Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag am 30. August 1999 9783110891195, 9783110158038

Diese Festschrift ist dem Mainzer Ordinarius für Strafrecht, Prozeßrecht und Kriminologie gewidmet.

192 78 45MB

German Pages 772 [776] Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag am 30. August 1999
 9783110891195, 9783110158038

Table of contents :
Geleitwort
I. Strafverfahren, Gerichtsverfassung und Strafvollzug
Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren
Gefahrgeneigte Arbeit? Das besondere berufliche Risiko des Verteidigers
Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren
Der Wortwechsel
Gedanken zur Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung und zum sog. Opening-Statement des Verteidigers
Zum Schutz der Verteidigung gegen Zugriffe der Strafverfolgungsorgane
Gedanken zur Beziehung von Mandant und Verteidiger
Die Vernehmung des Beschuldigten und der Schutz vor Selbstbeschuldigung im deutschen und anglo-amerikanischen Strafverfahren. Eine entwicklungsgeschichtliche Bilanz
Die Erzwingung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung
Verständigung im Strafverfahren – steht die Diskussion vor dem Abschluß?
Zur Entwicklung des Verhältnisses Staatsanwaltschaft – Polizei
Verdeckte Ermittler, V-Leute
Großer Lauschangriff – Anmerkungen eines Verteidigers zur gesetzlichen Ausgestaltung in der Strafprozeßordnung
Mittelbare Verwertung sog. Zufallserkenntnisse bei rechtmäßiger Telefonüberwachung nach §§ 100 a, b StPO?
Die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Beweisverwertungsverboten als neuer Ausgangspunkt einer Lehre von den Beweisverboten im Strafprozeß
„Abwägungen“ im Recht der Beweisverbote
Die strafprozessualen Beweiswürdigungstheorien des Bundesgerichtshofs
Pragmatismus und Formalismus in der revisions gerichtlichen Rechtsprechung
Über die Befugnis des Revisionsgerichts zur Nachprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung
Pyrrhussiege und Danaergeschenke im strafprozessualen Rechtsmittelsystem. Zu Problemen mit den §§ 331 Abs. 2, 358 Abs. 2 Satz 2 und 357 StPO
Überholende Kausalität bei Verfahrensrügen
Gedanken zum gegenwärtigen Zustand und zur Zukunft der Revision in Strafsachen
Strafprozeßreform in der Volksrepublik China
Feuerbach am Appellationsgericht Bamberg
Zu den Disziplinarmaßnahmen und den Disziplinarverfahren nach dem Strafvollzugsgesetz
II. Strafrecht und Kriminalpolitik
Überlegungen zum Verhältnis von Strafrecht und Strafprozeßrecht
Die Wiederkehr der „Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“ – eine Warnung
Strafrechtliche Bewältigung des SED-Unrechts zwischen Politik, Strafrecht und Verfassungsrecht
Züchtigungsrecht – Erziehungsrecht – strafrechtliche Konsequenzen der Neufassung des § 1631 Abs. 2 BGB
„Laß den Browning mal zu Hause“ oder Die Waffe am Tatort
„Waffen“ und „Werkzeuge“ im reformierten Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs
Überlegungen zu § 111 StGB. § 111 – wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?
Je weniger desto besser. Wie im Jugendstrafrecht kriminologische Torheiten dogmatisch geadelt wurden
Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?
III. Strafrecht und Medizin
Zur Entwicklung des Gesetzes über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz – TPG) vom 5. 11. 1997
Der „Kemptener Fall“ cui bono? – Aus der Sicht eines Arztes
Die Erinnerungslücke nach Affekt und Alkoholisierung als Beweisproblem
Sterbehilfe und Therapieabbruch
IV. Schriftenverzeichnis von Ernst-Walter Hanack
V. Autorenverzeichnis

Citation preview

Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag

Festschrift für ERNST-WALTER Η A N A C K zum 70. Geburtstag am 30. August 1999 herausgegeben von

Claus Roxin Eberhard Wahle

Udo Ebert Peter Rieß

W DE

G 1999

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag am 30. August 1999 / hrsg. von Udo Ebert ... - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 ISBN 3-11-015803-5 © Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, D-49448 Lemförde Druck und Bindung: Kösel GmbH & Co., D-87409 Kempten

Ernst-Walter Hanack zum 30. August 1999 CAMILLA BERTHEAU

BURKHARD JÄHNKE

W E R N E R BEULKE

HEINRICH

MICHAEL BOCK

DANIEL M .

ALEXANDER BÖHM

WILHELM

REINHARD

JUSTUS KRÜMPELMANN

PETER

BÖTTCHER

DANCKERT

KINTZI KRAUSE KREKELER

WILFRIED

KÜPER

KARLHANS DIPPEL

INGRAM LOHBERGER

UDO

KLAUS LÜDERSSEN

EBERT

G E R H A R D FEZER

EGON MÜLLER

J Ü R G E N V. G E R L A C H

HANS-ULLRICH

WALTER

WALTER

GOLLWITZER

KARL HEINZ

GÖSSEL

PETER RIESS

KARL-HEINZ

GROSS

KLAUS ROGALL

RAINER

HAMM

GERHARD JOCHEN

CLAUS ROXIN

HAMMERSTEIN

HEIDEMEIER

GERHARD JOACHIM

HERDEGEN HERRMANN

HANS-DIETER HANS HILGER

PAEFFGEN

PERRON

HIERSCHE

GERHARD

SCHÄFER

HANS CHRISTOPH HANS-LUDWIG EBERHARD GUNTER

SCHAEFER

SCHREIBER

WAHLE

WIDMAIER

Inhalt Geleitwort

IX

I. Strafverfahren, Gerichtsverfassung und Strafvollzug CLAUS ROXIN

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren PETER DANCKERT u n d CAMILLA

BERTHEAU

Gefahrgeneigte Arbeit? Das besondere berufliche Risiko des Verteidigers KARL-HEINZ

39

HAMMERSTEIN

Der Wortwechsel EGON

27

GROSS

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren GERHARD

1

59

MÜLLER

Gedanken zur Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung und zum sog. Opening-Statement des Verteidigers GERHARD

SCHÄFER

Zum Schutz der Verteidigung gegen Zugriffe der Strafverfolgungsorgane EBERHARD

67

77

WAHLE

Gedanken zur Beziehung von Mandant und Verteidiger

105

J Ü R G E N V. G E R L A C H

Die Vernehmung des Beschuldigten und der Schutz vor Selbstbeschuldigung im deutschen und anglo-amerikanischen Strafverfahren. Eine entwicklungsgeschichtliche Bilanz

117

νπι

Inhalt

W A L T E R GOLLWITZER

Die Erzwingung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung

145

H E I N R I C H KINTZI

Verständigung im Strafverfahren - steht die Diskussion vor dem Abschluß?

177

H A N S C H R I S T O P H SCHAEFER

Zur Entwicklung des Verhältnisses Staatsanwaltschaft - Polizei . .

191

HANS HILGER

Verdeckte Ermittler, V-Leute

207

DANIEL M . K R A U S E

Großer Lauschangriff - Anmerkungen eines Verteidigers zur gesetzlichen Ausgestaltung in der Strafprozeßordnung

221

Ingram Lohberger Mittelbare Verwertung sog. Zufallserkenntnisse bei rechtmäßiger Telefonüberwachung nach §§ 100 a, b StPO?

253

K A R L HEINZ GÖSSEL

Die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Beweisverwertungsverboten als neuer Ausgangspunkt einer Lehre von den Beweisverboten im Strafprozeß

277

KLAUS ROGALL

„Abwägungen" im Recht der Beweisverbote

293

G E R H A R D HERDEGEN

Die strafprozessualen Beweiswürdigungstheorien des Bundesgerichtshofs

311

G E R H A R D FEZER

Pragmatismus und Formalismus in der revisions gerichtlichen Rechtsprechung

331

B U R K H A R D JÄHNKE

Uber die Befugnis des Revisionsgerichts zur Nachprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung

355

Inhalt

IX

RAINER HAMM

Pyrrhussiege und Danaergeschenke im strafprozessualen Rechtsmittelsystem. Zu Problemen mit den §§ 331 Abs. 2, 358 Abs. 2 Satz 2 und 357 StPO

369

GUNTER WIDMAIER

Uberholende Kausalität bei Verfahrensrügen

387

PETER RIESS

Gedanken zum gegenwärtigen Zustand und zur Zukunft der Revision in Strafsachen

397

JOACHIM H E R R M A N N

Strafprozeßreform in der Volksrepublik China

423

REINHARD BÖTTCHER

Feuerbach am Appellationsgericht Bamberg

441

ALEXANDER BÖHM

Zu den Disziplinarmaßnahmen und den Disziplinarverfahren nach dem Strafvollzugsgesetz

457

II. Strafrecht und Kriminalpolitik WALTER PERRON

Überlegungen zum Verhältnis von Strafrecht und Strafprozeßrecht

473

K L A U S LÜDERSSEN

Die Wiederkehr der „Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken" - eine Warnung

487

U D O EBERT

Strafrechtliche Bewältigung des SED-Unrechts zwischen Politik, Strafrecht und Verfassungsrecht

501

WERNER BEULKE

Züchtigungsrecht - Erziehungsrecht - strafrechtliche Konsequenzen der Neufassung des § 1631 Abs. 2 BGB

539

JOCHEN HEIDEMEIER

„Laß den Browning mal zu Hause" oder Die Waffe am Tatort . .

553

χ

Inhalt

WILFRIED KÜPER

„Waffen" und „Werkzeuge" im reformierten Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs

569

H A N S - U L L R I C H PAEFFGEN

Überlegungen zu § 111 StGB. § 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

591

M I C H A E L BOCK

Je weniger desto besser. Wie im Jugendstrafrecht kriminologische Torheiten dogmatisch geadelt wurden

625

W I L H E L M KREKELER

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

639

III. Strafrecht und Medizin KARLHANS DIPPEL

Zur Entwicklung des Gesetzes über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz - TPG) vom 5. 11. 1997

665

HANS-DIETER HIERSCHE

Der „Kemptener Fall" cui bono? - Aus der Sicht eines Arztes . .

697

J U S T U S KRÜMPELMANN

Die Erinnerungslücke nach Affekt und Alkoholisierung als Beweisproblem

717

H A N S - L U D W I G SCHREIBER

Sterbehilfe und Therapieabbruch

735

IV. Schriftenverzeichnis von Ernst-Walter Hanack

745

V. Autorenverzeichnis

757

Geleitwort Für die Herausgeber stand bei der Planung dieser Festschrift nicht fest, ob der Empfänger sie zurückweisen, sich mit ihr nolens volens abfinden oder sie vielleicht doch als eine verdiente Würdigung empfinden würde. Erst vorsichtige Nachfragen zu einem Zeitpunkt, als wesentliche Weichen bereits gestellt waren, brachten Klarheit. Es zeigte sich, daß für Emst-Walter Hanack eine Festschrift zu seinem 70. Geburtstag zwar nicht ganz erwartet kommen, aber doch mit ein bißchen Stolz entgegengenommen werden würde. Selbstverständlich war das nicht, denn zu einer charakteristischen Eigenschaft des Jubilars zählt es, sich zurückzunehmen und öffentliche Ehrungen nicht anzustreben, sondern tunlichst zu meiden. Die Selbstdarstellung nach außen ist seine Sache nicht. Herausgeber, Autoren und Verlag hoffen dennoch, Ernst-Walter Hanack mit dieser Festschrift zu seinem 70. Geburtstag eine Ehrung zu erweisen, die ihm Freude bereiten wird, dies nicht zuletzt deshalb, weil der weit über den Bereich der Universitäten hinausreichende Kreis der Mitwirkenden zeigt, daß sein Bestreben, in vielfältiger Form in die Rechtspraxis hineinzuwirken, auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Ernst-Walter Hanack wurde am 30. August 1929 in Kassel als Sohn eines Arztes geboren; mit daraus mag sich erklären, daß medizin- und arztrechtliche Fragen einen der Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit darstellen. Nach dem innerhalb von sechs Semestern abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaft sowie dem Referendar- und Assessorexamen war er in Marburg als Assistent bei Erich Schwinge tätig. 1959 wurde er mit einer Dissertation über die strafrechtliche Beurteilung künstlicher Unfruchtbarmachungen promoviert; 1961 habilitierte er sich dort mit einer Untersuchung über den Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit. In beiden Themen werden bereits Schwerpunkte deutlich, denen Ernst-Walter Hanack in seinem weiteren wissenschaftlichen Wirken verbunden geblieben ist: einerseits dem Medizinrecht, andererseits dem (Straf-)verfahrensrecht, bei dem seine durchaus kritische Einstellung zur gegenwärtigen Entwicklung der Revision in Strafsachen durch die früheren Untersuchungen mitgeprägt sein dürfte. Die Universitätslaufbahn von Ernst-Walter Hanack begann im Wintersemester 1962/63 mit einer Lehrstuhlvertretung in Heidelberg. 1963 übernahm er dort als Ordinarius einen neu gegründeten Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Kriminologie und stand der juristischen Fakultät 1965/66 als Dekan vor. 1970 folgte er als Nachfolger von Peter Noll einem

XII

Geleitwort

Ruf an die Johann-Gutenberg-Universität in Mainz. Ihr ist er bis zu seiner Emeritierung 1997 treu geblieben, obwohl ihn mehrere ehrenvolle Rufe an andere Universitäten erreichten. Während seiner fast dreißigjährigen Tätigkeit in Mainz bekleidete er auch hier wiederholt das Amt des Dekans. Das Werk von Ernst-Walter Hanack macht deutlich, daß er einen erheblicher Teil seiner wissenschaftlichen Aktivitäten einem Bereich zugewandt hat, der der vielfach dem Begriff der universitären Wissenschaft zugeordneten rein theoretischen Behandlung nicht zuzurechnen ist. Strafrechtsdogmatik um ihrer selbst willen, wie sie sich nicht selten etwa im Allgemeinen Teil des Strafrechts zeigt, ist nicht sein Interessenschwerpunkt, obwohl er diese Dogmatik selbstverständlich beherrscht und, wo erforderlich, nutzt. Es geht ihm stärker darum, wie sich die dogmatischen Erkenntnisse in der Rechtswirklichkeit auswirken, wie sie diese beeinflussen können und wie aus der Rechts- und Lebenswirklichkeit heraus das Recht und die Rechtsdogmatik zu entwickeln und zu gestalten sein könnten. Hieraus erklärt sich bei seinen Veröffentlichungen zum materiellen Strafrecht neben der Zuwendung zum Besonderen Teil das Interesse für das Sanktionensystem, namentlich das Maßregelrecht, das er vor allem in seinen ausführlichen Erläuterungen in der 10. und 11. Auflage des Leipziger Kommentars behandelt hat, und der medizinrechtliche Schwerpunkt, der durch die Verleihung der Ernstvon-Bergmann-Plakette durch die deutsche Ärzteschaft 1974 eine besondere Ehrung gefunden hat. Hieraus erklärt sich auch und vor allem eine das gesamte wissenschaftliche Werk prägende Neigung zum Verfahrensrecht, die etwa in der großen Aufsatzserie über die in der Amtlichen Sammlung veröffentlichte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Verfahrensrecht in der Juristen-Zeitung 1971 bis 1974 und in der Mitarbeit in der 24. und 25. Auflage im Großkommentar zur StPO und dem GVG, dem Löwe-Rosenberg, einen sinnfälligen und eindrucksvollen Ausdruck findet. Diese dem Recht und seiner Umsetzung verpflichteten Bemühungen zeigen sich auch in seinen diese Thematik früh behandelnden Arbeiten zur Gerechtigkeit bei der Bestrafung nationalsozialistischen Unrechts. Auf dieser Grundhaltung von Ernst-Walter Hanack beruht auch die aktive Mitwirkung in vielen Gremien, bei denen es um die Umsetzung rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse in der Rechtsanwendung oder für die Rechtssetzung geht. Insoweit ist sein Interesse immer auch ein rechtspolitisch oder besser: rechtsgestaltend geprägtes gewesen. Das zeigt schon sehr früh seine Mitarbeit im Kreise der sog. Alternativprofessoren, zu dessen Gründern er gehört und dessen Entwürfe er in den Jahren 1966 bis 1973 maßgebend mitgestaltet hat. Er ist unter anderem Mitverfasser des Alternativ-Entwurfs zum Allgemeinen Teil (1966), dessen Sanktionensystem die späteren Strafrechtsreformgesetze nachhaltig beeinflußt hat. Ganz die Handschrift des Jubilars trägt der 1968 - parallel zu seinem Juristentagsgutachten - erschienene Alternativentwurf „Sexualdelikte", der die Reform dieses Rechtsge-

Geleitwort

ΧΠΙ

biets entscheidend geprägt hat. Hanack war seinen Kollegen bei all diesen Arbeiten ein wertvoller, ja unentbehrlicher Mitarbeiter, weil sich bei ihm wie bei niemandem sonst reformerischer Elan und kritisch-zögernde Besonnenheit in einer besonders produktiven Balance hielten. Deutlich wird die rechtsgestaltend orientierte Einstellung ferner in seinen Aktivitäten für den Deutschen Juristentag. Von ihm stammt das richtungweisende Gutachten zur Reform des Sexualstrafrechts für den 47 Deutschen Juristentag 1968. Von 1974 bis 1986 gehörte er der Ständigen Deputation an und leitete als Vorsitzender die strafrechtlichen Abteilungen der Juristentage 1978, 1982 und 1986. Seine rechtspolitischen und rechtsgestaltenden Interessen zeigen sich vor allem in seiner langjährigen Teilnahme als ständiger, die Rechtswissenschaft repräsentierender Gast im Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer. Hier hat er als Nachfolger von Eberhard Schmidt erstmals auf der 59. Tagung im Juni 1965 mitgewirkt, und er hat diesem Gremium bis zu seinem selbst gewählten Ausscheiden auf der 168. Tagung im Februar 1998 nicht nur angehört, sondern die Beratungen und Arbeitsergebnisse vielfach maßgebend beeinflußt. So hat etwa Ernst-Walter Hanack mit seinen damaligen Assistenten für die von diesem Ausschuß stammende Denkschrift zur Reform des Rechtsmittel- und Wiederaufnahmerechts aus dem Jahre 1971, wie das Vorwort des damaligen Ausschußvorsitzenden selbst formuliert, die entscheidende Arbeitsleistung erbracht. Der intensive Kontakt mit Verteidigern, aber auch mit Richtern und Staatsanwälten durch seine Tätigkeit bei Fortbildungsveranstaltungen, erfüllte für ihn eine doppelte Aufgabe: Einerseits erstreckte er damit den Universitäten Lehrauftrag auf erfahrene Praktiker, andererseits empfand und nutzte er die dabei gewonnenen Informationen und Anregungen zur Uberprüfung seiner eigenen wissenschaftlichen Positionen. Der rechtspolitische Akzent der Arbeiten von Ernst Walter-Hanack ist in besonderer Weise verbunden mit dem Bemühen, die systematischen Grundlagen nicht aus dem Auge zu verlieren, sondern zu wahren und die Uberlegungen am Gerechtigkeitsgedanken zu orientieren. Ebenso wie in der „reinen Theorie" sieht er in der „reinen Rechtspolitik" nicht seine Aufgabe. Eine kritische Grundhaltung und Skepsis gegenüber vorschnellen Entscheidungen und Festlegungen prägt seine Arbeitsweise. Sie betrifft die Beurteilung fremder Arbeiten, aber auch und vor allem die eigene Position. Nicht selten bezeichnet er Fragen und Probleme als ungeklärt, arbeitet die Zusammenhänge heraus und beschreibt die für die Lösung zu beachtenden Gesichtspunkte. Dabei deutet er die Richtung seiner eigenen Meinung an, läßt aber Raum für weitere Entwicklungen. Extrempositionen zu vertreten oder auch nur gutzuheißen ist seine Art nicht. Er scheut sich nicht, Fehlentwicklungen deutlich als solche zu benennen. Der Stoßseufzer angesichts neuerer Entwicklungen im Strafverfahren auf einer der letzten Tagungen des Straf-

XIV

Geleitwort

rechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, das sei nicht mehr sein Strafprozeß, macht seine Kritik an einer Tendenz deutlich, die sich über Grundstrukturen und rechtsstaatliche Errungenschaften des Straf- und Strafverfahrensrechts unbekümmert hinwegsetzt und das gewachsene Recht mit seinen systematischen Zusammenhängen in zunehmendem Maße im Interesse aktueller Bedürfnisse instrumentalisiert. Ernst-Walter Hanack deshalb als einen konservativen Wisssenschaftler zu bezeichnen, träfe den Sachverhalt allerdings nicht. Schon seine Mitwirkung im Kreis der Alternativprofessoren widerlegt eine solche Vermutung, ganz zu schweigen vom Inhalt seines wissenschaftlichen Werkes. Ihm liegt daran, Abgestorbenes und Veraltetes als solches zu kennzeichnen und zu ersetzen und neue Entwicklungen aufzugreifen und fortzuführen. Es war kein Zufall, daß er die Regelung über die selbständige Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 65 StGB in einer niemals in Kraft getretenen Fassung in der 10. Auflage des Leipziger Kommentars ausführlich erläutert hat, weil, wie er es ausgedrückt hat, eine derartige, zukunftsweisende wenn auch (jedenfalls vorerst) gescheiterte Konzeption einen Anspruch darauf habe, einmal lege artis durchkommentiert zu werden. Diese grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Herausforderungen, Fragen und Entwicklungen ist bei ihm freilich verbunden mit der stets kritischen und sorgfältigen Analyse der Tragfähigkeit und Praxistauglichkeit neuer Gedanken und Konzeptionen, vor allem aber auch ihrer Vereinbarkeit mit systematischen Gesamtzusammenhängen und materiellen Gerechtigkeitsansprüchen. Alle, die an dieser Festschrift mitgewirkt haben, haben dies in der Absicht getan, dadurch Ernst Walter-Hanack für seine vielfachen Verdienste zu danken und ihm für die berufliche und private Zukunft alles Gute zu wünschen. Die Herausgeber danken allen Autoren für ihre Mitarbeit. Besonderen Dank schulden sie Frau Dr. Dorothee Walther vom Verlag de Gruyter für ihre weit über das übliche Maß hinausgehende engagierte und tatkräftige Förderung und Betreuung dieser Festschrift. Jena, Bonn, München und Stuttgart im April 1999

Udo Ebert

Peter Rieß

Claus Roxin

Eberhard Wahle

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechts staatlichen Strafverfahren"' CLAUS

ROXIN

I. Einführung „Nicht nur Wallensteins Bild, auch das Bild der Staatsanwaltschaft schwankt in der Geschichte." Dieser Befund, mit dem ich im vergangenen Herbst einen Festvortrag über die Staatsanwaltschaft eingeleitet habe,1 läßt sich auf die Strafverteidigung übertragen. Nach meiner Lehre2 und sicher auch nach seinem eigenen Selbstverständnis ist der Strafverteidiger „rechtsstaatlicher Garant der Unschuldsvermutung für den Beschuldigten", für Teile der öffentlichen Meinung und selbst für manche Justizperson ist er ein tendenziell eher mit Mißtrauen zu betrachtender Mensch. Bekanntlich hat noch 1987 das OLG Oldenburg 3 gegen die Vorinstanz feststellen müssen, es gebe keinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß Verteidiger ständig strafvereiteln und zu Falschaussagen anstiften. Während also der Verteidiger einerseits als unerschrockener Kämpfer für Justizförmigkeit und Menschenrechte zu einem rechtsstaatlichen Leitbild avanciert, wird er andererseits als Helfer von Straftätern nur mit Geringschätzung toleriert. Diese Ambivalenz des Advokaten- und speziell des Verteidigerbildes zeigt sich noch im nahezu erheiternden Detail. So hat das BVerfG4 bekanntlich die Pflicht des Anwalts zum Tragen einer Amtstracht auf seine RechtsDer nachstehende Text ist die überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Vortrages, den ich am 20. Juni 1997 aus Anlaß des 50jährigen Bestehens des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer in der Redoute in Bad Godesberg gehalten habe. Der Stil des gesprochenen Referates ist beibehalten worden. Doch habe ich nachträglich eine kurze Auseinandersetzung mit Beulke eingefügt, der in seinem beim dritten deutsch-japanischen Strafrechtslehrertreffen in Trier am 14. Oktober 1997 gehaltenen Vortrag über „Strafverteidigung im Spannungsfeld zwischen Rechtsstaatlichkeit und Verfahrenseffizienz" auf mein Godesberger Referat näher eingegangen war. Der noch unveröffentlichte Vortrag Benlkes (im Text als Vortrag zitiert) wird in einem Sammelband über das deutsch-japanische Strafrechtskolloquium veröffentlicht werden. 1 150 Jahre Berliner Staatsanwaltschaft, hrsg. von der Senatsverwaltung für Justiz, Berlin, 1996, 13 = DRiZ 1997, 109. 2 Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., 1998, § 19, Rn. 6ff. 3 OLG Oldenburg StV 1987, 523. 4 BVerfGE 28, 21.

2

Claus Roxin

Stellung als „unabhängiges Organ der Rechtspflege" gestützt und ihm damit die repräsentative Würde (wenn auch natürlich nicht die Rechtsstellung) einer staatlichen Justizperson zugesprochen. Als aber der preußische König Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1713 durch seinen „Mantelerlaß" die Pflicht zum Tragen einer schwarzen Amtstracht einführte, soll er geäußert haben, dies geschehe deswegen, damit man diese „Spitzbuben" schon von weitem erkennen und sich vor ihnen hüten könne. 5 Man kann also die Robe sowohl als Symbol einer rechtsstaatlichen Funktion wie als stigmatisierendes Kennzeichen eines fragwürdigen Berufes deuten. Freilich läßt sich das schwankende Bild des Strafverteidigers leichter zurechtrücken als das des Staatsanwalts. Denn dieser soll auf Grund seiner ihn zur Objektivität verpflichtenden Berufsrolle den Beschuldigten zugleich belasten und entlasten, ihn überführen und doch auch verteidigen. In dieser psychologisch kaum lösbaren Aufgabe ist ein Rollenkonflikt angelegt, der das Doppelgesicht der Staatsanwaltschaft prägt und ihn allzuoft als einseitigen Vertreter staatlicher Verfolgungsinteressen erscheinen läßt. Demgegenüber ist es gerade das nicht ganz lösbare SpannungsVerhältnis, aus dem die Staatsanwaltschaft lebt, das den Verteidiger nötig macht: Er soll einseitig alle dem staatlichen Uberführungsinteresse entgegenstehenden Tatsachen und Rechte für den Beschuldigten geltend machen, hat also eine eindeutige, klare, profilierte und keineswegs gegenläufige Aufgabe. Es sind daher von der juristischen Aufgabenzuweisung unabhängige empirische Gründe, die das Bild des Verteidigers trüben können. Sie liegen zum einen in der Gefahr, daß der Verteidiger sich zu sehr mit seinem Mandanten identifiziert und seinen Weg hart am Rande der Strafvereitelung geht. Dem läßt sich durch eine klare Bestimmung seiner leider vielfach umstrittenen Rechte und Pflichten vorbeugen. Und sie liegen zum anderen darin, daß erhebliche Teile der Öffentlichkeit den Wert der Verteidigung für eine rechtsstaatliche Verfassung unseres Gemeinwesens immer noch nicht hinreichend begriffen haben. Daß man mit Kriminellen kurzen Prozeß und nicht so viele Fisimatenten machen soll und daß der Verteidiger hauptsächlich hinderlichen Sand ins Getriebe einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege streut, ist eine heute noch verbreitete Ansicht. Dem ist die triviale Erkenntnis entgegenzuhalten, daß man die Menschen nicht, wie eine Stammtischmaxime meint, in anständige Bürger und gefährliche Kriminelle mit der Wirkung aufteilen kann, daß gegen die zweite Gruppe im Interesse der ersten ohne viel Federlesen eingeschritten werden muß. Vielmehr ist jedermann, vom Minister über den Vorstandsvorsitzenden bis hin zum gewöhnlichen Autofahrer, Geschäftsmann und Steuerzahler ein potentieller Beschuldigter. Jeder Beschuldigte ist zunächst noch kein Krimineller, sondern er hat die Unschuldsvermutung der Men5

Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, 1905, 310.

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

3

schenrechtskonvention (Art. 6 II) auf seiner Seite und kämpft um seine Rechte und oft um seine bürgerliche Existenz. Daß kein Unschuldiger und auch der Schuldige nur unter Wahrung aller seiner Persönlichkeits- und Verteidigungsrechte verurteilt werde, ist eine für die Rechtskultur eines Landes entscheidende, seine Rechts Staatlichkeit mitkonstituierende, gesetzliche Forderung. Ihrer Durchsetzung dient der Beruf des Strafverteidigers, dessen Idee daher kein Schatten der Zweideutigkeit treffen kann. Wenn ein Verteidiger hinter den berufsethischen Anforderungen seiner Tätigkeit zurückbleibt, so bezeichnet das nur die Differenz von Idee und Erscheinung, die das Leben kennzeichnet; es kann den einzelnen, aber nicht seinen Beruf herabziehen.

II. Bestandsaufnahme Bevor ich mich der prozessualen Stellung des Verteidigers und damit seinen konkreten Rechten und Pflichten und den Möglichkeiten einer Verbesserung seiner Position zuwende, will ich kurz rückblickend skizzieren, wie sich seine Situation im Laufe der Nachkriegszeit entwickelt hat. Man wird dabei zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung und praeter legem stattfindenden prozeßsoziologischen Entwicklungen unterscheiden müssen. 1. Die

Gesetzgebung

Der Gesetzgeber hat in den ersten Nachkriegsjahrzehnten einiges getan, um die Einflußmöglichkeiten des Verteidigers zu verbessern. Den Höhepunkt dieser verteidigungsfreundlichen Entwicklung bildet nach allgemeiner Auffassung die Kleine Strafprozeßreform von 1964.6 Sie hat eine Ausdehnung der notwendigen Verteidigung (§ 140) sowie des Akteneinsichtsrechts (§ 147) und die Garantie des freien mündlichen und schriftlichen Verkehrs mit dem Beschuldigten (§ 148) gebracht. Die Stärkung der Rechtsstellung des Beschuldigten durch die Belehrungspflichten des § 136 und deren Erstreckung auf Staatsanwaltschaft und Polizei (§ 163 a) haben dem Verteidiger große neue Möglichkeiten eröffnet, auch wenn diese, was die Folgen der Nichtbelehrung sowie die Versagung oder Erschwerung der Verteidigerkonsultation betrifft, erst durch die Rechtsprechung der letzten Jahre in vollem Umfang sichtbar geworden sind. 7 Seitdem ist die Entwicklung rückläufig. Zunächst haben Zielsetzungen wie die Bekämpfung des Terrorismus und die Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu Korrekturen auch im Bereich der Verteidigung 6 7

Näher dazu Rieß, Kleinknecht-FS, 1985, 355 ff. Vgl. dazu näher II, 2.

4

Claus Roxin

geführt. Dabei geht es vor allem um die Ausschaltung von Mißbrauchsmöglichkeiten, wie beim Verteidigerausschluß (§§ 138 äff), beim Ausschluß der gemeinschaftlichen Verteidigung (§ 146), der Beschränkung der Verteidigerzahl (§ 137 I 2), leichten Einschränkungen des Verkehrsrechts (§ 148 II) und der erleichterten Zurückweisung unzulässiger Richterablehnungen (§ 26 a). Das geht noch nicht an die Substanz und ist zum Teil auch sogar akzeptabel, weil es in der Tat eine Mißbrauchsgrenze gibt, deren möglichst klare Festlegung zu den Aufgaben des Gesetzgebers gehört. Erst dem Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 war es vorbehalten, mit dem neuen § 257 a, durch den der Verteidiger auf die schriftliche Stellung von Anträgen beschränkt werden kann, und durch die Erleichterung der Ablehnung von Beweisanträgen im beschleunigten Verfahren und im Strafbefehlsverfahren (§§ 420, 411 II 2) auch die unbestritten legitime Verteidigungstätigkeit in ihren forensischen Möglichkeiten zu reduzieren. Wenn Dahss sagt, wir befänden uns „seit 1964 nur noch auf dem Rückweg von einem angedachten liberalen Strafprozeß zu einem die Verteidigung immer härter reglementierenden Verfahrensrecht", so ist das tendenziell nicht unrichtig. Sein Befund wird bestätigt durch den neuesten Bundesratsentwurf eines „Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege" 9 , das Erleichterungen der Zurückweisung von Befangenheitsanträgen, den Abbau von Verfahrensrechten im Beweisrecht und die weitere Einschränkung von Rechtsmitteln vorsieht. Ich komme darauf zurück. Allerdings darf nicht verkannt werden, daß die Errungenschaften des Jahres 1964 im Kern erhalten geblieben und auch nicht gefährdet sind. Zu einem Ausbau der geschaffenen Positionen - etwa bei der notwendigen Verteidigung oder der Akteneinsicht - ist es aber auch nicht gekommen. Uber den vielen Themen des Tages, wie Opferschutz, Zeugenschutz, neuen Fahndungsmethoden, Beschleunigung und Entlastung ist der Verteidiger aus dem legislatorischen Blickfeld gerückt und wird allenfalls noch zum Opfer von Vereinfachungstendenzen. Die neuere Gesetzgebung zum Recht des Verteidigers bietet also ein sehr gemischtes, zunächst freundlich leuchtendes und dann von immer größeren Schatten überlagertes Bild. 2. Die

Rechtsprechung

Die Entwicklung der Rechtsprechung (sowohl des BVerfG wie des BGH) hat eine eher entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Sie hat mit einiger Verspätung gegenüber der Gesetzgebung die Freiheitsräume des Verteidigers und viele seiner Rechte bewahrt und ausgebaut, seine Möglichkeiten zur Einflußnahme auf den Verfahrensablauf, vor allem durch die Integrie8 9

Dahs, Odersky-FS, 1996, 317 ff (320). BT-Drucks. 13/4541. Dazu die Stellungnahme von Frister, StV 1997, 150ff.

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

5

rung der Grundrechte in die Prozeßpraxis erheblich erweitert, ihn aber auch in zunehmendem Maße in eine Helfer-, ja Kontrollaufgabe gegenüber dem Gericht gedrängt, die seine Verfahrensstellung zu verändern droht. Ich will das kurz erläutern. Der BGH hat die Staatsfreiheit der Verteidiger-Mandantenbeziehung erweitert, indem er die Beschlagnahmefreiheit über den Wortlaut des Gesetzes hinaus auf Verteidigungsunterlagen ausgedehnt hat, die sich nicht im Gewahrsam des Verteidigers befinden10, und er hat eine Abhörung von Telefongesprächen zwischen Mandant und Verteidiger unter direktem Rückgriff auf § 148 entgegen dem Wortlaut des § 100 a S. 2 selbst bei bestehendem Konspirationsverdacht verboten. 11 Das BVerfG hat für „schwerwiegende Fälle" einen Pflichtverteidiger auch in der Revisionsinstanz durchgesetzt.12 Die Rechtsprechung hat in vielen Fällen das fair-trial-Prinzip herangezogen, um das Gericht zur Rücksichtnahme auf verspätete oder verhinderte Verteidiger zu veranlassen und ihm eine rechtzeitige Akteneinsicht zu sichern.13 Im Jahre 1994 hat das BVerfG 14 auch im Ermittlungsverfahren über § 147 II hinaus ein zwingendes Akteneinsichtsrecht gewährt, wenn dies erforderlich ist, „um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können". Erst im letzten Jahr hat der BGH schließlich entschieden,15 daß auch der Pflichtverteidiger nur nach Maßgabe der §§ 138 äff abberufen werden kann. Meine - keineswegs vollständige - Aufzählung zeigt eine recht imponierende Bilanz verteidigungsfördernder Entscheidungen. Dem stehen nur wenige Entscheidungen entgegen, die dem Verteidiger mit Mißtrauen begegnen. Dazu gehört die neuere Rechtsprechung, 16 wonach ein Verteidiger wegen Strafvereitelung auch dann soll ausgeschlossen werden können, wenn noch nicht einmal ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet ist. Die Bedenken dagegen werden allerdings dadurch gemildert, daß die Rechtsprechung von der Möglichkeit der Verteidigerausschließung nur selten Gebrauch macht. Ein weites Feld neuer und wirkungsvoller Verteidigungsmöglichkeiten hat sich schließlich dadurch geöffnet, daß die Rechtsprechung der Nachkriegszeit zahlreiche Verfahrensvorschriften für den Fall ihrer Verletzung mit Verwertungsverboten ausgestattet und auch grundrechtliche Positionen (etwa gegen die Verwertung von Tonbändern und Tagebüchern) durch entsprechende Folgen gesichert hat. Es ist nicht möglich, diese Entwicklung

BGH NJW 1973, 2035; 1982, 2508. i' BGHSt 33, 347 BVerfGE 46, 202. Vgl. Roxin, wie Fn. 2, § 11 u. § 19, Rn. 11, 28. " BVerfG N S t Z 1994, 551. 15 BGHSt 42, 94. " Seit BGHSt 36, 133. 12 13

6

Claus Roxin

hier im einzelnen nachzuzeichnen, 17 aber es verdient doch Erwähnung, daß sie erst in den letzten Jahren ihren Höhepunkt erreicht hat. Im Jahre 1992 18 ist nach jahrzehntelangem Meinungsstreit an die unterlassene Belehrung des Beschuldigten über sein Aussageverweigerungsrecht ein wenigstens grundsätzliches Verwertungsverbot geknüpft worden. Wenige Monate später 19 ist die Verwehrung der Verteidigerkonsultation in derselben Weise sanktioniert worden; ja, Anfang 1996 hat der 5. Senat 20 ein Verwertungsverbot sogar für den Fall angenommen, daß die Polizei dem Beschuldigten bei der Herstellung eines Kontakts zu einem Verteidiger nicht in effektiver Weise hilft. Aber es scheint, daß damit der Höhepunkt auch schon überschritten ist und daß die Rechtsprechung auf Grund der Befürchtung, dem Verteidiger und dem Beschuldigten doch vielleicht zu viel gegeben und der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu wenig Rechnung getragen zu haben, vorsichtige Absetzbewegungen unternimmt. Das zeigt sich auf verschiedenen Gebieten. So ist in der Frage der Verteidigerkonsultation der erste Senat dem fünften entgegengetreten, 21 indem er es für zulässig erklärt, den Beschuldigten entgegen dessen ursprünglichen Willen zu einer Aussage ohne vorherige Verteidigerkonsultation zu überreden. Ferner ist die Rechtsprechung dabei, die großen Verteidigungsrechte, die sie dem Beschuldigten durch den Ausbau der Belehrungspflichten und Beweisverwertungsverbote eröffnet hat, durch die Gestattung belehrungsumgehender Hörfallen zum guten Teil wieder einzukassieren. D e r Beschluß des Großen Senats 22 hat hier eine bedenkliche Wende eingeleitet, die wohl nur noch durch das BVerfG wird revidiert werden können. Schließlich - und das ist wahrscheinlich die am weitesten tragende Neuerung - ist der B G H in den letzten Jahren dazu übergegangen, dem Verteidiger, gewissermaßen als Ausgleich für die vielen ihm gewährten Rechte, alle möglichen Pflichten zur Unterstützung des Gerichts in der Hauptverhandlung aufzuerlegen. So soll bei Verstößen gegen §§ 136, 137 die Möglichkeit der Revision verlorengehen, wenn der Verteidiger die Verstöße in der Hauptverhandlung nicht rechtzeitig rügt. 23 Im Ergebnis führt das in vielen Fällen dazu, daß der Verfahrensverstoß trotz eines theoretisch bestehenden Verwertungsverbotes folgenlos bleibt. Es gibt Tendenzen, wonach der Verteidiger bei Gefahr des Revisionsverlustes überhaupt zur Rüge aller erdenklichen in der Hauptverhandlung vorfallenden Verfahrensfehler verpflichtet Näher Roxin, wie Fn. 2, § 24, Rn. 13 ff. BGHSt 38, 214. " BGHSt 38, 372. 20 BGHSt 42, 15. BGHSt 42, 170; näher Roxin, JZ 1997, 343ff. BGHSt 42, 139, 502; näher Roxin, NStZ 1997, 18. « BGHSt 38, 214, 225f; 39, 349, 352; 42, 15, 22f. 17

18

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

7

werden soll. 24 Der Verteidiger soll auch, wenigstens wenn man dem über den Inhalt von B G H S t 38, 111 hinausgreifenden Wortlaut der Entscheidung folgt, den Angeklagten disziplinieren, indem dieser nur noch über den Verteidiger Beweisanträge soll stellen dürfen, wenn der Angeklagte sein Beweisantragsrecht durch dessen exzessive Nutzung mißbraucht. Schließlich gibt es Überlegungen, denen zufolge auch in die Verteidigungsstrategie soll eingegriffen werden dürfen, indem der Verteidiger verpflichtet wird, Beweisanträge im Interesse einer zügigen Abwicklung des Verfahrens möglichst schon vor der Hauptverhandlung zu stellen. 25 Das könnte zwar nur der Gesetzgeber anordnen; es würde aber immerhin auf der Linie der geschilderten Inpflichtnahme des Verteidigers durch die neuere Rechtsprechung liegen. 3. Die Rechtswirklichkeit Ein Wort noch zu einer prozeßsoziologischen Entwicklung, die für die Rolle des Verteidigers große Bedeutung erlangt hat: der Absprachepraxis. Wieweit solche Absprachen zulässig sind, ist bekanntlich auch in der Rechtsprechung des B G H sehr umstritten. Doch hat ein Urteil des 4. Senats vom Sommer 1997 26 der bis dahin unsicheren und schwankenden Rechtsprechung eine praktische und die hergebrachten Prozeßgrundsätze im wesentlichen wahrende Grundlage gegeben. Wie immer man dazu im einzelnen stehen mag: Es wird damit dem Verteidiger eine den Ausgang des Verfahrens mitgestaltende Macht zugesprochen, an die bei Erlaß der StPO niemand hat denken mögen. Hinzu kommt, daß auch das Ermittlungsverfahren durch den 1974 geschaffenen § 153 a dem Verteidiger im Gespräch mit dem Staatsanwalt ähnlich große, wenn nicht größere Möglichkeiten bietet. Als Resümee unserer Bestandsaufnahme läßt sich jedenfalls festhalten, daß zwar die Gesetzgebung den Verteidiger seit 1964 recht stiefmütterlich behandelt und seine Rechte, freilich unter weitgehender Wahrung der Errungenschaften der frühen Nachkriegszeit, eher beschnitten hat, daß aber die Rechtsprechung ihn keineswegs in die Ecke gestellt, sondern seine Freiheitsräume überwiegend ausgeweitet und ihn mit einer Fülle von rechtlichen Möglichkeiten ausgestattet, aber auch mit problematischen Pflichten belastet hat. Die vom B G H bis zu einem gewissen Grade tolerierte Rechtspraxis hat darüber hinaus durch die Zulassung prozeßerledigender Absprachen dem Verteidiger in vielen Prozessen eine zentrale Stellung eingeräumt. " Vgl. etwa Maatz, N S t Z 1992, 513, und dazu Widmaier, N S t Z 1992, 519. 2 5 Vgl. nur Widmaier, N S t Z 1994, 414 in Auseinandersetzung mit dem Gutachten von Gössel zum Juristentag 1994. BGHSt 43, 195.

Claus Roxin

8

Das alles sind hochaktuelle und bedeutsame Entwicklungen. Eine Stellungnahme dazu setzt in vielen Punkten Klarheit über Rechtsstellung und Aufgaben des Verteidigers voraus. Die strittige Problematik der „Verteidigertheorien" läßt sich daher nicht ganz umgehen.

III. Die Rechtsstellung des Strafverteidigers 1. Organtheorie

und

Parteiinteressentheorie

Die Rechtsstellung des Verteidigers ist bekanntlich ein dunkles Kapitel. Wir besitzen aus der Nachkriegszeit zwei Gemeinschaftswerke, die nach jeweils jahrelanger Arbeit die Rechte und Pflichten des Verteidigers in Paragraphen oder durch paragraphenähnliche Thesen zusammenzufassen sich bemüht haben: den Gesetzentwurf des aus acht Professoren bestehenden „Arbeitskreises Strafprozeßreform" von 197927 und die „Thesen zur Strafverteidigung" des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer von 1992. Beide weichen inhaltlich erheblich voneinander ab; keine dieser Arbeiten aber hat sich auf eine bestimmte Verteidigertheorie festlegen mögen. In der Literatur streiten miteinander die auch von der Rechtsprechung vertretene Lehre vom Verteidiger als einem „selbständigen Organ der Rechtspflege" und eine jede Verpflichtung auf die Rechtspflege ablehnende Aufassung, die den Verteidiger als alleinigen Vertreter der Beschuldigteninteressen ansieht. Beide Lehren, die Organtheorie und die Parteiinteressentheorie, die auch noch wieder in verschiedenen Varianten vertreten werden (z.B. als „eingeschränkte" und als „extensive" Organtheorie oder in Form des Autonomieprinzips und der Vertragstheorie als Spielarten der Interessentheorie), 28 finden - auch wenn in der Literatur die Organtheorie durchaus vorherrscht - bei Verteidigern wenig Anerkennung und werden oft in zugespitzter und vereinfachender Argumentation abgelehnt. So lesen wir etwa bei Hamm:29 „Wir wissen alle, daß die sogenannte Organtheorie jene auf ihre Fahnen geschrieben haben, die eine weitgehende Disziplinierung des Strafverteidigers befürworten." Bei Stern, dem Verteidiger und Kommentator,30 heißt es: „Die Organtheorie ist wegen des ihr innewohnenden Bevormundungs- und Kontrollcharakters abzulehnen." Selbst Dabs, der Dazu krit. Hanack, ZStW 93 (1981), 559 ff. Eine ausgezeichnete Ubersicht über diese Lehren, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann, liefert Dornach, Der Strafverteidiger als Mitgarant eines justizförmigen Strafverfahrens, 1994. 29 Hamm, NJW 1993, 289. 30 AK-StPO-Stern, 1992, vor § 137, Rn. 24. 27 28

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

9

sich in seinem „Handbuch" 31 ebenfalls nicht auf eine bestimmte theoretische Konzeption verpflichten will, steht dem Organbegriff skeptisch gegenüber. Andererseits stößt die Parteiinteressentheorie auf das Bedenken, daß der Verteidiger als reiner Exekutor subjektiver Beschuldigtenwünsche dem Mandanten gegenüber seine Selbständigkeit und dem Gericht gegenüber seine Seriosität verlieren würde. So sagt z . B . Beulke:32 „Die Interessenvertretertheorie macht den Verteidiger im Extremfall zum ,Spießgesellen' des Mandanten." Tatsächlich sind beide Theorien, wenn aus ihnen die übersteigerten Konsequenzen gezogen werden, gegen die sich die zitierte Kritik richtet, aus dem Gesetz nicht ableitbar. Die Strafprozeßordnung - und auch ihre Materialien - enthalten keine programmatischen Aussagen zur Rechtsstellung des Verteidigers. Was zunächst die Organtheorie anlangt, kann eine staatliche Inpflichtnahme der Verteidigung, wie sie ihr untergeschoben wird, jedenfalls nicht auf § 1 BRAO gestützt werden.33 Denn erstens kann eine standesrechtliche Vorschrift dieser Art nicht die prozeßrechtliche Stellung des Anwalts präjudizieren; zweitens könnte sie die Rechtsstellung des Hochschullehrers als Strafverteidiger von vornherein nicht regeln; drittens gilt sie auch für den zivilrechtlichen Anwalt, der unbestrittenermaßen reiner Parteiinteressenvertreter ist; und viertens kann man auch aus dem OrganBegriff nicht mehr ableiten, als daß der Anwalt eine Funktion in der Rechtspflege hat, was ja niemand bestreiten wird. Auf ähnlich schwachen gesetzlichen Füßen steht aber auch die Parteiinteressentheorie, wenn man sie so deutet, daß der Verteidiger keine andere Aufgabe hat, als den Beschuldigten bei der Wahrnehmung seiner selbst definierten, höchstpersönlichen Interessen zu vertreten. Denn aus § 140 StPO ergibt sich eindeutig, daß das Gesetz die Strafverteidigung nicht als eine Privatangelegenheit des Beschuldigten ansieht, sondern ihm bei allen schwereren Taten und auch sonst bei allen die Verteidigung erheblich erschwerenden Umständen von Amts wegen einen Verteidiger zur Seite stellt, ob er will oder nicht. Wenn es aber in den gravierenden Fällen gar nicht darauf ankommt, ob der Beschuldigte an einem Verteidiger interessiert ist oder nicht, kann dieser nicht ausschließlich im subjektiven Interesse des Beschuldigten da sein. Und er kann bei Wahrnehmung seiner Verteidigungsaufgaben auch nicht ausschließlich an den Willen und die Instruktionen des Beschuldigten gebunden sein. Welp, der entschiedenste Befürworter der Beschuldigtenautonomie in der Wissenschaft, sagt ganz richtig,34 daß es ein Widerspruch wäre, dem Beschuldigten „zwar einen Pflichtverteidiger aufzunötigen, desDahs, Handbuch des Strafverteidigers, 5. Aufl., 1983, Vorwort S. VII und S. 12f. Beulke, Strafprozeßrecht, 3. Aufl., 1998, Rn. 151. 33 Näher zum Ganzen: Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, 1979, 3 7 ; Dornach, wie Fn. 28, 41 ff. 3 " Welp, ZStW 90 (1978), 822. 31 32

10

Claus Roxin

sen Tätigkeit inhaltlich jedoch an seinen Willen zu binden. Und mithin kann auch für den Wahlverteidiger nichts anderes gelten. Beide handeln somit eigenverantwortlich und haben bei Meinungsverschiedenheiten ihrer eigenen Einsicht zu folgen." 2. Die Herleitung der Verteidigerstellung aus dem Regelungsprogramm der Strafprozeßordnung Damit wird auch schon der Weg erkennbar, den man einschlagen muß, wenn man verbindliche Aussagen über die Verteidigerstellung machen will. Man darf nicht von vorgefaßten „Theorien" ausgehen, die, wie die „Inpflichtnahmetheorie" und die „subjektive Parteiinteressentheorie", im Gesetz keine hinreichende Stütze finden, sondern man muß die gesetzlichen Regelungen anschauen und aus ihnen ein legislatorisches Leitbild des Verteidigers gewinnen. 35 Dann zeigt sich, daß der Gesetzgeber dem Beschuldigten, wo immer es ihm nötig erscheint, einen Verteidiger zur Seite stellt, der alle zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen und alle ihm gewährten Rechte in bestmöglicher Weise zur Gehung bringen soll. Er hat damit als zur Einseitigkeit verpflichteter Vertreter der gesetzlich anerkannten Verteidigungsinteressen des Beschuldigten eine Verfahrensfunktion, die weder der Staatsanwalt noch der Richter noch der Beschuldigte selbst erfüllen können. Der Staatsanwalt kann es nicht, weil er bei Erfüllung seiner theoretisch bestehenden Entlastungsaufgabe durch seine gleichzeitige Belastungs- und Uberführungspflicht weitgehend paralysiert wird; der Richter kann es nicht, weil seine Stellung eine parteiliche Interessenwahrnehmung ausschließt; und der Beschuldigte selbst kann es nicht, weil er nicht die Rechtskenntnisse, nicht die nötige juristisch-praktische Erfahrung und wegen verschiedenster Autonomiedefizite in der Regel auch nicht die tatsächliche Möglichkeit hat, sich selbst in angemessener Weise zu verteidigen. Der Verteidiger soll also zugunsten des Beschuldigten eine weitergehende Waffengleichheit herstellen, als sie durch die übrigen Verfahrensbeteiligten gewährleistet werden kann. In der Hilfe, die die Rechtsordnung dem Schwachen zur Verfügung stellt und ggf. auch aufnötigt, manifestiert sich ein stark so35 Ich treffe mich hier im Ansatz mit der Methode, die Beulke seinem Buch „Der Verteidiger im Strafverfahren", 1980, zugrunde gelegt hat. Natürlich hat die aus der StPO zu gewinnende prozessuale Konzeption ihr verfassungsrechtliches Fundament im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Anders als Gössel, ZStW 94 (1982), 5ff, und Hamm, NJW 1993, 289ff, meinen, bedarf es aber nicht des Rückgriffs auf die Verfassung, weil schon der Strafprozeßordnung eine rechtsstaatliche Verteidigungskonzeption in konkreterer Form zu entnehmen ist. Ähnliches gilt für die von Hamm außerdem beigezogene Menschenrechtskonvention, deren Unschuldsvermutung (Art. 6 II MRK) aber immerhin die Positivierung eines Prinzips darstellt, das auch der StPO zugrunde liegt. Vgl. zu diesen verfassungsrechtlichen Verteidigertheorien auch Dörnach, wie Fn. 28, S. 125ff, 135ff.

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

11

zialstaatliches Element mit sogar paternalistischen Zügen, womit die These der Unvereinbarkeit von Rechts- und Sozialstaat einmal mehr widerlegt wird. 3. Der Verteidiger als Organ der Rechtspflege im ausschließlichen der gesetzlich zulässigen Beschuldigteninteressen

Dienst

Daraus folgt, daß der Verteidiger einerseits eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, indem er auf der Tatseite die Unschuldsvermutung (und ggf. auch alle zugunsten des Schuldigen sprechenden Tatsachen) zur Geltung bringt und in rechtlicher Hinsicht die Justizförmigkeit des Verfahrens überwacht und garantiert. An beidem hat der Staat ein Interesse, wenn er als Rechtsstaat anerkannt werden will; und diesem Interesse dient der Verteidiger. Er dient damit in einer Art von prästabilisierter Harmonie aber zugleich und ausschließlich dem Beschuldigteninteresse, insoweit dieses darauf gerichtet ist, so gut wie möglich verteidigt zu werden. Man kann, wenn man an die geläufigen Termini anknüpfen will, sagen, der Verteidiger sei zur ausschließlichen Geltendmachung der gesetzlich legitimen Verteidigungsinteressen des Beschuldigten berufen und in dieser Funktion Organ der Rechtspflege, 36 wodurch dann der Gegensatz der Theorien in einer höheren Synthese aufgehoben würde. Der schon aus dem 19. Jahrhundert stammende Organbegriff wird dann nicht aus § 1 BRAO übernommen, sondern bezeichnet nur die prozessuale Funktion des Verteidigers, die sich aus der Strafprozeßordnung ergibt und einer an den legitimen Verteidigungsbelangen orientierten Parteiinteressentheorie keineswegs widerspricht. Diese inhaltliche Konvergenz setzt allerdings voraus, daß man die Organtheorie von der Inpflichtnahmetheorie und die Parteiinteressentheorie vom Gedanken der Wahrnehmung auch verfahrensfremder Intentionen des Beschuldigten befreit. Es bedarf der Erläuterung, was daraus für die Stellung des Verteidigers gegenüber dem Gericht wie gegenüber dem Mandanten abzuleiten ist. a) Die Stellung des Verteidigers gegenüber dem Gericht Der Verteidiger darf viererlei nicht: sabotieren, obstruieren, Beweismittel verfälschen und lügen. Es ist leicht zu sehen, daß solche Verhaltensweisen durch die Aufgabe des Verteidigers von vornherein nicht gedeckt sind. Wer das Verfahren sabotiert, indem er etwa dem Beschuldigten zur Flucht verhilft, bringt weder entlastende Tatsachen vor, noch macht er Rechte des Beschuldigten geltend. Wer Beweisanträge „zum Zweck der Prozeßverschleppung" stellt (§ 244 III 2) oder mit Ablehnungsanträgen „offensichtlich das 36

Ähnlich Vehling, StV 1992, 86 f.

12

Claus Roxin

Verfahren nur verschleppt oder nur verfahrensfremde Zwecke verfolgt" (§ 26 a I Nr. 3), kann sich bei solcher Obstruktion auf die Geltendmachung von Beweisantrags- und Ablehnungsrechten nicht mehr berufen; denn jedes Recht wird nach einem überall gültigen Prinzip nur bis zur Mißbrauchsgrenze gewährt. 37 Wer Zeugenaussagen oder Urkunden präsentiert, deren Unrichtigkeit ihm bekannt ist, handelt außerhalb der Aufgaben, die er wahrzunehmen hat. Alle diese Schranken folgen nicht erst aus den prozessualen Vorschriften der §§ 244 III 2, 26 a I Nr. 3, 138 äff oder aus der Strafbarkeit nach §§ 153 ff, 267 StGB. Diese Vorschriften sind vielmehr nur der konkretisierende Ausdruck der immanenten Grenzen, die dem Verteidiger durch seine Funktion gezogen sind. Das gilt auch für die noch immer nicht unstrittige Wahrheitspflicht des Verteidigers.38 Mit einer Lüge werden keine entlastenden Tatsachen und auch keine Rechte geltend gemacht. 39 Zwar wird die vermeintliche Lügebefugnis des Verteidigers immer wieder darauf gestützt, daß der Beschuldigte ein Recht zum Lügen habe, das folglich auch der Verteidiger als sein Interessenvertreter müsse geltend machen dürfen. Aber der Beschuldigte hat kein solches Recht; das nur auf seine Person zugeschnittene Selbstbegünstigungsprivileg, das ihm zur Straflosigkeit verhilft, liegt auf der Ebene strafausschließender (in diesem Fall zur Tatbestandslosigkeit führender) Exkulpation, nicht der Rechtfertigung. Andernfalls müßte er nach § 136 darüber belehrt werden, daß er auch lügen dürfe, 40 was wohl noch niemand befürwortet hat. Auch hat noch niemand aus dem Umstand, daß der Beschuldigte straflos fliehen darf, die Zulässigkeit einer Fluchthilfe durch den Ver-

3 7 Zur neuerdings lebhaft wieder aufgeflammten Mißbrauchsdiskussion vgl. nur die Nachweise bei Roxin, wie Fn. 2, § 19, Rn. 9 f. 3 8 Aus neuerer Zeit grundlegend Bottke, Z S t W 96 (1984), 726 f. Für ein Recht auf Lüge Ostendorf, NJW 1978, 1349 (allerdings ohne das Recht, „aus eigenem Antrieb selbst unwahre Tatsachen einzuführen"); Strzyz, Die Abgrenzung von Strafverteidigung und Strafvereitelung, 1983, 267ff; Fezer; Stree/Wessels-FS, 1993, 663ff, hält die Anstiftung zur Lüge durch den Verteidiger für straflos. Dagegen hat Kühne, Strafprozeßlehre, 4. Aufl., 1993, Rn. 91.1 die in den Vorauflagen vertretene Lehre, wonach der Verteidiger den Mandanten zum Lügen auffordern darf, aufgegeben. Zu den neueren Auffassungen von Lüderssen und AK-Stern vgl. den folgenden Text. 59 Beulke (Vortrag, S. 8) meint, das den Verteidiger treffende Lügeverbot, dem er in der Sache vollkommen zustimmt, ließe sich mit meiner Konzeption nicht begründen. „Wenn er seinem Mandanten möglichst effektiv helfen soll, kann es doch nicht von vornherein mißbräuchlich sein, wenn er dieselben Handlungsmöglichkeiten für sich einfordert wie für seinen Mandanten. Für die Differenzierung zwischen Beschuldigtem und Verteidiger bedarf es m . E . dafür eben doch der zusätzlichen Inpflichtnahme durch die Organstellung." Wenn ich aber die Befugnisse des Verteidigers auf die Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte beschränke, begründet eine aus dem Selbstbegünstigungsprivileg folgende Sanktionslosigkeit gerade kein Recht des Beschuldigten und erst recht nicht des Verteidigers, so daß sich das für diesen geltende Lügeverbot aus meiner Konzeption zwingend ergibt. 40

Bottke, Z S t W 96 (1984), 758.

