pflichtgemäßer Prüfung nicht zu vermeiden war." 53 Damit müssen wir zu dem Schluß kommen, daß das Merkmal des erlaubten Risikos und zugleich das Element der pflichtgemäßen Prüfung unnötig sind, weil beide inhaltsleer und nur funktionell im Bereich des Irrtums gebraucht werden.54 Dies gilt restlos auch für die Ansicht unseres Jubilars Roxin, die auf der Lehre Lenckners beruht. Allerdings hat der Geehrte, nachdem er 1974 die Abhandlung unter dem Titel „Über die mutmaßliche Einwilligung" geschrieben hatte, schon ab der 1. Auflage seines „Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I" seine Meinung folgendermaßen geändert: Obgleich er die mutmaßliche Einwilligung nach wie vor als einen Rechtfertigungsgrund aus erlaubtem Risiko ansieht, hat er immerhin das Element der pflichtgemäßen Prüfung im allgemeinen, nämlich bei allen Lenckner (Fn. 16), 180. Lenckner (Fn. 16), 181. 53 Lenckner (Fn. 16), 182. 54 So Rudolphi (Fn. 38), 78, 80, 86 ff; Geppert JZ 1988, 1026; Hirsch (Fn. 2), Vorbem. § 32 Rn. 140; Schmidhäuser (Fn. 15), 9/52. 51 52

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Rechtfertigungsgründen verneint, weil „sie zu dem unhaltbaren Ergebnis führt, daß jemand, der die Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht ausreichend geprüft hat, selbst dann wegen vorsätzlicher Tat bestraft werden müßte, wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt und der Täter in der Annahme seines Vorliegens gehandelt hat." 55 Dies bedeutet natürlich auch die Verneinung dieses Elements bei der mutmaßlichen Einwilligung. So sagt er: „Auch bei der mutmaßlichen Einwilligung gehört es nicht zu den Voraussetzungen der Rechtfertigung, daß der Täter die Umstände, die für eine Zustimmung des Betroffenen sprechen, sorgfältig geprüft hat." 56 Durch diese Meinungsänderung kann Roxin zwar einerseits die Kritik gegen die Bejahung der pflichtgemäßen Prüfung bei der mutmaßlichen Einwilligung vermeiden. Aber andererseits taucht dadurch eine neue Schwierigkeit auf. Denn der rechtfertigende Grund des erlaubten Risikos verliert so nicht nur das dementsprechende Element in der mutmaßlichen Einwilligung, sondern auch die Funktion als Begründung des Vorsatzes beim Irrtum über die Rechtfertigungsvoraussetzungen. Daher muß man der Kritik zustimmen, die meint: „Die Kennzeichnung als ,erlaubtes Risiko' erscheint verfehlt, wenn man von dem sonst üblichen Begriff ausgeht; das Risiko betrifft nämlich hier nicht einen künftigen Schadenseintritt, sondern die künftige Offenbarung eines bereits im Augenblick des Handelns entgegenstehenden Willens des Berechtigten." 57 Selbst wenn die mutmaßliche Einwilligung ein Rechtfertigungsgrund aus erlaubtem Risiko gewesen wäre, widerspricht der Sinn, den unser Jubilar diesem Begriff gegeben hat, auch noch seinem einzig möglichen, wahren Sinn, den Maiwald als wesentlich erkannt hat, wenn er meint: „Der Begriff des erlaubten Risikos" besagt „nur, daß die riskante Handlung — aus welchen Gründen auch immer - vorgenommen werden darf; das erlaubte Risiko stellt somit einen Formalbegriff dar, der erst noch seinen Inhalt bekommen muß durch die Gründe, die zur Erlaubnis des Risikos führen." Dabei meint er mit dem Ausdruck „die Gründe, die zur Erlaubnis des Risikos führen" 58 die mutmaßliche Einwilligung als einen Rechtfertigungsgrund aus erlaubtem Risiko. Aber unserem Jubilar zufolge können „die Gründe" (gemeint ist hier die mutmaßliche Einwilligung des Berechtigten) diesem Formalbegriff gar keinen Inhalt geben; er läßt diesen Begriff sogar nur noch formal bestehen. Das erlaubte Risiko bei Roxin meint nur die Bejahung der Unvereinbarkeit zwischen dem vermuteten Willen des Betroffenen und dem Willen, der sich nachher herausgestellt hat, und weiter, daß diese Unvereinbarkeit wegen erlaubten Risikos gerechtfertigt werde. Also muß ich leider sagen, daß auch seine neue Meinung die Notwendigkeit dieses Begriffs nicht beweisen kann, weil dieser Begriff nicht nur funktionslos, sondern auch inhaltslos ist, und infolgedessen sogar formal nicht weiterführt.

55 56 57 58

Roxin (Fn. 1), § 14 Rn. 82. Roxin (Fn. 1), § 18 Rn. 30. Schmidhäuser (Fn. 15), 9/50. Maiwald FS für Jescheck, Bd. 1, 1985, 409.

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3. Über den Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung sind, wie oben (II. 2.) gesehen, viele verschiedene Meinungen vorgetragen worden. Doch die materiell rechtfertigenden Gründe, sozusagen Prinzipien, welche die Autoren vorgeschlagen haben, sind nur drei, nämlich die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht, die Interessenabwägung und das erlaubte Risiko. Unter ihnen aber ist das Prinzip des erlaubten Risikos nur ein inhaltsloser Funktionsbegriff, der ohne den materiellen Grund in der mutmaßlichen Einwilligung lediglich beim Irrtum über Rechtfertigungsgründe mit Hilfe der pflichtgemäßen Prüfung rechtfertigend funktionieren kann. Übrig bleiben also die Rechtfertigungsprinzipien der Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht und der Interessenabwägung. Wie ich aber kritisiert habe, dürfen diese zwei Gründe nicht im Nebeneinanderverhältnis wie etwa in der oben angegriffenen Lehre von der Geschäftsführung ohne Auftrag, sondern nur in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung berücksichtigt werden. In einem solchen vertikalen Verhältnis muß natürlich der „Herr" die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht, der „Diener" die Interessenabwägung sein; andernfalls würde - wie bei der Lehre vom rechtfertigenden Notstand - die Vernunfthoheit des Dritten das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen unterdrücken. Die unter diesem Gesichtspunkt verfochtene Lehre ist allein die Lehre von der Einwilligung. Als Vertreter dieser Lehre sagt Hirsch: „Die rechtfertigende Kraft der mutmaßlichen Einwilligung beruht darauf, daß hier dem zu erwartenden Willen des an der rechtzeitigen Entscheidung gehinderten Einwilligungsberechtigten gemäß gehandelt wird. ... Das Interesse stellt lediglich einen wichtigen Gesichtspunkt bei der Ermittlung dieses hypothetischen Willens dar. ... Sobald man das Interesse zu einer selbständigen Voraussetzung neben dem Willen erhebt, ermöglicht man dagegen, sich über den wahren Willen hinwegzusetzen, indem man ihn als unerheblich veranschlagt. Mit der hierin liegenden Ignorierung der Autonomie des einzelnen würde der Boden der Einwilligungslehre - es geht doch allein um einen Ersatz für eine tatsächlich fehlende Einwilligung ... — verlassen und der Unterschied zwischen diesem am Willen orientierten Bereich und dem an der Interessenabwägung ausgerichteten Notstand verwischt."59 Hirschs Grundgedanke scheint mir im Ansatz der Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht gerecht zu werden. Dennoch erscheint es zweifelhaft, ob er das Verhältnis zwischen der Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht und der Interessenabwägung auch wirklich konsequent als Herr-Diener-Verhältnis aufgefaßt hat. Denn er schreibt zwar gedanklich dem Interesse bei Ermittlung des hypothetischen Willens nur eine subsidiäre Rolle zu. Praktisch aber spielt bei Hirsch — in der Lösung der sogenannten internen Interessenkollision — das Interesse die Hauptrolle, wenn er schreibt, „daß der Wille des Betroffenen dem entsprochen hätte, was gemeinhin als normal und vernünftig gilt; der Interessenlage kommt dabei entscheidende Bedeutung zu." 6 0 Mit diesem seinem 59 60

Hirsch (Fn. 2), Vorbem. § 32 Rn. 132. Hirsch (Fn. 2), Vorbem. § 32 Rn. 137.

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Kriterium wird die unnormale und unvernünftige Einstellung des Betroffenen von der mutmaßlichen Einwilligung ausgeschlossen. Das führt schließlich zur Verneinung des Selbstbestimmungsrechts, obwohl die Achtung vor diesem Recht im Vordergrund stehen sollte. Das hat zur Konsequenz, daß das Moment der Interessenabwägung letzten Endes dem Rechtsgutsträger das sogenannte „wahre Wohl" aufzwingen würde. Statt dessen muß das Moment, mit dem die mutmaßliche Einwilligung zu rechtfertigen ist, die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht schlechthin sein.

III. Wenn dem so ist, muß man damit beginnen, nach dem Sinn des Selbstbestimmungsrechts bzw. ursprünglicher dem der Autonomie suchen, um die Diskussion weiter zu entwickeln. M.-K. Meyer z. B. erklärt zusammenfassend den rechtlichen Sinn der Autonomie folgendermaßen: „Der Begriff wurde seinem materialen Kern nach verstanden als die Freiheit der Person, zu handeln. Freiheit als Handlungsfreiheit - im positiven Sinne umschrieben - bedeutete, das zu tun, was man gerne tun möchte, oder genauer: Daß der einzelne tun und lassen kann, was und wie er will, und daß er nicht mit sich geschehen lassen muß, wie er nicht will. In diesem Kern stimmen die Begriffe Autonomie und Handlungsfreiheit überein." 6 1 Dieser Begriffsbestimmung nach meint die wirklich erteilte Einwilligung das Ergebnis der ausgeübten Entscheidungsfreiheit. U m nämlich die Entscheidungsfreiheit auszuüben, sind logisch gedacht zwei Voraussetzungen absolut nötig: die Entscheidungsfähigkeit des Verletzten als subjektive Voraussetzung und das Offenhalten der Entscheidungslage als objektive. So kann man in etwas erst dann einwilligen, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind. Bei der wirklich erteilten Einwilligung ist die subjektive Voraussetzung schon als ein Element in ihr angesiedelt, und die objektive Voraussetzung wird als die selbstverständlich vorausgesetzte Sachlage angesehen. Bei der mutmaßlichen Einwilligung kann die subjektive Voraussetzung auch ein Element in ihr sein, obwohl die Besonderheiten der Umstände, z. B. die Abwesenheit des Rechtsgutsträgers die wirkliche Ausübung der Entscheidungsfähigkeit behindert haben. Doch kann das objektive Offenhalten der Entscheidungssachlage - von allerlei Hindernissen befreit - garantiert werden. Also muß bei der mutmaßlichen Einwilligung mindestens diese Entscheidungssachlage geschützt werden, wenn die Entscheidungsfreiheit als eine Art von Handlungsfreiheit garantiert werden soll. Auch unserem Jubilar zufolge wird in dem von ihm als existentiell eingeordneten Fall „das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen durch das Offenhalten der Entscheidungslage am besten gewahrt. Denn wenn der Patient stirbt, ist ihm jegliche Entscheidungsmöglichkeit genommen. Wird 61 M.-K. Meyer Ausschluß der Autonomie durch Irrtum, 1984, 132. Vgl. außerdem noch Kantorowicz Tat und Schuld, 1933, 11; Scbmidhäuser BT, 2 1983, 4/1.

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er aber operiert, so wird die Entscheidungslage offengehalten. Will der Patient nicht weiterleben, so kann ihn niemand hindern, später freiwillig aus dem Leben zu scheiden."62 Daraus ist die notwendige Folgerung zu ziehen, daß die von Roxin egoistisch genannten Fälle oder die von Hirsch genannte Fallgruppe der Interessenpreisgabe nicht durch mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt werden dürfen. Denn in diesen Konstellationen, in denen der Rechtsgutsträger seine eigenen Interessen zugunsten des Täters oder eines Dritten preisgeben muß, bleibt keine Sachlage für die Entscheidung des Verletzten. So kommt Schmidhäuser zum gleichen Ergebnis wie ich und sagt: „Aber der Eingriff in die Herrschaftssphäre des Berechtigten ist in derartigen Fällen (so verständlich es manchmal sein mag) durch nichts gerechtfertigt; letztlich läuft solches Verhalten auf Anmaßung einer Hoheit über den anderen hinaus; daß eine Einwilligung ,mutmaßlich' gegeben worden wäre, ist ohne Bedeutung." 63 Demgegenüber ist in der Fallgruppe der internen Interessenkollision die Sachlage für die Entscheidung des Verletzten gewahrt, gleich ob es sich dabei um eine sachgebundene, eine persönlichkeitsgebundene oder eine existentielle Entscheidung handeln würde. Dabei kann der Rechtsgutsträger nachher freiwillig über die vom Täter geschützte Sachlage entscheiden. Zum Beispiel kann beim Fall der schadhaft gewordenen Wasserleitung der damals abwesende, aber gleich zurückgekommene Eigentümer über sein unbeschädigt bleibendes Eigentum frei entscheiden. Dieses Ergebnis eines stark verengten Anwendungsbereiches der mutmaßlichen Einwilligung ruft sicherlich Kritik hervor. Aber dagegen reicht der Hinweis darauf aus, daß die mutmaßliche Einwilligung nur Ersatz für die wirklich erteilte Einwilligung, d. h. subsidiär ist. 64 Auf diese Weise komme ich zur Schlußkonsequenz, daß die mutmaßliche Einwilligung als eigenständiger Rechtfertigungsgrund, der allein auf dem Prinzip der Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht beruht, in diesem Sinne zwar nicht eigenständig, aber durch das Offenhalten der Entscheidungslage begründet ist. Darum werden notwendigerweise nur die altruistischen Fälle gerechtfertigt, die egoistischen Fälle dagegen nicht. Nachdem unser Jubilar über den rechtfertigenden Grund der mutmaßlichen Einwilligung die Abhandlung unter dem Titel „Uber die mutmaßliche Einwilligung" veröffentlicht hatte, war damit die japanische Diskussion um den rechtfertigenden Grund der mutmaßlichen Einwilligung erneut angeregt worden. Das Thema ist bis heute umstritten geblieben, doch vermehren sich die Anhänger seiner Lehre auch in Japan. Der Grund dafür scheint mir darin zu liegen, daß Roxin mit dem Merkmal des erlaubten Risikos als Basis dieses Rechtfertigungsgrundes auf einfache Weise dem Umstand Rechnung getragen hat, daß der gemutmaßte und der wahre Wille nicht immer miteinander in Einklang Roxin (Fn. 4), 469. Schmidhäuser (Fn. 15), 9/50, Geppert JZ 1988, 1025. 6 4 Vgl. dazu Roxin (Fn. 1), § 18 Rn. 10; Tiedemann JuS 1990, 109; Geppert JZ 1988, 1025; Müller-Dietz (Fn. 9), 282; Lenckner (Fn. 7), Vorbem. § 32 ff Rn. 59. 62 63

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stehen können, obwohl der Täter stets möglichst vorsichtig die subjektive Einstellung des Betroffenen zu ermitteln bestrebt war. Aber die Aufgabe, die Roxin damit der bloßen Leerformel vom erlaubten Risiko gestellt hat, kann, wie ich zu zeigen versucht habe, von ihr nicht bewältigt werden. Daneben hat unser Jubilar das Prinzip der Interessenabwägung als einen rechtfertigenden Grund anerkannt und ihm zugestanden, bei der Vermutung des wahren Willens des Verletzten eine Rolle zu spielen. Sicher ist, daß der Täter - ähnlich wie beim Notstand - in die Notlage geraten ist, die Tat zu begehen oder sie zu unterlassen. In der Tat ist es unbedingt nötig, ihm ein Kriterium an die Hand zu geben, das ihm eine Richtlinie der rechtfertigenden Handlung zeigt. Dies ist der Sinn des Interessenabwägungsprinzips. Dieses Prinzip kann sich also zwar um die Regulierung der objektiven Seite des Täters oder Opfers verdient machen, nicht aber um dessen subjektive Seite, weil es eigentlich die Sachlage nur objektivieren, verallgemeinern, mit anderen Worten rationalisieren kann. Daher kann es seinem Wesen nach mit der unvernünftigen Einstellung des Betroffenen gar nicht rechnen. Würde man dieses Prinzip als ein Rechtfertigungsprinzip anerkennen, dann zwänge es immer dem Verletzten eine Vernunfthoheit auf. Statt dessen darf der rechtfertigende Grund, wie ich oben ausführlich dargelegt habe, nur mit dem Prinzip der Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht erklärt werden. Nach diesem Prinzip wird der Zeitpunkt der Rechtfertigung bei der mutmaßlichen Einwilligung mehr als bei der wirklich erteilten Einwilligung vorverlagert, also die Entscheidungslage für das Opfer gewahrt, worauf unser Jubilar beim Fall der existentiellen Entscheidung zu Recht hingewiesen hat. Zwar wird dadurch der Anwendungsbereich der mutmaßlichen Einwilligung auf die altruistischen Fälle eingeschränkt, aber diese Konsequenz legitimiert sich damit, daß die mutmaßliche Einwilligung nur ein Ersatz der wirklich erteilten Einwilligung ist. Unterschiedliche Ausgangspunkte des Verfassers von denen unseres Geehrten führen notwendigerweise zu einem anderen Schluß. Aber ich gehe einig mit unserem verehrten Jubilar Claus Roxin in dem Versuch, die Dogmatik möglichst - ohne die systematische Einheit zu durchbrechen - der Wirklichkeit anzunähern; und bei der mutmaßlichen Einwilligung — wie bei den meisten Rechtfertigungsgründen - dem Täter in seiner Notlage eine klare Handlungsmaxime zu zeigen.

Der Rechtfertigungsgrund der Kollision von Rettungsinteressen - Rechte, Pflichten und Interessen als Elemente der rechtfertigenden „Pflichtenkollision" —

U L F R I D NEUMANN

I. Einleitung Das Institut der sogenannten rechtfertigenden Pflichtenkollision ist trotz mehrfacher monographischer Bearbeitung1 und zahlreicher weiterer Beiträge im Schrifttum 2 noch immer umstritten. Gegenstand der kontroversen Diskussion sind nicht nur dogmatische Einzelfragen. Ungeklärt sind bereits die normative Grundstruktur und die Lokalisierung der „Pflichtenkollision" im Verhältnis zu anderen Instituten und im Rahmen der Verbrechenslehre. Hinsichtlich der normativen Grundstruktur geht es insbesondere um die Frage, ob sich die Konstellation der Pflichtenkollision jedenfalls im wesentlichen auf die Kollision von Interessen bzw. Rechtsgütern zurückführen läßt 3 oder ob sie eine spezifische und eigenständige normative Struktur aufweist.4 Damit hängt zusammen die Frage nach dem Verhältnis der Pflichtenkollision zum Institut des rechtfertigenden Notstands. Während ein Teil des Schrifttums die Pflichtenkollision als Unterfall des Notstands interpretiert, 5 verstehen sie manche Auto1 Vgl. insbes. Otto Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 3 1978; Küper Grundund Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979; Scheid Grundund Grenzfragen der Pflichtenkollision beim strafrechtlichen Unterlassungsdelikt, Diss. Freiburg 1999. 2 Insbes. Gallas Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund (1954), in: ders., Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, 59 ff; Mangakis Die Pflichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, ZStW 84 (1972), 447 ff; Hruschka Pflichtenkollision und Pflichtenkonkurrenz, FS für Larenz, 1983, 257 ff; Küper Grundsatzfragen der „Differenzierung" zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung, JuS 1987, 81 ff, 88 ff: Joerden Der Widerstreit zweier Gründe der Verbindlichkeit. Konsequenzen einer These Kants für die „Pflichtenkollision", in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 43 ff. 3 Exemplarisch Maurach/Zipf Strafrecht AT I, 8 1992, § 27 Rn. 52: „Jede Pflichtenkollision stellt nicht nur zugleich eine Interessenkollision dar, sondern ist auch der Güterabwägung zugänglich." 4 So insbes. LK-Hirsch StGB, "1994, vor § 32 Rn. 75; ähnlich Küper (Fn. 2), 88. 5 Manrach/Zipf (Fn. 3), § 27 Rn. 52; Köhler Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, 294.

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ren als selbständigen Rechtfertigungsgrund. 6 Umstritten ist schließlich auch die zutreffende Einordnung des Instituts in den Verbrechensaufbau. Während die herrschende Meinung jenseits der umstrittenen Fälle einer entschuldigenden Pflichtenkollision einen Rechtfertigungsgrund annimmt, wird teilweise die Zuordnung zum Bereich des Tatbestands, 7 zum „rechtsfreien Raum" 8 oder zu den „Strafunrechtsausschließungsgründen" 9 vorgeschlagen. Claus Roxin, dem dieser Beitrag in Hochschätzung und Dankbarkeit gewidmet ist, führt diese kontroverse Diskussionslage und den mit ihr zusammenhängenden Verzicht des Gesetzgebers auf eine positivrechtliche Regelung in Ubereinstimmung mit Blei darauf zurück, daß unter dem Begriff der Pflichtenkollision „in Lehre und Rechtsprechung ... oft sehr verschiedene Fragen weniger zusammengefaßt als durcheinandergeworfen" würden. 10 Roxins eigene Darstellung zeigt, daß sich die Probleme der Pflichtenkollision weithin zur Klarheit führen lassen, wenn man scharf zwischen den unterschiedlichen Konstellationen einer Kollision von Pflichten unterscheidet, die Fälle, in denen Handlungspflichten mit Unterlassungspflichten kollidieren, ausschließlich dem Regelungsbereich des rechtfertigenden Notstands ( § 3 4 StGB) zuweist 11 und begriffliche Auseinandersetzungen über echte und unechte, lösbare und unlösbare Pflichtenkollisionen als das kennzeichnet, was sie sind, nämlich: „terminologische Spielereien" 12 . Die folgenden Überlegungen versuchen, diese dogmatischen Analysen in einen rechtstheoretischen Rahmen zu stellen. Es geht dabei um den Stellenwert von Faktoren, die neben den namensgebenden Pflichten die normative Struktur der sogenannten Pflichtenkollision bestimmen, nämlich die Interessen und Rechtspositionen der realen und der potentiellen Opfer. Es wird sich zeigen, daß die Wertstruktur des Instituts der rechtfertigenden „Pflichtenkollision" durch die Kollision nicht von Pflichten, sondern von Rettungsinteressen gekennzeichnet wird, und daß eine Kollision von Pflichten nicht nur keine hinreichende, sondern auch keine notwendige Voraussetzung für die Anwendung der bisher unter dem Begriff der „Pflichtenkollision" zusammengefaßten Rechtfertigungsregeln bildet. Tatsächlich geht es eher um einen Rechtfertigungsgrund der Rettung eines (mindestens) gleichwertigen Interesses bei Alternativität der Rettungschancen. Einen notwendigen Bezug zu einer Handlungspflicht des Betroffenen haben die unter dem Begriff der Pflichtenkollision zusammengefaßten Regeln nur insofern, als Probleme der Rechtfertigung sich von vorn-

LK-Hirsch (Fn. 4), vor § 32 Rn. 74; Küper (Fn. 2), 88. Freund Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, 281; Hoyer Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann, 1997, 144 f. Vgl. auch Joerden (Fn. 2), 48 ff; Schönke/Schröder/Lenckner StGB, " 1 9 9 7 , vor §§ 32 ff Rn. 73. 8 Arthur Kaufmann Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, FS für Maurach, 1972, 327 ff. 9 H.-L. Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, 331 ff. 10 Blei Strafrecht I, 18 1983, 331; zit. bei Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 16 Rn. 101. " Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 103. i 2 Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 111. 6

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herein nur dann stellen, wenn die Unterlassung jedenfalls prima facie gegen ein Handlungsgebot verstößt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage nach der spezifischen Lösungskapazität der Regeln der sogenannten Pflichtenkollision, also die Frage, welche Probleme mit Hilfe dieses Instituts bewältigt werden sollen, die nicht über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) gelöst werden können. Dabei geht es um besondere Konstellationen auf der Täterseite (II. 1.) wie auf der Seite der von dem Täterverhalten betroffenen Personen (II.2).