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

13

teidiger gefolgert. Auf einem anderen Blatt steht es, daß der Verteidiger den Beschuldigten über die Straflosigkeit wahrheitswidrigen Leugnens stimulationsneutral informieren und daß er dessen etwaige Lügen nicht aufdecken darf. Aber das folgt aus seiner Pflicht zur rechtlichen Beratung und zur Verschwiegenheit, also aus seinem noch zu erörternden Verhältnis zum Mandanten, und bezeichnet nur die Grenzen der Wahrheitspflicht, nicht deren Fehlen. Dies alles liegt auf der Linie der vom Strafrechtsausschuß verabschiedeten „Thesen zur Strafverteidigung" (1992, 19-21) und stimmt im Ergebnis auch mit Beulke41 überein, der dem Verteidiger verbieten will, den Kernbereich der Effektivität der Strafrechtspflege anzutasten. Es ist im Grunde ja selbstverständlich, daß ein gesetzgeberisches Prozeßprogramm nicht die Blockierung und Ineffektivierung des Verfahrens enthalten kann. Ernstlich kann dies alles denn auch von den Anhängern einer mehr an den selbstdefinierten Zielen des Beschuldigten orientierten Parteiinteressentheorie nicht bestritten werden mit dem Unterschied, daß sie solche Grenzen nicht primär aus der Aufgabe des Verteidigers selbst, sondern aus den positiven Regeln des Straf- und Strafprozeßrechts ableiten. Inhaltliche Unterschiede ergeben sich fast nur im Bereich der Verteidigerlüge. So will Liiderssen42 eine Mitwirkung des Verteidigers (auch als Mittäter) an den Lügen des Beschuldigten straflos lassen, die alleintäterschaftliche Lüge aber als Strafvereitelung bestrafen. Stern43 will den Rat des Verteidigers zur Lüge straflos lassen, eine „über ein Vorschlagen oder Anregen hinausgehende intensive Einwirkung auf den Beschuldigten" im Sinne lügenhafter Einlassungen aber auch nicht gestatten. Beides schafft kaum lösbare Abgrenzungsprobleme und liegt abgesehen von seiner rechtlichen Bedenklichkeit auch nicht im Interesse einer effektiven Verteidigung. Denn diese beruht zum guten Teil auf der Vertrauenswürdigkeit des Anwaltes, die irreparablen Schaden leiden würde, wenn das Gericht seine Worte grundsätzlich und quasi von Rechts wegen als zweckbedingte Lügen betrachten dürfte. Die Seriosität und Professionalität der Verteidigung, die der Strafrechtsausschuß im Anschluß an Hanack auf seine Fahnen geschrieben hat44 und die in der Tat das Leitbild des Verteidigers vom Zerrbild des rechtsverdrehenden Winkeladvokaten abhebt, läßt sich nur durch die Anerkennung der geschilderten Grenzen sichern. 45 Beulke, wie Fn. 35, S. 88ff. LR»-Lüderssen, § 137, Rn. 141. 4 5 AK-StPO-Stem, 1992, vor § 137, Rn. 78. 44 Thesen zur Strafverteidigung, 1992, 2. 45 Hanack, ZStW 93 (1981), 564 sagt denn auch über eine ausschließlich auf die subjektiven Interessen des Beschuldigten verpflichtete Verteidigerkonzeption: „Ich hege keine Zweifel, daß sie einen katastrophalen Rückschritt in der historischen Entwicklung bedeuten" würde. 41

42

14

Claus Roxin

Mit einer Inpflichtnahme des Verteidigers - und damit unterscheide ich mich von Beulke46 - hat eine solche Grenzziehung nichts zu tun. Sie umreißt nur das Ausmaß seiner Aufgabe: Er soll die Verteidigungsinteressen des Beschuldigten zur Geltung bringen, nicht aber jenseits seines legitimen Kampfes für Unschuldsvermutung und Justizförmigkeit das Verfahren inhibieren. Eine Inpflichtnahme ist nicht schon gegeben, wenn man dem Verteidiger sagt, was er als außerhalb seiner Aufgaben liegend nicht tun darf. Sie beginnt erst dort, wo der Verteidiger zu aktiven Handlungen verpflichtet wird, die zwar dem Gericht und der Abwicklung des Verfahrens nützlich sind, mit den Verteidigungsinteressen des Beschuldigten aber nichts zu tun haben. Wenn man vom Verteidiger z.B. verlangt, bei der Rekonstruktion im Gericht verlorener Akten mitzuwirken, 47 das Gericht bei Gefahr des Rügeverlustes auf alle möglichen Verfahrensfehler hinzuweisen, Beweisanträge im Interesse der Verfahrensbeschleunigung frühzeitig zu stellen usw., dann sind das Verpflichtungen, die über die Wahrung der Beschuldigteninteressen hinausgehen. Sie lassen sich, wie schon dargelegt, aus der Strafprozeßordnung nicht ableiten und auch keinem Organbegriff entnehmen. Denn dieser hat keinen über die StPO hinausreichenden Verpflichtungsgehalt.48 Beulke hat zu der hier vorgetragenen Konzeption inzwischen Stellung genommen und seine „Inpflichtnahmetheorie" verteidigt. Er meint, 49 die von mir vorgenommene „psychologische Entlastung der Organtheorie - sie soll sozusagen den Geruch der Staatsnähe verlieren", sei „letztendlich ... nicht... überzeugend." „Zwar ergibt sich dadurch vielleicht wirklich der erhoffte Vorteil, daß die Organtheorie selbst weniger mißbrauchsanfällig ist, das wird man aber von den allgemeinen Mißbrauchsschranken dann um so weniger sagen können." Kurz: Er fürchtet einen Mißbrauch des Mißbrauchsprinzips, das er für zu unbestimmt hält. Freilich kann man jedes Recht mißbrauchen, und es wäre sicher ein Mißbrauch, wenn man mit Hilfe des Mißbrauchsprinzips dem Verteidiger die aus seiner Beistandsfunktion folgenden legitimen Rechte beschneiden wollte. Aber aus der von mir entwickelten Konzeption ergibt sich prinzipiell - Abgrenzungsprobleme im Detail gibt es überall - , welche Aufgaben der Verteidiger hat und wo sie enden. Es besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung über die Rechte der Verteidigung sorgfältig wachen wird, wie sie es hinsichtlich des Beweisantragsrechtes und bei der Auslegung positivierter Mißbrauchsklauseln (etwa der Verschleppungsabsicht in § 244 III StPO) stets getan hat. Wenn demgegenüber Beulke den Verteidiger zugunsten der Rechtsplege insoweit in Pflicht nehmen will, als er ihm Verhaltensweisen untersagt, „die Beulke, wie Fn. 35, 88: „Theorie der besonderen Inpflichtnahme". Dagegen Waldowski, N S t Z 1984, 448; Mehle, Peters-FG II, 1984, 201; dafür NStZ 1983, 446. 48 Ganz ähnlich der Grundtenor des Buches von Dornach, wie Fn. 28. 49 Beulke, hier und die beiden folgenden Zitate: Vortrag, S. 7. 46

47

Rösmann,

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

15

den Kernbereich der Effektivität der Rechtspflege beeinträchtigen können", 50 so ist das unbestimmter als eine aus den Verteidigungsaufgaben hergeleitete und durch sie zu konkretisierende Grenzziehung. Er sagt selbst: „Den gegen meine Lösung erhobenen Vorwurf zu großer Unbestimmtheit kann ich nicht entkräften", und in der Tat kann man sich unter einem „Kernbereich der Effektivität" je nach Interessenlage sehr Unterschiedliches vorstellen. Daß er im Grunde dasselbe meint wie ich, ergibt sich aus seiner abschließenden Umschreibung, 51 wonach seine einschränkende Organtheorie, „den Kernbereich der Effektivität der Rechtspflege berücksichtigen müsse, dies aber nur insoweit, als von ihm negativ52 verlangt wird, nicht zu weit zu gehen, d. h. seine Rechte nicht zu mißbrauchen". Das ist - unter eigener Verwendung des Mißbrauchsprinzips! - eben das, was ich sage, und was er vorher zu Unrecht kritisiert hat. Ebenso deutlich zeigt sich, daß das Verbot, zu weit zu gehen, gerade keine Inpflichtnahme, sondern eine Grenzziehung ist. b) Die Stellung des Verteidigers gegenüber dem Mandanten Eine optimale Verteidigung ist nur möglich auf der Basis einer Vertrauensbeziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem. Der Gesetzgeber trägt dem dadurch Rechnung, daß er dem Beschuldigten den Verteidiger seiner Wahl gibt, und zwar in der Regel selbst im Falle einer Pflichtverteidigerbestellung (§ 142 I 2,3). Daß die Verteidiger-Mandantenbeziehung vom Gesetzgeber auf wechselseitiges Vertrauen und einvernehmliche Kooperation angelegt ist, läßt sich der gesetzlichen Regelung, wie gleich zu zeigen ist, auch sonst entnehmen. Unbeschadet dessen sind Verteidiger und Beschuldigter voneinander unabhängig. Das trifft zunächst auf den Verteidiger zu: Erstens hat es, wie gesagt, keinen Sinn, dem Beschuldigten ggf. gegen seinen Willen einen Verteidiger zu geben und diesen dann doch an dessen Willen zu binden; und zweitens würde ein wesentlicher Zweck der Verteidigung, die fehlenden rechtlichen Kenntnisse und Erfahrungen des Beschuldigten durch einen juristisch ausgebildeten, forensisch kundigen Beistand zu kompensieren, vereitelt, wenn der Beschuldigte dem Anwalt eine völlig dilettantische Verteidigungskonzeption aufzwingen könnte. Auch ist es dem Verteidiger natürlich verboten, verfahrensfremde Zwecke, etwa den Verurteilungswunsch eines in Wahrheit unschuldigen Mandanten, zu fördern. 53

Beulke, hier und das folgende Zitat: Vortrag, S. 9. Beulke, Vortrag S. 12. 52 Hervorhebung von Beulke. 53 Teilweise abw. Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger ..., 1984, 374 ff; krit. dazu Domach, wie Fn. 28, 128 ff. 50 51

16

Claus Roxin

Auf der anderen Seite muß man sehen, daß der Verteidiger im Regelfall eine bestimmte Art der Verteidigung gegen den dezidierten Willen des Beschuldigten ebenfalls nicht durchsetzen kann. Denn auch der Beschuldigte hat eine gegenüber dem Verteidiger selbständige Verfahrensrolle. Er kann daher eine ihm absolut widerstrebende Verteidigungskonzeption durch eigene Beweisanträge, Einlassungen und selbst Proteste zerstören. Sind die Auffassungen über den einzuschlagenden Weg der Verteidigung unvereinbar, so bleibt nichts als die Niederlegung des Mandats. Das alles entnehme ich der Strafprozeßordnung; es entspricht dem Leitbild einer an den legitimen Verteidigungsinteressen des Beschuldigten orientierten Organtheorie. Zwar will die Parteiinteressentheorie, namentlich in der Variante der Vertragstheorie, den Verteidiger theoretisch einseitig an den subjektiven Willen des Mandanten binden. Lüderssen54 nimmt z.B. im Falle der aufgenötigten Verteidigung einen Kontrahierungszwang an, um die Vertragstheorie zu retten: Aber wer zum Abschluß eines Vertrages zwingen kann, kann auch seinen Inhalt und die Grenzen der Privatautonomie festlegen, womit dann die vertragliche Bindung an die subjektiven Mandantenwünsche schon wieder beseitigt ist. Ein reines Vertragskonzept ist auch praktisch nicht durchführbar. So will auch Lüderssen55 den „Versuch des Mandanten, eine für ihn gleichsam mörderische Strategie dem Verteidiger aufzudrängen", an § 138 BGB scheitern lassen, wie er überhaupt „den engeren Kern des Standesrechts" in die Vertragsbeziehung hineinholt und dadurch dem Verteidiger seine Selbständigkeit in erheblichem Grade zurückgibt. Stern5b will dem Mandanten ein Vetorecht gegen den Verteidiger geben, hält aber Ausnahmen bei „stark verminderter Handlungs- und Beurteilungsautonomie" des Beschuldigten für diskutabel. Wesentliche Änderungen gegenüber dem aus dem Gesetz ohne weiteres ersichtlichen Kooperationsmodell ergeben sich auch daraus nicht. Ich fasse zusammen: Ein Verteidiger ist ein Mensch, der in Ausübung eines freien Berufes der Rechtspflege durch die ausschließliche Wahrnehmung der legitimen Verteidigungsinteressen des Beschuldigten dient. Der Verteidiger ist bei Erfüllung seiner Aufgabe vom Beschuldigten unabhängig wie dieser von ihm; doch ist er für eine erfolgreiche Verteidigung auf Vertrauen und Konsens angewiesen. Diese Auffassung ähnelt der von Beulke begründeten und von seinem Schüler Dornach weiter entwickelten sog. eingeschränkten Organtheorie. Doch würde ich lieber von einer an die gesetzlich zugelassenen Parteiinteressen gebundenen Organtheorie sprechen, um deutlich zu machen, daß der Gegensatz von Organ- und Interessentheorie bei richtiger Deutung gar nicht besteht. Absetzen muß sich diese Konzepts* L R L ü d e r s s e n , vor § 137, Rn. 63. 55 l.K2A-Lüderssen, vor § 137, Rn. 38. 56 AK-StPO-Stern, vor § 137, Rn. 52, 54.

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

17

tion nur von den Extremen, die nach beiden Richtungen möglich sind. Die Organtheorie kann umschlagen in eine Inpflichtnahmetheorie, die den Verteidiger als Gehilfen bei den gerichtlichen Aufgaben der Gestaltung und Beschleunigung des Verfahrens heranzieht. Und die Interessentheorie, die den Verteidiger mit Recht auf eine Tätigkeit für den Beschuldigten beschränkt, läßt sich radikalisieren, indem man auf die selbst definierten anstatt die objektiv zulässigen Interessen des Beschuldigten abhebt. Beide Extreme sind gleichermaßen abzulehnen.

IV. Aktuelle Folgerungen Auf dem Hintergrund des geschilderten Verständnisses von der Rolle des Verteidigers lassen sich vielerlei Folgerungen für das gegenwärtige und künftige Recht der Verteidigung ziehen. Doch kann dies nur noch in knapper und exemplarischer Form geschehen. I. Zur Situation

der

Gesetzgebung

Der Abbau der Verteidigungsrechte in der neueren Gesetzgebung hat mit dem Bundesratsentwurf eines zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege 57 seinen bisherigen Höhepunkt erreicht. Ich kann nur einige Punkte herausgreifen und muß im übrigen auf die durchschlagende Kritik des Entwurfs durch Frister58 verweisen. Wenn nach diesem Entwurf Befangenheitsanträge schon vor der Hauptverhandlung und schriftlich gestellt werden sollen, wird das Prinzip der Öffentlichkeit nachhaltig beeinträchtigt (Art. 2 Nr. 1, 2). Wenn weiter „offensichtlich unbegründete" Befangenheitsanträge unter Mitwirkung des abgelehnten Richters - und ggf. von ihm allein - sollen zurückgewiesen werden können (Art. 2 Nr. 3), so verstößt eine solche Entscheidung in eigener Sache nicht nur gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2 GG), der einen unbefangenen Richter garantiert. Der Entwurfsgesetzgeber überschreitet mit dem von ihm selbst angegebenen Ziel, auf diese Weise „prozessuale(n) Mißbrauch jenseits einer offensichtlichen Verfahrensverschleppung oder Verfolgung verfahrensfremder Zwecke" verhindern zu wollen, die Grenze, die seinem Beschleunigungsbemühen durch die Verfahrensstellung des Verteidigers gezogen wird. Die Verfolgung verfahrensfremder Zwecke und die offensichtliche Prozeßverschleppung liegen außerhalb der Aufgaben des Verteidigers und dürfen vom Gesetzgeber unterbunden werden. Eine Richterablehnung, die diese Zwecke nicht verfolgt und trotzdem mißbräuchlich ist, kann es nicht geBT-Drucks. 13/4541. ss Frister, StV 1997, 150 ff. 57

18

Claus R o x i n

ben; 59 ob ein Antrag offensichtlich unbegründet ist, kann nicht der davon Betroffene beurteilen. Hier werden also wesentliche Rechte der Verteidigung unterminiert, und auch die Berufung der Entwurfsverfasser auf das Vorbild des § 349 II bietet keinen Trost. Denn es ist bekannt, daß gerade von dieser schon an sich bedenklichen Vorschrift in weit übertriebenem Maße Gebrauch gemacht wird. 60 Ahnlich bedenklich ist die vorgesehene Erleichterung der Ablehnung von Beweisanträgen, indem z.B. die Feststellung einer Prozeßverschleppungsabsicht der unüberprüfbaren „freien Würdigung des Gerichts" unterstellt werden soll (Art. 2 Nr. 24). Denn die Revisionsgerichte haben nicht ohne Grund strenge Anforderungen an deren Nachweis gestellt; ihre drastische Lockerung bereitet den Weg für die allgemeine Zulassung antizipierter Beweiswürdigungen. Daß schließlich die geplante Einschränkung von Rechtsmitteln (vor allem durch die Ausweitung der Annahmeberufung) die Verteidigungsmöglichkeiten beträchtlich reduziert, braucht kaum betont zu werden. 61 Alle diese Vorschläge gehören in den Orkus. 62 Sie mindern nicht nur die Möglichkeiten optimaler Verteidigung, sondern sie reduzieren die Justizförmigkeit unseres Strafprozesses im ganzen. Die angeblichen Notwendigkeiten rascherer Prozeßerledigung rechtfertigen keinen Abbau von Verfahrensrechten. Denn erstens läßt sich eine nennenswerte Steigerung des Geschäftsanfalls und der Verfahrensdauer bei den Strafgerichten überhaupt nicht feststellen; 63 und zweitens ist eine rechtsstaatliche Verschlechterung des Strafverfahrens auch keine geeignete Methode zur Beseitigung von Engpässen. Statt dessen sollte der Gesetzgeber das Streben nach kurzatmiger und meist ertragloser Krisenbewältigung aufgeben und die rechtsstaatlichen und gleichwohl effektiven Reformen der ersten Nachkriegsjahrzehnte wieder aufnehmen. Für die Verteidigung ist besonders die Stärkung ihrer Verfahrensstellung im Ermittlungsverfahren zu fordern. Hier werden meist die Weichen für den Ausgang des Verfahrens gestellt; eine einflußreichere Mitwirkung der Verteidigung in diesem Verfahrensabschnitt könnte manche Hauptverhandlung überflüssig machen und so eine Verfahrensbeschleunigung durch den Aus- und nicht durch den Abbau rechtsstaatlicher Verteidigungsmöglichkeiten bewirken. Ich kann nur noch stichwortartig aufzählen, was zu tun wäre: Die notwendige Verteidigung wäre auszuweiten, mindestens auf alle Schöffenge59 So richtig Frister, StV 1997, 151. Vgl. nur Roxin, wie Fn. 2, § 53, Rn. 4 7 61 Näher dazu Frister, StV 1997, 150 ff, 155. 62 Manche Bedenken hat gottlob auch die Bundesregierung; vgl. deren der BT-Drucks. 13/4541 beigefügte Stellungnahme. 63 Gössel, Gutachten z u m 60. Deutschen Juristentag, 1994, Teil C , S. 3 f f ; dazu Widmaier, N S t Z 1994, 414.

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

19

richts- und U-Haft-Sachen; der Beschuldigte sollte so früh wie möglich von den Ermittlungen informiert werden, damit er den Verdachts gründen mit Hilfe eines Verteidigers entgegentreten kann. Der Verteidiger sollte bei Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren grundsätzlich ein Anwesenheitsrecht erhalten. Er sollte schon in diesem Stadium des Verfahrens Beweisanträge stellen können, die nur aus den im Gesetz benannten Gründen sollten abgelehnt werden dürfen und deren Ablehnung der Ermittlungsrichter müßte überprüfen können. Ich kann diese Forderungen hier nicht im einzelnen begründen. Aber es ist klar, daß sie einer Konzeption entspringen, wonach der Verteidiger dem Beschuldigten und dem Recht gleichermaßen dient. Ein solcher aller Zweideutigkeit entrückter Verteidiger hat eine dem Staatsanwalt gleichrangige Verfahrensrolle, die eine der Waffengleichheit widerstreitende mißtrauische Beschneidung von Mitgestaltungsmöglichkeiten nicht zuläßt. 2. Zur Situation der

Rechtsprechung

Anders als der Gesetzgebung kann man der Rechtsprechung, wie anfangs gezeigt, eine Neigung zum Abbau von Verteidigungsrechten nicht vorwerfen. Ob der Hörfallen-Beschluß des Großen Senats (oben II, 2) den Beginn einer rückläufigen Bewegung oder eine vereinzelte kontroverse Kompromißentscheidung darstellt, bleibt abzuwarten. Deutlich ist aber die Tendenz der Rechtsprechung, den Verteidiger immer mehr für allgemeine, über die reine Verteidigung hinausgehende Zwecke in die Pflicht zu nehmen, und darauf will ich etwas näher, wenn auch wiederum nur exemplarisch, eingehen. a) BGHSt 38, 111 Viel diskutiert wird die Entscheidung BGHSt 38, 111: Danach kann das Gericht anordnen, daß ein Angeklagter Beweisanträge nur noch über seinen Verteidiger stellen darf, wenn der Angeklagte von seinem Beweisantragsrecht zur Verhinderung eines ordnungsmäßigen Abschlusses der Hauptverhandlung in exzessiver Weise Gebrauch macht. Er hatte Tausende von Beweisanträgen gestellt, mit deren sachgerechter Ablehnung das Gericht schon mehr als ein halbes Jahr beschäftigt gewesen war. Der BGH stellt überzeugend fest, ein Mißbrauch des Beweisantragsrechts liege „auf der Hand" (aaO S. 1 1 3 ) . Ist dies nun eine unzulässige Inpflichtnahme des Verteidigers, indem dieser gewissermaßen zum Beschützer des Gerichts gegen seinen eigenen Mandanten bestellt wird? Das wäre abzulehnen. Denn wenn der Verteidiger im Auftrage des Gerichts seinen Mandanten disziplinieren muß, wird das Vertrauensverhältnis gestört und eine optimale Verteidigung, wie das Gesetz sie

20

Claus Roxin

will, verhindert. Leider leistet der 4. Senat der Befürchtung, er wolle die Verteidigung für verteidigungsfremde Zwecke in Anspruch nehmen, Vorschub, wenn er sagt, „daß ein Verteidiger den Angeklagten in der Hauptverhandlung keineswegs nach Belieben gehalten und walten' lassen darf, sondern daß ihn eine Pflicht trifft, mit dafür Sorge zu tragen, daß das Verfahren sachlich und in geordneten Bahnen durchgeführt wird". Für eine solche Pflicht gibt es, wie gesagt, keine gesetzliche Grundlage; und der Verteidiger könnte sie auch nicht erfüllen, weil er dem Angeklagten sein selbständiges Rede- und Antragsrecht nicht entziehen kann. Trotz der Bedenken gegen die Begründung möchte ich (mit Widmaier)M dem Urteil im Ergebnis aber zustimmen. Denn dem offenkundigen und unbestreitbaren Rechtsmißbrauch, wie er hier vorlag, kann das Gericht - nicht der Verteidiger! - auch ohne spezielle Gesetzesvorschrift begegnen, weil jedes Recht nur bis zur Mißbrauchsgrenze ausgeübt werden darf. Wenn es in einem solchen Fall dem Angeklagten das Antragsrecht nicht gänzlich entzieht, sondern es in die Hände des Verteidigers legt, so ist dies die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragende mildeste Form der Mißbrauchsabwehr. Dem Verteidiger wird damit nichts aufgebürdet, was über die reine Verteidigungsaufgabe hinausgeht. Er hätte zulässige und sachdienliche Beweisanträge ja auch von sich aus stellen müssen. Der problematischen Begründung hätte es also nicht bedurft. Beulke65 hält mir entgegen, ich geriete mit der vorstehenden Begründung „in Konflikt mit dem ... Prinzip der Selbständigkeit des Verteidigers. Da der Verteidiger ein unabhängiges Organ der Rechtspflege ist, hat er nicht die Befugnis, die eigenen Verteidigungsbemühungen des Beschuldigten zu überprüfen. Beide agieren parallel zueinander". Diese - insoweit auch von mir geübte - Kritik kann aber nur die Begründung des BGH treffen, nicht das Ergebnis. Denn wenn das Gericht dem Beschuldigten die persönliche Ausübung des Beweisantragsrechts wegen - hier evidenten - Mißbrauchs entzieht und sie dem Verteidiger überträgt, hat nicht der Verteidiger, sondern das Gericht dem Beschuldigten etwas genommen. Der Verteidiger hat dann nur zu tun, was die Wahrnehmung der Verteidigung erfordert und was er auch aus eigenem Recht tun müßte: zulässige Beweisanträge zu stellen. b) BGHSt 38, 214 Eine weitergehende Inpflichtnahme des Verteidigers - mit freilich sehr diskussionswürdigem Ansatz - enthält das berühmte Urteil BGHSt 38, 214, in dem der 5. Senat die unterlassene Belehrung des Beschuldigten nach § 136 endlich mit einem Beweisverwertungsverbot sanktioniert hat. In unserem 64 65

Widmaier, NStZ 1992, 519. Beulke, Vortrag, S. 12, 13.

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

21

Zusammenhang interessiert nur die Aussage des zweiten Leitsatzes, wonach eine Verwertung trotz der unterlassenen Belehrung zulässig ist, „wenn der verteidigte Angeklagte ihr in der Hauptverhandlung ... nicht bis zu dem in § 257 ... genannten Zeitpunkt widersprochen hat". Hier wird also eine Obliegenheit des Verteidigers statuiert, das Gericht auf Verwertungsverbote hinzuweisen; ihre Versäumung wird mit einem Rügeverlust sanktioniert. Es sollte klar sein, daß eine solche Rügepflicht von vornherein ausscheiden muß bei zwingenden Verfahrensvorschriften, auf deren Einhaltung der Angeklagte nicht verzichten kann. 66 Da z.B. die Vorschriften über die Öffentlichkeit nicht primär den Interessen des Angeklagten dienen, kann auch seine etwaige Zustimmung den Verfahrensverstoß und seine Revisibilität nicht beseitigen. Sehr wohl aber kann der Angeklagte der Verwertung seiner ohne Belehrung zustande gekommenen Aussage zustimmen; und er wird es tun, wenn er sich davon eine entlastende Wirkung verspricht. Wenn man daraus folgert, daß ein nichtwidersprechender Verteidiger so behandelt wird, als hätte er der Verwertung mit Wirkungen für den Angeklagten zugestimmt, so hat das für sein Verhältnis zum Gericht und zum Mandanten weittragende und neuartige Wirkungen. Im Verhältnis zum Gericht wird der Verteidiger eine Art Kontrollorgan mit der Aufgabe zur rechtzeitigen Aufdeckung und Geltendmachung von Verfahrensverstößen und zur Vermeidung späterer Revisionen. Und gegenüber dem Angeklagten wird der Verteidiger zum Herrn über sein Schicksal. Weist er ihn nicht auf sein Widerspruchsrecht hin, so muß dieser die ohne Belehrung zustande gekommene Aussage gegen sich gelten lassen, auch wenn sie zu seiner Verurteilung führt und er bei Kenntnis seiner Rechte der Verwertung selbstverständlich widersprochen hätte. Der Verteidiger wird hier also mit erheblichen Pflichten belastet, die ihm der 5. Senat durch die Zubilligung besonderer Fähigkeiten schmackhaft zu machen versucht. „Diese Einschränkung des Verwertungsverbots entspricht der besonderen Verantwortung des Verteidigers und seiner Fähigkeit, Belehrungsmängel aufzudecken und zu erkennen, ob das Verwertungsverbot einer sinnvollen Verteidigung dient" (BGHSt 38,226). Bekannte Strafverteidiger wie Widmaier67 und Hammbi haben denn auch der Entscheidung zugestimmt, die in der Tat den Verteidiger bei verzichtbaren Positionen in eine ausschlaggebende Verfahrensrolle rückt. Aber ich habe doch Bedenken gegen diese sich immer mehr ausbreitende Widerspruchslösung. Denn bei der Berücksichtigung von Verfahrensmängeln, die, wie in den Fällen der §§ 136, 137, Grund- und Menschenrechte tangieren, geht es um die Justizförmigkeit des Verfahrens, von der seine Rechts66 67 68

Näher Widmaier, NStZ 1992, 519. Widmaier, NStZ 1992, 519ff. Hamm, NJW 1993, 295.

22

Claus Roxin

Staatlichkeit abhängt und für die in erster Linie das Gericht selbst verantwortlich ist! Gewiß müssen der Angeklagte und sein Verteidiger, wenn der Fehler zur Sprache kommt, darüber entscheiden, ob sie der Verwertung einer ohne Belehrung zustande gekommenen Aussage zustimmen wollen oder nicht. Aber diese Entscheidungsmöglichkeit und der notwendige Entscheidungsraum der Verteidigung bleiben ungeschmälert auch dann erhalten, wenn man das Gericht verpflichtet, den Verfahrensverstoß aufzudecken und erforderlichenfalls den Angeklagten darauf und auf die ihm gegebene Entscheidungsmöglichkeit hinzuweisen.69 Sonst wird ein Angeklagter u.U. nur deshalb verurteilt, weil sein Verteidiger versagt; und ein unverteidigter Angeklagter, der auch nach Meinung des BGH auf sein Widerspruchsrecht hingewiesen werden muß, steht ggf. besser da als ein verteidigter. Dem wird von den Befürwortern der Widerspruchslösung immer wieder entgegengehalten, daß ein weniger tüchtiger Verteidiger, der die erforderlichen Beweis- oder Aussetzungsanträge nicht stellt oder eine ungeschickte Verteidigungsstrategie verfolgt, auch sonst den Prozeß zum Schaden des Angeklagten beeinflussen kann. Das ist wahr. Aber hier geht es immer um nur dem Verteidiger zustehende Rechte und Möglichkeiten, die ergriffen oder auch nicht ergriffen werden. Es steht auf einem anderen Blatt, ob die Aufdeckung von Verfahrens verstoßen, die in die Verschuldenssphäre der staatlichen Strafverfolgungsorgane fallen, in den alleinigen Verantwortungsbereich des Verteidigers übergewälzt werden darf. Ich denke, das geht zu weit. Denn die Einsparung von Revisionen ist ein Ziel, das mit der Aufgabe der Verteidigung nichts mehr zu tun hat. Es ist auch kein fair trial, wenn das Gericht ihm bekannte Verfahrensfehler verschweigen würde in der Hoffnung, daß der Verteidiger sie nicht bemerkt und der Beweisverwertung infolgedessen nicht widerspricht. Denn auf diese Weise wird die Uninformiertheit des Angeklagten und seines Verteidigers bewußt zur Vorenthaltung prozessualer Rechte benutzt. Das Recht ist zwar, wie Widmaier70 sagt, für „die Wachen", es ist aber auch für die Schwachen da. Ein spezialisierter Fachverteidiger mag die Fähigkeit zur Aufdeckung von Verfahrensmängeln, die der 5. Senat ihm zuschreibt, durchweg besitzen. Aber nicht jeder Zivilanwalt, der nebenher einmal eine Verteidigung führt, ist auf der Höhe der Revisionsrechtsprechung. Es widerspricht der gerichtlichen Fürsorgepflicht, wenn daraus dem Angeklagten Nachteile erwachsen sollen, die das Gericht durch einen Hinweis mühelos vermeiden könnte. Dem - praktisch unbeweisbaren - Einwand, der über den Fehler in Wahrheit informierte Verteidiger schweige nur aus Arglist, um das Urteil dann in der Revision zu Fall zu bringen, läßt sich durch den gerichtlichen Hinweis Wie hier Dornach, wie Fn. 28, 190f; Fezer, JR 1992, 386; Kiehl, NJW 1994, 126f. 70 Widmaier, NStZ 1992, 523.

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

23

leicht begegnen; denn er zwingt den Verteidiger, sich schon in der Hauptverhandlung für oder gegen die Verwertung zu entscheiden. Wenn aber das Gericht den Fehler selbst nicht bemerkt, ist es wiederum nicht fair zu verlangen, daß der Verteidiger klüger sein soll als alle Richter zusammengenommen. Man muß dabei bedenken, daß die praktische Bedeutung der Widerspruchslösung nicht in den eindeutigen Fällen liegen wird, in denen z . B . alle wissen, daß entgegen dem Gesetz nicht belehrt worden ist, sondern etwa im Grenzbereich von Orientierungsfragen, Entgegennahme von Spontanäußerungen und belehrungspflichtiger Vernehmung. Wo hier ein Verwertungsverbot beginnt, muß das Gericht auf Grund seiner Verantwortung für einen justizförmigen Verfahrensverlauf klarstellen, bevor vom Verteidiger eine Entscheidung über seinen etwaigen Widerspruch erwartet werden kann. c) B G H St 42, 15 Damit sind wir schon bei B G H S t 42, 15, dem neuesten und letzten Urteil, das noch erwähnt werden kann. Der 5. Senat hat hier in einer bahnbrechenden Weise erstmals entschieden, daß die Polizei dem Beschuldigten bei der Suche nach einem Verteidiger helfen muß und daß die ohne Verteidiger zustande gekommene Aussage unverwertbar ist, wenn dies nicht geschehen ist. 71 Auch in diesem Fall soll aber die Revision scheitern, weil der Verwertung in der Hauptverhandlung nicht rechtzeitig widersprochen worden ist. Es wird also vom Verteidiger verlangt, daß er Verwertungsverbote erkennt, die erst nach der Hauptverhandlung vom B G H entwickelt werden; diese Forderung wird aus der Ähnlichkeit mit früher entschiedenen Fällen aus dem Bereich der §§ 136, 137 hergeleitet. D a s bedeutet eine gesteigerte Inpflichtnahme: Der Verteidiger - und zwar nicht etwa der wissenschaftlich erfahrene Revisionsanwalt, sondern jeder Instanzanwalt - soll bei Gefahr des Rügeverlustes dem Gericht die zu berücksichtigenden Verwertungsverbote vorformulieren und damit der professoralen und revisionsrichterlichen Fähigkeit zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung des Rechts genügen! Auf diese Weise wird der Verteidiger überfordert, und die Gerichte entlasten sich auf Kosten des Angeklagten und eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Sie brauchen im Einzugsbereich der Widerspruchslösung über Verfahrensfehler und deren Folgen überhaupt nicht mehr nachzudenken, weil die Berücksichtigung von Verstößen mangels Widerspruch von vornherein nicht in Betracht kommt. Der Bundesrichter Maatz, der am Vordringen der Widerspruchslösung einigen Anteil hat, 72 meint, „wer dies beklage und darin etwa eine Verschiebung der Waf71 72

Näher zu diesem Urteil Roxin, J Z 1997, 343 ff. Maatz, N S t Z 1992, 513 (517).

24

Claus Roxin

fengleichheit zu Lasten des Angeklagten sieht, muß sich entgegenhalten lassen, daß die Veranwortung des Verteidigers unteilbar ist ...". Aber das ist zu bestreiten: Der Verteidiger ist nur dem Angeklagten, nicht dem Gericht verantwortlich; und deshalb ist es unzulässig, dem Gericht gegenüber Aufgaben zu konstruieren, aus deren Nichterfüllung dann entscheidende Nachteile für den Angeklagten abgeleitet werden. 3. Zur Situation der

Rechtswirklichkeit

Abschließend noch ein Wort zur Vereinbarungspraxis, wie sie sich in der Rechtswirklichkeit entwickelt hat. Ihre prinzipielle Zulässigkeit ist eine Frage, die nicht aus der Rolle des Verteidigers, sondern nur aus Struktur und Zweck des Strafverfahrens im ganzen beantwortet werden kann. Was dessen Struktur betrifft, so sind wir in einer Entwicklung begriffen, die von einem strikt kontradiktorischen Verfahren zu einer Annäherung an konsensuale Formen des Prozedierens führt; das geht einher mit einer Auffassung, die das Ziel des Strafverfahrens weniger in einem gerechten Urteil als in der Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch Erledigung eines sozialen Konflikts sieht. Rechtspolitisch stehe ich dieser Entwicklung aufgeschlossen gegenüber; doch ist es hier nicht möglich und würde auch mein Thema überschreiten, diese Veränderungen prozeßtheoretisch aufarbeiten oder klären zu wollen, wie weit sie sich mit dem geltenden Recht vereinbaren lassen. 73 Soweit dergleichen mit dem Segen des BGH und des BVerfG praktiziert wird, ist jedenfalls festzustellen, daß die Rolle des Verteidigers als eines unverzichtbaren Partners einer solchen Verständigung dadurch eine weitere Stärkung erfährt, daß sie aber unter dem Gesichtspunkt seiner Rechtsstellung noch wenig durchdacht ist; die Thesen 38-44 des Strafrechtsausschusses liefern die hilfreichste Orientierung, die es bisher gibt. Der Leitgedanke muß auch hier sein: Es bestehen keine Pflichten gegenüber dem Gericht etwa aus dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie oder des guten Einvernehmens unter Verfahrensbeteiligten - , an irgendwelchen Vereinbarungen mitzuwirken, sondern dieses Mitwirken hat sich ausschließlich am Verteidigungsinteresse des Beschuldigten zu orientieren und kann nur in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit ihm erfolgen. Hier ist auch eine Zustimmung des Beschuldigten erforderlich, weil ohne sie der Verteidiger die sonst bestehenden Verteidigungsmöglichkeiten nicht preisgeben darf. Auch dürfen selbst mit Zustimmung des Beschuldigten keine Verteidigungsmöglichkeiten aufgegeben werden, ohne daß dieser über das Für und Wider einer solchen Abrede und ihre mangelnde Verbindlichkeit umfassend aufgeklärt 73

und

Zur Auseinandersetzung vgl. etwa Böttcher/Dahs/Widmaier, NStZ 1993, 375 einerStV 1993, 657 andererseits.

Schünemann,

Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren

25

worden wäre; denn eine von irrigen Voraussetzungen ausgehende Zustimmung wäre unwirksam. Ich komme zum Schluß. Ein rechts staatliches Strafverfahren soll dem Verteidiger die Wahrnehmung der legitimen Verteidigungsinteressen des Beschuldigten in optimaler Weise ermöglichen. Auf dem Wege zu diesem Ziel ist viel erreicht worden. Noch immer aber ist manche Forderung unerfüllt; und immer wieder muß der Freiraum der Verteidigung gegen staatliche Beschneidung und gegen Inanspruchnahme für verteidigungsfremde Zwecke gleichermaßen gesichert werden. Der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer hat sich bei diesem Bemühen 50 Jahre lang als einer der einflußreichsten Vorkämpfer eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens erwiesen. Unsere Glückwünsche und unser Dank begleiten ihn in die nächsten 50 Jahre seiner Tätigkeit! Ein besonderer Glückwunsch gilt Ernst-Walter Hanack, dem langjährigen Mitglied des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, dem ich mich durch seine einflußreiche Mitarbeit an den frühen Alternativ-Entwürfen seit langer Zeit verbunden fühle! Ihm sei dieser Beitrag zum 70. Geburtstag in herzlicher Verehrung gewidmet.

Gefahrgeneigte Arbeit? Das besondere berufliche Risiko des Verteidigers PETER DANCKERT u n d C A M I L L A BERTHEAU

Der verehrte und geehrte Jubilar ist - zur Freude von uns Strafverteidigern - seit langer Zeit dem Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer als ständiger Gast verbunden. Es ist dies, wie man vermuten darf, nicht allein Ausdruck einer gewissen Sympathie für die Verteidigerzunft. Vielmehr zeigt sich darin zugleich die Erkenntnis des Wissenschaftlers, daß die praktische juristische Alltagsarbeit immer von neuem der wissenschaftlichen Reflexion bedarf. Dieser Erkenntnis ist das nicht selbstverständliche Angebot an uns Verteidiger zu danken, die wissenschaftlichen Möglichkeiten für unseren Verteidigeralltag nutzbar zu machen. Es scheint uns deshalb geeignet, gerade als Strafverteidiger den Jubilar im Rahmen dieser Festschrift mit einem Beitrag zu ehren, der sich mit der grundsätzlichen, aber nichtsdestoweniger immer wieder umstrittenen Frage der Rechtsstellung des Verteidigers, seinen Aufgaben und Pflichten befaßt.

1. Fragestellung Uber die Rechtsstellung des Verteidigers im Strafverfahren und darüberhinaus ist viel gesagt und geschrieben worden. Herkömmlicherweise stehen sich dabei die Organtheorie und die Interessenvertretungstheorie gegenüber, verbunden durch eine Fülle von Mischformen. 1 Je nach Schwerpunkt werden die Aufgaben und Pflichten des Verteidigers mehr in seiner Funktion als eine Stütze der Rechtsordnung oder in der einseitigen Interessenvertretung seines Mandanten gesehen. In der Praxis hat sich jedoch zunehmend gezeigt, daß beide Theorien keine zuverlässigen Maßstäbe zu liefern vermögen, mit denen sich im Einzelfall zulässiges von unzulässigem (strafbarem?) Verteidigerverhalten unterscheiden ließe. 2 Es ist deshalb kein Zufall, daß sich die Diskussion in den letzten Jahren verstärkt mit der Frage beschäftigt, unter welchen Voraussetzungen das Tä1 Siehe statt vieler die Darstellung beider Theorien mit zahlreichen Nachweisen bei Paulus NStZ 92, 305, insb. 306-309. 2 Ignor in: Duttge (Hrsg.) Freiheit und Verantwortung in schwieriger Zeit, 1998, 39, 42.

28

Peter Danckert/Camilla Bertheau

tigwerden eines Verteidigers strafrechtlich relevant wird. Daß diese Voraussetzungen klar definiert werden müssen, gebietet nicht nur das grundgesetzlich verankerte Bestimmtheitsgebot. Eine solche Definierbarkeit ist darüberhinaus für die Arbeit des Strafverteidigers unerläßlich. Fehlvorstellungen oder auch nur Unsicherheiten darüber, was erlaubt ist, können ihrerseits zu (neuem) Fehlverhalten führen, etwa wenn der Verteidiger bei Zweifeln über die Zulässigkeit einer Verteidigungshandlung diese unterläßt, obwohl sie nicht nur zulässig sondern aus Verteidigungssicht sogar notwendig gewesen wäre. Daraus ergibt sich der Ansatzpunkt der vorliegenden Betrachtungen. Die Frage nach der Stellung des Strafverteidigers soll weniger mit Blick auf die Bedürfnisse des Mandanten einerseits, bzw. die der Rechtsordnung andererseits untersucht werden, sondern vorrangig mit dem Blick auf das besondere berufliche Risiko des Verteidigers. Ziel dieser Überlegungen ist es nicht, den Verteidiger vor Mandant und Rechtsordnung in den Mittelpunkt des (Eigen-)Interesses zu stellen. Grundlage dieses Ansatzes ist vielmehr die Uberzeugung, daß nur der Verteidiger, der weiß, bzw. wissen kann, was er darf und was er nicht darf, seinen Aufgaben gegenüber der Rechtsordnung und seinem Mandanten gleichermaßen gerecht werden kann. Das im Titel genannte, dem Zivil- und Arbeitsrecht entstammende Stichwort von der gefahrgeneigten Arbeit soll dazu dienen, den Blick auf diese Frage nach einem besonderen beruflichen Risiko des Strafverteigers zu lenken. Zur Illustration sei auf eine nicht veröffentlichte Entscheidung des OLG Brandenburg vom 21. August 1997 - Az.: 2 Ss 35/97 - hingewiesen. Das OLG Brandenburg hatte in der Revision über den folgenden Fall zu entscheiden: Ein Rechtsanwalt war in erster und zweiter Instanz wegen übler Nachrede verurteilt worden. Als Tathandlung war ihm die Erstattung einer Strafanzeige gegen verantwortliche Mitarbeiter einer Staatsanwaltschaft vorgeworfen worden, in der er eine Tatsache behauptet habe, die geeignet gewesen sei, einen anderen verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Der Strafanzeige vorausgegangen war ein gegen einen Mandanten des angeklagten Rechtsanwalts gerichtetes Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung. In der Hauptverhandlung dieses Verfahrens hatte sich herausgestellt, daß zwei Entlastungszeugen bereits im Ermittlungsverfahren gehört, entsprechende Vernehmungsprotokolle gleichwohl nicht bei den Akten waren. Dies hatte das erstinstanzliche Gericht in seinem freisprechenden Urteil, gegen das die Staatsanwaltschaft Berufung einlegte, auch ausdrücklich festgehalten. In der auf diesen Vorgang gestützten Strafanzeige wegen des Verdachts der Rechtsbeugung hatte der angeklagte Rechtsanwalt u. a. ausgeführt, im Rahmen des Verfahrens (seil, gegen seinen Mandanten) sei festgestellt worden, daß die seinen Mandanten entlastenden Zeugenaussagen entweder nicht dem Ermittlungsvorgang zugeordnet oder aber pflichtwidrig aus diesem wieder entfernt worden seien.

Gefahrgeneigte Arbeit? Das besondere berufliche Risiko des Verteidigers

29

Das OLG Brandenburg hob das vorinstanzliche Urteil auf und sprach den angeklagten Rechtsanwalt frei. Es führte aus, daß im vorliegenden Fall noch nicht einmal der objektive Tatbestand des § 186 StGB erfüllt sei. Eine Behauptung im Sinne dieser Vorschrift liege nicht vor, weil der Angeklagte den fraglichen Sachverhalt lediglich als möglich dargestellt habe. Seine Alternativbehauptung habe die unter logischen Gesichtspunkten allein in Betracht kommenden tatsächlichen Möglichkeiten umfaßt. Desweiteren wäre selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 186 StGB die Tat nach § 193 StGB gerechtfertigt. Es sei grundsätzlich zur Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs unverzichtbar, daß jedermann Strafanzeigen erstatten kann, ohne daß ihm ein Nachteil daraus erwächst, daß sich seine Behauptungen als unrichtig oder nicht aufklärbar erweisen. Anderes gelte lediglich für wissentlich unwahre oder leichtfertige Anzeigen. Davon könne aber im vorliegenden Fall nicht die Rede sein. Auch habe der Angeklagte als Verteidiger in Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten gehandelt. Die Aufklärung der Ursachen des Fehlens der Vernehmungsprotokolle habe Folgen auch für das noch anhängige Berufungsverfahren haben können. Abschließend hält das OLG Brandenburg fest: „Im übrigen weist die Revision zu Recht darauf hin, daß die Verurteilung des Angeklagten wegen übler Nachrede unter Ablehnung des Strafausschließungsgrundes der Wahrnehmung berechtigter Interessen einer Verteidigerdisziplinierung gleichkäme. Würden derartige Verurteilungen Bestand haben, so müßte jeder Verteidiger befürchten, für die engagierte und sachgemäße Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Das wäre nicht rechtens." Diese Ausführungen, die im vorliegenden Fall nicht entscheidungsrelevant waren, deuten darauf hin, daß das OLG Brandenburg der Ansicht zuneigt, daß die besonderen Aufgaben des Verteidigers es u.U. notwendig machen können, hinsichtlich der Beurteilung seiner Tätigkeit das materielle Strafrecht in gewisser Weise zu modifizieren (dazu im folgenden unter 2.). Die zitierte Entscheidung des OLG Brandenburg wirft jedoch ein weiteres Problem auf: Offensichtlich ist es möglich, daß auch bei einer - so läßt sich u. E. im vorliegenden Fall sagen - eindeutig die Strafbarkeit des angeklagten Rechtsanwalts ausschließenden Rechtslage eine Strafverfolgung stattfindet, die erst in der Revisionsinstanz korrigert wird (dazu im folgenden unter 3.).

2. Notwendigkeit eines materiellen Verteidigerprivilegs? Das OLG Brandenburg deutet es in seinem Schlußsatz an: Es wäre nicht rechtens, wenn der Verteidiger bei engagierter und sachgemäßer Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten befürchten muß, seinerseits straf-

30

Peter Danckert/Camilla Bertheau

rechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Es stellen sich zwei Fragen: Gibt es Situationen, in denen der Rechtsanwalt in seiner Funktion als Verteidiger zu bestimmten Handlungen verpflichtet ist, die ihm andererseits das materielle Strafrecht verbietet? Und, wenn dies der Fall ist, wie sind derartige Konflikte zu lösen? In der Literatur scheint weitgehend Einigkeit zu bestehen, daß es einen solchen Pflichtenwiderspruch gibt. Beulke hat für dieses Phänomen den Begriff des „Verteidigerdilemmas" geprägt. 3 Diskutiert wurde diese Problematik in den letzten Jahren vornehmlich anhand der Entscheidung des ersten Strafsenats des BGH vom 1. 9. 1992.4 Ein Anwalt hatte dem Gericht Urkunden vorgelegt, die, was der Anwalt nicht positiv wußte, aber womit er aufgrund bestimmter Umstände rechnen mußte, gefälscht waren. Die Frage war u. a., ob der Anwalt mit bedingtem Vorsatz von einer falschen Urkunde Gebrauch gemacht und sich damit nach § 267 Abs. 1 Alt. 3 StGB strafbar gemacht hatte. Der erste Strafsenat hat zunächst festgestellt, daß die Aufgaben des Verteigers eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten insbesondere in bezug auf den Straftatbestand der Strafvereitelung, § 258 StGB, erforderlich machen. Die Grenzen zulässigen Verteidigerverhaltens ergäben sich nicht unmittelbar aus § 258 StGB selbst, vielmehr verweise diese Vorschrift auf die Regelungen des Prozeßrechts. Strafbarkeit nach § 258 StGB setze desweiteren direkten Vorsatz voraus. Diese zu § 258 StGB entwickelten Grundsätze seien jedoch auf andere Straftatbestände also z.B. auf § 267 StGB - nicht übertragbar. 5 Der erste Strafsenat lehnt es im übrigen ab, in Fällen eines bedingt vorsätzlich handelnden Verteidigers einen besonderen Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung von Verteidigerpflichten anzunehmen. Für einen solchen Rechtfertigungsgrund fehle eine gesetzliche Grundlage. 6 Die Lösung des oben beschriebenen Verteidigerdilemmas, die der erste Strafsenat für den Fall des Gebrauchmachens falscher Urkunden, § 267 Abs. 1 StGB, anbietet, liegt in einer sorgfältigen Prüfung des bedingten Vorsatzes, wobei insbesondere das voluntative Vorsatzelement eine besondere Würdigung erfährt. Es wird ausgeführt, daß der Verteidiger Beweismittel nicht zurückhalten dürfe, wenn er Zweifel an ihrer Echtheit habe, weil sonst möglicherweise echte und entlastende Beweismittel unterdrückt werden könnten. Es sei deshalb in der Regel davon auszugehen, daß der Verteidiger sich darauf beschränkt, die von seinem Mandanten zur Verfügung gestellten Beweismittel in das Verfahren einzubringen, daß er strafbares Verhalten J JR 1994, 116, 118. BGH St 38, 345. 5 AaO (Fn. 4) 347, 348. 6 AaO (Fn. 4) 349.

4

Gefahrgeneigte Arbeit? Das besondere berufliche Risiko des Verteidigers

31

nicht billigt und darauf vertraut, das Gericht werde die Urkunden seinerseits einer kritischen Prüfung unterziehen. Dies alles soll aber nur „in der Regel" gelten: „Etwas anderes könnte dann gelten, wenn der Verteidiger über zusätzliche Informationen verfügt, etwa, weil ihm der Mandant mehr oder weniger deutlich zu erkennen gegeben hat, die Beweismittel seien gefälscht."7 An dieser Entscheidung ist, obwohl sie teilweise im Grundsatz als tendenziell Verteidiger-freundlich begrüßt wurde, vielfach Kritik geübt worden. Trotz dieser in Einzelpunkten zutreffenden Kritik ist es u. E. bislang nicht gelungen, eine tragfähige und über den Einzelfall hinausweisende Alternativlösung anzubieten. Deshalb erscheint uns eine weitere Auseinandersetzung mit dieser Problematik unumgänglich. In seiner Urteilsanmerkung zu der zitierten Entscheidung8 begrüßt Beulke ausdrücklich, daß der BGH die „Akzessorietät" des § 258 StGB vom Prozeßrecht bestätigt habe. Er sieht damit die u.a. von ihm vertretene Ansicht unterstützt, wonach sich die Lösung des Problems der Trennung zwischen erlaubter und verbotener Strafverteidigung allein aus dem Prozeßrecht erschließt. Ob der BGH im Ergebnis tatsächlich diese Ansicht unterstützt, scheint uns jedoch zweifelhaft, denn er bietet hinsichtlich der Beurteilung der Strafbarkeit des Verteidigers nach § 258 StGB eine weitere Begründung an: § 258 StGB verlange den direkten Vorsatz. Das bedeutet im konkreten Fall, daß eine Strafbarkeit nach § 258 StGB das Wissen um das Gefälschtsein der Urkunden voraussetzt. Solange demnach nur Zweifel mögen diese auch stark sein - an der Echtheit der Urkunden bestehen, sind die subjektiven Voraussetzungen des § 258 StGB nicht erfüllt. Darin liegt eine Beurteilung nach den Maßstäben des materiellen Rechts. Dabei dürfte es dem BGH nicht schwer gefallen sein, auch auf die Regelungen des Prozeßrechts zu verweisen, weil ein Widerspruch zwischen Prozeß- und materiellem Recht in diesem Punkt nicht besteht. Es ist auch nach dem Prozeßrecht (weitgehend) unumstritten, daß ein Verteidiger nicht wissentlich falsch vortragen oder gefälschte Beweismittel in ein Verfahren einführen darf. Hinsichtlich der Strafbarkeit nach § 267 StGB und der Prüfung des voluntativen Vorsatzelementes durch den BGH kritisiert Beulke zurecht, daß sich aus der Funktion des Verteidigers keineswegs ein in irgendeiner Form gesteigertes Vertrauen des Verteidigers in die Echtheit der von seinem Mandanten übermittelten Beweisurkunden ablesen läßt. Die Zulässigkeit der Vorlage nicht mit Sicherheit als falsch erkannter Urkunden kann nicht davon abhängen, ob es sich bei dem Verteidiger um einen vertrauensvollen

7 8

AaO (Fn. 4) 351. AaO (Fn. 3) 117

32

Peter Danckert/Camilla Bertheau

oder eher skeptischen Menschen handelt. 9 O f f e n bleibt jedoch, nach welchen Kriterien sich die Beurteilung der Strafbarkeit stattdessen richten soll. Ein Lösungsvorschlag wird angeboten von v. Stetten: § 258 StGB solle im Rahmen der Tätigkeit eines Strafverteidigers eine Sperrwirkung entfalten, mit der Folge, daß für tateinheitlich mit § 258 StGB verwirklichte Tatbestände ebenfalls der direkte Vorsatz Voraussetzung einer Strafbarkeit sein soll. 10 Sie sucht damit die Lösung in einer Modifizierung des materiellen Rechts. Dies vermag aus zweierlei G r ü n d e n nicht zu überzeugen. Ausgangspunkt von v. Stetten ist die Überlegung, daß das Handeln eines Verteidigers solange zulässig sein müsse, wie es auf die sachlichen Ziele der Strafverteidigung ausgerichtet ist u n d dabei die Grenze der Strafbarkeit nach § 258 StGB nicht berührt wird. Die sachlichen Ziele sieht v. Stetten in dem Schutz des Beschuldigten vor Anklage, Verhaftung und Verurteilung. 11 Eine solche Definition der Ziele strafrechtlicher Verteidigung entspricht jedoch u . E . nicht der prozessualen Stellung des Verteidigers. Es ist nicht das Ziel von Verteidigung, jede Verurteilung zu verhindern. Vielmehr soll sie sicher stellen, daß Entscheidungen in rechtlich einwandfreier Weise und unter Berücksichtigung der zugunsten des Beschuldigten sprechenden Umstände gefunden werden. Etwas salopp ausgedrückt könnte man sagen, der Weg ist das Ziel. Unser Strafverfahren bietet keine Möglichkeit und keine Garantie für objektive Wahrheiten in jedem einzelnen Fall. Die verschiedenen Personen und Funktionen im Strafverfahren sind demnach nicht darauf ausgerichtet, im Einzelfall die Wahrheit zu ermitteln, sondern in ihrem Zusammenspiel grundsätzlich die Chancen für eine Annährung an die Wahrheit quasi institutionell zu erhöhen. Die Aufgaben, die dem Strafverteidiger im Gefüge der Verfahrensordnung zufallen, lassen sich als besondere Beistands-, besondere Aufklärungs- und besondere Kontrollfunktion beschreiben. 12 D a ß dem Verteidiger in Ausübung dieser Funktionen alles erlaubt sein soll, was nicht zugleich den Straftatbestand der Strafvereitelung erfüllt, ist nicht nachvollziehbar. Desweiteren ist darauf hinzuweisen, daß aus dem Umstand, daß die Voraussetzungen eines bestimmten Straftatbestandes nicht erfüllt sind, nicht geschlossen werden kann, daß andere Straftatbestände ebenfalls nicht erfüllt sein können, bzw. als nicht erfüllt zu betrachten sind. Dies verbietet die Systematik des Gesetzes. Die verschiedenen Straftatbestände schützen verschiedene Rechtsgüter. Unter welchen Voraussetzungen das jeweilige Rechtsgut als verletzt angesehen wird, bestimmt der Gesetzgeber und kann allein ' AaO (Fn. 3) 120. 10 StV 1995, 606, 611; vgl. auch Scheffler StV 1993, 470. 11 AaO (Fn. 10) 608. 12 Vgl. dazu Danckert/Ignor in: Beck'sches Formularbuch für den Strafverteider, hrsg. v. Hamm/Lohberger, 3. Aufl., 1998, 58, 59.

Gefahrgeneigte Arbeit? Das besondere berufliche Risiko des Verteidigers

33

aus der jeweiligen Vorschrift selbst begründet werden. Der Verteidiger kann in dieser Hinsicht keine andere Beurteilung seines Verhaltens beanspruchen als jeder andere auch. Eine solche Privilegierung würde in der Tat die Gefahr von Dammbrüchen mit sich bringen, mit der Folge, daß andere Berufsgruppen ähnliche Ausnahmesituationen für sich in Anspruch nehmen. 13 Unzutreffend ist auch die weitere Annahme, der Unrechtsgehalt verschiedener Handlungen des Verteidigers sei der gleiche, ob dieser nun mit oder ohne Zuhilfenahme von Urkunden versucht, seinen Mandanten der Strafe zu entziehen.14 Dies ist richtig allenfalls im Hinblick auf § 258 StGB selbst. Die Rechtsordnung sieht hinsichtlich des Gebrauchs von Urkunden im Rechtsverkehr ein zusätzliches Schutzbedürfnis, das über das Schutzbedürfnis des gesprochenen Wortes im Rechtsverkehr hinausgeht. Dies erklärt den Tatbestand des § 267 StGB. Nach dem geltenden Recht liegt in der Verletzung des § 267 StGB eindeutig ein von der Verletzung des § 258 StGB zu unterscheidender Unrechtsgehalt. Das Unbehagen an der Möglichkeit einer Bestrafung nach § 267 StGB, soweit ein Verteidiger Urkunden vorlegt, die unter Umständen falsch sind, wird schließlich auch nicht dadurch verursacht, daß eine gleichzeitige Strafbarkeit wegen Strafvereitelung ausgeschlossen ist. Nicht in diesem Verhältnis liegt das „Verteidigerdilemma", sondern vielmehr in dem Verhältnis der Voraussetzungen einer Strafbarkeit nach § 267 StGB zu der andererseits bestehenden Pflicht des Verteidigers, alle Urkunden vorzulegen, die seinen Mandanten entlasten könnten und die nicht ersichtlich falsch sind. Diese Pflicht des Verteidigers entspricht, worauf Stumpf zurecht hinweist, 15 einem systemimmanenten Aufklärungsinteresse. Auch das Gericht müßte derartige Beweismittel bei (lediglich) Zweifeln an ihrer Echtheit von Amts wegen in das Verfahren einführen (§ 244 Abs. 2 StPO). Das Verhalten eines Verteidigers kann nicht strafbar sein, wenn die Rechtsordnung selbst ihn zu eben diesem Verhalten verpflichtet. Aus dieser Überlegung ist zunächst zu folgern, daß zwischen materiellem und prozessualem Recht ein Akzessorietätsverhältnis dergestalt besteht, daß die prozessuale Zulässigkeit von Verteidigerhandeln die materielle Strafbarkeit ausschließt.16 Diese Überlegung allein führt jedoch noch nicht weiter, weil damit nicht gesagt ist, auf welcher Ebene im Deliktsaufbau welche Voraussetzung der Strafbarkeit entfällt. Der BGH könnte sich auf dem Standpunkt stellen, daß er bei der Prüfung der Anforderungen, die in diesen Fällen an den bedingten Vorsatz zu stellen sind, genau dieses Akzessorietätsverhältnis berücksichtigt habe.

13 14 15 16

Vgl. Stumpf NStZ 1997, 7, 10; s. auch Beulke aaO (Fn. 3) 119. So aber v. Stetten aaO (Fn. 10) 610. AaO (Fn. 13) 11, 12. Vgl. Stumpf aaO (Fn. 13) 11; Ignor aaO (Fn. 2) 44.