II. Zum Verhältnis von rechtfertigendem Notstand (§ 34 StGB) und rechtfertigender Pflichtenkollision 1. Strukturelle

Unterschiede

zwischen Interessen-

und

Pflichtenkollision

Eine naheliegende, am Wortlaut des § 34 StGB wie an dem Begriff der Pflichtenkollision orientierte Antwort könnte lauten, § 34 StGB sei auf die Bewältigung von Interessenkollisionen zugeschnitten und tauge deshalb nicht zur Lösung von Pflichtkonflikten. Aber gegenüber einer solchen Begründung wäre darauf zu verweisen, daß strafrechtliche Pflichten kein Selbstzweck sind, sondern ihre Funktion und ihre Legitimation denjenigen Interessen und Rechtspositionen verdanken, deren Schutz sie dienen. Die Deutung des Verbrechens als Pflichtverletzung ist ein Signum autoritärer Rechtsordnungen 13 . In einer liberalen Rechtsordnung müssen sich strafrechtlich sanktionierte Pflichten anhand von Rechtsgütern legitimieren. Das bedeutet zugleich: die Pflichtenstruktur einer Kollisionslage wird wesentlich bestimmt durch deren Interessenstruktur (in die natürlich, wie in den Interessenbegriff des § 34 StGB, normative Momente mit eingehen). Pflichten- und Interessenkonstellationen sind weitgehend aufeinander abbildbar 14 . Soweit die Pflichtenstruktur der Kollisionslage die normative Gesamtbilanz beeinflußt 15 , könnte dem im Rahmen der auch normative Momente (Verantwortlichkeit für die Notlage 16 , nach herrschende Meinung auch Gefahrtragungspflichten 17 ) umfassenden Interessenabwägung des § 34 StGB Rechnung getragen werden.

13 Vgl. etwa die Analyse bei K. Günther Von der Rechts- zur Pflichtverletzung. Ein „Paradigmawechsel" im Strafrecht?, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, 445 ff, 452 ff. 14 In diesem Sinne auch Gropp Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, § 6 Rn. 158. 1 5 Z. B. bei der Berücksichtigung der Qualität der Rettungspflicht (Garantenpflicht oder allgemeine Hilfspflicht [§ 323 c StGB]); dazu unten bei III.2.b). 16 So die herrschende Meinung (vgl. etwa Roxin [Fn. 10], § 1 6 Rn. 50 ff). Anders z . B . Hruschka J R 1979, 125 ff; Renzikowski Notstand und Notwehr, 1994, 54 ff. 1 7 So die herrschende Meinung (vgl. etwa Roxin [Fn. 10], § 16 Rn. 55). Für Berücksichtigung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung (§ 34 S. 2 StGB) etwa Maurach/Zipf (Fn. 3), § 27 Rn. 39; N K - N e u m a n n (Januar 1997), § 34 Rn. 100.

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Gleichwohl bleibt ein wesentlicher struktureller Unterschied zwischen der Interessenkollision (als Basis der Regeln des rechtfertigenden Notstands) und der Kollision von Pflichten. Denn während die Regeln des rechtfertigenden Notstands lediglich ein Verbot suspendieren und damit den vorhandenen rechtlichen Handlungsspielraum des Betroffenen erweitern, geht es bei der Pflichtenkollision darum, für den Verpflichteten überhaupt die Möglichkeit rechtmäßigen Verhaltens zu schaffen. Dieser Unterschied zwischen der Erweiterung gegebener und der Bereitstellung jedenfalls prima facie nicht vorhandener Möglichkeiten zu rechtskonformem Verhalten prägt notwendigerweise auch die Struktur der jeweiligen Kollisionsregeln. Soweit es um die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten geht, kann die Eröffnung des (hier: zusätzlichen) Handlungsspielraums wie in § 34 StGB an die Voraussetzung des qualifizierten Uberwiegens des Interesses, dessen Schutz die zu eröffnende Handlungsmöglichkeit dient, gebunden werden. Denn dem Täter bleibt bei nur schlichtem Uberwiegen dieses Interesses immer noch die Möglichkeit rechtskonformen Verhaltens, indem er darauf verzichtet, zugunsten dieses Rechtsguts zu intervenieren. (Ob diese Voraussetzung unter dem Aspekt der „Gesamtbilanz" der Interessen zu legitimieren ist, ist eine andere, später 18 zu erörternde Frage). Demgegenüber würde eine entsprechende Voraussetzung des „wesentlichen" Uberwiegens einer der konfligierenden Pflichten bei der Pflichtenkollision den Täter in eine Normenfalle stürzen lassen. Denn in dem Bereich gleichwertiger oder auch nur annähernd gleichwertiger Pflichten stünde eine Kollisionsregel und damit eine Möglichkeit zu rechtmäßigem Verhalten nicht zur Verfügung. Da aber die Rechtsordnung demjenigen kein rechtswidriges Verhalten anlasten kann, der von zwei allein zur Verfügung stehenden Verhaltensalternativen die nach den Maßstäben der Rechtsordnung vorzugswürdige (höherwertige Pflicht) wählt, muß der Täter hier schon bei der Entscheidung für die leicht überwiegende Pflicht (zumindest) gerechtfertigt sein. 19 Die Notwendigkeit, neben dem gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgrund des Notstands (§ 34 StGB) spezifische Regeln einer rechtfertigenden Pflichtenkollision anzuerkennen, ergibt sich damit (jedenfalls) aus der Beschränkung der Rechtfertigung auf die Fälle der Wahrung eines wesentlich überwiegenden Interesses, die auf die Fälle der Kollision von Rechtspflichten nicht übertragen werden kann. 2. Die Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflichten Diese Überlegungen gelten nicht nur für einen Konflikt zwischen mehreren Handlungspflichten, sondern auch für die Kollision zwischen einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht. Auch bei dieser Konstellation muß (jedenfalls) gerechtfertigt handeln, wer sich zugunsten der leicht überwiegenden Pflicht entscheidet. Fraglich und umstritten ist aber, nach welchen Kriterien 18 19

Dazu unten bei III.2.a). Zur Frage der der Kollision gleichwertigen Pflichten s. unten bei Ill.l.b).

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sich in diesem Fall das relative Gewicht der kollidierenden Pflichten bestimmt. Die herrschende Meinung geht von einem grundsätzlichen Vorrang der Pflicht zur NichtVerletzung fremder Rechtsgüter (Unterlassungspflicht) aus. 2 0 Eine Rettungspflicht (Handlungspflicht) könne sich nur unter den Voraussetzungen des § 34 StGB gegenüber einer Unterlassungspflicht durchsetzen. Damit wird ein genereller Vorrang des Verbots gegenüber dem Gebot statuiert. Das heißt: Rettungspflichten können nach herrschender Meinung die Befugnisse, in Rechte Dritter einzugreifen, nicht erweitern. Diese Befugnisse werden durch § 34 abschließend festgelegt. Es gilt das Prinzip: geboten werden kann nur, was erlaubt ist, nicht der Grundsatz: was geboten ist, ist auch erlaubt. Nach dieser Auffassung ist die Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflichten, obwohl phänomenologisch eine Konstellation einer Kollision von Pflichten, kein Fall des Instituts der „Pflichtenkollision", 2 1 weil allein nach den Regeln des rechtfertigenden Notstands zu entscheiden. Diese These vom generellen Vorrang der Unterlassungs- vor der Handlungspflicht versteht sich jedoch keineswegs von selbst. Ihr läßt sich beispielsweise entgegenhalten, daß das Strafrecht mit der Gleichstellung von aktivem Tun und garantenpflichtswidrigem Unterlassen (§13 StGB) Handlungs- und Unterlassungspflichten grundsätzlich als gleichrangig behandele. 22 Dementsprechend wird teilweise die Möglichkeit einer Rechtfertigung bei der Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflichten, die sich auf gleichrangige Interessen beziehen, verneint. 23 Vereinzelt wird auch angenommen, daß Garantenpflichten die Möglichkeiten eines nicht rechtspflichtwidrigen Eingreifens in Rechtsgüter Dritter erweitern könnten. 2 4 3. Eingriffe und

Rettungshandlungen

Diesen Auffassungen ist zuzugeben, daß ein Vorrang der Unterlassungsvor der Handlungspflicht schwer zu begründen ist, wenn man sich allein an dem Gewicht der Sanktionen orientiert, die dem Täter drohen. Die Mutter, die ihr Kind ertrinken läßt, ist in gleicher Weise strafbar wie bei der aktiven Tötung ihres oder eines fremden Kindes. Die Symmetrie von Handlung und Unterlassung bleibt auch noch stabil, wenn man auf die faktischen Interessen der betroffenen - wirklichen oder potentiellen - Opfer abstellt. Das Lebensinteresse des ertrinkenden Kindes ist nicht geringer als das seines Altersgenossen, der Opfer einer aktiven Tötungshandlung zu werden droht. 20 Gropp (Fn. 14), § 6 Rn. 157; Köhler (Fn. 5), 295; Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 101 ff; SKS t G B - R u d o l p h i (Oktober 1992), vor § 13 Rn. 29 a. 2 1 Zu dem Unterschied zwischen einer Kollision von Pflichten und dem Institut der Pflichtenkollision näher NK-Neumann (Fn. 17), § 34 Rn. 124. 2 2 So Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5 1996, § 33 V (367). Für die rechtliche Gleichwertigkeit von Handlungs- und Unterlassungspflichten ferner Otto Grundkurs Strafrecht, AT, 6 2000, § 8 Rn. 205 f. 23 Jescheck/Weigend (Fn. 22), § 33 V (367); Gallas (Fn. 2), 74 ff. 24 Otto (Fn. 1), 97 ff.

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E s wäre aber voreilig, aus diesem Befund auf eine Gleichwertigkeit von Handlungs- und Unterlassungspflichten im Sinne eines „Patts" bei der rechtlichen Bewertung der Kollisionslage zu schließen. D e n n der aktive Eingriff in ein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut beeinträchtigt nicht nur ein faktisches Interesse, sondern verletzt auch eine Rechtsposition des Betroffenen, die gegenüber jedermann Geltung beansprucht. D i e Rechtsordnung garantiert dem einzelnen die Unverletzlichkeit seiner Rechtsgüter gegenüber aktiven Angriffen Dritter. Sie garantiert nicht - und kann nicht garantieren - den Bestand von Interessen gegenüber Schädigungen durch U n g l ü c k oder Unfall. Solche B e einträchtigungen hat der einzelne grundsätzlich selbst zu tragen (Prinzip der Eigenverantwortlichkeit). 2 5 Das bedeutet insbesondere: Niemand hat das Recht, ihm drohende Schädigungen auf andere zu verlagern, das heißt: zum Schutze eigener Interessen in Rechtsgüter anderer einzugreifen. Von diesen Grundsätzen macht § 34 S t G B eine Ausnahme, indem er unter U m s t ä n d e n dem Gefährdeten oder einem Dritten erlaubt, zur A b w e h r der G e fahr in fremde Rechtsgüter einzugreifen. D a m i t wird der Grundsatz, daß der einzelne innerhalb der ihm rechtlich garantierten Freiheitssphäre über seine G ü t e r autonom und ohne rechtliche Bindung disponieren kann ( A u t o n o m i e prinzip), 2 6 eingeschränkt. D e r Gesichtspunkt, unter dem diese Einschränkung erfolgt, ist der der Solidarität. M i t der Einfügung einer Bestimmung über den rechtfertigenden N o t s t a n d in die Rechtsordnung wird festgelegt, daß der einzelne unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich verpflichtet ist, zugunsten überwiegender Interessen anderer eigene Rechtsgüter preiszugeben. 2 7 M i t der grundsätzlichen Anerkennung von Rechtspositionen ist das aber nur dann vereinbar, wenn die Rechtsgüter des B e t r o f fenen beliebiger Verrechenbarkeit entzogen sind. Andernfalls würde der rechtfertigende N o t s t a n d nicht zu einer Relativierung von Rechtspositionen, sondern zu deren völliger Auflösung und ihrer Ersetzung durch eine von Fall zu Fall vorzunehmende Interessenabwägung führen. Es ist deshalb konsequent, wenn § 34 einen Notstandseingriff unter den Vorbehalt des wesentlichen U b e r wiegens des Erhaltungsinteresses stellt. Eine solidarische Aufopferung eigener Rechtsgüter kann von Rechts wegen nur verlangt werden, wenn die D i f f e r e n z zwischen rechtlichem H a b e n und rechtlichem N i c h t h a b e n von der zwischen wesentlich geringerem und wesentlich gewichtigerem Interesse überlagert wird. Diese Abgrenzung bleibt für das Verhältnis zwischen dem Inhaber des E r haltungsguts und dem des Eingriffsguts auch dann maßgeblich, wenn den einVgl. dazu Lenckner Der rechtfertigende Notstand, 1965, 111; Renzikowski (Fn. 16), 179. Vgl. dazu Stratenwerth Prinzipien der Rechtfertigung, ZStW 68 (1956), 41 ff. 2 7 Vgl. etwa SK-StGB-S^OTJO« (Dezember 1992), § 34 Rn. 2; Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2 1991, 13/1; Perron Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus besonderen Notlagen (Notwehr, Notstand, Pflichtenkollision) im deutschen Strafrecht, in: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. III, 1991, 79 ff. Zur Problematik einer solchen Verrechtlichung von Solidaritätspflichten Kühl Die Bedeutung der Kantischen Unterscheidungen von Legalität und Moralität sowie von Rechtspflichten und Tugendpflichten für das Strafrecht - ein Problemaufriß, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, 139ff, sowie Seelmann Solidaritätspflichten im Strafrecht?, aaO, 295 ff. 25

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greifenden Retter eine spezifische Verpflichtung zur Rettung des Erhaltungsgutes trifft. Denn durch die spezifische Zuständigkeit eines Dritten zur Rettung eines Interesses einer bestimmten Person wird ein höheres Gewicht dieses Interesses im Vergleich zu einem entsprechenden Interesse anderer nicht begründet. Konkret: Kann der Vater eines vom Ertrinken bedrohten Kindes dieses nur dadurch retten, daß er einem anderen Kind den rettenden Schwimmreifen entwindet, so ist das Leben des Sohnes/der Tochter nicht deshalb ein gewichtigeres Interesse, weil der Vater nur zur Rettung seines Kindes unter der Strafdrohung der §§ 212,13 verpflichtet ist. Und auch unter dem Aspekt einer gesteigerten Duldungspflicht wäre eine Verschiebung der von § 34 grundsätzlich gezogenen Grenzen bei einer Handlungspflicht des Retters nicht gerechtfertigt. Verpflichtungen (nur) des Retters können eine Erweiterung der Duldungspflichten des Inhabers des Erhaltungsguts nicht begründen. Es ist deshalb richtig, die Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflichten allein den Regeln des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) zu unterstellen. Nicht deshalb, weil Handlungspflichten gegenüber Unterlassungspflichten per se von geringerer Dignität wären, sondern deshalb, weil die Verletzung von Unterlassungspflichten in Rechtspositionen eingreift, die gegenüber jedermann geschützt sind, während die Verletzung von Handlungspflichten lediglich (Rettungs-)Interessen betrifft, die nur gegenüber dem Handlungspflichtigen eine normative Position begründen. Aus diesen Gründen ist die Grenzziehung zwischen Handlungen und Unterlassungen jedenfalls im Kontext der Diskussion von Pflichtenkollision und rechtfertigendem Notstand nicht nach naturalistischen, sondern nach normativen Kriterien vorzunehmen. Entscheidend ist, ob sich das fragliche Verhalten als Eingriff in Rechtspositionen oder als Nichtwahrnehmung von Rettungschancen bzw. -pflichten darstellt. Zuzugeben ist, daß diese Abgrenzung im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten kann. Unproblematisch ist allerdings der in diesem Zusammenhang häufig erörterte Fall des Arztes, der Informationen über den Gesundheitszustand eines Patienten an Dritte gibt, um sie vor Infektionen zu bewahren (§ 203 StGB). Auch wenn hier eine Rechtspflicht zum Schutz der Gesundheit der gefährdeten Personen (Garantenpflicht gegenüber anderen Patienten) besteht, greifen nicht die Regeln der Pflichtenkollision, 28 sondern die des rechtfertigenden Notstands ein. Denn die Offenbarung der Erkrankung des Patienten ist eine Handlung, mit der aktiv in Rechtspositionen der Betroffenen eingegriffen wird. 29 Wenn diese Fälle teilweise der Pflichtenkollision zugeordnet werden, dürfte

2 8 So aber RGSt 38, 62. Ebenso Tröndle/Fischer StGB, 491 999, vor § 32 Rn. 12 (unter ausdrücklicher Einbeziehung der Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflichten in den Anwendungsbereich der „Pflichtenkollision"). 2 9 Für ausschließliche Zuordnung zum rechtfertigenden Notstand deshalb die überwiegende Auffassung (vgl. etwa LK-Hirsch [Fn. 4], vor § 32 Rn. 76). Die zivilrechtliche Entscheidung O L G Frankfurt/M. N J W 2000, 875, greift zutreffend auf § 34 StGB zurück, obwohl im konkreten Fall eine Kollision von Pflichten gegeben war (Offenbarung der AIDS-Erkrankung eines Patienten gegenüber dessen Partnerin, die gleichfalls Patientin dieses Arztes war).

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das eher der suggestiven Kraft des Begriffs der „Schweigepflicht" des Arztes als der Struktur des Konflikts zuzuschreiben sein. 30 Schwierigkeiten bereiten dagegen die Konstellationen, in denen die Situation Elemente sowohl der Selbstgefährdung als auch der Gefährdung der potentiellen Opfer durch den Täter aufweist und deshalb eine klare Abgrenzung zwischen Eingriff und unterlassener Rettungshandlung nicht erlaubt. So etwa in dem von Otto gebildeten Fall, daß der mit eingeschaltetem Tempomat und angemessener Geschwindigkeit fahrende Autofahrer vor der Wahl steht, entweder einen plötzlich auf die Fahrbahn tretenden Fußgänger zu überfahren oder durch starkes und plötzliches Abbremsen den Tod eines zu dicht nachfolgenden Motorradfahrers zu verursachen. 31 Während bei einer naturalistischen Betrachtung hier eine Kollision einer Handlungspflicht (Bremsen) mit einer Unterlassungspflicht (Nichteingreifen in den vom Tempomat gesteuerten Fahrablauf) angenommen werden kann, 32 liegt nach dem hier vorgeschlagenen normativen Abgrenzungskriterium die Deutung näher, daß es sich angesichts des verkehrsgerechten Verhaltens des Fahrers und des verkehrswidrigen des potentiellen Opfers um eine Kollision von Rettungspflichten handelt. Da die Fälle einer Kollision von Handlungs- mit Unterlassungspflichten allein anhand des § 34 StGB zu entscheiden sind, beschränkt sich das Institut der rechtfertigenden Pflichtenkollision auf den Konflikt zwischen mehreren Handlungspflichten (bzw. mehreren Unterlassungspflichten). 33 Damit ist noch nicht entschieden, daß hier ein Rückgriff auf die Regeln des rechtfertigenden Notstands nicht in Betracht kommt. Dient eine der kollidierenden Handlungspflichten dem Schutz eines wesentlich überwiegenden Interesses, so ist kein Grund ersichtlich, § 34 StGB nicht heranzuziehen. 34 Da in diesem Fall ein Überwiegen der den Schutz der wesentlich geringwertigeren Interessen dienenden Handlungspflicht kaum vorstellbar ist, dürfte im Ergebnis kein Unterschied zu dem über die Regeln der Pflichtenkollision zu erzielenden Ergebnis bestehen. Es sollte aber auf außergesetzliche Regeln nur zurückgegriffen werden, wo eine Lösung über die gesetzlichen Bestimmungen nicht möglich ist. Das Institut der Pflichtenkollision ist daher auf den Konflikt von Handlungspflichten zu beschränken, die dem Schutz annähernd gleichwertiger Interessen dienen. 30

Vgl. Blei (Fn. 10), 333. Otto (Fn. 22), § 8 Rn. 198. 32 So Otto (Fn. 22), § 8 Rn. 205. Da Otto auch die Fälle einer Kollision gleichrangiger Handlungs- und Unterlassungspflichten den Regeln der Pflichtenkollision unterstellt, ergeben sich hinsichtlich der Lösung dieses Falles durch die unterschiedliche Interpretation der Pflicht zur Wahrung des Lebens des Motorradfahrers keine Abweichungen. 33 Zur Frage der Möglichkeit einer Kollision von Unterlassungspflichten siehe unten, bei Ill.l.a). Nach BaumannWeber/Mitsch Strafrecht Allgemeiner Teil, 101995, § 17 Rn. 133, soll die Kollision mehrerer Unterlassungspflichten nach den allgemeinen Regeln (§§ 32, 34 etc.) zu lösen sein. Aber § 34 würde bei einer Kollision annähernd gleichwertiger Unterlassungspflichten nicht helfen. Das Problem bleibt auch dann, wenn man das „wesentliche" Überwiegen mit Baumann/Weber/Mitsch (§ 17 Rn. 68) und anderen Autoren im Sinne eines „eindeutigen" Überwiegens versteht. 34 So auch Lackner/Kühl StGB, 23 1999, § 34 Rn. 15; Gropp (Fn. 14), § 6/169; Kühl Strafrecht AT, 3 2000, § 18 Rn. 133 ff; Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 104.

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III. Pflichten- und Interessenstruktur in den Fällen einer rechtfertigenden Pflichtenkollision 1.