34

Peter Danckert/Camilla Bertheau

Entscheidend kann auch nicht sein, daß der B G H das Problem auf der Beweis(barkeits-)ebene behandelt. 17 Jede Strafbarkeit ist letztlich auch eine Frage der Beweisbarkeit. So z.B. auch die Frage, ob der Verteidiger positiv Kenntnis davon hat, daß eine Urkunde, die er in das Verfahren einführt, falsch ist, also in einem Fall, in dem eine Strafbarkeit des Verteidigers nach h.M. in Betracht k o m m t . Eine Einschränkung der in Betracht kommenden Deliktsebenen nimmt Stumpf vor: „ O b es im Falle zulässigen Verteidigerhandelns bereits am objektiven Tatbestand fehlt oder erst die Rechtswidrigkeit entfällt, ist unerheblich." 18 Danach soll zumindest der subjektive Tatbestand nicht betroffen sein. Doch auch hier bestehen Zweifel. Zunächst ist der objektive Tatbestand des § 267 StGB durch das Einreichen falscher U r k u n d e n erfüllt. Sind die vom Verteidiger vorgelegten U r k u n d e n gefälscht, so hängt es, wie bereits dargelegt wurde, allein von seinem Wissen von der Fälschung ab, ob er zu einer Vorlage im Rahmen seiner Verteidigerfunktionen verpflichtet war oder nicht. Dabei handelt es sich eindeutig u m eine Prüfung im subjektiven Bereich. Ebenfalls nicht überzeugend ist die Überlegung, daß es sich hier u m ein Rechtfertigungsproblem handeln könnte. Das Argument des BGH, es fehle an einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage ist schon deshalb nicht überzeugend, weil gerade die Figur der Pflichtenkollision, die hier in Betracht k o m m t , allgemein anerkannt wird, obwohl eine gesetzliche Regelung sogar bewußt unterblieben ist.19 Voraussetzung einer Pflichtenkollision ist jedoch, daß für den Handelnden zwei Handlungsgebote bestehen, von denen eines nur erfüllt werden kann, wenn das andere verletzt wird. 20 Im Fall der Vorlage möglicherweise gefälschter Unterlagen besteht die eine Pflicht des Anwalts nicht aus einem Handlungsgebot, sondern in dem Unterlassen einer sanktionierten Tat. Der Fall einer Pflichtenkollision liegt demnach nicht vor. Auch ein rechtfertigender Notstand, als weiteren Rechtfertigungsgrund, k o m m t im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Mit der Vorlage von nicht eindeutig als falsch erkannten Unterlagen durch den Verteidiger wendet dieser von seinem Mandanten nicht notwendig eine Gefahr i.S.d. § 34 StGB ab. Die Pflicht zur Vorlage derartiger U r k u n d e n besteht vielmehr originär aufgrund der Funktion des Verteidigers im Verfahren und unabhängig von einer wie auch immer gearteten Gefahrenlage. Hier paßt der Gedanke nicht, daß man dem Handelnden nachträglich zugute halten müsse, daß er zur 17

So Ignor aaO (Fn. 2) 44.

18

AaO (Fn. 13) 11.

19

Ut-Hirsch 11. Aufl., vor § 32, Rdn. 75.

20

LK-Hirsch aaO (Fn. 19) Rdn. 76.

Gefahrgeneigte Arbeit? Das besondere berufliche Risiko des Verteidigers

35

Abwehr einer Gefahr nicht anders konnte, als einen Straftatbestand zu verletzen. Es ist deshalb doch noch einmal zu prüfen, wie es mit dem subjektiven Tatbestand steht. Der Vorsatz setzt sich zusammen aus dem Wissen und dem Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Das Wissenselement war in dem vom BGH entschiedenen Fall geklärt. Der Verteidiger wußte nicht positiv, daß die von ihm eingereichten Urkunden Fälschungen waren, aber er kannte Umstände, die zu Zweifeln an ihrer Echtheit Anlaß gaben. Ein solcher Grad des Wissens reicht zu einer Tatbestandsverwirklichung aus, wenn das Wollen, bzw. das bewußte Inkaufnehmen der Tatbestandsverwirklichung hinzu kommt. Die entscheidende Frage ist demnach, ob der Verteidiger zur Täuschung im Rechtsverkehr von einer falschen Urkunde Gebrauch machen wollte oder er dies zumindest in Kauf nahm. Es ist, wie der BGH es getan hat, das voluntative Vorsatzelement zu prüfen. Die vom BGH gefundene Lösung kann gleichwohl aus den oben bereits genannten Gründen nicht überzeugen. Unbehagen bereitet vor allem, daß es bei der Beurteilung der Strafbarkeit auf den Grad des Vertrauens des Verteidigers in seinen Mandanten einerseits sowie in eine Prüfung durch das Gericht andererseits und damit auf ein eindeutig subjektives, individuelles Merkmal ankommen soll, obwohl doch - davon geht auch der BGH aus - der Verteidiger nicht eindeutig als falsch erkannte Urkunden nicht zurückhalten darf. Demnach gibt es eine von der Person des Verteidigers losgelöste, also objektive Pflicht zur Vorlage dieser Urkunden. Dieser scheinbare Widerspruch läßt sich jedoch lösen, wenn man eine Vorfrage stellt, die der BGH u.E. überspringt. Voraussetzung der Beurteilung einer Willensbetätigung im Sinne des Vorsatzes ist es, daß dem Handelnden in der Entscheidungssituation eine Wahl zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Tun - unabhängig davon, ob ihm die Rechtmäßigbzw. Rechtswidrigkeit seines Handelns bewußt ist (dies wäre eine Frage des Verbotsirrtums) - theoretisch möglich ist. Besteht eine Wahlmöglichkeit zwar zwischen einer Handlung oder ihrem Unterlassen, aber nicht zwischen rechtmäßigem Verhalten einerseits und rechtswidrigem Verhalten andererseits, weil die Rechtsordnung sowohl die Handlung als auch deren Unterlassen jeweils zugleich als recht- bzw. pflichtmäßig und rechts- bzw. pflichtwidrig beurteilt, dann ist für die Frage, ob der Handelnde eine bestimmte Tatbestandsverwirklichung wollte, von vorneherein kein Raum. Ob nun eine solche dem Wortlaut eines Tatbestandes zuwiderlaufende Pflicht von der Rechtsordnung vorgeschrieben ist, ist objektiv zu beurteilen. Insofern fließt in die Prüfung des subjektiven Tatbestandes eine objektive Vorfrage mit ein. Im Falle des Strafverteidigers ist jeweils anhand seiner beruflichen Aufgaben und Pflichten zu beurteilen, ob eine solche Handlungspflicht oder Handlungsberechtigung besteht. Darin liegt der Kern der

36

Peter Danckert/Camilla Bertheau

Aussage, daß sich die Grenze zwischen zulässigem und unzulässigem Verteidigerhandeln nicht aus dem materiellen Recht, sondern allein aus dem Prozeßrecht ablesen lasse.21 Prozessuale Handlungspflichten, bzw. prozessual statthafte Handlungsmöglichkeiten wirken vorsatzausschließend. Es ist festzuhalten, daß es sich hierbei nicht um eine materielle Privilegierung des Strafverteidigers handelt. Derartige von der Rechtsordnung gewollte alternative Handlungspflichten sind vielmehr theoretisch immer denkbar und kommen praktisch in anderen Fällen ebenfalls vor. So wird etwa der Fall des Apothekers ebenso zu beurteilen sein, der ein als bedenklich eingestuftes Medikament nicht in Umlauf bringen darf (strafbar nach § 5 ArzneimittelG), der aber zugleich aufgrund ausdrücklicher ärztlicher Anordnung, die nach dem gesetzgeberischen Willen der Entscheidung des Apothekers vorgeht (§ 17 Abs. 4 Apothekenbetriebsordnung), zur Abgabe des Medikaments verpflichtet ist. Auch hier bleibt für eine Vorsatzprüfung kein Raum. Zugleich wird deutlich, daß das Problem nicht darin besteht, das materielle und das Prozeßrecht in Einklang zu bringen. Notwendig ist vielmehr, Klarheit darüber zu gewinnen, worin die sich aus dem Verfahrensrecht ergebenden Aufgaben und Pflichten des Verteidigers bestehen. Dies führt zum nächsten Punkt.

3. Unzulässigkeit eines allgemeinen Mißbrauchsverbots Immer wieder diskutiert wird die Frage, ob es außer den in der Prozeßordnung ausdrücklich definierten Aufgaben und Pflichten, bzw. Verboten, ein darüber hinausgehendes allgemeines Mißbrauchsverbot gibt. Das bedeutet, eine Verteidigungshandlung soll auch dann sanktionierbar sein, wenn sie zwar nicht gegen ein ausdrücklich normiertes Verbot verstößt, also grundsätzlich mit dem Gesetzestext im Einklang steht, wenn sie aber gleichwohl aus mehr oder weniger bestimmten Gründen den Intentionen des Gesetzes zuwiderläuft. U.E. ist die Annahme eines solchen Mißbrauchsverbots insbesondere aus drei Gründen mit der StPO nicht vereinbar. Allein aus der Prozeßordnung muß, wie oben dargelegt wurde, die Abgrenzung zwischen zulässigem und unzulässigem Verteidigerhandeln vorgenommen werden. Die sich aus dem Prozeßrecht ergebenden Handlungspflichten und -berechtigungen sind notwendiger Bestandteil einer strafrechtlichen Überprüfung von Verteidigerverhalten. Bereits deshalb muß das Prozeßrecht hinsichtlich der Rechte und Pflichten des Verteidigers dem verfassungsrechtlich verankerten Bestimmtheitsgebot genüge tun. Ein nicht gesetzlich im einzelnen definiertes Mißbrauchsverbot kann diese Bedingung nicht erfüllen. 21

Vgl. Beulke aaO (Fn. 3) 117; Ignor aaO (Fn. 2) 44; Paulus aaO (Fn. 1) 310.

Gefahrgeneigte Arbeit? Das besondere berufliche Risiko des Verteidigers

37

Ein solches über den Gesetzestext hinausgehendes Mißbrauchsverbot könnte darüberhinaus nur angenommen werden, wenn es zumindest dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht. Die Rechtsordnung kennt grundsätzlich Mißbrauchsklauseln; in der StPO findet sich eine solche ausdrücklich nicht. Desweiteren ist die Frage, ob eine solche Klausel in die StPO aufgenommen werden sollte, in den 70er Jahren umfassend diskutiert worden mit dem Ergebnis, daß man sich gegen die Aufnahme entschieden hat. Dies nicht etwa mit der Begründung, daß sich ein Mißbrauchsverbot bereits aus der StPO ergebe, sondern, weil ein allgemeines Mißbrauchsverbot für systemwidrig gehalten wurde. 22 Es ist daher zumindest de lege lata davon auszugehen, daß es ein über die gesetzlichen Verbote hinausgehendes allgemeines Mißbrauchsverbot nicht gibt. Schließlich aber - und hier kommen wir auf den Anfang unserer Ausführungen und die Entscheidung des OLG Brandenburg zurück - ist aufgrund der besonderen Situation und Konstellation im Strafverfahren die Mißbrauchsgefahr eines solchen allgemeinen Mißbrauchsverbots absehbar, so daß ihr von vorneherein entgegengetreten werden muß. Der vom O L G Brandenburg entschiedene Fall zeigt anschaulich, daß es auch bei einer eindeutig die Strafbarkeit ausschließenden Rechtslage zu einer Strafverfolgung über mehrere Instanzen kommen kann. Die Strafverfolgung Unschuldiger ist allerdings kein Phänomen, das allein Strafverteidiger in ihrer Berufsausübung betrifft, sondern eine, wenn auch für die Betroffenen stets ausgesprochen unangenehme, nicht vermeidbare Nebenfolge der Strafrechtspflege. Bietet die gerichtliche Uberprüfung strafrechtlich relevanter Vorwürfe noch die Chance unberechtigte Vorwürfe auszuräumen, so ist dies schon schwieriger bei verfahrensimmanenten Sanktionsmöglichkeiten, wie etwa dem Ausschluß eines Verteidigers. In diesem Bereich können Staatsanwaltschaft und Gericht zumindest vorläufig gültige Entscheidungen treffen und damit das Verfahren gestalten. Eine solche Gestaltungsmöglichkeit hat der Verteidiger nicht. 23 Bereits dies schafft ein Ungleichgewicht. Müßte der Verteidiger zusätzlich befürchten, daß ihm sein Verhalten - nicht vorhersehbar - als rechtsmißbräuchlich vorgeworfen wird, incl. entsprechender verfahrensimmanenten Sanktionsmöglichkeiten, so würde ihn dies in seinen Verteidigungsmöglichkeiten unangemessen einschränken. Auch hier, wie bei Unklarheiten über strafrechtlich relevantes Verhalten, besteht die Gefahr, daß der Verteidiger zulässige Verteidigungsmaßnahmen unterläßt, weil er das damit verbundene Risiko von Sanktionen nicht abschätzen kann. Hinzu kommt ein weiteres: Nicht nur der Verteidiger übt seine Tätigkeit weitgehend unter der fachlichen Kontrolle von Gericht und Staatsanwaltschaft aus. Auch Gericht und Staatsanwaltschaft ihrerseits stehen unter der 11 23

Vgl. Kühne NJW 1998, 3027 mwN. Vgl. Kühne aaO (Fn. 22) 3028.

Peter Danckert/Camilla Bertheau

38

Kontrolle des Verteidigers. In dieser Kontrolle besteht gerade eine der spezifischen Funktionen des Verteidigers.24 Diese Kontrolle führt unweigerlich auch zu Kritik des Verteidigers an einzelnen gerichtlichen oder staatsanwaltschaftlichen Handlungen. In der Praxis zeigt sich immer wieder, daß diese Kritik sehr schnell persönlich, bzw. als persönlicher Angriff aufgefaßt wird. Dies wird auch der Ausgangspunkt des vom OLG Brandenburg entschiedenen Falles gewesen sein. Es mag im Einzelfall nachvollziehbar sein, daß es allein aufgrund der Tatsache, daß die am Strafverfahren Beteiligten unter ständiger Kontrolle ihrer fachlichen Tätigkeit stehen, auch zu persönlichen Empfindlichkeiten kommt. Kritisch wird es jedoch dann, wenn eine selbst in die fraglichen Vorgänge involvierte Person - Gericht oder Staatsanwaltschaft - zugleich diese Vorgänge wirksam beurteilen und damit quasi zum Angeklagten und Richter in einer Person werden kann. In dieser verfahrensrechtlich vorgegebenen Konstellation ist in jedem Fall zu vermeiden, daß dieselbe Person gleichzeitig auch noch zum Gesetzgeber wird, in dem sie Umfang und Grenzen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots definieren kann. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß ein besonderes berufliches Risiko des Strafverteidigers nicht systemimmanent vorgegeben ist. Gleichwohl bestehende Unwägbarkeiten, die in der Praxis immer wieder zu nicht im Vorhinein absehbaren strafrechtlichen und sonstigen Sanktionen gegen Verteidiger führen, sind nur zu verhindern, wenn die Bemühungen um Klarheit und Ubereinstimmung hinsichtlich prozessual zulässigen und unzulässigen Verhaltens fortgesetzt werden. Ein dem Kriterium der Klarheit nicht entsprechendes allgemeines Mißbrauchsverbots ist abzulehnen. Nur Klarheit und Einschätzbarkeit der Zulässigkeit seines Tätigwerdens garantieren, daß der Strafverteidiger die ihm von der Rechtsordnung zugedachten Aufgaben und Pflichten optimal erfüllen kann.

24

Vgl. oben S. 32.

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren"" KARL-HEINZ GROSS

A. Die Medienwirklichkeit - Gefahren für den Strafprozeß 1. Ereignet sich eine Straftat, wäre es nach unserer Rechtsordnung Sache von Polizei und Staatsanwaltschaft, später ggfls. des Gerichts, Ursachen und Schuld aufzuklären. Ist der Fall, lokal oder überregional, spektakulär, dann wird die Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane von Anfang an begleitet von den Medien, die bestrebt sind, möglichst viele Details möglichst frühzeitig zu publizieren;1 oft genug kommentieren sie das Geschehen ebenso frühzeitig und kreieren eine so genannte „Öffentliche Meinung", besser: öffentliche Stimmung. Die Medien erhalten dabei offizielle Auskünfte und Mitteilungen von der Polizei, die - man denke an Fälle einer gewaltsamen Kindestötung oftmals geradezu massiv bedrängt wird, einen Verdächtigen zu finden, und von der Staatsanwaltschaft, die als Herrin des Ermittlungsverfahrens bei den Medien gegenüber der Polizei nicht hintanstehen möchte. Natürlich müssen das nicht die einzigen Informanten sein: Der Verteidiger mag Gründe haben, an die Medien heranzutreten,2 die Journalisten mögen selbst Opfer, Zeugen oder Verteidiger interviewen. Das von Hassemer postulierte staatliche „Verarbeitungsmonopol" für Straftaten3 hat nur noch im engen, strafrechtlichen Sinne Geltung: Die „Verarbeitung" eines die Gesellschaft aufwühlenden Ereignisses wird heute auch in den Medien betrieben. Die mediale „Begleitung" von Ermittlungsverfahren wird von der Rechtsordnung gebilligt; man denke an Art. 5 GG sowie an den Auskunftsanspruch der Presse gemäß den Landespressegesetzen. Daß die Journalisten das Grundrecht der Presse- und Meinungsfreiheit extensiv in Anspruch nehmen, ist selbstverständlich. Es hat aber auch bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft in den letzten Jahren eine mentale Änderung im Verhältnis zur Leicht gekürztes Referat, das der Verf. am 23. 10. 1998 auf der 170. Tagung des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer in Erfurt gehalten hat, einem Gremium, in dem auch der Jubilar über Jahrzehnte als ständiger Gast mitwirkte. 1 Mauz (Spiegel 31/1977): „Wie Börsenpapiere werden Strafsachen am Publizitätsmarkt gehandelt." 2 Nach Joachim Wagner, Strafprozeßführung über Medien, Baden-Baden 1987, S. 14, sollen Anwälte sogar die „besten Quellen" sein. 3 Hassemer NJW 1985, 1921, 1924; vgl. hierzu weiter unten zu Abschnitt 3.

40

Karl-Heinz Gross

Presse stattgefunden; aus der leidigen passiven Auskunftspflicht ist längst die von den Strafverfolgungsbehörden gerne, gelegentlich zu extensiv wahrgenommene aktive „Zusammenarbeit mit Presse und Rundfunk" 4 geworden, die allerdings einigen Journalisten immer noch nicht weit genug geht. 5 2. Man muß nicht gleich das Bild vom „Beschuldigten im Würgegriff der Medien" beschwören, 6 wird aber dennoch die folgenden Auswirkungen und Gefahren der modernen Medienwelt auf den Strafprozeß nicht übersehen können: a) Pressemitteilungen mit belastenden Details bezüglich ausdrücklich genannter oder identifizierbarer Personen aus einem Ermittlungsverfahren können deren Persönlichkeitsrechte verletzen. Dies ist zwar ein oft erörterter, jedoch für das strafprozessuale Verfahren selbst eher am Rande liegender Aspekt. b) Die Furcht vor Publizität veranlaßt manche Beschuldigte, auf prozessuale Möglichkeiten zu verzichten, z.B. gegen einen erlassenen Strafbefehl keinen Einspruch einzulegen. 7 Der Journalist Kerscher8 hält diese Auswirkungen der Medienöffentlichkeit zwar „eines Rechtsstaates mit umfassendem Grundrechtskatalog für unwürdig", was aber nichts daran ändert, daß ein solches resignatives Prozeßverhalten eines Beschuldigten ebenso plausibel wie unvermeidlich ist und die Verteidigungsstrategie schon im Ermittlungsverfahren prägen kann. c) Erhebliche Gefahren entstehen für die Richtigkeit von Zeugenaussagen: 9 Es wird manchem Zeugen schwerfallen, überhaupt noch zu unterscheiden, was er selbst erlebt und was er der Presse entnommen hat; 10 Die Suggestivwirkung von Pressefotos beeinträchtigt die Treffsicherheit von Identifizierungen; 11 Presseinterviews des Zeugen noch vor seiner justiziellen Aussage nehmen ihm die erforderliche Unbefangenheit, ebenso wie durch die Medien bewirkte Vorverständnisse oder gar Einschüchterungen. Für den Sachverständigen gilt naturgemäß ähnliches.

4 So die Überschrift zu Nr. 23 der Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren (RiStBV). 5 Vgl. Wagner (Fn. 2) S. 60ff. 6 So die Überschrift einer Diskussion auf dem 10. Strafverteidigerkolloquium 1993 in Köln, vgl. AnwBl 1994, 27, 28. 7 Vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 5. Aufl., Köln 1983, Rdn. 190; Weiler ZRP 1995, 130, 132. 8 DRiZ 1983, 439, 442. 9 Vgl. hierzu auch Dahs (Fn. 7) Rdn. 502. 10 So Krekeler AnwBl 1985, 426. 11 Vgl. hierzu auch Weiler ZPR 1995, 130, 134.

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

41

d) Besonders bedeutsam sind die potentiellen Auswirkungen der Presseberichterstattung auf die Entscheidungen von Staatsanwaltschaft und Gericht. Natürlich darf nach dem Schuldprinzip ein Täter nur für seine Tat verantwortlich gemacht werden, nicht aber für den „Anstrich", den die Medien ihr geben. 12 Die Problematik besteht aber dennoch, und sie kann nicht etwa mit dem Hinweis darauf, daß wissenschaftlich-empirische Nachweise über solche Auswirkungen nicht vorliegen, 13 ad acta gelegt werden. Vielmehr muß man differenzieren und auch einräumen: Bei den Opportunitätsentscheidungen der Staatsanwaltschaft, wo qua Gesetz das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung mit zur Debatte steht, spielt selbstverständlich die Medienwirksamkeit der zu treffenden Entscheidung eine Rolle. Selbst wenn eine Staatsanwaltschaft eine Medienschelte - heute gewiß nur noch ungern - in Kauf nähme, wird spätestens das Justizministerium, dem die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft zugerechnet werden, in Versuchung sein, Einfluß auszuüben, um der öffentlichen Meinung Gehör zu verschaffen. Auch außerhalb der Entscheidungen nach den §§ 153 ff. StPO ist es gut vorstellbar, daß die Staatsanwaltschaft in einem Fall, wo der hinreichende Tatverdacht mit guten Gründen ebenso bejaht wie verneint werden kann, sich im Hinblick auf das Medienecho für die letztendliche Klärung durch das Gericht, also für eine Anklageerhebung und nicht für eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO, entscheidet. Bezüglich der gerichtlichen Entscheidungen bleibt alles spekulativer. Es gibt Äußerungen, gerade auch von Anwälten, wonach sich ein Gericht sicherlich nicht bei der Frage „Schuld oder Nicht-Schuld" von der öffentlichen Meinung beeinflussen lasse, eher aber schon bei der Strafzumessung. 14 15 Andere warnen aber auch vor der Gefahr gar nicht einer öffentlichen Vorverurteilung, sondern eines öffentlichen Vorfreispruches. 16 Der rheinland-pfälzische Justizminister Caesar17 hat einmal die „Richterpersönlichkeit" herausgestellt, die in keinen vorauseilenden Gehorsam gegenüber der Öffentlichkeit „verfällt, die aber auch sensibel und weitsichtig genug ist, sie rechtzeitig zu bedenken und über die Wirkungen eines Urteilsspruchs oder dessen Begründung vorher nachzudenken." Dies ist zwar Wort für Wort richtig, aber letztlich auch durchaus schillernd. Auf jeden Fall bleibt Vgl. OLG Celle, NStZ 1986, 456. Vgl. hierzu Jahn in „Der Einfluß der Medien auf das Strafverfahren" von Dietrich Oehleru.a., München 1990, S. 6, 18. 14 Das schlossen gerade auch in einer Umfrage gehörte Richter nicht aus, vgl. Gerhardt in „Der Einfluß ..." (Fn. 13) S. 23. 15 Zuck schreibt in DRiZ 1997, 23: „Man kann sich fragen, ob „Dagobert" auch zu neun Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden wäre, wenn er ein nicht-öffentlicher Herr Funke geblieben wäre." 16 So Strafverteidiger in der von Gerhardt (Fn. 14) S. 26 erwähnten Umfrage. 17 DRiZ 1994, 455, 457 12

13

42

Karl-Heinz Gross

eines - nicht zuletzt auch im Hinblick auf die beteiligten Laienrichter18 19 unstreitig: die Gefahr einer Einflußnahme der Medien auf die Rechtsprechung, mit der der Verteidiger also rechnen muß. 3. Gegenüber diesen sehr handfesten Gefahren dürfen nicht außer Acht gelassen werden die eher unfaßbaren Auswirkungen, die der Institution des Strafverfahrens als solcher von den Medien her drohen. „Die Verarbeitung schwerster Abweichungskonflikte in einem formalisierten Verfahren" ist, um mit Hassemer20 zu sprechen, die „vornehmste Aufgabe" der Strafjustiz, und er leitet aus dem Gewaltmonopol des Staates auch das bereits mehrfach erwähnte Verarbeitungsmonopol her. "Wenn die penible Diskussion einer Straftat in den Medien dazu führt, daß dort die intellektuelle und die emotionale Auseinandersetzung zur Gänze ausgetragen wird,21 dann verstößt dies nicht nur gegen das Hassemersche staatliche Aufarbeitungsmonopol, sondern es untergräbt die Autorität des Strafverfahrens und reduziert dieses zu einer notariellen Beurkundung. Hält man den an Rechtsnormen und Prinzipien wie Unschuldsvermutung gebundenen, neutralen und der Einzelfallgerechtigkeit verpflichteten Strafprozeß aber für ein Produkt gehobener Rechtskultur und für eine zivilisatorische Errungenschaft, dann muß man sensibel werden gegen dessen Perforierung durch Medienspektakel. 4. Es sei nunmehr noch eine Überlegung angedeutet, die sich mit dem Begriff der Wahrheit (oder Wirklichkeit) im Strafprozeß unter Einwirkung der Medien befaßt. Rieß22 setzt den Begriff der materiellen Wahrheit gleich mit der „Ubereinstimmung der realen Entscheidungsgrundlage mit der Wirklichkeit". Was diese Wirklichkeit und was damit Wahrheit ist, ist ein philosophisches Problem, das vorliegend nicht angegangen werden kann. So viel ist aber sicher: Die im Strafverfahren zu findende Wahrheit/Wirklichkeit ist ein Konstrukt, dessen Validität abhängt von der normativ festgelegten Art und Weise seiner Herstellung, also unter Berücksichtigung von Beweiserhebungs- und Verwertungsverboten, Beteiligtenausschließungen usw.23 Die von der Rechtsordnung gebilligte, verfassungspolitisch gar wünschenswerte Relevanz der öffentlichen Meinung - mit ihren eigenen Wahr18 Nach B G H S t 22, 289 begründet die Kenntnis von Presseveröffentlichungen aber kein Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Laienrichters. 19 Hassemer NJW 1985, 1921, 1926 spricht einmal von den „scharfgemachten Schöffen". 2 0 A . a . O . (Fn. 19) S. 1924. 21 Wagner (Fn. 2) S. 32 spricht von Fällen, in denen zwei Prozesse stattgefunden hätten, zunächst nur in den Medien und dann im Gerichtssaal, wo aber gar nichts mehr Neues herauskam. 2 2 N S t Z 1994, 409, 414. 23 Hassemer in „Der Einfluß der Medien . . . " (Fn. 13) S. 63 nennt den nach der Beweisaufnahme für die Gesetzesanwendung zugrundeliegenden Sachverhalt „ein erkenntnistheoretisch problematisches, vielfach verschmutztes Gebilde."

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

43

heitskonstrukten - und die Tatsache, daß Urteile „Im Namen des Volkes" ergehen, könnten nun den Gedanken nahelegen, daß die „Wahrheit" des Strafprozesses legitimerweise auch von der medialen „Wirklichkeit" mitbeeinflußt werde, natürlich nicht im Sinne einer platten Übernahme, aber im Sinne einer Mitberücksichtigung bei ihrer Herstellung. Es ist gar nicht zynisch gemeint, wenn der Soziologe Merten11· ausführt: „Wenn es richtig ist, daß Trinkwasser in der Öffentlichkeit nicht schon als trinkbar gilt, wenn es hygienisch sauber ist, sondern erst dann, wenn es auch publizistisch „sauber" ist, so bedeutet dies für das Rechtssystem analog, daß es als Kommunikator rechtsrelevanter Inhalte nicht dann erfolgreich ist, wenn diese Inhalte rechtlichen Verfahrensregeln genügen, sondern erst dann, wenn diese Inhalte auch publizistisch adäquat kommunziert werden." Merten hatte zuvor 25 Epiktet mit dem Satz zitiert: „Genau so wirklich wie die Tatsachen sind die Vorstellungen von den Tatsachen." Solche Gedanken sind ebenso intellektuell reizvoll wie in ihren Konsequenzen überaus gefährlich, erscheinen sie doch wie ein Steigbügel zur wohlfeilen political correctness von Strafentscheidungen. Sie werden nicht weitergesponnen und wurden überhaupt nur angedeutet, um zu zeigen, bis in welche Dimensionen das Thema „Medien und Strafprozeß" reicht.

B. Konsequenzen I. Allgemeine Folgerungen für Prozeßbeteiligte In einem Bericht der Bundesregierung zum Thema der öffentlichen Vorverurteilung 26 wurden vielfältige Überlegungen zu Gesetzesänderungen angestellt, aber allesamt verworfen; der (spätere) Vorschlag von Dalbkermeyer zur Einfügung eines Identifizierungs- und Präjudizierungsverbotes im Ermittlungsverfahren in das GVG 27 wurde bisher nicht aufgegriffen. In dem deutlichen Interessenwiderstreit zwischen Presse- und Meinungsfreiheit auf der einen und dem allgemeinen Prozeß- und dem Beschuldigten- und Verteidigerinteresse auf der anderen Seite dürfte eine - wegen der Grundrechtsrelevanz überaus schwierige - Grenzziehung oder Grenzverschiebung nicht durch abstrakte materielle Normen zu erreichen sein, sondern nur durch die Praxis selbst, wobei den Strafverteidigern eine wichtige Rolle zukommt. Es geht nachfolgend denn auch nicht um Vorschläge de lege ferenda, sondern 24

Klaus Merten in Zeitschrift für Rechtssoziologie 1997, S. 16, 26f. A.a.O. (Fn. 24) S. 22. 26 BT-Drucks. 10/4608. 27 Birgit Dalbkermeyer, Der Schutz des Beschuldigten vor identifizierenden und tendenziösen Pressemitteilungen der Ermittlungsbehörden, Frankfurt am Main 1994; der vorgeschlagene Text eines § 169a GVG befindet sich dort auf S. 185, 191. 25

44

Karl-Heinz Gross

um das adaequate Verhalten (nicht nur) der Strafverteidiger unter den bestehenden Umständen. 1. Die beschriebene Medienrealität mitsamt ihren Auswirkungen wird sicherlich von niemandem mehr geleugnet. Sie darf aber nicht als unvermeidliches, unfeines Übel erlebt und empfunden werden. Die Mediendemokratie „ist schlichtweg zunehmender Bestandteil des rechtlichen Berufsfeldes" (Caesar28). Wer dies akzeptiert, dem wird es auch leichter fallen, die nachfolgend postulierten Grenzen mit aufzubauen und zu beachten. Auf jeden Fall verlangt das Agieren und damit auch das Verteidigen im Strafverfahren heute auch, die Medienaufmerksamkeit mit ins Kalkül zu ziehen und gegebenenfalls eine eigene Medien„politik" zu konzipieren.29 These 1: Strafverfahren werden von der Medienaufmerksamkeit Auch die Verteidigung hat sich hierauf einzurichten.

begleitet.

2. In der Bundesrepublik gibt es zwar noch keine amerikanischen Zustände mit Court-TV. Immerhin veröffentlichte der Journalist Wagner aber schon vor über 10 Jahren sein Buch unter dem Titel „Strafprozeßführung über Medien", 30 ohne diesem Titel etwa ein Fragezeichen hinzuzufügen. Für ein „principiis obsta" wäre es also sicherlich zu spät. Um so notwendiger ist es im Hinblick auf die oben31 angestellten Überlegungen, daß alle, die auf die Grundsätze der bestehenden Rechtsordnung verpflichtet sind, also auch die Rechtsanwälte als Organe der Rechtsordnung, den von Dahsi2 klassisch formulierten Satz beachten: „Der Kampf um das Recht gehört nicht auf den Markt, sondern in den Gerichtssaal." Zutreffend verlangt Krekeleri} vom Verteidiger, auch nur den Anschein zu vermeiden, als wolle er mit öffentlichen Informationen auf die Entscheidungsträger Einfluß nehmen. Alle Verfahrensbeteiligten haben Tendenzen zur Entstehung von Medienprozessen neben den Strafverfahren entgegenzuwirken; das justizielle Verfahren hat nicht nur Vorrang, es darf auch nicht in seinem Ausschließlichkeits- und Autoritätsanspruch geschmälert werden. These 2: Es ist eine Aufgabe der Organe der Rechtsordnung und damit auch der Rechtsanwälte als Verteidiger, zu verhindern, daß die Mediendiskussion eines strafrechtlich relevanten Vorkommnisses das justizielle Verarbeitungsmonopol beeinträchtigt. 28

So Caesar DRiZ 94, 455, 457 Nach Wagner (Fn. 2) S. 54 bindet der Verteidiger Egon Müller Journalisten als „Stütze" und „Hilfsmittel in der Rechtskultur" in das Verteidigungskonzept ein. 3 ° Fn. 2. 31 Abschnitt A 3. 32 Fn. 7, Rdn. 188. 33 AnwBl. 1985, 426, 427 29

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

45

3. These 2 muß dazu führen, die Pressearbeit der Strafverfolgungsorgane kritisch zu betrachten. Nicht nur von anwaltlicher Seite werden Staatsanwaltschaft und Polizei als „Quellen präjudizierender Publizität"34 bezeichnet; auch Hassemet35 hält die Informationspolitik der Staatsanwaltschaften möglicherweise für eine „Quelle für Vorverurteilungen". Die veränderte Einstellung der Staatsanwaltschaft zu den Medien wurde bereits angesprochen.36 Schroers hat in einem Beitrag über „Probleme bei der Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaften und Medien"37 die Motive für die Medienfreundlichkeit der Staatsanwaltschaft dargelegt. Er betont, die Staatsanwaltschaft wolle mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit nicht nur „schlicht verkünden", sondern „Recht als prozeßhaftes, staatlich geordnetes Geschehen sichtbar machen"; er geht davon aus, daß „von den Zielsetzungen Rechtsverdeutlichung und Mitwirkung bei der Prägung und Artikulation der öffentlichen Meinung ein partieller Interessengleichklang" zwischen Staatsanwaltschaft und Medien bestehe, und er spricht schließlich davon, daß die Staatsanwaltschaft „mit aktiver Medienarbeit ihr Bild in der Öffentlichkeit und damit das des Rechts" festige. Hiergegen ist zu bedenken, daß das nicht-öffentliche Ermittlungsverfahren nicht „sichtbar" zu machen ist, daß der Auftrag der Staatsanwaltschaft unabhängig von der öffentlichen Meinung besteht und mit den Mitteln der StPO und nicht durch Aktivierung der öffentlichen Meinung erfüllt werden muß und daß Pressemitteilungen über ein Strafverfahren keine PR-Veranstaltungen zur Imagepflege einer Staatsanwaltschaft sein dürfen, denn mit gleichem Recht (und legitimen lukrativen Auswirkungen) könnten auch Verteidiger ihr „Bild in der Öffentlichkeit festigen" wollen, womit man dann dem Medien-Prozeß ein Stückchen näher käme. Wenn DabsiB in einer Anmerkung zu einer Entscheidung des BGH über eine Schadensersatzforderung wegen einer staatsanwaltschaftlichen Presseauskunft gehofft hatte, das Prinzip der Pressesprecher der Staatsanwaltschaften „in dubio pro Presse" werde ersetzt werden durch das Prinzip „in dubio contra publicationem", so ist diese Hoffnung offensichtlich nicht in Erfüllung gegangen, im Gegenteil, übrigens nicht nur in Deutschland.39 Zurückhaltungsappellen der Landesjustizverwaltungen gegenüber allzu pressefreudigen Staatsanwälten wird entgegengehalten, daß man vor Ort den Zudringlichkeiten der Medien nur schlecht widerstehen könne. Dies mag richtig sein, es ist aber auch mitverschuldet durch eine So Krekeler a.a.O. (Fn. 33) 426. NJW 1985, 1921, 1927 36 Abschnitt A 1 a.Ε. 37 NJW 1996, 969 ff. 38 NStZ 1986, 563, 564. 39 Auch in der Schweiz wird die freudige Mitteilungspraxis der Staatsanwaltschaften, insbes. in Wirtschaftsstrafsachen, kritisiert, vgl. einen Beitrag in der NZZ vom 1. 2. 1996, S. 10. 34

35

46

Karl-Heinz Gross

Haltung der Staatsanwaltschaft, die ihre Medienpräsenz als Wert an sich betrachtet und sie ganz losgelöst vom Informationsanspruch der Öffentlichkeit als Imagepflege einer Justizbehörde ausübt. Wenn man den Strafprozeß als eine gesetzlich geregelte Justizveranstaltung ansieht, muß die zu große Presseoffenheit der Staatsanwaltschaft also prinzipiell bedenklich erscheinen. Man mag die Forderung von Roxin,40 der Staatsanwaltschaft solle es für den Regelfall untersagt werden, Einzelheiten laufender Ermittlungen an die Presse zu geben, als zu weitgehend und, vor allem, als heute nicht mehr durchsetzbar ansehen;41 es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die Staatsanwaltschaft generell gegenüber den Medien etwas zurücknähme und strikt die Regelungen in Nr. 23 der Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren (RiStBV) 42 beachtete. Auf jeden Fall ist angezeigt folgende These 3: Es wird den Staatsanwaltschaften eine wesentlich größere Zurückhaltung bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit empfohlen.

II. Verteidigung und Medien 1. Grundsätzliches Verteidigung darf selbstverständlich nicht gegen Strafnormen verstoßen, und dies gilt, ebenso selbstverständlich, auch beim Umgang des Verteidigers mit der Presse, man denke an § 353d StGB. Daneben gibt es das Standesrecht,43 das in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Rolle spielen muß, bezeichnet doch Wagner44 unter den fünf wichtigsten Motiven für Anwaltsinformationen an die Presse an den beiden ersten Stellen die Eitelkeit und die Werbung.45 Unter Bezugnahme auf die obige These 2 wird daher folgende weitere These aufgestellt:

NStZ 1991, 153, 159. Realistischer wäre dann schon die Forderung des 58. Deutschen Juristentages (München 1990, Abteilung Medienrecht, Nr. 11 der Beschlüsse), Pressesprechern der StA und der Polizei zu verbieten, im Rahmen eines schwebenden Verfahrens eigene Stellungnahmen abzugeben. 42 Vgl. dort insbes. Satz 2, wo es bzgl. der Unterrichtung der Öffentlichkeit heißt: „Diese Unterrichtung darf weder den Untersuchungszweck gefährden noch dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorgreifen; der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren darf nicht beeinträchtigt werden." 4 3 Eindringlich betont bei Dabs (Fn. 7) Rdn. 186ff. 44 Fn. 2, S. 20 4 5 Vgl. auch „Thesen zur Strafverteidigung", vorgelegt vom Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer, Bd. 8 der Schriftenreihe der BRAK, München 1992, Begründung zu These 59, wo ebenfalls von einer solchen „Versuchung" gesprochen wird. 40 41

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

47

These 4: Beim Umgang des Verteidigers mit den Medien sind die ihm vom Strafrecht und vom Standesrecht gezogenen Grenzen zu beachten. Verteidigung ist grundsätzlich nicht über Medien zuführen. 2. Verteidiger und Mandant Sicherlich stößt nur ein Bruchteil aller Strafverfahren auf das Interesse der Medien. Angesichts der geschilderten Relevanz eines solchen Medieninteresses erscheint es aber angezeigt, daß sich Verteidiger und Mandant in allen einschlägigen Fällen frühzeitig über ihre Grundhaltung gegenüber den Medien klar und einig46 werden. Geboten ist also die Erörterung dieser Frage im Eingangsgespräch,47 in dem das Verteidigungsziel und die -Strategie besprochen werden - was naturgemäß nicht die flexible Anpassung gegenüber neuen Entwicklungen im Laufe des Verfahrens ausschließt. Es lassen sich drei verschiedene Einstellungen des Mandanten zur Medienöffentlichkeit denken: a) Der Mandant wünscht, daß das Verfahren möglichst ohne Offentlichkeitswirksamkeit vonstatten geht. Alsdann ist es dem Anwalt verboten, von sich aus an die Presse heranzutreten, er hat auf die übrigen Prozeßbeteiligten, soweit möglich, dahin einzuwirken, daß auch diese die Medien außen vor lassen, und er muß, sofern keine Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO möglich ist, auf Verfahrenserledigungen ohne öffentliche Hauptverhandlung hinwirken. Möchte der Mandant trotz guter Erfolgsaussichten auf ein ihm zustehendes Recht(smittel) verzichten, weil er die Öffentlichkeit scheut, dann wird der Verteidiger ihn ausdrücklich auf seine Rechtschancen hinzuweisen haben, letztlich aber dem Begehren des Mandanten folgen müssen. Im übrigen sollte der Verteidiger sicherstellen, daß er bei nach seiner Auffassung im Interesse der Verteidigung gebotenen Reaktionen auf Pressemeldungen freie Hand hat. b) Der Mandant wünscht eine aktive Einbeziehung der Medien in die Verteidigung. Dem wird der Verteidiger widersprechen müssen, soweit hierdurch das strafprozessuale Verarbeitungsmonopol tangiert oder die Verteidigung erschwert wird. Gibt es hierzu keine Einigung mit dem Mandanten, dann sollte das Mandat abgelehnt werden. Diese Konsequenz ist sicherlich auch dann zu erwägen, wenn der Mandant ohne jede Abstimmung mit dem Verteidiger die Medien kontaktiert und hierdurch die Verteidigung zu konterkarieren droht; denn sicherlich besteht bei eigenen Presseinterviews des

46

Z u m Konsensgebot vgl. These 10 zur Strafverteidigung (Fn. 45). Z u m Eingangsgespräch ausführlich Matthias Weihrauch, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 5. Aufl., Heidelberg 1997, S. 22ff. 47

Karl-Heinz Gross

48

Mandanten immer die Gefahr, daß das Verteidigungskonzept durcheinandergebracht wird. 48 Es soll nach Wagner49 eine „eiserne Regel" der Verteidiger sein, direkte Kontakte zwischen Mandanten und Journalisten grundsätzlich50 zu unterbinden. In den wenigen gebotenen Fällen von Presseinterviews des Mandanten sollte der Verteidiger in aller Regel selbst zugegen sein. c) Der Mandant hat keine eigene Meinung zur Medienöffentlichkeit seines Verfahrens. Hier wird der Verteidiger die nach seiner Auffassung adäquate Haltung besprechen, sich die notwendigen Erlaubnisse für evtl. unvermeidbare oder gebotene Medienkontakt geben lassen und im übrigen dem Mandanten eigene Presseinterviews grundsätzlich untersagen. These 5: Es empfiehlt sich, daß der Verteidiger in (potentiell) medieninteressanten Verfahren mit dem Mandanten eine grundsätzliche Vereinbarung über die Haltung gegenüber den Medien t n f f t und die Verteidigung g g f l s . (auch) hiernach ausrichtet. These 6: Der Verteidiger hat den Wunsch des Mandanten gegen die Medienpublizität grundsätzlich zu berücksichtigen. - Er darf umgekehrt Publizitätswünschen des Mandanten nicht uneingeschränkt folgen. - Grundsätzlich ist dem Mandanten aufzuerlegen, eigene Medienkontakte zu unterlassen. 3. Verteidiger und

Staatsanwaltschaft

a) Liegt es im Interesse der Verteidigung oder der Person des Beschuldigten, daß das Verfahren in der Öffentlichkeit nicht bekannt wird, dann wird der Verteidiger zu überlegen haben, ob er an die Staatsanwaltschaft mit dem Anliegen herantritt, von dort aus keine Presseunterrichtung zu veranlassen. Dabei wird der Verteidiger allerdings zu berücksichtigen haben, daß die Staatsanwaltschaft nach den jeweiligen Pressegesetzen zu Presseauskünften verpflichtet ist und daß die Möglichkeit besteht, daß die Medien aus einer anderen Quelle auf den Fall aufmerksam gemacht werden. Auch muß der Verteidiger gewärtigen, daß die Staatsanwaltschaft sein Anliegen u.a. mit der Begründung ablehnt, das bewußte Außenvorlassen der Medien könne den nicht hinnehmbaren Anschein der Mauschelei erwecken, 51 oder daß sie eine Gegenleistung verlangt. Man wird also sicherlich keine generelle Vgl. auch Abs. 3 der Begründung zur These 59 zur Strafverteidigung (Fn. 45). w Fn. 2, S. 56. 50 Wagner (Fn. 2) berichtet, daß Egon Müller diese Regel allerdings „zur Begrenzung von Publizitätsschäden" dann breche, wenn die Medien ein zu negatives Bild des Mandanten zeichneten. 51 Wagner (Fn. 2) S. 52f., berichtet von entsprechenden Absprachen zwischen Verteidiger und Justiz bezeichnenderweise unter der Überschrift „Klammheimliche Prozeßerledigung". 48

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

49

Empfehlung zum Herantreten an die Staatsanwaltschaft mit dem Ziel der Presseverschwiegenheit geben können; alles hängt vom Einzelfall, auch von der Persönlichkeit der Akteure ab. So bleibt nur folgende, sehr zurückhaltende These 7: Prüft der Verteidiger; ob es angezeigt ist, an die Staatsanwaltschaft mit dem Ziel heranzutreten, das Verfahren möglichst nicht publik zu machen, dann sind die Erfolgschancen sehr kritisch abzuwägen. b) Oft genug veranstaltet die Staatsanwaltschaft Pressekonferenzen, auf denen sie über den Stand oder den Abschluß eines Verfahrens informiert. Sicherlich dürften diese Veranstaltungen nur in Einzelfällen einen „tribunalähnlichen Charakter" 52 besitzen. Aber gewiß wird dort das Bild der Staatsanwaltschaft über den Fall präsentiert, und dies mag aus der Sicht des Verteidigers einseitig erscheinen oder sogar verzerrt geschehen. Deshalb gibt es die Forderung, dem Verteidiger die Gelegenheit zu geben, an solchen Pressekonferenzen teilzunehmen. 53 O b ein solches Begehren sogar gesetzlich festgeschrieben werden sollte, wie dies Dalbkermeyer54 vorschlägt, mag dahinstehen. Notwendig jedenfalls ist es nicht; denn selbstverständlich kann auch ohne Gesetz der Verteidiger zu staatsanwaltschaftlichen Pressekonferenzen geladen werden, und dies geschieht gelegentlich in der Praxis schon heute. 55 Angesichts der oben geschilderten erheblichen Relevanz einer Medienbegleitung für das Strafverfahren sollte es mehr als nur ein nobile officium für die Staatsanwaltschaft sein, den Verteidiger zu einer Pressekonferenz einzuladen. Das Verteidigerinteresse wird es oftmals gebieten, dieser Einladung Folge zu leisten; denn nur so kann der Verteidiger erfahren, was auf der Pressekonferenz wirklich gesagt wurde, und er kann sich hierauf gegebenenfalls einrichten. Natürlich wäre es im Hinblick auf den oben 56 zitierten Grundsatz, daß der Kampf ums Recht nicht auf dem Marktplatz auszutragen ist, völlig verfehlt, wenn Staatsanwalt und Verteidiger etwa eine gemeinsame Pressekonferenz abhielten. Aber auch wenn der Verteidiger nicht mit oben auf der Verkündungsbühne sitzt, ist die Verlockung, die Erklärungen des Staatsanwalts sofort mit Gegenerklärungen - und sei dies auch nur in Frageform - zu kontern, groß. Es wird im nächsten Abschnitt zu erörtern sein, wie weit Verteidiger überhaupt auf Presseerklärungen und Medienbe52

So Ziegler in einem Referat auf dem 10. Strafverteidigerkolloquium 1993 in Köln, zitiert von Rüstow AnwBl 1994, 28. 53 So die Bundesrechtsanwaltskammer in ihrer vom Strafrechtsausschuß konzipierten vorbereitenden Stellungnahme zu dem zu Fn. 26 genannten Bericht der Bundesregierung, dort S. 145, Abschnitt IV, 1. 54 Vgl. Fn. 27. 55 Z.B. im Saarland, vgl. Wagner (Fn. 2) S. 103. 56 Abschnitt I 2.

50

Karl-Heinz Gross

richte reagieren sollten. Doch dies sei hier schon festgehalten: Selbst wenn eine Reaktion auf Äußerungen der Staatsanwaltschaft in einer Pressekonferenz angezeigt oder sogar notwendig wäre, dürfte diese niemals in derselben Pressekonferenz geschehen, weil die unmittelbare Rede und Gegenrede der Prozeß„gegner" allein im Gerichtssaal zu erfolgen hat.57 These 8: Die Staatsanwaltschaft hat zu einer Pressekonferenz auch den Verteidiger einzuladen. Informandi causa sollte der Verteidiger dieser Einladung in aller Regel Folge leisten. Die gleichzeitige Darstellung des eigenen Standpunktes auf dieser Pressekonferenz hat zu unterbleiben. 4. Pressekontakte des Verteidigers a) Zunächst ist die Maßgeblichkeit des Mandantenwillens zu betonen. Hat dieser den Wunsch geäußert, daß das Verfahren möglichst ohne Medienaufmerksamkeit verlaufen solle, dann wird es sicherlich zur Aufgabe des Verteidigers gehören, in Fällen, in denen bislang noch keine Presseveröffentlichungen stattgefunden hatten, den Versuch zu unternehmen, etwa anfragende Journalisten von ihrem Interesse an dem Fall abzubringen - wobei die Erfolgsaussichten i.d.R. nicht sehr groß sein dürften, man sogar gelegentlich mit empfindlichen Reaktionen rechnen muß.58 Im übrigen wird der Verteidiger, nicht zuletzt auch aus dem Gesichtspunkt der Schweigepflicht, nur dann Pressegespräche führen dürfen, wenn der Mandant hiermit einverstanden ist. Allerdings sind Fälle denkbar, in denen der Verteidiger die sofortige Wahrnehmung des Pressekontaktes, z.B. zu einer Richtigstellung, im Interesse der Verteidigung für unbedingt notwendig hält, wo er aber nicht mehr rechtzeitig die Einwilligung des Mandanten erreichen könnte; hier wird gegebenenfalls sogar die Verletzung der Schweigepflicht aufgrund einer sorgfältigen Rechtsgüter- und Pflichtenabwägung59 aus dem Gesichtspunkt der Gefahr im Verzug zu dem Gespräch mit dem Journalisten auch ohne vorherige Einwilligung des Mandanten erlaubt sein. b) Grundsätzlich ist nicht nur aus den den Thesen 2 und 4 zugrundeliegenden Überlegungen, sondern auch im Interesse der Verteidigung Zurückhaltung und Vorsicht im Umgang mit der Presse angezeigt, sowohl was das Ob des erbetenen Pressegesprächs angeht als auch bezüglich dessen Umfang, also der Quantität der Äußerungen gegenüber dem Journalisten. Dies läßt sich mit folgenden Überlegungen begründen: Zum einen erweitert oder fe57 Α. A. Dalbkermeyer, die sogar ein gesetzliches Außerungsrecht des Verteidigers in der StA-Pressekonferenz statuieren möchte. - Auch im Saarland hat der Verteidiger das Recht, auf der Pressekonferenz der StA Erklärungen abzugeben, vgl. Wagner Fn. 55. 58 Vgl. Dahs (Fn. 7) Rdn. 195. 59 Vgl. Dahs (Fn. 7) Rdn. 189, 44.

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

51

stigt jede noch so winzige inhaltliche Presseantwort eines Verfahrensbeteiligten den Boden, von dem aus eine - vom Prinzip her unerwünschte - Mediendebatte über ein laufendes Verfahren durchgeführt werden kann, zumal das „Bedienen" nur eines einzigen Journalisten dessen Kollegen verprellen würde, mit den dann vorstellbaren Fragen. Und zum anderen sind Presseinterviews niemals steuerbar.60 Journalisten mögen bewußt oder unbewußt ihre Interviewpartner falsch verstehen oder interpretieren, und manche von ihnen können durch geschicktes Fragen mehr aus ihrem Gesprächspartner herausholen, als dieser eigentlich preisgeben wollte. c) Ein (inhaltliches) Eingehen auf ein von der Medienseite erbetenes Gespräch dürfte, wenn das Verfahren bisher noch nicht publik war, in zwei Fällen geboten sein: 1) Wenn es (aus der Sicht des Verteidigers) wirklich für die Verteidigung nützlich ist, wobei dieses Gebot sogar zu einem Muß erstarken kann, wenn der Journalist in glaubhafter Weise dem Verteidiger die Beschaffung seriöser Beweismittel anbietet, die dieser bisher nicht kannte oder an die er sonst nicht herankäme. 2) Wenn es für die sonstigen Persönlichkeitsinteressen des Mandanten - man denke an seine berufliche Existenz oder sein soziales Ansehen - wichtig sein kann. Es wäre aber vermessen, hierzu etwa noch präzisere Regeln entwickeln zu wollen; alles hängt vom Einzelfall und auch von der Persönlichkeit des Verteidigers ab. - Dies gilt auch dann, wenn das erbetene Pressegespräch reaktiv ist, d.h. wenn schon von anderer Seite Mitteilungen an die Presse oder Presseberichte erfolgt sind oder mit Sicherheit bevorstehen. Der Verteidiger wird das erbetene Pressegespräch sicherlich dann führen, wenn er damit einer sich gegen den Mandanten zusammenbrauenden Stimmung in der öffentlichen Meinung entgegenwirken oder wenn er Falschmeldungen richtigstellen kann. 61 Unmaßgeblich dürfte sein, wer von den anderen Prozeßbeteiligten sich vorher schon geäußert hat, etwa die Staatsanwaltschaft oder der Verteidiger eines (konkurrierenden) Mitbeschuldigten. Immer kommt es auf die konkrete Situation des Einzelfalles an; es kann sein, daß das Schweigen des Verteidigers vom Publikum als Schuldeingeständnis gedeutet würde,62 es kann aber auch durchaus im Interesse der Verteidigung liegen, ja sogar die öffentliche Meinung günstig beeinflussen, wenn der Verteidiger daraufhinweist, daß der Fall letztlich vom Gericht aufzuklären sein wird und öffentliche Vorabbekundungen schon aus Gründen des Stils abgelehnt werden. An dieser Stelle ist nachzutragen, daß die hier vertretene strenge Ablehnung von Verteidigererklärungen im Rahmen 60 Vgl. Dahs (Fn. 7), Rdn. 187: „Der Umgang mit der Presse ist ebenso aufregend und gefährlich wie der Umgang mit schönen Frauen oder mit Pferden. Man muß ständig aufpassen, daß sie nicht durchgehen." 61 Dahs (Fn. 7), Rdn. 187 zitiert den Reporterspruch, daß „nichts eine gute Story schneller verdirbt als ein paar Tatsachen." 62 Vgl. Dahs (Fn. 7), Rdn. 188.

52

Karl-Heinz Gross

einer staatsanwaltschaftlichen Pressekonferenz sich keineswegs auf Antworten erstreckt, die der Verteidiger nach der Pressekonferenz den Journalisten gibt. d) Hat sich die Presse bisher noch nicht mit dem Verfahren befaßt, dann ist es grundsätzlich nicht angezeigt, daß der Verteidiger von sich aus mit Presseerklärungen oder -interviews an die Medien herantritt. Dies zum einen wegen der Beachtung des Justizverarbeitungsmonopols und zum anderen, weil in aller Regel das „Einspannen" der Medien der Verteidigung nicht dienlich ist.63 Man kann sich eigentlich nur folgende Ausnahmefälle vorstellen, in denen dieses „Verbot" durchbrochen ist: Zum einen dann, wenn der Verteidiger die Medien gleichsam zu Fahndungszwecken, also zum Auffinden sonst unerreichbarer Beweismittel, in Anspruch nehmen möchte. Zum zweiten dann, wenn sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Presse ohnehin des Falles annehmen wird und der Verteidiger präventiv davon ausgeht, daß es für die Verteidigung günstiger wäre, nicht nur zu reagieren, sondern das Thema zunächst einmal selbst zu besetzen. Und schließlich dann, wenn die beruflichen oder sonstigen „Nebenprodukte" einer Beschuldigung, die also selbst nicht Gegenstand des Verfahrens sind, am ehesten durch ein Herantreten an die Öffentlichkeit gemildert werden können; dies mag im strengen Sinne nichts mehr mit Verteidigung zu tun haben, wird aber sicherlich unter einen Begriff von Verteidigung fallen, der gewisse Implikationen des Verfahrens für den Mandanten mitberücksichtigt. - Ist ein Verfahren bereits von den Medien aufgegriffen worden oder steht eine Publikation unmittelbar bevor, dann ist das Gebot an den Verteidiger, sich in den Medien zurückzuhalten, natürlich wesentlich weniger stark, und es kommt wieder auf den Einzelfall an, ob der Verteidiger sich vom Herantreten an die Presse eine Förderung der Verteidigung oder einen sonstigen Vorteil für seinen Mandanten versprechen kann. In Fällen grober, präjudizierender Verzerrungen mag eine Reaktion gegenüber den Medien, z.B. in der Form einer (eigenen!) Pressekonferenz sogar geboten sein,64 weil Schweigen falsch gedeutet würde. 65 These 9: Pressekontakte des Verteidigers dürfen - außer bei Gefahr im Verzug - nur mit Einwilligung des Mandanten stattfinden. Dem Verteidiger wird empfohlen, bei der Aufnahme und der Durchführung solcher Pressekontakte grundsätzlich Zurückhaltung zu wahren. In Einzelfällen kann eine 63 Nach Gerhardt (Fn. 14), S. 26 warnten in einer Umfrage die meisten Verteidiger vor einer „aktiven Informationspolitik". 64 In der Begründung (2) der These 58 zur Strafverteidigung (Fn. 45) heißt es sogar, daß der Verteidiger einseitigen Informationen der Strafverfolgungsorgane entgegentreten „muß". Auch nach Krekeler AnwBl 1985, 426, 42/ ist der Verteidiger hierzu „verpflichtet", „um das ,Gleichgewicht'wiederherzustellen." 65 Vgl. Dahs (Fn. 7), Rdn. 188.

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

53

Unterrichtung der Medien den Zwecken der Verteidigung dienlich, als Reaktion auf tendenzielle Darstellungen sogar geboten sein.bb 5.