Pflichtenstruktur

a) Normtheoretische Aspekte Die normtheoretischen Probleme einer Kollision von Rechtsregeln und -pflichten 35 können hier nur kurz angesprochen werden. Soweit die Möglichkeit einer „wirklichen" Kollision von Pflichten aus Gründen der Logik bestritten wird, läßt sich dem durch die Unterscheidung von Pflichten und Pflichtgründen 36 bzw. von Prima-facie-Pflichten und definitiven Pflichten 37 Rechnung tragen. Im übrigen ist zwischen der generellen Kollision von Rechtsregeln und der situativen Kollision von (Prima-facie-)Pflichten zu unterscheiden. Die generelle Kollision von Rechtsregeln ist durch die Festlegung von Regel-Ausnahme-Relationen bzw. von Vorrangregeln zu beseitigen. 38 Für das Institut der Pflichtenkollision bleiben nur Rechtsnormen, die (lediglich) situativ kollidierende Pflichten statuieren. 39 Zu den dogmatisch relevanten normtheoretischen Grundlagen gehört die Feststellung, daß die situative Kollision von Primafacie-Pflichten nicht nur durch die Festlegung einer Präferenzrelation, derzufolge die Pflicht Pi in der konkreten Situation P2 vorgeht, sondern auch durch die Annahme einer alternativ strukturierten definitiven Verpflichtung aufgelöst werden kann. In diesem Fall verhält sich der Verpflichtete rechtskonform, wenn er entweder die Pflicht Pi oder die Pflicht P2 erfüllt. Jedenfalls aus normtheoretischer Sicht besteht deshalb kein Grund, die Fälle einer Kollision völlig gleichwertiger Handlungspflichten erst im Schuldbereich zu lösen. 40 Wer eine von zwei alternativ statuierten Pflichten befolgt, verhält sich ebenso rechtmäßig 41 wie derjenige, der die aus dem Kampf der Prima-facie-Pflichten als Siegerin hervorgehende definitive Pflicht befolgt. Umstritten ist, ob eine Kollision von Unterlassungspflichten möglich 42 und ob sie bejahendenfalls nach den Regeln der Pflichtenkollision 43 oder nach de3 5 Vgl. dazu etwa Alexy Theorie der Grundrechte, 77 ff, u. ö.; Enderlein Abwägung in Recht und Moral, 1991, 80 ff; K. Günther Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Recht und Moral, 1988, 257f, u. ö. 3 6 So Köhler (Fn. 5), 294, im Anschluß an Kant. 3 7 So die überwiegend in der Moralphilosophie verwendete und hier bevorzugte Differenzierung. 3 8 Der Jurist tut das automatisch. Daß § 216 StGB mit § 212 bei isolierter Betrachtung logisch nicht vereinbar ist, wird nicht gesehen, weil man - vernünftigerweise - beide Bestimmungen von vornherein in einen Regel-Ausnahme-Zusammenhang stellt. 3 9 Näher dazu Philipps Der Handlungsspielraum, 1974, 68 ff, u. ö. 4 0 Zu diesen Fällen näher unten bei b). 41 Damit ist die Frage noch nicht entschieden, ob im Sinne der Verbrechenssystematik ein Rechtfertigungsgrund oder aber schon ein Tatbestandsausschluß anzunehmen ist, wie neuerdings vorgeschlagen wird (vgl. die Nachweise in Fn. 7). 4 2 Verneinend insbes. Gropp (Fn. 14), § 6 Rn. 162 ff; ders. Die „Pflichtenkollision": Weder eine Kollision von Pflichten noch Pflichten in Kollision, FS für Hirsch, 1999, 207 ff, 217 ff. 43 Jescheck/Weigend (Fn. 22), 368; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 7), vor §§ 32 ff Rn. 76.

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nen des rechtfertigenden Notstands 4 4 zu entscheiden ist. D a ß hinsichtlich der Möglichkeit der Kollision von Handlungspflichten überhaupt Streit bestehen kann, zeigt, daß es nicht um ein logisches 45 Problem geht. Zwar ist richtig, daß die bloße Pflicht zum Untätigbleiben nicht mit einer in anderer Weise begründeten Pflicht zum Untätigbleiben kollidieren kann. Aber die strafrechtlichen Unterlassungspflichten sind keine Pflichten zum „schlichten Untätigbleiben" 4 6 , sondern Verpflichtungen, bestimmte Eingriffe in fremde Rechtsgüter zu unterlassen. Daß es Situationen gibt, in denen jemand gezwungen ist, entweder Rechtsgüter der einen oder der anderen Person aktiv zu verletzen, läßt sich aber kaum bestreiten. Charakteristisch sind hier die Fälle, in denen die bloße Präsenz bzw. der Bewegungszustand des Täters Rechtsgüter anderer bedroht. Die Konstellation kann sich als Folge eines Vorverschuldens 4 7 wie auch in der Konsequenz eines technischen Defekts 4 8 , insbesondere im Straßenverkehr, ergeben, ist aber nicht auf diese Bereiche beschränkt. So liegt etwa eine Kollision von Unterlassungspflichten vor, wenn jemand von einer in Panik geratenen Menschenmenge nach vorn geschoben wird und nur die Wahl hat, auf den am Boden liegenden A oder auf den gleichfalls gestürzten B zu treten. Hier kommt, anders als in den Straßenverkehrsfällen, eine Interpretation von Primafacie-Unterlassungspflichten als Handlungspflichten 4 9 nicht in Betracht. Es handelt sich u m eine Kollision zweier gleichwertiger Unterlassungspflichten. Diese Fälle sind nicht durch Rückgriff auf die Regeln des rechtfertigenden Notstands, sondern durch die entsprechende Anwendung der Regeln der Pflichtenkollision zu lösen. Das ergibt sich daraus, daß § 34 StGB mit dem Erfordernis des wesentlichen Überwiegens des Erhaltungsinteresses die asymmetrische Situation einer Kollision von Handlungs- mit Unterlassungspflichten voraussetzt. Wo gleichartige Pflichten kollidieren, kann zur Rechtfertigung ein wesentliches Überwiegen des gewahrten Interesses nicht verlangt werden. b) Die „Gleichwertigkeit" von Pflichten Nach wie vor umstritten ist die Frage, ob eine Kollision gleichwertiger Pflichten eine Rechtfertigung 5 0 oder allenfalls eine Entschuldigung 5 1 des Täters 44

Baumann/Weber/Mitscb (Fn. 33), 368; Schönke/Schröder/Z.ercc£raer (Fn. 7), vor §§ 32 ff Rn. 76. 45 So aber Gropp FS für Hirsch, 1999, 219. 46 Gropp (Fn. 45), 219. 47 Vgl. die Fälle des zu schnell fahrenden Autofahrers, der entweder durch eigenes Auffahren oder durch das bei scharfem Bremsen unvermeidliche Auffahren des Hintermanns einen Unfall verursachen wird, und des „Geisterfahrers" bei Gropp (Fn. 45), 219 (im Anschluß an Lenckner bzw. Jescheck/Weigend). 48 Vgl. den „Hamburger-Elbtunnel-Fall" bei Gropp (Fn. 45), 218 (im Anschluß an Hruschka). 49 Vgl. Gropp (Fn. 45), 219 ff. 50 So die überwiegende Auffassung. Vgl. etwa Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 104 ff; Köhler (Fn. 5), 295, 297; SK-StGB-Rudolphi (Fn. 20), vor § 13 Rn. 29. 51 In diesem Sinne Haft Strafrecht AT, «1998, 104; Jescheck/Weigend (Fn. 22), 367; Tröndle/ Fischer (Fn. 28), vor § 32 Rn. 11; Androulakis Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, 127 f; Gallas (Fn. 2), 74 ff.

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begründen kann. Den Vertretern der „Entschuldigungslösung" ist zuzugeben, daß sich aus der Sicht des Opfers die Entscheidung des Täters, den anderen Gefährdeten zu retten, nicht zureichend begründen läßt 52 . Gegen diese Lösung sprechen aber vor allem drei Argumente. Zum einen kann auch das Opfer nicht begründen, daß eine andere Entscheidung des Retters in irgendeinem Sinne „richtiger" gewesen wäre als die von ihm getroffene. Die Frage ist also, wer im Verhältnis Retter/Opfer die Begründungslast trägt. Da es hier nicht um Eingriffe in Rechtspositionen des Opfers, sondern um den Verzicht auf Hilfeleistung geht, dürfte die Argumentationslast hier eher auf Seiten des (potentiellen) Opfers liegen. Wer nicht begründen kann, daß ein anderes Verhalten des Retters richtiger gewesen wäre, kann nicht erwarten, daß die Rechtsordnung diesem ein fehlerhaftes Verhalten anlastet. Zum anderen kann die Rechtsordnung gegenüber dem Retter den Vorwurf eines rechtlich fehlerhaften Verhaltens nicht begründen, wenn sie nicht anzugeben vermag, wie sich der Täter in der fraglichen Situation oder auch zu einem früheren Zeitpunkt (in den Fällen eines „Vorverschuldens") anders hätte verhalten sollen. Kann man im Verhältnis Täter-Opfer noch darüber streiten, wen die Begründungspflicht hinsichtlich der Richtigkeit des Täterverhaltens trifft, so liegt diese Begründungslast im Verhältnis zwischen dem strafenden Staat und seinen Bürgern eindeutig auf Seiten des Staates. Ist die staatliche Rechtsordnung erklärtermaßen nicht in der Lage, dem betroffenen Bürger zu sagen, was er tun soll, kann sie ihm nicht ex post anlasten, er habe sich falsch verhalten. Es gibt keinen vernünftigen Grund, dem Staat das Recht zuzugestehen, auch den gutwilligen Bürger durch die Konstruktion einer solchen Normenfalle in ein rechtswidriges Verhalten zu zwingen. Die Argumentation, die Rechtsordnung scheitere hier an der „Irrationalität der Lebenssituation"53, überzeugt nicht. Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ist ein Postulat der praktischen Vernunft, nicht ein bloßer Reflex der Rationalität der rechtlich zu regelnden Lebenssituationen.54 Hinzu kommt ein weiteres, insbesondere von Roxin55 vorgetragenes Argument. Löst man die Fälle der Kollision gleichwertiger Pflichten erst im Schuldbereich, so verhält sich derjenige, der das ihm Mögliche tut, indem er einen von mehreren Gefährdeten rettet, nicht weniger rechtswidrig, als der, der völlig untätig bleibt.56 Das aber ist ein in hohem Maße kontraintuitives Ergebnis. Man könnte versucht sein, dieses Ergebnis jedenfalls für die Fälle der Rettung aus Lebensgefahr mit Hinweis auf das Prinzip der Nichtaddierbarkeit des In diesem Sinne u. a. Androulakis (Fn. 51), 127 f. « Gallas (Fn. 2), 74. 5 4 Kritisch zu der Berufung auf die Irrationalität der Lebenssituation auch Küper (Fn. 1), 52

26.

55 Roxin (Fn. 9), § 16 Rn. 106. In gleichem Sinne Cortes Rosa Die Funktion der Abgrenzung von Unrecht und Schuld im Strafrechtssystem, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts. Coimbra-Symposium für Claus Roxin, 1995, 183 ff, 205 f. 5 6 Zum Vorschlag, beide Fälle auch hinsichtlich des (entfallenden) Schuldvorwurfs gleich zu bewerten (Jescheck/Weigend [Fn. 22], 503); vgl. Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 106 m. Fn. 171.