Prozeßverhalten

Die Möglichkeiten des Verteidigers, im Prozeß selbst oder im Zusammenhang damit unkorrekte Medieninformationen anderer Prozeßbeteiligter zur Geltung zu bringen, sind sehr begrenzt. Gegen Gerichtspersonen gibt es das (im Ermittlungsverfahren wohl nur selten in Betracht kommende) Ablehnungsrecht nach § 24 StPO, das aber nach ganz herrschender Meinung67 für den Staatsanwalt, also den Herrn des Ermittlungsverfahrens, auch nicht entsprechend anzuwenden ist. Hier hat der Verteidiger nur die Möglichkeit zur Dienstaufsichtsbeschwerde - auch zur Wahrung späterer Schadenersatzansprüche wegen weiterer Falschinformationen der StA 68 - , und er kann, ebenfalls gegenüber dem Vorgesetzten, das Verlangen vorbringen, den aufgrund seiner Presseerklärungen offenbar nicht mehr objektiven Staatsanwalt aus dem Verfahren abzulösen. 69 Der Verteidiger wird sicherlich genau zu prüfen haben, ob es den Interessen des Mandanten dienlich ist, derartige Rechtsbehelfe oder Begehren vorzubringen. Die Chancen für ihre rechtliche Durchsetzbarkeit sind eher als gering70 einzustufen. - In sich widersprüchlich wäre es, die bereits eingetretenen Benachteiligungen des Beschuldigten durch die Medienpublizität als Argument zur Verneinung des öffentlichen Interesses an einer „zusätzlichen" Strafverfolgung und damit zur Untermauerung eines Wunsches auf eine Einstellung nach den §§ 153 f. StPO vorzubringen; denn diese Publizität zeigt im Gegenteil gerade das Interesse der Öffentlichkeit an der Aktivität der Strafverfolgungsorgane. Anders ist es mit den Auswirkungen auf die Rechtsfolgen. Ist bereits das vorverurteilende Medienspektakel mit dem hierdurch verursachten sozialen Ansehensverlust des Beschuldigten für diesen eine spürbare Ubelzufügung, dann spricht vieles dafür, dies bei der Strafzumessung - und damit auch beim „Aushandeln" eines Strafbefehls - zu berücksichtigen. Der Literatur läßt sich nicht klar entnehmen, wie weit die Rechtsprechung schon heute diese Auffassung, für die u.a. auf die Parallele der Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer hingewiesen werden kann, vertritt.71 Es wäre also eine Aufgabe der Verteidiger, die Anrechnung von MedienveröffentErweiterung der These 58 Abs. 2 zur Strafverteidigung (Fn. 45). Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 42. Aufl., Rdn. 3 vor § 22 StPO. 68 Vgl. BGH NStZ 1986, 562ff. m. Anm. Dahs. 69 So Roxin NStZ 1991, 153, 159. 70 Vgl. Fn. 67. 71 Tröndle, StGB, 48. Aufl., § 46 Rdn. 35a m. w. Fundst. ist offenbar für die Berücksichtigung. Andererseits bedauert "Weiler ZPR 95, 130, 135, daß ein solcher Strafmilderungsgrund „bisher selten" Anerkennung finde. 66 67

54

Karl-Heinz Gross

lichungen auf das Strafmaß immer wieder im Plädoyer oder ggfls. in der Rechtsmittelinstanz zu verlangen und damit eventuell eines Tages durchzusetzen. These 10: Dienstaufsichtsbeschwerden und Ablösungsgesuche wegen unkorrekter Pressekontakte eines Staatsanwaltes können angezeigt sein, sofern sie im Interesse der Verteidigung liegen. Der Verteidiger hat darauf hinzuwirken, daß spürbare Beeinträchtigungen des Beschuldigten durch die Medienpublizität bei der Festsetzung der Rechtsfolgen berücksichtigt werden. 6. Vorgehen gegen die

Medien

Bei unrichtigen Pressemeldungen oder Äußerungen einzelner Personen stehen dem Betroffenen, wenn die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt sind, das Recht auf Gegendarstellung, auf Widerruf und auf Unterlassung zu. Führen im konkreten Fall diese Meldungen oder Äußerungen in den Medien dazu, daß die Verteidigung des Beschuldigten erschwert, insbesondere daß die allgemeine Voreingenommenheit gegen den Beschuldigten bestärkt wird, dann muß der Verteidiger prüfen, ob die genannten Rechte wahrgenommen werden sollen oder ob eine solche Reaktion im Ergebnis mehr schadet als nützt. 72 Im Falle eines Vorgehens gegen die Presse mag man fragen, ob dies noch zur Aufgabe der klassischen Verteidigung, die darauf abzielt, die prozessualen „Angriffe" der Strafverfolgungsbehörden abzuwehren, zählt. Wenn man aber die Relevanz der Medienberichterstattung für das Strafverfahren anerkennt, dann muß eine entsprechend „aufgeklärte" Verteidigung auch gebotene Rechtsmöglichkeiten außerhalb des eigentlichen Strafverfahrens wahrnehmen, wobei die sich hieran anschließende, sicherlich dementsprechend zu beantwortende Kostenfrage vorliegend dahingestellt bleibt. Hiergegen ist es schon aus begrifflichen Gründen keine Sache der Strafverteidigung, Schadensersatzansprüche des Mandanten wegen Presseverlautbarungen geltend zu machen. Hierzu bedarf es eines besonderen Mandats. These 11: Strafverteidigung gebietet es ggfls. auch, das Recht auf Gegenvorstellung sowie das Recht auf Widerruf oder Unterlassung gegenüber Presseorganen wahrzunehmen. Hingegen zählt die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nicht zu den Aufgaben der Strafverteidigung.

72

Dahs (Fn. 7), Rdn. 193 warnt davor, daß solche Folgeverfahren nur wieder „neues, hochwillkommenes Futter für das sensationslüsterne Publikum" böten.

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

55

III. Angriffe gegen die Verteidigung 1. Angriffe gegen eine Verteidigung als solche Nach einem besonders scheußlichen Verbrechen und „klarer" Schuld fragen Anhänger des kurzen Prozesses, warum der „Täter" überhaupt noch verteidigt wird; Anträge der Verteidigung, die sich verzögerlich oder kostspielig auswirken, die aber legitim oder zur Wahrnehmung der Verteidigung unbedingt notwendig sind, sind für solche Leute unverständlich und werden vielleicht sogar als Unverschämtheit angesehen. Glaubt nun eine gewisse Presse, derartige Emotionen noch fördern zu müssen, dann sind solche Kampagnen in mehrfacher Hinsicht relevant: Der Verteidiger hat die Pflicht, seinem Mandanten beizustehen und ggfls. die diesem zustehenden Rechte auszuschöpfen. Hierzu bedarf er der inneren Unabhängigkeit und Unbefangenheit. Dieser kann er verlustig gehen, wenn er sich wegen der Verteidigung der massiven Schelte von Medien (und des von diesen aufgehetzten Publikums) ausgesetzt sieht. Sicherlich hängt hier vieles von der Persönlichkeit des Verteidigers ab. Aber sobald ein Verteidiger vor einer Prozeßhandlung nicht nur deren Gebotenheit prüft, sondern darüber hinaus auch die zu erwartende Medienkritik mit abwägt, kann dies die Qualität der Verteidigung mindern. - Es ist nicht auszuschließen, daß bei einer massiven Medienschelte an jeder Verteidigung eines vermeintlich bereits feststehenden Übeltäters auch die Anträge des Verteidigers vom Staatsanwalt oder Richter (noch) kritischer bewertet werden und sich ihre Erfolgsaussicht deshalb verringert. - Eine von Medien geschürte „KurzerProzeß"-Stimmung ohne Verteidigung ist letztlich ein Angriff gegen die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens. - Es berührt die freie Berufsausübung der Rechtsanwälte, wenn ein Verteidiger seinen legitimen gesetzmäßigen Aufgaben wegen der Medienschelte nicht mehr unbefangen nachkommen kann. Die hier angesprochene Medienkritik wird allerdings wegen ihrer Grundsätzlichkeit immer im weiten Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Presse- und Meinungsfreiheit bleiben, so daß Überlegungen, solche Kampagnen rechtlich zu unterbinden, von vornherein zum Scheitern verurteilt wären. Es bleibt somit nur das argumentative und appellative Gegenhalten unter Hinweis auf die Rechtsstaatlichkeit. Dies mag in Pressekontakten durch den Verteidiger geschehen. Auch die Rechtsanwaltskammer könnte in der Öffentlichkeit dartun, daß Verteidigertätigkeit Rechtspflicht im Rechtsstaat ist. Aber noch davor müßte es für die Justiz selbst mehr als ein nobile officium sein, auf dieses Rechtsstaatsinteresse und damit auf den Grundsatz des fair trial, der Verteidigung fast schon per definitionem einschließt, hinzuweisen; hier sind nicht nur Richter und Staatsanwälte, die an dem Verfahren mitwirken, angesprochen, sondern ebenso die Pressestellen, die ja, um mit

56

Karl-Heinz Gross

Schroers73 zu sprechen, „Recht als prozeßhaftes, staatlich geordnetes Geschehen sichtbar machen" sollen. Das alles soll nicht heißen, daß bei jeder törichten Äußerung eines Journalisten über s.E. überflüssige Verteidigeraktivitäten die geballte Antwort von Justiz und Anwaltskammer erfolgen müßte. Wohl aber sollten es sich diese Institutionen angelegen sein lassen, im o. g. Sinne zu reagieren, falls es angezeigt erscheint, und es sollte für den Verteidiger die Gewißheit bestehen, daß er sich ggfls. mit der Bitte um Schutz vor den Medien an sie wenden kann. These 12: Kritisieren Medien die Tatsache, daß ein offenbar überführter Beschuldigter überhaupt noch aktiv verteidigt wird, dann ist es Aufgabe der Justizbehörden und ggfls. auch der Rechtsanwaltskammer, in der Öffentlichkeit argumentativ darzutun, daß Strafverteidigung unabdingbarer Bestandteil des Rechtsstaates ist. 2. Angriffe gegen die Person des Verteidigers Gelegentlich wird die Antipathie, die Medien einem Beschuldigten entgegenbringen, übertragen auf den Verteidiger. Unterschwellig oder offen heißt es dann, wer einen solchen Beschuldigten verteidige, verharmlose das geschehene Verbrechen und bringe sich damit selbst ins moralische Aus, sei vielleicht sogar ein klammheimlicher Sympathisant solcher Untaten. 74 Anders als in den zuvor behandelten Fällen wird hier die Person des Verteidigers und seine Integrität angegriffen; die Auswirkungen sind aber dieselben: Der persönlich angeschlagene Verteidiger ist bei seinem Agieren weniger unbefangen, und mit dem potentiellen persönlichen Ansehensverlust mögen auch seine Autorität und damit das Gewicht seiner Argumente und Anträge im Prozeß vermindert werden. Auch ist die automatische Gleichsetzung von beruflicher Verteidigung mit moralischer Nähe zum Beschuldigten ein Angriff gegen das Institut der Verteidigung, also gegen den Rechtsstaat, und gegen die freie Berufsausübung der Rechtsanwälte. Der Presseschutzwall des Artikels 5 GG, der bei allgemeinen Angriffen gegen die Strafverteidigung, wie im vorigen Abschnitt 1 erörtert, unüberwindlich hoch erscheint, ist bei Angriffen gegen einzelne Personen und deren Ehre wesentlich niedriger. Deshalb können die gebotenen Reaktionen gegen derartige Pressekampagnen über das Argumentieren, was „Verteidigung" eigentlich bedeute, und das Appellieren, rechtsstaatlichen Grundsätzen auch in den Medien den gebührenden Platz einzuräumen, hinausgehen: Es kann schon die Voraussetzungen eines Beleidigungsdeliktes erfüllen, 73

Fn. 37. Nach Dahs (Fn. 7), Rdn. 196 werden „massive Drohungen gegen den Verteidiger und seine Familie" nicht selten „zu einer Art Pressefeldzug". 74

Medien und Verteidigung im Ermittlungsverfahren

57

wenn die Ehre des Verteidigers allein wegen dessen legitimer Verteidigungshandlungen angegriffen wird. In diesen Fällen mag es geboten sein, wenn der Verteidiger, schon wegen eines gewissen Effekts75 Strafantrag stellt, wobei die Rechtsanwaltskammer ggfls. den Verteidiger bei der Bitte an die Staatsanwaltschaft unterstützen sollte, das öffentliche Interesse gem. § 376 StPO zu bejahen.76 Möglicherweise sind auch Widerrufs- und Unterlassungsklagen des Verteidigers angezeigt, um die unbefangene und gebotene Verteidigungstätigkeit wenigstens für die Zukunft zu sichern. (Daß dies alles dann nicht gilt, wenn sich die Presse auf andere Fakten als die Verteidigungsführung stützt, bedarf keiner weiteren Erwähnung.) Ob in Extremfällen der angegriffene Verteidiger sogar das Mandat niederlegen sollte,77 sei dahingestellt; dies geht letztlich auf Kosten des Beschuldigten und ist vielleicht gerade das, worauf die Presse hinwirken wollte. Ubersteigen Presseangriffe gegen die Person eines Verteidigers jedes erträgliche Maß, dann ist es eine Aufgabe der Rechtsanwaltskammern, sich (außerhalb der Rechtswahrnehmung durch den Betroffenen selbst) schützend vor einen Verteidiger zu stellen; dies soll aber nicht heißen, daß es darüber hinaus nicht auch Sache der Justiz, also der Gerichte und Staatsanwaltschaften, insbesondere ihrer Pressesprecher, sein könnte, öffentlich deutlich darzulegen, daß persönliche Angriffe gegen einen Verteidiger, die sich auf nichts anderes als dessen legitime Verteidigertätigkeit stützen, einen Angriff zugleich gegen rechtsstaatliche Grundsätze darstellen. These 13: Es kann geboten sein, unberechtigten Angriffen gegen die Person des Verteidigers und seine Integrität mit rechtlichen Schritten (Strafantrag, Widerrufs- oder Unterlassungsklage) zu begegnen. In Extremfällen ist die öffentliche Unterstützung des angegriffenen Verteidigers durch die Rechtsanwaltskammer, ggfls. auch durch Gericht und Staatsanwaltschaft, angezeigt. 3. Kritik an der Verteidigungsführung. Es bleibt noch zu erörtern die Medienkritik an einer Verteidigung, die zwar (und gerade) ausgeht von der Notwendigkeit von Verteidigung, die aber konkrete Verteidigungsschritte für verfehlt hält, sei es, weil diese dem Beschuldigten mehr schadeten als nützten, oder sei es, weil sie als querulatorisch und insgesamt destruktiv erscheinen. Die Grenze zu den im vorigen Abschnitt behandelten Fällen ehrenrühriger Kritik ist fließend, z.B. dann, wenn die Presse Kritik am Verteidigerverhalten mit dem soup$on würzt, der Anwalt sei dabei nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht gewesen. Wird diese

75 76 77

So Dahs (Fn. 7), Rdn. 192. Vgl. hierzu Dahs (Fn. 7), Rdn. 196. So Dahs (Fn. 7), Rdn. 196.

58

Karl-Heinz Gross

Grenze aber eingehalten, dann kommt es nicht darauf an, ob eine solche Kritik der Medien objektiv berechtigt ist oder nicht, auch nicht darauf, ob sie Verteidigungschancen vermindert oder nicht. Das Grundrecht der Pressefreiheit erlaubt es vielmehr den Medien immer, das prozessuale Verhalten von Verfahrensbeteiligten kritisch zu begleiten. Deshalb kommt in den in diesem Abschnitt angesprochenen Fällen als Reaktion des Verteidigers allenfalls das erklärende Pressegespräch in Betracht. These 14: Nicht ehrenrührige Kritik der Medien an der Führung einer Verteidigung ist hinzunehmen. Für den Fall, daß der Verteidiger sich hiergegen wehren will, kommt ein Pressegespräch in Betracht.

Schlußbemerkung Mit der modernen Mediendemokratie wurde der Strafprozeß um eine zusätzliche, aus liberal-rechtsstaatlicher Sicht nicht ungefährliche Dimension erweitert. Man braucht nicht schon die Medien als „Prozeßbeteiligte" anzusehen, 78 um dennoch zu konstatieren, daß sie von der Verteidigung in einschlägigen Fällen mit ins Kalkül zu ziehen sind. Dies ist sicherlich auch bereits gängige Praxis, 79 wobei beide „Kontrahenten" des Ermittlungsverfahrens ihre Berührungsängste mit der Presse längst aufgegeben haben und oftmals viel zu eng mit der Presse „zusammenarbeiten". Der von Dahs80 zitierte Satz „ Q u i mange de la presse, en meurt" ist sicherlich nicht in Erfüllung gegangen. Man sollte ihn modifizieren: „ Q u i mange de la presse ä la maniere juste, en profite."

's Vgl. hierzu Wagner (Fn. 2), S. 94. 79 Wagner meinte auf dem 10. Strafverteidigerkolloquium 1993 in Köln, manche Verteidiger verstünden es durchaus, „die Medien in brillanter Weise zu benutzen"; vgl. Rüstow AnwBl 1994, 27, 28. Fn. 7, Rdn. 194.

Der Wortwechsel GERHARD

HAMMERSTEIN

I. In der Hauptverhandlung des Strafverfahrens gilt der Grundsatz der Mündlichkeit; er besagt, daß nur der mündlich vorgetragene und erörterte Prozeßstoff dem Urteil zugrunde gelegt werden darf. Das Wort kann grundsätzlich von dem Prozeßbeteiligten, der sprechen will, nicht spontan ergriffen werden. Der Vorsitzende erteilt als Verhandlungsleiter das Wort, so zum Fragerecht (§ 240 StPO), zum Vortragen oder Verlesen von Beweisanträgen, zur Ausübung des Erklärungsrechtes nach § 257 StPO und zum Schlußvortrag (§ 258, § 326 StPO). Die Worterteilung durch den Vorsitzenden sichert den ungestörten Verlauf der Verhandlung sowie die Ordnung des Prozeßfortschrittes, bei Verhandlungsleitung durch den Vorsitzenden (§ 238 Abs. 1 StPO). Das dialektische Prinzip der Hauptverhandlung verlangt, daß der Ankläger, der Verteidiger und der Angeklagte jeweils das Recht haben, das Wort zu ergreifen. Hierbei bestimmt der Vorsitzende oder das Gesetz die Reihenfolge der Ausübung des Rederechtes (§§ 258, 326 StPO). 1 Die tägliche Praxis zeigt, daß in den meisten Fällen außerdem vom Staatsanwait und Verteidiger, aber auch vom Angeklagten, das Wort für kurze weitere Erklärungen verlangt und zugeteilt wird; aber auch ohne Worterteilung durch den Vorsitzenden wird von den Prozeßbeteiligten mitunter das Wort genommen, es werden spontan Fragen gestellt und Erklärungen abgegeben und es wird hierauf von dem Angesprochenen oft ohne Worterteilung erwidert. Hierdurch entsteht ein Wortwechsel, teils in erlaubter, teils aber auch in „wilder" Form. Dieser Wortwechsel wird von der Prozeßordnung nicht erwähnt, den sie auch grundsätzlich nicht fördern will, der aber wegen der Dialektik der Hauptverhandlung und dem unterschiedlichen, von Affekt getragenen, Rollenverständnis der Beteiligten immer wieder - auch ohne Worterteilung - zum Durchbruch kommt. Der Wortwechsel kann auch zwischen Staatsanwalt oder Verteidiger einerseits und dem Vorsitzenden oder den übrigen Richtern andererseits entstehen. 1

LR -Gollwitzer,

25. Aufl. § 240 StPO, Rn. 11-13.

60

Gerhard Hammerstein

Der das Verfahren leitende Vorsitzende sollte, wenn der Wortwechsel sich in kurzer, pointierter Weise und in gesitteter Form zeigt, die Zügel der Verhandlungsleitung nicht zu eng ziehen, weil die spontanen Äußerungen, solange sie nicht zu störend sind, zu oft vorgebracht oder zu intensiv vorgetragen werden, günstig auf den Verlauf des Prozesses einwirken können. Der Wortwechsel zwischen den Beteiligten ist latent vorgegeben; er wird als Angriffs- und Verteidigungsmittel in der antiken Rhetorik 2 behandelt und ist auch Gegenstand der modernen Redelehre. Im Rahmen des Erklärungsrechtes bei erteiltem Wort nach § 257 StPO können der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und der Verteidiger Vorhalte und Erklärungen abgeben, die zum Wortwechsel führen, sie dürfen hierbei auf Widersprüche verweisen, eine rasche Bemerkung über die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anbringen oder eine Einrede gegen Schlußfolgerungen des Prozeßgegners erheben etc. 3 Der geschickte Staatsanwalt, der schnelle, geübte Verteidiger werden das Erklärungsrecht nützen, um schon während der Beweisaufnahme durch Einwirkungen und Einreden und nicht erst im Schlußvortrag Thesen der Anklage oder der Verteidigung zu stützen. In der Praxis sieht man allerdings, daß die Ankläger von dem Recht nach § 257 StPO seltener Gebrauch machen als die Verteidiger. Einen sachlichen Grund hierfür vermag ich jedenfalls aus dem Sinn des Erklärungsrechtes nicht zu erkennen. Vielleicht setzen Staatsanwälte größeres Vertrauen in die schriftliche Anklage und fühlen sich dem Erfolg näher.

II. Der Wortwechsel kann in Fragen und Antworten bestehen. Im forensischen Bereich entsteht er meist während oder nach der Beweisaufnahme aus einer Kontroversrede oder einer kürzeren Frage durch die Antwort des Angesprochenen, aber auch spontan in allen Verfahrensabschnitten. Der Wortwechsel (lateinisch: „altercatio") 4 besteht in kurzen Erklärungen oder Meinungsäußerungen innerhalb, aber auch außerhalb der formellen Befragungen oder Erklärungen der Prozeßbeteiligten; er kann die Form eines kurzen Streitgespräches erhalten, wenn ein Prozeßbeteiligter auf die Erklärung des anderen antwortet und, wie nötig, diskursiv erwidert. Auch die Richter können sich am Wortwechsel beteiligen, ebenso der Nebenkläger oder der Angeklagte.

2 3 4

Vgl. Quintilian, Institutionis oratoriae I-XII, Buch VI, IV. S. Dahs-Dabs, Handbuch des Verteidigers 1983, Rn. 427. So auch Quintilian, aaO, Buch VI, IV.

Der Wortwechsel

61

Geschieht dies in disziplinierter Form, kann der Wortstreit sogar verfahrensfördernd sein, weil er vermeintliche Gegensätze frühzeitig beseitigt und echte Kontroversen klar herausarbeitet. Auf die Dictio des Wortführers kommt sofort die Contradictio des Angegriffenen. Zu affektgeladene laute Wortgefechte in einer beanstandbaren Form wird der Vorsitzende unterbinden, notfalls die Verhandlung sogar unterbrechen.

III. Da sich der Verfahrensbeteiligte bei dem Wortwechsel sogar nicht selten das Wort nimmt, ohne daß es ihm formell erteilt ist, kann die Form der Äußerung, wenn sie kurz und prägnant, schlagfertig und geistreich erfolgt, vom Vorsitzenden jedoch schwer oder mitunter zu spät erst unterbunden werden. Souveräne Vorsitzende gestatten oft den kurzen Wortwechsel geflissentlich, weil hierdurch eine entspannende Atmosphäre entsteht, eine positive Seite derartigen Verhaltens. Es finden auch nicht wenige Verfahren statt, bei denen ein gedankenschneller, erfahrener Vorsitzender, ein aktiver Staatsanwalt, ein gewitzter Zeuge oder ein schlagfertiger Verteidiger beteiligt sind, bei denen es zu wiederholten interessanten und förderlichen Wortwechseln kommt. Daß die StPO von dieser spontanen Außerungsmöglichkeit der Beteiligten keine Notiz nimmt, kann nicht verwundern, weil sich grundsätzlich aus Wortwechseln Störungen der Verhandlung ergeben können und der Weg hierzu nicht erst ausdrücklich gewiesen werden soll. Wenn aber kein Recht auf Worterteilung zu einem Wechselgespräch normiert ist, so wird im Kampf um das Recht im Gerichtssaal doch gerne das Wort genommen, meist eine nur lässliche Sünde. Für den Wortwechsel typisch ist die knappe kurze Aussage. Auf die Erklärungen des Verteidigers nach § 257 StPO wird oft und gerne vom Staatsanwalt erwidert, wodurch nicht selten Wortgefechte entstehen.

IV. Quintilian im 1. Jahrhundert nach Christus widmet in seinen Institutionis oratoriae dem Wortwechsel (altercatio) ein eigenes kleines Kapitel. 5 Danach ist der Wortwechsel vor Gericht dann geeignet und nötig, wenn die Tat feststeht oder diese durch eine Vermutung mit Hilfe rednerischer Kunst erst erschlossen werden muß; ebenso in den anderen Fällen bei denen die Beweismittel von außen stammen. 5

Quintilian,

wie Fn. 4.

62

Gerhard Hammerstein

In unsere Prozeßordnung übersetzt hieße dies, Wortwechsel sei nützlich, wenn es um die Bewertung der Beweismittel geht oder bei Wahrnehmung des Erklärungsrechtes nach § 257 StPO. Quintilian trifft die Feststellung, daß Leute, die als Redner nur mittelmäßig waren, sich durch eine vorzügliche Haltung im Wortwechsel den Namen eines wirklichen Rechtsbeistandes (patronus) verdient hätten. Erforderlich seien Begabung, Schnelligkeit, Beweglichkeit, Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit. „Denn nicht zu denken gilt es, sondern gleich zu reden und schon fast beim Ansetzen des Schlages den Gegenschlag zu führen." Voraussetzung für ein erfolgreiches Bestehen in der Wechselrede sei, daß man die Rechtsfälle im ganzen Umfange genau kenne, sich eingehend mit ihnen vertraut mache; man müsse die Personen, die Hilfsmittel, die Zeitumstände, die Ortlichkeit im Kopf haben. Von Übel sei allerdings im Zorne hierbei laut zu werden. Der Wechselredner müsse frei von Jähzorn sein und kein Geschimpfe beginnen. Wem bei der Wechselrede in die Rede gefallen werde, der soll sich dies verbitten und bei Gericht um die Einhaltung der Redeordnung besorgt sein. Andererseits, und hier beginnt eine begründete Warnung, sei der Wortstreit auch in der Lage, die Richter gegen uns aufzubringen. Aus diesem Grunde sei Mäßigung und Geduld für dieses Mittel erforderlich. Es gelte nicht, das Gericht zu ärgern, sondern die Behauptung eines anderen lächerlich zu machen. Hierzu sei nichts so sehr geeignet, wie die urbanitas, der witzige Großstadtton. Manchmal werde man natürlich unterbrochen, auch vom Richter. Die ganze Sache sei nichts für zarte Gemüter. Ein Scharfblick sei wichtig und es dürfe nie aus den Augen verloren werden, worum es gehe. Auf den Wortwechsel könne man sich auch vorbereiten, in dem man prüfe, was vom Gegner gesagt werden könne und was man antworten sollte. Bestimmte Verteidigungsargumente sollte man für einen Wortwechsel aufsparen. Es sei schädlich, dabei um Punkte zu kämpfen, die man nicht aufrecht erhalten könne. Hier sei es besser, nachzugeben an einem Punkt, weil man an anderen Punkten glaubwürdiger werde. Eine Schuld, wenn sie erwiesen sei, beharrlich zu verteidigen, sei eine neue Schuld. Der Wortwechsel reize oft den Gegner und dieser gebrauche Worte, die er eigentlich habe zurückhalten wollen. Der Redestreit könne auch eingesetzt werden bei der Zeugenbefragung durch den Verteidiger. Einiges aus der antiken Erfahrung ist heute noch aktuelle Empfehlung.

V. Der Verteidiger erhält bei Befragungen und Abgabe von Erklärungen meist zuletzt das Wort. Diese institutionalisierte Sprechordnung zwingt ihn mitunter eine rasche spontane Erklärung abzugeben, ohne daß ihm das

Der Wortwechsel

63

Wort formell erteilt wurde. Der Verteidiger gestattet sich dann mitunter sozusagen einen Zwischenruf, wie er aus den Parlamentssitzungen bekannt ist. Freilich setzt das in die Verhandlung Hineinsprechen eine erhöhte Disziplin beim Einsatz dieses unerwünschten Mittels voraus. Die kurze spontane Erklärung darf nicht häufig erfolgen und muß prägnant sein, weil sie sonst als lärmend, störend oder zu aufdringlich befunden wird; die erstrebte Wirkung, einen Vorteil zu erlangen, wird damit deshalb oft verfehlt. Staatsanwalt oder Verteidiger können sich dabei sogar eine Rüge des Verhandlungsleiters einhandeln, die vermeidbar gewesen wäre; einem derartigen Störungseffekt arbeitet der Redner aber dann entgegen, wenn er erheitert, wenn ihm gar eine Pointe, eine ironische oder sarkastische Bemerkung gelingt. Die Ironie setzt im Regelfall voraus, daß das Gesagte und das Gemeinte deutlich auseinanderfallen. Es kann allerdings vorkommen, daß der Angeredete das Gemeinte nicht versteht. Aber auch wenn der Staatsanwalt die Ironie nicht erkennt - etwa im Gegensatz zu den Richtern - entsteht eine gewünschte Wirkung. Der Verteidiger hat es in der Hand, durch bestimmte Indikatoren das Verständnis zu erleichtern, wie Tonfall, Steuerungspartikel oder ähnliches. Der so Angesprochene kann geschickt der ironisierenden Wirkung ausweichen, in dem er sich an das Gesagte anstatt an das Gemeinte hält. 6

VI. Die Ironie ist eine Form des Komischen. In der ironischen Äußerung wird eine Sache durch ihr Gegenteil ausgedrückt; die Rhetorik lehrt, daß bei einer ironischen Äußerung der Ton entweder auf der Ausdrucksweise oder in der Inhaltsebene liegt und unterscheidet so die Wortironie von der Gedankenironie. Als Beispiel für Wortironie in der Hauptverhandlung kann etwa der Ausruf des Verteidigers bei einer törichten Bemerkung des Staatsanwaltes angeführt werden. „Welche Uberzeugungskraft entwickeln Sie, Herr Staatsanwalt!" Für Gedankenironie wäre ein Beispiel: „Das alles, Herr Staatsanwalt, wollen Sie den Akten entnommen haben?"

6 Vgl. Stempel: Ironische Sprechhandlung in: Das Komische, Herausg. W. Preisendanz u. R. Warning, S. 210.

64

Gerhard Hammerstein VII.

Der Wortwechsel gestattet auch das Einführen des Komischen oder gar des Lachens in die Hauptverhandlung des Strafverfahrens. Das Komische oder das Lachen als die Antwort auf das Komische in die Gerichtsverhandlung einzuführen, gilt als besonders schwierige Aufgabe des Redners. Wir befinden uns auf dem Gebiet der Gefühlswirkung der Rede. Der Redner kann zwar eine befreiende Wirkung dadurch ausüben, daß er den Richter zum Lachen bringt und von der Bedrückung durch traurige Gefühle löst. Auch kann die Aufmerksamkeit des Richters vom Sachlichen abgelenkt und es kann das Interesse des Zuhörers geweckt werden. Cicero und Demosthenes, so meint Quintilian, hätten den Einsatz des Lachens nicht verschmäht.7 Cicero habe sich oft damit geschadet, weil er im Ruf gestanden habe, das Lachen allzu oft herauslocken zu wollen, während Demosthenes, dem Fürst der griechischen Rede, die Begabung gefehlt habe. Im heutigen Strafverfahren, mit dem Übergewicht der Berufsrichter dagegen bleibt es gewagt, Bemerkungen, die zum Lachen reizen, überhaupt in die Rede einzustellen; der verhandelte Fall muß hierfür geeignet sein, daß er Schmunzeln noch verträgt. Die Ausdrucksweise muß mit Geschmack gewählt werden. Es ist zu empfehlen, Satire und Ironie mit gepflegtem Ton einzuführen. Besonders geschickt ist es, wenn eine dritte Person oder Institution, aber kein am Prozeß unmittelbar Beteiligter, komisch angegangen wird. Geeigneter als die Wechselrede ist der Schlußvortrag für den Einsatz von Heiterkeit, Ironie und Witz.

VIII. Die fast „liturgische" Form der Strafverhandlung - Auftreten mit Talaren, der Zwang zum Aufstehen beim Eintritt des Gerichtes, der Eid, der Ernst der Urteilsverkündung mit Anrufung des Volkes etc. - die Redeordnung, der Ernst der Sache, die Rücksicht, die in vielen Fällen die Anwesenheit und des Leid des Opfers fordern, gebieten Vorsicht bei der Verwendung von Witz und Pointe. Ein zu lockerer Ton kann als mangelnder Respekt vor dem Gericht erscheinen, mitunter sogar anmaßend wirken. Freilich kann sich der ältere, erfahrene Verteidiger schon einmal einen kritischen oder ironisierenden Ton gegenüber der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht leisten, wenn die Situation dies fordert und ein Apell an die Streitkultur nicht verübelt wird.

7

Quintilian,

aaO, Buch VI, III.

Der Wortwechsel

65

IX. Die Komik kann im Gerichtssaal auch ungewollt aufblitzen und die Beteiligten, vor allem den, der sie auslöst, überraschen. An der Reaktion des Gerichtes läßt sich dann ablesen, ob es sich lohnt, auf ein Verständnis für witzige Bemerkungen rechnen zu können. Es gibt Richter, die Cicero tristiores (ernsthafte Naturen) nennt, Menschen ohne Witz, die bitter oder mit Unverständnis reagieren können. Auch unter den Anklägern gibt es natürlich Vertreter ohne Humor, bei denen der Wortwechsel nicht zünden kann, die sich in die Anklage verbissen haben und jede Auflockerung durch spontane Erklärungen mit noch ernsterer Miene beantworten.

X. Der Wortwechsel entsteht allerdings nicht nur durch den ungenehmigten Einwurf, den ungefragten Einwand oder das selbst ergriffene Wort. Der Wortwechsel kann auch entstehen in Ausübung des Frage- oder des Erklärungsrechtes. a) Das Fragerecht nach § 240 StPO ist nicht ausschließlich auf Fragen beschränkt. Es darf allerdings nicht in jedem beliebigen Zeitpunkt ausgeübt werden.8 Der Frager muß auf den Gang des Verfahrens Rücksicht nehmen. 9 Das Fragerecht umfaßt aber das Recht, Kurze Vorhalte zu machen.10 Der Vorhalt ist meist eine kurze, prägnante Erklärung und damit eine Aufforderung, zu erwidern; er erzeugt die Wechselrede. Eine zusammenfassende Erklärung des Zeugen soll nicht gefordert werden dürfen. Fragen seien keine Vernehmungen.11 Der Vorhalt, die Contradictio und die Einwendung fordern keine zusammenhängende Erklärung vom Befragten. Der Ubergang von der Antwort auf eine Frage zur selbständigen Erklärung ist fließend. Auch dem Staatsanwalt kann der Verteidiger eine Frage im Sinn eines Vorhaltes oder Einwurfes stellen ebenso umgekehrt. Die StPO erwähnt zwar kein Recht, dem Staatsanwalt Fragen zu stellen und Gollwitzer meint, daß es dieses Fragerecht des Verteidigers nicht gäbe. Der Angeklagte hat sicher kein Recht, Fragen an den Staatsanwalt zu stellen. Ich habe aber unzählige Male als Verteidiger

BGHSt. 16, 67, 70, KL-Meyer-Goßner, § 240 Rn. 7. ' LR -Gollwitzer, 25. Aufl., § 240 StPO, Rn. 11-14. 10 Pfeiffer/Fischer, § 240 StPO, Rn. 2; KL-Meyer-Goßner, aaO; KK-Treier, 3. Aufl., § 240 StPO, Rn. 5. 11 LR- Gollwitzer, aaO, Rn. 7 8

66

Gerhard Hammerstein

Fragen an Staatsanwälte gestellt und ihnen Widersprüche vorgehalten. Die Fragen blieben meist ungerügt, die Antworten wurden in der Regel erteilt. b) Sprechen Staatsanwalt oder Verteidiger, ohne daß ihnen das Wort übertragen war, dann wirkt dies oft wie ein vorlautes, vorwitziges Verhalten. Wer in dieser Weise, ungebeten und nicht dazu aufgefordert, das Wort ergreifen will, muß schnell und knapp reagieren. Von dieser Redeweise ist nur seltener Gebrauch zu machen. Trotzdem ist der rasche Einwurf, der spontane Vorhalt unverzichtbar, weil er zur richtigen Zeit knapp und überlegt eingesetzt, oft erfolgreich sein wird. Der Angesprochene, der Ankläger, ein Zeuge oder auch der Richter brauchen einige Zeit, um den Einwand des Verteidigers in geeigneter Form zu behandeln. Der feindliche Zeuge äußert unbedacht Günstiges, was er vorhatte, nicht auszusagen oder der Ankläger verrät ungewollt dem Verteidiger erregt und unbedacht eine Einzelheit, die er zu diesem Zeitpunkt noch zurückhalten wollte. Selbstverständlich bleiben die Schlußvorträge im Prozeß besonders bedeutsam. Daneben stützen die davor und während der Beweisaufnahme möglichen Wortmeldungen den Standpunkt des Redners. Kurze Einwürfe und Wechselreden sind in vielen Fällen ein wirksames Mittel, um die Richter im Sinne des Anklägers oder des Verteidigers zu beeinflussen - das eigentliche Ziel des Redners vor Gericht.

Gedanken zur Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung und zum sog. Opening-Statement des Verteidigers EGON

MÜLLER

I. 1899 - vor genau 100 Jahren - hatte der 1. Strafsenat des Reichsgerichts über eine Revision zu entscheiden, in der das Recht des Angeklagten auf Verteidigung zu gewichten war. Im Sitzungsprotokoll der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Nürnberg war beurkundet worden: „Bei der Verhörung des Angeklagten durch den Vorsitzenden mischte sich der Verteidiger ein und wurde diesem vom Vorsitzenden bedeutet, daß nur der Vorsitzende das Verhör zu pflegen habe. " Die Revision beschwerte sich über unzulässige Beschränkung der Verteidigung und führte aus, „es sei ein dem Verteidiger unbedingt zustehendes Recht, den Angeklagten während des Verhöres darauf aufmerksam zu machen, ob er auf die einzelne, gerade an ihn gestellte Frage die Antwort verweigern könne und dürfe oder nicht. Der Angeklagte habe ja deswegen einen Verteidiger genommen, damit ihm dieser während der ganzen Hauptverhandlung, also auch während an ihn die verschiedensten Fragen gestellt werden, beistehe." Die Revision hatte keinen Erfolg. „Aus den Gründen: ... Die Zurückweisung der Einmischung des Verteidigers in das Verhör des Angeklagten durch den Vorsitzenden war durchaus berechtigt. Dem Vorsitzenden steht gem. § 237 St.P.O., wie die Leitung des Verfahrens im allgemeinen, so insbesondere die Vernehmung des Angeklagten zu; diese Vernehmung hat gem. § 242 nach Maßgabe des 136 zu geschehen, also mit Ausschluß des Verteidigers. Von einer Einmischung des Verteidigers in diese Thätigkeit des Vorsitzenden weist die Strafprozeßordnung nichts; erst wenn ihm der Vorsitzende das Wort gestattet, ist er überhaupt zu unmittelbarem Verkehr und zwar nur mit Zeugen und Sachverständigen zugelassen ..."l 1 RGSt 32, 276, 277; vgl. auch Löwe, Die StPO für das Deutsche Reich, 13. Aufl. 1913, § 242 Anm. 7: „In einzelnen der früheren Landesgesetze war es dem Angeklagten untersagt, sich vor Beantwortung einer an ihn gerichteten Frage mit dem Verteidiger zu besprechen".

68

Egon Müller

Die Entscheidung mag alt und verfehlt sein, ihr Geist wirkt noch in unsere Zeit hinein. II.

Zu den großen Themen des Strafverfahrensrechts gehört die Mutation des Beschuldigten zum Prozeßsubjekt - ein Vorgang, der seit langem andauert, von nur zäher Dynamik und noch nicht abgeschlossen ist. Der Inquisitionsprozeß, der den Beschuldigten vorwiegend als Objekt des Verfahrens verstand, wirft lange Schatten nicht nur auf das Ermittlungsverfahren, er verdunkelt auch nach wie vor die Hauptverhandlung, deren Umgestaltung kein Thema der neueren Reformdebatte ist, sondern schon seit mehr als 100 Jahren diskutiert wird. Er steht längst fälligen Reformvorhaben im Wege ebenso wie das ihm verhaftete Verständnis sich noch heute nachteilig auf Theorie und Praxis einzelner Verfahrensabschnitte auswirkt. Zu ihnen zählt die Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung, die nach wie vor legislativ und atmosphärisch dominiert wird von der „obrigkeitlichen Stellung des Vorsitzenden" als einem - prozesshistorisch - Relikt des Inquisitionsprozesses,2 der das Geständnis überbewertete und das Gericht mit einer gesetzlichen Beweistheorie in Abhängigkeit von der erzwingbaren wahrheitsgemäßen - Aussage des Beschuldigten hielt. Es kann nicht verwundern, daß die Vernehmung hiernach als wichtiges Mittel der Wahrheitserforschung interpretiert wurde. Der tiefgreifende Wandel, der sich seit der Entstehung der StPO eingestellt hat, äußert sich sich darin, daß heute vorrangiger Zweck der Beschuldigtenvernehmung die Gewährleistung rechtlichen Gehörs und wirksamer Verteidigung ist mit der Folge, daß im Konfliktfalle das Verteidigungsinteresse gegenüber dem Anliegen der Sachverhaltsaufklärung prävalieren muß. Die Vernehmung darf nicht mehr als Kampf zwischen Angeklagtem und Vernehmendem begriffen werden, sondern muß als dialogischer Prozeß verstanden werden, in dem Vergangenes rekonstruiert und Wahrheit geschaffen (und nicht: aufgedeckt) wird. In fairer Weise vollzieht sich das aber nur, wenn dem Angeklagten die Chance gegeben wird, seine Position in das Verfahren einzubringen und er nicht gedrängt wird, fremde Situationsdefinitionen zu übernehmen.3 Ein solches Denken ist in der Praxis der Strafverfolgung noch keineswegs Allgemeingut.4 1 Hans Dahs, Aktuelle Rechtsprobleme, Hubert Schorn zum 75. Geburtstag, 1966, S. 14, 16. 3 Vgl. Andreas Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung, 1990, 94. 4 Vgl. hierzu zur polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, Egon Müller StV 1996, 358.

Z u m sog. Opening-Statement des Verteidigers

69

III. Den nornativen Rahmen steckt § 243 StPO ab, der den regelmäßigen Ablauf der Hauptverhandlung bis zur Beweisaufnahme bestimmt. Er zerlegt die Vernehmung in zwei Abschnitte. Zunächst ist der Angeklagte „über seine persönlichen Verhältnisse" zu vernehmen (§ 243 II 2 StPO). Nach der Verlesung des Anklagesatzes folgen die Belehrung und die Vernehmung „nach Maßgabe des § 136 Abs. 2 zur Sache" (§ 243 IV 2 StPO). Diese Architektur hat - von der Belehrung abgesehen - eine lange Geschichte. IV. Darf die Vernehmung des Angeklagten zur Person lediglich dem Zweck dienen, die Feststellung seiner Identität zu ermöglichen, ist § 243 II 2 StPO sprachlich zu weit geraten.5 Es muß auch erstaunen, daß der Begriff „persönliche Verhältnisse" alle Reformen seit 1964 überstanden hat. Ein Blick in die Geschichte zeigt auf, daß dieser Terminus einen anderen Inhalt hatte. Er tauchte erstmals auf in der Strafprozeßordnung des Königreiches Württemberg von 1843. Nach deren Art. 77 hat sich die Vernehmung auch auf die „persönlichen Verhältnisse" des Verdächtigen zu erstrecken. Die Ziele, die mit dem Verhör verfolgt wurden, waren neben der Feststellung der Identität vor allem die Ermittlung von Indiztatsachen für die Begehung der Tat und Anhaltspunkten für Anordnung und Maß der Folter.6 In der Blütezeit des Inquisitionsprozesses schenkte man der Vernehmung des Angeklagten zur Person große Aufmerksamkeit. Es galt, Anhaltspunkte für die Tatbegehung zu finden, um den Angeklagten zum Geständnis zu bringen und zu überführen. Es ist daher Kruse7 zuzustimmen, wenn er mit Blick auf § 243 II 2 StPO anmerkt: „Sinn und Tragweite dieser Vorschrift sind bislang wenig erforscht". Die Kommentierungen verschleiern, welche Schwierigkeiten diese Vorschrift tatsächlich bereitet, wie inkonsequent sie einerseits ausgelegt und andererseits gehandhabt wird. In der Praxis wird vielfach so verfahren, daß in diesem Stadium die gesamten persönlichen Verhältnisse, auch soweit sie nicht für die Identitätsfeststellung von Bedeutung sind, erörtert werden. Berührt werden hiernach Tat-, Schuld- und Strafzumessungsfragen. 8

5

Ranft, Strafprozeßrecht, 1991, 344. Vgl. Jürgen Helmer, Die Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse (§ 243 Abs. 2 StPO) Diss. Kiel, 1968, insbesondere 52, 53ff. 7 Kruse, Recht und Politik 1998, 162 ff. 8 Ranft, aaO, S. 345. 6

70

Egon Müller

Es ist ein Leichtes nachzuweisen, daß dem Begriff der persönlichen Verhältnisse nach dem Strafprozeßänderungsgesetz 1964 eine völlig andere Bedeutung zukommt als der historische Gesetzgeber intendiert hat. Die Belehrungsvorschrift des § 243 IV 1 StPO und die Vorstrafenregelung in § 243 IV 3 StPO verdeutlichen, daß der Gesetzgeber von 1964 die für die Schuld- und Straffrage hinreichend relevanten Tatsachen ausgeklammert und als zur Sache gehörig verstanden wissen will. Nach diesem Verständnis aber läuft die Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse leer. Es kommt hinzu, daß das Verhältnis zu § 243 I 2 StPO ungeklärt ist. Nach dieser Norm stellt der Vorsitzende fest, ob der Angeklagte anwesend ist. Um diese Feststellung treffen zu können, muß der Vorsitzende sich schon vorher von der Identität des Erschienenen überzeugt haben. Weil die Feststellung der Identität des Angeklagten daher schon im Rahmen des § 243 I 2 StPO erfolgen kann, sollte die Vorschrift des § 243 II 2 StPO ersatzlos gestrichen werden. 9 Allenfalls könnte erwogen werden, dem Vorschlag von Helmer zu folgen und in § 243 Abs. 2 StPO hinter dem Satz „Die Zeugen verlassen den Sitzungssaal" anzufügen: „Der Vorsitzende fragt den Angeklagten nach Namen, Geburtstag, Geburtsort, Stand, Beruf, Staatsangehörigkeit, Wohnort und Wohnung".10 Der Gesetzgeber sollte bald ein Zeichen setzen, um - endlich! - klarzustellen, daß das Schweigerecht auch die persönlichen Verhältnisse umschließt.

V. Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung nach § 258 III StPO nicht nur das „letzte Wort", sondern auch das „erste Wort". 11 „Das so wichtige Recht",12 im Zusammenhang zu dem Schuldvorwurf Stellung zu nehmen" 13 darf in keiner Weise beschnitten werden. Ernst-Walter Hanack sieht in der Pflicht, die Verhandlung auf der Sachverhaltsschilderung des Angeklagten aufzubauen, eine Kernmaxime der Hauptverhandlung - zu Recht -. 14 Mit der Einlassung des Angeklagten - seinem ersten Wort sozusagen wird die wohl verfahrensrechtlich und verfahrenstaktisch wichtigste Phase 9

Kruse, aaO, S. 166. Helmer aaO, S. 154. 11 Rieß, JA 1980, 293, 299. 12 BGHS: 13, 358, 361. 13 BGHSt 13, 358, 362. 14 JZ 1972, 81, 82. 10

Zum sog. Opening-Statement des Verteidigers

71

vor dem Urteil - umschrieben. Ihre Bedeutung kontrastiert allerdings mit dem Ausmaß der Bemühungen, sie inhaltlich - rechtlich - aufzuhellen.15 Es fällt auf, daß dieser Begriff in den Sachverzeichnissen ganz selten erwähnt wird. Im übrigen ist fast alles umstritten, ζ. B. ob und wenn ja inwieweit der Angeklagte vom Verteidiger vertreten werden kann. Nicht geklärt ist, unter welchen Umständen Äußerungen des Verteidigers dem Angeklagten als Einlassung zugerechnet werden können. Unterschiedliche Antworten werden auf die Frage angeboten, in welchem Umfang der Angeklagte aus vorbereiteten Papieren ablesen darf. Die Einlassung ist die - erste - Antwort des Angeklagten auf den Anklagesatz. In ihr und mit ihr stellt er sich vor, in ihr und mit ihr bringt er sich in die Hauptverhandlung ein, in ihr und mit ihr vermittelt er, ob er sich redend oder schweigend verteidigen will. Wahrnehmungs- und kommunikationspsychologisch kann dieses Stadium nicht überschätzt werden. Jede Prozeßordnung, die vom Anspruch auf rechtliches Gehör beherrscht wird und sich von dem Prinzip des fairen Verfahrens leiten läßt, muß dieses Faktum in seine Regelungen einbeziehen. Es stellt sich daher auch die Frage, welche Rolle dem Verteidiger in dieser Phase der Hauptverhandlung zukommt. In diesem Kontext fällt in neuerer Zeit oft der Begriff des Opening-Statements. Ihm sollen die restlichen Ausführungen gelten.

VI. Ende 1997 legten Deutscher Richterbund und Deutscher Anwaltverein ein gemeinsames Papier vor, in dem „Für Streitkultur im Strafverfahren" geworben wurde. In ihm heißt es: „Zur Offenheit gehört, daß der Verteidiger seine Ziele darlegen kann und von dieser Möglichkeit Gebrauch macht. Je früher dies geschieht, desto wirksamer wird er zur Konzentration und Beschleunigung beitragen. Nach Verlesung der Anklageschrift und nach Belehrung des Angeklagten sollte dem Verteidiger die Gelegenheit gegeben werden, durch Darlegung seiner Zielvorstellungen eine Konzentration des Verfahrensstoffes auf das Wesentliche zu ermöglichen („Verteidigungssatz versus Anklagesatz" oder OpeningStatement) "lb

15 16

Vgl. auch Martin Amelung, Festgabe für Ludwig Koch, 1989, 145 ff. DRiZ 1997, 491, 492.

72

Egon Müller

Rudolf Wassermann kommentierte diese verbandspolitischen Bemühungen: „Das Schlüsselwort ist Offenheit ... Das Opening-Statement des US-Strafprozesses steht hier ersichtlich Pate. Zugleich wird ein Schutt zur Herstellung von Wajfengleichheit von Staatsanwalt und Verteidiger getan. "1? Im Zusammenhang mit der Transparenz in der Hauptverhandlung taucht das Opening-Statement neuerdings auch in der Literatur häufig auf. Stefan König sprach sich dafür aus, dem Verteidiger Gelegenheit zu geben, anstelle, vor oder nach der Einlassung des Angeklagten zur Sache in einer Gegenrede - Opening-Statement - auf die Anklage zusammenhängend aus der Sicht der Verteidigung zu erwidern.18 Malek formulierte: „Eine Erklärung des Verteidigers über den Verteidigungsplan zu Beginn der Hauptverhandlung entsprechend dem „ Opening-Statement" des anglo-amerikanischen Strafverfahrens ist in der deutschen Strafprozeßordnung nicht vorgesehen. Der Verteidiger sollte sich dadurch von einer solchen Stellungnahme aber nicht abhalten lassen, wenn er diese nach Abwägung aller Vorund Nachteile für angebracht hält. Ihre Zulässigkeit dürfte sich aus dem Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör ergeben, zu dessen Wahrnehmung er sich seines Verteidigers bedienen darf. "19 Gatzweiler/Mehle wiesen darauf hin, daß eine solche „Eingangserklärung" im Alltag der Verteidigung eher die Ausnahme sei und formulieren weiter: „Sie ist allemal zulässig. Ob ein Rechtsanspruch auf Abgabe einer solchen Erklärung besteht, mag immerhin zweifelhaft sein. Gerichtliche Entscheidungen hierzu sind nicht bekannt. 8 §§ 243 I N r . 5, 250 I Nr. 1 S t G B (früherer F a s s u n g ) . w Z u m anfänglichen Streit in der älteren Literatur vgl. etwa Frank, S t G B , 17. Aufl. 1926, § 243 A n m . VII, m w N . 2 0 A u s g a n g s p u n k t war R G S t 68, 238 (239). Vgl. auch bereits R G S t 44, 140 (141); 66, 191 sowie R G S t 74, 281 (282).

574

Wilfried Küper

Einsatzbereitschaft ausreichen, während für die „Waffe" als sonstiges gefährliches Werkzeug zusätzlich ein „Verwendungsbewußtsein" in dem Sinn verlangt wurde, daß der Täter/Beteiligte zumindest mit der Möglichkeit gerechnet hat, den Gegenstand als physisch gefährliches Tatmittel zu benutzen: zur Verletzung oder auch zur potentiell gefährlichen, weil realisierbaren Drohung.21 Das Reichsgericht, auf dessen Judikatur die Unterscheidung zurückgeht, hatte ihre Notwendigkeit pragmatisch-einleuchtend begründet:22 Es „muß mit Bezug auf gefährliche Gegenstände', die nicht Waffen im technischen Sinne sind, ... die Einschränkung gemacht werden, daß der Täter wenigstens mit der Möglichkeit gerechnet haben muß, den Gegenstand bei der Tat als Waffe zu verwenden. Denn sonst müßte angenommen werden, daß, wer ein Taschenmesser im Anzug zu haben oder z.B. auch, wer Stiefel zu tragen pflegt, immer nur einen schweren Raub oder Diebstahl begehen könnte. Das würde dem Sinn der gesetzlichen Vorschriften offensichtlich nicht entsprechen. Die Gefährlichkeit eines an sich in der Regel ganz harmlosen .gefährlichen Gegenstandes' kann sich erst ergeben, wenn mit seiner Verwendung als Waffe wenigstens gerechnet wird." Diese Differenzierung, die im Auge zu behalten ist, weil sie vielleicht auch für das neue Recht wieder Bedeutung gewinnt, war ein Musterbeispiel problemadäquater Auslegung - eines unzulänglichen Gesetzes - ohne großen dogmatisch-intellektuellen Aufwand, aber mit nachgerade raffiniertem Doppeleffekt. Denn einerseits konnte ein der möglichen Gefährlichkeit ubiquitärer Gegenstände angemessener, von vornherein extensiver Waffenbegriff, ohne strikte Beschränkung auf „technische" Waffen, beibehalten werden. Und andererseits erlaubte die subjektiv-tatbestandliche Abstufung des „Beisichführens" im Rückgang auf einen „dualistischen" Waffenbegriff zugleich die Anpassung des leitenden Gefährlichkeitsgedankens an die Eigenart des mitgeführten Gegenstandes. Den Begriff der Waffe „im technischen Sinn", wie er jetzt im Waffenbegriff der reformierten Strafbestimmungen wieder auftritt, hat die Rechtsprechung verbal unterschiedlich definiert, dabei aber stets hervorgehoben, daß es sich um einen Gegenstand handelt, der nicht nur „geeignet", sondern von vornherein - seiner „Natur nach" oder doch nach „allgemeiner Anschauung" - dazu „bestimmt"ist, Menschen körperlich zu verletzen (Maßgeblichkeit der generellen Zweckbestimmung). 21 Vgl. zuletzt etwa BGHSt 24, 276 (277) mit Anm. Küper, NJW 1972, 1059; BGH, NJW 1965, 2115f; NJW 1972, 731 f mit Anm. Schröder, BGH, J Z 1975, 702 (703); weitere Entscheidungen bei Küper (Fn. 3), S. 398. Zur damit übereinstimmenden Literatur vgl. z . B . Jagusch, in: LK, 8. Aufl. 1958, § 243 Anm. II 6, § 250 Anm. 2; Lackneri Maasen, StGB, 4. Aufl. 1967, § 243 Anm. 5; Schönke/Schröder, StGB, 14. Aufl. 1969, § 243 Rn. 42, § 250 Rn. 2. 22 RGSt 68, 238 (239).

„Waffen" und „Werkzeuge" im reformierten Besonderen Teil des StGB

575

So heißt es z.B. in RGSt 74, 281 (282): „Waffen im eigentlichen, technischen' Sinne ... sind nach der Rechtsprechung nur solche Werkzeuge, die ihrer Natur nach dazu bestimmt sind, (durch Hieb, Stoß, Stich oder Schuß) zu verletzen. Nur solche Gegenstände fallen unter diesen Begriff, denen nach der Art ihrer Anfertigung oder nach der herrschenden Verkehrsauffassung von vornherein diese Zweckbestimmung beigelegt ist. Dagegen sind in diesem Sinne nicht ,Waffen' die Gegenstände, die nicht ihrer Natur nach, sondern nur nach dem Willen des Täters im Einzelfalle zu diesem Zwecke bestimmt oder benutzt werden." Zum „Wesen" der technischen Waffe gehört nach RGSt 75, 243 (244f), „daß sie nach der Art ihrer Anfertigung oder nach der herrschenden Verkehrsanschauung von vornherein dazu bestimmt ist oder doch dazu benutzt wird, Verletzungen beizubringen". - Der BGH hat diese Rechtsprechung im wesentlichen übernommen:23 „Der Begriff der Waffe im technischen Sinne umfaßt ... nur solche Werkzeuge, die nach der Art ihrer Anfertigung nicht nur geeignet, sondern auch allgemein dazu bestimmt sind, Menschen ... körperlich zu verletzen." Technische Waffe ist „eine nach der Art der Anfertigung von vornherein zum Beibringen von Verletzungen bestimmte oder doch nach allgemeiner Übung dazu benutzte ... Waffe". Nicht übersehen werden darf bei der heutigen Rechtslage freilich, daß der Reformgesetzgeber die „technische" Waffe in den neu gefaßten Qualifikationsnormen für Diebstahl, Raub und sexuelle Nötigung/Vergewaltigung mit dem „gefährlichen Werkzeug" ebenso gekoppelt hat wie in § 224 I Nr. 2 StGB n.F. (gefährliche Körperverletzung). Nach dem Gesetzestext erscheint hier - abgesehen von § 250 II Nr. 2 StGB - die „Waffe" stets im Zusammenhang mit dem „anderen gefährlichen Werkzeug", womit auch sie selbst als Anwendungsfall eines solchen Werkzeugs charakterisiert ist. Dies gilt gleichermaßen für die nur „mitgeführte" Waffe (§§ 244 I Nr. 1 a; 250 I Nr. 1 a; 177 III Nr. 1 StGB) wie für die „verwendete" Waffe (§§ 250 II Nr. 1; 177 IV Nr. 1 StGB). Daher liegt die Frage nahe, ob diese - außerhalb der gefährlichen Körperverletzung neuartige - Texteinfügung der „Waffe" in den weiteren Begriff des „gefährlichen Werkzeugs" für die (technische) „Waffe" ihrerseits eine sachliche Bedeutung hat, die über den bisher gekennzeichneten immanent-technischen Waffenbegriff („Waffe im technischen Sinn") hinausführt. Die zusätzliche Bedeutung könnte darin bestehen, daß die technische „Waffe" zugleich spezifischen Anforderungen genügen muß, die das „gefährliche Werkzeug" im übrigen an den jeweiligen Gegenstand stellt. Zu der Frage besteht auch deshalb Anlaß, weil die Verfasser der Neuregelungen den dort verwendeten Begriff des „gefährlichen Werkzeugs" dem Tatbe23 Zum folgenden BGHSt 4, 125 (127); BGH, NJW 1965, 2115. Weitere Entscheidungen (des RG und BGH) bei Küper (Fn. 3), S. 384.

576

Wilfried Küper

stand der gefährlichen Körperverletzung (§ 223 a I a.F. bzw. § 2241 Nr. 2 n.F. StGB) „entnommen" haben und der Auffassung waren, „daß zur Auslegung auf die hierzu entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden kann". 2 4 Das angesprochene Problem ist von allen Tatbeständen her prinzipiell geläufig, deren Elemente - in sprachlich alternativer Fassung - so beschrieben sind, daß spezielle Merkmale als Sonderfälle („Beispiele") einem leitenden Oberbegriff zugeordnet werden. So verhält es sich etwa beim „Ankaufen" als Spezialfall des hehlerischen „Verschaffens" in § 259 I StGB oder eben auch bei der „Waffe" als Sonderform des „gefährlichen Werkzeugs" in § 2241 Nr. 2 StGB n.F. Der „Oberbegriff" hat in dieser Gesetzestechnik nicht nur die formale (logische) Bedeutung, daß er der „generelle" ist, der das spezielle Merkmal enthält und damit an sich überflüssig macht. Er ist regelmäßig, weil er als Oberbegriff die Anforderungen an den Spezialfall bestimmt, auch der „materiell" (funktional) maßgebende Leitbegriff, an dem sich die Auslegung des beispielhaften Spezialmerkmals zu orientieren hat. Andererseits trägt das spezielle Tatbestandsmerkmal - nach dem Grundsatz, daß Begriffe ohne Anschauung „leer" sind25 - wegen seiner meist größeren Anschaulichkeit häufig zur Verdeutlichung des Oberbegriffs bei. Das „Ankaufen" in § 259 I StGB beispielsweise muß zugleich die Anforderungen des „Verschaffens" erfüllen, also mit dem Erwerb hehlerischer Verfügungsgewalt verbunden sein, 26 so daß ein bloßes Kaufgeschäft nicht ausreicht. Auf der anderen Seite macht das Merkmal deutlich, daß für diesen Erwerb das „einverständliche Zusammenwirken" des Hehlers mit dem Vortäter (Vorbesitzer) vorausgesetzt wird. 27 Zur Begehung der gefährlichen Körperverletzung „mittels einer Waffe" nach § 224 I Nr. 2 (223 a I a.F.) StGB genügt es nicht, daß der Täter überhaupt das Tatmittel „Waffe" verwendet. Er muß sie vielmehr als konkret „gefährliches Werkzeug" in einer Weise benutzen, die nach den individuellen Umständen geeignet ist, eine „erhebliche", gravierende Körperschädigung zu bewirken. 28 Das Beispiel der „Waffe" vermag andererseits zu illustrieren, daß (auch) der Oberbegriff des „gefährlichen Werkzeugs" sinngemäß auf Gegenstände abzielt, die als „Angriffs- oder Verteidigungsmittel" eingesetzt werden. 29 24 BT-Drs. 13/9064, S. 18; bereits übernommen in BGH, StV 1998, 485 (486) und StV 1998, 486 (487). 25 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe Weischedel, Bd. II, 1956), S. 98: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." 2 6 Vgl. bereits RGSt 17,59 (60f) sowie Stree, in: Schönke/Schröder, § 259 Rn. 30 mit Nachw. 2 7 Vgl. schon RGSt 4, 184 (187); 9, 199 (200); 18, 303 (304f). 2 8 Statt vieler Hirsch, in: LK, § 223 a Rn. 6; Stree, in: Schönke/Schröder, $223 a Rn. 4. 2 9 So der Sache nach BGH, NJW 1978, 1206, wo die Ausklammerung des bestimmungsgemäß verwendeten ärztlichen Instruments allerdings mit der heute überholten Begründung befürwortet wird, daß das „gefährliche Werkzeug" in § 223 a StGB a.F. nur als „Beispiel für eine Waffe" genannt werde. Zum Problem, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. etwa Heinrich (Fn. 14), S. 698ff; Horn, in: SK-StGB II, 7. Aufl. (Stand Mai 1998), § 223 Rn. 38, 46; Sowada, JR 1988, 123 ff.

„Waffen" und „Werkzeuge" im reformierten Besonderen Teil des S t G B

577

Nimmt man von hier aus wieder die „ Waffe " in den Blick, wie sie nunmehr in den neugefaßten Qualifikationsnormen ebenfalls im sprachlichen Kontext des „anderen gefährlichen Werkzeugs" steht, so dürfte alsbald deutlich werden, daß man es in diesem Bereich nicht mit der gleichen Regelungstechnik zu tun hat. Das gilt jedenfalls für die Tatbestände, die an das bloße „Beisicbführen " der Waffe oder des sonstigen gefährlichen Werkzeugs qualifizierend anknüpfen (§ 244 I Nr. 1 a; 250 I Nr. 1 a; 177 III Nr. 1 StGB). Schon auf den ersten Blick sollte klar sein, daß das „gefährliche Werkzeug" in diesem Zusammenhang - entgegen der Vorstellung des Gesetzgebers - nicht als Werkzeug i.S. des § 224 I Nr. 2 (223 a I a.F.) StGB verstanden werden kann, weil es hier gerade nicht als konkret gefährliches Verletzungsmittel fungiert, sondern nur als „potentiell" und „abstrakt" gefahrträchtiger Gegenstand „mitgeführt" werden muß. 30 Insofern ist der evidente gesetzgeberische Motivirrtum zu korrigieren, daß bei der Interpretation dieses „gefährlichen Werkzeugs" auf das gleichlautende Merkmal in § 224 I Nr. 2 StGB „zurückgegriffen" werden könne. 31 Das „gefährliche Werkzeug" hat in den erwähnten neuen Qualifikationen also ersichtlich eine andere Bedeutung als bei der gefährlichen Körperverletzung, einen Sinn, der noch der Klärung bedarf. 32 Kann es unter diesem Aspekt, im Gegensatz zu § 224 I Nr. 2 StGB, nicht leitender Oberbegriff der - mitgeführten - „Waffe" etwa in § 250 I Nr. 1 a StGB sein, so ist auch im übrigen nicht erkennbar, inwiefern das „gefährliche Werkzeug" der „Waffe" Bestimmungskriterien (zusätzliche Anforderungen) hinzufügen könnte, die sich nicht bereits aus dem vorausgesetzten Begriff der - einsatzbereiten technischen - „Waffe" selbst ergeben. Die mitgeführte technische „Waffe" ist - ähnlich wie bisher die „Schußwaffe" in § 244 I Nr. 1, 250 I Nr. 1 StGB a.F. - schon aufgrund ihrer allgemeinen Bestimmung zur Verletzung und ihrer Funktionsfähigkeit/Einsatzbereitschaft potentiell hinreichend „gefährlich", ohne daß es dafür noch eines übergeordneten Maßstabes bedürfte; sie trägt ihre latente Gefährlichkeit gleichsam in sich, 33 weil die Verwirklichung ihres Verletzungspotentials - ohne besonderen individuellen Widmungsakt - ihrem ursprünglichen „technischen" Zweck entspricht. 34 Deshalb kann dem „anderen gefährlichen Werkzeug" 30 Vgl. bereits Küper {Fn. 3), S. 400; ferner Dencker{Fn. 13), S. 12; Günther, in: SK-StGB II, § 250 Rn. 8; Schlothauer/Sattele, StV 1998, 506; undeutlich, aber sachlich übereinstimmend Rengier, Bes. Teil I, § 4 Rn. 6, 24f. 31 Vgl. oben Fn. 24. 32 Hierzu später! 33 Vgl. Lackner/Kühl, StGB, 22. Aufl. 1997, § 244 Rn. 3, für die Schußwaffe; vgl. auch B G H St 43, 266 (269). 34 Auf einer anderen Ebene liegt die - hier nicht zu erörternde - Frage, inwiefern solche „abstrakten" Gefährdungstatbestände mit Rücksicht auf bestimmte Ausnahmesituationen evidenter Ungefährlichkeit einer einschränkenden Auslegung oder teleologischen Reduktion bedürfen, damit ungerechte Ergebnisse vermieden werden. Das Problem hat sich na-

578

Wilfried Küper

für die Bestimmung der „Waffe" allenfalls eine gewisse - im Grunde entbehrliche - Klarstellungsfunktion zugestanden werden. Sie besteht in der Verdeutlichung eben der Qualitäten, die auch eine „technische" Waffe zu ihrer potentiellen Gefährlichkeit benötigt: Funktionsfähigkeit und Einsatzbereitschaft im konkreten Fall. Für die neuerdings gesetzlich speziell qualifizierte „ Verwendung" der Waffe oder des sonstigen gefährlichen Werkzeugs (§§ 250 II Nr. 1; 177 IV Nr. 1 StGB), also für Vorschriften, die das „Beisichführen" nicht genügen lassen, muß der Befund freilich abweichend ausfallen. Der neue Begriff der „verwendeten Waffe" bzw. des „verwendeten gefährlichen Werkzeugs" ist der Sache nach kein völliges legislatives Novum. Er ist von „waffenbezogenen" Strafzumessungsnormen im Bereich des Widerstands, der Gefangenenmeuterei und des Landfriedensbruchs her bekannt. Sie gehören zum „älteren Bestand" des Strafgesetzbuchs, sind vom 6. StrRG unberührt geblieben und mit den neuen Regelungen nicht koordiniert worden. 35 Es handelt sich um Vorschriften, die das Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall einerseits auf das bloße „Beisichführen" einer „Waffe" beschränken, andererseits aber zugleich die Absicht voraussetzen, diese Waffe „bei der Tat zu verwenden" (§§ 113 II 2 Nr. 1; 121 III 2 Nr. 2; 125 a 2 Nr. 2 StGB). Die „Waffe" ist hier - dem früher bei Diebstahl und Raub gebräuchlichen, weiten Waffenbegriff entsprechend - anerkanntermaßen auch im nichttechnischen Sinn eines sog. „gefährlichen Werkzeugs" zu verstehen.36 Dabei hat der Gesetzgeber die Schußwaffe freilich nur zum Teil in diesen Begriff der „Waffe" einbezogen (§ 113 II 2 Nr. 1 StGB), überwiegend jedoch durch eine Sonderregelung eigenständig erfaßt (§§ 121 III 2 Nr. 1; 125 a 2 Nr. 1 StGB), die wiederum keine über das bewußte „Beisichführen" hinausgehende Verwendungsabsicht voraussetzt. In diesen Fällen wird die sonstige - technische oder untechnische - Waffe, die eine solche Absicht erfordert, als „andere Waffe" bezeichnet (§§ 121 III 2 Nr. 2; 125 a 2 Nr. 2 StGB). Der Begriff der (mitgeführten) „Waffe" enthält in diesen Normen seinen materiellen Inhalt aus dem gesetzlichen Grundgedanken, das Beisichführen mentlich bei „Berufswaffenträgern" gestellt; vgl. dazu die Ubersicht bei Küper (Fn. 3), S. 385f, m w N ; eingehend Hettinger, GA 1982, 525ff. Es ist aber auch im Zusammenhang mit dem sog. „Teilrücktritt" vom Beisichführen der Waffe (ohne Rücktritt vom Grunddeliktsversuch) aufgetaucht. Vgl. dazu namentlich Zaczyk, NStZ 1984, 217 und zuletzt Küper, J Z 1997, 233f. Vgl. auch Lenckner, NStZ 1998, 257f; Zaczyk, JR 1998, 258 f; jeweils zu BGHSt 43, 8 (10ff) betr. § 30 a II Nr. 2 BtMG. 35 Eine Koordination fehlt übrigens auch im Hinblick auf verwandte „Waffen- und Werkzeugsnormen" im Nebenstrafrecht: § 30 a II Nr. 2 BtMG, § 27 I 1 VersammlG. Zur Auslegung dieser Bestimmungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. zuletzt BGHSt 43, 266 (267ff), mwN. 36 Vgl. von Bubnoff, in: LK, 11. Aufl. 1994, § 113 Rn. 53 (dort auch zur Entstehungsgeschichte); Küper (Fn. 3), S. 381 m. Nachw. S. 382f.

„Waffen" u n d „Werkzeuge" im reformierten B e s o n d e r e n Teil des S t G B

579

gefährlicher Gegenstände beliebiger Art unter der Voraussetzung einer Absicht ihrer „gefährlichen Verwendung" mit verschärfter Regelstrafe zu bedrohen: Die maßgebende Gefährlichkeit des Gegenstandes, den der Täter bei sich führt, resultiert vorzugsweise - auch bei der technischen Waffe - aus der subjektiv verfolgten „gefährlichen Absicht". Die „Verwendung" der Waffe als Bezugsobjekt dieser Absicht braucht dabei nicht notwendig darin zu bestehen, daß der Gegenstand zur erheblichen Verletzung oder körperlichen Gefährdung eingesetzt wird. 37 Sie umfaßt auch die (beabsichtigte) Benutzung als potentiell gefährliches Drohungsmittel, schließt also die Fälle ein - allerdings nur sie - , in denen die Realisierung der geplanten Drohung möglich und geeignet wäre, zumindest eine erhebliche Verletzung zu bewirken. Dies gilt etwa für die Drohung mit der geladenen Pistole, aber auch für die Androhung eines Schlags mit dem Gewehrkolben, 38 nicht aber z.B. bei der Bedrohung mit einer Schußverletzung aus dem nicht einsatzbereiten Revolver oder gar einer Waffenattrappe („Scheinwaffe"). 39 Wie man sieht, liegt den Vorschriften das gleiche Regelungsprogramm zugrunde, das die sog. „Gefährlichkeitslösung" auch im Bereich der §§ 244 I Nr. 2, 250 I Nr. 2 StGB a.F. - aus Anlaß der berüchtigten „Scheinwaffenproblematik" - gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung favorisierte, 40 ein Programm übrigens, das die Auslegung der Vorgängernormen (bei den nichttechnischen Waffen) ebenfalls bestimmt hatte.41 Es ist leicht zu erkennen, daß dieses Regelungsmodell in den Qualifikationsnormen, die eine „Verwendung" der Waffe oder des gefährlichen Werkzeugs voraussetzen (§§ 250 II Nr. 1; 177 IV Nr. 1 StGB n.F.), vom Gesetzgeber in modifizierter Form - wohl unbewußt - wieder aufgenommen worden ist. Die Modifizierung besteht darin, daß die „Verwendung" aus dem subjektiven in den objektiven Tatbestand verlagert ist und das Gesetz die „Waffe" durch ausdrückliche Erwähnung des „gefährlichen Werkzeugs" in ihre technische und nichttechnische Erscheinungsform zerlegt hat. Der Begriff der „Verwendung" selbst zeigt jedoch seine vertraute Ge-

Hierzu und z u m folgenden die Zusammenfassung bei Küper {Fn. 3), S. 381 f, m w N . Vgl. auch BGH St 26, 176 (180) mit Bespr. Küper, N J W 1976, 543 ff; O L G Düsseldorf, NJW 1982, 1 1 1 1 (1112): Bedrohung mit Kraftfahrzeug durch Zufahren auf das O p f e r (§ 113 II 2 Nr. 1 StGB). 39 Die „Scheinwaffe", d . h . ein Gegenstand, der sich nach der geplanten (vollzogenen) A r t seiner Verwendung lediglich als Mittel einer nicht realisierbaren - „leeren" - Drohung eignet, scheidet hier anerkanntermaßen aus. Vgl. von Bubnoff, in: LK, § 113 Rn. 5 3 ; Lackner/Kühl, § 113 Rn. 2 4 ; Tenckhoff/Arloth, JuS 1985, 131. 4 0 Detaillierte zusammenfassende Darstellung bei Küper (Fn. 3), S. 4 0 3 ff, m w N ; zuletzt Knupfer, in: Duttge (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung in schwieriger Zeit (SchlüchterFestschrift), 1998, S. 1 2 3 f f . 41 Vgl. oben Fn. 21. 37

38

580

Wilfried Küper

s t a l t . 4 2 E r u m f a ß t die B e n u t z u n g z u r e r h e b l i c h e n p h y s i s c h e n V e r l e t z u n g o d e r G e f ä h r d u n g e b e n s o w i e d e n E i n s a t z als latent gefährliches D r o h u n g s mittel, d e r a u c h n a c h g e s e t z g e b e r i s c h e r V o r s t e l l u n g in die „ V e r w e n d u n g " e i n z u b e z i e h e n i s t . 4 3 D a m i t b e s t e h t z w i s c h e n d e m hier t h e m a t i s c h e n „gefährlichen W e r k z e u g " u n d d e m gleichlautenden Begriff in § 2 2 4 I N r . 2 StGB

(gefährliche

Körperverletzung)

zwar

wiederum

keine

inhaltliche

Identität o d e r w e n i g s t e n s Parallelität, weil die „ V e r w e n d u n g " e b e n a u c h in einer p o t e n t i e l l gefährlichen -

realisierbaren -

Drohung

bestehen kann.

D o c h läßt sich andererseits das „gefährliche W e r k z e u g " i m Verhältnis z u r „ Waffe"als

leitender O b e r b e g r i f f auffassen, d e r die „Waffe" eigentlich ü b e r -

flüssig m a c h t u n d zugleich die für ihre „ V e r w e n d u n g " geltenden A n f o r d e r u n g e n b e s t i m m t : A u c h die ( t e c h n i s c h e ) „ W a f f e " m u ß nicht n u r ü b e r h a u p t irgendwie „verwendet",

s o n d e r n als gefährliches W e r k z e u g in d e m

be-

s c h r i e b e n e n Sinn v o n „ G e f ä h r l i c h k e i t " e i n g e s e t z t w e r d e n . 4 4

42 Ganz irrig ist die Vorstellung von J. Becker, in: Schlüchter (Hrsg.), Bochumer Erläuterungen zum 6. StrRG, 1998, S. 23, 79, daß „Verwenden" hier ein „Gebrauchen" etwa i.S. des § 267 I StGB bedeute (Ermöglichung sinnlicher Wahrnehmung). 43 Vgl. BR-Drs. 164/97, BT-Drs. S. 153; 13/8587, S. 45, mit Hinw. auf BGHSt 26, 176,180 (vgl. oben Fn. 38). Vgl. auch Dencker(Fn. 13), S. 14; Günther, in: SK-StGB II, § 250 Rn. 44; Rengier, Bes. Teil I, § 8 Rn. 9. - Der BGH wiederholt leider schon mehrfach die unrichtige Auffassung, daß zur Auslegung des „gefährlichen Werkzeugs" auf die bei § 2241 Nr. 2 (223 a I a.F.) StGB geläufige Begriffsbestimmung „zurückgegriffen" werden könne (BGH, StV 1998, 485f und StV 1998, 486f). Im Zusammenhang mit der (tatsächlichen) „Verwendung" des Werkzeugs ist das solange unschädlich, als damit die Gefährlichkeit der Benutzung, im Gegensatz etwa zur „Scheinwaffe", hervorgehoben werden soll. Der „Rückgriff" wird jedoch ganz irreführend, wenn daraus z . B . für § 250 II Nr. 1 StGB die Folgerung gezogen wird, daß es sich „jeweils um Gegenstände handeln muß, die nach ihrer objektiven Beschaffenheit und nach der Art ihrer Benutzung im Einzelfall (!) geeignet sind, erhebliche Körperverletzungen zuzufügen" (so BGH, StV 1998, 487). Vgl. zur „Verwendung" als gefährliches Drohmittel andererseits BGH, StV 1998, 487 (Drohung mit Messer unter der Kleidung). 44 Benutzt der Täter etwa eine (funktionsfähige/einsatzbereite) Schußwaffe „untechnisch" lediglich als Schlagwerkzeug oder zur Drohung mit einer Verletzung durch Zuschlagen, so sind diese Voraussetzungen gewiß erfüllt. Dabei kommt es letztlich nicht auf die eher „akademische" Frage an, welche Alternative - Verwendung einer „Waffe" oder eines „anderen gefährlichen Werkzeugs" - in solchen Fällen vorliegt. Ist für die mitgeführte „Waffe" (§ 250 I Nr. 1 a StGB) eine einsatzfähige Waffe im technischen Sinn vorauszusetzen, so sollte dieses Verständnis freilich im Interesse möglichst präziser Interpretation auf die „verwendete Waffe" in der Weise übertragen werden, daß man die „Verwendung" auch bei bloßer Bedrohung - ebenfalls auf die technische Funktion der Waffe bezieht. In den beschriebenen Konstellationen läge dann streng genommen nicht die Verwendung einer „Waffe", sondern eines „gefährlichen Werkzeugs" vor (anders bei Verwendung zur Bedrohung mit Schußverletzung). - Daß eine zur Drohung benutzte „Scheinwaffe" (Spielzeugpistole, Attrappe) keine „Waffe" i.S. des § 250 II Nr. 1 StGB ist, hat BGH, J Z 1998, 740 neuerdings zutreffend klargestellt. Die dort noch offen gebliebene Frage, ob dies auch für die Drohung mit einer echten, aber nicht einsatzbereiten Schußwaffe oder Gaspistole gilt, ist nicht anders zu beantworten (vgl. BGH, StV 1998, 485 f, 487 f).

„Waffen" und „Werkzeuge" im reformierten Besonderen Teil des StGB

581

Bereitet die Auslegung dieser neuen Qualifikationstatbestände daher keine prinzipiellen Schwierigkeiten, 45 so ist dagegen - wie schon angedeutet - ein besonders kritischer Punkt der Neuregelungen berührt, wenn man sich dem „anderen gefährlichen Werkzeug" dort zuwendet, wo es der Täter (Beteiligte) nach dem Gesetzeswortlaut ebenso wie die „Waffe" lediglich „bei sich führen" muß, ohne daß das Gesetz eine Verwendungsabsicht oder wenigstens ein entsprechendes Bewußtsein ausdrücklich verlangt (§§ 244 I Nr. 1 a; 250 I Nr. 1 a; 177 III Nr. 1 StGB n.F.). Was ist unter dem „gefährlichen Werkzeug" in diesem Kontext eigentlich zu verstehen? Die Vorstellung der Gesetzesverfasser, man könne für die Auslegung insoweit auf § 224 I Nr. 2 StGB (gefährliche Körperverletzung) „zurückgreifen", beruht, wie gezeigt, auf einem handgreiflichen Irrtum. Andererseits sollen mit dem „gefährlichen Werkzeug", in Ergänzung der echten Waffen, ersichtlich beliebige Gegenstände - Waffen im untechnischen Sinn - erfaßt werden, deren „Beisichführen" im Zusammenhang mit der Tat irgendwie als spezifisch „gefährlich" qualifiziert werden kann. Vorschläge zur Interpretation sind schon gemacht worden, und eine gewisse Diskussion hat bereits begonnen. 46 Bevor indessen auf diesen Fragenkreis näher eingegangen wird, soll der Blick - gleichsam von der Gegenseite her - zunächst auf diejenigen Qualifikationsnormen gerichtet werden, die das Beisichführen eines „sonstigen Werkzeugs"ausdrücklich mit einer bestimmten Verwendungsabsicht kombinieren. So wird nach § 244 I Nr. 1 b StGB n.F. - und parallel dazu bei Raub und Vergewaltigung/sexueller Nötigung (§§ 250 I Nr. 1 b; 177 III Nr. 2 StGB) - die Strafe zwingend verschärft, wenn der Täter 47 bei der Tat „sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden". Vorbild für solche Regelungen waren erkennbar die §§ 244 I Nr. 2, 250 I Nr. 2 StGB a.F., denen die neuen Vorschriften nahezu wörtlich 4 5 Sie sieht auch Dencker (Fn. 13), S. 14, schließlich nicht, der zunächst erwägt, die Verwendung zur Drohung auszuklammern und den Anwendungsbereich auf die Gewalt-Alternative zu begrenzen. Die resümierende Aussage, daß das „Verwenden schlicht als Benutzen bei der Anwendung von Gewalt oder als Drohmittel" zu verstehen sei, berücksichtigt allerdings nicht hinreichend, daß die Drohung jedenfalls latent gefährlich (realisierbar) sein muß und daß andererseits die Anwendung physisch ungefährlicher Gewalt (Freiheitsberaubung) ebensowenig wie deren Androhung genügen kann, wenn das Gesetz ein „gefährliches" Werkzeug verlangt. 4 6 Vgl. Dencker (Fn. 13), S. 11 f; Günther, in: SK-StGB II, § 250 Rn. 8, 11; Hörnle, Jura 1998, 172; Küper (Fn. 3), S. 399 ff; Rengier, Bes. Teil I, § 4 Rn. 2 4 f ; Schlothauer/Sättele, StV 1998, 505ff. Nicht weiterführend freilich Noack und J. Becker, in: Bochumer Erläuterungen (Fn. 42), S. 71, 79; unergiebig auch die in Fn. 1 genannten Ubersichtsbeiträge. 4 7 „Beteiligte" sind in § 177 III StGB n.F. eigenartigerweise nicht einbezogen. Zum Problem der möglichen Anwendbarkeit auf Nichttäter vgl. in anderem Zusammenhang BGHSt 27, 56 (57ff) betr. § 125 a StGB; BGHSt 42, 368ff betr. § 30 a II Nr. 2 BtMG; Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 125 a Rn. 6.

582

Wilfried Küper

entsprechen, allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, daß die ehemalige „Waffe" jetzt aus dem Gesetz verschwunden und nur noch das „sonstige Werkzeug oder Mittel" übrig geblieben ist. Die fast unauffällige Tilgung der „Waffe", deren Erwähnung früher den Anwendungsbereich zur „Schußwaffe" (Nr. 1) hin abgrenzte, führt nunmehr im Normtext zu einem neuen Gegensatz: demjenigen zwischen dem vorher, z.B. in § 250 I Nr. 1 a StGB n.F., genannten „gefährlichen" Werkzeug und dem „sonstigen" Werkzeug/Mittel. Damit geben sich die Vorschriften, jedenfalls nach ihrer Textfassung, als Regelungen für Werkzeuge zu erkennen, denen nicht die Eigenschaft eines „gefährlichen Werkzeugs" zuerkannt werden kann, also für „ungefährliche" Werkzeuge. In der Tat zielen die Neuregelungen nach eindeutiger gesetzgeberischer Intention 48 darauf ab, die bisher bei den §§ 244 I Nr. 2, 250 I Nr. 2 StGB a.F. im Schrifttum weithin favorisierte „Gefährlichkeitslösung" zu verabschieden und die gegenläufige extensive Rechtsprechung, namentlich zur sog. „Scheinwaffe", zu kodifizieren. Diese außerordentlich umstrittene Rechtsprechung, 49 die innerhalb zweier Jahrzehnte infolge einer Vielzahl literarischer Stellungnahmen eine Art „Scheinwaffen-Spezialbibliothek" erzeugt hat, betraf nicht nur die zur psychischen Einschüchterung des Opfers mitgeführten, auf Vortäuschung der Gefährlichkeit gerichteten „Scheinwaffen" im üblichen Verständnis, also Gegenstände, die sich nach der Art ihres geplanten (bzw. vollzogenen) Einsatzes lediglich zu einer nicht realisierbaren „leeren" - Drohung mit Tötung oder Verletzung eignen. Jene Judikatur bezog sich z.T. auch auf physisch ungefährliche Werkzeuge in dem Sinn, daß der Gegenstand zu einer nur freiheitsbeschränkenden Gewaltanwendung mitgeführt oder eingesetzt wird. Demgemäß haben die neugefaßten Qualifikationsnormen, mit denen der Gesetzgeber bewußt „Auffangtatbestände" für das Beisichführen derartiger Gegenstände schaffen wollte, nach gesetzgeberischer Vorstellung eine zweifache Zielrichtung: „Erfaßt werden sollen zum einen die sog. Scheinwaffen (z.B. eine Spielzeugpistole)" und zum anderen „solche Gegenstände, die - wie z.B. ein Kabelstück oder ein Tuch - zur gewaltsamen Uberwindung eingesetzt werden sollen, ohne hierbei objektiv wenigstens Leibesgefahr zu begründen." 50 Uberträgt man dieses Konzept genauer in die gesetzliche Regelung, welche als Bezugspunkte der Verwendungsabsicht die Verhinderung/Überwindung von Widerstand einerseits „durch Gewalt", andererseits durch „DroVgl. BT-Drs. 13/9064, S. 18. Zusammenfassende Darstellung zuletzt etwa bei Günther, in: SK-StGB II, § 2 5 0 Rn. 2 2 ; Knupfer{Fn. 40), S. 1 2 5 f f ; Küper (Fn. 3), S. 4 0 3 f ; jew. rawN. 5 0 BT-Drs. 13/9064, S. 18. 48 49

„Waffen" und „Werkzeuge" im reformierten Besonderen Teil des StGB

583

hung mit Gewalt "unterscheidet, so bezieht sich die Gewalt-Variante auf den Einsatz körperlich ungefährlicher Gewaltinstrumente (wie etwa ein Kabel zur Fesselung), während die Drohungs-Alternative außer den sog. „Scheinwaffen" konsequenterweise auch Gegenstände betrifft, mit denen solche physisch ungefährliche Gewalt nur angedroht werden soll. Da nun aber die hier interessierenden Qualifikationstatbestände lediglich das vorbereitende „Beisichführen" des Gegenstandes in Verwendungsabsicht, nicht jedoch dessen tatsächliche „Verwendung" voraussetzen, wäre es danach der Sinn des Gesetzes, bereits die Möglichkeit strafschärfend zu pönalisieren, daß das potentielle Opfer durch den faktischen Einsatz des jeweiligen Werkzeugs einer physisch ungefährlichen Gewaltanwendung (Freiheitsbeschränkung) oder einer insoweit ebenfalls gefahrlosen Gewaltandrohung (psychischen Einschüchterung) ausgesetzt wird.51 Pointiert gesagt erfassen die so verstandenen Regelungen schon die abstrakte „Gefahr" der Entstehung bestimmter, ihrerseits „ungefährlicher" Opfersituationen (Beeinträchtigung der Motivations- oder Bewegungsfreiheit). Es liegt auf der Hand, daß ein solches Regelungskonzept, das im Ergebnis zu einer weitgehenden Qualifikations-Gleichstellung von mitgeführten „gefährlichen" und „ungefährlichen" Werkzeugen führt, alle knminalpolitischen Einwände gegen sich hat, die in der Vergangenheit von den Vertretern der „Gefährlichkeitstheorie" gegen die entsprechende Interpretation der §§ 2441 Nr. 2, 2501 Nr. 2 StGB a.F. unermüdlich vorgetragen worden sind; sie sollen hier nicht wiederholt werden.52 Ebenso sicher ist es aber, daß auf der anderen Seite die Grundentscheidung des Gesetzgebers respektiert werden muß, mit den §§ 2441 Nr. 1 b, 2501 Nr. 1 b, 177 III Nr. 2 StGB n.F. qualifizierende Auffangtatbestände für das Beisichführen spezieller Tatmittel zu schaffen, die vom Täter/Beteiligten lediglich in physisch ungefährlicher Weise eingesetzt werden sollen, insbesondere zur psychischen Einschüchterung mit einer angeblich gefährlichen „Scheinwaffe".53 Diese Grundentscheidung ist nicht ein bloßes gesetzgeberisches Motiv geblieben, über das man sich bei der Interpretation vielleicht hinwegsetzen könnte. Sie kommt vielmehr im Gesetz selbst deutlich zum Ausdruck: einmal und weniger greifbar zunächst in einer gewissen Entschärfung jener Gleichstellung durch die Herabstufung des gemeinsamen Mindeststrafmaßes beim schweren 51 Zu diesem, in der bisherigen „Scheinwaffen"-Diskussion nicht selten vernachlässigten Aspekt vgl. bereits Küper, JuS 1976, 248, NStZ 1982, 29. 52 Detaillierte Zusammenfassung zuletzt bei Küper (Fn. 3), S. 404ff, nrwN; vgl. auch die Hinw. oben Fn. 49. 53 Zu Unrecht zweifelnd Hörnle, Jura 1998, 173f. Wie hier etwa Dencker (Fn. 13), S. 13; Günther, in: SK-StGB II, § 250 Rn. 18ff; Kudlich, JuS 1998, 472; Rengier, Bes. Teil I, § 4 Rn. 26ff. - Vgl. jetzt auch BGH, J Z 1998, 740 (Spielzeugpistole, Schußwaffenattrappe); BGH, StV 1998, 485f (ungeladene Schußwaffe); BGH, StV 1998, 4 8 6 f (Schreckschußpistole); BGH, StV 1998, 487 (ungeladene Gaspistole).

584

Wilfried Küper

Raub, 5 4 vor allem aber und unübersehbar in der durchgängigen Pointierung des Gegensatzes zwischen der „Waffe" bzw. dem „anderen gefährlichen Werkzeug" und dem „sonstigen Werkzeug oder Mittel", welches damit ersichtlich als „ungefährliches" Werkzeug ausgewiesen ist, ferner auch in der erwähnten Tilgung der „Waffe" aus den Vorgängernormen. Hinzu k o m m t schließlich, daß die neuen Vorschriften keinen einigermaßen sinnvollen A n wendungsbereich mehr hätten, wenn man sie in Richtung der früheren „Gefährlichkeitslösung" wieder einschränkend auslegen wollte. Es bliebe für sie dann allenfalls ein Restbestand von Tatmitteln übrig, die trotz beabsichtigter gefährlicher Verwendung wiederum nicht den ausdrücklich als „gefährlich" bezeichneten Werkzeugen (§§ 2 4 4 1 Nr. 1 a; 2 5 0 1 Nr. 1 a; 177 III Nr. 1 StGB n.F.) zugerechnet werden könnten. Das wäre eine ganz unplausible Regelung. 5 5 Man wird sich deshalb damit abfinden müssen, daß der Gesetzgeber die bisher umstrittene Scheinwaffen-Judikatur nicht nur kodifizieren wollte, sondern sie auch tatsächlich kodifiziert hat.56 Aus dieser Sicht betrachtet liegen die „anderen gefährlichen Werkzeuge", für die der Gesetzeswortlaut ein bloßes „Beisichführen " des jeweiligen Ge54 Bisheriges Minimum: 5 Jahre, jetzt: 3 Jahre. - Eine indirekte „Entschärfung" liegt übrigens auch in der - dem bisherigen Mindestmaß entsprechenden - Wiederanhebung des Minimums für die „Verwendung" eines gefährlichen Werkzeugs (§ 250 II Nr. 1 StGB n.F.). Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich die Scheinwaffen-Fälle bei Raub und räuberischer Erpressung regelmäßig durch den tatsächlichen Einsatz, nicht nur das „Beisichführen", des Gegenstandes kennzeichnen. Diese Art der „Verwendung" wird jedoch von § 250 II Nr. 1 StGB nicht erfaßt. 55 Hörnle, Jura 1998, 173, illustriert dies ungewollt mit ihrer Überlegung zu einem „Miniaturschraubenzieher", den sie erst zu den Werkzeugen i.S. des § 250 I Nr. 1 b StGB rechnen will, weil sich ein solcher Gegenstand nach „objektiver Beschaffenheit" noch nicht dazu eigne, „erhebliche Verletzungen" hervorzurufen, sondern nur bei einer „bestimmten Verwendung" objektiv gefährlich werde. 56 Nach den gesetzgeberischen Motiven (BT-Drs. 13/9064, S 18) soll dabei zugleich die „einschränkende neuere Rechtsprechung des BGH" zur Scheinwaffe „Beachtung finden", insbesondere BGHSt 38, 116,118 („kurzes gebogenes Plastikrohr") und BGH, NJW 1996, 2663 („Labello"). Dies würde bedeuten, daß Drohungsmittel ausscheiden, deren vorgetäuschte Gefährlichkeit sich erst aus einer „zusätzlichen Erklärung" ergibt, oder die „nach ihrem äußeren Erscheinungsbild offensichtlich ungefährlich" sind. Indessen hat die in der Literatur schon vielfach geäußerte Kritik an dieser Rechtsprechung zur Genüge gezeigt, daß derartige Einschränkungen inkonsequent wären: Die Intensität der dem Opfer suggerierten Gefährlichkeit hängt „offensichtlich" nicht davon ab, ob das Drohungsmittel schon „äußerlich" gefährlich wirkt oder ob der Täter den Eindruck der Gefährlichkeit auf andere Weise, etwa durch eine begleitende Erklärung, hervorruft. Vgl. zuletzt Dencker (Fn. 13), S. 13; Hohmann, NStZ 1997, 185f; Knupfer (Fn. 40), S. 128ff; weit. Nachw. bei Küper (Fn. 3), S. 404. Zu beachten ist im übrigen, daß die bisherige hohe Mindeststrafe beim schweren Raub, die für die Rechtsprechung der Anlaß zu jenen Einschränkungen war (BGHSt 38, 118), in § 250 I StGB n.F. deutlich herabgesetzt worden ist; das der früheren Mindeststrafe entsprechende Minimum von fünf Jahren gilt nach § 250 II Nr. 1 StGB nur für die Verwendung eines „gefährlichen" Werkzeugs, nicht einer Scheinwaffe.

„Waffen" und „Werkzeuge" im reformierten Besonderen Teil des StGB

585

genstandes ausreichen läßt, gleichsam in einem Mittelfeld zwischen den mitgeführten (technischen) „Waffen" und den „sonstigen Werkzeugen", die in Gewaltanwendungs- oder Drohungsabsicht mitgeführt werden müssen. Da als „Kandidat" für ein gefährliches Werkzeug - ähnlich wie in § 224 I Nr. 2 StGB n.F. - jeder beliebige Gegenstand in Betracht kommt, der nicht schon eine „Waffe" im technischen Sinn darstellt, aber in concreto irgendwie als Verletzungs- oder potentiell gefährliches Drohmittel eingesetzt werden kann, bedarf das Gesetz unter dem Aspekt des Beisichführens von „anderen gefährlichen Werkzeugen" einer restriktiven Auslegung. 57 Deren Notwendigkeit ist angesichts des praktisch unbegrenzten Kreises von Tatmitteln ebenso evident wie die Unmöglichkeit, diese Restriktion an den Erfordernissen eines gefährlichen Verletzungswerkzeugs i.S. des § 224 I Nr. 2 StGB zu orientieren. 58 Für die Auflösung des eigenartigen „Werkzeug-Dilemmas", das die wenig durchdachte Neuregelung damit heraufbeschworen hat, kommen - soweit bisher erkennbar - in grundsätzlicher Hinsicht 59 zwei verschiedene Möglichkeiten in Frage. Die erste Möglichkeit wird durch die - vom damaligen Schrifttum übernommene - Rechtsprechung zum ursprünglichen Beisichführen von „Waffen" vorgezeichnet, weil dort die Judikatur vor einem vergleichbaren Problem stand. Sie hat es seinerzeit, wie schon dargelegt, in der Weise gelöst, daß die maßgebliche abstrakte Gefährlichkeit „nichttechnischer" Waffen (anderer gefährlicher Werkzeuge) aus der inneren Einstellung des Täters zum eventuell gefährlichen Einsatz des Gegenstandes abgeleitet, zugleich darauf beschränkt und von hier aus die subjektive Komponente des „Beisichführens" durch ein zusätzliches Bewußtsein gefährlicher Verwendbarkeit („Gefährlichkeitsbewußtsein") verstärkt wurde. Dabei traf allerdings die oft gebrauchte blasse Formel, der Täter müsse „wenigstens mit der Möglichkeit gerechnet" haben oder sich „der Möglichkeit bewußt" gewesen sein, den Gegenstand als Waffe zu verwenden, nicht genau den leitenden Grundgedanken, daß die Gefährlichkeit beim Mitführen untechnischer Waffen nur „nach dem Willen des Trägers im Einzelfall" 60 bestimmt werden könne. Ein bloß intellektuell-distanziertes „Spielen mit der Vorstellung" einer gefährlichen Einsatzmöglichkeit, das als Gefährlichkeitsindiz zu schwach wäre, dürfte denn auch nicht gemeint gewesen sein, sondern eine ernstliche Bereitschaft zur gefährlichen Verwendung i.S. einer „Eventualabsicht", die bereits die Willensentscheidung enthält, den Gegenstand u . U . gefährlich einzuset-

57 Oder einer „teleologischen Reduktion"; auf den methodologischen Unterschied soll es hier aber nicht ankommen. 58 Vgl. schon oben Fn. 30. 59 D.h. abgesehen von möglichen Modifikationen oder Kombinationen. 60 So deutlicher ζ. B. RGSt 44, 140 (141); 66, 191; 74, 281 (282); später wieder BGH, NJW 1965, 2115.

586

Wilfried Küper

zen. 61 Wird dies verdeutlicht, so entsprachen die Anforderungen an die subjektive Seite des Beisichführens im wesentlichen den Kriterien der „Verwendungsabsicht", wie wir sie noch heute aus den schon erwähnten Strafzumessungsnormen (§§ 113 II 2 Nr. 1; 121 III 2 Nr. 2; 125 a 2 Nr. 2 StGB) kennen und wie sie unter der Ägide der §§ 2441 Nr. 2, 2501 Nr. 2 StGB a.F. auch der „Gefährlichkeitstheorie" des Schrifttums zugrunde lagen. In eine restriktive Auslegung der Neuregelungen eingepaßt, würde diese Lösung bedeuten: Der Täter/Beteiligte führt ein „anderes gefährliches Werkzeug" (im Gegensatz zur technischen Waffe) nur dann i.S. des Gesetzes bei sich, wenn er die Absicht hat, einen mitgeführten, zur erheblichen Verletzung geeigneten Gegenstand auch - zumindest im „Bedarfsfall", „eventuell", „notfalls" 62 - in seiner Eigenschaft als gefährliches Tatmittel zu verwenden. Diese „gefährliche Verwendung" selbst entspräche wiederum der „Verwendung", wie sie auch sonst im Gesetz gemeint ist (§§ 113 II 2 Nr. 1; 121 III 2 Nr. 2; 125 a 2 Nr. 2; 177 IV Nr. 1; 250 II Nr. 1 StGB). Dazu gehört der Werkzeugeinsatz zur erheblichen körperlichen Verletzung/Gefährdung oder Tötung, aber auch zur latent gefährlichen, weil realisierbaren Drohung mit derartigen physischen Beeinträchtigungen. Eine solche Lösung des „Werkzeug-Dilemmas" 63 würde die alte Unterscheidung zwischen Waffen im „technischen" und „nichttechnischen" Sinn für das neue Recht - nach traditionellem Muster - so wieder aufnehmen, daß der Gesamtbereich des Mitführens „anderer gefährlicher Werkzeuge" dem Sonderregime einer Verwendungsabsicht unterworfen wäre. Abgesehen von der dann im Einzelfall notwendigen Ausgrenzung technischer Waffen nach ihrer allgemeinen Zweckbestimmung 64 würde damit ein Vorzug genutzt, den die Neuregelungen jedenfalls haben: das „andere gefährliche Werkzeug" ist dort nicht näher definiert. Außerdem wäre insoweit der Anschluß an diejenigen Normen und deren anerkannte Auslegung hergestellt, die ausdrücklich eine (gefährliche) Verwendungsabsicht erfordern.

61 Vgl .Jagusch, in: LK, 8. Aufl. 1958, § 243 Anm. II 6: „etwaige Gebrauchsabsicht". - Die schwächere Formulierung in manchen Entscheidungen erklärt sich wohl daraus, daß dort (nur negativ) die Vorstellung zurückgewiesen wird, bei nichttechnischen Waffen reiche bereits das schlicht-bewußte Beisichführen eines Gegenstandes aus, der in concreto eventuell als gefährliches Werkzeug verwendet werden kann. 62 Zu diesen, bei der Verwendungsabsicht anerkannten Kautelen zusammenfassend Küper (Fn. 3), S. 64, mwN. - Näher zur Struktur der Absicht eventueller Verwendung Gehrig, Der Absichtsbegriff in den Straftatbeständen des Besonderen Teils des StGB, 1986, S. 36 ff; Küper, JuS 1976, 645 mit Fn. 7. 63 Ich habe sie an anderer Stelle bereits vorgeschlagen; vgl. Küper((Fn. 3), S. 398,400f. In gleicher Richtung Rengier, Bes. Teil I, § 4 Rn. 6, 25; weitgehend auch Günther, in: SK-StGB II, § 250 Rn. 8, 11, der allerdings Gegenstände ausklammern will, die schon „aufgrund ihrer objektiven Beschaffenheit generell geeignet sind, im Falle ihres Einsatzes (!) erhebliche Verletzungen zuzufügen". 64 Vgl. auch unten Fn. 68.

„Waffen" und „Werkzeuge" im reformierten Besonderen Teil des StGB

587

Als zweite grundsätzliche Lösungsmöglichkeit kommt ein Verfahren in Betracht, das in dem Versuch besteht, die mitgeführten „gefährlichen Werkzeuge" schon objektiv so zu definieren, daß dafür ein bewußtes Beisichführen - ohne Verwendungsabsicht - ausreicht. Zu denken wäre dabei an Gegenstände, die zwar nicht (wie die technischen Waffen) allgemein zur Verletzung zweckbestimmt, aber aufgrund besonderer objektiver Qualitäten immerhin „generell" - erfahrungsgemäß, typischerweise - geeignet sind, bei ihrem konkreten Einsatz erhebliche körperliche Verletzungen oder Gefährdungen zu bewirken.65 Konsequentermaßen müßten dann die übrigen, nur „individuell" gefährlichen Tatmittel, die ja nicht unberücksichtigt bleiben können, dem Anwendungsbereich der „sonstigen", in Verwendungsabsicht mitgeführten Werkzeuge zugewiesen werden (§§ 244 I Nr. 1 b; 250 I Nr. 1 b; 177 III Nr. 2 StGB), also der Kompetenz derjenigen Vorschriften, die vom Gesetz an sich für „ungefährliche" Werkzeuge wie z.B. Scheinwaffen vorgesehen sind.66 Auf diese Weise entstände für das Gesamtkontingent der gefährlichen Werkzeuge eine Art normativer Mischlösung. Sie unterschiede sich von der erwähnten restriktiven Auslegung im Ergebnis dadurch, daß nur bei einer „Teilmenge" gefährlicher Tatmittel, über die Zuordnung zu den „sonstigen" Werkzeugen, eine Verwendungsabsicht verlangt wird, während bei den „generell" gefährlichen Werkzeugen schon das bewußte Beisichführen genügt. Auch wer keine prinzipiellen Bedenken dagegen hat, in die „sonstigen" Werkzeuge Gegenstände einzubeziehen, die aufgrund der Einsatzabsicht ja gerade wieder „gefährlich" werden, und so die im Gesetz deutlich angelegte Unterscheidung zwischen „gefährlichen" und „sonstigen" Werkzeugen zu überspielen,67 muß dieser Lösung jedoch sehr skeptisch gegenüberstehen, 65 In dieser Richtung Dencker (Fn. 13), S. 12, der dazu auffordert, eine „abstrakte Klassifizierung" derart zu entwickeln, daß auf „typischerweise und/oder erfahrungsgemäß bestehende Verletzungsgefahren" im Umgang mit bestimmten Gegenständen oder auf eine „ohne weiteres ersichtliche Eignung" zu erheblichen Verletzungen abgestellt wird. Vgl. ferner Günther, in: SK-StGB II, § 250 Rn. 9, 1, der für die „generelle Eignung" als Beispiele nennt: Salzsäure, Knüppel, Steine, Chloroform. Gegenbeispiele sollen etwa sein: Kabel, Schnüre, Schere, massive Scheinwaffen. - Allzu unbestimmt Hömle, Jura 1998, 172, die irgendwie auf „objektive Beschaffenheit", „potentielle Eignung zur Verletzung" und „Zweckentfremdung" abstellen will, aber zu keinem substantiierten Ergebnis kommt. 66 Wenn man für solche Gegenstände nicht wiederum, wie Günther {oben Fn. 63), schon innerhalb des „Beisichführens" eine Verwendungsabsicht verlangt. 67 Eigenartigerweise betont Dencker (Fn. 13) an anderer Stelle selbst, daß das Gesetz mit dem „sonstigen" Werkzeug die Abgrenzung zum „gefährlichen" Werkzeug getroffen habe (S. 13). - Man könnte aber immerhin argumentieren, daß der Anwendungsbereich „sonstiger" Werkzeuge davon abhängt, wie man das „gefährliche" Werkzeug i.S. der §§ 2441 Nr. 1 a, 250 I Nr. 1 a, 177 III Nr. 1 StGB bestimmt, so daß in gefährlicher Absicht mitgeführte Werkzeuge, die nicht unter diese Vorschriften fallen, aus dem „sonstigen" Werkzeug nicht unbedingt ausgeschlossen sind (so auch Schlothauer/Sättele, StV 1998, 508f). - Zur „Auffangfunktion" in Fällen des Irrtums über die Gefährlichkeit des jeweiligen Gegenstandes, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. meinen Vorschlag in Küper (Fn. 3), S. 407

588

Wilfried K ü p e r

obwohl sie den Gesetzeswortlaut für sich in Anspruch nehmen kann. Denn ihre eigentümliche Schwierigkeit liegt in dem unvermeidlichen Zwang, bei den vom Täter/Beteiligten nur bewußt mitgeführten (!) Gegenständen die zur Verletzung „generell geeigneten" Werkzeuge von den übrigen zu trennen, ohne daß hierfür - wie bei den technischen Waffen - auf die allgemeine Zweckbestimmung des Gegenstandes zur Verletzung zurückgegriffen werden kann. Diese Trennung dürfte aber einigermaßen verläßlich gar nicht möglich sein, und es ist deshalb kein Zufall, daß sie in der früheren Judikatur und Literatur zum Beisichführen von „Waffen" nirgends erwogen worden ist. Denn zur erheblichen Verletzung schon per se „allgemein geeignete" Gegenstände gibt es außerhalb der dazu zweckbestimmten Waffen im Grunde ebensowenig (und ebensoviel) wie - praktisch betrachtet - hierzu „generell" völlig ungeeignete. Die „Eignung" zur Verletzung richtet sich bei jedem Gegenstand danach, ob und wie er gegen den Körper des Opfers konkret eingesetzt werden soll. Wohl kann man unter den Gegenständen, über die z.B. ein Dieb oder Räuber verfügt, solche Instrumente namhaft machen, deren Besitz die Bereitschaft zur Verwendung als gefährliches Tatmittel näher legt, als dies bei anderen, insbesondere ubiquitären Alltagsgegenständen, der Fall ist. Die Skala reicht dann etwa von Salzsäure, Chloroform oder einer Drahtschlinge bis zum Taschenmesser oder Damenstrumpf. Doch würde eine objektiv-generelle Gefährlichkeitsbestimmung nach diesem Maßstab über vage Intuitionen nicht hinausführen und letztlich nur zeigen, daß es immer auf die jeweilige Verwendungsabsicht ankommt, die auch bei ersichtlich besonders „brisanten" Gegenständen nicht unterstellt werden darf. Insofern steckt in der traditionellen, nach der Zweckbestimmung zu treffenden Unterscheidung von „technischen" und „nichttechnischen" Waffen - mit unterschiedlichen Anforderungen an die subjektive Komponente des „Beisichführens" - ein gutes Stück „juristischer Weisheit".68 Auch bleibt hierbei stets die Möglichkeit, aus dem Mitführen „ungewöhnlicher" Gegenstände, deren gefährliche Verwendung sich nach den Umständen aufdrängt, ein Beweisanzeichen (Indiz) für eine entsprechende Einsatzbereitschaft abzuleiten. Eine überraschende - indirekte - Bestätigung für die Angemessenheit der „Absichtslösung" liefert ein unlängst in die Diskussion eingebrachter Vorschlag zur „objektiven" Bestimmung des mitgeführten gefährlichen Werkzeugs, obwohl der Vorschlag gerade auf der dezidierten Ablehnung 68 Daß auch diese Unterscheidung dort Abgrenzungsprobleme aufwerfen kann, wo die allgemeine Zweckbestimmung der technischen Waffe nicht schon aus ihrer Konstruktion folgt, sondern nach der „Verkehrsanschauung" festzustellen ist, soll nicht bestritten werden. Doch dürfte dies zum einen eher selten vorkommen, und zum anderen kann man bei Zweifeln über die Verkehrsauffassung unbedenklich so verfahren, daß dann eben eine Verwendungsabsicht verlangt wird.

„Waffen" und „Werkzeuge" im reformierten Besonderen Teil des StGB

589

dieser Lösung beruht.69 Eine Verwendungsabsicht - so der Ausgangspunkt - dürfe man für das Beisichführen des Werkzeugs nicht verlangen, weil sich der mit solcher Absicht handelnde Täter bei den Gewaltdelikten ohnehin wegen „versuchter Verwendung" (§§ 22, 250 II Nr. 1; 177 IV Nr. 1 StGB) strafbar mache und „damit bereits auf der höheren Qualifikationsstufe erfaßt" werde. Deshalb sei eine einschränkende Auslegung nur „auf objektiver Grundlage" möglich. Für die Einordnung mitgeführter Werkzeuge als „gefährlich" soll es danach darauf ankommen, ob sie in der konkreten Tatsituation „nur dazu geeignet sind, Lebens- oder Leibesgefahr herbeizuführen bzw. damit zu drohen", also „keine andere Verwendung" und „allein diesen Zweck" haben können. Dafür seien immer die „Umstände des Einzelfalles" entscheidend. „Nur in den Fällen, in denen eine Zweckbestimmung ausscheidet, die nicht in der Herbeiführung von Lebens- oder Leibesgefahr liegt", komme die Strafbarkeit wegen Beisichführens eines gefährlichen Werkzeugs in Betracht. Anders bei solchen Gegenständen, „die zwar zur Begehung der Straftat verwendet werden können, aber nicht ausschließlich als Nötigungsmittel verwendbar sind". Der Vorschlag ist ein Beispiel für die „objektive Eignung" des neuen gefährlichen Werkzeugs, erhebliche Verwirrungen auszulösen. Abgesehen von der manifesten Unrichtigkeit des Ausgangspunktes70 und abgesehen auch davon, daß es Gegenstände, die „ausschließlich" zur Gefährdung verwendbar sind, überhaupt nicht gibt, stellt dieser Vorschlag in seiner Substanz nichts anderes dar als eine „Absichtslösung" in Form einer verdeckten Indizkonstruktion, die zur „objektiven" Auslegungshypothese stilisiert wird. Leitender Gesichtspunkt ist danach nämlich ebenfalls die jeweilige Verwendungsabsicht:71 Lassen die konkreten Tatumstände nur den Schluß zu, daß der Gegenstand für den Täter keinen anderen subjektiven Zweck haben konnte als die Verwendung zur Verletzung oder gefährlichen Drohung, so ist damit die Verwendungsabsicht, auf die es letztlich ankommt, indiziell bewiesen! 69

Schlotbauer/Sättele, StV 1998, 507f. Er ist sogar in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Die „Absicht", den mitgeführten Gegenstand (eventuell) gefährlich zu „verwenden", begründet allein noch keinen Versuch der entsprechenden „Verwendung", solange hierzu nicht „unmittelbar angesetzt" worden ist. Strukturell ist das Mitführen in Verwendungsabsicht eine bloße Vorbereitungshandlung, die in das Versuchsstadium des „Verwendens" übergehen kann. Außerdem besagt der „Verwendungsversuch", soweit er vorliegt und gesondert strafbar ist - was bei § 244 I Nr. 1 StGB ohnehin ausscheidet (!) nichts gegen die gleichzeitige Verwirklichung des „Beisichführens" eines gefährlichen Werkzeugs: Die höhere Qualifikationsstufe (z.B. § 250 II Nr. 1 StGB) schließt die geringere (§ 250 I Nr. 1 a StGB) ja nicht aus. Das hat beim Zusammentreffen von „Beisichführen" und „Verwendungsversuch" sogar praktische Bedeutung: Idealkonkurrenz zwischen vollendeter und versuchter Qualifikation. 70

71 Aufschlußreich dafür die phantasievolle Beispielskasuistik bei Schlothauer/Sattele, 1998, 508 r.Sp. (auf die hier verwiesen sei).

StV

590

Wilfried Küper

Die subjektiv orientierte einschränkende Auslegung der neuen Vorschriften, welche das „Beisichführen" eines gefährlichen Werkzeugs betreffen, wäre danach nur noch gegen den Einwand zu schützen, daß sie der Systematik des Gesetzes widerspreche: Wenn das Gesetz nun einmal die Verwendungsabsicht ausdrücklich nur bei ungefährlichen („sonstigen") Werkzeugen voraussetze, dürfe man sie beim gefährlichen Werkzeug „nicht per Interpretation in den Text hineinpraktizieren". 72 Eine ironisch-polemische Erwiderung könnte lauten, daß eine derart hastig geschaffene und so wenig durchdachte Pseudo-„Systematik" für die Auslegung des Gesetzes ohnehin nicht verbindlich sein kann. Doch braucht man auf diesem Terrain nicht zu argumentieren. Man braucht auch nicht darauf hinzuweisen, daß es ja nicht dieselbe Verwendungsabsicht ist, die bei „gefährlichen" Werkzeugen verlangt werden soll, so daß zu den Vorschriften über die „sonstigen" Werkzeuge und die dort vorausgesetzte Absicht „ungefährlicher" Verwendung kein Widerspruch entsteht. Vielmehr ermöglicht - bei genauerer Betrachtung - das „System" des Gesetzes selbst eine absichtsbezogene restriktive Auslegung und erzwingt sie geradezu. Denn die vom Gesetzgeber den Neuregelungen zugrunde gelegte Systematik ist nur insofern widerspruchsfrei,73 als sie die „sonstigen Werkzeuge" einerseits und die „technischen Waffen" andererseits betrifft. Im Mittelfeld, unter dem Aspekt des mitgeführten „gefährlichen Werkzeugs", ist das gesetzliche System dagegen infolge des schon bekannten legislatorischen Motivirrtums immanent widersprüchlich. Träfe nämlich die Vorstellung des Gesetzgebers zu, daß es sich beim „gefährlichen Werkzeug" um einen Gegenstand i.S. des § 224 I Nr. 2 StGB handelt, dann müßte z.B. bei § 250 I Nr. 1 a StGB nicht bloß eine Verwendungsdfei'cÄt, sondern eine konkret gefährliche Verwendung des Werkzeugs, sogar zur effektiven Verletzung, gefordert werden. Dies aber wäre mit dem Sinn der Regelung ebenso evident unvereinbar wie mit der zusätzlichen Qualifikationsstufe des § 250 II Nr. 1 StGB, die eine tatsächliche Verwendung fordert, aber insoweit auch den Einsatz als potentiell gefährliches Drohmittel genügen läßt. Die widersprüchliche Systematik führt daher im Hinblick auf die nur mitgeführten „gefährlichen Werkzeuge" zu einer planwidrigen (verdeckten) Lücke im gesetzlichen System. Sie durch eine der Sache angemessene, einschränkende Auslegung zu schließen, darf deshalb nicht verwehrt sein.

72 So dezidiert Dencker (Fn. 13), S. 12. - Inwiefern außerdem eine „historische Auslegung" gegen die vorgeschlagene Restriktion sprechen soll, weil der Gesetzgeber 1969/1975 die frühere Rechtsprechung „beseitigt" habe, kann ich nicht erkennen. Wenn die „historische Auslegung" in diesem Zusammenhang überhaupt etwas ergibt, so doch wohl eher, daß das mitgeführte „gefährliche Werkzeug" nunmehr die Funktion übernehmen soll, die ihm bisher im Rahmen der §§ 244 I Nr. 2, 250 I Nr. 2 StGB a.F. zukam. Danach wurde jedoch, ebenso wie nach der früheren Rechtsprechung, ein Einsatzwille verlangt. 73 Abgesehen von den hier nicht (mehr) interessierenden Vorschriften zur „Verwendung" von Waffe oder gefährlichem Werkzeug. - Abschluß des Manuskripts: 15. 9. 1998.

Überlegungen zu § 111 StGB. § 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?* H A N S - U L L R I C H PAEFFGEN

N e b e n gewichtigen Beiträgen im S t r a f p r o z e ß r e c h t 1 v e r d a n k e n wir d e m Jubilar m a n c h e s materiell-rechtliche K a b i n e t t s t ü c k an d o g m a t i s c h e r u n d kriminalpolitischer P r o b l e m e n t f a l t u n g u n d - l ö s u n g . 2 D a h e r h o f f t der A u t o r , mit d e r n a c h f o l g e n d e n S k i z z e ü b e r einen e t w a s r a n d s t ä n d i g e n , aber irisierenden P a r a g r a p h e n , 3 der - g e r a d e w e g e n seiner als schillernd v e r s t a n d e n e n Struktur - einige intrikate P r o b l e m e a u f w i r f t , auf geneigtes Interesse z u s t o ßen. D i e T h e m e n - U n t e r z e i l e w e n d e t eine Titelzeile - u n d Q u i n t e s s e n z - eines A u f s a t z e s in F r a g e f o r m , mit der vor ca. 2 5 J a h r e n ein anderer Meister d e r scharfsinnigen A n a l y s e , nämlich Eduard Dreher, d e n T a t b e s t a n d klassifizierte. Sieht m a n sich aber die G e n e s e jenes T a t b e s t a n d e s an, s o w i r d gleich deutlich, w i e s o m a n - trotz des D i k t u m s eines d e r b e s t e n S a c h k e n n e r - die seinerzeitige F e s t s t e l l u n g durchaus n o c h in F r a g e stellen k a n n - u n d sollte. S c h o n im preußischen S t G B 1851 f a n d sich m i t § 3 6 eine vergleichbare B e s t i m m u n g , die aber in den A l l g e m e i n e n Teil eingestellt w a r - eine d u r c h a u s * Paragraphen ohne Kennzeichnung sind solche des StGB. - Kommentar-Zitate ohne Kennzeichnung sind solche des §111. 1 Weshalb nicht wenige immer noch auf ein Lehrbuch aus seiner Feder hoffen. 2 Erinnert sei nur, neben vielem anderen, an die über die Fachöffentlichkeit hinaus bekannten Ausführungen zur rechtlichen Bewältigung des NS-Unrechts, JZ 196^ S. 297ff; 329 ff ( = Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher [1967]), oder sein folgenreiches Gutachten zur Reform des Sexualstrafrechts, 47 DJT (1968), S. A Iff (= Hanack, Zur Revision des Sexualstrafrechts in der Bundesrepublik [1969]). 3 Der freilich gelegentlich (Volkszählungs-Boykott, vgl. etwa OLG Stuttgart NJW 1989, 1939; Desertions-Aufrufe während des Golfkrieges, etwa BayObLG NJW 1994, 396) Konjunktur hat. - Aus der relativen Bedeutungslosigkeit (u.a.) auf die Überflüssigkeit der Norm zu schließen und für deren Aufhebung zu plädieren, so AK-Zielinski, Rn. 6 (mit dem weit problematischeren Vorschlag, dafür die Anstiftung „vorsichtig" erweiternd zu deuten), erscheint nicht sachgerecht: Eine der wichtigen psychologischen Anwendungs-Barrieren i.R.d. lex lata dürfte in der übersetzten Rechtsfolgen-Anordnung liegen, der sich die dubiose doppelte Verschränkung des Sanktions-Spielraums im Abs. 2 kongenial beigesellt. Befreite der Gesetzgeber die Vorschriften aus diesem doppelten Joch, hätte sie eine legitime Funktion - gerade in Zeiten einer zunehmenden stärker medial beeinflußten Welt (Internet!).