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Rechtsguts „Leben" 5 7 zu verteidigen. Denn wenn die Rettung von zwei Menschenleben nicht höherwertig ist als die eines (anderen) Menschlebens, dann liegt die Argumentation nahe, die Rettung eines von zwei bedrohten Leben sei nicht höherwertig als die völlige Untätigkeit. Konkret: Kann T nur entweder A oder aber B und C vor dem Ertrinken retten, dann ist die Rettung von B und C nach den Maßstäben der Rechtsordnung nicht vorzugswürdig gegenüber der Rettung des A. T ist also (nach der Rechtfertigungslösung) gerechtfertigt, wenn er nur einen Menschen rettet, obwohl er zwei hätte retten können, wenn also zwei Menschen statt eines sterben müssen. Warum soll er (wiederum nach der Rechtfertigungslösung) dann rechtswidrig handeln, wenn infolge seines Nichteingreifens drei statt zwei (oder eines) Menschen sterben müssen? 58 Kommt es nicht auf die Zahl der zu rettenden Menschenleben, sondern auf Rettungschance und -anspruch des konkreten Individuums an, dann könnte man in spiegelbildlicher Umkehrung der Argumentation von Androulakis59 sagen: Der Vater, der seinen Sohn A rettet, tut dem Sohn B kein Unrecht, weil dieser keinen Anspruch darauf hat, daß gerade er gerettet wird. Rettet er den B, so gilt Entsprechendes für den A. Hat aber keiner der Söhne einen Anspruch auf Rettung, dann tut der Vater keinem von ihnen Unrecht, wenn er untätig bleibt und keinen rettet. Indes ist fraglich, ob das Prinzip der Nichtaddierbarkeit von Leben die angedeuteten Schlußfolgerungen trägt. Denn dieses Prinzip bezeichnet lediglich den Grundsatz, daß ein Mensch nicht um der Rettung anderer Menschen willen getötet werden darf und daß die Rettung eines bestimmten Menschen nicht deshalb von Rechts wegen verboten werden darf, weil die Preisgabe seines Lebens die Rettung mehrerer Menschenleben ermöglichen würde. Das Prinzip der Nichtaddierbarkeit von Leben zieht damit lediglich die Konsequenz aus dem Verständnis des Lebens als eines rein individuellen Rechtsguts: Es fehlt an einem Bezugspunkt, von dem aus die Summierung individueller Menschenleben einen Sinn ergeben würde. 60 Dagegen geht es bei der Alternative zwischen Untätigbleiben und der Rettung eines von zwei Gefährdeten nicht um einen zahlenmäßigen Vergleich von Menschenleben, sondern um die Frage, ob ein Mensch gerettet werden muß, wenn ein Mensch gerettet werden kann. Daß

Vgl. etwa Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 110. Zur Frage, ob bei Unterlassen der möglichen Rettung einer von - beispielsweise — zehn gefährdeten Personen wegen einer oder wegen zehnfacher Tötung durch Unterlassen zu bestrafen ist vgl. Schönke/Schröder/Z.ewc&ner (Fn. 7), vor §§ 32 ff Rn. 73. 59 Androulakis (Fn. 51), 127 f. Vgl. dazu Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 105 6 0 Das Argument deckt sich mit dem u. a. von Mackie gegenüber dem klassischen, auf das größte Glück der größten Zahl abstellenden Utilitarismus, es fehle an einem Gesamtsubjekt, in bezug auf das eine Verrechnung des Glücks des einen mit dem Unglück des anderen möglich wäre (Mackie Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, 1981, 178 ff). Vgl. auch Merkel Zaungäste? Uber die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der Strafrechtswissenschaft (und einige verbreitete Missverständnisse zu § 34 StGB), in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, 171 ff. 57 58

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dieser zu rettende Mensch entweder der A oder der B sein kann, betrifft nicht die Frage der Addierbarkeit von Menschenleben. Im übrigen führt die Argumentation über die Nichtverrechenbarkeit des Rechtsguts Leben zwar ebenso wie die Entschuldigungslösung zu einer Gleichbewertung der möglichen Rettungshandlung mit dem Nichteingreifen auf der Ebene der Rechtswidrigkeit, aber mit anderen Vorzeichen: Während die Vertreter der Entschuldigungslösung beide Verhaltensweisen unterschiedslos als rechtswidrig ansehen, könnte über den Gedanken der Nichtaddierbarkeit von Leben allenfalls die Rechtmäßigkeit des einen wie des anderen Verhaltens begründet werden. 2.

Interessenstruktur

a) „Pflichtenkollision" ohne Kollision von Pflichten Daß es bei der sogenannten „Pflichtenkollision" in Wahrheit um eine Kollision von Rettungsinteressen geht, bestätigt sich in den Fällen, in denen eine Rechtspflicht nur zum Schutz des weniger gewichtigen oder des in geringerem Maße bedrohten Interesses besteht. In Betracht kommen hier vor allem die Fälle einer überobligationsmäßigen („supererogatorischen") Rettungshandlung (aa) sowie die der Wahrung eigener Interessen (bb). aa) Ein Beispiel für eine überobligationsmäßige, aber gerechtfertigte Rettungshandlung bietet der Fall des als Sanitäter ausgebildeten Passanten, der nach einem Bootsunglück vor der Entscheidung steht, entweder einem lebensgefährlich Verletzten, der sich ans Ufer retten konnte, Erste Hilfe zu leisten, oder aber einen anderen Verunglückten vor dem sonst nahezu sicheren Tod durch Ertrinken zu bewahren. 61 Geht man davon aus, daß der P als schlechter Schwimmer bei dem Versuch der Rettung des Ertrinkenden selbst in Lebensgefahr geraten würde, so besteht eine Hilfspflicht (§ 323 c StGB) nur gegenüber dem anderen. Es kann aber nicht zweifelhaft sein, daß P gerechtfertigt sein muß, wenn er denjenigen rettet, der dringender der Hilfe bedarf. Uber das Institut des rechtfertigenden Notstands in der Ausprägung des § 34 StGB ist dieses Ergebnis nicht zu erreichen, weil es bei nur graduellen Unterschieden hinsichtlich der Lebensgefahr an einem wesentlichen Uberwiegen des Rettungsinteresses des vom Ertrinken Bedrohten fehlt. Man hat in diesen Fällen teilweise eine „besondere rechtliche Handlungsbefugnis" angenommen, aus der sich eine Rechtfertigung der Vernachlässigung einer Handlungspflicht ergeben könne. 6 2 Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern man sich bewußt ist, daß diese Handlungsbefugnis nichts anderes ist als das Resultat einer Interessenabwägung. Der Retter ist gerade deshalb zur Verletzung der ihm obliegenden Rettungspflicht befugt, weil das von ihm gewahrte

Zu diesem Fall schon NK-Neumann (Fn. 17), § 34 Rn. 127. " Blei (Fn. 10), 334 f. 61

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Interesse - zu dessen Rettung er nicht verpflichtet ist - das kollidierende Interesse überwiegt. O b man für diese Fälle noch den Begriff der „Pflichtenkollision" verwenden soll, ist eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit. Vorzugswürdig dürfte sein, den Begriff der „Pflichtenkollision" grundsätzlich durch den der „Kollision von Rettungsinteressen" zu ersetzen. Ansonsten bliebe nur die wenig erfreuliche Wahl, den Begriff der Pflichtenkollision weiterhin entgegen den Regeln der Sprachlogik zu verwenden 63 oder aber neben rechtfertigendem Notstand und Pflichtenkollision für diese Fallkonstellationen einen weiteren Rechtfertigungsgrund einzuführen. bb) Schwierige Probleme werfen die Fälle auf, in denen fremde Rettungsinteressen, zu deren Wahrung der Täter verpflichtet ist, mit eigenen Interessen des Täters kollidieren. Hier wird teils ein Rückgriff auf § 34 StGB, 6 4 teils die Anwendung der Regeln der „Pflichtenkollision" 65 vorgeschlagen, soweit man nicht diese Konstellation aus dem Bereich der Notstandsproblematik (im weiteren Sinne) ausgegliedert und sie beispielsweise als Problem der Unzumutbarkeit des prima facie rechtlich geforderten Verhaltens interpretiert. 66 Ein in diesem Zusammenhang vieldiskutierter Fall ist der des Anwalts, der ihm anvertraute Geheimnisse offenbart (§ 203 StGB), um seine Honorarforderung einklagen zu können. 6 7 In diesen Fällen einer Kollision von Eigeninteressen mit Fremdinteressen ist die Annahme einer Kollision von Pflichten wohl nicht zu begründen. Hinsichtlich der Honorarforderung des Rechtsanwalts liegt das auf der Hand. Der Anwalt ist berechtigt, nicht aber rechtlich verpflichtet, das ihm zustehende Honorar einzuklagen. Mit dem vagen Hinweis auf den „Pflichtenkreis" des Anwalts 68 läßt sich das nicht überspielen. Es gilt aber auch für die anderen Konstellationen eines Konflikts zwischen eigenen und fremden Interessen. Denn rechtliche Pflichten sich selbst gegenüber sind unserer Rechtsordnung fremd. Tatsächlich geht es in diesen Fällen ausschließlich um eine Kollision von InterVgl. dazu auch den Titel des Beitrags von Gropp in der FS für Hirsch (Fn. 42). LK-Hirsch (Fn. 4), vor § 32 Rn. 76. 6 5 Für die Fälle einer Rettungspflicht gegen sich selbst Köhler (Fn. 5), 294; ähnlich („Obliegenheit" zur Wahrung eigener Interessen) Jakobs Kommentar: Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus besonderen Notlagen (Notwehr, Notstand, Pflichtenkollision), in: Eser/Nishihara (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung IV (1995), 143 ff, 170. Nach Jescheck Strafrecht Allgemeiner Teil, 4 1988, soll eine Pflichtenkollision (in Gestalt eines Konflikts zwischen einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht) beispielsweise dann vorliegen, wenn ein Unfallbeteiligter vor der Wahl steht, den Unfallort zur Erledigung einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit zu verlassen oder seiner Wartepflicht nachzukommen (328 m. Hinweis auf O L G Stuttgart NJW 1956, 245, und BayObLG DAR 1958, 107). 63

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Schmidhäuser Strafrecht Allgemeiner Teil - Studienbuch, 2 1984, 12/68. Für Bejahung einer Pflichtenkollision hier etwa Maurach/Zipf (Fn. 3), § 27 Rn. 53. Uberwiegend wird hier auf § 34 StGB (so Schönke/Schröder/Lenc^ner [Fn. 7], § 203 Rn. 33) oder ohne Differenzierung auf die „Grundsätze der Abwägung widerstreitender Interessen oder Pflichten" (BGHSt 1, 367, 368) zurückgegriffen. 68 Maurach/Zipf (Fn. 3), § 27 Rn. 53 66

67

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essen, die nach § 34 oder den Regeln der Kollision von Rettungsinteressen gelöst werden muß, sofern man sie nicht - beispielsweise - dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit zuweist. Da § 34 StGB unstreitig auch dann eingreift, wenn das Erhaltungsgut dem Eingreifenden zugeordnet ist, bestehen gegen einen Rückgriff auf § 34 StGB jedenfalls dann keine Bedenken, wenn das Interesse des Verpflichteten das des anderen wesentlich überwiegt. Wird ein Arzt bei einem Unfall schwer, ein anderer Unfallbeteiligter leicht verletzt, dann wahrt der Arzt, der zunächst sich selbst medizinisch versorgt, damit ein wesentlich überwiegendes Interesse. Umgekehrt ist der Arzt zur Hilfe für den anderen verpflichtet, wenn dessen Rettungsinteresse sein eigenes wesentlich überwiegt. Denn in diesem Fall tritt nach der Wertung des § 34 StGB das Eigeninteresse hinter der rechtlichen Pflicht zur Solidarität zurück. Problematisch sind die dazwischen liegenden Fälle der Gleichwertigkeit und der annähernden Gleichwertigkeit der konfligierenden Interessen. Dabei kann im Ergebnis nicht zweifelhaft sein, daß bei leicht überwiegendem wie auch bei gleichwertigem Eigeninteresse die Unterlassung der Rettung des anderen jedenfalls dann rechtmäßig sein muß, wenn diese lediglich durch die allgemeine Hilfspflicht (und nicht durch eine spezielle Garantenpflicht) geboten ist. 69 Fraglich ist, wie man dieses Ergebnis begründet. Hier bieten sich zwei Wege an. Man kann zum einen argumentieren, daß derjenige, der seine eigenen Verletzungen (zeitweise) vernachlässigt, ebenso eigene Rechtsgüter aufopfert wie derjenige, der - mit vergleichbaren Auswirkungen - aktiv in seine körperliche Integrität eingreift. Bei dieser Argumentation wäre eine Pflicht zur Rettung der Fremdinteressen nur unter den Voraussetzungen des wesentlichen Überwiegens dieser Interessen zu bejahen. Droht dem Retter bei der (zeitweisen) Vernachlässigung seiner Verletzungen der Verlust einer Hand, dem anderen der Verlust eines Armes, so ist nach dieser Lösung die Unterlassung der Versorgung des anderen gerechtfertigt. Argumentiert man dagegen, die Rettung eigener Rechtsgüter sei nicht anders zu gewichten als die von Rechtsgütern dritter Personen, so wären die Regeln der Kollision von Rettungsinteressen (herkömmlich: „Pflichtenkollision") anzuwenden - mit der Folge, daß bei leichtem Überwiegen des Fremdinteresses die Rettung des anderen das allein rechtmäßige Verhalten wäre. Meines Erachtens verdient die erstere Lösung hier den Vorzug. Soweit der Rettungspflichtige zur Wahrung seiner eigenen Interessen auf eigene Ressourcen (Eigentum, Zeit, besondere Fertigkeiten und Kenntnisse, Arbeitskraft) zurückgreift, kann die Umlenkung dieser Ressourcen, ihr Einsatz zur Rettung Dritter nur aufgrund von Solidaritätspflichten, und das heißt: nach den Maßstäben des § 34 StGB verlangt werden. Aber gleichgültig, wie man sich hier entscheidet: um eine Kollision von Pflichten geht es in diesen Fällen nicht. 6 9 Zur Frage, ob die Interessenabwägung bei § 34 StGB durch eine Garantenpflicht des Inhabers des Eingriffsguts beeinflußt wird, vgl .Jakobs (Fn. 28), 13/33; Blei (Fn. 10), 168; N K Neumann (Fn. 17), § 34 Rn. 105; Renzikowski (Fn. 16), 70, 269.