592

Hans-Ullrich Paeffgen

sachgerechte Lozierung; denn sachlich handelt es sich - zumindest auch4 um eine spezielle Unternehmens-Form einer Anstiftung. Seinerzeit war sie aber noch auf Verbrechen oder Vergehen beschränkt. Für den Fall einer erfolgreichen Anregung wurde sie einer Anstiftung gleichgestellt; die erfolglose Aufforderung wies einen akzessorietäts-unabhängigen, festen Strafrahmen auf.5 Als § 111 im RStGB 1871 reformuliert und neu positioniert, bezog er aber noch die damals schwächste Form von Straftaten, die Übertretungen, §§ 360 ff RStGB, ein. 6 Indem sich die Delikts-Aufforderung nunmehr im Besonderen Teil wiederfand, änderte sich - so sollte man meinen: „selbstverständlich" - nichts an deren dogmatischen Struktur. Doch damit war die erste falsche Fährte gelegt. Mit dem StrRAG v. 26. 2. 1876 wurde dann der Duchesne-Paragraph § 49a 7 eingeführt. Diese neue Vorschrift über die erfolglose Anstiftung mit ihrer eigenständiger Strafdrohung von maximal 5 Jahren Gefängnis8 harmonierte nunmehr freilich nicht mit der Rechtsfolgen-Anordnung des § 111 II a.F. Diese Diskrepanzen gegenüber § 49a a.F. beseitigte erst das 3. StrRAG. 9 § 111 II wurde im Strafausspruch der erfolglosen Anstiftung angepaßt.10 Das 3. StrRRefG führte dann für beide Fälle eine obligatorische Strafmilderung ein.11 Das 14. StrRAG 1 2 brachte bei Absatz 2 eine doppelte Begrenzung: maximal 5 Jahre, aber keine höhere als die nach § 49 I Nr. 2 reduzierte Höchststrafe für den (fiktiven) Fall, daß die Anstiftung wirklich erfolgreich gewesen wäre. Diese Strafrahmen-Begrenzung beschränkt aber nicht nur den richterlichen Strafzumessungs-Spielraum, sondern zwingt auch gewisse Schlüsse über die Rechtsnatur des Tatbestandes auf: Denn grundsätzlich kann man sehr darüber streiten, ob es sich, wie oben angedeutet, um eine spezielle Beteiligungs-Vorschrift, oder ob es sich um ein Delikt mit eigenständigem Rechtsgut handelt. Sieht man darin eine erweiternde Sonderform der Teilnahme, dann rechtfertigt sich der Tatbestand aus dem Strafgrund der Teilnahme und folgt den dortigen dogmatischen Zurechnungsregeln. So handhaben es Länder des 4 Daß durch § 111 die Anstiftungs-Regeln jedenfalls auch modifiziert werden, läßt sich schwerlich bezweifeln. Die nachfolgenden Zeilen wollen belegen, daß sich in dieser Kategorisierung die Funktion von Aufforderungs-Tatbeständen erschöpft - daß § 111 also gerade kein zweigesichtiger Tatbestand ist.

Nämlich grundsätzlich bis zu einem Jahr Gefängnis. Vgl. dazu auch RGSt 39, 158, wo resignierend die Besonderheit quittiert wurde, daß die versuchte Aufforderung zu einer Übertretung ein Vergehen war). 7 RGBl. S. 25 (36); er entspricht im wesentlichen dem § 30 g.F. Hintergrund war bekanntlich der Versuch jenes Namensgebers Duchesne, sich dem Erzbischof von Paris und dem Jesuitenprovinzial von Belgien anzudienen, um Bismarck gegen Geld zu ermorden. 5 6

Vgl. insoweit § 16 a.F. RStGB 1871. Vom 4. 8. 1953 (BGBl. I, 735). 10 Es wurde eine fakultative Strafmilderung nach den Versuchs-Vorschriften dekretiert. 11 Vom 20. 5. 1970 (BGBl. I S . 501), Insgesamt folgte die Vorschrift dem Vorbild des § 292 Ε 1962, vgl. zu diesem die Begründung S. 464. 12 V. 2 2 . 4. 1976 (BGBl. I, 1056). 8 9

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

593

anglo-amerikanischen Rechtskreises, aber auch Frankreich. 1 3 - O d e r man sieht in ihm ein eigenständiges Schutzgut des Gemeinschaftsfriedens

im

Sinne eines allgemeinen Sicherheitsgefühls der Bevölkerung erfaßt. D a n n sind die allgemeinen Teilnahme-Regeln für die N o r m - A u s l e g u n g vor der H a n d nicht präjudiziell, so z . B . in den Strafgesetzen der Schweiz, von Italien, Osterreich, Niederlande, Dänemark, Schweden. 1 4 U n d natürlich kann man einen vermittelnden Standpunkt beziehen, was die h . M . , im Anschluß an Dreher, tut. 1 5 - D e r Gesetzgeber hat in dem von ihm gesehenen Streit bewußt nicht Stellung genommen, 1 6 und auch die Rspr. hat bisher eine klare Äußerung vermieden. 1 7

13 Vgl. dazu schon die Nw bei Kögler, Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 2 (1955), S. 67ff. - In diesem Sinne auch AK-Zielinski, StGB; Rn. 4; Lackner22, Rn. 1; SKStGB 5 -Horn (1996), Rn. 2; ähnlich Maurach/Schroeder/Maiwald, BT-27, § 93 Rn. 1; Schroetter, Straftaten gegen das Strafrecht (1985); S. 13. - Vgl. auch Frankreich: § 1 Loi n° 72-546 v. 1. Ζ 1972 im Verhältnis zu Art. 60 CP. 14 Vgl. Kögler, Materialien Bd. 2 (1955), 67ff; ausschließlich in diesem Sinne Ε 1922 (Ε-Radbruch), S. 480 zu § 159; BGHSt 32, 310; Fincke, Das Verhältnis des Allgemeinen Teils zum Besonderen Teil des Strafrechts (1975), S. 76 ff; Kostaras, Zur strafrechtlichen Problematik der Demonstrationsdelikte (1982), S. 145; Otto BT 5 , § 63 Rn. 64; Rogall, GA 1979,11 (16, 18), - sowie schon früher: Binding, BT-2/2 (1905), S. 855; Schwarz, AllgSächsGerichtsZ 15 (1871), 297 (298 f). Vgl. im benachbarten Ausland: Wiener Kommentar (WK)-Steininger (1980) § 282 Rn. 2; undeutlich Forregger/Kodek (Österr.) StGB 10 (1997), § 282 Anm I i.V.m. § 281 Anm. I der ihn als Sonderform der Anstiftung bezeichnet, darin aber ein abstraktes Gefährdungsdelikt; dto bei Stratenwerth CH-BT II § 40 Rn. 9; Trechsel (CH) StGB (1989), Art. 259 Rn. 5. Oder etwa Art. 414 Ital. CPI (öffentl. Aufforderung zu Straftaten 5 Jahre Freiheitsstrafe bei Verbrechen, 1 Jahr bei Vergehen), Art. 131 NL-StGB(öffentl. Aufwiegelung zur Gewalttätigkeit -» 5 Jahre Freiheitsstrafe); §§ 281, 282 österr. StGB (öffentl. Aufforderung zum Ungehorsam/zur Straftat 1 bzw. 2 Jahre (!) Freiheitsstrafe; Art. 259 Schweiz. StGB (öffentl. Aufforderung zum Verbrechen/Vergehen 3 Jahre Zuchthaus bzw. 5 Jahr Gefängnis). 15 BayObLG NJW 1994, 396; OLGe Karlsruhe NStZ 1993, 389 (390); Stuttgart NJW 1989, 1939 (1940); Arzt/Weber, LH 5 (1982), Rn. 82ff; Blei, BT12, § 53 I (S. 257f); Dreher, Gallas-FS (1973), S. 307 (312); LK»-i>. Bubnoff, Rn. 5; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT-277, § 43 Rn. 1; Rogall GA 1979, 11 (18 - trotz S. 15); Schönke/Schröder15-Eser, Rn. 1; Tröndle*8 Rn. 1. Dafür früher schon Hälschner, Gem.dt.StrR II/2 (1884), S. 796 (800). Dieser Sicht steht eine modifizierende Deutung nahe, die auch die rechtstreue Gesinnung der Bürger mitgeschützt sehen möchte, so; Plate ZStW 84 (1972), 294 (303 Fn. 36) („Angriff auf die ,empirische Geltung der Rechtsordnung'"); Jakobs ZStW 97 (1985), 751 (777: „Partialunrecht" i. S. e. Angriffs auf die kognitive Basis des Normvertrauens). 16 Vgl. dazu Dreher Gallas-FS (1973) S. 307 (310). 17 Zumindest verbal BGHSt 29, 258 (267): „Es kann dahinstehen, ob der Charakter dieser Strafvorschrift als ,Paragraph mit dem Januskopf', der mit einem Bein im Allgemeinen Teil und mit dem anderen Besonderen Teil des Strafgesetzbuches steht, zutreffend umschrieben oder ob § 111 StGB ausschließlich als eine Vorschrift des Besonderen Teils anzusehen ist." / „Jedenfalls ... nicht allein um eine besondere Form der Teilnahme bzw. von versuchter Teilnahme an fremder Tat, sondern um einen ein abstraktes Gefährdungsdelikt umschreibenden Tatbestand, der dem Schutz des inneren Gemeinschaftsfriedens dient.".

594

Hans-Ullrich Paeffgen

Dennoch ist zweifelhaft, ob die Kombinations-Lehre wie auch die völlige Beschränkung auf den Schutz des Gemeinschaftsfriedens dazu imstande sind, die anfallenden Phänomene und gesetzlichen Besonderheiten zu erklären. Denn letztlich zwingen sie in zirkuläre Argumentationen. 18 Nachfolgend sei also versucht, darzutun, daß sich angemessenere Ergebnisse auf der Basis eines Ansatzes finden lassen, der auf den Strafgrund der Teilnahme als Legitimation für § 111 abhebt. 19

B.

Zunächst seien die allgemeinen Auslegungs-Spielräume für die BegriffsAusfüllung betrachtet, welche die Handlungs-Merkmale des § 111 im speziellen und die Normstruktur im allgemeinen eröffnen. Dafür findet sich in den Teilnahme-Vorschriften und den ihnen zugrundeliegenden Doktrinen vielfältiges Material, um Grenzen der Tatbestandsmäßigkeit zu ziehen und Maßstäbe zu bilden. Freilich steht auch der Strafgrund der Teilnahme seinerseits nicht gerade zweifelsfrei fest. Mit einer verbreiteten Meinung sei er in der Schutz-Erweiterung des im Haupt-Tatbestand geschützten Rechtsgutes in der Form eines Schutzes vor dem Anstoßen oder Fördern fremder Angriffe auf dieses Gut gesehen, bzw. in der Verhinderung des durch den BT-Tatbestand zu unterbindenden Verhaltens durch das Verbot einer diesbezüglichen initialisierenden oder fördernden Solidarisierung. 20 Das eröffnet u.a. die Chance, dieses Konstruktions-Verständnis zur Begrenzung heranziehen zu können. Dieser Hoffnung stehen allerdings als ein erratischer Block die gesetzlichen Rechtsfolgen-Anordnungen in § 26 wie auch in § 111 im Wege, die mit dem erwogenen Ansatz nur schlecht harmonieren. Jedoch vor die Wahl gestellt, konstruktive Restriktionen entwickeln zu sollen, - oder die Möglichkeit zu verlieren, aus dem Rechtsguts-Begriff Grenzen für, namentlich ausuferungsträchtige, Tatbestände abzuleiten, erscheint die erste Variante vorzugswürdig. 18

Dazu noch im einzelnen unten ab Fn. 40. Dafür schon de lege ferenda aus gesetzessystematischen Gründen M.E. Mayer, Vergl D BT-1 (1906), S. 364 (379, 380). 20 So im Ergebnis wohl auch Jakobs, AT2, 22/6, und den., GA 1996, 253 (257) (gemeinsame Organisations-Zuständigkeit); Puppe, GA 1984, 101 (112) (Unrechts-Pakt); Schumann, Handlungsunrecht (1986), S. 49ff (Solidarisierung mit fremdem Unrecht); str. - Die h.M. gibt sich im Ansatz mit weniger zufrieden (vorsätzliche Verursachung des Tatentschlusses/Förderung desselben oder der Ausfüllung): Jescheck/Weigend, AT5, § 64 I 2 (S. 684); Köhler, AT, § 43 I (S. 483); Lackner12, Vor § 25 Rn. 8; S K - S t G B - W j o « 5 , Vor § 26 Rn. 14; vermittelnd: LK n -Roxin, Vor § 26 Rn. 15, der Kollusion bei § 26 voraussetzt. Das reicht als ein an der Rechtsvoraussetzungsseite anknüpfendes Zurechnungs-Konstrukt, aber nicht, um den Strafrahmen zu rechtfertigen. - Wieder anders (eigenständiges Teilnahme-Unrecht) etwa Lüderssen, Strafgrund (1966), S. 168, 192; Stein, Beteiligungsformenlehre (1988), S. 238 (241 ff). 19

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

595

Wäre allerdings § 26 zu entnehmen, die Bestimmtheit des Adressaten der Teilnahmehandlung sei ein Konstituens der Teilnahme, 21 so müßte die erwogene Vorgehensweise schon an diesem Axiom scheitern. Doch kann es jenseits von sprachlichen Schranken 22 - keine vorrechtliche BeteiligungsTypik geben, aus der heraus sich die Zuordnung oder Nicht-Zuordnung zu einer bestimmten Teilnahme-Struktur (etwa unter den Mindestbedingungen der §§ 26, 27, 30) schlußfolgern ließe. 23 Jedenfalls gibt das Wort „Anstiften" eine derartige Grenze nicht her. 24 Zumindest der Sache und der Sprache nach könnte der Gesetzgeber also mittels § 111 den § 26 erweitert haben. Insoweit wäre der Gesetzgeber also allemal frei. 25 Er könnte namentlich weitere Konstellationen - mit anderen Kriterien (etwa die Beeinflussung unbestimmter Personen) - ebenfalls als „Anstiftungs-Formen" definieren („Aufwiegeln"). a) Spielt man die gesetzlichen Möglichkeit so durch, so muß man als Folge der Gedanken-Operation auf die Wertigkeit der Unrechts-Quanten blicken. Für diese findet sich in den Strafrahmen-Anordnungen eine unmittelbare gesetzgeberische Wertung. Mit diesen und den Zurechnungs-Modellen liegt die Statik zwischen Unrechts-Gehalt und Strafrahmen fest. Da die des § 25 II für Mehr-Personen-Verhältnisse eine offensichtlich einleuchtende Konfiguration ist, sei sie zum archimedischen Punkt der Betrachtung gemacht. Dann gerät man freilich schon mit der Zurechnungs-Konstruktion und der Rechtsfolgen-Anordnung des angezogenen § 26 in Schwierigkeiten. Denn er statuiert, die Anstiftung sei obligatorisch gleich-strafwürdig im Verhältnis zur täterschaftlichen Begehung, was nach allgemeiner UnrechtsDogmatik schwerlich nachvollziehbar ist. Das Argument der h.M., der Anstifter gebe „den entscheidenden Anstoß zur Tat", 26 ist allenfalls statistisch von Belang und ändert an der defizitären bis mangelnden Tatherrschaft des Anstifters nichts. Erst wo Tatherrschaft annähernd vorliegt, wird man - aus materiellen Erwägungen der Gleichgewichtung - auch die Gleichstellung der Rechtsfolge mit der der täterschaftlichen Begehung für gerechtfertigt halten 21 So, für die Anstiftung (nach der lex lata), etwa Jescheck/Weigend, AT 5 , § 64 II 2b (S. 688); für den vageren § 48 noch zweifelnd und erst in der Zusammenschau mit § 111 bejahend, im Grundsatz aber verneinend: M.E. Mayer, VerglD BT-1 (1906), S. 349 (379f, 418). 22 Dafür, daß man diese Grenze wieder etwas ernster nehmen sollte, und sie aus dem Range eines Dekorums in der gehobenen Strafrechts-Literatur herausholen sollte, habe ich mich im Zusammenhang mit § 240 ausgesprochen, vgl. Paeffgen Grünwald-FS (1999), Text ab Fn 25. Nachsichtig mit den unbestreitbar vielen Sündenfällen der Rspr. aber die h.M., vgl. jüngst - im nämlichen Kontext - Amelung, NJW 1995, 2584 (2588 r.Sp.). 23 Dreher Gallas-FS (1973) S. 307 (310 f); zust. AK-ZielinskiKn. 4. 24 So richtig M.E. Mayer, VerglD BT-1 (1906), S. 418. 2 5 Wenngleich die sektorale Erweiterung dann systematisch falsch placiert wäre. 26 BT Drs. V/4095, S. 13; Freund, AT § 10 Rn. 115; Gallas, ZStW 80 (1968), 1 (32); Jescheck/Weigend, AT5, § 64 II 5 (S. 691), Lackner22, § 26 Rn. 1 ff; Maurach/Gössel/Zipf, AT-2 7 (1989), § 51 Rn. 6ff; Schmidhamer, AT2, (1984), 10 / Rn. llOff; Tröndle*«, Rn. § 26 Rn. 2ff.

596

Hans-Ullrich Paeffgen

können. 2 7 Das gilt etwa in den Fällen, in denen die materiell vorliegende mittelbare Täterschaft an der mangelnden Sonderpflichtigkeit des Hintermannes scheitert. 28 - Ansonsten geböte die Unrechts-Rechtsfolgen-Relation notwendig, den Strafrahmen abzusenken. Mit Rücksicht auf die zuvor genannten Sonderkonstellationen wäre zumindest eine fakultative Strafmilderung vorzusehen. 29 Da sich der Gesetzgeber aber an einer Gleichbehandlung festgebissen hat, müssen - in Anlehnung an ein bekanntes Wort von Horn („wenn die Strafe starr ist, muß der Begriff flexibel sein" 30 ) - die Anforderungen an die Kriterien-Bildung verschärft werden, wenn der Strafzumessungs-Rahmen unangemessen hoch fixiert ist. Die Diskussion, wie dies bei § 26 zu bewältigen sei, ist noch keineswegs abgeschlossen. 31 All diesen Verschärfungs-Modellen wohnt jedoch die Idee inne, diese Unrechts-Qualität derjenigen der täterschaftlichen anzupassen. - Angemessen dürfte sein, eine psychische Wirkung auf das Opfer zu verlangen, die ein gewisses Maß an Zwangsläufigkeit in Richtung auf die Tatbestandsverwirklichung beim Haupttäter auslöst. Es muß also mehr vorliegen als das bloße Anstoßen des Tatentschlusses. Es muß vielmehr - mindestens - eine Minderform der Tatherrschaft eingreifen. Damit ist nicht nur ein psychischer Sachverhalt von einer gewissen Präzisierbarkeit gegeben, sondern zugleich ein normativer Maßstab gefunden, der gleichsam den gemeinsamen Nenner der in der Literatur erwogenen Vorschläge ausspricht. Sowohl das dort thematisierte Vertrags-Element wie die Willensherrschaft zeigen, wann man von einer „Verbundenheit" des (Haupt-) Täters zur Tatbegehung sprechen kann, die ausschließlich der Einflußnahme des Anstifters zuzuschreiben ist. Zwar sind weder Vertrag noch sonstige Kollusion notwendig, wenngleich hinrei27 Im Ergebnis wie hier etwa Jakobs, AT2, 22/31; Arm. Kaufmann, ZStW 80 (1968), S. 34 (37); Köhler, AT (1997), § 45 V, S. 526f; Kühl, AT2, § 20 Rn. 167f; LK1'-Roxin^ 26 Rn. 15; Puppe, GA 1984, 101 (112f); dieser folgend Altenhain, Strafbarkeit des Teilnehmers ... (1994), S. 123, 131 ff; Stratenwerth, AT3, Rn. 892.; Welze!, Lb1' (1969), § 16 II 6. 28 Beide Beteiligungsformen gleichzustellen ist daneben in Fällen nachvollziehbar, in denen eine Mit- oder mittelbare Täterschaft am Eigenhändigkeits-Erfordernis scheitert oder in jenen (seltenen) Fällen, in denen die Figur des „Täters" hinter dem Täter diskutiert wird (dazu etwa SchroederTäter ... [1965] S. 204. Vgl. jetzt aber auch BGHSt 35, 347 [Katzenkönig]; BGHSt 32, 38 [41 ff] [Sirius]; 40, 218 [236] [Mauerschützen]; 40, 257 [266f] [Behandlungs-Abbruch]; Roxin Täterschaft6 (1994) S. 642). 29 So u.a. der § 28 II AE; wie hier dezidiert auch Jakobs, AT2, 22/31; nur in der Tendenz ebenso LK"-Roxin, § 26 Rn. 4. SK-StGB5-//om (1993), § 211 Rn. 6. 31 Vgl. etwa die Vorschläge von Jakobs, AT2, 22/21 f (eine Abhängigkeit des Täters vom Willen des Anstifters); Köhler, AT (1997), S. 523, 525 („Mandatum"-artige Bestimmungsmacht); LK"-Roxin, § 26 Rn. 4 (kollusives Zusammenwirken), oder Puppe, GA 1984, 101 (112 f) (Unrechtspakt zwischen Täter und Anstifter), bzw. von Schulz, Die Bestrafung des Ratgebers (1980), S. 137ff; ähnlich Βtoy, Beteiligungsform ... (1985), S. 339f, die eine „Planherrschaft des Anstifters" fordern. - Krit. insoweit, aber strenger als die h.M., etwa Kühl, AT2, § 20 Rn. 173; Otto, AT5, § 19 Rn. 35; Roxin, Stree-Wessels-FS (1993), S. 365 (377).

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

597

chend. Jedoch muß der psychische „Zwang" für den Haupttäter von ähnlicher Bestimmungs-Wirkung sein. - Jedenfalls gebietet die übersetzte Rechtsfolgen-Anordnung eine sehr restriktive Interpretation der Tatbestandsmerkmale. Dabei wird methodologisch keineswegs übersehen, daß derartige finale Subsumtionen mißlich sind. Aber ihr Zweck ist, eine kriminalpolitisch orientierte „freie" Ausdeutung einzuengen - und das oben eingeforderte Maß an innerer Systemstimmigkeit wenigstens im Wege der Interpretation zu gewährleisten. b) Vergleichen wir nun § 111 I mit der solchermaßen restriktiv verstandenen Anstiftung: Wie erwähnt, wird dort gerade vorausgesetzt, daß der Auffordernde den Haupttäter nicht individualisiert habe. 3 2 Damit entfernt man sich noch weiter vom Täterschafts-Konstituens „Tatherrschaft". Zum Ausgleich müßte - bei Strafrahmen-Gleichheit - ein zusätzliches (erhebliches) Unrechts-Gewicht auf der Waagschale der Rechtsvoraussetzungs-Seite auszumachen sein. Denn auch wenn dem Gesetzgeber bei Unrechts-Gewichtung und Rechtsfolgen-Anordnung ein gewisser Gestaltungs-Spielraum bleibt, so fordert das BVerfG ihm doch auch ,strenge Anforderungen an die Gerechtigkeit' ab: „Jede Strafe muß in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Straftat und zum Verschulden der Tat stehen." 3 3 Hält man das aber wirklich für ein innersystemisches Gebot der Binnenrationalität und der Gerechtigkeit, so hat eine solche Fixierung Folgen auch bei TeilnahmeSonderformen. Dann kann eben nicht - in der Tendenz - jedwede Form von Verursachung des Tatentschlusses bei einem Aufgeforderten unter den sonstigen Bedingungen des § 111 I genügen, um den Strafrahmen der Anstiftung (also der Täterschaft) zu tragen. 34 aa) Herkömmlich wird nun dieses Defizit dadurch als kompensiert angesehen, daß der Aufwiegler die Folgen seiner agitatorischen Verhaltensweisen nicht (mehr) beherrschen könne, weswegen der ungerichteten Aufforderung des § 111 ein Mehr an Gefährlichkeit im Vergleich zur Anstiftung nach §§ 26, 30 innewohne. 35 - Warum aber gerade das erlauben soll, von ei32

H.M.: RGSt 65, 200 (202); Dreher,

Gallas-FS (1973) S. 307 (312f); LK"-u.

Bubnoff

Rn. 10; Rogall GA 1979, 11 (16); Schönke/Schröde^-Eser Rn. 4; SK-StGB5-//ora (1996) § 240 Rn. 10; - A.A.: Baumann, AT8, § 37 12; (S. 567); BaumannWeber/Mitsch, AT10, § 30

Rn. 58, die auch eine Aufforderung einer bestimmten Person unter § 111 fassen, sofern sie nur unter die sonstigen Voraussetzungen des § 111 fällt. - Letzterem ist wegen der dadurch noch vageren Grenze zu § 26 nicht zu folgen. 33 BVerfGE 45, 187 (228). 34 So aber wohl SK-StGB 5 -Horn (1996), Rn. 5, der das „Bestimmen zur Haupttat" i.S.d. § 26 ausreichen lassen will;- denn für § 26 läßt die h.M. jedwede Form von Tat-Anregung ausreichen, BGH GA 1980, 183; Bloy, Beteiligungsform ... (1985); S. 328; LK"-Roxm,% 26 Rn. 58; Helberg, Täterschaft (1977), S. 53, 146; Kuhlen/Roth, JuS 1995, 711 (712); SKStG& Samson (1993), § 26 Rn. 5. - Wie hier aber etwa: AK-Zielinski, Rn. 7; Bloy, JR 1985,

206; Rogall, GA 1979, 11 (16) und KK-OWiG-Rogall, § 116 Rn. 3. 35

So etwa BayObLG NJW 1994,396; AK-Zielinski, Rn. 4; Dreher,

Gallas-FS (1973); S. 307

598

Hans-Ullrich Paeffgen

ner gesteigerten Gefährlichkeit zu sprechen, bleibt dunkel.36 Denn die Beeinflussung (um das täterschaft-begründende Kriterium der Beherrschung gar nicht erst zu verwenden) der anzusprechenden Dritten i.R.d. § 111 beruht eher auf dem Prinzip Hoffnung (mag der Auffordernde auch sein Ziel mit dolus directus 1. Grades verfolgen). Schließlich setzt der Agitator die gleichen rhetorischen, gleisnerischen oder sonstigen Fähigkeiten der Überredungskunst ein, die auch der Anstifter benutzt. Daß eine entsprechend eingestimmte Masse ein gut „knetbarer" Stoff für einen geschickten Demagogen ist und wegen dieser massenpsychologischen Suggestibilität eine erhöhte Gefahr von ihr ausgeht, sei gar nicht bestritten. Nur ist das erstens kein notwendiges Kriterium des Tatbestandes des § 111 - und zwar nicht einmal in dessen Modalität „öffentliche Aufforderung". Zum anderen dünnt sich die hypnotische Wirkung mit der Aufhebung des Identität stiftenden Massen-Verbandes aus.37 Deswegen bleibt das behauptete Mehr an Gefährlichkeit mehr als fragwürdig. Schließlich kann man bei einer Interaktion mit (einem) individualisierten Adressaten die Wirkungen der eigenen Einflußnahmen beobachten und, entsprechend den gezeigten Reaktionen, die eigenen Anstrengungen („nachsteuernd") verbessern.38 Vielmehr wirkt die Argumentation eher wie ein Fehlverständnis der o.a. Sentenz von Horn: Weil man die (ohnehin problematische) täterschafts-gleiche Strafe zur Verfügung gestellt bekommen hat, begibt man sich auf die mühselige Suche nach dem „Täterschafts-Gleichwertigen" in der Aufforderung - und schreckt dabei nicht vor Implausibiiitäten zurück. Sprachbildlich stehen hinter der Argumentation der h.M. Vorstellungen wie: der Auffordernde öffne mit seinen Worten die Büchse der Pandora. (325); Lackner22, Rn. 1; LK»-t>. Bubnoff, Rn. 13; Rogall, GA 1979, 11 (16); Schönke/Schröder2i-Eser, Rn. 2; TröndleM Rn. 1; krit. Baumann/Frosch ]Z 1970, 113 (Üb f); Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (777). - Man vgl. i.ü. etwa den Artikel von Dutschke im Kursbuch 14 (1968), S. 146 (161): „Das Bedürfnis nach Frieden kann der Gesamtapparat nicht verwirklichen. Jetzt bleiben nur zwei Möglichkeiten: anzuerkennen, daß es keinen Frieden auf diesem Weg geben kann, oder den Schritt zu tun zum Widerstand, zur Desertion, zur Unterstützung der Desertion, zur illegalen Arbeit, zur Sabotage von Militärzentren. Die Aggression, die sonst tagtäglich in den Straßen, in den Ghettos, in der Kriminalität, im Kampf in Vietnam ausdrückt, wäre nun zu lenken auf die Objekte, die die Aggressionen verursachen und die sie tragen, nämlich auf die militärischen und politischen Zentren". Dieser Artikel ist zunächst einmal folgenlos geblieben. Und dies, obwohl sich Dutschke vorstellte, in „verschiedenen europäischen Städten ,Sabotage-Akte' durchführen" zu lassen, die sich gegen „Transport, Telekommunikation, Hafen und Eisenbahn richten" sollten, G. Dutschke, Wir hatten ein barbarisch schönes Leben - Rudi Dutschke 4 (1996), S. 178 i.V.m. Fn. 93. Man legte aber Wert darauf, Menschen nicht zu Schaden kommen zu lassen, aaO, S. 179f. 3 6 Mit erfrischender Offenheit spricht Ärztin: Arz.t/Weber, LH 5 (1982), Rn. 83 von einer „pure(n) Fiktion" in bezug auf die gesteigerte Gefährlichkeit. 37 Darin aber unterscheidet sich § 111 von §§ 125 ff. 38 Krit. gegenüber dem Ansatz der h.M. auch Arzt/Weber, L H - 5 (1982), Rn. 82 Fn. 4; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT-2 7 , § 93 Rn. 1; Schroeder, Straftaten (1985), S. 13f.

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

599

Zwar lassen sich solchermaßen initialisierte Prozesse denken, in denen Menschen uhrwerksartig die vorgestellten Delikte verwirklichen. Jedoch diesseits des Aufruhrs nach § 126 erscheint nichts konstruktiv vorstellbar, was auch nur annähernd an die Unrechts-Qualität „Tatherrschaft" heranreichte. - Der namentlich von Dreher39 herausgestellte Aspekt, daß (nach h.M.) bei § 111 kein Rücktritt möglich sei, verschlägt in dem Zusammenhang gleichfalls nichts. Dies ist keine Seins-Notwendigkeit, sondern schlichte Folge der gewählten Tatbestands-Formulierung. Es ist überdies funktional und kriminalpolitisch nicht einmal besonders überzeugend. Schließlich könnte man durchaus erwägen, denjenigen Demagogen, der zunächst scharfmacherische Reden gegen eine bestimmte Person gerichtet hat, jedenfalls dann in den Genuß einer „tätigen Reue" gelangen zu lassen, wenn es aufgrund seiner nachträglichen Warnungen gelingt, Anschläge auf jenes Opfer zu verhindern. bb) Doch, so ließe sich weiter einwenden, es entsteht nicht nur eine Gefahr für die durch die Haupttat bedrohten Rechtsgüter, sondern auch eine (unrecht-steigernde) Gefahr für das Allgemeinvertrauen (den „Gemeinschaftsfrieden"). 40 Allein, das dürfte die Tat nicht von anderen Verbrechen unterscheiden, die zur Kenntnis Dritter gelangen. Wie schon betont, will das Strafrecht allgemein, neben anderem, die Unverbrüchlichkeit des Rechts sichern.41 Demzufolge wird dieses Normvertrauen durch Normbrüche jedweder Art erschüttert - und zwar um so mehr, als sie öffentlich stattfinden bzw. sich herumsprechen. Eine eigenständige Qualität bekommt diese öffentliche Provokation aber erst dadurch, daß ein schwer steuerbarer Mob aufgepeitscht und zu deliktischem Tun agitiert wird. Dann aber unterfällt das Tun den §§ 125 ff.42 - Gerade in dem Angriff auf das Normvertrauen sieht allerdings auch J a k o b e - konzeptionell anders argumentierend - den legitimierenden Grund für § 111 - wie für andere Vorfeld-Tatbestände. Das erklärt aber nicht mehr als die auch von Jakobs selbst mit Kritik bedachten Rekurse auf den ,Rechtsfrieden' oder das gesellschaftliche Klima'. 44 Denn nicht nur müßte eingeräumt werden, daß es sich bei derartigen FormulieGallas-FS (1973), S. 307 (313). So Dreher Gallas-FS (1973) S. 307 (325). 41 Vgl. etwa BGHSt 24, 40 (46); BVerfGE 45, 187 (256); Jakobs AT 2 1/4 (14ff); Roxin AT 3 § 3 Rn. 26, 37 ff; vgl. aber auch krit. Bock, Z S t W 103 (1991), 636 (654, 656); Stratenwerth, Was leistet die Lehre von den Strafzwecken (1994), S. 11 f. 42 Ebenso krit. AK-Zielinski Rn. 4 (aber nicht ganz eindeutig, vgl. dort Rn. 9); Arzt/WeberLH-5 (1982) Rn. 82 Fn. 4; Jakobs'ZStW 97 (1985), 751 (777 Fn. 33); Maurach/Schroeder/ Maiwald BT-2 7 § 93 Rn. 1; Schroeder Straftaten (1985) S. 13. 43 ZStW 97 (1985), 751 (777). I.E. ebenso Plate, ZStW 84 (1972), 2 9 4 (312); Rogall, GA 1979, 1 (16). Im Unterschied zu Plate sieht dieser aber im in der hier (vermeintlich) geschützten Rechtsgeltung ein aliud zum Gemeinschaftsfrieden. 44 ,Klimaschutznormen", wie Jakobs spöttisch formuliert, Jakobs, Z S t W 97, 751 ( 7 7 7 f f ; 780). 39

40

600

Hans-Ullrich Paeffgen

rungen um reichlich diffuse Beschreibungen von präsumtiven Rechtsgütern handelt. 4 5 Bedenklicher noch: die Idee, die Norm-Geltung als LegitimationsAspekt heranzuziehen, 46 führt in einen Erklärungs-Zirkel. Sobald man den Schutz der Rechtstreue der Normadressaten oder die Gewährleistung des Rechtsfriedens und des Sicherheitsgefühls der Allgemeinheit ins Spiel bringt, wird zugleich auch der zentrale Grund angesprochen, aus dem heraus sich die Existenz von Strafrecht im allgemeinen, ja von Staatlichkeit überhaupt legitimiert. 4 7 Mittels gleicher Argumentationsstrukuren auf beiden Ebenen, der Allgemein-Rechtfertigung von Strafrecht, und der einzelnen Rechtsgut-Beschreibung, vorzugehen, kann aber nicht gutgehen. Derartiges muß vielmehr notwendigerweise die Grenzen zwischen Strafrechts-Sinn und Einzelrechtsgut verwischen. Das jedoch verhindert, daß dem Rechtsguts-Verständnis noch irgendeine erkenntniskritische Bedeutung abgewonnen werden kann. N u n ist der Rechtsguts-Gedanke in jüngerer Zeit stark unter Druck gekommen. 4 8 Aber ohne N o t sollte man sich seines kritischen Potentials nicht begeben. 4 9

45 SK-StGB 5 -//ora (1996), § 111 Rn. 1 (Kunst-Rechtsgut „innerer Gemeinschaftsfrieden"). Zu den mit der Vagheit dieses Rechtsguts-Verständnisses einhergehenden Schwierigkeiten vgl. etwa OLG Karlsruhe NStZ 1993, 389 (390) einerseits und BayObLG NJW 1994, 396 (397) andererseits (Aufruf zum Ungehorsam). 46 So aber Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (775). Immerhin wird damit die erklärte Marginalisierung des Rechtsguts-Begriffs (Jakobs, AT2, 2/22 ff) auch hier durchgehalten. Doch läßt sich damit schwerlich die Norm legitimieren, noch gar Kriterien für deren Begrenzung gewinnen, wenn darin zugleich die Funktion von Strafrecht überhaupt liegt. 47 Vgl. zu dem Grundrecht auf Sicherheit etwa: Isensee, Grundrecht auf Sicherheit (1983); S. 17ff; ders. in: Isensee/Kirchof, HdB StaatsR III (1988), 57 Rn. 44ff; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 121 ff. - Vgl. insoweit ähnlich wie oben im Text die krit. Auseinandersetzung von Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter ... (1994), S. 201 (203ff) mit der Position Kindhäusers, Gefährdung als Straftat (1989); S. 277 (280ff), der abstrakte Gefährdungsdelikte als Sicherheitsnormen legitimiert (als Verbote, „die zur sorgelosen Verfugung über Güter notwendigen [heteronomen] Sicherheitsbedingungen zu beeinträchtigen") ansieht. - Zur Vergleichbarkeit von Sicherheit(sgefühl) und Normvertrauen F.X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem2 (1973), S. 67ff, 164 ff. 48 Vgl. insoweit sehr krit. etwa Frisch, Stree-/Wessels-FS (1993); S. 69 (75); Jakobs, AT2, 2/22ff, die beide dessen Ertrag als „dürftig" einschätzen. Grundlegend und krit.: Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 331 ff, 350ff (aber auch 388 ff), der den Sozialschaden für maßgeblich hält. - Zwar ist Kritik der Vorgenannten an einem etwaigen (und früher vorherrschenden) statischen Verständnis des Begriffs richtig; doch enthebt die Relationalität des zu erfassenden Gegenstandes nicht der komprimierenden, Schlußfolgerungen (a maiore, a simile, e contrario) eröffnenden Terminologie. Und - durch eben diese Breviloquenz - wird der Normgegenstand auch (kriminal)politisch leichter diskutierbar. Das aber erweitert die Chance rationalen Argumentierens. - Näher am traditionellen Verständnis etwa Roxin, AT3, § 2 Rn. 9ff; Rudolpbi, Honig-FS (1970), S. 151 (162ff). Für den Rechtsgüterschutz-Gedanken klar etwa Baumann/Weber/Mitsch, AT>°,§ 17 Rn. 10 ff; Jescbeck/Weigend, AT5, § 1 IUI; NK-Hassemer, Vor § 1 Rn. 252, 290; Wessels/Beulke, AT28, Rn. 6 ff. Zu einer weiteren vermittelnden Position, der personalen Rechtsgutslehre, vgl. etwa Otto, AT5, § 19 Rn. 26ff, 32,

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

601

c) Wenn aber weder die mangelnde Beherrschung des Folgegeschehens noch die Ostentativität des Angriffs den Strafrahmen tragen, dann hindert nur eine teleologische Restriktion das Verdikt der Verfassungswidrigkeit: Der zur Verfügung gestellte Strafrahmen darf rechtlich nicht ausgeschöpft werden, die Tatbestandsmerkmale müssen äußerst restriktiv gedeutet werden. Tendenziell ist also wie bei § 26 vorzugehen, nur noch einengender wegen der noch größeren Entfernung zur Tatherrschaft.50 Ansonsten wäre die Vorschrift funktional nur eine verkappte Beweiserleichterung. Denn sie erlaubte, auf den - gerade bei Veranstaltungen mit vielen Teilnehmern - schwer zu führender Nachweis zu verzichten, zwischen Sprecher und späterem Täter habe ein individueller Kontakt stattgefunden. Eben dies verlangt aber § 26. Letztlich findet sich hier ein ähnlicher Dualismus bei der funktional sachgerechten Einordnung einer Norm wie bei §§ 129 f: Auch dort streitet sich eine h.M., die in den Paragraphen ein eigenständiges Rechtsgut geschützt sieht,51 mit einer Minderheitsmeinung, die darin lediglich eine Vorverlagerung des Schutzes der BT-Tatbestände erkennt. 52 33 ff; Schönke/Schröde^-Lenckner, Vor § 13 Rn. 8 ff; Welzel, L b " , § 1 (S. 4). Zu einer vermittelnden, systemtheoretisch begründeten Sicht vgl. Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter ... (1994), S. 85ff, 137ff. - Zu einer erweiternden, aus der Opferperspektive (bis hin zur sorgelosen Verfügbarkeit über Güter) definierenden Konzeption Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989); S. 163 ff, 337 ff. - Vgl. i.ü. auch die Referate von Jakobs und Lüderssen auf der Rostocker Strafrechtslehrer-Tagung und die anschließende Diskussion, ZStW 107 (1995), S. 843 ff bzw. 877 ff. 49 Vgl. auch Gössel, Oehler-FS (1985), S. 97ff; Hassemer, in: Phillips/Scholler, Jenseits des Funktionalismus (1989), S. 85ff. - Wenn Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 147 (162), die Rechtsguts-Frage durch eine sachgerechte Verhältnismäßigkeits-Prüfung i.R.d. Grundrechts-Dogmatik als überholt ansieht, so dürfte dadurch das kritische Potential angesichts der Diffusität des neuen Maßstabs sicher nicht gesteigert werden. Richtig ist aber, daß beide Argumentations-Prozesse iterativ-dialektisch verlaufen und eine große thematische Schnittmenge haben. Auch wenn dem Gesetzgeber bei der Zwecksetzung und seiner Mittelauswahl (einschließlich der des Einsatzes des Strafrechts) ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht, - wenn er das Ziel festgelegt hat, tritt er heraus aus seiner diskretionären Freiheit - und ein in das System des Vorhandenen. Das jedoch fordert aus Gründen der Rationalität wenigstens eines: Konsistenz; hier ist dann auch das Feld für das Rechtsgüter-Dogma, das dazu zwingt, sich in das Bestehende grundsätzlich einzupassen, oder, bei Abweichungen, einem erhöhten Legitimations-Druck zu genügen.

so Insoweit übereinstimmend Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (774ff [777f]), der in diesen Tatbeständen ohnehin nur „Partialunrecht" sieht, das, mangels Organisationsherrschaft, eine geringere Wertigkeit als die Hauptnorm-Verletzung habe. 51 ISv: öffentliche Sicherheit/Ordnung; innerer Frieden o.ä.: BGHSt 30, 328 (331); BayO b L G NJW 1994, 396 (397); StV 1998, 265 (266); OLG Karlsruhe NStZ 1993, 389 (390); Arzt/Weber LH-5 (1982) Rn. 48; Gössel, JR 1982, 111 (112); Lackner/KühP § 129 Rn. 1; LK"-u. Bubnoff, § 129 Rn. 1; Otto BT 5 , § 90 Rn. 4 (staatliche Zwangsgewalt); Rebmann, NStZ 1981, 457 (458); Schittenhelm, NStZ 1995, 343; Schönke/Schröde^-Lenckner, § 129 Rn. 1; Tröndle*» Rn. Ib. 52

Rudolphi, ZRP 1979, 214 (216); den. Bruns-FS (1978), S. 315 (317), und SK-StGB-/?«-

602

Hans-Ullrich Paeffgen

c. H ä l t m a n das V o r s t e h e n d e für plausibel, s o z w i n g t d e r erarbeitete gedankliche R a h m e n , die T a t b e s t a n d s m e r k m a l e i m einzelnen streng e i n z u grenzen. G e m e i n h i n wird unter „ A u f f o r d e r n " „eine über die bloße B e f ü r w o r t u n g hinausgehende Ä u ß e r u n g " verstanden, „die erkennbar v o n e i n e m anderen . . . ein b e s t i m m t e s T u n o d e r U n t e r l a s s e n v e r l a n g t " 5 3 - u n d sich dabei an den Verstand des A u f f o r d e r n d e n w e n d e t . 5 4 Bei der B e g r i f f s - E i n g r e n z u n g ist also - an der U n r e c h t s - S k a l a b e m e s s e n - n a c h o b e n gegenüber der Anstiftung a b z u grenzen. - W i e e r w ä h n t , ist ein K r i t e r i u m z u r A b s c h i c h t u n g die U n b e s t i m m t heit des A d r e s s a t e n k r e i s e s ; d e m g e g e n ü b e r gleicht das E r f o r d e r n i s der K o n t u riertheit der Tat, zu der aufgefordert w i r d , den A n f o r d e r u n g e n , die an die K o n k r e t h e i t der H a u p t t a t bei der Anstiftung gestellt w e r d e n . 5 5 - N a c h u n t e n ist andererseits gegenüber der B e f ü r w o r t u n g v o n Straftaten

abzugrenzen,

§ 8 8 a , 5 6 o d e r z u r öffentlichen Aufforderung z u m U n g e h o r s a m , § 110 a . F . , 5 7 dolphfi, § 129 Rn. 2; ähnlich AK-Ostendorf, § 129 Rn. 5 und ders.,]Z 1996, 55 (56); Bottke, JR 1985, 122 (123); Giehring, StV 1983, 296 (302);Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (778f, 785); Manrach/Schroeder/MaiwaldKi-l7 § 95 Rn. 3 (S. 369, der darin aber keinen Gegensatz zur h.M. sieht); Müssig, Schutz abstrakter Rechtsguter (1994), S. 218, 221; Scbeiff, Wann beginnt der Strafrechtsschutz ... (1997), S. 25f; Schroeder, Straftaten ..., S. 9f, 28. 53 So etwa BGHSt 28, 314; 32, 310; LacknerRn. 3; Tröndle**, Rn. 2. - Demgegenüber hielt das RG zunächst noch jedwede „Kundgebung, welche die Einwirkung auf den Willen eines anderen bezweckt", für ausreichend, RGSt 4, 106 (10(); 9, 71 (72); vgl. dann aber RGSt 47,411 (413 f). 54 RGSt 63, 170 (173); LK"-v. BubnoffKn. 8; RogallGA 1979, 11 (16). 55 Doch ist § 111 nicht etwa ein Auffang-Tatbestand zu §§ 26, 30, so aber Otto, BT 5 , § 63 Rn. 63. Mangelt es an anderen Voraussetzungen für einen der beiden, weil etwa die gewünschte Tat nicht hinreichend konkretisiert ist, so kann nicht einfach auf § 111 zurückgegriffen werden, Rogall GA 1979, 11 (17), sondern nur unter den sonstigen dortigen Voraussetzungen. 56 § 88a (verfassungsfeindliche Befürworten von Straftaten): „(1) Wer eine Schrift (§ 11 Abs. 3), die die Befürwortung einer der in § 126 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 genannten rechtswidrigen Taten enthält und bestimmt sowie nach den Umständen geeignet ist, die Bereitschaft anderer zu fördern, sich durch die Begehung solcher Taten für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einzusetzen, 1. verbreitet, 2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder zugänglich macht oder 3. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, in den räumlichen Geltungsbereich einzuführen oder daraus auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihr gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 und 2 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung die Begehung einer der in § 126 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 genannten rechtswidrigen Taten befürwortet, um die Bereitschaft anderer zu fördern, sich durch die Begehung solcher Taten für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder Verfassungsgrundsätze einzusetzen. (3) § 86 Abs. 3 gilt entsprechend.",

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

603

die inzwischen nicht mehr vertatbestandlicht sind, sowie dem Anreizen zum Verbrechen. 58 Auch bei § 110 a.F. war nicht erforderlich, daß der Adressat konkretisiert war. 59 - Nachdem § 110 nunmehr aufgehoben ist, entsteht allerdings ein gewisser Sog, dessen Schutzbereich über eine erweiternde Interpretation des § 111 teilweise zu reaktivieren. 60 Aber genau dem nachzugeben wäre unzulässig. Es widerspräche diametral der oben herausgearbeiteten Grundtendenz. Unabhängig davon gilt aber ferner: Es ist ausschließlich Aufgabe des Gesetzgebers, von ihm aufgerissene vermeintliche oder tatsächliche Strafbarkeitslücken zu schließen - namentlich, wenn es sich, wie bei einer Normaufhebung, um eine bewußte Entscheidung des Parlaments handelte. Dies hat der B G H im Hinblick auf den (schon mehrfach eingeführten und wieder abgeschafften) § 88a (Befürworten von Straftaten) mit wünschenswerter Klarheit ausgesprochen. 61 Eine bloße „Befürwortung" von Straftaten schafft nämlich ,lediglich' ein für Tatentschlüsse Dritter gedeihliches psychologisches Klima 62 - Im Grundsatz stimmt dem die h.M. zu, 63 ohne daß man dies stets mit der nötigen Konsequenz fortschreibt., 64 Das erlaubt, das Auffordern gegen die letztgenannte, indirekte Form der Aufstachelung abzugrenzen. Diese, eine psychologisierend berechneten Stimmungsmache, arbeitet subtiler, indem sie dem Adressaten verschleiert, daß er aufgefordert wird. Das „Auffordern" ist die offenere, argumentativere und damit rationalere Form der Insinuation, ohne daß hier die psychologische Komponente (etwa die massenpsychologische bei der öffentlichen Aufforderung) fehlte. Die Aussage des Auffordernden muß also sein, daß eine bestimmte rechtswidrige Tat 65 alsbald geschehen soll. 66 Aus der Formuaufgehoben durch das 19. StrRÄndG v. 7 8. 1981, BGBl. I, S. 808. - Zum Verständnis etwa LK10-Wilms, § 88a Rn. 5ff. RG LZ 1915, 5 8 f ; LK«-Werner, § 110 A n m II, VI 2. 5 7 § 110 (Aufforderung zum Ungehorsam): „Wer öffentlich vor einer Menschenmenge, oder wer durch Verbreitung oder öffentlichen Anschlag oder öffentliche Ausstellung von Schriften oder anderen Darstellungen zum Ungehorsam gegen Gesetze odeer rechtsgültige Verordnungen oder gegen die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen auffordert, wird mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft"; aufgehoben durch das 3. StrRRefG vom 20. 5. 1970, BGBL. I S. 505. 5 8 RGSt 47, 411 ff; 63, 170ff; RG Recht 1907, 842; Endemann, Hetze als Gefährdungsproblem (1924), S. 5 0 f ; Frank'« § 110 Anm. I; Rogall, GA 1979, 11 (16). 5 9 RG LZ 1915, 58 f; LK «-Werner, §110 Anm II, VI 2. Ähnlich in § 88a, vgl. etwa LK^-Willms, § 88a Rn. 9 i.V.m. § 90 Rn. 5 („Personenvielheit, deren Zahl sich nicht mehr ohne weiteres mit einem Blick sicher feststellen läßt").

. Bubnoff, Rn. 21 (a.A.: RGSt 65, 200 [202]; BayOBLG NJW 1994, 396 [397]). Ein ähnlicher Ausfluß des Unmittelbarkeits-Gedankens findet sich im Entscheid des KG JR 1984, 249: Es liege noch keine öffentliche Aufforderung, wenn Bücher oder Broschüren mit entsprechendem Inhalt lediglich öffentlich feilgeboten würden, weil und soweit deren Inhalt nicht unmittelbar wahrgenommen werden könne. ' 2 9 BGHSt 13, 257 (258); 18, 63 (64); OLG Frankfurt StV 1990, 209. 130 Dazu vgl. OLG Frankfurt StV 1990, 209 f. 131 OLGe Frankfurt StV 1990, 209; Hamm NStZ 1989, 578 (579); Franke GA 1984, 452 (459ff); LK"-t>. BubnoffKn. 17. 152 BGHSt 13, 257 (258); 16, 63 (71); LK»-E>. Bubnoff Rn. 17 133 Dafür - allerdings bei § 184 - SK-StGB 5 -//onj (1996) § 184 Rn. 40, 69; Schönke/Schröde^-Lenckner, § 184 Rn. 57

616

H a n s - U l l r i c h Paeffgen

tungen jedwede Art von Kausal-Beitrag ausreichen zu lassen - was wegen der Entfernung zum eigentlichen Rechtsgüter-Angriff einerseits und des täterschafts-gleichen Sanktions-Rahmens andererseits durchaus fragwürdig ist. Zugleich aber wird damit der oben erwähnte, gelegentlich verwandte Sperriegel des Unmittelbarkeits-Erfordernisses schlicht ausgeblendet. 134 Aus dem Axiom einer verselbständigten Teilnahme-Form ergibt sich ferner zwangsläufig, daß die „Haupttat" nach der Vorstellung des Auffordernden vorsätzlich verwirklicht werden soll. 135 Dies muß gelten, obwohl sub specie Rechtsfrieden/Normvertrauen ο. ä. die Aufforderung, fahrlässig eine strafbare Tat zu begehen, nicht minder verderblich sein kann.136 Ferner muß die Tat rechtswidrig, aber nicht notwendig schuldhaft sein - wie das auch sonst im Teilnahme-Recht der Fall ist. f ) Wann die Aufforderung vollendet ist, wirft gleichfalls strukturelle Fragen auf. Nach verbreiteter Meinung soll dies schon dann der Fall sein, wenn die Aufforderung den gedachten Adressaten zugegangen ist.137 Dabei wird besonders auf den Aspekt abgehoben, daß es sich bei § 111 um ein abstraktes Gefährungsdelikt handele. Mit diesem Ansatz wird jedoch die angesonnene Haupttat als Gefährdungs-Erfolg zu einer objektiven Strafbarkeitsbedingung umdefiniert - und somit letztlich beiseite geschoben. Dadurch wird die Gleichstellung mit einem Täter auf der Rechtsfolgen-Seite vollends unerträglich. - Z.T. wird mit Rücksicht auf jenen vorgeblichen Gefährdungsdelikts-Charakter sogar für ausreichend erachtet, daß die Aufforderung lediglich in den Einfluß- bzw. Wahrnehmungsbereich irgendwelcher möglicher Adressaten gelangt sein müsse. 138 - Legt man einmal, interimistisch, die vorherrschende Sicht einer zweipoligen Funktion des Tatbestandes zugrunde, so erscheint die strengere Position des RG 139 sachgerechter, die eine inhaltliche Kenntnisnahme seitens Dritter verlangen. Dies folgt zwar nicht notwendig aus dem Wort „Auffordern". Denn das ließe sich auch so deuten, Wie hier mit Recht krit. Franke G A 1984, 452 (459 ff). So auch hK-Ztelinski Rn. 8; Schänke/Schröder25-Eser Rn. 12; mißverständlich O L G H a m m JMB1 N W 1963, 212; a.A. (nicht erforderlich, daß z u bewußt strafbarem T u n aufgefordert werde), R G S t . 59, 149; zust. LK"-v. BubnoffKn. 8. D a s wäre aber mit der Akzessorietäts-Ausprägung, die seit geraumer Zeit im Gesetz ihren klaren Niederschlag gefunden hat, §§ 26, 27, unvereinbar. Soweit kein Fall der mittelbaren Täterschaft vorliegt (was infolge - i. d . R . fehlender fortwährender - Tatherrschaft k a u m der Fall sein dürfte), sind derartige Fälle allenfalls über § 111 II erfaßbar. 154

135

136 Etwa indem der Agitator bei seinen Zuhörern einen Irrtum über die Gefährlichkeit der Wirkung des Handlungsprojektes induziert, zu dem er antreibt. 137 R G S t 5, 60 (71); Bindings-Ill (1905), S. 844; Drewer Gallas-FS (1973) S. 307 (313); LK 1 1 -^. BubnoffKn. 8. 138 R G S t 58, 197 (198) Dreher Gallas-FS (1973) S. 307 (312); K K - O W i G - R o g a l l § 116

R n . 11; LK"-O.BubnoffRn.

8.

R G S t 5, 60 (71); 7, 113 (115); 58, 197 (198); zust. Franke G A 1984, 452 (465f, 471); Stockmann BB 1978, 1188 (1191). 139

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

617

als liege ein „Auffordern" auch vor, wenn der Adressat die Botschaft nicht wahrgenommen, geschweige denn sie verstanden habe; es genüge eben die Entäußerung der Aufforderung mit der bloßen Tendenz, daß etwaige Dritte Kenntnis nehmen können sollen. 140 - Die strengere Sicht folgt vielmehr aus der kommunikativen Situation, die zwei der drei Tat-Modalitäten von § 111 voraussetzen: Aufforderungen in der Öffentlichkeit oder in Versammlungen setzen - aus der Warte des Auffordernden - die inhaltliche Wahrnehmung durch Dritte voraus. Dabei mögen einzelne Adressaten durchaus das Gesagte/Geschriebene nicht verstehen (etwa weil es in einer ihnen nicht zugänglichen Sprache formuliert ist oder sie taub/blind sind). Aber zumindest einzelne Adressaten müssen das Geäußerte geistig vernommen und verstanden haben. Der Sprecher, der beispielsweise über eine private Sendestation zu politisch motivierten Gewalttaten auffordern will, dessen Äußerungen aber infolge eines Stromausfalls nicht übertragen werden, versucht nur aufzufordern - und fordert nicht auf. Eine folgerichtig zugrunde gelegte systematische Auslegung gebietet es daher, dies auch für die dritte Tatmodalität zu fordern. 141 Doch sind das nur Hilfs-Erwägungen auf der Grundlage eines zweibasigen Tatbestands-Verständnisses. Geht man von der hier befürworteten Sicht einer „bloßen" Modifikation der Anstiftung aus, so ist das Ergebnis der reichsgerichtlichen Rechtsprechung nachgerade zwangsläufig: Eine Tat nach § 111 I ist erst dann vollendet, wenn die insinuierte Haupttat als Folge der (verstandenen) Aufforderung in ein ihrerseits strafbares Stadium umgesetzt wurde. 142 - Bei Abs. 2 hingegen ergibt sich die Notwendigkeit zur teleologisch Restriktion nicht aus der gewählten Konzeption allein, sondern aus der Notwendigkeit, dem vorgegebenen (gewichtigen) Strafrahmen Rechnung zu tragen. Nicht jedwedes, konstruktiv den Versuchsgrundsätzen genügendes Verhalten reicht aus. Selbst das Kriterium „beendeter Versuch" reicht hierfür nicht. 143 Vielmehr ist den Strafrahmen-Vorgaben nur dann Ge-

140 So lassen sich etwa schriftliche „Aufforderungen" verstehen, etwa die Zahlungs-Aufforderung. 141 L K l u f . BubnoffRn. 8. Ohne das Erfordernis geistigen Kontaktes zwischen Aufforderndem und Aufgefordertem Vollendung anzunehmen, würde bedeuten, daß Vollendung und Versuch in eins gesetzt würden; abl. dazu schon Geyer in: HoltzendorffHdTi IV (1877), S. 154; Hälsebner, Gem.dt.StrR II/2 (1884), S. 796 (800 Fn. 2). - Der Dissens mit der h.M. reduziert sich freilich auf die Fälle, in denen die Schrift zwar schon im Bereich (z.B. Briefkasten) von Adressaten angelangt, aber noch nicht zu deren Kenntnis gelangt ist. Denn das bloße Absenden etwa von Flugblättern soll auch nach der h.M. dem Tatbestandsmerkmal nicht genügen. - Unstreitig nicht strafbar ist der bloße Aufforderungsversuch; auch nicht über Absatz 2, Bloy JR 1985, 206; Lackner22 Rn. 3; LK n -u. Bubnoff Rn. 8. 142 In der Sache ebenso schon eine frühere Minderheitsmeinung, etwa Frank RStGB 18 , § 110 Anm. III; Geyer in: HoltzendorffHdK IV (1877), S. 151 (153f); Wacbenfeld, Lehrbuch (1914), S. 551. Vgl. i.ü auch schon PrOT Rspr. 19, 75. 143 Und zwar - insoweit - auch nach h.M., vgl. das Bsp. bei und in Fn. 146.

618

Hans-Ullrich Paeffgen

niige getan, wenn die Handlung in ihrer kommunikativen Struktur beendet ist, wenn der Versuch, Dritte aufzufordern, etwa an eben deren Erfolglosigkeit144 scheitert.145 Freilich genügt die Wahrnehmung durch die angenommenen Adressaten für die Vollendung des § 111 I alleine nicht. Absatz 1 und 2 unterscheiden sich nach dem „Erfolgs-Eintritt". „Erfolg" heißt dabei: Umsetzung des Angesonnenen in eine straftatbestandmäßige Verhaltensweise.146 Ist die Aufforderung von Erfolg gekrönt, so ist der Auffordernde gleich einem Anstifter zu bestrafen; § 111 I. Wann ein Erfolg der Tathandlung zurechenbar ist, entscheidet sich nach allgemeinen Regeln. Das heißt nach h.M. zunächst einmal, daß zwischen Aufforderung und Straftat-Verwirklichung Kausalität bestehen muß.147 Das Kriterium ist aber bei der Induzierung von menschlichen Willenshandlungen weitgehend unbrauchbar. Denn um Kausalgesetze annehmen zu können, also Aussagen über Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, bedarf es der empirischen Überprüfbarkeit der hypothetischen Aussage anhand von wiederholbaren Versuchsanordnungen. Da dies beim Menschen, namentlich in affektiv besetzten, Emotionen in unterschiedlicher Weise aufbauenden Situationen, kaum möglich ist,148 kann es bei solchen 144 Zum Ausschluß des omnimodo facturus sogleich bei Fn. 150 - Weitere Fälle unterbrochener Zurechenbarkeit wären etwa: wesentliche Abweichung vom Kausalverlauf oder gerechtfertigtes Tun des/der Dritten. 145 Im Ergebnis ebenso AK-Zielinski Rn. 17; SK-StGB5-.Horrc (1996) Rn. 14. - A.A.: h.M.: RGSt 58, 197 (198); Senge in: Erbs/Kohlhaas, Nebenstrafrecht (1998), § 116 OWiG Anm. Ο 187 Rn. 5;wohl auch: TröndltAl Rn. 4 („die Aufforderung muß den Adressaten erreichen können"). 146 Üblicherweise wird hier auf einen (zumeist gegenständlichen) Erfolgs-Herbeiführung (Tod, Körperverletzung, Beschädigung etc.) rekurriert - bzw. auf den Versuch hierzu, so etwa Lackner12, Rn. 7; Schönke/Schröde^-Eser, Rn. 20; SK-StGB 5 -Horn (1996), Rn. 3; unbeleuchtet bleibt zumeist, was in den Fällen gilt, in denen die Haupttat, zu der aufgefordert wird, eine abtrakte Gefährdung enthält. Formal ist dem Tatbestand des § 111 I damit Genüge getan. Immerhin will AK-Zielinski, Rn. 12, die versuchte Beteiligung nach § 30 I nicht ausreichen lassen, weil nur eine „das zu verletzende Rechtsgut tatsächlich angreifende Tat" Haupttat sein könne. Aber ein solcher Unterschied erscheint, anders als die oben, Fn. 126, behandelte Kettenanstiftung, zwar erwägenswert, aber nicht in vergleichbarem Maße zwingend. Wenn der Gesetzgeber den Vorfeld-Tatbestand, etwa den § 316, geschaffen hat, ist das Auffordern zu ihm hinreichend. - Immerhin hält die h.M. bei §§ 129 f die versuchte Anstiftung i.R.d Merkmals „Werben" für hinreichend, so etwa Rudolphi, JR 1979, 33 (36), und SK-StGB-Rudolphe, § 129 Rn. 18; LK 1 1 -^. Bubnoff, § 129 Rn. 72; Scheiff, Wann beginnt der Strafrechtsschutz ... (1996), S. 112; Scblothauer/Tscherch, StV 1981, 22 (23); Scbönke/Schröde^-Lenckner, § 129 Rn. 14a; Tröndle4S, § 129 Rn. 4d hält sogar ein Anstiften für das Werben für möglich. 147 So etwa AK-Zielinski Kn. 11 (Verursachung, aber nicht eine solche „durch allgemeine Aufregung infolge der Aufforderung"); Lacknet12 Rn. 7 („[mit-]motiviert"); Maurach/ Schroeder/Maiwald BT-2 7 § 93 Rn. 9 (Kausalität); SK-StGB·>-Ηοτη (1996) Rn. 4 (dito); strenger: Tröndle* Rn. 6 (unmittelbar verursacht). 148 Vgl. aber immerhin die Deutungs-Angebote, die aus den Versuchen (und ihren Interpretationen) von Tamara Dembo, PsycholForschung 15 (1931), 1 ff; Kurt Lewin Bericht über

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

619

e m p i r i s c h n i c h t p r ä f o r m i e r t e n Fällen n u r u m ein p s y c h o l o g i s i e r e n d e s N ä h e r u n g s - M o d e l l g e h e n . E s m u ß gesagt w e r d e n k ö n n e n , d a ß das z u r I n d u k t i o n a n d e n Tag gelegte Verhalten d e n D e l i k t s - E n t s c h l u ß u n d d e s s e n A u s f ü h r u n g bei e i n e m (beliebigen) D r i t t e n a u c h stimuliert hat u n d bei vergleichbaren P e r s o n e n 1 4 9 a u c h stimuliert h ä t t e . D i e s ist also e t w a nicht b e i m s o g . O m n i m o d o facturus d e r Fall, 1 5 0 - a u c h w e n n der die a u f h e t z e n d e R e d e z . B . geh ö r t h a b e n sollte (es bleibt d a n n a b e r § 111 II). U m diese F e s t s t e l l u n g treffen z u k ö n n e n , greift e t w a Puppe auf den A n s a t z d e r R i s i k o - E r h ö h u n g s - L e h r e z u r ü c k . 1 5 1 Tatsächlich w i r d das P r o b l e m d a m i t aber n u r v e r l a g e r t . O b d u r c h das pflichtwidrig g e s e t z t e R i s i k o das v o r h a n d e n e gesteigert w i r d ( n a m e n t lich g e g e n ü b e r e i n e m s o z i a l - e r l a u b t e n , wie es d e r „ V a t e r " dieser D o k t r i n , Roxin,

v o r a u s s e t z t , 1 5 2 ist n u r z u beurteilen, w e n n m a n w e i ß , wie das Ver-

halten des D r i t t e n s o n s t verlaufen w ä r e - u n d o b das Verhalten des A u f f o r dernden induktionstauglich und imstande war, beim Adressaten ken·,

Gefühls-

und

Motivationsketten

in

der

gewünschten

GedanRichtung

a u s z u l ö s e n . All dies k a n n n u r i m W e g e p s y c h o l o g i s c h e r , w e n n n i c h t gar p s y c h o l o g i s i e r e n d e r D e u t u n g e n gehen. D a b e i ist d e r einzige Filter gegen eine fiktionale Z u s c h r e i b u n g , d a ß die b e h a u p t e t e I n d u k t i o n s k e t t e m i t u n s e r e n allgemeinen K e n n t n i s s e n v o n m e n s c h l i c h e n I n t e r a k t i o n e n - u n d u n s e den VII. Kongress für experimentelle Psychologie 1922, S. 146ff; oder von Helm, Zeitschr.für Psychologie 157 (1954), 23ff folgen; vgl. dazu auch Feger, HdB Psychologie Bd. 2 (1965), S. 332 (346); und - ausführlich - Krümpelmann, Affekt und Schuldfähigkeit (1988), S. 59 ff. Krit. zu einer (von der Versuchs-Konzeption Dembos und Lewins wohl auch gar nicht angestrebten, jedenfalls aufgrund der Methodologie gar nicht anstrebbaren) kausalistischesn Erklärungs-Hypothese und unmittelbaren Ubertragbarkeit auf strafrechtliche Affekt-Symptomatiken Rasch, Forens. Psychatrie (1986), S. 155; dagegen mit Recht Krümpelmann, Affekt und Schuldfähigkeit (1988), S. II f. - und zwar unter Hinweis auf die eigenen Forschungen Raschs, namentlich in Rasch, Tötung des Intimpartners (1964), S. 30ff; Helm, HdB Pschologie Bd. 4 (1960), S. 357 (376f); Thomae, HdB Pschologie Bd. 2/II (1965), S. 3 S. 205 (214ff). 149 Genau hier setzen nicht nur die gleichen Schwierigkeiten an, die einem bei der Festlegung der (objektiven) Fahrlässigkeits-Maßstäbe begegnen. Hinzu kommen auch noch die Fragen, inwieweit der Maßstabs-Homunculus mit individuellen Eigenschaften des Aufforderungs-Addressaten ausgestattet und den nämlichen situativen Begleitumständen unterworfen sein muß. Denn man kann nicht nur niemals in „denselben Fluß steigen" (Heraklit), sondern man trifft auch (jenseits von Stereotypien) nie auf den nämlichen Menschen. Dazu, daß die Praxis damit aber doch zumeist verständig fertig wird, Dencker, Kausalität (1996), S. 29 (39ff). 150 RGSt 65, 200 (202); AK-Zielinski Rn. 11; Schönke/Schröde^-Eser Rn. 21; SKStGB''-Horn (1996) Rn. 4; a.A.: RG GA 52 (1895), 84; Wachenfeld, Lehrbuch (1914), S. 550. -Krit. zu dieser Begrenzungs-Figur überhaupt: Puppe, GA 1984, 101 (116 ff); NK- Puppe % 15 Rn. 140. In dem Ausschluß dieser Fallgruppe dürfte sich auch die manifeste Selektions-Leistung von jenem Kriterium im wesentlichen erschöpfen. Jenseits dessen geht es um mehr oder minder überzeugende psychologische Plausibilitäten. 151 Puppe ZStW 95 (1983), 287 (305ff); NK-Puppe Vor § 13 Rn. 115ff, 120ff. 152 Roxin ZStW 74 (1962), 411 ff; ders. AT3 § 11 Rn. 44ff, 72 (74).

620

Hans-Ullrich Paeffgen

ren speziellen Kenntnissen vom Adressaten in dessen Situation der Informationsaufnahme (namentlich von dessen eigenen Bekundungen hierüber) harmoniert. 153 Nach Uberzeugung des Gerichtes muß ein derartiger motivationaler Beitrag (auf den Ausdruck „Ursache" sollte man in derartigen nicht-determinierten Bereichen verzichten) also von der initiierten Aufforderung auf einen (für den Auffordernden, d.h. ex ante, unbestimmten) Dritten ausgegangen sein.154

E.

Auch die subjektive Tatseite führt in die Dilemmata des Streits um die zutreffende Konzeption. Nach h.M. soll bedingter Vorsatz genügen. 155 Angesichts des Gesetzeswortlautes, der keine erhöhten Anforderungen an die subjektiven Tatbestand stellt, ist die h.M. formal folgerichtig. Vor dem Hintergrund der übersetzten Strafandrohung wirkt dies material jedoch alles andere als schlüssig. Dieser Einwand wird noch gewichtiger, wenn die Aufforderung mediatisiert, d.h. über menschliche Zwischenträger, wirken soll. Mindestens in diesen Fällen ist mit Eser Absicht zu verlangen. 156 Richtigerweise muß aber bezüglich der zu begehenden Tat dolus directus 2. Grades als subjektive Mindestvoraussetzung durchgängig gefordert werden. - Ansonsten liegen die Dinge wie bei der Anstiftung: Es muß ein sog. „doppelter" (richtiger: „doppel-bezüglicher") Vorsatz bezüglich des eigenen Verhaltens wie desjenigen des Aufgeforderten vorliegen. Eigentlich müßte man, da auch der Induktions-Zusammenhang gewollt sein muß, bei einer derart zergliedernden Betrachtung 157 sogar von einem „dreifachen" („triple-bezüg-

153 In der Sache wohl ebenso Dencker, Kausalität (1996), S. 29 (39ff), der mit der Annahme eines .„weichen' Kausalgesetzes" pragmatisch den Dilemmata der h.M. zu entgehen sucht. 154 Im Ergebnis ähnlich, das Grundsätzliche der psychischen „Ursächlichkeit" betreffend: Ν K-Puppe Vor § 13 Rn. 135. Die von Hilgendorf Jura 1996, 9 (11 ff) hiergegen angemerkte Kritik bleibt dunkel und kann schließlich doch selbst des (gerügten) introspektiven Maßstabs nicht entraten. - A.A.: die Rspr., die verbal die Risiko-Erhöhungs-Lehre immer noch verwirft, z.B. BGH St 37, 106 (127); OLG Koblenz OLGSt (a.F.) § 222, S. 63 (67); in der Sache aber in einigen neueren zentralen Entscheidungen Inzident praktiziert, BGHSt 37, 106 (111) (Erdal/Lederspray); BGHSt 41,206 (216) (Holzschutzmittel). - Für § 111 ähnlich, wie hier vertreten, (einen Gefahrverwirklichungszusammenhang fordernd) AK-Zielinski Rn. 11; fakultativ auch KK-OWiG-RogaU.% 116 Rn. 17. 155 BayObLG NJW 1994, 396 (397); OLG Karlsruhe Justiz 1989, 65; 1991, 200 (201); Lackner22 Rn. 6; Kostaras S. 147; SK-StGB5-//om (1996) Rn. 7; Tröndle™ Rn. 8; a.A. (Absicht): Schänke/Schröder25-Eser Rn. 17. 156 Scbönke/Scbröder2sEser Rn. 17 -Dazu, daß diesbezüglich ohnehin mehr zu fordern ist, vgl. oben bei Fn. 126. 157 Zutr. krit. SK-StGB5-.Sa™iorc (1993) § 26 Rn. 37.

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

621

l i e h e n " ) V o r s a t z s p r e c h e n - w i e i.ü. a u c h bei d e r A n s t i f t u n g . 1 5 8 - D a ß v e r schiedene Ä u ß e r u n g e n , n a m e n t l i c h aus der R s p r . , 1 5 9 es a u s r e i c h e n l a s s e n , d a ß die Tat, z u der aufgefordert w i r d , aus der Sicht des A u f f o r d e r n d e n n i c h t r e c h t s w i d r i g z u sein b r a u c h t , ist aus d e r Sicht des G e m e i n s c h ä d l i c h l i c h k e i t s G e d a n k e n s schwerlich n a c h v o l l z i e h b a r , m ö g l i c h e r w e i s e n u r eine aus d e s s e n M i ß v e r s t e h e n g e b o r e n e H y p e r t r o p h i e r u n g . W e n n der

Gemeinschaftsfrie-

d e n das R e c h t s g u t des § 111 ist, s o d a r f d e r A u f f o r d e r n d e d i e s b e z ü g l i c h grundsätzlich k e i n e m I r r t u m u n t e r l i e g e n ; anderenfalls h a n d e l t e er in einer fehlerhaften P a r a l l e l w e r t u n g in d e r L a i e n s p h ä r e u n d u n t e r l ä g e s o e i n e m I r r t u m i . S . d . § 16. 1 6 0 Lediglich für die Fälle, in d e n e n der T ä t e r irrig u n t e r s t e l l t , b l o ß z u einer O r d n u n g s w i d r i g k e i t a u f z u f o r d e r n , dürfte m a n d e r h . M . b e i pflichten k ö n n e n . D o r t läge eine A u f l e h n u n g gegen d e n (als R e c h t s g u t u n terstellten)

Gemeinschaftsfrieden

und

ein

bloßer

Subsumtionsirrtum

vor. 1 6 1 - N u r w e n n m a n in d e m § 111 einen Fall des T e i l n a h m e - U n r e c h t s sieht, w i e hier p r o p a g i e r t , findet die h . M . eine m e t h o d i s c h e S t ü t z e : D a n n liegt die Situation s o w i e bei d e r A n s t i f t u n g . D o r t ist die V e r k e n n u n g d e r R e c h t s w i d r i g k e i t d e r H a u p t t a t in aller Regel 1 6 2 n u r ein V e r b o t s i r r t u m , s o fern der Teilnehmer die F a k t e n k e n n t , auf die sich das ( r i c h t e r l i c h e ) R e c h t s widrigkeit-Verdikt stützt. 1 6 3 -

164

15« Der Sache nach so auch O L G Celle NJW 1988, 1101 [1102]; Karlsruhe Justiz 1989, 65; Geerds JR 1988, 435 (436). 159 OLG Karlsruhe Justiz 1989, 65 f: Es genüge, daß der Auffordernde die Tatsachen kenne, die das Rechtswidrigkeits-Urteil trügen, ebenso AK-Zielinski^Wl Rn. 15; Lackner22 Rn. 6; LK"-u. BubnoffKn. 30; Tröndle*8 Rn. 8; a.A.: LK"-Roxin § 26 Rn. 66; Schumann, Stree-Wessels-FS (1993), S. 383 (396). - Differenzierend: SK-StGB 5 -/iorn (1996) Rn. 7. 160 So Otto BT 5 , § 63 Rn. 67; Schönke/Schröde^-Eser Rn. 16, die Vorsatz bezüglich der Rechtswidrigkeit der „Haupttat" verlangen. - Jedenfalls für die, die in § 111 nur den Gemeinschaftsfrieden geschützt sehen, müßte sich hier der Erst-Recht-Schluß von der Behandlung des (Parallel-)Falles bei der Anstiftung verbieten. 161 Selbst das kann man mit guten Gründen bezweifeln; vgl. (abl.) Groteguth, Norm- und Verbots(un)kenntnis ... (1993), S. 114. 162 Aber auch nicht ausnahmslos (insoweit unrichtig Schumann, Stree-Wessels-FS (1993), S. 383 [395]). Auch bei der Anstiftung sind Fälle zumindest denkbar, in denen eine fehlerhafte Parallelbeurteilung im Täterbewußtsein eine Rolle spielt: Fälle, die jenseits des noch zu behandelnden Erlaubnistatbestand-Irrtums liegen, sind freilich (anders als im Anstiftungs-Bereich) bei § 111 nur schwer zu bilden. Immerhin, wenn auch nicht sonderlich realistisch: Wer annimmt, das Abtrennen der Kennummern von den Volkszählungs-Bögen sei nicht strafbar, einem solchen (aus der Sicht der h.M. [vgl. aber Fn. 121]) „Täter" bei sich Unterschlupf gewährt (Beispiel von Roxin AT 3 § 1 Rn. 92 a.E.; Warda, Jura 1979, 71), hat keinen Vorsatz zur Strafvereitelung. Wenn er zu derartigem öffentlich aufriefe, hätte er demzufolge auch keinen Aufforderungs-Vorsatz. 163 H.M.: BayObLG NJW 1994, 397; O L G e Braunschweig NJW 1953, 714 (715); Celle NJW 1988, 1102 (1103); AHL-Zielinski, Rn. 15; Dalcke/Fuhrmann/Schäfer>7, Anm 1; Dreher, Gallas-FS (1973), S. 307 (327); KK-OWiG-Rogall, § 116 Rn. 29; LacknerRn. 6; LK 1 1 -^. Buhnoff, Rn. 30; SK-StGB 5 -//om (1996), Rn. 7; Schumann, Stree-Wessels-FS (1993), S. 383 (395f); Schwalm, Niederschriften 2 (1958), S. 117; Tröndle™, Rn. 8; Warda, Jura 1979, 71 (73); Wessels/Beulke, AT 2 8, Rn. 572.- So auch, ohne Begründung (aber i.R.d. der Doktrin

622

Hans-Ullrich Paeffgen

Nach h.M. braucht der Auffordernde auch keine Tatvollendung der angesonnenen Tat zu intendieren.165 - Vom Standpunkt der h.M. (Zwei-Basigkeit des Rechtsguts des § 111 bzw. ausschließlicher Schutz der des Rechtsfriedens) ist das Ergebnis folgerichtig, denn mangels Beherrschbarkeit der dritten Personen kann auch der agent provocateur nichts beherrschen weswegen es auf seinen diesbezüglichen Vorsatz nicht ankommen kann.166 Sieht man in dem Tun aber - wie hier vertreten - nur eine Minderform der Anstiftung, so liegt es in der Konsequenz der bei § 26 praktizierten teleologischen Restriktion,167 diese auch hier anzuwenden.168 Einen Sonderfall des Rechtswidrigkeits-Irrtums169 stellt der Fall der irrigen Vorstellung des Auffordernden dar, das Verhalten, zu dem er auffordere, sei gerechtfertigt. Sieht man von der bereits behandelten Verkennung des Sachverhaltes infolge fehlerhafter „Parallelbeurteilung im Täterbewußtsein"170 ab, so wirkt sich der Streit um die Behandlung des Erlaubnistatbestand-Irrtums hier unmittelbar aus. Wenn der Auffordemde vermeint, die Zielhandlung sei durch einen (geltenden) Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt, so müßte sich dies folgerichtig für alle Lösungsansätze, die in irgendeiner Form den Erlaubnistatbestand-Irrtum gemäß § 16 behandeln, auch auf den „Hintermann" auswirken.171 Trotzdem hält die h.M. bei dieser Konstelvom schädlichen strafrechtlichen Rechtsirrtum folgerichtig) RGSt 39, 342 ff; 40, 305; 363 (365). - A.A.: Herzberg, GA 1993, 439 (454); SK-StGB 5 -W50« (1993), § 26 Rn. 44f. Demgegenüber spalten Dreher, Heinitz-FS (1972), S. 207 (223); l&n-Roxin Vor § 26 Rn. 27, und den., Täterschaft 6 , S. 553f; NK-Puppe § 16 Rn. 153; SK-StGB-Rudolph?, § 16 Rn. 13; Stratenwerth AT3 Rn. 504 - sowie die Anhänger der rechtsfolgeneinschränkenden Schuldtheorie, vgl. Tröndltr48, § 16 Rn. 26, den Vorsatz zwischen Beteiligungs- und Irrtumstatbestands-Voraussetzung. 164 Zu dem Fall der irrigen Annahme, die Tat, zu der aufgefordert wird, sei gerechtfertigt, sogleich bei Fn. 169. >« KK-OWiG-Rogall, § 116 Rn. 29; LacknerRn. 6; Otto, BT5, § 63 Rn. 67; SK48 StGBs-Hom (1996), Rn. 7; Tröndle , §111 Rn. 8; zweifelnd Kostaras, S. 147f. 166 Insofern unschlüssig Schönke/Schröde^-Eser, Rn. 17 (der Vollendungs-Wille für erforderlich hält), obschon er in Rn. 1 das zweibasige Rechtsguts-Verständnis der h.M. teilt. Konsequent: Frank RStGB 18 , Anm. II. 167 Vgl. dazu etwa KüperGh 1974, 321 (330ff); Lackner12 § 26 Rn. 4; Lenckner, Gallas-FS [1973], S. 281 (286); Rudolphi, ZStW 78 [1966], 67 (93f); ders., Maurach-FS [1972]; S. 51 [67]; SK-StGB5-Samson [1993] Vor § 26 Rn. 38 ff; i.E. auch - wenn auch erst i.R.d. Schuld Plate, ZStW 84 [1972], 294 ff. 168 So auch AK-Zielinski Rn. 13; Dreher Gallas-FS (1973) S. 307 (328); Schänke/Schröder1^ EserKn. 17. 169 Dazu oben bei Fn. 160. 170 Welzel Lb11 § 13 I 4 (S. 76). 171 So konsequent LYLu-Roxin § 26 Rn. 66; Schänke/Schröder25-Cramer § 26 Rn. 19; Schumann, Stree-Wessels-FS (1993), S. 383 (391 f); Wessels/Beulke, AT28, Rn. 572. In der Sache auch Jakobs, AT2, 22/11 (mit allerdings partiell abweichender Behandlung des Erlaubnistatbestand-Irrtums, 11/58). Möglicherweise i.E. auch Freund, AT, § 10 Rn. 126. - Zum gleichen Ergebnis müssen konsequenterweise die Anhänger der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen kommen, etwa Herzberg, GA 1993, 439 (454); ΝK-Puppe Vor § 13

§ 111 - wirklich ein janusköpfiger Tatbestand?

623

lation an der Aussage festhält, der Aufforderungs-Vorsatz erfordere keine Kenntnis der (Straf-)Rechtswidrigkeit der intendierten Tat, es genüge, wenn sich der Auffordernde des tatsächlichen Inhalts seiner Aufforderung bewußt sei, insoweit handele es sich u m einen Verbotsirrtum. 1 7 2 Indem sie so argumentiert, kaschiert sie das dahinterstehende Problem. Das Ergebnis der h.M. ist zutreffend - freilich nur auf der Basis der von ihr strikt abgelehnten strengen Schuldtheorie 173 - oder in den - ohnehin nicht zweifelhaften - Fällen, in denen sich der Hintermann einer Fehleinschätzung der Zieltat i.d.F. eines Erlaubnisirrtums hingibt. Wollten sie an den Prämissen folgerichtig festhalten, müßten die Anhänger der herrschenden Doktrinen z u m Erlaubnistatbestand-Irrtum die Strafbarkeit wegen vorsatz-(unrecht-)ausschließenden Irrtums ausschließen müssen. 1 7 4 - Demgegenüber gelangen die A n hänger der strengen Schuldtheorie zwanglos zu dem Ergebnis, 1 7 5 das die h.M. so unkonventionell gleichfalls anstrebt.

F. Die Bilanz ist ernüchternd: E s liegt ein Tatbestand mit so eindeutig übersetztem Strafrahmen vor, daß man ihn einer hoch komplexen verfassungskonformen teleologischen Restriktion unterwerfen muß, u m ihn vor dem Verdikt zu bewahren. Die Tathandlung der ersten Modalität ist in ihrem BeRn. 11 (13f); Scbünemann, GA 1985, 341 (350); -SlGW>-Samson (1993) § 26 Rn. 44; - im Ergebnis ebenso, die perhorreszierten „unerträglichen" Strafbarkeitslücken (namentlich bei der Beteiligung an Sonderdelikten) relativierend und i.ü. nicht scheuend Otto, AT5, § 22 Rn. 30; ders. JuS 1982, 557 (559). Jakobs, AT2, 6/60; Schumann, Stree-Wessels-FS (1993), S. 383 (387ff), weisen natürlich zu Recht darauf hin, daß sich der Teilnehmer auch noch vorstellen muß, daß der Vordermann im Rahmen des Erforderlichen verbleibt - und mit Rechtfertigungs-Vorsatz handeln werde; anderenfalls könnte die Haupttat nicht gerechtfertigt sein. Dies ist bei den hier erwogenen Konstellationen nicht notwendig, aber doch in aller Regel als mitgedacht vorauszusetzen. 172 Etwa RG HHR 1934, Nr. 835 (für die Anstiftung); Baumann/Weber/Mitsch, AT10, § 30 Rn. 43; Frisch, Vorsatz und Risiko (1983), S. 252f-Jescheck/Weigend, AT5 § 64 II 2b(S. 687); Lackner21, § 26 Rn. 4; ΠΟ'-Λοχιη, Vor § 26 Rn. 21; SK-StGB^-Rudolphi, § 16 Rn. 16; Tröndle§ 26 Rn. 7. 173 Zu dieser allgemein und grundlegend: WelzelLb11 § 22 III I f (S. 168ff); ihm folgend: Bockelmann AT3 § 16 C II 2c cc; Gössel JR 1978, 292 (293); ders., Triffterer-FS (1996), S 93 (97); Arm. Kaufmann JZ 1955, 37ff; LK"-Hirsch Vor § 32 Rn. 50 und ders. ZStW 94 (1982) 239 (259 ff); LK "-Schroeder, § 16 Rn. 49, 52; Niese JZ 1955, 320 (323); Paeffgen Arm. Kaufmann-GS (1989), S. 399 (419ff) (modifizierend); Sax]Ζ 1976,430 Fn. 5; WardaJR 1950, 546 (549); Ausführl. zum ganzen Paeffgen, Verrat... (1978), S. 76ff, 91 ff; NK § 226a Rn. 87 und demnächst NK-Paeffgen Vor § 32. - Ausdrücklich in diesem Sinne zu § 111: WelzelLb11 § 72 II 2, (S. 500). 174 So in der Tat etwa Kostaras Problematik S. 129; SK-StGB*-Hom (1996) Rn. 7 (folgerichtig zwischen Erlaubnistatbestand-Irrtum und Erlaubnis-Irrtum unterscheidend). 175 Etwa Maurach!Gössel/Zipf AT-27 (1989) § 51 Rn. 25.

624

Hans-Ullrich Paeffgen

griffsumfang schwierig festzulegen und läßt beträchtliche richterliche Einschätzungsspielräume offen. In Bezug auf beides wäre dringend zu wünschen, der Gesetzgeber korrigierte nach. Dennoch bleibt in einem Land mit steigenden sozialen Spannungen, mit nicht nur latenter Ausländerfeindlichkeit und rivalisierenden Gruppen ausländischer Mitbewohner eine Möglichkeit, frühzeitig und notfalls mittels des Strafrechts unfriedlichen Vorhaben die Spitze nehmen zu können, durchaus sinnvoll.176 Doch muß diese Möglichkeit sachgerecht konzipiert sein. Namentlich darf man die Praxis nicht, wegen exuberanten Strafrahmens, abschrecken, § 111 anzuwenden. Den Tatbestand strikter an die Regeln der Teilnahme anzubinden sowie anderen Restriktionen zu unterwerfen, 177 könnte helfen, aus § 111 ein brauchbares Instrument zu einem vertretbaren und handhabbaren frühen Rechtsgüterschutz zu machen 178 - und insoweit letztlich dann tatsächlich auch dem inneren Frieden zu dienen.

176 D i e Verbreitung des Tatbestandes in den kontinentaleuropäischen Rechten erweist ihn auch nicht als Bizarrerie, sondern als gemeineuropäischen Standard. 177 Auf der objektiven Tatseite u . a . : grundsätzlich unmittelbarer Kontakt zwischen Aufforderndem und Aufgeforderten; auf der subjektiven Tatseite: mindestens dolus directus 2. Grades bzgl. der Tat, zu der aufgefordert wird. 178 Gerade in Zeiten geistiger und sozialer Umbrüche besteht die Gefahr, daß eine latente Gewaltbereitschaft wächst und nach Ausdruck drängt. So versuchte in der erhitzten Atmosphäre des Kirchenkampfes etwa ein Böttchergeselle namens Kuhlmann, am 13. 7. 1873 Bismarck in Kissingen zu erschießen, wozu ihn die Vorträge eines Pfarrers im katholischen Männerverein Salzwedel mit dem Tenor: „Die Religion ist in Gefahr!" animiert hatten; vgl. Oncken, Allgemeine Geschichte IV. Hauptabt., VI/2 (1892), S. 579f.

Je weniger desto besser. Wie im Jugendstrafrecht kriminologische Torheiten dogmatisch geadelt wurden MICHAEL

BOCK

I. Jugendstrafrechtsreform: des Guten zuviel? Die Jugendstrafrechtsreform in den letzten 25 Jahren war eine „Reform von unten" bzw. eine „Reform durch die Praxis". Sie läßt sich als ein kontinuierlicher Rückzug des Jugendstrafrechts beschreiben. Es ist nicht mehr nötig, dies im einzelnen mit Zahlenmaterial zu belegen. Der Generalverweis auf den drastischen Rückgang der stationären im Vergleich zu den ambulanten jugendstrafrechtlichen Reaktionen sowie den Ausbau der sogenannten Diversion im Vergleich zur Durchführung von Jugendstrafverfahren mag hier genügen. Um es vorweg zu sagen und um unnötigen argumentativen Ballast aus diesem Beitrag herauszuhalten, sei hier gleich unmißverständlich festgestellt, daß ich den Trend zu mehr Gelassenheit und Flexibilität in den jugendstrafrechtlichen Reaktionen seiner allgemeinen Richtung nach durchaus für richtig halte. Er ist im Bereich des Jugendstrafrechts das Pendant der großen Strafrechtsreform, die dem Jubilar bekanntlich sehr am Herzen lag. Wogegen ich mich im folgenden wende, sind Auswüchse, die dadurch entstanden sind, daß illusionäre und ideologische Vorstellungen diese an sich wünschenswerte Entwicklung überlagert und teilweise ins Absurde getrieben haben. Der Aufschrei der Stammtische und der Politiker im letzten Sommer ist die passende Antwort auf diese Absurditäten: gleich realitätsblind und gleich undifferenziert wie diese. Eine Beispiel für diesen Umschlag von Wohltat in Plage ist die vielerorts gängige Praxis der Einstellung des Verfahrens gegen Jugendliche per Formblatt, in denen diesen Jugendlichen nicht nur mit Brief und Siegel versichert wird, der Staat interessiere sich nicht für ihre Straftaten, sondern darüber hinaus könnten Sie sich nicht sicher sein, daß dies im Wiederholungsfalle auch so sein werde. Was lange Zeit als der kriminogene Erziehungsstil schlechthin galt, nämlich die inkonsistente bzw. erratische Erziehung, bei der die Reaktionen der Erziehungspersonen bzw. -Institutionen unberechenbar und wechselhaft sind, wird nun in der staatsanwaltlichen Einstellungpraxis

626

Michael Bock

mit den Weihen staatlicher Strafverfolgung geadelt. Unberechenbar ist diese Praxis, etwa im Umgang mit geringen Mengen Haschisch, weil irgendwann am Ende doch Verfahren, eventuell auch Untersuchungshaft und Jugendstrafe drohen. Man weiß nicht mehr, was verboten ist und was geschieht, wenn man erwischt wird. 1 Wie kam es zu diesen Ubertreibungen?

II. Die kriminologische Weltsicht im Hintergrund 1. Abolitionistische

Träume

Es läßt sich hierbei zunächst eine kriminalpolitische Bewegung ausmachen, aus der die eigentliche politische Energie kommt, die Initiative, der Impetus zur Reform, und zwar die abolitionistische Bewegung, die von marxistischen und anarchistischen Utopien lebt, sich aber auch gut mit Foucanlt und Freud verträgt, jedenfalls im Strafrecht unserer Tage eines jener großen Disziplinierungsinstrumentarien sieht, mittels dessen die Menschen für die Interessen der Herrschenden gefügig gemacht werden. Für die radikalen Aktivisten dieser Bewegung gilt die Existenz des Strafrechts als Beweis für gesellschaftlichen Zwang und Entfremdung, 2 für die Gemäßigten ist jedes Weniger an Strafrecht ein Mehr an Humanität. 3 Einen besonderen Reiz haben diese Vorstellungen im Bereich des Jugendstrafrechts, weil - ähnlich dem edlen Wilden in der Literatur des 18. Jahrhunderts und dem Proletarier in der des 19. - der jugendliche Straftäter als der Prototyp des unverstellten, spontanen, kraftstrotzenden, eben noch nicht zugerichteten und insofern echten Menschseins stilisiert werden kann. Er wird zum Urbild und Unterpfand für den „neuen Menschen", der sich den Zumutungen der Gesellschaft erfolgreich widersetzt und dem daher auch das Unbehagen in der Kultur fremd ist. Die Reform des Jugendstrafrechts wurde als Vorschein und Abglanz für die entsprechenden Fortschritte im allgemeinen Strafrecht und damit als Seismograph für den Fortschritt der Gesellschaft überhaupt angesehen. Sie konnte sich dabei auch einer freundlich-jovialen Zustimmung in Kreisen er1 Nach den Richtlinien des Justizministers von Rheinland-Pfalz zur Anwendung des § 31a BtMG wurde z.B. mit Bezug auf das bekannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 (BVerfG, NJW 1994, 1577) als Grenzmenge 10g Haschisch festgelegt und im übrigen ein mehrfach abgestuftes Schema entwickelt, wie bei wiederholten Verstößen zu verfahren ist. Zur sonstigen Praxis in Deutschland vgl. die gründliche Arbeit von Susanne Aulinger: Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsum; Baden-Baden, 1997. 2 Mathiesen, Thomas, Macht und Gegenmacht. Überlegungen zu wirkungsvollem Widerstand; München, 1986. 3 Christie, Nils, Grenzen des Leids; Bielefeld, 1986.

Kriminologische Torheiten im Jugendstrafrecht

627

freuen, denen solche Überlegungen eigentlich fremd sind, die jedoch auf einem scheinbar ungefährlichen Gebiet dem Zeitgeist Tribut zollten bzw. sich Ablaß für ihre konservativen Sünden erkauften, ganz ähnlich wie mit der Wahl „linker" Parteien auf kommunaler Ebene. 2. Etikettierungstheoretische Folklore Ein zweites wichtiges Element im Zusammenhang mit diesen Übertreibungen ist eine krasse Fehleinschätzung des kriminologischen Forschungsstandes. Ohne daß empirische Belege überhaupt ernsthaft gefordert werden, haben sich die Aussagen der Etikettierungsansätze im neueren jugendstrafrechtlichen Schrifttum fest etabliert. Dies zu belegen hieße, dieses Schrifttum mit wenigen Ausnahmen abzuschreiben. Sie sind zur kriminologischen Folklore geworden, bei der nach Beweisen und Gründen nicht mehr gefragt wird. Tatsächlich jedoch haben die Hypothesen der Etikettierungsansätze den Tatsachen keineswegs standgehalten. 4 Auch für die gebetsmühlenhaft vorgetragene Annahme, jugendstrafrechtliche Reaktionen „stigmatisierten" die betroffenen Jugendlichen, dies verschlechtere ihre Lebenschancen und führe über verschiedene Rückkoppelungsschleifen zu einer abweichenden Identität, lassen sich kaum Belege finden. Die weit überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen, die einmal oder auch mehrmals als Straftäter „stigmatisiert" werden, denken nicht von ferne daran, abweichende Identitäten zu entwickeln, 5 sondern hören wieder auf, Straftaten zu begehen, wie wir aus den neueren Kohortenuntersuchungen wissen. 6 Viel plausibler sind bei der überwiegenden Mehrzahl der straffälligen Jugendlichen konkurrierende Deutungen, etwa über Neutralisierungstechniken oder auch über Lern- und Reifungsvorgänge, die mit dem Alter kommen und eben nicht zuletzt auch durch jugendstrafrechtliche Reaktionen ausgelöst werden. Aber selbst bei den notorischen 80 % Rückfällen nach Jugendstrafvollzug wird es schwerfallen, die entsprechenden Rückfälle auf die vorangegangene Inhaftierung zurückzuführen. Wenn man sich die katastrophale Lebenssituation Jugendlicher vor der Inhaftierung vor Augen hält, kann von einer Verschlechterung der Lage durch die Haft und nach der Haft meist auch dann keine Rede sein, wenn erneut Straftaten begangen werden.7 4 Vgl. Göppingen Kriminologie; 5. Aufl., 1997; S. 137ff; Schneider, H., MSchrKrim 1999, im Druck. 5 Selbst inhaftierte jugendliche Straftäter nicht! Vgl. Dillig, Peter, Selbstbild junger Krimineller: eine empirische Untersuchung, Weinheim, Basel, 1983. 6 West, Donald James, Delinquency. Its Roots, Careers and Prospects; Cambridge Studies in Criminology, 48; London, 1982; Tracy, P.; Marvin E. Wolfgang; R. Figlio, Delinquency Careers in two Birth Cohorts; New York 1990. 7 Kofler, R., Beruf und Kriminalität, München, 1980.

628

Michael Bock

3. Überschätzte

Sanktionsforschung

Seit den 80iger Jahren wird die Argumentation mit den Etikettierungsansätzen teils ergänzt, teils ersetzt durch die Ergebnisse der Sanktionsforschung. Hatten die Etikettierungsansätze zu zeigen versucht, daß es zwischen Straffälligen und Nichtstraffälligen keine Unterschiede gibt und daß deshalb jede strafrechtliche Intervention kontraproduktiv ist, so wartet seit einiger Zeit die Sanktionsforschung ständig mit Ergebnissen auf, die sie im Sinne der sogenannten Austauschbarkeitsthese interpretiert. 8 Vergleicht man die Rückfallquoten von Straffälligengruppen, auf die unterschiedlich eingewirkt wurde, 9 so ergibt sich regelmäßig, daß die eingriffsintensiveren Interventionen keine bessere, im Zweifel sogar eine schlechtere Rückfallquote „produzieren". Höchst naheliegend, würde man vermuten, sofern die juristischen Praktiker auch nur einigermaßen ihre fünf Sinne beisammen haben. Denn daß man die eingriffsintensiveren Interventionen bei den problematischeren Fällen einsetzt, die dann auch in höherem oder gleichem Maße rückfällig werden, entspricht durchaus den gesetzlichen Vorschriften unseres spezialpräventiv-differenzierenden Rechtsfolgensystems im Erwachsenen- und erst recht im Jugendstrafrecht. Trotzdem ist es gelungen, diese Befunde immer wieder zur Delegitimierung jugendstrafrechtlicher Eingriffe einzusetzen, insbesondere natürlich der stationären Maßnahmen des Jugendarrests und der Jugendstrafe. Die Praxis, die sich unter dem Druck entsprechender Kampagnen zunehmend seltener, und dann übrigens oft mit schlechten Gründen wie Schuldausgleich oder Generalprävention, entschließt, von diesen Reaktionsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, arbeitet diesem Trend ungewollt in die Hände. Je restriktiver diese Reaktionen gehandhabt werden, desto problematischer ist die Klientel der entsprechenden Einrichtungen und um so schlechter ist natürlich ihr Abschneiden in vergleichenden Rückfalluntersuchungen, so daß sie nun erst recht unter Druck geraten. Die Zerknirschung über die eigenen (unbewußten) Strafbedürfnisse, die man den Praktikern zusätzlich um die Ohren 8 Heinz, Wolfgang·, Christine Hügel, Erzieherische Maßnahmen im deutschen Jugendstrafrecht; Bonn: Bundesministerium der Justiz 1987; Heinz, Wolfgang; Renate Storz, Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland. Forschungsvorhaben des Bundesministers der Justiz (Erzieherische Maßnahmen im deutschen Jugendstrafrecht Anschluß- und Vertiefungsuntersuchung'. Bonn, 1992; Pfeiffer, Christian; Rainer Strobl, Kann man der Strafverfolgungsstatistik trauen? Ein Vergleich mit Bundeszentralregisterdaten offenbart gravierende Divergenzen und Mängel; in: Bundesministerium der Justiz, Kriminologische Zentralstelle e. V. (Hrsg.), Die Zukunft der Personenstatistiken im Bereich der Strafrechtspflege. Materialien und Diskussion einer Expertensitzung; Wiesbaden 1992, S. 107-135. 9 Zum üblichen Untersuchungsdesign vgl. Jehle, Jörg-Martin, Angewandte Kriminologie in der Bundesrepublik Deutschland - Kriminologische Erkenntnisse für die Strafrechtspraxis; in: Göppinger, Hans (Hrsg.), Angewandte Kriminologie - International. XXXVI. Internationale Kriminologische Forschungswoche; Bonn, 1988, S. 121-137

Kriminologische Torheiten im Jugendstrafrecht

629

geschlagen hat, und die Fügsamkeit gegenüber dem Trend, den man zur eigenmächtigen sozialen Realität stilisiert hat,10 führt einerseits zu immer schlechteren Resultaten und andererseits zu immer schlimmeren Selbstzweifeln oder zynischem Rückzugsverhalten in der Praxis.

III. Juristische Anverwandlungen Nun wird man sich sicher fragen, wie es möglich war, daß diese Auffassungen sich in der jugendstrafrechtlichen Praxis etablieren konnten. Denn daß die Praktiker in der Justiz, auch im Bereich des Jugendstrafrechts, nicht gerade die geborenen Abolitionisten sind, dürfte klar sein. Und ob sie sich in der theoretischen Welt der Etikettierungsansätze oder den methodischen Feinheiten der Sanktionsforschung wirklich zurechtfinden, darf man immerhin bezweifeln. Obgleich man die Wirkung des jahrelangen kriminalpolitischen und kriminologischen Trommelfeuers nicht unterschätzen darf, ist es daher angeraten, nach zusätzlichen Einflußgrößen zu suchen, die diese Entwicklungen ermöglicht haben. Und man findet sie auch leicht. Denn es ist gelungen, die genannten kriminalpolitischen Intentionen und die sie stützende kriminologische Weltsicht in die Sprache der Juristen zu transponieren. Abolitionismus, Etikettierungsansätze und Austauschbarkeitsthese sind in klassische juristische, notabene nicht: jugendstrafrechtliche Argumentationsmuster übersetzt worden und in dieser Form haben sie sich in die jugendstrafrechtliche Dogmatik geradezu hineingefressen. Es sind vor allem drei dieser Argumentationsmuster, die sich hierbei als besonders erfolgreich erwiesen haben. 1. Verbot der Schlechterstellung

Jugendlicher

Das erste ist das Argument mit der sogenannten Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender, bei dem sofort die grundrechtlichen Alarmglocken schrillen. Das Jugendstrafrecht enthält bekanntlich einen in sich abgestuften Aufbau unterschiedlicher Reaktionsweisen, die insgesamt weniger belastend sind als die entsprechenden Eingriffe des Erwachsenenstrafrechts. Gleichwohl kann man natürlich, wenn man die Gesamtsystematik außer acht läßt und punktuelle Vergleiche mit irgendwelchen ausgefallenen Fallgruppen anstellt, Einzelpunkte finden, in denen, definiert man 10 Vgl. etwa Heinz, Wolfgang, Aufnahmebereitschaft, Kritik und Widerstände von Richtern und Staatsanwälten bei der Konfrontation mit kriminologischen Befunden, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht als Erfüllungsgehilfe gesellschaftlicher Erwartungen? Bonn, 1995, S. 99-143; kritisch hierzu Bock, Michael, Jugendstrafrecht im Bann der Sanktionsforschung, \997, S. 1-23.

630

Michael Bock

auch noch die Vergleichskriterien geeignet, Jugendliche und Heranwachsende im Jugendstrafrecht auch einmal mit einer Maßnahme belegt werden können, die als belastender empfunden werden kann, etwa eine Arbeitsweisung im Vergleich mit einer Geldstrafe oder eine Einstellung des Verfahrens nach § 45 J G G mit Geständnis im Vergleich zu einer Einstellung nach § 153 StPO ohne Geständnis. Dabei wird völlig außer acht gelassen, daß Jugendliche auch sonst in vieler Hinsicht anders behandelt werden als Erwachsene. Sie dürfen vor dem Alter von 16 nicht Alkohol trinken und rauchen, sie dürfen erst mit 18 wählen, Auto fahren und heiraten usw. und im übrigen werden ihnen auch verschiedene Pflichten nicht auferlegt, die für Erwachsene gelten, etwa die Pflicht, für den eigenen Unterhalt aufkommen zu müssen. Aus diesen Gründen und natürlich mit Rücksicht auf den Entwicklungsstand Jugendlicher und Heranwachsender hat sich ja der Gesetzgeber entschieden, diese Altersgruppen auch strafrechtlich anders zu behandeln. Dies aber ist der springende Punkt: anders zu behandeln. Man mißversteht das Jugendstrafrecht systematisch, wenn man es als ein minus gegenüber dem Erwachsenenstrafrecht ansieht und nicht als ein aliud. Nur im Bereich der sogenannten „ahndenden" Rechtsfolgen (vgl. § 5 J G G ) hat das Verbot der Schlechterstellung seinen Platz. Das heißt dann etwa, daß Jugendstrafen oder Geldauflagen bei Jugendlichen und Heranwachsenden nicht höher ausfallen dürfen als sie in vergleichbaren Fällen bei Erwachsenen ausgefallen wären, aber etwa im ganzen Bereich der Erziehungsmaßregeln ist der Vergleich mit den Erwachsenen von vornherein abwegig, weil es Erziehungsmaßregeln im Erwachsenenstrafrecht gar nicht gibt. Artikel 3 des Grundgesetzes wird dabei ebensowenig verletzt wie bei den o. g. Einschränkungen, denn es wird nicht Gleiches ungleich behandelt, sondern Ungleiches. 2. Schutz von Ehe und Familie Ein zweites Argumentationsmuster, bei dem sich der Jurist heimisch fühlt, ist der Schutz von Ehe und Familie nach Artikel 6 Grundgesetz. Selbstverständlich ist die Mitwirkung der Eltern meistens förderlich und selbstverständlich wird mit jeder jugendstrafrechtlichen Reaktion der Schutzbereich des Artikels 6 tangiert, besonders natürlich bei Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von den Eltern verbunden ist. Die Ermächtigungsgrundlage für den strafrechtlichen Eingriff ist die Gefährdung des Kindeswohls, die durch die Begehung von Straftaten gewissermaßen indiziert ist. In dieser Logik von Schutzbereich und Eingriffsvoraussetzung steckt aber eine Gleitformel, die leicht zur schiefen Ebene wird. Je weniger ich nämlich Straftaten als die Folge von Erziehungsmängeln oder, wie man früher noch sagen durfte, Verwahrlosung ansehe, und je schlechter ich die erzieherische

Kriminologische Torheiten im Jugendstrafrecht

631

Effektivität der staatlichen Ersatzerziehung beurteile, desto weniger und desto seltener werde ich bei der unvermeidlichen Abwägung verschiedener Rechtsgüter zu dem Ergebnis kommen, daß hier das elterliche Erziehungsrecht zurückstehen müsse. Reinen Tisch in dieser Hinsicht hat ja ζ. B. schon das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG bzw. SGB VIII) gemacht, das überhaupt keine Eingriffstatbestände mehr kennt wie sein Vorläufer, das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG), sondern nur noch „Hilfen zur Erziehung", mit der Folge, daß gegen den Willen des Betroffenen bzw. seiner Eltern schlicht und ergreifend nichts geschieht. Da sich gleichzeitig die Familienrichter konsequent weigern, die Spielverderber zu sein und von den §§ 1666 und 1666a BGB Gebrauch zu machen, die als letzte Eingriffstatbestände außerhalb des Jugendstrafrechts übriggeblieben sind, haben wir eben die unerfreuliche Situation, daß man gefährliche 12- und 13jährige Frühkriminelle sich in verantwortungsloser Weise ihre Zukunft zerstören läßt, weil man das Problem ihrer Existenz wegdefiniert hat: keine Verwahrlosung, kein Eingriff, kein geschlossenes Heim, keine Perspektive - aber sehr viel Artikel 6 Grundgesetz. Hinter der Fassade verfassungsrechtlicher Bedenken können sich also nicht nur abolitionistische Phantasien austoben, sondern auch das schlichte Abschieben von Verantwortung, wie es beispielhaft im Fall „Mehmet" zu beobachten war. Solchen Tendenzen wird natürlich Vorschub geleistet, wenn mit erhobenem Zeigefinger bei jeder jugendrichterlichen Entscheidung, die natürlich zwangsläufig eine Ermessensentscheidung ist, eine Abwägung mit Artikel 6 Grundgesetz eingefordert wird und damit der Zwang, gegen eine entgegenstehende kriminologische Folklore den Sinn einer jugendstrafrechtlichen Maßnahme ins Feld zu führen und zu verteidigen. Dann läßt man es doch lieber gleich! 3. Subsidiarität

und

Verhältnismäßigkeit

Das dritte Argumentationsmuster in dieser Reihe ist der Verweis auf die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Sowohl der Glaube der Etikettierungsansätze, daß es einen Unterschied zwischen Straffälligen und Nichtstraffälligen und daher irgendeinen Bedarf an Erziehung gar nicht gibt, als auch die von der Sanktionsforschung verbreitete Austauschbarkeitsthese finden hierdurch Anschluß an das verwaltungsrechtliche Denken, das der Jurastudent ab dem 2. Semester lernt. Auch hier geht es um die Eingriffsgrundlage hoheitlichen Handelns, hier: jugendstrafrechtlicher Eingriffe, die eben nur dann legitim sind, wenn sie sich als geeignet, erforderlich und verhältnismäßig erweisen. Vor allem die Austauschbarkeitsthese scheint bei Juristen mächtig Eindruck zu machen. Sie besagt in verwaltungsrechtlicher Terminologie, daß die eingriffsintensiveren Mittel allenfalls gleich geeignet, aber jedenfalls nicht

632

Michael B o c k

erforderlich und verhältnismäßig sind, weil die weniger eingriffsintensiven Mittel den gleichen Effekt haben. Mit dieser Argumentation trifft die Austauschbarkeitsthese einen stark gefühlsmäßig besetzten Kern in der professionellen Identität der heutigen Juristen, die sich grundsätzlich gern als Anwalt des armen Bürgers verstehen, den sie vor den ungerechtfertigten Eingriffen des Leviathan schützen möchten. Es gilt daher als verdienstvoll, Lücken in der Legitimation hoheitlichen Handelns aufzuspüren und anzuprangern. 11 So ist es auch im Jugendstrafrecht. Dagegen wird man von den Juristen kaum erwarten können, daß sie hinter der Rhetorik die methodische Problematik und damit insgesamt die Dürftigkeit der Ergebnisse dieser ganzen Forschungsrichtung erkennen. Denn abgesehen von den bekannten Problemen der Vorselektion kann ein Vergleich der Rückfallquoten als solcher niemals Aufschluß über die Effektivität der jeweiligen Eingriffsalternativen geben, solange nicht mitüberprüft wird, ob die Probanden für die Maßnahmen, mit denen sie beglückt wurden, auch geeignet waren, und ob die Jugendstaatsanwälte, Jugendrichter, Vollzugsbedienstete oder Bewährungshelfer auch für diese Maßnahmen richtig ausgebildet waren und diese in einer geeigneten und förderlichen Weise ausgeführt haben. Da diese Prüfung in der Regel unterbleibt,12 gibt es eigentlich gar keinen Grund, sich auf diese verwaltungsrechtliche Argumentationsebene zu begeben. Nur am Rande sei erwähnt, daß inzwischen sogar gefordert wird, auch die richterliche Entscheidungsfindung im Einzelfall nach diesen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen vorzunehmen. 13 Steht schon die kriminalpolitische Ableitung des Grundsatzes „je weniger desto besser" auf tönernen Füßen, so wird sie, was die richterliche Entscheidungsfindung im Einzelfall betrifft, auch in sich selbst unschlüssig. Denn wenn man schon das Subsidiaritäts- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip bemühen möchte, so ist doch gerade nach verwaltungsrechtlichen Regeln auf jeden Fall klar, daß die Prüfung von Ziel und Mittel, die jeweils gefordert ist, eben einzelfallbezogen zu erfolgen hat. Der Vergleich von Rückfallquoten, wie immer sie auch ausgefallen sein mögen, sagt hierfür aber gar nichts aus. Freilich wird es auch dieser, sozialwissenschaftlich eigentlich simple Sachverhalt, schwer haben, sich gegen das im Alltag verbreitete und daher auch bei sozialwissenschaftlichen Laien wie den Juristen übliche metaphysische Mißverständis durchzusetzen, dem Einzelfall wohne eine „Tendenz" inne, sich den Quoten entsprechend zu verhalten, obwohl gerade dies ein Fehlschluß ist.14 11 Vgl. etwa Isensee, Josef, Mehr Recht durch weniger Gesetze? in: Scholz, R. (Hrsg.): Wandlungen in Technik und Wirtschaft als Herausforderungen des Rechts; Veröffentlichungen der Hanns Martin Schleyer Stiftung, Band 18, Köln 1985, S. 337-357. 12 Vgl. hierzu noch einmal Jehle, wie Fn. 9. 13 So Heinz, wie Fn. 10. 14 Bock, wie Fn. 10, S. 14 ff.

Kriminologische Torheiten im Jugendstrafrecht

633

4. Folgen Schlechterstellung, Elternrecht und das Verhältnismäßigkeitsprinzip sind Argumentationsfiguren, die das Jugendstrafrecht in eine Ansammlung von „Bedenken" gegen seine Anwendung verwandelt haben, wie jeder Blick in die einschlägigen Kommentare lehrt, die diese Bedenken fleißig dokumentieren und daher immer dicker werden. Nicht in der Phraseologie der Etikettierungsansätze und auch nicht in erster Linie mit den Ergebnissen der Sanktionsforschung als solchen wird also die Reform des Jugendstrafrechts zu illusionären und absurden Konsequenzen getrieben, sondern durch ehrbare juristische Topoi. Es sind im übrigen ausnahmslos solche, die mit dem spezifischen Charakter des Jugendstrafrechts nicht das Mindeste zu tun haben. Im Gegenteil, sie erleichtern es, ohne den gerade im Jugendstrafrecht eigentlich unerläßlichen erfahrungswissenschaftlich-kriminologischen Blick auf den einzelnen Jugendlichen und seine Situation zu entscheiden, eine Entwicklung, die man auch im Erwachsenenstrafrecht überall dort beobachten kann, wo es auf die Erfassung des Täters in seinen sozialen Bezügen ankommt. Daran wird nun allerdings auch deutlich, daß sich hinter diesen juristischen Argumentationen auch Motivationen verbergen können, die mit den eigentlichen Reformanliegen gar nichts zu tun haben, auch wenn sie zum gleichen Ergebnis führen. Es ist der Rückzug nicht aus besserer pädagogischer Einsicht, sondern der Rückzug aus Resignation, Frustration, Überlastung und Zynismus. Das hektographierte Formblatt ist nicht nur arbeitsökonomisch eleganter, sondern es spart auch psychische Energien, die die Konfrontation mit den Jugendlichen bei einem erzieherischen Gespräch fordern würde, denn es ist anstrengend, unter vier Augen die Normen zu erklären, zu verteidigen und glaubhaft Konsequenzen aufzuzeigen. Wer Kinder hat, weiß dies.

IV. Aspekte jugendstrafrechtlichen Realismus' Wie viel an der Reform des Jugendstrafrechts abolitionistische Überzeugung ist und wie viel Resignation und Indolenz, mag hier dahinstehen. Was in beiden Fällen auf der Strecke bleibt, ist der nüchterne Blick auf die Realitäten. Was dies im einzelnen heißt, kann hier natürlich nicht in extenso ausgeführt werden. Hier daher nur einige grundsätzliche Aspekte. 1. Interventionsbedarf nicht wegdefinieren Man muß zur Kenntnis zu nehmen, daß es Kinder und Jugendliche gibt, die massiv psychisch, sozial und strafrechtlich auffällig werden, aus welchen Gründen auch immer, und daß es Familien bzw. alleinerziehende Elternteile und Schulen gibt, die mit diesen Auffälligkeiten, aus welchen Gründen auch

634

Michael B o c k

immer, absolut überfordert sind. Die These von der Normalität und Episodenhaftigkeit der Jugendkriminalität, die zum Standardrepertoire der jugendkriminologischen und jugendstrafrechtlichen Folklore gehört, ist insoweit nicht nur irreführend sondern geradezu töricht. Ganz unabhängig von der Frage, wie diese Fehlentwicklungen entstehen, und auch ganz unabhängig von der Frage, wer gegebenenfalls Schuld daran trägt, man darf nicht die Augen und Ohren vor diesen Fehlentwicklungen schließen, sondern muß einer weiteren Verfestigung solcher Fehlentwicklungen gegensteuern, nicht nur im Interesse potentieller Opfer, dies auch, sondern vor allem im Interesse der betreffenden Kinder und Jugendlichen selbst. Natürlich ist dabei nicht jedes Mittel recht. Aber welche Mittel vertretbar sind, hängt auch von den Alternativen ab. Läßt man nämlich die Dinge laufen, ist schnell ein Strafregister und ein Schuldenberg zusammengekommen, angesichts dessen dann wirklich nur noch Resignation möglich ist. 2. Rehabilitierung der stationären Maßnahmen Hält man sich dies vor Augen, sieht man sofort, wie billig der stereotype Verweis auf die 8 0 % Rückfallquote nach Jugendstrafvollzug ist, abgesehen von den fragwürdigen empirischen Grundlagen dieser Quote. Was wäre denn mit diesen Jugendlichen ohne den Jugendstrafvollzug? Natürlich ist das bessere der Feind des guten und selbstverständlich fehlt es auch im Jugendstrafvollzug oft an Geld, Qualifikation und Motivation. Aber es wird dort vielfach auch eine geradezu heroische Frontarbeit geleistet, die in gar nicht so seltenen Fällen kriminelle Karrieren abschwächt, abbremst oder auch zunächst einfach unterbricht, weitere Abstürze verhindert oder, noch trivialer, nach einem völligen Zusammenbruch der Strukturierung des Lebens wieder Gelegenheit zum Essen, Schlafen und zur Orientierung in Raum und Zeit bietet. In vielen Fällen ist leider auch der Jugendstrafvollzug machtlos. Aber es ist niemand damit gedient, wenn man seine Chancen noch schlechter redet als sie in Wirklichkeit sind. Im übrigen sollte all denen, die sich mit der Überlegenheit der ambulanten Maßnahmen großtun, auch einmal deutlich gesagt werden, daß die diesbezüglichen Erfolge unter anderem gerade davon abhängen, daß allen Verfahrensbeteiligten klar ist, daß das Scheitern der ambulanten Maßnahmen früher oder später eben doch zum Vollzug einer Jugendstrafe führt. 15 Insofern ist dieser Erfolg vielfach ein geborgter Erfolg, und man sollte nicht ständig an dem Ast sägen, auf dem man selbst sitzt. 15 Böhm, Alexander, Strafvollzug, 2. Aufl., 1986, S. 4 6 ; vgl. auch Jung, Heike, Zur Problematik der Legitimation längeren Freiheitsentzuges; in: ders./Heinz Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug - wie lange noch? Bad Godesberg 1994, S. 31-41, dort S. 39.