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b) Interessenstruktur bei der Kollision von Garantenpflichten mit Hilfspflichten (§ 323 c StGB) Umstritten ist, ob die grundsätzlich auch im Rahmen der „Pflichtenkollision" maßgebliche Interessenstruktur durch die Pflichtenstruktur der Handlungssituation modifiziert werden kann. Soweit der Retter die Wahl zwischen einer ihm lediglich nach § 323 c (prima facie) gebotenen und einer ihm nicht gebotenen Rettungshandlung hat, ist diese Frage zu verneinen. Gewicht und Schutzwürdigkeit eines gefährdeten Interesses hängen nicht davon ab, ob die Voraussetzungen des § 323 c (insbesondere die der Zumutbarkeit der Rettungshandlung) vorliegen oder nicht. 70 Problematisch sind dagegen die Fälle, in denen der Täter zur Rettung des einen Interesses aufgrund einer Garantenpflicht, zu der des anderen nicht 71 oder lediglich aufgrund der allgemeinen Hilfeleistungspflicht (§ 323 c) gehalten ist. Der Auffassung, die hier bei Gleichwertigkeit der bedrohten Güter eine Vorzugswürdigkeit des durch die Garantenpflicht geschützten Interesses verneint, 72 ist zuzugeben, daß die Pflichtenstruktur der Situation als solche die maßgebliche Interessenstruktur nicht beeinflussen kann. Insofern gilt für die Garantenpflicht nichts anderes als für die allgemeine Hilfspflicht des § 323 c. Pflichten betreffen die Frage der Zuständigkeit des Retters, nicht die des Gewichts der zu rettenden Interessen. Es bleibt aber das Problem, ob nicht der Garantenpflicht des Retters eine Position des von ihr Begünstigten entspricht, die dem faktischen Rettungsinteresse eine besondere rechtliche Relevanz verleiht. Diese Frage ist meines Erachtens zu bejahen. Denn wenn bei Bestehen einer Garantenpflicht die Unterlassung der Rettung grundsätzlich einem aktiven Eingriff in die Rechtssphäre des Gefährdeten gleichgestellt wird, dann bedeutet das, daß die Garantenpflicht dem geschützten Interesse den Status einer Rechtsposition verleiht, die sich gegenüber einem ansonsten gleichwertigen Interesse eines anderen durchsetzen muß. 7 3 Auch hier sind es also Rechte und Interessen, nicht aber Pflichten, die die maßgebliche normative Struktur der Kollisionslage bestimmen. Fraglich ist, wie weit dieser Vorrang des von einer Garantenpflicht geschützten Interesses reicht. Da die Position des durch eine Garantenpflicht BegünVgl. dazu schon oben bei III.2.a). Häufig wird die Diskussion auf den Fall einer mit einer Hilfeleistungspflicht (§ 323 c) kollidierenden Garantenpflicht beschränkt. Das Problem des Verhältnisses von Interessen- und Pflichtenstruktur stellt sich aber in gleicher Weise, wenn die Rettung des anderen Rechtsguts eine überobligationsmäßige Handlung wäre. 72 Blei (Fn. 10), 333; SK-StGB-Rudolphi (Fn. 20), vor § 13 Rn. 29; Freund Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, 282 m. Fn. 37. 73 Jakobs (Fn. 27), 15/7; Roxin (Fn. 10), § 16 Rn. 108; Schönke/Schröder/Iercc&ner (Fn. 7), vor § § 3 2 ff Rn. 75. Ob sich bei einer Kollision von Garantenpflicht und allgemeiner Hilfspflicht (§ 323 c StGB) etwas anderes ergibt, wenn man für § 323 c StGB das Bestehen eines „personalen Rechtsverhältnisses" zwischen dem Retter und dem Gefährdeten verlangt (so Harzer Die tatbestandsmäßige Situation der unterlassenen Hilfeleistung [§ 323 c StGB], 1999), muß hier offen bleiben. 70 71

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stigten infolge der weitergehenden, wenn auch nicht vollständigen (§13 Abs. 2 StGB) Gleichstellung von Tun und garantenpflichtwidrigem Unterlassen ähnlich der des Inhabers eines Abwehrrechts ausgestattet ist, dürfte es richtig sein, hier auf die Maßstäbe des § 34 StGB zurückzugreifen. Die Vernachlässigung des Destinatärs der Garantenpflicht zugunsten der Rettung des anderen ist daher nur dann rechtmäßig, wenn dessen Rettungsinteresse wesentlich überwiegt. 7 4

IV. Konsequenzen für die „entschuldigende Pflichtenkollision" Welche Folgerungen sich aus diesen Überlegungen für das Institut der sogenannten entschuldigenden Pflichtenkollision ergeben, kann im Rahmen dieses Beitrags nur noch angedeutet werden. D a es auch in den Konstellationen der „Pflichtenkollision" darum geht, kollidierende Interessen und Rechte nach den von der Rechtsordnung gesetzten Maßstäben gegeneinander abzuwägen, betrifft die „Pflichtenkollision" grundsätzlich die Frage der Rechtmäßigkeit des Verhaltens. Das gilt im Ergebnis auch für die Fälle, in denen das Uberwiegen einer der kollidierenden Positionen nicht festgestellt werden kann. Hier ergibt sich die Rechtmäßigkeit des Verhaltens des Täters aus dem Postulat, daß die Rechtsordnung den Bürger nicht in eine mit strafrechtlichen Sanktionen gespickte Normenfalle zwingen darf. 7 5 Damit verbleibt für eine entschuldigende Pflichtenkollision von vornherein nur ein enger Anwendungsbereich. In Betracht kommen die Fälle, in denen der Täter aus der Sicht der Rechtsordnung falsch entscheidet, also dem geringerwertigen Interesse den Vorzug vor dem höherwertigen gibt. Dann aber ist zu fragen, aus welchem Grund diese - aus der Sicht der Rechtsordnung - falsche Entscheidung entschuldigt sein soll. Da die Rechtsordnung eine (Prima-facie-) Kollision von Pflichten aus rechtsstaatlichen Gründen auflösen muß (und mit der Bewertung der vom Täter gewählten Verhaltensalternative als rechtswidrig auch aufgelöst hat), kommt eine Kollision von Pflichten im Sinne einer normativen Bedrängnis des Handelnden als Anlaß für eine Entschuldigung nicht in Betracht. Denkbar ist allenfalls, daß der Täter die falsche Entscheidung aus Gründen trifft, die die Nachsicht der Rechtsordnung verdient. Solche Gründe sind im Falle des § 35 S t G B die besondere Verbundenheit des Täters mit dem Gefährdeten bzw. die verständliche Wahrung elementar wichtiger eigener Interessen. Jenseits dieser Fälle unmittelbarer oder mittelbarer persönlicher Betroffenheit kommen Entschuldigungsgründe, die aus einer besonderen Situation des Täters resultieren, nicht in Betracht. Es bleiben daher für die Annahme einer Entschuldigung nur zwei Möglichkeiten. Entweder erkennt die Rechtsordnung an, daß man den Konflikt in den fraglichen Fällen 74 75

Näher NK-Neumann (Fn. 17), § 34 Rn. 129. Anders Scheid (Fn. 1), 91 f.

Vgl. oben bei Ill.l.b).

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generell mit guten G r ü n d e n anders lösen kann, als sie selbst das tut. O d e r aber sie berücksichtigt, daß in bestimmten Fällen der Gewissenszwang, die „falsche" Rettungshandlung zu wählen, so stark sein kann, daß die r e c h t s k o n f o r m e E n t scheidung dem T ä t e r u n z u m u t b a r ist. Auch im zweiten Fall m u ß dabei vorausgesetzt werden, daß die Rechtsordnung die v o m T ä t e r zugrunde gelegte W e r tung als eine jedenfalls nachvollziehbare Wertung a n e r k e n n t . 7 6 Vorausgesetzt werden m u ß also in jedem Fall die (anerkannte) Möglichkeit der Kollision u n terschiedlicher Bewertungsmaßstäbe. Diese Maßstäbe lassen sich konkretisieren. Es geht in allen Fällen der sogenannten entschuldigenden Pflichtenkollision (des übergesetzlichen entschuldigenden N o t s t a n d s ) 7 7 u m die Wahl des kleineren Ü b e l s bzw. u m die O p t i m i e rung von Rettungschancen, also um die Entscheidung für eine an den H a n d lungsfolgen orientierte (konsequentialistische, „utilitaristische") Verhaltensmaxime. Exemplarisch dafür sind die Konstellationen, in denen es u m die Anzahl der zu rettenden M e n s c h e n geht, also beispielsweise die Fälle der „ A n staltstötungen" in der N S - Z e i t . 7 8 Das gleiche P r o b l e m stellt sich aber auch bei der Frage, o b medizinische Rettungskapazitäten von dem bisher versorgten Patienten auf einen Patienten mit besseren Uberlebenschancen umgelenkt werden sollen. 7 9 In derartigen Fällen optiert eine konsequentialistische Position, wie sie in der alltagsmoralischen Beurteilung d o m i n i e r t , 8 0 für eine Entscheidung zugunsten der numerisch oder qualitativ größeren Rettungschancen. W e n n das Recht demgegenüber darauf beharrt, daß Menschenleben weder zahlenmäßig noch hinsichtlich verbleibender Lebenschancen und Lebenszeit gegeneinander abgewogen werden dürfen, bezieht es damit eine nicht an Folgen, sondern an Regeln und Prinzipien orientierte („deontologische") Position. M i t der Zubilligung eines entschuldigenden N o t s t a n d s in den fraglichen Fällen erkennt die Rechtsordnung an, daß auch die von ihr nicht geteilte konsequentialistische Position eine mögliche Basis der Beurteilung der fraglichen Kollisionsfälle darstellt. Auch hier geht es nicht u m die Kollision von Pflichten, sondern um den K o n f l i k t von Wertungen, der aus dem Nebeneinander heterogener Bewertungsmaßstäbe resultiert. 8 1