Kriminologische Torheiten im Jugendstrafrecht

635

Die gleichen Überlegungen gelten für die schlimmen Strafunmündigen. Man mag noch so laut und oft darüber lamentieren, daß in geschlossenen Heimen, bzw., da es Heime in politisch korrekter Sprache nicht mehr gibt, in geschlossenen Einrichtungen über Tag und Nacht, nicht die Art von Erziehung möglich sei, die man gerne hätte, 16 nur wird man damit die Probleme nicht los und leitet nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die Strafmündigkeitsgrenze auf 12 Jahre absenken wollen. 3. Der Ton macht die Musik Die jugendstrafrechtliche Sanktionierung bzw. Verfahrenserledigung unterhalb der Jugendstrafe ist natürlich ein weites Feld. Es ist aber auch hier eigentlich ganz einfach. Sowohl die Einstellung des Verfahrens als auch die Durchführung von Verfahren und die Sanktionierung müssen auf eine Art und Weise erfolgen, daß die Beteiligten das Jugendstrafrecht ernstnehmen können. Nicht mehr und nicht weniger als ernstnehmen. Was das heißt, mag gelegentlich umstritten sein. Daß aber ein hektographierter Bescheid von der Staatsanwaltschaft, in dem die Einstellung des Verfahrens mitgeteilt wird und gleichzeitig der ungewisse Ausgang weiterer Verfahren, weder vom Staatsanwalt noch von den Jugendlichen ernstgenommen werden kann, ist klar. Und so ist es zwar völlig richtig, wenn die neuere Forschung hervorhebt, daß die meisten straffälligen Jugendlichen auch ohne die Durchführung eines Verfahrens, das heißt also bei einer Verfahrenserledigung im Wege der Diversion, nicht wieder oder nur noch geringfügig straffällig werden. 17 Das liegt aber nicht daran, daß so wenig interveniert worden ist, sondern daran, daß auch ein Verfahren, das nur bis zur Staatsanwaltschaft gelangt, erzieherisch wirken und zur Normverdeutlichung beitragen kann, wenn es vernünftig gehandhabt wird. Daher ist es ein Trugsschluß, zu glauben, daß deshalb, weil auch mit wenig Intervention viel zu erreichen ist, mit noch weniger Intervention noch mehr zu erreichen sei. Die alljährlichen Meldungen, daß erneut mehr anklagefähige Delikte im Wege der Diversion erledigt worden seien, die mit der gleichen freudigen Erregtheit verbreitet und zur Kenntnis genommen werden wie ein neuer Rekord des Dow-Jones-Index von den Aktionären, sind mit Vorsicht zu genießen. Denn hier wie dort gibt es künstliche Uberhitzungen, die früher oder später zum Crash führen. Und hier wie dort entstehen sozialpsychologische Epidemien, etwa wenn sich auf Schulhöfen und in Diskotheken, im Bus und im Jugendhaus und natürlich im Fernsehen herumspricht, daß man noch nicht einmal zu einem erzieherischen Gespräch einbestellt wird und es also 16 Swientek, Christine, Heimerziehung und Kriminalprävention; in: Schwind, Hans-Dieter; F. Berckhauer, G. Steinhilper (Hrsg.): Präventive Kriminalpolitik,1980, S. 2 6 5 - 2 7 5 . 17 Hier sei nocheinmal auf die in Fn. 8 zitierten Arbeiten hingewiesen.

636

Michael Bock

völlig egal ist, ob man sich an die Normen hält oder nicht. Sind die Normen erst einmal so im Gerede, dann kann sie nicht einmal mehr die berühmte „Präventivwirkung des Nichtwissens" 18 schützen. Aber auch bei den Verfahren, die durch Urteil enden, aber nicht mit Jugendstrafe, das heißt also im Bereich der Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel, macht im wesentlichen der Ton die Musik. Auch hier kommt es weniger auf das viel oder wenig, hart oder milde an als vielmehr auf die konkrete Ausgestaltung und Durchführung der einzelnen Maßnahmen und auf die Autorität, Glaubwürdigkeit, Geduld und Phantasie der Personen, mit denen der Jugendliche wirklich in persönlichen Kontakt kommt. Eine nachvollziehbare Abstufung und Proportionalität der Maßnahmen ist hierbei allerdings schon deshalb wünschenswert, weil Jugendliche gerade in dieser Hinsicht überaus sensibel sind und man deshalb gerade hier sehr viel Akzeptanz gewinnen oder verspielen kann. In diesem Zusammenhang ist es ebenso bezeichnend wie gefährlich, daß man auch den Jugendarrest, das heißt die einschneidenste jugendstrafrechtliche Maßnahme unterhalb der Jugendstrafe, über Jahre hinweg schlechtgeredet hat, mit der Folge, daß er fast nur noch als Freizeitarrest an Wochenenden vollstreckt wird und dies in der Form von Fahrradtouren und Partys, die sich vom normalen Freizeitverhalten der Jugendlichen kaum noch unterscheiden.19 Hier ist nicht nur gegenüber den übrigen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln ein Ungleichgewicht entstanden, sondern auch das „Loch" vergrößert worden, das zwischen dem auf maximal 4 Wochen beschränkten Jugendarrest und der mindestens 6 Monate dauernden Jugendstrafe ohnehin besteht. Im übrigen steckt auch in der fröhlichen Freizeitanimation und Kumpanei wieder oft nicht der Wille, die Zeit des Jugendarrests sinnvoll zu nutzen, sondern der Rückzug aus der unmittelbaren Konfrontation mit den Erwartungen und Vorstellungen der Jugendlichen, auf die man sich sonst einlassen und Stellung beziehen müßte. Und auch hier sind unsachliche und irrationale Ausweichmanöver zu verzeichnen. Jugendrichter, denen das alles über die Hutschnur geht, nehmen jetzt Jugendliche oft nur deshalb in Untersuchungshaft, weil sie das Gefühl haben, unterhalb der Jugendstrafe sei dies die einzige Möglichkeit, der Rechtsordnung Respekt zu verschaffen. Aber um welchen Preis? Denn die Untersuchungshaft ist allemal schädlicher als ein Jugendarrest, auch wenn dieser in der altmodischen Form eines shortsharp-shock vollzogen wird.

18 Popitz, Heinrich, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968. 15 Vgl. Göppinger (wie Fn. 4), S. 680 ff. mwN.

Kriminologische Torheiten im Jugendstrafrecht

637

V. Zusammenfassende Stellungnahme Bei aller Kritik, die hier an jugendstrafrechtlichen Vorstellungen und Denkweisen geübt worden ist, muß doch denen entschieden entgegen getreten werden, denen nichts einfällt als Härte und Repression. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in denen insgesamt mehr „Flexibilität nach unten" in den jugendstrafrechtlichen Reaktionen gewagt wurde, wird nicht dadurch falsch, daß es illusionäre und ideologische Auswüchse und Ubertreibungen gibt. Diesen allerdings gilt es energisch entgegenzuarbeiten, gerade um irrationale und populistisch motivierte Rückschläge zu vermeiden. Die Bäume werden dadurch zwar nicht in den Himmel wachsen, denn die Entwicklung der Jugendkriminalität hängt nicht nur davon ab, wie man jugendstrafrechtlich auf sie reagiert. Und die großen gesellschaftlichen Trends lassen alle einen weiteren Anstieg erwarten. Ob man die Verschlechterung der Chancen am Arbeitsmarkt oder die Explosion in der verfügbaren Freizeit nimmt, ob man an den Wertewandel denkt oder die Individualisierung, es sind alles kriminalitätssensible Trends, von der anhaltenden Migration zu schweigen. Es ist schwieriger geworden, auf anständige Weise erwachsen zu werden, und eine zunehmende Anzahl von Jugendlichen und ihre Eltern sind dabei überfordert Um so wichtiger ist es, die Dinge beim Namen zu nennen. Dazu ist es notwendig, was die geistige Konzeption des Jugendstrafrechts betrifft, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Wenn in jugendstrafrechtlichen Kommentaren, Lehrbüchern und Aufsätzen wieder und wieder die Meinung vertreten wird, Ziel des Jugendstrafrechts sei die Legalbewährung und nur die Legalbewährung, weil ein weltanschaulich neutraler Staat in einer pluralistischen Gesellschaft keine inhaltlich näher bestimmten Erziehungsziele verfolgen dürfe, so ist dies einerseits sicher richtig in Abgrenzung zu religiösem, weltanschaulichem oder ideologischem Totalitarismus. Aber es bleibt andererseits eine weltfremde Abstraktion, wenn nicht deutlich gesagt wird, daß man auf das Ziel der Legalbewährung nur dadurch hinarbeiten kann, daß die Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen gefördert werden, von denen die Legalbewährung abhängt? Und hier eben gibt man sich spröde und häuft dogmatische Bedenken auf kriminologische Bedenken, die das Jugendstrafrecht in ein einziges Bedenken gegen seine Anwendung aufzulösen drohen.20 Legalbewährung anstreben zu wollen, ohne auf

20 So u.a. Albrecht, Peter-Alexis, Jugendstrafrecht 2. Aufl., 1993, S. 82; Heinz, Wolfgang, Die Bedeutung des Erziehungsgedankens für Normsetzung und Normanwendung im Jugenstrafrecht der Bundesrepublik Deutschland; in Wolff/Marek (Hrsg.): Erziehung und Strafe, Bonn 1990; Baibier, Ralf-Werner, Brauchen wir ein neues Jugendstrafrecht? D R i Z 1989, 4 0 4 - 4 0 9 ; nicht ganz so weitgehend: Ostendorf JGG, 4. Aufl., 1997, Grdl. z. §§ 1 - 2 , Rn. 4; Eisenberg, J G G 7 Aufl. Einl. Rn. 5c; hiergegen kritisch und insofern realistisch jedoch Böhm, Jugendstrafrecht; 3. Aufl., 1997; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht; 13. Aufl.,

638

Michael Bock

die Wertorientierung, das Arbeits-, Freizeit- und Kontaktverhalten Einfluß zu nehmen, ist ein sinnloses Unterfangen. Nichts anderes meint das Jugendstrafrecht, wenn es gerade auf diese Bereiche seine Interventionen konzentriert. Nichts anderes sagen mit überwältigender Ubereinstimmung die kriminologischen Untersuchungen, die sich der Mühe unterzogen haben, straffällige mit nichtstraffälligen Jugendlichen zu vergleichen.21 Nichts anderes berichten die erfahrenen Praktiker beim Jugendamt, im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe. Wenn dies wieder klar ist und nicht jede Maßnahme, die man ergreift, mit schlechtem Gewissen ergriffen wird, weil sie verfassungs- oder verwaltungsrechtlich bedenklich ist und angeblich ohnehin nur schadet, kommen vielleicht auch Phantasie und Motivation zurück und nicht zuletzt die Bereitschaft der unterschiedlichen Berufsgruppen, wieder stärker zusammenzuarbeiten.

1998; Kaiser, Günther, Strafen statt Erziehen? ZRP 1997, 451-458; Brunner/Dölling JGG, 10. Aufl., 1996, Einf. Rn. 6, Schlüchter, Ellen, Plädoyer für den Erziehungsgedanken, 1994. 21 Vgl. statt anderer West (wie Fn. 6).

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht? W I L H E L M KREKELER

I. Einleitung Die durch rechtstatsächliche Untersuchungen noch zu unterlegende 1 Behauptung insbesondere bestimmter gesellschaftlicher Gruppen geht dahin, daß in den letzten Jahren ein Anstieg der „Unternehmenskriminalität" insbesondere auf den Gebieten der Wirtschafts- und Umweltdelikte festzustellen sei. 2 Dies führt zu einer intensiven und vertieften Diskussion der Frage, ob es notwendig oder zumindest empfehlenswert ist, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen einzuführen und so der Unternehmenskriminalität zu begegnen. Wichtige Bereiche der Unternehmenskriminalität seien, so wird angeführt: - Ausschreibungsbetrügereien und Korruptionsvorgänge - Vertrieb betrügerischer Kapitalanlagemodelle - Beihilfe zur Steuerhinterziehung mittels Kapitaltransfers durch Banken ins Ausland - Verstöße gegen Exportverbote und Embargobestimmungen - Herstellung und Vertrieb gesundheitsschädlicher Produkte - Industrielle Umweltverschmutzung - Müllverschiebereien - Geldwäsche durch Anlage von Verbrechensgewinnen im Bereich legaler Wirtschaft. 3 Der Begriff „Unternehmenskriminalität" erfaßt hier alle von Mitarbeitern für ihr Unternehmen bzw. im Interesse ihres Unternehmens begangenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. 4 In der Diskussion wird die Notwendigkeit der Einführung eines Unternehmensstrafrechts im wesentlichen damit begründet, es sei bei Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, die im Rahmen und im Interesse eines Unternehmens begangen würden, aufgrund 1 Vgl. hierzu auch die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD vom 9. 9. 1998, S. 3 (BT-Drucks 13/11425). 2 So auch die Begründung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD vom 15.1. 1998, S. 1 (BT-Drucks 13/9682). 3 Beispiele entnommen der Großen Anfrage der Fraktion der SPD aaO, S. 1 f. 4 Vgl. die Begründung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD aaO, S. 1.

640

Wilhelm Krekeler

komplexer organisatorischer Strukturen und Hierarchien oftmals nicht möglich, den bzw. die Straftäter mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Nicht nur die Wissenschaft,5 sondern insbesondere auch die Politik haben sich in jüngerer und jüngster Vergangenheit des Problems der eigenständigen strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen verstärkt angenommen. Auf europäischer Ebene ergingen dazu die an die Mitgliedstaaten der EU gerichteten Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates vom 20. Oktober 1988 (Recommendation Nr. R. [88] 18) betreffend „die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen mit Rechtspersönlichkeit für Delikte, die in Ausübung ihrer Tätigkeiten begangen wurden". Diese Empfehlungen wurden um eine „ Gemeinsame Maßnahme betreffend den Straftatbestand der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union " des Rates der EU vom 19. 3. 1998 ergänzt. Der hier einschlägige Artikel 3 dieser Gemeinsamen Maßnahme lautet wie folgt: Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, daß juristische Personen für strafbare Handlungen im Sinne des Artikels 2 die durch die betreffende juristische Person begangen werden, strafrechtliche oder, sofern diese Möglichkeit nicht besteht, anderweitig gemäß im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten festzulegenden Modalitäten verantwortlich gemacht werden können. Die Verantwortlichkeit der juristischen Person berührt nicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit der natürlichen Personen, die diese strafbaren Handlungen begehen oder Beihilfe zu ihrer Begehung leisten. Die Mitgliedsstaaten tragen insbesondere dafür Sorge, daß gegen juristische Personen wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen, auch Vermögensstrafen und sonstige Sanktionen wirtschaftlicher Art, verhängt werden können. Unter dem 15. Januar 19986 hat die Fraktion der SPD des Deutschen Bundestages eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, in der 23 teilweise sehr umfangreiche Fragen gestellt sind und die die Uberschrift trägt: „Besondere Verantwortlichkeit von Unternehmen - Probleme knminalrechtlicher Verantwortlichkeit juristischer Personen und Personenvereinigungen ". Die Bundesregierung hat diese Große Anfrage der SPD vom 15. Januar 1998 unter dem 9. 9. 1998 beantwortet.7 Aus der Antwort der Bundesregierung ist hier folgendes festzuhalten: 5 Siehe hierzu aus der umfangreichen Literatur z . B . Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), 285 ff und das in der dortigen Fn. 7 angeführte Schrifttum; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, Verfassungsrecht, Regelungsalternativen, Heidelberg 1996; Eidam, Straftäter Unternehmen, München 1997 6 7

BT-Drucks 13/9682. BT-Drucks 13/11425.

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

641

Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die rechtspolitische Diskussion hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortung juristischer Personen und Personenvereinigungen bei weitem noch nicht abgeschlossen ist. Die Thematik tangiert die Grundstrukturen des materiellen Rechts und des Verfahrensrechts. Sie birgt gravierende Verfassungs- und auch zivilrechtliche Probleme in sich. Es bedarf sorgfältiger Prüfung, ob Handlungsbedarf für den Gesetzgeber besteht. 8 Nachdem das Hessische Ministerium der Justiz bereits einen Diskussionsentwurf zur Erweiterung der gegen Unternehmen gerichteten Sanktionen vorgelegt hatte, 9 hat nunmehr das Land Hessen im Bundesrat einen Entschließungsantrag 10 eingebracht, der die Einführung strafrechtlicher Verantwortlichkeit für juristische Personen und Personenvereinigungen zum Gegenstand hat. Die vom Land Hessen beantragte Entschließung des Bundesrates enthält u.a. folgende Erklärungen: 11 Der Bundesrat hält das Sanktionsinstrumentarium, das den deutschen Strafverfolgungsorganen gegenüber Wirtschaftsunternehmen und sonstigen Körperschaften zur Verfügung steht, für unzulänglich. Im Interesse eines wirksamen Rechtsgüterschutzes, insbesondere in den in der heutigen Industriegesellschaft in den Vordergrund getretenen Bereichen der Wirtschafts-, der Umwelt- und zunehmend auch der Organisierten Kriminalität, erscheint die Einführung strafrechtlicher Sanktionen gegen solche Personenverbände kriminalpolitisch geboten. Eine Erweiterung allein der Sanktionsmöglichkeiten des Ordnungswidrigkeitenrechts reicht nicht aus, Unternehmenskriminalität, die häufig größere Ausmaße hat, wirksam angemessen zu bekämpfen ... Der Bundesrat ist sich allerdings auch bewußt, daß die Einführung strafrechtlicher Sanktionen gegen Körperschaften einen tiefgreifenden Einschnitt in das herkömmliche deutsche Strafrechtssystem darstellt und u.a. die Lösung schwieriger verfassungsrechtlicher und rechtsdogmatischer Fragen, insbesondere hinsichtlich Schuldzurechnungen, voraussetzt. Ferner sind eine Reihe von Folgeproblemen, insbesondere auch im verfahrensrechtlichen Bereich zu lösen. Der Zuleitung dieses Antrags an den Bundesrat durch das Land Hessen war vorausgegangen ein Beschluß der 69. Konferenz der Justizministerinnen und -minister am 17. und 18. Juni 1998, der wie folgt lautet:

BT-Drucks 13/11425, S. 3 lk. Sp. unter b). Siehe hierzu u.a. Hamm NJW 1998, 662f. 10 BR-Drucks 690/98 vom 14. 7. 1998. 11 BR-Drucks 690/98 vom 14. 7. 1998, S. 1 erster und letzter Absatz und S. 3 dritter Absatz. 8

9

642

Wilhelm Krekeler

Einführung strafrechtlicher Verantwortlichkeit für juristische Personen und Personenvereinigungen Im Hinblick darauf, daß insbesondere auf den Gebieten der Wirtschaftsund Umweltkriminalität, aber auch der gesamten Organisierten Kriminalität zahlreiche Straftaten im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Wirtschaftsunternehmen begangen werden, sehen die Justizministerinnen und -minister im Einklang mit der Entwicklung im Ausland und in internationalen Rechtsinstrumenten die Notwendigkeit, die Sanktionsmöglichkeiten gegen juristische Personen wirksam zu verbessern. Dies berührt allerdings wesentliche Grundsatzfragen, von denen es insbesondere abhängt, ob die vorzusehenden Sanktionen strafrechtlichen Charakter haben können, ob die Mittel des Ordnungswidrigkeitenrechts effektiviert werden können oder ob ein neues eigenständiges System zu schaffen ist. Die Justizministerinnen und -minister gehen davon aus, daß die Bundesregierung im Zusammenwirken mit den Ländern zügig einen den Erfordernissen entsprechenden Regelungsentwurf erarbeitet, der in der nächsten Wahlperiode beim Deutschen Bundestag eingebracht werden kann.

II. Die geltende Rechtslage Das deutsche Strafrecht im weiteren Sinne - somit die Normen, die Rechtsfolgen wegen einer Verfehlung gegen geltendes Rechts statuieren enthält weitreichende Maßnahmen nicht nur gegen natürliche Personen. Vielmehr kennt die Rechtsordnung auch gegen Unternehmen gerichtete Maßnahmen, um Fehlverhalten ihrer Organe bzw. Mitarbeiter zu ahnden. Zu unterscheiden sind die Maßnahmen des Strafrechts im engeren Sinne (StGB und Nebengesetze) sowie Maßnahmen des Strafrechts im weiteren Sinne, zu denen vor allem die Vorschriften des OWiG zu zählen sind. Darüber hinaus sieht das supranationale Recht der Europäischen Union Sanktionsmöglichkeiten gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen in Form von Geldbußen vor. 1. Maßnahmen des Strafrechts Das StGB enthält im Siebten Titel des Dritten Abschnitts als Rechtsfolgen der Tat keine gegen Unternehmen gerichtete Strafen im engeren Sinne wie die Freiheitsstrafe oder die Geldstrafe. Strafen gegen Unternehmen als solche sind im System des StGB nicht vorgesehen. Für die Freiheitsstrafe ergibt sich dies bereits aus dem Strafzweck, die gegenüber einer Körperschaft weder vollstreckt, noch von dieser erbracht werden kann.

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

643

Weiterführend sind hingegen die Überlegungen, die der Verhängung auch einer Geldstrafe gegen Unternehmen entgegenstehen können. Das deutsche Strafrecht geht (nach der herrschenden Meinung immer noch) von der personalen Strafbarkeit der handelnden Personen aus. Demzufolge können grundsätzlich nur natürliche Personen bestraft werden. Diese Ansicht geht von der Überlegung aus, daß juristischen Personen zumindest die (strafrechtliche) Handlungsfähigkeit fehle; der von der Gegenmeinung angenommenen Handlungsfähigkeit von juristischen Personen liege (nur) die Zurechnung von natürlichen Handlungen anderer zugrunde; diese sollen für die Annahme einer Straftat jedoch nicht ausreichen. Damit könne juristischen Personen und Verbänden nicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit obliegen für Handlungen, die ihre Organe in ihrer Vertretung begehen. Hingegen soll nach einer mittlerweile im Vordringen befindlichen Ansicht die Handlungsfähigkeit juristischer Personen und Verbände zweifellos gegeben sein. Soweit diese nämlich Adressaten von Rechtspflichten seien, sei davon auszugehen, daß sie diese nicht nur erfüllen, sondern auch verletzen können.12 Die grundsätzliche Schuldfähigkeit juristischer Personen ist ebenfalls umstritten. Ausgehend von der Prämisse, daß die Frage der Schuld nach der persönlichen Vorwerfbarkeit der Tat zu beantworten ist, stellt sich die Problematik, ob gegen juristische Personen oder Verbände ein für eine Bestrafung notwendiger Schuldvorwurf erhoben werden kann. Während die (noch) herrschende Ansicht aus der Überlegung, daß nur der Mensch sich aus „freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung" zu einer das Recht verletzenden Tat entscheiden könne, folgert, auch nur einem Menschen sei ein Schuldvorwurf zu machen, ist nach anderer Ansicht die Schuldfähigkeit juristischer Personen und Verbände gegeben. Hiernach ergebe sich eine zur Individualschuld parallele „Verbandsschuld", die ebenso dem strafrechtlichen Schuldbegriff genügen soll.13 Gegen die Straffähigkeit von juristischen Personen wird ferner vorgebracht, Strafe sei ihrem Wesen nach nur auf Menschen zugeschnitten. Strafe als Ausdruck der sozialethischen Mißbilligung der Gesellschaft richte sich an den Täter als sittliche Persönlichkeit und sei deshalb nur auf natürliche Personen anwendbar.14 Die Einwände gegen die Straffähigkeit von juristischen Personen und Personenvereinigungen erschöpfen sich keineswegs nur in den oben angeführ12 Zur Frage der Handlungsfähigkeit juristischer Personen siehe Hirsch, aaO (Fn. 5), S. 288 ff und das in den dortigen Fußnoten angeführte Schrifttum. 13 Zur Frage der Schuldfähigkeit juristischer Personen siehe Hirsch, aaO (Fn. 5), S. 291 ff und das in den dortigen Fußnoten angeführte Schrifttum. 14 Zur Frage, Verbände und Wesen der Strafe siehe Hirsch, aaO (Fn. 5), S. 294 ff und das in den dortigen Fußnoten angeführte Schrifttum.

644

Wilhelm Krekeler

ten drei Hauptargumentationen. 15 Aus den Überlegungen der (noch) herrschenden Ansicht sind strafrechtliche Sanktionen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen wie z.B. die Verbands(-geld-)strafe in das StGB bislang nicht eingestellt worden. Jedoch enthält die heute gültige Fassung des StGB bereits die umfangreichen und weitreichenden Maßnahmen des Verfalls und der Einziehung, §§ 73, 74 ff StGB. a) Verfall, §§ 73 ff StGB Die Vorschriften der §§ 73 ff StGB regeln den Verfall des für eine rechtswidrige Tat oder des daraus Erlangten. Hierdurch bleibt das für oder aus einer Tat Erlangte dem durch die Tat Begünstigten nicht erhalten, sondern wird für verfallen erklärt mit der Folge, daß mit der Rechtskraft der Entscheidung das Eigentum hieran oder das verfallene Recht auf den Staat übergeht (§ 73e StGB). Nach § 73 Abs. 3 StGB richtet sich diese Maßnahme nicht nur gegen den einzelnen Täter. Sie kann auch gegenüber demjenigen angeordnet werden, für den gehandelt worden ist und welcher hierdurch etwas erlangt hat. Daher ist diese Sanktion (auch) gegen juristische Personen und Verbände anwendbar. Im übrigen ist zu beachten, daß sich nach nunmehr in der Rechtsprechung16 vertretener Auffassung die Anordnung des Verfalls auch nach dem sog. Bruttoprinzip richten kann. Somit besteht die Möglichkeit, nicht nur den Vermögensvorteil, folglich den Uberschuß des für oder aus der Tat Erlangten über die für dessen Erlangung notwendigen Aufwendungen, sondern das Erlangte selbst ohne jeglichen möglichen Abzug der Kosten für verfallen zu erklären. b) Einziehung, §§ 74 ff StGB Vom Verfall zu unterscheiden ist die in den §§ 74 ff StGB geregelte Möglichkeit der Einziehung von Gegenständen, die durch eine Straftat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind. Darüber hinaus enthalten spezialgesetzliche Regelungen die Möglichkeit der Einziehung von sog. Beziehungsgegenständen (z.B. die §§ 330c Nr. 2 StGB, 143 Abs. 3 MarkenG, 375 Abs. 2 AO). 2. Maßnahmen

des

Ordnungswidrigkeitenrechts

Neben den Maßnahmen des Strafrechts wie Verfall und Einziehung, die auch das Ordnungswidrigkeitenrecht - wenn auch z.T. mit anderen AusforZu weiteren Einwänden siehe nur Hirsch, aaO (Fn. 5), S. 296. "· BGH wistra 1994, 140, 141. 15

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

645

mungen - in den §§ 22 ff, 29a OWiG kennt, enthält das OWiG noch wesentlich weiter reichende Maßnahmen gegen juristische Personen und Verbände. a) Unternehmens- oder Verbandsgeldbuße, § 30 OWiG Eine wesentliche Maßnahme, die im OWiG als Sanktion gegen Unternehmen und Verbände vorgesehen ist, stellt die Unternehmens- bzw. Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG dar (folgend Unternehmensgeldbuße genannt). Nach dieser Norm ist die Verhängung einer ahndenden Geldsanktion gegen eine überpersonale Einheit möglich. Die zu verhängende Geldbuße richtet sich sodann gegen den Verband als solchen und nicht gegen den eigentlichen individuellen Täter. Die Normadressaten der Unternehmensgeldbuße sind enumerativ aufgezählt. So kann diese gegen juristische Personen, nicht rechtsfähige Vereine und Personenhandelsgesellschaften angewendet werden. Voraussetzung der Verhängung einer Unternehmensgeldbuße ist das Vorliegen einer zurechenbaren Anknüpfungstat. Somit muß eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit (durch eine natürliche Person) begangen worden sein, durch die entweder eine betriebsbezogene Pflicht des Verbandes verletzt oder der Verband bereichert wurde oder werden sollte. Desweiteren setzt die Verhängung einer Unternehmensgeldbuße voraus, daß die Anknüpfungstat von einem der in § 30 Abs. 1 OWiG aufgezählten Funktionsträger des Verbandes als Organ und damit in einem spezifischen funktionellen Zusammenhang zu dieser Stellung begangen worden ist. Von der jeweiligen Art der Anknüpfungstat abhängig ist die Höhe der möglichen Unternehmensgeldbuße. Ist diese eine Ordnungswidrigkeit, so bestimmt deren Höchstmaß auch das Höchstmaß der Unternehmensgeldbuße. Ist die Anknüpfungstat hingegen eine Straftat, kann die Unternehmensgeldbuße bei vorsätzlicher Begehung bis zu 1 000000,- DM, bei fahrlässiger Begehung bis zu 500000,- DM betragen. Liegt als Anknüpfungstat sowohl eine Straftat als auch eine Ordnungswidrigkeit vor, so kann - soweit das Ordnungswidrigkeitenrecht eine höhere Geldbuße als 1000 000,- DM vorsieht - der Bußgeldrahmen trotz § 21 OWiG aus dem Bußgeldtatbestand entnommen werden (so z.B. bei Anwendung der §§ 38 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 1, 25 Abs. 1 GWB). Unabhängig davon besteht nach § 17 Abs. 4 OWiG grundsätzlich die Möglichkeit, das gesetzlich vorgesehene Höchstmaß zu überschreiten, um den aus der Ordnungswidrigkeit gezogenen Vorteil abschöpfen zu können. Die Unternehmensgeldbuße kann sowohl im verbundenen Verfahren als kumulative Geldbuße als auch im selbständigen Verfahren als isolierte Geldbuße verhängt werden. Auch soll die Verhängung der Unternehmensgeldbuße ohne die Ermittlung eines konkreten Täters möglich sein, wenn die Tat nur von einer Person des Täterkreises des § 30 Abs. 1 OWiG begangen worden sein kann,

646

Wilhelm Krekeler

und auch Vorsatz oder Fahrlässigkeit sowie die Schuldhaftigkeit des vorwerfbaren Verhaltens bei keiner der in Betracht kommenden Personen zweifelhaft ist. 17 b) Betriebliche Aufsichtspflichtverletzung, § 130 O W i G Zudem kennt das O W i G auch den Tatbestand der betrieblichen Aufsichtspflichtverletzung. Diese unternehmensbezogene Sanktion ist als reiner Bußgeldtatbestand ausgestaltet und droht den Leitungspersonen eines Unternehmens Geldbuße an für die Unterlassung der zur Verhinderung betriebsbezogener Zuwiderhandlungen der unternehmensangehörigen Mitarbeiter erforderlichen Aufsicht, wenn eine solche Zuwiderhandlung begangen wird, die durch die gebotene Aufsichtsmaßnahme verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Im Rahmen der Tathandlung muß der Inhaber, dem nach § 9 O W i G O r gane, Organmitglieder, Vertreter und Beauftragte gleichgestellt sind, Aufsichtsmaßnahmen unterlassen haben, die erforderlich sind zur Verhinderung von Zuwiderhandlungen gegen Pflichten, die den Inhaber als solchen treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. Danach obliegt dem Betriebsinhaber die Errichtung einer Organisation mit einer klaren und im wesentlichen lückenlosen Zuständigkeitsverteilung, die geeignet ist, betriebliche Zuwiderhandlungen zu verhindern. Die Begehung der Zuwiderhandlung durch den Mitarbeiter, die Anknüpfungstat, ist daneben eine objektive Bedingung der Ahndung. Diese Tat muß in einem Zurechnungszusammenhang mit der gehörigen Aufsicht stehen; es reicht jedoch aus, wenn sich das Risiko von Zuwiderhandlungen erheblich erhöht, weil die erforderliche Aufsicht außer acht gelassen wurde. Die Höhe des nach § 130 O W i G zu verhängenden bzw. verhängbaren Bußgelds bemißt sich nach den oben erörterten Grundsätzen des § 30 OWiG. O b es sich bei der Regelung der betrieblichen Aufsichtspflichtverletzung um einen besonderen Tatbestand oder lediglich um eine Zurechnungsnorm handelt, muß hier ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob diese Norm nur subsidiär anzuwenden ist. 18 3. Maßnahmen des supranationalen Rechts Nach dem supranationalen Recht der Europäischen Union besteht ebenfalls die Möglichkeit, gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Geldbußen festzusetzen. 17 18

So zumindest BGH wistra 1994, 232, 233. Vgl. hierzu Gökler, OWiG, 12. Aufl. 1998, § 130 Rn. 25f.

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

647

Der EG-Vertrag (Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) selbst sieht zwar keine Sanktionen vor. Er ermächtigt aber den Rat in Artikel 87 Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit Abs. 1 EG-Vertrag zur Einführung von Geldbußen und Zwangsgeldern durch entsprechende Verordnungen. Gestützt auf diese Ermächtigung hat der Rat 1962 die Verordnung Nr. 17 (VO 17/62) erlassen. Nach Artikel 15 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung kann die EU-Kommision gegen Unternehmen Geldbußen verhängen, wenn diese vorsätzlich oder fahrlässig gegen Artikel 85 EG-Vertrag (Verbot wettbewerbsbehindernder Vereinbarungen oder Beschlüsse) oder gegen Artikel 86 EG-Vertrag (Mißbrauch einer den Markt beherrschenden Stellung) verstoßen haben. In diesem Bereich des Wettbewerbs- und Kartellrechts kann einem Unternehmen ein Bußgeld auferlegt werden, und zwar in H ö h e von bis zu 10% seines Jahresumsatzes. 4. Die Rechtsprechung des BGH Nachdem sich die Wissenschaft schon eingehend mit der Strafbarkeit hinter dem (eigentlichen) Täter bei der Begehung von Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate auseinandergesetzt und Lösungen angedacht bzw. angeboten hatte, 19 wurde der B G H gefordert, die Frage zu beantworten, ob bereits das geltende Recht „die organisierte NichtVerantwortlichkeit aller" in angemessener Weise strafrechtlich erfassen könne, es also der Aufgabe strafrechtsdogmatischer Grundsätze hierzu nicht bedürfe. Entscheidungen des B G H aus jüngerer und jüngster Zeit zeigen, daß es der Rechtsprechung durchaus schon unter Anwendung des geltenden Rechts gelingt, Mitglieder von Organen von Unternehmen oder Personen, die sich als solche gerieren, auch dann strafrechtlich zu verfolgen, wenn diese nicht in ihrer Person die Merkmale von Straftatbeständen erfüllen, diese vielmehr durch Angehörige der von ihnen geleiteten Unternehmen verwirklicht werden. Das strafbewehrte Verhalten der formellen oder faktischen Organmitglieder wird im Rahmen unternehmerischer Betätigungen darin gesehen, daß die Organmitglieder durch die vorgegebenen Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzen, die regelhafte Abläufe auslösen, die ihrerseits zu der von den Organmitgliedern erstrebten Tatbestandsverwirklichung durch Angehörige der Unternehmen führen. Eine eigenhändige Beteiligung der Organmitglieder bei den tatbestandlichen Ausführungshandlungen wird selbst für die Annahme täterschaftlicher Beteiligung nicht für erforderlich gehalten. 20 19 Vgl. hierzu nur Roxin, GA 1963, 193; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, 6. Aufl. (1994), S. 242ff, 653ff.; ders., FS Lange, 1976, S. 173. 2 0 So ausdrücklich BGH StV 1998, 416, 417 unter Hinweis auf BGHSt 40, 218, 236, 237f = StV 1994, 534 sowie auf BGH NStZ 1996, 296, 297

648

Wilhelm Krekeler

Mit seinem Urteil vom 11. 12. 1997 hatte der BGH 2 1 über die Strafbarkeit eines faktischen Geschäftsführers u.a. wegen Betruges zu entscheiden. In dem von dem Angeklagten faktisch kontrollierten Unternehmen hatten der formelle Geschäftsführer und zwei Angestellte im Rahmen des laufenden Geschäftsbetriebes Waren bei Lieferanten bestellt, nachdem die Gesellschaft zahlungsunfähig geworden war. Diese bestellten und gelieferten Waren waren nicht mehr bezahlt worden. Das Tatgericht hatte den für die Tatbestandsverwirklichung entscheidenden Tatbeitrag des (faktischen) Geschäftsführers darin gesehen, daß dieser mit Billigung der Gesellschafter die Firma trotz gegebener Zahlungsunfähigkeit weiterführte mit der notwendigen, von ihm vorausgesehenen und gewollten Folge der weiteren Warenbestellungen im Rahmen des „Alltagsgeschäfts". Der BGH führt dazu wörtlich aus: „Bei der gegebenen Sachlage hängt eine Strafbarkeit wegen Betruges nicht davon ab, ob die in bezug auf die Bestellungen unmittelbar Handelnden was das angefochtene Urteil nicht mitteilt - dabei gutgläubig waren oder ob sie die Bestellungen in Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit der Firma SI Holz GmbH vornahmen. Nach den in der Rspr. zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Hintermannes entwickelten Grundsätzen kommt als Täter kraft Tatherrschaft auch derjenige in Betracht, der durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, die regelhafte Abläufe auslösen, die ihrerseits zu der vom Hintermann erstrebten Tatbestandsverwirklichung führen (BGHSt 40, 218, 236, 237f [ = StV 1994, 534]). Dies hat der BGH auch für unternehmerische Betätigungen bejaht (BGHSt aaO S. 236; vgl. auch BGH NStZ 1996, 296, 297). Eine eigenhändige Beteiligung bei der tatbestandlichen Ausführungshandlung setzt die Annahme täterschaftlicher Beteiligung nicht voraus (vgl. BGH wistra 1992, 181, 182; Cramer in Schönke/Schröder, StGB, 25. Α., § 25 Rdn. 6, 66 und § 263 Rdn. 180 mwN)." Wenige Monate zuvor, nämlich am 6. 6. 1997, hatte der BGH Gelegenheit und Anlaß, über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Geschäftsführers einer GmbH & Co. KG bei der Abfallbeseitigung zu entscheiden. 22 In den behördlich genehmigten Anlagen wurden Abfälle beseitigt, für deren Beseitigung diese Anlagen nicht zugelassen waren. Für diesen tatbestandlichen Erfolg waren auch die angeklagten Geschäftsführer nach Ansicht des BGH verantwortlich. Der BGH führte aus, daß die Art und Weise der Beseitigung der Abfälle im Rahmen der Geschäftstätigkeit der von den Angeklagten geführten Gesellschaft diesen als eigenes Handeln zuzurechnen sei. Sie seien verpflichtet gewesen sich zu vergewissern, ob die Abnehmer der Abfälle tat21 11

StV 1998, 416 f. NStZ 1997, 544 f.

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

649

sächlich imstande und rechtlich befugt gewesen seien, die übernommenen Abfälle gefahrlos zu beseitigen. Die Einbindung und Beteiligung der Angeklagten in die die Abfallbeseitigung betreffenden Geschäftsvorgänge sei hinreichend festgestellt worden. Die Feststellung weiterer konkreter Einzelmaßnahmen der Angeklagten sei unter diesen Umständen entbehrlich. Die Angeklagten hätten die strafbare Abfallbeseitigung als mittelbare Täter verwirklicht, da sie die Abfälle nicht selbst abgelagert hätten. Der Täterwille und die Tatherrschaft der Angeklagten seien nicht zweifelhaft. Sie hätten den Weg eröffnet und vorgezeichnet, auf dem die Abfälle illegal entsorgt wurden. Die Tatherrschaft würde auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß es bei der Weitergabe der Abfälle in der Reihe der Tatmittler zu weiteren Täuschungen über den Schadstoffgehalt des Materials gekommen sei. 23 Schon einige Zeit zuvor hatte der BGH mittäterschaftliche Begehung des Betrugs durch denjenigen angenommen, der sich bei einem auf Betrug angelegten Geschäftsbetrieb als Strohmann-Gesellschafter und "Geschäftsführer zur Verfügung gestellt hatte, weil er durch das Vorhalten der Unternehmensorganisation für die Beutesicherung gesorgt habe. 24 Der vorstehend angeführten Entscheidung des BGH war vorausgegangen das Urteil vom 26. Ζ 1994 zu der mittelbaren Täterschaft bei uneingeschränkt verantwortlichem Tatmittler.25 In diesem Erkenntnis führt der BGH u.a. aus: „Es gibt aber Fallgruppen, bei denen trotz eines uneingeschränkt verantwortlich handelnden Tatmittlers der Beitrag des Hintermannes nahezu automatisch zu der von diesem Hintermann erstrebten Tatbestandsverwirklichung führt. Solches kann vorliegen, wenn der Hintermann durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, innerhalb derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe auslöst. Derartige Rahmenbedingungen mit regelhaften Abläufen kommen insbesondere bei staatlichen, unternehmerischen oder geschäftsähnlichen Organisationsstrukturen und bei Befehlshierarchien in Betracht. Handelt in einem solchen Fall der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände, nutzt er insbesondere auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen, aus und will der Hintermann den Erfolg als Ergebnis seines eigenen Handelns, ist er Täter in der Form mittelbarer Täterschaft. Der Hintermann hat in Fällen der hier zu entscheidenden Art auch den umfassenden Willen zur Tatherrschaft, wenn er weiß, daß die vom Tatmittler noch zu treffende, aber durch die Rahmenbedingungen vorgegebene Entscheidung gegen das Recht kein Hindernis bei der Verwirklichung des von ihm gewollten Erfolgs darstellt. « So der BGH aaO (Fn. 22). 2t Beschluß v. 21. 12. 1995, NStZ 1996, 296f. BGHSt 40, 219ff.

650

Wilhelm Krekeler

Den Hintermann in solchen Fällen nicht als Täter zu behandeln, würde dem objektiven Gewicht seines Tatbeitrags nicht gerecht, zumal häufig die Verantwortlichkeit mit größerem Abstand zum Tatort nicht ab-, sondern zunimmt (F.C. Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 166)."26 Diese Entscheidung des BGH betraf zwar die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates der DDR für vorsätzliche Tötungen von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR. Sie hatte aber die grundsätzliche Frage zu beantworten, wie die strafrechtliche Verantwortlichkeit dessen zu beurteilen sei, der im Rahmen eines organisierten Machtapparates an untergeordnete, aber selbst als Täter voll verantwortliche Personen die Weisung zur Begehung einer Straftat erteilt. Jedoch gab der BGH in einem obiter dicta selbst den Hinweis, daß die von ihm nunmehr anerkannte (mittelbare) Täterschaft hinter dem Täter sehr wohl auch auf unternehmerische Organisationsstrukturen ausgeweitet werden könne. 27 In einer maßgeblichen Entscheidung zur strafrechtlichen Produkthaftung hatte der BGH nicht nur Veranlassung, sich zu der Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Organmitgliedes eines Unternehmens überhaupt zu äußern, sondern auch zu dem Problem Stellung zu beziehen, wie sich die Verantwortlichkeit des einzelnen Organmitgliedes dann darstellt, wenn mehrere Organmitglieder bestellt und diesen jeweils besondere Geschäftsbereiche zugeteilt sind. 28 Der hier einschlägige Leitsatz der Entscheidung des BGH lautet: „Haben in einer GmbH mehrere Geschäftsführer gemeinsam über die Anordnung des Rückrufs zu entscheiden, so ist jeder Geschäftsführer verpflichtet, alles ihm Mögliche und Zumutbare zu tun, um diese Entscheidung herbeizuführen. 29 " Im Einzelnen führt der BGH aus: „Die Pflicht zum Rückruf oblag - jeweils zur gemeinschaftlichen Befolgung - den Geschäftsführern der drei Gesellschaften. ... Diese Pflichtenstellung jedes einzelnen Angeklagten erfuhr keine Einschränkung dadurch, daß die genannten Gesellschaften jeweils mehrere Geschäftsführer hatten und in der Firma W. u. M. GmbH jedem von ihnen ein besonderer Geschäftsbereich zugeteilt war. ... Im Prinzip bleibt eine Aufteilung der Geschäftsbereiche unter mehreren Geschäftsführern einer GmbH ohne Einfluß auf die Verantwortung jedes 26 27 28 29

BGHSt 40, 218, 236 f. BGHSt 40, 218, 237 BGHSt 37, 107 ff. BGHSt. 37, 107.

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

651

einzelnen für die Geschäftsführung insgesamt (allg. M., ...). O b dieser gesellschaftsrechtliche Grundsatz, der für die Zurechnung zivilrechtlicher Haftungsfolgen maßgebend ist, auch über den Umfang der strafrechtlichen Pflichtenstellung entscheidet, kann freilich zweifelhaft sein. Doch braucht dieser Frage nicht weiter nachgegangen zu werden. Zwar knüpft die Pflichtenstellung des Geschäftsführers im allgemeinen an den von ihm betreuten Geschäfts- und Verantwortungsbereich an. ... Doch greift der Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsleitung ein, wo - wie etwa in Krisen- und Ausnahmesituationen - aus besonderem Anlaß das Unternehmen als Ganzes betroffen ist; dann ist die Geschäftsführung insgesamt zum Handeln berufen. Es handelt sich - wie die Strafkammer zutreffend ausführt - um die Bewältigung eines ressortüberschreitenden Problems, das in unterschiedlicher Weise alle vier Geschäftsbereiche der Muttergesellschaft wie auch die Vertriebsgesellschaften anging. ... Auch eine unternehmensinterne Organisationsstruktur, die auf der Ebene der Geschäftsleitung gesellschaftsübergreifende Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnisse schafft, ändert grundsätzlich nichts an der mit der Geschäftsführerrolle verbundenen Verantwortung. Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang auch, daß der Angeklagte S. innerhalb des Kreises der Geschäftsführer eine dominierende Stellung einnahm, so daß Entscheidungen gegen sein Votum praktisch ausgeschlossen erschienen. Umstände dieser Art schränken die rechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Geschäftsführers nicht ein. Sie sind allenfalls für die Frage bedeutsam, ob dem jeweiligen Geschäftsführer das gebotene Handeln zumutbar war. 30 " Eine wertende Betrachtung der vorstehend angeführten Entscheidungen des BGH zeigt folgendes: Das geltende Recht gibt bei gebotener Auslegung durch die Rechtsprechung durchaus die Möglichkeit, die tatbestandsverwirklichenden deliktischen Handlungen von Angehörigen von Unternehmen, die innerhalb der Organisation unter Ausnutzung ihrer Strukturen vorgenommen werden, den formellen und faktischen Organmitgliedern als täterschaftliche Begehung zuzurechnen, wenn diese die Organisationsstrukturen vorgehalten haben in dem Bewußtsein, daß regelmäßig Abläufe ausgelöst werden, die zu den erstrebten Tatbestandsverwirklichungen führen. Dieses gilt auch in den Fällen, in denen das Unternehmen mehrere Organmitglieder mit diesen jeweils zugeordneten Ressorts hat, weil grundsätzlich eine Gesamtverantwortung der Organmitglieder besteht, die auch dann gegeben bleibt, wenn eines der Organmitglieder eine dominierende Stellung hat. In diesem Fall stellt sich allenfalls BGHSt. 37, 123 ff.

652

Wilhelm Krekeler

hinsichtlich des Umfangs der strafrechtlichen Pflichtenstellung die Frage, ob dem jeweiligen Organmitglied das gebotene Handeln zumutbar war. Das geltende Recht läßt es also durchaus zu, bei deliktischem Handeln verschiedener, auch untergeordneter Personen in einem Unternehmen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Personen der Leitungsebene dieses Unternehmens zu begründen und so auch eine angemessene Ahndung des in einem Unternehmen begangenen kriminellen Unrechts vorzunehmen.

III. Reforminitiativen Obwohl, wie aufgezeigt wurde, eine sachgerechte Anwendung des geltenden Rechts durchaus in der Lage ist, dem kriminellen Unrecht in und durch Unternehmen entgegenzutreten und dieses einer angemessenen Ahndung zuzuführen, wird der Ruf nach dem Gesetzgeber immer lauter. Die Einführung einer Kriminalstrafe gegen körperschaftlich strukturierte Wirtschaftsunternehmen wird mit dem Hinweis auf die bedeutende Rolle der Unternehmen im heutigen Sozialleben und die Zunahme von Fällen gefordert, in denen das Unternehmen in seiner Gesamtheit als der eigentliche Täter erscheine. Es wird als unzuträglich angesehen, daß das Unternehmen die eigentlich gebotene eigene Bestrafung auf die für diese handelnden Personen abwälzen könne. 31 Eine effektive Bekämpfung der in bzw. durch Unternehmen an den Tag gelegten Kriminalitätsform müsse bei dem Verursacher dieser Erscheinung, d.h. dem jeweiligen Unternehmen, ansetzen. Nur das Unternehmen könne den von ihm ausgehenden Gefahren entgegensteuern, indem es funktionierende Aufsichts- und Informationssysteme einrichte und um eine Unternehmenskultur bemüht sei, in der Straftaten keinen Nährboden fänden. 32 So verwundert es nicht, daß sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Politik Vorschläge zur Einführung eines Unternehmensstrafrecht vorgelegt werden, und das Thema auch häufig Gegenstand von Abhandlungen aller Art ist. 33 Zwei Vorschläge aus jüngerer bzw. jüngster Zeit sollen nachfolgend in der gebotenen Kürze dargestellt werden.

Vgl. hierzu z.B. Hirsch, aaO, S. 286f. So z.B. die Begründung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD aaO, S. 3. 33 Vgl. nur aus jüngerer Zeit z.B. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, Strafrecht, Verfassungsrecht, Regelungsalternativen, Heidelberg 1996; Eidam, Straftäter Unternehmen, München 1997, Bottke, wistra 1997, 241 ff. 32

653

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

1. Vorschläge des Arbeitskreises

Strafrecht

Ein im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung gegründeter Arbeitskreis Strafrecht hat Vorschläge zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität der Öffentlichkeit vorgestellt. 34 Diese Vorschläge münden in einer Änderung des Ordnungswidrigkeitenrechts. Durch eine Neufassung des § 30 Abs. 1 OWiG soll eine Unternehmensgeldbuße dann gegen ein Unternehmen verhängt werden können, wenn ein Unternehmensangehöriger, der Verantwortung für das Verhalten anderer trägt, für das Unternehmen eine Straftat oder ein Ordnungswidrigkeit begeht. Durch die Schaffung eines § 30 a OWiG soll die Sanktion einer Unternehmenskuratel in das Unternehmensstrafrecht eingeführt werden. Ein Unternehmen soll dann unter Kuratel gestellt werden können, wenn ein Angehöriger des Unternehmens, der dem Leitungsbereich des Unternehmens angehört, eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begeht und die Gefahr weiterer Zuwiderhandlungen besteht (§ 30a Abs. 1 Satz 1 OWiG in der vom Arbeitskreis Strafrecht vorgeschlagenen Fassung). Die Gefahr weiterer Zuwiderhandlungen soll in der Regel dann bejaht werden können, wenn die begangene Zuwiderhandlung nach dem Ausmaß der Pflichtverletzung oder des angerichteten Schadens erheblich ist (§ 30 a Abs. 1 Satz 2 OWiG in der vom Arbeitskreis Strafrecht vorgeschlagenen Fassung). Die Verhängung der Unternehmenskuratel hat zur Folge, daß das Unternehmen im Rechtsverkehr den Zusatz „unter Kuratel" zu führen hat (§ 30 c Abs. 1 Satz 1 OWiG in der vom Arbeitskreis vorgeschlagenen Fassung). In dem weiteren Text des § 30 c OWiG werden Einzelheiten der Unternehmenskuratel geregelt (so z.B. die Bestellung des Kurators, seine Rechte und Pflichten sowie seine Vergütung). Eine eingehende Diskussion dieser Vorschläge steht noch aus. 35 Eine Reaktion des Gesetzgebers auf diese Vorschläge ist (noch) nicht ersichtlich. Auf sie soll wegen der nicht unbedingt gegebenen Aktualität hier nicht näher eingegangen werden. 2. Die Initiativen des Landes Hessen, insbesondere der des Hessischen Ministeriums der Justiz

Gesetzentwurf

Es liegt der bereits oben erwähnte als „Diskussionsentwurf" gekennzeichnete Gesetzentwurf (GE) des Hessischen Ministeriums der Justiz vor, der sich mit einer Erweiterung der gegen Unternehmen gerichteten Sanktio34 Schünemann, Hrsg., Arbeitskreis Strafrecht, Band III, Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität, 1996. 35 Einige kritische Anmerkungen zu diesen Vorschlägen enthält der Aufsatz von Bottke, wistra 1997, 241, 252 f.

654

Wilhelm Krekeler

nen, insbesondere mit der Einstellung von Bestrafungsmöglichkeiten in das StGB, befaßt. Der Entwurf sieht die Einführung eines Achten Titels im Dritten Abschnitt des Allgemeinen Teils des StGB mit den §§ 76b ff vor. Mit den in das StGB einzustellenden Normen soll die Möglichkeit einer Bestrafung von juristischen Personen und Personenvereinigungen (nicht rechtsfähige Vereine oder Personenhandelsgesellschaften) mittels der Möglichkeit der Verhängung von Verbandsstrafen und -maßregeln geschaffen werden (§ 76b Abs. 1 GE). Die Bestrafung ist an folgende Voraussetzung geknüpft: „Ist in dem Betrieb einer juristischen Person oder einer Personenvereinigung (nicht rechtsfähiger Verein oder Personenhandelsgesellschaft) eine Straftat begangen worden, durch die Pflichten, welche die juristische Person oder die Personenvereinigung treffen, verletzt worden sind, so wird auch eine Verbandsstrafe verhängt oder eine Verbandsmaßregel angeordnet, wenn der Täter in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen gehandelt hat." (so § 76 b Abs. 1 GE) Es ist sowohl die Verhängung dieser Strafen im verbundenen als auch im isolierten Verfahren vorgesehen (§ 76 b Abs. 2 Satz 1 GE). Die Rechtsfolgen untergliedern sich bei der vorgeschlagenen Verbandsstrafe in die Verbandsgeldstrafe und die Verbandsauflösung, bei der vorgeschlagenen Verbandsmaßregel in die Erteilung von Weisungen und die Anordnung von Zwangsauf sieht (§ 76 c GE). Vorgesehen ist auch, daß die Verhängung einer Verbandsgeldstrafe mit der Anordnung von Verbandsmaßregeln verbunden werden kann (§ 76 d GE). Die Verbandsgeldstrafe soll sich nach dem Tagessatzprinzip des § 40 StGB richten, wobei ein Tagessatz bis zu 100000,- Deutsche Mark betragen können soll. In den §§ 76 f - h GE werden die weiteren zu verhängenden Rechtsfolgen konkretisiert. Die Möglichkeit der Verhängung der Verbandsstrafe in Form der Verbandsauflösung wird nur für den Fall zugelassen, daß die Zwecke oder die Tätigkeit der juristischen Person oder der Personenvereinigung darauf gerichtet sind, Straftaten zu begehen (§ 76f GE). Die Möglichkeiten der mit Weisungen (Gebote oder Verbote) anzuordnenden Maßnahmen werden erläutert. Die „Laufzeit" von Weisungen wird auf höchstens zwei Jahre begrenzt. Für den Fall, daß der Weisung nicht nachgekommen wird, kann - nach vorheriger Androhung - ein Ordnungsgeld bis zu einer Million Deutschen Mark festgesetzt werden. Auch soll die Verhängung von Zwangsaufsicht voraussetzen, daß Weisungen nicht als ausreichend erscheinen, der Begehung weiterer Straftaten in dem Betrieb der juristischen Person oder der Personenvereinigung vorzubeugen (§ 76 h Abs. 2 GE). Die Unterstellung der juristischen Person oder der Personenvereinigung der Aufsicht eines Treuhänders darf die Dauer von fünf Jahren nicht übersteigen (S 76 h Abs. 1 GE).

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

655

Die Begründung zu dem Gesetzentwurf kommt nach einer Schilderung von „aktuellen Fallgruppen"der „Unternehmenskriminalität"zu dem Ergebnis, daß das geltende individualistische Zurechnungskonzept des deutschen Strafrechts als „äußerst unbefriedigend"erscheine. Die Tauglichkeit des Strafrechts zum Rechtsgüterschutz sei weitgehend in Frage gestellt. Wegen komplexer organisatorischer Strukturen und Hierarchien der Körperschaft sei die Ermittlung einer natürlichen Täterperson nahezu unmöglich. Aufgrund der Hierarchiestufen in Unternehmen käme es für die Mitarbeiter „zu Zwängen, die leicht in Gesetzeszuwiderhandlungen münden, während das Unternehmen selbst durch die in seinem Interesse begangenen Straftaten nur gewinnen kann." Dies münde in einer von Schünemann36 so bezeichneten „organisierten NichtVerantwortlichkeit aller". Hierdurch seien körperschaftlich organisierte Unternehmen ungerechtfertigt gegenüber Einzelunternehmern bevorzugt. Während Einzelunternehmer mit Strafsanktionen rechnen müßten, blieben körperschaftliche Unternehmen (quasi) straffrei. Hinsichtlich der bereits bestehenden Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG äußert sich die Entwurfsbegründung dahingehend, es bedürfe keiner näheren Darlegung, daß diese „schon wegen der deutlich niedrigeren Präventivwirkung keinen hinreichenden Ausgleich für die ungerechtfertigt erscheinende Besserstellung der Körperschaften" darstelle. Die Entwurfsbegründung verweist ferner auf das in ausländischen Rechtsordnungen bereits verwirklichte Kollektivstrafrecht. Neben den USA werden die Niederlande und auch explizit Frankreich in Bezug genommen. Es wird zudem verwiesen auf die Empfehlung Nr. R (88) 18 des Europarates aus dem Jahre 1988, mit dem den Mitgliedstaaten nahegelegt worden sei, die Strafbarkeit von Wirtschafts unternehmen des privaten und des öffentlichen Rechts vorzusehen, „wenn die Art und Schwere der Tat, insbesondere ihre Sozialschädlichkeit, sowie die Schuld des Unternehmens und die Generalprävention dies gebieten." Auch geht die Entwurfsbegründung auf die Möglichkeit der Europäischen Kommission zur Verhängung von Geldsanktionen gegen Unternehmen und Unternehmensverbände im Bereich des Kartellrechts ein. Die Einführung von Verbandsstrafen bzw. Verbandsmaßregeln sei rechtsdogmatisch mit dem deutschen Strafrechtssystem vereinbar. Schon durch die Einführung der Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG habe der Gesetzgeber die Handlungs- und Schuldfähigkeit von juristischen Personenvereinigungen anerkannt. Wegen eines vorhandenen Stufenverhältnisses von Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht könne nunmehr für das Strafrecht nichts anderes gelten. Daher könne nunmehr auch einem Verband vorgeworfen werden, „sich - durch die für ihn handelnde Einzelperson - nicht normgemäß verhalten zu haben. " Diese Schuldzurechnung sei gerechtfertigt 36 Die Strafbarkeit der juristischen Personen aus deutscher und europäischer Sicht, Madrid· Synposium 1994, S. 272.

656

Wilhelm Krekeler

„dann, daß die Begehung der Tat auf Fehlleistungen und Versäumnissen des Verbandes beruht, insbesondere auf dem pflichtwidrigen Unterlassen von Maßnahmen, die erforderlich sind, um einen an Recht und Gesetz orientierten Geschäftsbetrieb und eine entsprechende Grundhaltung seiner Bediensteten zu gewährleisten." Die Bestrafung des Verbandes sei somit nicht Haftung für fremdes, sondern für eigenes (Unterlassungs-)Verschulden des Verbandes.37 Beachtung bedarf auch die in der Begründung dargelegte Zielrichtung des Entwurfs. Durch die neu in das StGB einzufügenden Normen „soll die Geltungskraft des Strafrechts und seine Präventionswirkung" in der Industriegesellschaft erhalten und verstärkt werden. „Zugleich soll damit der zur Bewältigung moderner Unternehmenskriminalität bisher notgedrungen auf dem Individualstrafrecht lastende kriminalpolitische Druck gemildert werden, wie ersieh in ständigen Forderungen nach Verschärfung und Ausweitung des gesetzlichen Instrumentariums des Individualstrafrechts oder auch in der Schaffung neuartiger Zurechnungsfiguren - ζ. B. Aufsichtspflichtverletzung von Vorgesetzen oder Vertreterhaftung Untergebener - zeigt." Der Gesetzentwurf faßt letztlich folgende - hier verkürzt wiedergegebene - Grundvoraussetzungen für die Verhängung von Verbandsstrafen und -maßregeln zusammen: - Die Bestrafung der Körperschaft soll neben der Bestrafung des Individualtäters möglich sein; verantwortlich werden gemacht zwei Täter; es werden zwei Strafen verhängt. - Die Verbandsstrafbarkeit zielt ab nicht nur auf wirtschaftlich tätige Unternehmen, sondern auf alle juristische Personen und sonstige korporative Gesamtheiten. - Die Verbandsstrafbarkeit wird nicht nur durch Straftaten von Personen auf der Leitungsebene ausgelöst; vielmehr ist die Körperschaft für die Straftaten aller für sie handelnden Bediensteten strafrechtlich verantwortlich. - Ein Individualtäter muß nicht ermittelt werden; es reicht die Feststellung aus, daß eine Straftat von einem Betriebsangehörigen begangen wurde. - Als eine Art „Bedingung der Strafbarkeit" soll gelten, „daß mit der Anknüpfungstat des Bediensteten eine die Körperschaft betreffende ,betriebsbezogene' Pflicht verletzt wird"; hierdurch sollen nur Taten erfaßt werden, die im Zusammenhang mit dem übertragenen Aufgabenbereich, nicht aber lediglich bei Gelegenheit dieser Tätigkeit begangen worden sind.38 Den vorstehend dargestellten Diskussionsentwurf hat das Land Hessen unter dem 9. 7 98 ergänzt um einen Antrag für eine „Entschließung des Bun" S. 9 GE. 3 8 S. lOf GE.

Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht?

657

desrates zur Einführung strafrechtlicher Verantwortlichkeit für juristische Personen und Personenvereinigungen.