Vgl. Jakobs (Fn. 27), 20/22 Die herrschende Meinung setzt „entschuldigende Pflichtenkollision" und „entschuldigender übergesetzlichen Notstand" weitgehend gleich (vgl. etwa Schönke/Schröder/Z.e«c&«er [Fn. 7], vor §§ 32 ff Rn. 115. 7 8 Zu den Anstaltstötungen vgl. etwa die klare Darstellung bei Gropp (Fn. 14), § 7 Rn. 100 ff. 7 9 Ausführlich zu diesen Fällen Künschner Wirtschaftliche Patientenauswahl und Behandlungsverzicht, 1992, 312 ff. 8 0 Zur überwiegend konsequentialistischen Orientierung der Alltagsmoral vgl. etwa Hare Moralisches Denken — seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, 1992. 81 Mißt man die Handlung an beiden Maßstäben, so kann sich eine Kollision von Pflichten aus der Heterogenität dieser Maßstäbe ergeben (vgl. dazu Anderheiden Pluralismus und Pflichtenkollision als Grenze und Aufgabe der Sozialphilosophie, 2000). Es handelt sich dabei aber nicht um eine Kollision von Pflichten innerhalb eines einheitlichen Norm- und Wertesystems, wie sie für das Institut der strafrechtlichen Pflichtenkollision vorausgesetzt wird. 76

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V. Zusammenfassung 1. Auch bei der sogenannten Pflichtenkollision geht es um die Kollision von rechtlich geschützten Interessen. 2. Die Besonderheit der Fälle der Pflichtenkollision im Vergleich zu denen des rechtfertigenden Notstands liegt darin, daß die Rechtfertigung einer Unterlassung in Frage steht. Da Rechtfertigungsprobleme nur bei tatbestandsmäßigen Handlungen auftreten können, muß die Unterlassung prima facie eine strafrechtlich sanktionierte Handlungspflicht verletzen. 3. Pflichten sind bei der Lösung des Interessenkonflikts kein eigenständiger Abwägungsfaktor. Sie sind insofern nur Reflexe von Rechtspositionen der potentiellen Opfer. 4. Die Nichterfüllung einer Prima-facie-Handlungspflicht kann deshalb nach den Regeln der „Pflichtenkollision" auch dann gerechtfertigt sein, wenn der Täter zur Vornahme der von ihm tatsächlich ausgeführten, nur alternativ möglichen Rettungshandlung rechtlich nicht verpflichtet ist. 5. Spezifische Loyalitätspflichten (Garantenpflichten) begründen im Vergleich zu der allgemeinen mitmenschlichen Solidaritätspflicht (§ 323 c StGB) eine qualifizierte Rechtsposition des durch die Garantenpflicht Geschützten gegenüber dem Verpflichteten. Bei der Kollision gleichwertiger Rettungsinteressen geht deshalb das Interesse des Destinatärs einer Garantenpflicht dem kollidierenden Interesse vor. 6. Das Erfordernis des „wesentlichen" Überwiegens des Erhaltungsinteresses beim rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) ergibt sich daraus, daß der aktive Eingriff in fremde Rechtsgüter nicht nur Interessen, sondern auch Rechtspositionen der Betroffenen berührt. Da es in den Fällen der Pflichtenkollision um die Kollision bloßer Rettungsinteressen geht, genügt zur Rechtfertigung der Nichterfüllung einer Rettungspflicht schon ein leichtes Uberwiegen des tatsächlich geretteten Interesses. 7. Bei völliger Gleichwertigkeit der kollidierenden Rettungsinteressen sind die Rechtspositionen der Gefährdeten und die Handlungspflichten der potentiellen Retter alternativ strukturiert. Rechtmäßig verhält sich deshalb (nur) derjenige, der eine der alternativ eröffneten Rettungschancen wahrnimmt. 8. Eine Kollision von Unterlassungspflichten ist möglich. Sie ist insofern analog zu den für die Kollision von Handlungspflichten geltenden Regeln zu behandeln, als für die Rechtfertigung der Tat die Gleichwertigkeit des gewahrten Interesses genügt. 9. Eine Entschuldigung als Folge einer Kollision von Pflichten (die nur als Kollision von Prima-facie-Pflichten möglich ist) kommt nicht in Betracht. In den Fällen der sogenannten entschuldigenden Pflichtenkollision geht es um die Kollision von Maßstäben, anhand derer die Kollision von Rettungschancen in bestimmten Fällen zu beurteilen ist. Mit der Zubilligung eines entschuldigenden Notstands erkennt die Rechtsordnung an, daß neben der von ihr behaupteten deontologischen Position auch eine folgenorientierte (konsequentialistische) Auffassung eine mögliche Basis für die Beurteilung der fraglichen Konfliktfälle bildet.

Wieso ist eigentlich die „eingeschränkte Schuldtheorie" „eingeschränkt" ? — Abschied von einem Meinungsstreit -

JOACHIM HRUSCHKA

Wenn es in der deutschen Strafrechtslehre einen Meinungsstreit gibt, den man mit Fug und Recht einen „etablierten Meinungsstreit" nennen kann, zu dem jeder heutige Strafrechtslehrer Stellung nehmen muß, ob ihm das gefällt oder nicht, dann ist es der zwischen der „Vorsatztheorie" und der „Schuldtheorie" und innerhalb der letzteren zwischen der „strengen" und der „eingeschränkten Schuldtheorie". Die „strenge" und die „eingeschränkte Schuldtheorie" unterscheiden sich bekanntlich durch ihre Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums. Daneben wird regelmäßig noch die „Theorie von den negativen Tatbestandsmerkmalen" erwähnt, bei der es ebenfalls um den Erlaubnistatbestandsirrtum geht - von einer ganzen Reihe anderer einschlägiger Lehren einmal ganz abgesehen.1 Roxin vertritt eine Lehre, die er selbst als „eingeschränkte Schuldtheorie" bezeichnet,2 und auch von der Lehre, die ich vertrete, meint Roxin, sie sei die „eingeschränkte Schuldtheorie".3 Ich habe dieser Kennzeichnung immer kritisch gegenübergestanden. Die Festschrift bietet Anlaß, nicht nur die umstrittenen Fallkonstellationen einer (nochmaligen) Untersuchung zu unterziehen, sondern auch den Meinungsstreit als solchen einmal unter die Lupe zu nehmen.

I. Vorsatz und Bewußtsein der Rechtswidrigkeit in der Geschichte Bei der Kontroverse zwischen der „Schuldtheorie" und der „Vorsatztheorie" geht es bekanntlich um das Verhältnis von Vorsatz und Bewußtsein der Rechtswidrigkeit. Ausgangspunkt ist dabei eine Vorstellung von Vorsatz, die bis ins Römische Recht zurückreicht. „Vorsatz", obwohl eine Parallelbildung zu „propositum", gilt als Übersetzung von „dolus", und „dolus" bedeutet im allgemeinen „dolus malus" - „böser Vorsatz". Zwar mahnt schon Ulpian, man 1 Eine Darstellung bei Roxin Strafrecht AT I, 3 1997, § 14 Rn. 51 ff. Roxin (Fn. 1), § 14 Rn. 62 ff. 3 Roxin (Fn. 1), § 14 Rn. 54 Fn. 70.

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solle statt lediglich von „dolus" besser von „dolus malus" sprechen. 4 Denn es gibt auch einen neutralen dolus, und es gibt die bekannten „guten" Vorsätze. Aber die Juristen der folgenden zweitausend Jahre haben nicht auf Ulpian gehört. Es war schon in der Zeit der römischen Klassiker bequemer, „dolus" zu sagen und „dolus malus" zu meinen. Das prägt dann auch den allgemeinen Sprachgebrauch. Mehr als tausend Jahre später heißt es infolgedessen bei Thomas von Aquin, quod dolus „proprie accipitur in malo, abusive autem in bono." 5 Eigentlich sei der dolus ein dolus malus, und er werde nur mißbräuchlicherweise als „guter" dolus genommen. Dieses Verständnis von „dolus" als dolus malus hat zur Folge, daß das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ein Element des Vorsatzes ist. Es ist sogar das entscheidende Element. Das ist zwar keineswegs immer anerkannt worden, schon von den Römern nicht. „Ignorantia iuris nocet." - „Eine Unkenntnis des Rechts fällt dem Täter zur Last", heißt es in den Digesten. 6 Aber das macht den „dolus malus" zu einer leeren Floskel. Deshalb mußten die Konsequenzen aus dem Begriff irgendwann einmal doch ausdrücklich gezogen werden. Dies tut spätestens die Glosse: „Quaelibet ignorantia etiam juris excusat a dolo." - „Jede Unkenntnis, auch die Unkenntnis des Rechts, schließt den dolus aus." 7 Der Gedanke setzt sich dann wenigstens in der „Theorie" durch. Noch Kant bestimmt die „vorsätzliche Übertretung" als „diejenige, welche mit dem Bewußtsein, daß sie Übertretung sei, verbunden ist." 8 Ob die Strafrechtspraxis dem immer oder auch nur in einer Vielzahl von Fällen gefolgt ist, wollen wir hier lieber dahingestellt sein lassen. Im 19. Jahrhundert wird dieser - römisch-rechtliche - Vorsatzbegriff aufgelöst. Die Gesetzgebung der deutschen Einzelstaaten benutzt einerseits weiterhin den Ausdruck „Vorsatz", sogar den Ausdruck „dolus", andererseits erklärt sie, zunehmend im Laufe des Jahrhunderts, den Verbotsirrtum 9 für irrelevant. 10 Im österreichischen StGB von 1852 (Art. 233) heißt es: „Die Unkenntnis dieses Strafgesetzes kann ... rücksichtlich der in demselben vorkommenden Verbrechen und Übertretungen nicht entschuldigen." Das RStGB von 1871 schweigt über das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, bringt auch keine Definition des Vorsatzes und ermöglicht damit der Rechtsprechung des Reichsgerichts, an der These von der Irrelevanz des Verbotsirrtums festzuhalten. „Es kann nicht gefordert werden, daß der Thäter sich der Rechtswidrigkeit, des Unerlaubtseins seiner Handlung bewußt gewesen sein müsse," urteilt das

D.4.3.1.3. Summa theologica II - II q 55 a 4 ad 1. 6 D.22.6.9.pr.: „Regula est iuris quidem ignorantia cuique nocere, facti vero ignorantiam non nocere." (Paulus). 7 Glosse zu L. plagii criminis accusatio (14.) C. ad legem Fabiam (9.20). 8 Kant Die Metaphysik der Sitten, 179/, Werke Akad.-Ausgabe 6, 224. 9 Ich nehme den Ausdruck „Verbotsirrtum" der Einfachheit halber hier für die ignorantia iuris, obwohl dies natürlich nicht ganz korrekt ist. 10 Vgl. auch Art. 95 Abs. 2 des sächsischen StGB von 1855 und andere ähnliche Vorschriften. 4 5

Wieso ist die „eingeschränkte Schuldtheorie" „eingeschränkt"?

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Reichsgericht schon 1880.11 Unter dieser Voraussetzung aber mußte ein Vorsatzbegriff gesucht werden, der das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit aus seiner Definition ausschließt. Vor allem bedurfte es jetzt einer neuen positiven Begriffsbestimmung. Was ist Vorsatz, wenn er nicht mehr durch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit charakterisiert werden kann? Um es vorwegzunehmen: Das Resultat der Entwicklung ist die heute im Umlauf befindliche Formel, die den Vorsatz als das „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung" bestimmt, 12 wobei „Tatbestandsverwirklichung" die Verwirklichung eines Deliktstatbestandes meint. Die Quelle dieser Formel ist nicht mehr das Römische Recht. Ihre Quellen sind vielmehr Aristoteles und die Aristoteles-Rezeptionen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Nach der Nikomachischen Ethik ist ein Handeln ein eKoücnov (es ist „frei"), wenn die ap-/Ti („der Ursprung") des Handelns im Handelnden selbst liegt und der Handelnde dabei die relevanten Umstände der Handlung kennt. Das Handeln ist ein